POETI K U N D HERMENEUTI K
Arbeitsergebnisse einer Forschungsgruppe I X Redaktion: B u rkhan Steinwachs
TEXT UND APP...
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POETI K U N D HERMENEUTI K
Arbeitsergebnisse einer Forschungsgruppe I X Redaktion: B u rkhan Steinwachs
TEXT UND APPLIKATION
THEOLOGIE, JURISPRUDENZ UND LITERATUR WISSENSCHAFT IM HERMENEUTISCHEN GESPRÄCH
Herausgegeben von Manfrcd Fuhrmann. Hans Rohert Jauß und Wolfhart Pannenberg
1 981
WILHELM fiNK VERLAG MüNCHEN
ISBN 3-nC5. 1 9 1 8 - 3 ( gebunden)
@ 1981 Wilhclm Fink Verlag. Mün<:hen Sat;r: und Druck : Passa\'ia Druckerei GmbH Passau Buchbindu.rbeiten: Graph. Betrieb Schonin,h. Paderborn
I N H A LTSVE RZE I C H N I S
VOK"ORT
I.ZUR THEOLOGISCHEN HERMENEUTIK WOl.fHART PANNENBERG:
Einleifung . . .. . .. . .
H.... NS RaBF.RT J AUSS: Die Mythe vom Sünd�nf311 (Gen.3) - lnterpretation im Lichte der liu!'urischm Hermeneutik . . . . . . . . . . . •. Zum Pachtvenrag GOtt! Adam und 7.ur eigenmächtigen Bc:sitzentziehung wegen einer Venn.gsverletzung (I . Mose 2,8-3,24) ...
13 15 25
MANfRF.D FUHRMANN:
37
000 M .... RQUAIlD: Fdix culpa ? - Bemerkungen 7.U einem Applikationsschicksal von Genesis 3
53
R.GRIMM: Entmythisierung und Remythisierung der Paradieseserzählung: Zu Z01.lS Paraaou . . . . . . . . .... .
Rt:INHOLD
Rt:INHART HERZOG:
73
Gonesmonolog und hermeneutischer DiaJog - Eine Anfrage an di('
Theologie ..
97
WAI.Tf.R. MAGASS:
Die liturgische: Applikation von Genesis 3
lOS
WAl TU MAGASS:
Dn:i exemplarische Applikationen von Genl'sis)
107
J ACOB TAUBES: Von Fall zu Fall. Erkl'nntnisthc:oretischc Reflexion zur Geschichte vom ... .. .. .. . . ... . .
Sündenfall
000 MARQUARO: Schwacher Tmst WOLFHART PANNENBUG:
Zu 2. Kor.12.9 (Rl'plik aufOdo Marquard:
"Schw:achl'rTrost")
11.
12S
ZUR J URISTISCHEN HUMf.NI'UTlk
MANI·RI-.D FUHRMANN:
111 117
Einleitung
129 .3.
Ober Menschenwürdl'. persönliche Freiheit und Freiheit der Kunst - Theologische Erwägungen aus Anlaß des Falles 'Mephisto' . .. ))7
WOI.FHART PANNENBERG:
MARTIN
KRIEl. E :J uri sti sc he Hermeneutik am Beispiel der 'Mephisto'·Entscheidung
149
Kunst ist als Kunst nicht justitiabel- Der Fall 'Mephisto' - Zur BcgTÜndun,smisere der J usti z in Entscheidun,en zur Sache Kunst . .
163
Kunst ohne Schranken? - Zur juristischen Interpretation der Kunstfreihcitsgarantie des Grundgesetzes . . . . .
179
KI.AUS OEl'TINGER:
KLAUS OF.l'TINGER:
Zur Interferenz juristischer und literarischer Hermeneutik in Sachen 'Kunst' (An.S Abs. 3 GG)
ANSFI.M HAVF.ftKAMP:
Zum Begriff 'Kunst' im Recht .
Dlm.u'
LIEBS:
J ÜRGtN
ScHLÄGER: Herm�nc:utique
dans le boudoir
199 203
207
INHALTSVERZEICHNIS
KLAUS OETTINGER: Kunstverstand - Sachverstand.Zur Funktion des Gerichtsgutachters in Sachen 'Kunst' .. .. . .. .. . .....
225
DIETER NÖRR:Triviales und Aporetisches zur juristischen Hermeneutik ..
235
111. ZUR LtTl-:RARISCHEN HUMt:NurrIK .
247
HANS ROBERT JAUSS: Einleitung . DETI.EF LtF.Bs: Rechtliche Würdigung von Paul
249
Va leryS Ömet;ere marin
WAI.TER MAGASS: Theologische Bemerkungen zu Paul Valc-ry WOLFHART PANNENBERG: Der
.
.. .. 259
Le Cimetii," man'n .
C;met;e," marin als religiöse Dichtung
GÜNTHER BucK: über einige Schwierigkeiten beim Versuch. den interpretieren .. . KARLHEINZ STIERLE: Valc-rys
.
263
.
269
C;met;e," marin zu 273
Le Cimetiere man'n und Niet7.sch� 'Großer Mittag' 311
(Applikation als 'bricolage')
UWE J AI'I': Sinnkrise und Sinnverstehen - Hermeneutische Probleme mit Valerys .... ...... .. Cimetiere man'n
323
ANSF.LM HAVERIlAMP: ValeT}' in zweiter Lektüre - Poetische Konstruktion und hermeneutische Tradition im C;metiere marin . . .... . .
341
GÜNTHf.R BucK: U Cimet;e," marin deutsch (Zu den übenragungen von Rilke und ...... ...... . .. .. .. .. .. . Cunius) ...... .
:\61
IV. ZUM PROal.EM DES NORMATIVEN UND DER ApPLIKATION
365
REINHART HERZOG: Vergleichende Bemerkungen zur theologischen und juristischen Applikation (am Beispiel zweier Auslegungen von 2. Sam.11)
367
DlfTER NÖRR: Das Verhältnis von Fall und Norm als Problem der reflektierenden Uneilskrah
395
MARTIN KRIF.LE: Besonderheiten juristischer Hermeneutik . . .
. . ... 409
WOLf HART PANNENBERG: Frage und Antwon - Das Normative in christlicher überlieferung und Theologie
413
WAI.UR MAGASS: Cn-do - Vom Bekenntnis zum Resultat ... . .
423
MANI'RED FUHRMANN: Dichtung als Normtext .
429
REINHART HERZOG: Zum Verhältnis von Norm und Narr:lti\'ität in den applikativen Hermeneutiken
. • • . . . • . . . . . . .
V. ZUR ALLGEMEINEN HERMENF.lrrIK .
435 457
HANS ROat:RT J AUSS: Zur Abgrenzung und Bestimmung einer literarischen Hermeneutik
459
DIETRICH BÖHLF.R: Philosophische Hermeneutik und hermeneutische Methode
483
THOMAS LUCKMANN: Zum hermeneutischen Problem der Handlungswissenschaften
513
INHALTSVERZEICHNIS
525
GÜNTHER BUCK: Von der Texthermeneutik zur Handlungshermeneutik KARl.HF.lNZ S T I ERLE : Text als Handlung und Text als Werk ........... .. . .... .
537
U�'E j APP: über Kontext und Kritik
547
HANS ROBERT j AUSS: Der fragende Adam - Zur Funktion von Frage und Antwort in literarischer Tradition
551
................. ..
561
ANSEI.M HAVf.RKAMP: Allegorie, Ironie und Wiederholung (Zur zweiten Lektüre)
R�:INHOLO R.GRIMM: Von der explikativen zur poetischen Allegorese . .
567
JÜRGEN SCHLÄGER: Applikationsverständnisder literarischen Henneneutik .
577
j ACOB TAUBES: Zum Problem einer theologischen Methode der Interpretation .....
579
000 MARQUARO: Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist
581
ANHANG
593 59. 59. 597
I I .Liber Genesis(I.Mos.2.4b- 3.24) 2. übertragung von G.von Rad a Die jahwistischc Geschichte vom Paradies (I. Mos.2,4 b-25) b Die Geschichte vom Sündenfall (I.Mos.3.1-24) .
n Der 'Mephisto'-Fall I. Auszüge aus den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (Zivilsachen). Bd 50. Nr.22. S.133-135 (Sachverhalt) und S.141-147 (Urteil) 2. Auszüge aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Bd 30, Nr.16, S.173-179 (Zum Sachverhalt) und S.188-227(Beschluß) . 3. Gesetzesauszüge zum BGHZ 50, Nr.22 und BVerfGE 3D, Nr.16
111 I. Paul Valery, Le Cimetjere mdnn ..... 2. übertragung von Ernst Roben Cunius . 3. übertragung von Rainer Maria Rilke
599 599 605 .33
.... 637 640 643
SACHREGISTER
.'7
PERSONENREGISTER
.50
VORWORT
Neuntes Kolloquium der Forschungsgruppe " Poetik und Hermeneutik " : ein kurzes Ko lloquium. das mehr als sonst den Charakter des Experiments haben sollte; es fand, wie üblich, in Bad Homburg statt - vom 25. bis 27. Mai 1978. Das ursprüng liche Thema (der Arbeitstitd) lautete: "Das Problem der Applikation in der theolo gischen, juristischen und l i terarischen Hermeneutik" , Auf dem Felde der hermeneutischen Theorie hat sich in den letzten Jahn.ehntcn nicht wenig getan. I n Deutschland entzündete sich an Bultmanns Entmythologisie rungsprogramm eine lebhafte Debatte. bei der das Verhältnis von anthropologi schan Fundament und gesch ichtlicher Eigenart biblischer Texte strittig blieb. Später trat Gadamers hermeneutische Philosophie in den Vordergrund : sie löste einen Dis put zwischen Philosophie und kritischer Theorie, zwischen Hermeneutik und Ideo logiekritik aus, der ungeschlichtet abgebrochen wurde. In Frankreich diskutierte man den Strukturalismus; die wissenschaltstheoretische Legitimation der Herme neutik \\'urde hiervon nur am Rande berühn. Immerhin fanden zwei Kolloquien stan, in denen Paul Riccrur die hermeneutische Per5pektive zur Geltung brachte: Exegese er hermeneurique (R. Barthes u. a., publiziert Paris 1 97 1 ) und Analyse srruc rurale er exegese biblique (R. Banhes u. a., Neuchätel 1 9 7 1 ) ; sie unternahmen den beachtlichen Ve rsuch, an Beispielen aus der Bibel die Vereinbarkeit von strukturaler (semiologischer) Analyse und theologischer Exegese danutun. In Italien veranstaltet das Centre I nternational d'Etudes Humanistes seit 1 96 1 interdisziplinäre Kolloquien über Fragen der Hermeneutik usw. Bei alledem - so schien es den Initiatoren des neunten Kolloq uiums - pflegten zwei Di nge zu kurz zu kommen: I. Die Diskussionen fanden unter Philosophen. Theologen, Literaturwissenschaft
lern st att - die Jurisprudenz wurde kaum berücksichtigt, obwohl sie durch neue Theo rieansätze (Topik, Fallnormdebane) enge Berührungen mit der Applika t ionsproblematik in der theologischen und literarischen Hermeneutik zeigte. 2 . Die Diskussionen spielten sich auf der Metaebene theoretischer Positionen ab, deren Praktikabilität kaum erprobt wurde, so daß das ei nstige Minel sich zum Selbst7.weck zu verkehren drohte. In beiderlei H insicht glaubte die Forschu ngsgruppe. bei ihrem eigenen Versuch auf Abhilfe bedacht sein zu sollen : sie hielt es für wünschenswert. daß ihr Kolloquium einmal die J u risprudenz ei nbeziehe und zum anderen die eigenen theoretischen Be mühungen dem Prüfstein der Praxis unterwerfe - mit Rücksicht auf das Postulat Gadamers, daß Anwendung ein ebenso integrierender Bestandteil des hermeneuti schen Vorgangs sei wie Verstehen und A uslegen.
VOR'«'ORT
10
Die Anlage des Kolloquiums war h iermit im wesentlichen gegeben. Teilnehmer aus drei Fakultäten - aus der theologischen, juristischen und philosophische n sollten sich gemeinsam um drei Basistextel bemühen : a) um einen theologischen Text - Paradies und Sündenfa l l ( 1 . Mos. 2 , " b-3, 24); b) um cin juristisches Textensemble - 'Mephisto'-Fall nebst Entscheidungen und zugrunde liegenden Normen ; c) um einen literarischen Text - Paul Valerys Cimetiere marin. H ierbei sollte zwar auch zum Vorschein kommen. wie der je kompetente Fach mann den Text seiner Disziplin nach den donselbst üblichen G rundsätzen auslegt. Zugleich aber gehöne es zu den Pflichten der Tei l nehmer. sich auf kühne Grenz überschreitungen einzulassen : der Theologe erhielt den Auftrag, das juristische oder das literarische Paradigma zu interpretieren, als wäre es ein theologisches. der Jurist wurde gebeten, das theologische oder das literarische Paradigma als Rechtsfal l zu würdigen usw. Diese ' dysfunktionalen' Auslegungen sind gewiß ein besonderes Wagnis ; andererseits scheinen gerade sie geeignet, Spezifika der jeweiligen H erme neutik (der theologischen. j u ristischen oder literarischen) ans Licht zu bringen, wei che die übliche ReAexion intra muros der einzelnen Fakultät meist unberücksichtigt läßt. Die Publikation der Beiträge spiegelt die Anlage des Kolloquiums : in den ersten drei Abteilu ngen werden die Basistexte aus der je verschiedenen Sicht dreier Fakultä ten erörtert. Hierbei nahmen die Herausgeber von einer Gepflogenheit Abstand. die den Bänden 5-8 der Reihe ein einheitl iches Gepräge gibt, d. h . sie hielten es nicht für angezeigt, die für das Kolloquium verfaßten Vorlagen und die du rch das Kolloquium erst angeregten Statements je für sich zu veröffentliche n ; der Leser des neunten Bandes findet also die Statements jeweils dort eingeordnet. wohin sie ihrem Gegen stande nach am ehesten gehören. Außerdem sei noch darauf hingewiesen. daß sich der neunte Band nicht in den erwähnten drei Abteilungen erschöpft : zwei we itere Abteilu ngen enthalten Beiträge - sowohl Vorlagen als auch Statements -. die sic h , ohne von einem d e r Basistexte auszugehen. mit übergreifenden Fragen d e r drei i n d e m Bande repräsentierten Hermeneutiken befassen. Für d a s Ganze und die einzel nen Beiträge der Abteil ungen 1-111 haben die Herausgeber exponierende und auch schon resümierende Einleitungen verfaßt; die Abteilu ngen I V und V lassen sich als ein polyphones Schlußwort betrachten, da dort die Teilnehmer aus ver schiedener Sicht versucht haben, ein Fazit aus den Gesprächen zu ziehen. Eine schlagwortartige Zusammenfassung des Ertrags wäre unangebracht. I mmer hin eröffnen dem Leser. der erste Auskünfte sucht. die Einleitungen zu 1-111 einige wichtige Perspektiven. Wenn sich darüber hinaus noch etwas über dieses Gespräch im ganzen sagen läßt. dann vielleicht folgendes : gerade den Fachfremden gelang es immer wieder, Möglichkeiten des Verstehens freizu legen. die den jeweil igen ' I n s i dern' ungewohnt oder unbekannt waren. I
Allr drri Trxtr sind im Anh.1nj;, lU dirsrm Band abgrdl'llck! (S. 59}-646j.
VOR'&'ORT
11
Auch dieses Kolloquium - es ist das " ierte - du rfte sich der organisatorischen und finanziellen Un terstützung durch die Werner-Reimers-Stiftung erfreuen, und auch dieser Band erhielt von dort einen Druckkostenzuschuß. Es ist für die Herausgeber eine angenehme Pflicht, der Stiftung hierfür im Namen der Forschungsgruppe sowie aller, die beim neunten Kolloquium mitgewirkt haben, gebührend zu danken. Herrn Staatssekretär a. D. Prof. Dr. Konrad Müller, dem ersten Direktor der Stiftung, der ein Freund und Förderer der Forschungsgruppe gewesen ist wie kein anderer, kön nen sie diesen Dank nicht mehr abstatte n : Herr Müller ist am 6 . J uni 1 979 in Mar burg gestorben. So war dieses Kolloquium das letzte der Forschungsgruppe, das u nter seinem Patronat stattfand. Er hat dieser Rolle dank seiner Liberalität, seines trockenen Humors, seiner Sachkenntnis und seines untrüglichen Urteils über Men schen eine Gestalt gegeben, die unvergessen und verpflichtend bleibt. Die Herausgeber danken außerdem Herrn Dr. Burkhart Steinwachs, dem Redak tor des Bandes, für seine unermüdliche Sorgfalt und Wachsamkeit, und sie danken endlich dem Manne, der unbedingt erwanen darf, daß er an dieser Stelle genannt wird: dem Verleger, Herrn Wilhelm Fink - unter seiner leitenden Hand gewann auch dieser Band in bewähner Prozedur Gestalt . D i e Herausgeber
I Z U R TH E O LO G I S C H E N H E R M E N E UT I K
W O L F H A RT PANNI'NBF. RG
E I N L E ITU N G
O i e Wahl von Gen.) als Textgrundlage für die Diskussion über theologische Herme neutik ist bezeichnend für die Herrschaft der Literaturwissenschaft i m Kreise der Poeten und Hermeneuten. Für die Literatur ist dieser Text offenbar recht ergiebig. als Demonstrationsbeispiel für die Eigenart theologischer Hermeneutik hingegen weniger. O ie Rolle nämlich. die dieser Text i n der Theologie gespielt hat und spielt. verdankt sich einer Umdeutung. die nicht durch Gen.) veranlaßt ist. sondern d urch Paulus. In seinem Brief an die Römer schrieb der Apostel. durch einen einzigen Menschen. Adam. sei d i e Sünde i n die Welt gekommen. und durch sie sei der Tod zu allen Menschen gelangt. "weil alle gesündigt haben" (Röm. 5 . 1 2: . . . hf q" l'tclVtEC; t'J"ae'tov). In der Vulgataübersetzung lautet diese Wend u n g : " . . . et ita in omnes homines mors pertransiit, in quo omnes peccaverunt". und die Auslegung bezog das sprachlich schwierige "in quo" seit Augustin relativisch zurück auf Adam. statt sie im Sinne des griech ischen Textes als begründende Erläuterung auf die unm ittelbar vorhergehende Aussage von der Allgemeinheit des Todes zu beziehen. Auf die so gedeutete Paulusstelle wurde das Erbsündendogma gestützt und damit auch die entspre chende Auffassung des Endes der jahw istischen Paradiesesgeschichte in Gen . 3 als einer Geschichte vom Sündenfall der ersten Stammeltern des Menschenge schlechts mit der Folge der Sündenverfallenheit und folglich des Todes für i h re gesamte Nachkommenschaft. Von alledem findet sich in der biblischen Erzählung jedoch nichts : ,,'eder vom Si.indenfall (dC'nn der Text sagt nicht ausdrücklich, daß C' s s i c h um die erste Sünde d e s Menschen überhaupt handelte). noch v o m T o d a l s Sündenfolge (denn es wird im Zusammenhang d e r Erzählung schon vorausgesetzt. daß der Mensch von Natur aus sterblich war. und damit sich das nicht ändert. er Gott nicht noc.:h mehr gleich werde als das durch die Frucht des Erkenntnisbaumes schon der Fall ist, w i rd ihm der Baum des Lebens vorenthalten). Schließlich findet sich auch der entscheidende Gedanke einer Vererbung der Sünde in der Parad ieseser zählung nicht. Der Text von Gen.) ist also für sich genommen nicht exemplarisch für die kirch liche Sünden- ode r Erbsündenlehre, sondern bildet eher eine kritische Instanz gegen sie. Darum ist er auch kein besonders gutes Beispiel für die spezifischen Probleme theologischer Hermeneutik. O b es eine solch e als einen in sich einheitlichen und von anderen abgren7.baren Typus von Hermeneutik überhaupt gibt, ob es sich nicht vielmehr bei der sog. theologischen Hermeneutik nur um eine Anwendung allgemei ner hermeneutischer Regeln auf Bibel und Kirchenlehre handelt. ist mir ohnehin zweifelhaft. Wenn ma n aber im H inblick a u f d i e eigentümliche Funktion biblischer
16
W OLFHART PANN ENB ERG
Texte in der kirchlichen überlieferung von einer spezifisch theologischen Herme· neutik sprechen will. dann wird man sie am ehesten in der Dogmenhermeneutik einerseits, der Homiletik andererseits finden können. Diese heiden hängen unterein ander immer schon zusammen, weil die Hom i l etik die Texte schon unter Anleitung des Dogmas liest und auslegt und nicht einfach von ihnen selber als literarischen E i nheiten ausgeht. Bei der Dogmenhenneneutik könnten sich dann auch interessante Berührungen zur juristischen Hermeneutik ergeben. besonders in den Problemen der Norminterpretation und Normapplikation. Doch das darf uns jetzt nicht be schäftigen, weil das dominante Interesse der Literaturwissenschaft uns die Au swahl eines Textes nahegdegt hat, der in l iterarischer H insicht reizvoll, folgenreich aber noch in ganz anderer H i nsicht geworden ist, nämlich i n einer äußerst komplexen Rezeptionsgeschichte der Dogmenbildung und Dogmenkritik. W i r haben es also bei diesem Text nur mit einem bestimmten Ausschnitt der hermeneutischen Prob leme zu tun, denen der Theologe sich gegenübersieht und deren mannigfache Aspekte er i m V o ll zug seiner Funktion im Prozeß christlicher überlieferung integrieren muß. Es liegt an der Auswahl des Textes, nicht an der Eigenart theologischer Hermeneutik überhaupt, daß sich dieser Text als recht spröde für eine j u ristische Interpretation erweist, wäh rend die literarische I nterpretation mit ihm in ihrem eigenen Element ist. Aus dieser Sachlage wird die Komplexität der Vorlage von Manfred Fuhrmann verständlich, die eine solche j u ristische I nterpretation zu geben versucht hat. Fuhr manns Ausweg aus der Schwierigkeit besteht ähnlich wie bei der Vorlage von Detlef Liebs zu Valerys Cimetiere Marin darin, daß die ju ristische A naly se ihrerseits ironi sche und phantastische Z üge erhält und damit in eine Literaturform verwande l t wird. F u h rmanns Absicht geht aber weiter. Er beleuchtet durch diese Darstellungsform die Inkommensurabilität der biblischen Paradieseserzäh lung mit der Form einer juristi schen Fallbeschreibung. Sie geht über die allgemein festzustellende Deformation h inaus, die jedem Lebensvorgang durch eine derartige Beschreibung widerfährt, indem sie ihn d u rch Beziehung auf gegebene Rechtsnormen so präpariert, daß er überhaupt als rechtlich relevant erlaßt werden kann. Die Konsequenz solcher Präpa ration für die Gotteserfah rung ist nämlich, daß sie der " Projektion auf die Fläche heutiger banaler Alh agswirklichkeit" überhaupt 7.um Opfer fällt. Gegenwärtiges Rechtsverständnis, das nur Beziehungen zwischen Gleichen kennt, könnte die bibli sche Paradie sesgeschichte nur unter der Voraussetzung als rechtlich relevant beurtei len, daß es GOtt selbst dem Gleichheitsgru ndsat7. unterwirft. Das geschieht, indem Gott bei Fuhrmann als Plantagenbesitzer dargestellt wird, der seine Besitzung dem Adam unentgeltlich zur Nutzung überläßt und damit eine vertragl iche Bindung mit i h m eingeht. Das Vergehen Adams rechtfertigt dann allenfalls den Entzug des über l assenen Gutes d u rch fristlose Kündigung, nicht aber die Vert reibung, die als "ver botene Eigenrnacht" einen Verstoß gegen das Gewaltmonopol des Staates darste l l t , dem a l l e Bürger in gleicher Weise untergeordnet s i n d . D a s g i l t in gesteigertem Maße für die mit der Vertreibung verbundene Todesfolge, die übrigens i n der theologi-
E INLEITUNG
17
schen Exegese noch 1 769 von J . D . M ichaelis durch die bei Fuhrmann erwähnte Annahme erklärt worden ist, daß der Parad iesesbaum ein G iftbaum gewesen sei : gerade die traditionalistisch gestimmte Apologetik griff gern zum Mittel solcher rationalistischen Deutungen. Die h ier festzustellende I nkommensurabilität ist n u n aber nicht z u verallgemei nern i m Sinne einer U nvergleichbarkeit von Glauben an Gott und Recht überhaupt. Wenn sie an einer Erzählung, die Gones Handeln am Menschen zum Gegenstand hat, z u beobachten ist, so läßt sich daraus zunächst nur entnehmen, daß solches Gotteshandeln offenbar nicht im Sinne unseres heutigen Rechtsverständnisses auf dem Boden des Prinzips der Rechtsgleichheit menschlichem Handeln gleichgestellt und i h m gegenübergestellt werden kann. Dennoch hat gerade das alte Israel auf seine Weise das Gottesverhältnis durchaus als Rechtsverhähnis darstellen können, wie es vor allem i m B undesgedanken geschehen ist. Der Bund ist eine Rechtsbez iehung z w ischen U ngleichen, die von dem überlegenen Partner gewährt wird und i n der es keine übergeordnete d rine I nstanz gibt analog dem Staate, der Verträge überwacht und gegenüber beiden Vertragspartnern ein Gewaltmonopol i n Anspruch n i m m t . Auf der Grundlage d e s Bundesschlusses entsteht d a n n allerdings ein Zustand der Gegenseitigkeit, der auch den überlegenen Venragspartner bindet, wenn auch d i ese B ind u n g den Charakter der Selbst bindung hat, in der fortdauernden Identität und Treue dessen begründet ist, der den Bund gewähn hat. Bei der Paradiesesgeschichte ist auch von einer solchen Gegenseitigkeit nichts zu finden. Von einer Rechtspflicht auf seiten Gones ist keine Rede. Der Mensch wird zwar durch das von Gott gege bene Gebot Partner in einem Rechtsverhältnis, sofern er selbst nun verantwortlich w ird für die mit dem Bruch des Gebotes eintretenden, zuvor genannten Folgen . GOtt läßt sich daraufh i n in eine A rt Prozeß mit seinen Geschöpfen ein, wobei ihnen auch rechtliches Gehör gewährt wird, so wie es das altisraelitische Gonesrecht den Rich tern Israels vorschrieb (Dm . 1 , 1 6). Doch wird in der Erzählung auf eine Rechts pflicht Gottes nicht reflektiert. Der B undesschluß gehört nach den Traditionen Isra els erst einer späteren Zeit an. Die im Zusammenhang mit der Genesiserzäh l u n g i n der christlichen Auslegungsgeschichte strin i g gewordenen Rechtsprobleme aber knüpfen sich erst an die Folgen des Sündenfalls. Bei ihnen handelt es sich besonders u m die Zurechenbarkeit der Sünde Adams an seine Nachkommen, wie sie von der K i rchenlehre behauptet wurde. Wenn man in Adam nur den ersten Menschen als I ndividuum, den Stammvater, nicht die my thische Darstellung des Menschen über haupt sieht, wäre hier in heutiger Terminologie von einer Art Sippenhaftu n g z u sprechen. Schon die Sozinianer haben die Kirchenlehre in diesem P u n k t abgelehnt wegen der U ngerechtigkeit, die sie Gott zuzuschreiben scheint, wenn man davon ausgeht, daß ein Verschulden immer nur mit den freien H andlungen des einzelnen verbunden sein kann. Der literarischen Interpretation kommt der Text der Paradiesesgeschichte von sich aus viel eher entgegen als einer j u ristischen. Das ist umso mehr der Fall, a l s wir es in d iesem Text nicht mit einem My thos im strengen Sinne des Wortes, nämlich mit der
\8
WOLFHART PANNENBERG
Ätiologie gegenwärtig bestehender O rdnungen, zu tun haben, sondern mit einer novellistisch ausgestalteten Sage, der frei lich ein mythisches Daseinsverständ nis 7.U grunde liegt. Die von Hans Rohert Jauß beobachteten Stilmittel der Erzählung wie die I ronie im M u nde Gottes oder die Umkehrung der Reihenfolge der von der Verführung der Schlange ausgehenden und bei Adam endenden übertretungen in Adams Selbstverteidigung, in der er die Schuld von sich zunächst auf Eva und weiter auf die Schlange schieht, und wiederum in der göttlichen U rteilsverkündigung, die bei der Schlange beginnt und auf Adam als letzten zurückkommt, sind auch von der biblischen Exegese hervorgehoben worden. Ebenso hat sie die psychologischen Feinheiten in dem Gespräch zwischen Eva und der Schlange beachtet. Die lapidare Beantwortung der Sinnfragen, die aus den gegenwärtigen Daseinsbedingungen der Menschen jenseits des Paradieses sich erheben, durch die E rzählung vom Fehltritt Adams und Evas hat für eine Hörerschaft, der diese Antwort nicht schon autoritativ vorgegeben war, wohl kaum bedeuten können, daß die Fragen selber durch sie niedergeschlagen und zum Verstummen gebracht w u rden, wie Jauß meint. Diese Fragen werden allerdings von der E rzählung beantwortet, aber auf eine schwebend poetische, undoktrinäre Weise, die dazu einlädt, daß der Hörer in Adam und Eva den Menschen schlechthin - und so auch sich selbst - wiedererkennt. Die Mühsal der Arbeit, die Schmerzen der Schwangerschaft, die Perversion der Geschlechtsbezie hung i n ein H e rrschaftsverhältnis hängen damit zusammen, daß der Mensch nun einmal ist, wie wir alle sind - nämlich eigensinnig gegenüber dem Geber alles Lebens. Daß damit im einzelnen nichts erklärt wird, stört wenig im Vergleich mit dem Umstand, daß d u rch diese Antwort die Gottesbeziehung zum Schlüssel für all die großen Fragen des Daseins erklärt wird : Der Bruch der Gemeinschaft mit GOtt hat die Auflösung der Gemeinschaft mit der Erde, mit der Tierwelt und nicht z u l etzt auch den Zerfall der solidarischen Gemeinschaft der Menschen untereinander z u r Folge. Das " W issen von Gut und Böse" bedeutet im Sinne der Erzählung so viel wie Wissen überhaupt, umfassendes Wissen von allen Dingen. Daß solches Wissen, das dann auch das Reflexionswissen um uns selbst in unserer Nacktheit einschl ießt, das Gefühl der Scham auslöst, leuchtet eher ein als die Verbindung dieses Motivs mit einem nur moralisch verstandenen "Wissen von Gut und Böse". Durch das Motiv der Scham soll im Sinne der Erzählung sicherlich kein Makel auf die Geschlechtlich keit als solche fallen (wie Jauß meint). Auch die dem Weibe d u rch das U rteil Gottes Gen. 3, 1 6 zugewiesene Rolle in der Geschlechtsbeziehung zum Manne deutet wohl kaum, wie allerdings auch die kirchliche Exegese es verstanden hat, das geschlecht liche Verlangen als solches als Folge der Sünde und Strafe für die Sünde zugleich. Die Pointe ist vielmehr darin zu sehen, daß die geschlechtliche Beziehung und Zuneigung nun zum Mittel der Beherrschung des Weibes durch den Mann wird. Vielleicht ist dabei auch ein Moment von iH5 ta/ion;5 im Spiele, da der Mann ja offenbar schon vorher der Verführung Evas erlegen, ihre Herrschaft über ihn also schon älterer Natur ist. Sie geht sozusagen schon auf die Zeit 'vor dem Fall' zurück, obwohl i h re
E I NLEITUNG
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Folgen deswegen noch nicht immer wohltätig sein müssen, wie der Gang der Para diesesgeschichte zeigt. Eine negative Qualifikation des geschlechtlichen Verlangens überhaupt wird man aus alledem nicht entnehmen dürfen. Sie stünde auch ganz im Gegensatz zu der sonst im Alten Testament und darüber hinaus bezeugten Einstel lung jüd ischen Denkens zu diesem Lebensthema. Die kirchliche A uslegung wird man allerdings in weiten Teilen nicht davon freisprechen können, das Geschlechtsle ben m i t einem derartigen Makel versehen zu haben. Das Christentum hat sich in dieser Sache den asketischen Tendenzen der Spätantike nicht zu entziehen vermocht . So h a t schon d i e altkirchliche Exegese teilweise, etwa bei G regor v o n Ny ssa, das paradiesische Dasein der ersten Menschen als ungeschlechtlich dargestellt. Demge genüber steht die in der Vorlage von Jauß ausführlich dargestellte Deutung Miltons nicht nur unserem Gefühl, sondern auch dem Text der Genesiserzählung sicherlich näher als derartige theologische A uslegungen. In anderer Abwandlung wird die erotische Deutung der Paradieseserzählung in der Vorlage von Reinhold R. Grimm an Zolas Paradou dargestellt. O ffenbar handelt es sich um einen sowohl für asketisch gestimmte Theologie als auch - im Gegenzug dazu - für die literarische A uslegung der Paradieseserzählung besonders ergiebigen Gesichtspunkt. Gegen die theologische Verdrängung der Sexualität, die bei Zola im zwangszölibatären Priester symbolhaft verdichtete Gestalt gewonnen hat, erhebt sich die Remythisierung der Paradiesesgeschichte. Das E rgebnis hat mit der bibli schen Geschichte selbst bei aller Entsprechung in den Details nicht mehr viel zu tun, umso mehr aber wohl mit ihrer Rezeptionsgeschichte in den Sünden- und Keusch heitsvorstellungen der Ki rche, besonders der abendländischen Kirche. Der sachliche Gegensatz kommt am deutl ichsten darin z u m Ausdruck, daß der Priester (und in ihm die Religion) bei Zola auf seiten des Todes gesehen werden, während die tradi tionelle kirchliche Auslegung der biblischen E rzählung den Tod mit der Ubertretung des Gotteswillens in Zusammenhang bringt. Die Eliminierung der ätiologischen Struktur der biblischen Erzählung, sowie die Substituierung eines zy klischen My thenschemas mit H ilfe der Fresken im Pavillon des Paradou sind von Grimm beson ders eindrucksvoll dargestellt worden. Daß der neue Natu rmythos mit der Aufhe bung der Geschichte auch kein Verhältnis zur Zivilisation mehr findet, obwohl er für seine eigene Formulierung von beiden abhängig bleibt, erscheint mir als ein weiterer besonders überzeugender und angesichts der ökologischen Romantik der Gegenwart auch aktueller Gesichtspunkt seiner I nterpretation. Bleibt der neue Natu rmythos durch ein zwiespältiges Verhältnis zur Moderne belastet, so ist die andere G rundform einer in l iterarischem Gewande auftretenden Entgegnung auf die kirchl iche Wirkungsgeschichte der Paradieseserzählung in d ieser H i nsicht glückl icher gewesen. Auch sie knüpft an das Verdikt über das mensch liche Wissenwollen an, das in dem Verbot liegt, die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu genießen. H ier wird nun aber nicht allegorisch gedeutet, sondern das Verbot wird wörtlich genommen und nur durch die Frage nach seinen Rechtsgründen aus den Angeln gehoben. So fragt denn auch Jauß, weshalb gerade das Wissenwol len dem
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Menschen untersagt gewesen sein so ll und o b nicht der Gewinn des Wissens trotz allem den Einsatz lo hnte, so daß der 'Sündenfall' als Emanzipation zu verstehen wäre. Der Sündenfall als unumgänglicher Schritt zur Selbstverwirkl ichung des Men schen : das ist die zweite. noch wirksamer gewordene Entgegnung auf die kirchliche Deutung der Paradiesesgeschichte. Damit b i n ich schon beim Thema der Vorlage von Marquard. Doch zuvo r er scheint no ch eine Bemerkung zum Stichwort 'Sündenfall' angezeigt. Die Vo rstellung eines Falles, wenn auch nicht die der Sünde (im Sinne von übertretung) liegt der Paradieseserzählung in ihrer ursprünglichen Form sicherlich fern. Nicht w i e die Sünde i n d i e Welt gekommen ist, bildet den Gegenstand der E rzählung, so ndern sie stellt dar, w i e wegen der Sünde der ersten Menschen der paradiesische U rzustand zu einer wehmütigen E rinnerung wurde. Erst d u rch die Stellung der Erzählung am Anfang des jahwistischen Werkes, als Ausgangspunkt einer Geschichte zunehmen der Bo sheit und Selbstherrlichkeit der Menschen auf dem Wege über den Mo rd Kains z u Lamechs exzessiven Rachegrundsätzen (Gen. 4 , 2 3 f . ) und zum babylo n i schen Tunnbau, ko nnte e i n e spätere Sicht i n der Paradiesesgeschichte d e n A nfang auch der Sünde selber finden. Das wird dem l i terarischen Gepräge dieser Erzählung nicht gerecht. Unter den Kritikern der Sündenfallvo rstellung hat besonders Schleier macher nachdrücklich darauf hingewiesen, daß all ihre kunstvolle psycho logische Mo tivierung einen übergang von der Unschuld zur Sünde nicht zu tragen vermag, vielmehr eine H i nneigung zur Sünde immer schon vo raussetztl . Darin l iegt kein Versagen der Kunst des Erzählers in seinem Bemühen u m psycho lo gische Mo tiva t io n . Vielmehr war für ihn die Sünde ein Mittel, nicht aber Gegenstand der Erklä rung. D i e l i terarische I nterpretatio n behauptet hier ihr Recht gegenüber der späteren do gmatischen Lehrbildung. Allerdings müßte die literarische I n terpretatio n selber theo lo gisch werden, wo llte sie die Po inte der Erzählung, die Ko nzentratio n der menschlichen Lebensthematik auf das Gottesverhältnis, aufnehmen. Nun also zur Vorlage von Odo Marquard. Auf die Kunst, aus dem B ibeltext herauszubringen, was nicht drinsteht, verstand sich nicht erst die Kirchenlehre m i t ihrer Vo rstellung v o m Sündenfall, sondern scho n die Gnosis, jedenfalls in einigen ihrer Fo rmen, nämlich besonders bei den Ophiten und Naassenern. Sie können den Ruhm beanspruchen, die Väter der Umdeutung des Sündenfalles in einen Emanzipa tionsfo rtschritt gewesen zu sein2• Hier wie dort scheint - im Sinne der von Marquard eingeführten U nterscheidung - die applikative Henneneutik früher gewesen zu sein als die reko nstruktive. Das kann z u r Frage nach den Bedingungen veranlassen, unter denen ü berhaupt rekonstruktive Hermeneutik auftritt. Am Ende stell t sie si ch selber als eine beso ndere Form der Applikation der überlieferu ng heraus - eine Applika t io n , die i n bestimmten Situationen nur noch durch Reko nstruktion zu l e i sten ist. Bei d iesem Resultat endet denn auch Marquards Vo rlage. indem die anfängliche I 1
Gla"b�ns/�hr�. § 72 , 2 f. Vgl. aber auch Ir�"""uJfI. hII�r. IV, 38,4.
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Selbstentzweiung der Henn eneutik i n eine reko nstruktive und eine applikative i m Resu l tat aufgehoben w i rd. wod u rch die Rekonstruktio n sich als die wahre Applika t io n herausstellt. Die dieses Resultat hervo rbringende Appl ikationsd ialektik vo llzieht sich nach Marquard. wie man das bei ihm erwarten kann, in der Geschichte des Theodizeemo tivs, genauer gesagt, in der damit verbundenen Auslegung des Sündenfalls. Dieser wird z u nächst (wie andere übel) zwecks Entschuldigung des Schöpfers entübeh. Do ch was als Entschuldigung beginnt, wird zum Prozeß gegen Go n. Das erinnert an die u ntergründige Tendenz der von Fuhnnann vorgeführten und zu leicht befunde nen juristischen I nterpretatio n der Paradiesesgeschichte. Die ehedem für die Ent schuldigung des Schöpfers für Sünde und übel in seiner Schöpfung entscheidende Denkfigur der Heiligung der Minel durch den Zweck führt erst in der von Marquard als Radikalisierung der Theo dizee gedeuteten Verdrängung des Schöpfers durch das sich emanzipierende Geschöpf zu durchschlagendem Erfolg, weil dieses den Sünden fall a l s Schrin zu seiner Befreiung begreifen kann. Wo rin die theoretische überlegen heit d ieser Stufe besteht - ihr dialektischer Fo rtschritt - ist allerdings nicht ganz leicht einzusehen. außer man denkt etwa an die nunmehr erreichte Identität des Auslegenden und des Ausgelegten. des Entschuldigers und des Entschuldigten : die Selbstrechtfertigung ist für den, der sie vo llzieht, gewiß allemal einleuchtender als die Rechtfertigung eines andern, gar Go nes. Dennoch entgeht auch der menschliche Schöpfer nicht der Verstrickung in die Zweideutigkeit der Minel : die Freiheit selbst w i rd d u rc h den Terror suspekt, und - damit geht Marquard über Hege! und die Fo lgen a l s bloße Episode sti llschweigend hinweg - die Freiheit im Sinne von Selbst \'erw irklichung ist dadurch als weltgeschichtliches Prinzip erledigt. Hier zeigt sich, w i e die H enneneutik im Bündnis mit Dialektik ihrer eigenen Gegenwart vo rauseilt, indem sie sich mit deren Vergangenheit beschäftigt. übrig bleibt dann der Trost der Theo d i zee, daß aus dem übel Gutes entstehen könne - tröstlich scheinbar gerade dann, wenn er vom Gonesgedanken gelöst und von den übersteigerungen des Emanzipationspathos freigehalten wird. Indessen bleibt doch eine Frage : wenn das übel durch mensch liches Handeln und so gar d u rch Henneneutik nicht eliminiert werden kann. wie tröstlich bleibt dann noch, daß das Obel so lches Handeln veranlaßt ? Der Trost scheint allenfalls im I m aginären zu liegen, - im Imaginären der Religio n , Theologie. Philo sophie, Herme· neutik. Die Poetik braucht in diesem Zusammenhang nicht eigens genannt zu wer den. weil sie in dieser Sicht dann gleichsam \'on selbst den gemeinsamen Nenner der übrigen i m aginären Tätigkeiten bildet. Die beiden Schlußteile der Vo rlage Marquards sind noch in anderer H i nsicht interessant . Die Gedankenfigur. daß durch das Obel Gutes ko mme, ist nämlich in mehrfacher Weise hintergründ ig. Die gno stisierende Auslegung von Gen . 3 bildet hier nur eine Kompo nente i n einem ko mplexen Bild. Die "bonum d u rch malum"· figur ist mit dem felix-culpa-Moti\' nicht identisch. Dieses ist entweder nur ein Spezialfall oder aber (in der idealistischen Auslegung) überhaupt kein Beispiel d es
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ersteren mehr, da hier ja dem Sündenfall die Qualität des malum gerade abgespro chen wird. D i e Fo rmel d e r fe/ix cu/pa bringt zwar in ihrer augustinischen Urgestalt den Gedanken zum Ausdruck. daß das Obel zum Anlaß für das G u te werden kann, nicht mehr aber in ihrer mo dernen Umdeutung zu einer theo retisch allgemeinen Entübelung des übels. E i n anderes Beispiel der Figur " bonNm durch m alum" dagegen bleibt i m Gedan kengang Marquards in auffälliger Weise abwesend : das ist das Thema von Kreuz und Auferstehung. Kreuz und Tod als Durchgang zum Leben : so llte das nicht das heim liche Paradi gma der verschiedensten Varianten der "bonum durch malum "-Figur sein? Hier dürfte der ursprüngliche Sachkontext des fe/ix-cu/pd -Motivs zu suchen sein: " Wo die Sünde groß geworden ist, da hat sich die Wirkung der Gnade als noch größer erw iesen" (Röm. 5, 20). Schon Paulus fiel sich hier gleichsam erschrocken selber ins Wo r t : "Was so llen wir nun sagen : Laßt uns bei der Sünde bleiben, damit die Gnade nur umso größer werde? Niemal s ! " (Röm. 6, 1 f.). Erst nachdem d ie Schuld im Lichte des Todes Christi dis Schuld (und d. h. als mdlum) erkannt ist, wird sie f e l i x CU/pd. Vo n sich aus ist sie es schon deshalb nicht, weil sie sich selber weder als CUlpd noch als mdlum bewußt ist. Die übel suchen wir zunächst ganz woanders : in der M ü h sal der Arbeit, in den H errschaftsverhältnissen, die sogar die intimsten Beziehungen der Menschen vergiften, in der Verq uickung von Leben mit Leiden, die am U rsprung des Lebens besonders rätselhaft ist. I m Hintergrund dieser übel eine Schuld der von ihnen Betroffenen zu diagno stizieren, ist gewiß eine starke Zumu tung. Aber diese Zumutung schlägt nicht nur nieder; sie mo b i lisiert auch das Schul d i gsein i m Sinne der Selbstverantwo rtlichkeit, die es mit den übeln aufnimmt. Die Schuld ist nicht von sich aus scho n selig. Bedingung dafür ist, daß sie als Schuld und damit als dasjenige übel erkannt ist, in das die Freiheit immer scho n verstrickt ist. Do ch kann so lche E rkenntnis durchgehalten werden, wenn nicht anderweitig scho n Befreiung von diesem und zugleich von allen andern übeln gewährleistet ist? Von einer so lchen Vorgabe dürften auch die anderen Varianten der "bonum durch md lum" - Figur zehren, sofern sie das md lum ja nicht eliminieren können. Maßen sie sich letzteres an, so werden sie imaginär, ohne sich dessen bewußt zu sein. Da kann denn die I magination zerstörerisch wirken, wie Marquard an dem Schritt von der Freiheit zum Schrecken zeigt. Anders steht es bei dem I maginären der Po esie, die sich gerade da als imaginär weiß, wo sie sich als ein " bonum d u rch malum " versteht. Das po etisch I m aginäre kann auf diese Weise mehr als nur imaginär im Sinne einer Ko mp ensatio n durch Drogen oder eine bunte Traumweh sein. Es kann z u r Verhei ßung einer realen überwindung des übels und so zum Vo rzeichen werden. So ist ja auch die Genesiserzählung gelesen worden mit ihrer Bemerkung über den Kampf zwischen Mensch und Schlange : "Er wird dir den Kopf zertreten, und du wirst ihm nach der Ferse schnappen" (Gen. 3, 1 5). Warum so l l man dergleichen nicht auch in anderen Z ü gen der Erzählung finden, wie das in der Bemerkung von Jauß geschieht, daß Go n, der sich mit der Schöpfung Evas der Einsamkeit Adams annimmt, offenbar zuvo r scho n seiner eigenen E i nsamkeit durch seine Schöpfertätigkeit erfo l greich
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abgeholfen hat. Das kl ingt fast schon wieder wie Theodizee. Auch wenn es sich dabei nur um eine po etische Theod izee handeln so llte. 50 korrespo ndien sie do ch der christlich verstandenen Heilsgeschichte. und umgekehrt ist auch d iese am Ende nicht ohne Poesie.
HANS ROBERT JAUSS D I E MYT H E V O M S ü N D E N FAll ( G E N . 3) I NTE R P R ETATI O N I M L I C HTE D E R LITE RA R I S C H E N H E R M E N E UTI K
Fragt man nach möglichen Gründen für das ästhetische I nteresse. das dieser Text gewiß auch heute noch auszulösen vennag. so ist wo h l zuerst an seine mythische Gestalt zu denken. die der Leser unserer Gegenwan als einen besonderen Reiz des Ursprünglichen und darum Fernsten erfähn - als eine Geschichte, die für einen Hörerkreis erzählt wurde. mit dessen archaischer Lebensweh uns so gut wie nichts mehr verbindet, und die gleichwo h l den Anspruch bewahrt. etwas über die ganze Menschheit auszusagen, das auch uns noch angehen so ll. Der literarischen Form nach handelt es sich bei Genesis 3 zweifello s um eine Mythe, wenn darunter nicht nur eine denkwürdige geschichtliche Tat, so ndern eine Erzählung verstanden wird. die ein Ereignis 'V o r aller Geschichte verewigen so ll. das in seinem Ausmaß das Ganze der Weh betrifft. das Verhältnis des Menschen zu Go u oder höheren Mäch ten einschl ießt und eine elementare Frage damit beantwortet. daß sie d u rch jenes anfängliche Ereignis ein für alle Mal vo rentschieden worden sei. Unser Text scheint mir nun aber im E rwartungsho rizont seiner Gattung dadurch ausgezeichnet zu sein, daß der lapidare Antwortcharakter der nur vo rdergründig schlichten Mythe bei näherem Zusehen in eine hintergründige Ko mplizienheit des Erzählten gerät. Im archaischen Gewand der erzählten Mythe vom verlorenen Paradies scheint sich be reits ein pro blematisierender Erzähler zu verbergen. Die Personen der Handlung entsprechen einer archetypischen Ko nstellatio n : Gon - Mensch (als Mann und Frau) - Tier; doch die vier Archetypen verkörpern nicht allein ihre elementaren Beziehun gen. nicht nur das Wesen und die Stellung von Go n, Mann, F rau und T ier, so ndern sie haben auch zusätzliche Eigenschaften, die sie aus ihrem ro l lenhaften Verhalten auf eine fast schon 'modern' anmutende Weise individualisien hervonreten lassen. Jahwe. der Gon. geht nicht in der Ro lle der herausgefordenen, verhörenden, strafenden und über die Zukunft verfügenden Auto rität auf. E r scheint den Ge brauch i ro nischer Rede zu lieben, gleich eingangs. vv. 9-1 1 : "ubi es?" (als o b er es nicht wüßte), später mit "qui s enim indicavit ti bi quod nudus esses" (als o b irgend jemand Adam dies eigens hätte sagen müssen) und am Ende nach der ' Einkleidung', v . 2 2 : "ecce Adam factus est quasi unus ex no bis" (scho n an eine - dem Go n wenig gemäß e ? - Verhöhnung grenzend). I n der Okonomie der erzählten Mythe erscheint so lche I ro nie als ein ästhetischer Uberschuß. Das scheint mir auch für die rhetori schen Subtilitäten zu gelten, die der Erzähler bei der Mo tivation und bei den Reden der anderen d rei Personen entfahet. Die Sch lange fädelt das Gespräch denkbar ge-
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schickt ein, indem sie Eva provo ziert, von sich aus das Verbot erst einmal selbst zu erläutern ; dann erst behauptet die Schlange. o bscho n hierarchisch am nied rigsten gestellt. ein Geheimnis zu wissen. welches GOtt. das höchste Wesen, dem Menschen vo renthalte. Warum sie derart initiativ wird. bleibt ungesagt und läßt der Phantasie einen großen Spielraum. H ingegen sind für das Handeln des Weibes gleich drei Gründe angeführt : " q uod bo num esset lignum ad vescendum el pulchrum oculis aspectuque delectabilis" (v. 6). Wäre es nicht reizvo l l durchzuspielen. welches \'cr schiedene L icht auf Evas ko mplexen Charakter fällt, je nachdem man einem dieser G ründe den Vorrang bei der Bewertung ihrer Handlung gibt (z. B. de/ectabi/� = ' begehrenswert, um klug zu werden' ! ) ? Der Mann erscheint demgegenüber nahezu einfältig: er drückt sich vor der Warum -Frage (v. I I ) , indem er die Schuld kurzer hand auf sein Weib abschiebt (oder läge in: "quam dedisti so ciam m i h i " , v . 1 2 , ein Aufmucken gegen den Letztverantwortlichen?). Go n antwortet auf das Abschieben der Schuld von Adam über Eva auf die Schlange als vollendeter Rheto riker in umge kehrter Reihenfo l ge, bringt Adam derart wieder an die erste Stelle und scheint so dem lädierten Prestige des Mannes selbst noch beim Akt seiner Bestrafung aufhelfen zu wo llen. Ästhetisches I nteresse erweckt es aber auch, wie d ieser relativ kurze, dramatisch geschürzte Text eine erstaunliche Fülle von Fragen nach den ' A nfängen' lapidar zu beantworten weiß, ohne dabei in d idaktische D i rektheit abzufallen. Die Erzählung von der ersten übertretung eines Gebots durch den ersten Menschen und ihren unabsehbaren Folgen antwortet offenbar in erster L inie auf die nahegelegte Frage, wie und um welchen Preis der Mensch das Wissen von Gut und Böse erlangt haben mag. Unterstell t man (gestützt auf v . S und die i ronische Wiederaufnahme in v. 22), daß es d iese fundamentale Frage gewesen sein kann, auf die der Text die A ntwort war, so ist gewiß nicht zu verkennen, daß das Erzählte so gleich auch wieder neue Fragen aufgibt, wie zum Beispie l : Warum hat das erlangte Wissen von Gut und Böse zuallererst die Scham vor der Nacktheit ausgelöst? Die lapidare Antwort auf die fundamentale Frage nach dem Ursprung unseres Wissens von Gut und Böse kann in der Mythe vom Sündenfall nicht alles weitere Fragen zum Erlöschen bringen. I m Gegenteil : dieselbe mythische Erzählung mußte h i e r o ffenbar a u f e i n e ganze Reihe weiterer Fragen Antwort geben, weil das mythische Ereignis als Antwo rt immer wieder neue Fragen nach sich zo g. Solche Fragen betreffen hauptsächlich das 'Vor her' und 'Nachher' des mytho lo gischen Ereignisses, was alles der Mensch beim Verlust seiner paradiesischen Vo l lko mmenheit für die erlangte Erkenntnis i n Kauf nehmen mußte: Gebären unter Schmerzen, A rbeit unter Mühsal, Sterblich keit, Feindschaft zwischen Mensch und Tier, Herrschaft des Mannes über das Weib! Die großen Fragen nach den Bedingungen des menschlichen Daseins jenseits des Parad ie ses, deren jede eine erklärende Geschichte für sich erfordern könnte, so ll en gleich wo hl a l lesamt mit ein und derselben A ntwort auto ritativ zum Verstummen gebracht werden. Die lapidare Antwo rt von Gen. 3: a ll dies sei die Fo lge der selbstversc hulde ten Austreibung des ersten Menschenpaares aus dem Garten Eden, hinterläßt indes
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den stärksten Anreiz, weiterzufragen. sei es in dem legitimen Bedürfnis, zu erfahren, welcher Sinn denn nun dem menschlichen Tun unter den verhängten Bedingungen zukommen so l l , sei es in der illegitimen Neugier, Fragen zu stellen, die von der mythischen Antwort unterdrückt werden, wie zum Beispiel : Warum hat Gott dem ersten Menschen gerade das Wissen von G u t und Böse vo renthalten? Hat er die List der Schlange nur zugelassen oder gewo l lt, wenn nicht sogar benötigt ? II
Der 7.weite Durchgang der Lektüre so ll das Befremd liche vom Vertrauten scheiden und damit der Abhebung zweier Horizo n t e : dem vertrauten Horizont gegenwärti gen Verstehens von der Alterität des vergangenen Weltverständnisses d ienen. Daß die Sch lange reden kann, ist uns aus der Trad itio n der Fabel wo hlvertraut, nicht aber. daß sie vor allen anderen Tieren durch List ausgezeichnet sein so ll. Hat diese Her vo rhebung einen verschlüsselten Sinn ? Die befremdliche So nderstellung der Schlange w i rd noch erhöht, wenn ihr nach v. 5 zuzuschreiben ist, daß sie allein etwas lb.\· on 7.U wissen !'icheint und \·c rratl'n kann. \\'a� Gones Verbot. die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen, bedeuten kann und was er damit dem Menschen vo renthalten wo llte. Dabei dürfte uns zunächst befremden. daß Gon nach Herrenart ein Verbo t als pure Geho rsamsprobe, das heißt ohne Angabe seines eigentlichen Zwecks und I nhalts, verhängt. Noch viel mehr müßte uns aber befremden. daß Gon - wenn die Schlange nicht lügt (wogegen aber Vers 7 mit der Fo rmulierung spricht "et aperti sunt oculi ambo rum") - mit dem Verbot offenbar das Privileg bemäntelt haben 5011, allein wissen zu wo l len. was Gut und Böse ist. Wenn dem so wäre, könnte uns nichts plausibler erscheinen als der Griff nach der willkürlich vo renthal tenen Frucht und wäre uns der Sinn für die beabsichtigte Diskriminierung der bibli schen Eva abhanden gekommen. A l lenfalls könnte eine moderne Eva die vorplato ni sche Triade der drei Gründe (nach Luthers übersetzu ng: gut zu essen. lieblich anzu sehen. begehrenswert, um klug zu werden) provokativ durch den antiauto ritä ren Grund überbieten, nach dem Verbotenen zu greifen, weil es verboten ist. Be fremdlich erscheint uns also in der Mo tivation von Gen . 3 , warum das durchaus ho no rige. für unsere Begriffe ent lastende drine Motiv bei der Verurteilung von Evas H and lung mit keiner Si lbe mehr erwähnt wird. Einen ersten G ipfel der Aherität des vergangenen Bedeutungsho rizonts erreicht die Erzählung mit v. 7; "et aperti sunt oculi ambo rum cumque cogno vissent esse se nudo s " . Nicht weil das plötzliche Erkennen, nackt 7.U sei n . Scham vor sich selbst. dem eigenen und dem anderen Geschlecht (Feigenlaubgebärd e ! ) auslöste. Das kann auch ein moderner Leser als eine ' natürliche' Reaktion empfinden und sich psycho analytisch, sinengeschichtlich oder wie immer erklären. Sondern weil die erwartete Erkenntnis von Gut und Böse zuallererst bei der Scham vo r der bewußt gewordenen Leiblichkeit und Geschlecht lichkeit einsetzen so ll, auf die ebendadurch ein unc rklärter, geheimnisvo l l bleibender Makel zu fallen scheint.
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Die zweite Episode ist eher dazu angetan, d ieses Geheimnis der überschrittenen Schwelle noch z u vertiefen. Die Scham vor sich selbst angesichts des A ndern schlägt heim Erscheinen des Drinen in Angst um, die Adam zu dem kindlich h i l flosen Versuch treibt. sich vor dem allwissenden Herrn des Ganens zu verstecken. Ist es die merkwürdige Furcht, ihm nackt entgegentreten zu müssen, o bschon ihn sein Schöp fer nie anders sah und sein Leib derselbe blieb, oder ist diese Furcht nur verdrängte Angst vo r der Strafe für die übertretung des Gebo t s ? Die iro nische Frage des begin nenden Verhörs : "quis enim indicavit tibi quod nudus esses?" (v. t 1) spricht für das Letztere (durch den Nachsatz : "nisi quod ex ligno , . . co medisti" ) . Doch damit läßt uns der Text weiter i m U ngewissen, wie eigentlich die Erweckung der Scham vor dem eigenen Leib und Geschlecht mit der vorenthaltenen. durch die übertretung des Verbots erlangten Erkenntnis von Gut und Böse zusammenhängen so l l . Gehört dieser Zusammenhang in die nur noch histo risch rekonstru ierbare Anthropologie einer fremden Lebenswelt oder muß ein eso terisches (allego risch verschl ü sseltes) Wissen, wenn nicht gar eine gewolhe, mithin ' po etische' U nbestimmtheit angenom men werde n ? D a s V e r h ö r als so lches bietet der literarischen Hermeneutik k e i n e nennenswerten Probleme. Nur beiläufig sei zur literarischen Fonn bemerkt, daß die ironische Ein leitung wie das Weitergeben der Schuld vom höchsten zum niedrigsten Angeklagten zu den bewährten Mustern der Ko mödie gehört. Der erhabene Stil, der dem ehrwür digen G egenstand und hohen A nlaß eigentlich angemessen wäre, wird o ffenbar in Gen . 3 nicht angestreb t ; ganz so fern steht die biblische Mythe den griechischen Gönerschwänken vielleicht doch nicht . . . Das erste der aitio lo gischen Mo tive in der U rteilsverkündung erscheint heute eher kurios als befremdlich. Denn daß die Schlange h infort 'auf dem Bauche kriechen' muß, impliziert nur die fürwitzige Frage, wie sie sich denn zuvo r bewegt haben soll (der ikono graphischen Phantasie ward damit eine schöne Aufgabe gestellt). Wo hl aber macht der Rückschluß vo m 'Nach her' z u m ' Vo rher' bei den folgenden aitio lo gischen Mo tiven die Alterität des ur sprünglichen Bedeutungsho rizo mes wieder ansichtig. So llten dem Weib erst nach dem Fall die als ihr eigentümlich genannten Züge : Nöte der Schwangerschaft, Schmerzen der Geburt, sexuelles Verlangen nach dem Mann und zugleich Be herrschtwerden durch ihn (v. 1 6), zuteil geworden sein? Dann erschiene z u m einen die äußerst negative Bewertung ihrer Geschlechtsrolle befremdlich, der denn auch bald danach die Benennung HafJa oder 'Muner aller Lebenden' (v. 20) widerspricht. Zum andern häne die implizierte Exi stenz vo r dem Fall das Befremdliche, daß Eva i m Paradies zwar di e gleichberechtigte, ni cht beherrschbare socia Adams war, aber offenbar noch kein Verlangen nach Liebesvereinigung empfunden hätte (was sich wiederum nicht mit Gen. 1 , 28 reimt : "crescite et multiplicamini" ) . M utmaßungen über die doch wo hl nicht ganz abstrakt zu denkende paradiesische Lust des ersten Menschenpaares stellt keineswegs erst ein mo derner Leser an, wie bekanntlich eine reiche exegetische und poetische Traditio n bezeugt, die den leeren Rahmen der ' Paradiesesehe' auf die ergötzlichste Weise ko mpensatorisch ausgefüllt hat.
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Adam scheint bei der Uneilsverkündung bei weitem besser abzuschneiden. A ls ob es Gott darauf ankomme, Adam an seine männliche Oberlegenheit zu erinnern und fonan eine patriarchalische Gesellschaft einzurichten, wirft er ihm als erstes vor : "quia audisti vocem uxoris tuae" ( v . 1 7), und erst a l s zweites, daß Adam entgegen dem Verbot vom Baume gegessen. Warum sollte der Mann bei einem Verhä.hnis inter pares eigentlich nicht auf die Stimme seines Weibes hören? Merkwürdigerweise setzt sich der Erzähler mit der Formulierung von v. 17 in einen unbemerkten Widerspruch zum Hergang nach v. 6, wo Eva in einer wortlosen Gebärde die angebissene Frucht an Adam gereicht hatte. M i t alledem läßt der Text nicht allein - man möchte sagen : erfreulicherweise ! - die Frage nach dem Hauptschuldigen, sondern auch die kleinere, aber gleichfalls folgenreiche Frage offen, aus welchem Motiv eigentlich Adam i n die von Eva angebotene Frucht gebissen und damit das Verbot überschritten hat. Die Palette möglicher Beweggründe setzt bei Betörung oder Verführung ein; für Adams Apfelbiß können aber auch die für Eva genannten Motive geltend gemacht und darüber h i naus der edle G rund einer Solidarisierung mit der schon 'Gefallenen' vermutet werden. Von anderer Art als der ästhetische Reiz und die moralische Kasuistik d ieser offengebliebenen Motivation ist die folgende dunkle Formulierung: " m aledicta terra in opere tuo". M i t der Funktionsaufteilung, die dem Weib die Nöte der Regeneration und dem Mann die Mühsal der Ernährung des menschlichen Ge schlechts auferlegt, soll auch die E rde ein Fluch treffen. Warum wird die Erde oder Natur ganz unschuldigerweise in den Fall des Menschen m i tverwickelt ? Zielt Gottes insgeheimer Wille hier auf die Erde als die Natur überhaupt oder auf den Erdboden als Ackerfeld oder nurmehr auf die A rbeit als die Tätigkeit, in der sich der M ensch die Natur zum Zwecke seiner Selbsterhaltung aneignet ? Angesichts des Fluchs, der von nun ab auf a l l em Tun des Menschen lastet, erscheint es unproportionien (Quel lenkontamination?) und kaum tröstlich, daß Gott höchstpersönlich das scheidende Paar m i t selbstgeschneidenen Kleidern ausstattet. Denn das wiederum ironisch an hebende Schlußwort des Herrn : "ecce Adam factus est quasi unus ex nobis . . . " ( v . 2 1 ) folgt unmittelbar auf seine ' E inkleidung', so daß man sich die unehrerbietige Frage verkneifen muß, was denn ' unsereins' im Garten Eden zu tragen pflegte. Wichtiger ist hingegen, daß auch in Vers 2 1 /22 das Verbergen der Nacktheit und die Erkenntnis von Gut und Böse wieder wie in v. 5-7 zusammengerückt sind, ohne daß d ieser Zusammenhang inzwischen aufgehellt worden wäre. Dafür den (doch wohl sehr viel späteren ?) theologischen Begriff der 'Sünde' einzusetzen. liegt für die literarische Henneneutik vom Text her keinerlei Anlaß vor. Die ästhetische Neugier, die d ieser - in seinen Unbestimmtheitsstrukturen so hochgrad ig poetische - Text erweckt, w i rd vielmehr an einem anderen Punkt weiterfragen. Sie wird sich nicht damit begnügen, in der Austreibung aus dem Paradies nunnehr die initiale Frage nach dem hohen Preis beantwonet zu sehen, um den der Mensch das Wissen von Gut und Böse erlangt hat. Die ästhetische und mit ihr die theoretische Neugierde könnte auch versucht sein. die ursprüngliche Fragerichtung umzukehren. ohne dabei die mythische Antwort preisgeben zu müssen, u nd eine Gegenrechnung aufmachen,
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etwa deran : war der Preis wirklich so hoch. daß es sich nicht auch verlohnt hätte. mit dem W i ssen von Gut und Böse ausgestattet den Schritt in die zwar nachparadiesi sehe. aber dafür münd ige Existenz zu tun? Und wenn damit so etwas wie Geschichte überhaupt erst entstehen konnte, mußte dann vielleicht nicht auch Gott an d ieser beginnenden Arbeit der Menschheit gelegen sein, die ihn h infon von der CTeat;o perpetua entlastete und ihn zugleich der Frage nach dem Sinn des Bösen in der von ihm geschaffenen guten Welt enthob? So daß man sich nun auch die fürwitzigste aller Fragen, die von der Mythe unterdrückt blicb, mit ästhetischer Lizenz stellen kan n : ob G O t t A d a m u n d E v a e t w a nur scheinbar e i n e Gehorsamsprobe auferlegt hat, insgeheim aber den Preis eigens sehr hochgerückt und durch eine gezielte Indiskre· tion verlockend machte, der das erste Menschenpaar mit einer ' E rbsünde', deren es sich bei seinen Nachkommen nicht mehr zu schämen brauchte, auf den Weg der Geschichte bringen sollte?
1II D i e U mkehrung d e r ursprünglichen Fragerichtung hat u n s zu einer modernen I nter· pretation und Rezeptionsstufe geführt, die durch Hege! und zuletzt durch Bloch Berühmtheit erlangte : die christliche Mythe vom Sündenfall als dem Anfangsereignis der Emanzipation der Menschheit aus selbstverschuldeter Abhängigkeit. " Die wirk· liche U rsünde wäre es gerade gewesen, nicht sein zu wollen wie Gott" ' : mit dieser philosophischen Applikation von Gen. 3 , die als eine versteckte Theodizee (nach O. Marquard) gew iß auch die gegenwärtige Theologie nicht ungerührt lassen kann, soll für mich indes das Ansinnen noch nicht abgegolten sein, die literarische Applikation weiterzuführen. Gegenüber der theologischen Dogmatik, die uns - z . B . nach Thie· licke - von der Frage, wie das Böse in die Welt gekommen ist, als von einer "falsch gestellten Frage" erlösen wilP, wie auch gegenüber der Emanzipationsphilosophie, welcher es heute vor den Folgelasten der Autonomiethese bange zu werden scheint, bleibt der l iterarischen Hermeneutik wohl noch eine eigene Möglichkeit, das verlo rene Paradies vor seinen theologischen wie vor seinen philosophischen Verächtern zu rechtfertigen. Wo der Theologe den hortuj 'Voluptatij nur ex negativo würdigen darf, als Vorbedingung für das peccatum originale, welches die Satisfaktion des De m iurgen erfordern und letztlich zur Erlösung der gefallenen Menschheit führen soll, und wo der Geschichtsph ilosoph den Garten Eden als einen " Park" schmälern muß, in dem " nur Tiere und nicht Menschen leben konnten" ', kann die ästhetische Rezep. tion dem von der Heilsgeschichte wie vom Fortschritt der Emanzipation gleichenna ßen zur Strecke gebrachten i rdischen Parad ies neue Bedeutungshorizonte erschlieI E . Bloch, "Beuachtungen der Schlange", aus Athrum"s Im Chnstrnt"m. ",iedeubgfilruckt in Dir S.�hr mIt Jrm Apfrl. hg. J . I ! lies. Freiburg 1 972. S. 1 46. "Die Taktik der Vrrführunt:", in D,r S.�hr mit Jrm ApfrI S. RO-R 9 . 1 Hq:d. W,.,.... r. hg. H. Glocknrr IX. S. 4 1 3 ; dazu E . Bloch, "Brtr.Jchlungrn" S. 1 49.
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ßen. Dichtung und Kunst der christlichen wie der nachchristlichen Ära haben sich in der Tat gerade das verlorene Parad ies bevorzugt zu eigen gemacht und es in jeder Epoche erneut unternommen, die paradiesische Erfahrung des ersten Menschenpaa res für das Selbstverständ nis menschlichen Glücks zu restituieren. Wäre die Rezeptionsgeschichte des verlorenen christlichen Paradieses in Dichtung und Kunst schon geschrieben, so läse sie sich wie ein unorthodoxer, wenn nicht häretischer Kommentar von Gen. 3 . In dessen Lichtkegel träten hervor - um nur einige Stationen zu nennen : der paradisus amoris der Minnedichtung und Allegorie des M ittelalters, die bukolischen G lückswelten der Schäferdichtung in der Renais sance, Miltons Paradise lost, Rousseaus Etat de Nature, die romantische Nostalgie des vert paradis des amours enfantines, Prousts Paradiese der Erinnerung (" Ies vrais paradis sont les paradis qu'on a perdus") und noch in unserer Gegenwart Stendhals Formel von der Kunst als promesse du bonheur, die paradoxerweise nirgends schöner aufleuchtet als im Kontext von Adornos puritanischer Ästhetik der Negativität. Man wird der ästhetischen Restitution des biblischen Paradieses demnach keineswegs gerecht. wenn man sie bloß im Bereich märchenhafter Wunscherfü llung ansiedeln oder als illusionäre Befriedigung des Bedürfnisses nach einer 'heilen Welt' abtun will. Die implizite Hermeneutik der ästhetischen Rezeption hat in diesem G rundmuster religiöser Erfahrung immer schon mehr erfaßt und durch produktive I nterpretation entfaltet als nur die Tagträume von einer 'Welt nach Wunsch'. Für die produktive Seite der ästhetischen Erfahrung konnte aus dem Auftrag des adamitischen Men schen, an der Schöpfungsarbeit Gones mitzuw irken ("ut operaretur et custodiret". Gen. 2 . 1 5). die Legitimation des homo artifex abgeleitet werden. der sein Tun (Poie sis) mehr und mehr als eine zweite Schöpfung begriff u nd derart gleichsam den Fluch abarbeitete, der nach Gen. 3, 1 7 auf aller Hände Werk lag. Für die rezeptive Seite der ästhetischen Erfahrung lag in der Notwend igkeit. die sinnenhaFte Vollkommenheit des verlorenen paradisus voluptatis in Wort oder Bild auszulegen, die provozierende Aufgabe für Dichtung und Kunst, jene Fülle und Feinheit sinnlicher Erfahrung des adamitischen Menschen seinem Nachfahren vorstellbar zu machen. der diese vol l kommene Aisthesis durch d e n Fall eingebüßt hat. I c h habe d i e christlichen Aspekte der Begriffsgeschichte von Poiesis und Aisthesis schon anderweitig skizziert4 und möchte hier nur noch die paradigmatische Bedeutung von Gen . 3 für die kommuni kative Seite der ästhetischen Erfahrung ( Katharsis) erläutern. Dafür bietet Miltons Paradise lost wohl das großartigste Zeugnis.
IV Als poetischer Kommentar von Gen. 3 betrachtet, füllt M i hon in Buch IV und V I I I eine Lücke d e s bibl ischen Textes aus, d i e sichtbar wird, wenn m a n sich d i e fürwitzige • Vgl
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HANS ROBERT J AUSS Frage stellt. was denn eigentlich Adam und Eva taten und wie sie zueinander stan den. bevor sie sich ihr Paradies durch den Biß in den Apfel verscherzten. Diese Frage ist so müßig nicht. wie schon die reiche patristische Tradition einer Exegese der ' Paradiesesehe' dartun kann5• Die erotische Neugier rührt schon dort und bei M ilton zumal an die tiefere Frage nach dem maßgeblichen Anfang des Verhältnisses von Mann und Frau. Dabei rückt die l iterarische Hermeneutik gegen die entfremdeten Bedingungen des Zusammenlebens nach dem Fall mehr und mehr das ideale connu bium von Adam und Eva i m Garten Eden ins Licht und restituiert derart die Ge meinschaft inter pares des ersten Menschenpaares gegen den Gründungsakt einer paternalistischen Gesellschaft. auf den J ahwes U rteilsverkündung i n Gen. 3 . 1 6 hi storisch doch wohl hinauslief. Wie u m das H egeische Diktum im vorhinein zu w iderlegen, daß im Paradies "nur Tiere und nicht Menschen leben konnten". läßt Milton Adam und Eva im Abglanz ihrer Gottähnlichkeit vor das neidvoll bewun dernde Auge Satans treten (IV, 288 ff.). Als " lords of all" über alle lebenden Kreatu ren gesetzt überragen sie die Tiere vor allem d u rch die eigentümliche Würde. die ihnen d urch ihre tägliche Arbeit zuteil wird : . .. Other creatures .1.11 day long Rove idle, unemploy'd, and le55 need ren ; Man hath his daily work o f body o r mind Appointed, which declares his dignity, And the regard of Heav'n on .1.11 his ways (IV, 6 1 6).
Wie später nach Marx in der verwirklichten klassenlosen Gesellschaft bilden hier schon nach M i lton " pleasant labour" und " rest" Pole des keineswegs müßigen para d iesischen Daseins ; der Würde der Arbeit, zu der Adam und Eva als Hüter und Mitschöpfer des Gartens Eden aufgerufen sind. entspricht die Würde der gemeinsa men Ruhe, die sie in den " rites mysterious of connubial love" genießen (IV, 736 ff.) . M iltons Epithalamium v o n A d a m u n d E v a feiert die Freuden ihres ehelichen Lagers offen und mit dem Anspruch. daß solche Harmonie von Lieben und Geliebtwerden gerade durch "purity" und "innocence" gerechtfertigt sei. in deren Namen falsche Scham und heuchlerische Moral die erfüllte Liebesbegegnung des ersten Menschen paares verschweigen oder ächten zu müssen glaubte : Whatever hypocrites aunerely talk Of purity, and place, and innocence, Defaming as impure what God declares Pure, and commands [0 some, leaves free to all. Dur Maker bids increase; who bids abstain But our Denroyer, foe to God and Man? (IV, 744).
Diese Revision einer christlichen Tradition der Ächtung oder Tabuisierung der ge schlechtlichen Liebe, die sich auf Gen. 3 , 7 berufen zu können glaubte, ist nicht der �
Dazu Reinhold R. Grimm, P,m.Jis14J cot/tJlis - /hIr",JiJ14J ttlTtJlru. Z 14 r A 14J/tg14ngJgtJch,chtt d t J P",r", /100, München 1977.
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einzige Zusatz, mit dem M ilton die Deutungsgeschichte von Gen. 3 bereichert hat. F ü r die theologische Hermeneutik nicht weniger beachtenswert ist gewiß auch ein erstes Gesp räch zwischen Gott und Adam ( V I I I , 357 ff.), das der Schöpfung Evas noch vorausgeht . Auf diese Weise fällt Adam selbst nunmehr die I nitiative zu, Gott zu bitten, er möge ihm ein anderes, ihm gleiches Wesen beigesellen: Thou hast provided al l things! b u t with m e I s e e not who panakes.In solitude What happiness? Who can enjoy alone, Or all enjo)'ing, what contentment find ? (VIII, 363)
Der folgende Disput ist ein tiefsinniges Gipfelgespräch zwischen Schöpfer und Ge schöpf, i n dem Adam - wie sich nachträglich herausstellt ( V I I I , 437) - eine Art von theologischer Prüfung zu bestehen hat und auch glanzvoll besteht. Er weiß die Gegenfrage Gottes, warum sich Adam einsam fühlen könne, wo er doch von einer Vielfalt lebendiger Kreaturen umgeben und mit dem W issen von ihrem Namen und Wesen begabt sei, mit einem Argument von weitreichender Bedeutung zu kontern : Among unequais what society Can son? what harmony or true dclight? Which must be mutual, in proportion due Giv'n and receiv'd . . . (VI I I . 383).
Wenn Gottes Geschöpf als einsames Wesen nicht glücklich sein, das Glück aber erst im Einklang mit einem gleichen Wesen, im wechselseitigen Genuß des einen im andern finden kann, l iegt darin zugleich eine Bescheidung in die Unvollkommenheit der menschlichen Natur und der Anspruch auf etwas, das der Schöpfer in seiner Vollkommenheit offenbar nicht benötigt. Gottes nächste Fragen führen denn auch in eine bedenkliche Richtung: ob Adam daraus folgere, Gott selbst brauche in seiner E i nsamkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit nicht glücklich zu sein, und ob er dann auch meine, der Umgang zwischen dem Schöpfer und seinem Geschöpf ennangle jener Gleichheit, die allererst " social communication" ermögliche (VI I I , 399 ff.) ? Adam übergeht die Frage nach der Möglichkeit eines göttlichen Glücks der Einsamkeit, indem er Gott den Herrn an seine selbstgenugsame Vollkommenheit erinnert und die eigene menschliche Defizienz als soziale U nfähigkeit eingesteht, sich selbst zu genügen. I n dieser Unvollkommenheit des gottgeschaffenen Menschen, für den es nicht gUt ist, allein zu sein, liegt nach der I nterpretation M i l tons aber gerade die Chance Adams, in der Liebe zu seinesgleichen glücklich, um nicht zu sagen : selbst wieder vollkommen zu werden : Thou in thyself art perfect. and in thee Is no deficiencc found. Not so is Man, But in degree ; thc causc of his dcsirc Br conversation with his like to help. Or solace his dcfccu . ..(VI I I , 415).
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Miltons Paradise lost stellt als poetischer Kommentar zu Gen. 3 das Won. mit dem der christliche Demiurg die Reihe seiner Gutheißungen durch eine An von Selbst· korrektur vollendet : "Non est bonum esse hominem sol u m : faciamus ci adiutorium simile sibi" (Gen. 2 , t s), in einen neuen Bedeutungshorizont6• Nicht schon als Eben bild Gones, zu dem Adam als Geschöpf verehrend aufblickt. vielmehr als Mit mensch, der im ebenbünigen Gegenüber zu einem Du wie in einem 'SpiegeJ '7 sich selbst im andern finden kann. entdeckt der erste Mensch die Bedingung, vollkomme ner und damit glücklich zu werden. Was diese Vollkommenheit zwischen gleichen und freien Geschöpfen eröffnet. schildert die folgende Szene mit der Beglückung Adams, als ihm Eva, von Gones Händen als lelztes und schönstes Werk seiner Schöpfu ng gebildet, erst im Traum, dann i n traumgleicher Wirkl ichkeit entgegen tritt, u m hernach mit ihm das paradiesische Connubium e i nzugehen, i n das die frühl i ngshafte Erde mit aU ihren Geschöpfen jubelnd einnimmt. Damil ist nicht allein die " fellowship" (VIII, 389) des ersten Menschenpaares als eine Gemeinschaft inter pares hergestellt, sondern wird auch die trad itionsgegebene Oberordnung des Mannes abgebaut, die M ilron selbn noch im IV. Buch als geschlechlsbedingte U n gleichheit zitien hanel. Hier im V I I I . B u c h scheint s i c h sogar d a s Verhältnis u m z u kehren, w e n n A d a m zweifelt, ob ihm b e i der Schöpfung E v a 5 n i c h t 'elwas 1.u"iel' Subnanz von der Seite genommen worden sei, so daß sie ihm in ihrem Liebreiz , ja in ihrer ganzen Person überlegen erscheine ("so absolute she seems,/and in hendf complete", V I I l , 547) ; Raphael muß ihn denn auch vor falscher Unterwerfung war nen und seine Leidenschaft auf die wechselseitige Selbstachtung der Liebe z u rück verweisen. Der eingehend belehne Adam in denn auch beschämt; doch nicht so sehr, daß er den himmlischen Abgesandten nicht zuguterlet7.t mit der fürwiuigen Frage in Verlegenheit bringt : " Love nm the heav'nly Spirils ? and how their love / Express lhey ? by looks o n l y ? or da they mix / Irradiance virtual or immediate touc h ? " (VI I I , 6 1 5). Die Antwort Raphaels, wie sich Engel sinnlich lieben und doch übersinnlich bleiben können, schließt keine großen Rätsel auf ; daß ihn Milton dabei • �
•
VSI. dazu H . Spa�mann, "Di� ans�biss�n� Ffucht", in DI� S.�h� mll J�m Apf�/ S. 94. Mihon hu die: int�nubje:ktiv� Bczie:hung 'int�f parC's' an bcd�ulsam�f St�II�, dC'm �ntC'n Sich·ErkC'nnC'n von Adam und Eva, durch das Bi ldfdd dC's Spiegels IhC'malisi�rl und damit \"Un der nichl 5pie:gelhah�'n Relation dCf GOIle:1C"benbildlichke:il abge�eI71. F.va, diC' 7um l.C'bcn e,,'acht. C'nld«kl ef" ihr eiJ;�n .. \ Spie-gelbild Im Wasscr, das Ihr dlc Summe: Adams .als Ihr 'Selbst" efkllt" : dann tritt ihr Adam .11, Ihr andC'fC's Selbn In penona entgtlC'n, "ur dcm SIe: zun.achst - "'Ie 1U\'or beim EnldeckC'n des eigenen Spiegelbilds - 1uNck"'eichl, biS $lC begrcift, daß sie: 'Hcllich von sClne:m Fleisch', ' Bein \'on scinem Beln' und diC' 'andC'fC' H�IfIC" 5C'inC'r Seele iu (IV. 460 ff.) . Vgl. IV. 288fL
T"'o of far noblC'f 5hape C'f«t and lall. Godlike er«I, ",ilh native honouf clad I n nakcd ma;eSl)' �et"m'd lords of .111 • . . . though bolh Not cqual • .u Ihelf sex nOI equal seem'd : For conlernplauon hc and \'alour form'd ; For sohness shC' and s",cel attraetivc Krace; He for God only, IhC' fOf God in him . ,
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erröten läßt [" with a smile that glow'd/Celestial rosy red (Iove's proper hue)", \' . 6 1 8 ] , schl ägt in sublimer Ironie für die si nnenhafte Liebeserfüllung zu Buche, an deren Befreiung von Scham M i lton ständig gelegen ist. M i hons poetischer Kommentar läßt indes eine theologisch gewichtige Frage offen, die vennutlich erst auf einer modernen Rezeptionsstufe an Gen. 3 gestellt werden konnte. Es ist die Frage, ob die erste große Erkenntnis, die Milton Adam zuschreibt und noch vor dem Biß i n den Apfel situ iert : daß der Einsame nicht glücklich sein kann, nicht auch für Gott gelten müßte ("Seem I to thee sufficiently possess'd I Of happi ness, or not, who am alone I From all eternity?", V I I I , 404). Miltons Paradise lost bestimmt Glück als eine Kompensation menschlicher Unvollkommenheit, die auch durch den späteren Fall offenbar nicht verloren gehen kann, und überläßt Gott einer Vollkommenheit, die anscheinend keiner Geselligkeit bedarf : "Thou i n thy secrecy. ahhough alone, I Best with thyself accompany'd, seek'st not / Social com munication" (v. 427). Wenn dem aber so wäre, wie Adam hier seinem Schöpfer und Herrn unwidersprochen unterstellt, geriete das Motiv, warum GOtt die Weh als seine Schöpfung mit dem ersten Menschenpaar gekrönt hat, ins Leere. Sollte Gott nur einen Gärtner für seinen Garten Eden benötigt haben. oder verbarg sich hinter d iesem letzten Schöpfungsakt ad imaginem suam vielleicht nicht doch ein Bedürfnis des E insamen nach 'Seinesgleichen', mithin nach 'menschlichem Glück'? Dem w i derspräche allerdings später das Bedürfnis d e s enttäuschten Demiurgen n a c h Satis faktion. Doch sind derlei Enttäuschungen, zumal wenn sie aus denkbar ungeschick ten Gehorsamsproben folgen, der Vorstellung göttlicher Vol lkommenheit nicht min destens ebenso unangemessen wie das einsame Verlangen nach einem Du, das der christliche GOtt seinem ebenbildl ichen Geschöpf doch wohl nicht nur erfüllt hat, u m es s i c h selbst zu versagen ? Ob die theologische Hermeneutik fürwitzige Fragen dieser Art im A n s c h l u ß an die Exegese von Gen . 3 zuläßt, erfü llt die l iterarische Hermeneutik mit jener Neu gier, die ihr geheimes Laster, aber viel leicht auch ihre ratio vivendi ist.
M A N F R F.D F U H R M A N N Z U M P A C H lV E RTRAG G OTT/A D A M U N D Z U R E I G E N M Ä C HTI G E N B E S ITZ E NTZ I E H U N G W E G E N E I N E R V E RTRAG SVE R LETZ U N G ( I . M O S E 2 , 8 - 3 , 2 4 )
Die folgenden Seiten möchten als Experiment aufgefaßt werden. S i e behandeln einen theo logischen Text. als wäre er e i n j u ristischer Fall. Sie wollen zeigen, daß Text und Auslegung Korrelate sind, d . h . daß sich für eine sinnvolle theologische A u slegung i m allgemeinen n u r theologische. nicht auch j uristische oder literarische Texte ver wenden lassen usw. Sie bedienen sich hierzu eines Verfahrens. das i n u m gekehrter Richtung vonstatten geht wie das übliche: d i e Art der Auslegung richtet sich nicht nach dem Inhalt und der Beschaffenheit des Textes (dann wäre der Text die primäre Gegebenheit) ; vielmehr müssen sich Inhalt u n d Beschaffenheit des Textes nach Mög lichkeit den Erfordernissen einer bestimmten Art der A uslegung anbequemen (der Text ist hier also sekundär). Der erste Abschnitt führt diese Umwandlung v o r : er schildert den biblischen Bericht vom Sündenfall und von der Vertreibung aus dem Paradies als Rechtsfal l ; h ierbei werden möglichst v i e l e E inzelheiten des Originals i n möglichst w e n i g verän derter Form übernommen. Der zweite Abschnitt enthält die j u ristische A uslegung. wie sie - wäre der Fall nicht trotz aller Zubereitung großenteils absurd - i n einem Rechtsgutachten oder einer ausführlichen U rteilsbegründung lauten könnte. Der dritte Abschnitt endlich sucht darzu legen. was der ' Rechtsfall' aus dem biblischen Bericht und was wiederum d i e ' j uristische A u s legung' aus dem Rechtsfall gemacht hat. Der zuerst genannte Gesichtspunkt verdeutlicht am Gegenbild des bibl ischen Originals e i n paar fundamentale Merkmale juristischer Fallschilderunge n ; der zweite Gesichtspunkt befaßt sich lediglich m i t der üblichen Subsumtionsmethode - er bringt Banalitäten und rechtfertigt sich. wenn überhaupt, dann nur d u rch den allge meinen hermeneutischen Kontext, aus dem das hier abgedruckte Experiment h e rvor gegangen ist.
Gon hatte in Eden eine Obstplantage angelegt und sie m i t einem von einem F l u ß gespeisten Bewässerungssystem versehen (2 . 8 - 1 4 ) . E r ü b e r l i e ß sie einer männlichen Person namens Adam. und zwar m i t der Maßgabe, daß Adam verpflichtet sei, d i e Plantage " z u bebauen und zu bewahren" (2, 8 . 2 , 1 5). E r gestanete A d a m , d i e Früchte, welche die Plantage hervorbringe, für den E i genbedarf zu verwenden ; h i e r -
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von nahm er led iglich die Früchte des sogenannten Baumes der E rkenntnis aus, da dieselben ein Gift enthielten, das binnen Tagesfrist den Tod verursache (2, 1 6 - 1 7). Gon führte Adam nunmehr eine Person weiblichen Geschlechts namens Eva zu und erkJäne sie zu dessen Geh i l f i n ; Adam schloß mit derselben die Ehe (2, 1 8 . 2 , 22. 2 , 25). E v a , die ü b e r d e n Vorbehalt hinsichtlich d e s Baumes der Erkenntnis unterrichtet war, verschaffte sich eine Frucht desselben und aß davon ; einen Teil gab sie ihrem Ehemanne. der ebenfalls davon kostete. Die yon Gott behauptete tödliche Wirkung der Frucht trat nicht ein (3, 2 . 3 , 6). Gott ging nunmehr in die Ohstplantage und ermittelte wegen der abhanden ge kommenen Frucht vorn Baume der Erkenntnis. Adam und Eva gaben zu, d ie Frucht verzehn zu haben. Adam erklärte hierzu, daß er die Frucht nicht selbst genommen, sondern von Eva erhalten habe ; Eva wiederum behauptete, ihr sei durch eine von Gott gezüchtete Schlange suggeriert worden, sich die in Wahrheit unschädliche Frucht zuzueignen und davon zu essen (3, 1-5. 3 , 8- 1 3). Gott stieß daraufhin allerlei Drohungen gegen die Schlange, gegen Eva und gegen Adam aus. H ierbei verwies er Adam auf ein mit Dornen und Disteln bewachsenes Ackergrundstück, dessen Kraut er verzehren solle ; offensichtlich wollte er hiermit z u m A usdruck bringen, daß er Adam den Fruchtgenuß an der Obstplantage mit sofoniger W i rkung entziehe (3, 1 4- 1 9 ) . N u n m e h r stanete G o t t die Eheleute mit Pelzkleidern a u s , die er selbst hergestellt hatte, und vertrieb sie gewaltsam aus der Obstplantage. Am Eingang derselben postierte er mit Schwertern bewaffnete Wärter, denen er den Auftrag eneilte, die Eheleute am Betreten der Plantage zu h i ndern ( 3 , 2 1 . 3 , 2 3 - 24 ) .
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Der Sachverhalt g i b t mit hinlänglicher Deutlichkeit zu erkennen, d a ß G o n und Adam einen Vertrag miteinander abgeschlossen haben ; Adam hat das Angebot GOt tes zwar nicht ausdrücklich, wohl aber durch konkludentes H andeln angenommen. Der Inhalt des Vertrages läßt sich wie folgt bestimmen : 1 . Gott hat Adam den Besitz der Obstplantage eingeräumt ; Adam darf die Plantage gebrauchen und insbesondere die anfallenden Früchte ernten, so daß dieselben mit der Ernte in sein Eigentum übergehen (§956 BGB). Ob die Bestimmung, daß Adam die Früchte für den Eigenbedarf verwenden solle, als Verbot der Veräuße rung auch der Früchte aufzufassen ist, die Adam für den Eigenbedarf nicht benö tigt, kann hier außer Betracht bleiben, da Adam während der ganzen Dauer des Venragsverhältnisses keinerlei F rüchte an Dritte veräußen hat. 2 . Adam ist verpflichtet, die Plantage zu bebauen und zu bewahren ; er braucht für sein Nutzungs- und Fruchtziehungsrecht keine weitere Leistung zu erbringen, insbesondere keinen Zins zu entrichten.
Z U M PAC H TV E RTRAG GOTT/ADAM
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3. Von dem Fruchtziehungsrecht ist der sogenannte Baum der Erkenntnis ausge nommen; Gou begründet den Vorbehalt mit der wahrheitswidrigen Behauptung, daß die Früchte dieses Baumes ein tödlich wirkendes G ift enthielten. Die an driuer Stelle genannte Bestimmung könnte zu Bedenken Anlaß geben. Wenn der H inweis auf das gefährliche Gift den Tatsachen entsprochen hätte, dann wäre zu erwägen gewesen, ob die Klausel nicht den Charakter einer Warnung hatte, durch welche Gott die Haftung für eventuelle Schäden ausschließen wolhe ; i n d ie sem Falle wäre weiterhin zu fragen gewesen, ob eine einmalige mündliche Warnung genügte oder ob durch ein in der Nähe des Baumes angebrachtes Schild auf die G efahr hätte aufmerksam gemacht werden müssen. Doch der H inweis auf das G ift war unstreitig wahrheitswidrig. Gott wollte offensichtlich die Früchte des Baumes der Erkenntnis von dem Fruchtziehungsrecht Adams ausgenommen wissen, und da ihm anscheinend sehr an der Einhaltung dieser Klausel gelegen war, spiegelte er Adam eine falsche Tatsache vor, welche diesen nachd rücklich von der Verletzung der K lausel abhalten sollte. Gou hat somit Adam in diesem Punkte arglistig getäuscht ; gleichwohl war Adam nicht berechtigt, den Vertrag gemäß § 1 2 3 Abs. 1 BGB anzu fechten, da die Täuschung seine Einwilligung in das Angebot Gottes nicht verursacht hatte. Weiterhin kommt schwerlich in Betracht, daß die Klausel mitsamt der den Tatsachen widersprechenden Begründung sittenwidrig war. Zwar hatte Gott offen sichtlich Adam gegenüber eine gewisse Machtstellung inne; da er sich jedoch ledig l ich die Früchte eines einz igen Baumes vorbehielt, verbietet sich die Annahme, daß er seine Machtstel lung mißbraucht habe, um von seinem Geschäftspartner d i e Ober nahme besonders drückender Verpfl ichtungen zu erzielen oder ihm unangemessene Bedingungen aufzuerlegen. Aus alledem resultiert, daß der zur Erörterung stehende Vertrag weder mit einem Willensmangel behaftet noch gemäß § 138 Abs. 1 BGB wegen Sittenwidrigkeit nichtig war. Gou haue Adam nicht den Nießbrauch an der Obstplantage eingeräu m t : die zur Bestellung des Nießbrauchs gemäß S 873 Abs. t BGB enorderliche Eintragung in das G rundbuch war nicht erfolgt. Der Vertrag, der zwischen Gou und Adam abge schlossen worden war, hatte somit schuld rechtlichen Charakter. Die Annahme, daß Gott Adam als einen Dienstmann angestellt und ihm einen Naturallohn in Form von Wohnung und Kost entrichtet habe, verbietet sich deshalb, weil feststeht, daß Gott seinem Geschäftspartner die Plantage überließ. d . h . ihm den Gebrauch derselben gewährte. Es liegt daher 30m nächsten. den Vertrag als einen Fall von Pacht aufzufas sen und demgemäß zu beurteilen. So ist zunächst S S81 Satz I BGB auf den Vertrag anwendbar: "Durch den Pacht vertrag wird der Verpächter verpflichtet. dem Pächter den Gebrauch des verpachte ten Gegenstandes und den Genuß der Früchte. soweit sie nach den Regeln einer ordnungsmäßigen W i rtschaft als Ertrag anzusehen sind, während der Pachtzeit zu gewähren." H ierzu stimmt auch die ausdrücklich vereinbarte Verpflichtung Adams. die Plantage zu bebauen. d . h. zu bewi rtschaften. Nach S S9 1 BGB ist der Pächter eines landwirtschaftlichen G rundstücks verpflichtet. das Grundstück nach Been d i -
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gung der Pacht in dem Zustande zu rückzugewähren. der sich bei einer während der Pachtzeit bis zur Rückgewähr fortgesetzten ordnungsmäßigen Bewirtschaftung er gibt; die Rechtsprechung hat hieraus den Grundsatz abgeleitet, daß der Pächter das von ihm gepachtete G rundstück während der ganzen Dauer der Pacht zu bew i rt schaften habe. Die Vertragsbestimmung, wonach A d a m verpflichtet war, die Plan tage zu bewahren, läßt sich ebenfalls gut mit der Auffassung vereinbaren, daß Gott und Adam einen Pachtvertrag miteinander abgeschlossen hatte n . Der Vertragstext ist in lapidarer Kürze abgefaß t ; folglich liegt die Annahme nahe. daß die Pflicht des Bewahrens in weitestem Sinne hat gelten sollen : Adam übernahm mit ihr eine umfas· sende Obhutspflicht und hatte insbesondere dem Verpächter gemäß §§ 5 8 1 Abs . 2 und 545 B G B Mängel und u nvorhergesehene Gefahren unverzüglich anzuzeigen ; er war außerdem gemäß § 582 BGB verpflichtet, die gewöh nlichen A usbesserungen an den Wohn- und Wirtschaftsgebäuden sowie an Wegen, G räben und E i nfriedigungen auf seine Kosten zu bewirken ; er durfte schließlich gemäß § 583 BGB ohne die Erlaubnis des Verpächters keinerlei langfristig wirksame Änderungen in der w i rt· schaftlichen Bestimmung der Plantage vornehmen. Nun braucht Adam freilich die in Pachtvenrägen übliche Hauptleistung des Päch ters, den Pachtzins (S 581 Abs. I Satz 2 BGB), nicht zu erbringen. E s wäre denkbar. daß es Gott hauptsächlich darauf ankam, die Plantage in gepflegtem Z ustand zu erhalten, und daß er sich deshalb damit begnügt hat. von seinem Gesc häftspartner die Bebauung und Bewahrung derselben zu verlangen. Sein gesamtes Verhalten. insbesondere die von i h m bewerkstelligte gewaltsame Vertreibung der Eheleute lassen jedoch eher vermuten, daß dem Vertrage nach dem Willen der Beteiligten ein Gefälligkeitsmoment hat inhärieren solle n : es darf angenommen werden, daß Adams Gegenleistung nicht dem Wert entsprach, den GOtt auf dem M a rkt hätte erzielen können. H ieraus folgt, daß auf den vorliegenden Vertrag in angemessenem Umfang auch Vorschriften anwendbar sind. die bei unentgeltlichen Leistungen, bei Schen· kung oder Leihe, den Leistenden begünstigen. Gott verschaffte seinem Geschäftspartner während des Bestehens des Vertragsver· hähnisses eine Gehilfin, die von diesem alsbald geehelicht wurde. Da Ansprüche zwischen dem Prinzipal Adam und der H i lfsperson Eva nicht in Betracht kommen, braucht nicht geprüft zu werden, wie der Dienst· oder Arbeitsvertrag beschaffen war, auf G rund dessen sich Eva im Betriebe ihres Prinzipals und Ehegatten betätigt hat. Andererseits ist offensichtlich von Belang, ob und in welchem U m fange Adam für eine durch Eva verursachte Verletzung des Vertrages eintreten mußte. den er mit Gott abgeschlossen hatte und bei dessen Erfüllung ihm Eva behilflich sein sollte. Nun verzehrten Eva und Adam gemeinsam eine Frucht vom sogenannten Baume der Erkenntnis, von dem Baume also, dessen Erzeugnisse sich Gott ausdrücklich vorbehalten hatte. Der Baum stand auf dem von Adam gepachteten G rundstück und konnte somit gemäß §§ 93/94 BGB als wesent licher Bestandteil des G rundstücks nicht Gegenstand besonderer Rechte sein. Er befand sich demnach ebenso wie alle anderen Bäume der Plantage im Besitz und Gewahrsam Adam s ; der Vorbehalt hatte
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daher lediglich die W i rkung, daß nicht Adam, sondern Gou E igentümer der von diesem Baume getrennten Früchte wurde. Eva und Adam begingen also durch die Beseitigung d e r Frucht des Baumes der Erkenntnis objektiv eine U nterschlagung (§ 246 StG B ) ; h i e rbei kann - da d iese Gesichtspunkte nur für die strafrechtliche Würdigung des Falles von Belang sind - außer Betracht bleiben, ob einerseits der q ualifizierte Tatbestand einer sogenannten Veruntreuung vorlag und andererseits die unterschlagene bzw. veruntreute Sache einen so geringen Wert haue, daß es zur Verfolgung des Delikts gemäß § 24 8 a StGB eines Antrags des Verletzten bedurfte. Adam hat die Unterschlagung offensichtlich wissentlich und willentlich ausgeführt : seine Erklärung, er habe die Frucht nicht selber gepflückt, sondern von seiner Gehil fin Eva überreicht bekommen. enthält das Eingeständnis, daß er in dem Augenblick, da er die Frucht verzehrte, sehr wohl wußte, von welchem Baume dieselbe stammte. Diese Erklärung ist i m übrigen ohne Belang; sie könnte allenfalls zu der Annahme führen, daß sich Adam nicht der U nterschlagung, sondern der Sachhehlerei (§ 259 StGB) schuldig gemacht habe. Adam ist demnach Gou wegen einer unerlaubten Handlung zum Schadensersatz für den Teil der Frucht verpfl ichtet, den er selbst verzehrt hat : einmal nach § 823 Abs . 2 BGB, da er mit der Unterschlagung gegen ein den Schutz eines anderen be7.weckendes Gesetz verstoßen hat, zum anderen unmit telbar nach § 82 3 Abs. 1 BGB, da sein Handeln als widerrechtliche und vorsätzliche Verletzung des E i gentums eines anderen bewertet werden muß. Im Falle von Eva hingegen bestehen gewichtige Zweifel, ob sie sich auch subjektiv der Unterschlagung schuldig gemacht hat: i h re Behauptung, ihr sei von einer Schlange suggeriert worden, von der Frucht z u essen, legt die Annahme nahe, daß das Tier sie in einen hypnosear tigen Zustand versetzt und mit zwanghafter Wirkung beeinflußt hat; sie ist demnach zur Zeit der Tat wegen einer Bewußtseinsstörung zurechnungsunfähig ge"·esen und somit gemäß § 827 B G B für den \·on ihr verursachten Schaden nicht verantwortlich. Adam haftet für den ,·on ihm verzehrten Teil der Frucht auch auf G rund des Pachtvertrages. E r hat durch seine Mitwirkung beim Verzehren der Frucht vorsätz l ich gegen den i n dem Vertrag fixierten Vorbehalt verstoßen und sich somit einer positiven Vertragsverletzung schuldig gemacht, die er in Anlehnung an § 2 76 Satz I B G B zu vertreten hat. Hingegen haftet er jedenfa l l s nicht gemäß § 2 78 BGB für den \'on seiner Gehilfin Eva verzehrten Teil der Frucht, da Eva keinerlei Verschulden trifft. Doch auch eine Haftung gemäß § 831 BGB kommt schwerlich in Betracht. Zwar hat Eva Gott den Schaden widerrechtlich zugefügt, und Adam. der ja ohne Zügern die erste i h m \·on Gott zugeführte Person eingestellt hat, kann sich nicht darauf berufen, daß er bei der Auswahl der Geh ilfin die im Verkehr erforderliche Sorgfa l t beobachtet habe ; wohl aber steht mit an Sicherheit grenzender Wahrschein lichkeit fest, daß der Schaden auch entstanden wäre, wenn Adam die H i lfsperson sorgfältig ausgewählt hätte : ein durch einen Schlangenblick verursachter hypnosear tiger Zustand ist bei der Bewirtschaftung einer Obstplantage etwas derart Atypi sches, daß sich Adams Eignu ngsprüfung hierauf nicht zu erstrecken brauchte. Au ßerdem ist fragl ich, ob nicht auch eine weit robustere Hilfsperson der Wirkung des
MANFRED F U H RMANN Schlangenblicks häne erliegen müssen. Schließlich scheidet auch d i e Möglichkeit aus, daß Adam der ihm gemäß §§ 5 8 t Abs. 2 /545 B G B obl iegenden Anzeigepflicht nicht genügt habe: Gon hane die Sch lange selbst gezüchtet und ihre Anwesenheit i n der Plantage geduldet ; das Tier stellte somit für ihn keine unvorhergesehene Gefahr dar. Der zuletzt genannte Gesichtspunk, führt zu einer weiteren Erwägung: Gon in Tierhalter der Schlange ; die Schlange ist kein Haustier im Sinne von § 833 Sau. 2 B G B ; Gon wäre demnach gc:mäf� § 833 Sau: 1 BGB, ohne daß bei ihm e i n Versc h u l den vorzuliegen brauchte, zum Ersatz verpflichtet, w e n n die Sch lange Adam einen Schaden z u gefügt häne. Nun hat i n d iesem Falle Adam Gon einen Schaden z u gefügt, den er jetzt ersetzen soll, und hierzu hat die Schlange nicht unwesentlich beigetragen. Diesen Beitrag muß sich der Tierhalter Gon in analoger Anwend ung von S 254 Abs. 1 B G B unter dem Gesichtspunkt der mitwirkenden Tiergefahr anrechnen lasse n ; er wird von dem Ersatz, den Adam für den von ihm verzehrten Teil der Frucht zu leisten hat, abge7.ogen. Die Drohungen, die Gon nach dem Abschluß seiner Erminlungen ausstieß, insbe sondere sein Hinweis auf ein mit Dornen und Disteln bewachsenes Ackergrund stück, dessen Kraut Adam nunmehr zu verzehren habe, lassen sich als fristlose Kündigung des die Obstplantage betreffenden Pachtvertrages auffasse n ; es darf auch angenommen werden, daß Gon die Kündigung trotz seiner etwas groben Aus drucksweise mit hinlänglicher Deutlichkei, erklärt ha,. Der Pachtvertrag enthält keinerlei Bestimmungen über die Dauer des Pachtverhältnisses oder über Kündi gungsfriste n ; folglich gilt im vorliegenden Falle an sich § 595 B G B , wonach eine Grundstückspacht nur für den Schluß eines Pacht jahres - bei einer m indestens halb j ährigen Kündigungsfrist - gekündigt werden kann. Den besonderen K ü nd i gungs schutz, den die Kleingarten- und Kleinpachtland-Ordnung in Verbindung m i t den einschlägigen Vorschriften über Kündigungsschutz gewährt, kann Adam offensicht lich nicht beanspruchen: die Plantage dient zwar ledigJich der Selbstversorgung Adams u nd seiner Gehilfin ; sie ist indes, wie das Bewässerungssystem beweis" erheblich größer als die von der KGO für besonders schu,zwürdig erklärten Klein grundstücke. Andererseits hat Adam durch seine Mitwirkung beim Verzehren einer vorbehaltenen Frucht einen vertragsw idrigen Gebrauch von dem gepachteten Grundstück gemacht; Gon stand somit gemäß §§ 5 8 t Abs. 2/553 BGB das Recht zu, den Pach tvertrag fristlos zu kündigen. H ierzu häne es allerdings einer vorherigen Abmahnung von Seiten Gones sowie einer Fortsetzung des vertragsw idrigen Ge brauchs von Seiten Adams bedurft; da es i m vorl iegenden Falle an beidem fehlt, kommt das außerordentliche Künd igungsrecht gemäß §§ 5 8 1 Abs. 2/553 BGB nicht in Betracht. Nun brauchte Adam keinen Pachtzins zu entrichten, u n d es wurde bereits dargetan, daß Gon wegen dieses Gefäll i gkeitsmoments i n angemessenem Umfange die ihn begünstigenden Vorschriften des Schenkungs- und Leiherechts in A n spruch nehmen kann. So erscheint es insbesondere als vertretbar, G o n das in § 605 Ziff. 2 8GB umschriebene außerordentliche Kündigungsrecht des Verleihers zuzubilligen, das im Unterschied zu den entsprechenden Bestimmungen des M iet-
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und Pachtrechts ohne eine vorherige Abmahnung ausgeübt werden kann. Die von Gon erklärte fristlose Kündigung des die Obstplantage betreffenden Vertrages ist somit gültig. H ierbei kann offen bleiben, ob der von Gon als Ersatz für die Plantage erwähnte D i stelacker ebenfal ls Gon gehörte, so daß der H i nweis auf d iesen Acker als das A ngebot eines neuen Pachtvertrages aufzufassen wäre, oder ob Gon mit seiner Bemerkung lediglich auf herrenloses Ödland gezielt hat. Die Kündigung gilt gegenüber dem Pächter Adam ; sie entzieht ihm den Besitz und Gebrauch der Plantage sowie das Recht, sich die Früchte der Obstbäume anzueig nen. Das zwischen Adam und seiner Ehefrau Eva bestehende Dienstverhältnis bleibt hiervon unberührt. Da es an einer vertraglichen Beziehung zwischen Gon und Eva fehlt, sind die Droh ungen, die Gon ihr gegenüber ausgestoßen hat und die auf eine von ihm beabs ichtigte Verschlechterung ihres Lebensstandards zu zielen scheinen, unbeachtlich. Nunmehr hat Gon, stan das zuständi ge Gericht anzurufen und die fristlose Kün digung auf Grund eines rechtskräftigen U rteils vollstrecken zu lassen, eine gewalt same Vertreibung vorgenommen ; er hat Adam den Besitz an der Plantage d u rch physische Einw irkung entzogen und somit verbotene Eigenmacht im Sinne von § 858 BGB geübt. H ieran ändert die Tatsache nichts, daß Gon - offenbar in der Absicht, eine Art Abfindung zu leisten - den Eheleuten vorher Pelzkleider geschenkt hane. Ebensowenig kann sich Gon auf das Gefälligkeitsmoment des Pachtvertrages berufe n ; das Reichsgericht hat in einem ähnlichen Falle entschieden, daß auch ein Verleiher, der die verliehenen Sachen nach Beend igung des Leihevertrages wider den W i l len des Entleihers an sich nimmt, verbotene Eigenmacht übt (Das Recht 2 8 , 1 92 4 , N r . 9 8 6 ) . Adam w ä r e demnach berechtigt gewesen, s i c h der Vertreibung gewaltsam zu w idersetzen oder sich der Obstplantage unminelbar nach der Vertreibung aufs neue zu bemächtigen (§ 859 Abs. 1 und 3 8 G B ) ; da er sich hierzu offensichtlich außerstande sah, kann er nunmehr vor dem zuständigen Gericht den Besitzentzie hungsanspruch gemäß § 8 6 1 Abs. 1 BGB geltend machen, d . h . er kann verlangen, daß Gon ihm den Besitz an der Obstplantage wieder einräumt.
III D a s Recht ordnet : e s befaßt sich m i t tatsächlichen, gegenwärtigen Verhältnissen unter Mensche n ; es prüft, ob d iese Verhältnisse den geltenden Gesetzen entspre chen ; es greift ein und korrigiert, wo sich Menschen durch Handeln oder Unterlas sen anders verhalten haben, als sie sich nach den geltenden Gesetzen hänen verhalten sollen. oder wo sie sich in einer anderen Lage befinden, als sie ihnen nach den geltenden Gesetzen zukommt. Der Richter als der Vollstrecker des Rechts hat daher eine zweifache A u fgabe : er untersucht, ob ein tatsächliches, gegenwärtiges Verhält nis unter Menschen in der angegebenen Weise mit den gesetzlichen Normen über einstimmt oder nicht; er geht durch Befehl oder Zwang gegen jede Differenz von
MANFRED FUHRMANN Norm und Wirklichkeit vor, d . h. er stellt den Zustand her, der nach den einschlägi gen Normen ohne sein Zutun hätte herrschen müssen, oder ordnet. wenn die Her stellung dieses Zustandes unmöglich ist, eine ebenfalls durch Normen vorgeschrie bene Ersatz leistung anl. Der Richter vollzieht die ordnende Funktion des Rechts auf G rund von Texten, d . h . auf Grund von zusammenhängenden schriftlichen oder mündlichen Äußerun gen, welche die jeweils zu prüfenden und gegebenenfalls zu korrigierenden tatsäch l i chen Verhältnisse - d e n Sachverhalt - möglichst genau abbild en. Derartige Texte. d i e Fallschilderungen. müssen einigen fundamentalen Anforderungen genügen, wenn sie als Basis für richterliches Handeln d ienen sollen2 : 1. Die Texte müssen sich mit menschlichen Verhältnissen befassen. die außer menschliche Wirk l ichkeit, die Natur, kommt als solche für die Perspektive des Rechts nicht i n Betracht. Aus einer astronomischen, zoologischen, botanischen usw. Darstellung läßt sich kein Anwendungsfall für das Recht ableiten. 2 . Die Texte müssen eine Geschichte vorführen, d . h . eine Folge von miteinander verknüpften Ereignissen, die durch menschliches Verhalten bed ingt sind. Fall schilderungen sind Erzählu ngen . i h re Besonderheit besteht darin. daß sie nicht nur zu moralischer Kritik, sondern auch zu rechtlichem Handeln auffordern l . 3. Die Texte dürfen nichts enthalten, was auf Grund des modernen Wirklichkeitsver ständnisses für fiktiv gelten muß (z. B . Mythen, Wunder usw.). I n Texten, die der Rechtsanwendung dienen, findet sich Nichtwirkliches nur als subjektive Vorstel lung (als Wahn, Halluzination usw . ) . 4. Die Texte dürfen n i c h t in e i n e r abgeschlossenen Vergangenheit spielen4 ; die in ihnen handelnden Personen oder deren Rechtsnachfolger müssen noch existieren und sich bestimmen lassen. und die in ihnen dargestellten Verhältnisse müssen sich erkennbar bis zur Gegenwart hin auswirken, so daß der das Recht anwendende I
Tauächlich, Wirklichkeit : diese vereinfachenden Formulierungen sehen davon ab, daß die richterliche Wahrheitssuche von Gesetzes wegen eingeschränkt ist - durch Grundsätze, die auf Utilitäts· odc:r Humaniutsrücksichten beruhen. So gilt z. B . im Zivilprozeß meist der sogenannte Verhand lungs grundsatz, d . h . der Richter muß den Streit auf der G rundlage der "on den Parteien vorgebrachten und bewiesenen Behauptungen entscheiden. auch wenn er begründete Zweifel an deren Richtigkeit hat. Nahe Angehorige genießen nach der Strafprozeß· und anderen Verfahrensordnungen das Zeugnisver weigerungsrecht usw. 2 Zum Kasus oder Fall allgemein s. A . Jolles, E"'fach� Form�", Tubingen ' 1 965. S. 1 7 1 ff. : H . lipps D,� V�rbi"JJichlt�d J�r Sprache. Frankfurt/M. 1944, S. 4 7 1f. Die folgende Skizze laßt außer Betracht . dat� sich die richtige und vollständige Darstellung eine� Rechtsfalles in dcr Praxis erst allmählich und mit Hilfe von rechtlichen Erwägungen z u konstituieren pflegt: hierübc:r 1. . B . K . larenz, M�thoJ�"/chre der Rrcht.wjJJcmchdft. Berlin-Heidelberg·New York · 1 979, S. 262 f f . ; über die Eliminic:rung aller für die rechtliche Würdigung nicht erheblichen Tatsachen s. u . S. 47f. ) Erst dieses rechtliche (richterliche) Handeln fühn den Fall zu Ende. bringt die Geschichte zum Ab schluß: Fallschilderungen sind " ungesättigte Hälften von Geschichtc:n." So treffend K . Stierle, "Ge schichte als Exemplum - Exemplum als Geschichte", in GCJChKhu - Er�'8IJis I4lJd Erziihb"'8. hgg. R . Koselleck/W.-D. Stempel. Munchen 1 9 7 3 (Poetik und Hermeneutik V ) , S. 3 5 3 . • Vgl. hi�'r7u R. H"r7og, u. S. " 4 1 . Eine andcre Bcwandtms h;at e� mll b"reit� �'ntM:hicdencn Fallen, die als Präjudizien dienen: diese Falle haben - de iure oder de facto - den Charaktc:r von Rechtsnormen und sind wie alle Rechtsnormen relativ zeitunabhängig.
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Richter jede von den Rechtsnormen abweichende W i rkung genau ermitteln und korrigieren kann. Diese Gegenwartsbezogenheit des Rechts kommt handgreiflich durch das Institut der Verjährung zum Ausdruck : Verhältnisse, die über eine bestimmte Frist hinaus zurückliegen, können vom Richter nicht mehr geprüft und korrigiert werden. s . Einer abgeschlossenen Vergangenheit gehören jedenfalls beseitigte politische und gesellschaftliche Zustände (wie die Monarchie oder der Ständestaat mit den für ihn charakteristischen Ober- und Unterordnungsverhältnissen) sowie überwundene Anwendungsbereiche des Rechts (wie Strafen gegen Tiere oder leblose Sachen) an. Texte, die derartige Gegebenheiten spiegeln, eignen sich daher nicht für die An wendung geltenden Rechts. Der biblische Bericht vom Sündenfall und von der Vertreibung aus dem Paradies hat Eigenschaften, die es als nicht unmöglich erscheinen lassen, ihn als Grundlage für richterliches Handeln zu verwenden: er stellt Verhältnisse unter Menschen oder jedenfalls - im Falle von Gott - unter Personen dar, deren Handlungen sich als menschliche Handlungen auffassen lasse n . er enthält das Gerüst einer Geschichte, die auch nach heutigem W irklichkeitsverständnis für real gelten kann, und die für richterliches Handeln erforderliche Gegenwartsbezogenheit kann einfach angenom men werden. Der biblische Bericht muß sich allerdings zu diesem Zweck allerlei Reduktionen, 7. . T. auch Modifikationen gefallen lassen. So folgt aus dem an erster Stelle genannten E rfordernis, der Beschränkung auf menschliche Verhältnisse, daß auf die Paradies flüsse, mit denen der Autor wohl reale geographische Gegebenheiten hat schildern wollen (2, 1 0 - 1 4), verzichtet werden muß: sie geben, da sie um ihrer selbst willen (und nicht als Gegenstand der sich unter den Betei l igten abwickelnden Handlu ng) genannt werden, für eine rechtliche Würdigung nichts her�. Weit wichtiger ist im vorl iegenden Falle die dritte Maxime, die Unverträglichkeit von 'Fiktion' und rechtserheblichem Sachverhalt. Sie erzwingt einschneidende Re duktionen; der biblische Bericht muß gleichsam auf die Fläche heutiger banaler A l ltagswirklichkeit projiziert werden. Dieser Projekt ion fällt zuallererst die bibl ische Vorstellung von Gott, von seinem schöpferischen Vermögen und seiner Macht über die Menschen zum Opfer ; der redende und handelnde GOtt ist für das gegenwärtige Recht nur als Mensch unter Menschen begreiflich. Demnach ließe sich die Erschaf fung Adams und Evas unter Verzicht auf alle mythischen Elemente (Erdenkloß, Rippe) zur Not dahingehend umdeuten, daß GOtt der Vater Adams und Evas sei ; der vorliegende Projektionsversuch hat es indes vorgezogen, von allen das Schäpfertum Gones bezeugenden M itteilu ngen ( 2 , 7 . 2 , 1 9 . 2 , 2 1 -23) gänzlich abzusehen. Die I n kommensurabilität v o n biblischer Gottesvorstellung u n d gegenwärtiger Rechtswirk l ichkeit tritt ein zweites Mal bei den Verfluchungen besonders deutl ich hervor, die �
Die Aufzlrohlung der Puadiesflüs5e SIeht auch im Original für sich und in ",ohl eine spätere Zutat ; vgl. G . .... Rad. Dtu erste B.ch Mose (Das Alte Testament Deutsch 2/4). Gottingen ' 1 967. S. 63 f.
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Gott über die Schlange, über Eva und über Adam ausspricht (3, 1 4- 1 9 ) : sie stellen sich i n der Perspektive eines heutigen Richters als u nverständliche Drohungen dar, die man allenfalls unter dem Gesichtspunkt der Nötigung oder - wie hier geschehen - der Kündigung eines Vertrages prüfen kann. Außer der Gottesvorstellung schrumpfen alle Mitteilu ngen zu banalen 'Tatsachen' zusammen, die von außergewöhnlichen K rähen bestimmter Pflanzen und Tiere zu berichten wissen. Mit dem Baum des Lebens (2,9. 3 , 22) läßt sich gar nichts anfangen. Von dem Baum der Erkenntnis (2, 9 . 2, 1 7 u. ö . ) bleibt lediglich eine Giftpflanze oder vielmehr (da die Wirkung des 'Giftes' nicht so eintrat, wie sie für eine trivialisicrende Auffassung von Gottes Ankündigung hätte eintreten müssen) die alsbald widerlegte Behauptung übrig, daß die Früchte giftig seie n ; die sofort eintretende W irkung des Fruchtgenusses. die Scham, ist für eine rechtliche W ü rdigung ebenso inkommensu rabel wie deren Vorstufe, das Fehlen der Scham ( 2 , 2 5 . 3,7. 3 , 1 0- 1 1 ) . Die redende, Eva z u r M ißachtung von Goues Gebot verleitende Schlange endlich (3, 1 -5 . 3 , 1 3 ) muß entweder völlig gestrichen oder (wie hier) in eine ' reale' Schlange verwandelt werden, die Eva erschreckt, gebannt und zu Halluzinationen veranlaßt habe - womit sich die Umdeutung den Grenzen des heutigen Wirkl ichkeitsverständnisses bedenk lich nähert, ja, sie eigentlich bereits überschreitet. Doch wichtiger als alles bisher aufgezählte Detail ist das Gesamtergebni s : die Reduktion auf einen nach heutiger W i rklichkeitsauffassung möglichen Sachverhalt bewirkt eine radikale E ntmythologisierung; der biblische Text verliert d i e Tiefend i mension sei nes Symbolgehalt s ; er hört auf, ein Aition für G rundfragen des mensch lichen Daseins - für den Tod, die Geschlechtl ichkeit, die M ühsal des Lebens - zu sein". So erklärt sich auch, daß sowohl die 'Fallsch ilderung' ( I . Abschnitt) als auch die ' rechtliche Würdigung' (2. Abschnitt) bisweilen erheiternd w i rken : der Leser w i rd von der ihm ungewohnten, dem Text nicht angemessenen Betracht ungsweise überrumpelt und reagiert du rch Lachen auf den Kontrast, der sich plötzlich vor ihm auftut. Die Gegenwartsbezogenheit des in der skizzierten Weise präparierten B i beltextes, so hieß es, könne einfach angenommen werden. H iermit sind indes weitere Verzichte notwend ig verknüpft. Einer archaischen, auch Tiere bestrafenden Rech tswirklichkeit etwa hätte sich das Motiv der Schlange und des Fluches, den Gon über sie ausspricht, anders dargestellt als der heutigen A uffassung, die zwar eine Haftung des Tierhalters, nicht aber Strafen für schadenstiftende Tiere kennt. Vor allem w i rd die Person Gones, die das K riterium der modernen W i rklichkeitsauffassung ihrer religiösen Dimension beraubt hatte, durch das Kriterium der Gegenwärtigkeit ein zweites Mal depotenziert. Gesetzt, man wollte den als Rechtsfall stilisierten biblischen Text in einem Zeitalter ansiedeln, das (stau des entpersönlichten Staates und der Gleichheit vor dem Gesetz) personale Träger hoheitlicher Befugnisse und ständische Unter schiede kenn t : es läge überaus nahe. ein wichtiges Element des Textes, das zwischen 6
s. hirrübcr ebd. s. M ff . • bes. 6 7 f . und 74 ff.
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Gott und dem ersten Menschenpaar obwaltende Verhältnisse der Ober- und Unter ordnung, z u retten - Gott erschiene dann als Grundherr, der die ihm zukommende Diszipl inargewalt anwendet, und Adam und Eva wären seine Leibeigenen usw.'. Jetzt jedoch hat nur noch der abstrakte Staat, der seine Befugnisse d urch unpersön liche Instanzen ausübt, einen übergeordneten Rang, und er hat ihn gegenüber allen Personen, die sich auf seinem Territorium befinden; da der biblische Text keinerlei Anhalt dafür bietet, Gott in eine deranige staatliche, an Gesetze gebundene I nstanz u m zudeuten. bleibt nur die Möglichkeit, ihn dem Gleichheitsgrundsatz zu unterwer fen und ihn als gewöhnliches Rechtssubjekt gegenüber anderen Rechtssubjekten tätig werden zu lasse n ; einzig i n sozialer und wirtschaftlicher H i nsicht zeigt er sich noch als der M ächtigere - besonders eklatant durch den Gewaltakt, mit dem er Adam und Eva aus der 'Obstplantage' venreibt. In einem nach kommunistischen Prinzipien eingerichteten Staate wäre - zumindest offiziell - selbst dieser Unter schied unenräglich ; doch don fiele wohl auch die Annahme eines unter Privatperso nen abgeschlossenen ' Pachtvertrages' in nichts zusammen, und der bibl ische Text ließe sich, wenn überhaupt, dann nur mit H ilfe viel weiter reichender Deformationen auf die Gegenwan beziehen. Die bisher betrachteten E rfordernisse, die ein Text erfü llen muß. wenn er als G rundlage für die Anwendung von Rechtsnormen dienen soll. pflegen von der einschlägigen Literatur wenig berücksichtigt zu werden i sie verstehen sich gewisser maßen von selbst und d rängen sich erst auf, wenn - wie hier bei der biblischen Erzählung vom Sündenfall und von der Venreibung aus dem Paradies - ein ganz andersaniges Geschehen in einen modernen Rechtsfall umgewandelt wird'. H ingegen gehön ein weiteres Kriterium für Reduktionen zum üblichen Hand werkszeug des J u risten, wenn es gilt, Ereigniszusammenhänge für die Rechtsanwen dung zuzubereiten : auch Texte, die von Anfang an reales menschliches Handeln aus einer noch nicht abgeschlossenen Vergangenheit schildern, pflegen 'überflüssiges', d . h . Elementl' zu enthalten, die für die rechtliche Würdigung des Geschehens nichts hergebe n ; folglich werden sie eliminien. Dieser einem Filter vergleichbare Reduk tionsprozeß kann bewirken. daß das Recht von der Mannigfaltigkeit menschlicher Ind ividualität kaum mehr übrigläßt als die abstrakte Eigenschaft des Person-Se i n s : Goethes Leben. d u r c h d i e Brille des Rechts betrachtet. red uziert s i c h auf den Ge buns- und Sterbeschein, auf d i e Urkunde über die Zulassung zur Advokatur. auf den Trauschein u n d d i e Gebunsurkunde des Sohnes, auf die Grundbuchbläner über das Haus am Frauenplan u n d das G artenhaus am Stern, auf die Verlagsvenräge über seine Werke usw.9• Der B i be ltext läßt, da er ja wegen seines mythisch-ätiologischen
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\'gl . hi ... ,;ru R � f ... r;r'.g. u S. 37-4 : analugt uUI!irc-chlli .. ht Vtrhallnisw - ein... mehr oder minder absolute Munuch,t - \·trl Lthtn dtm K apitd 2 . Samut! 11 In dtr Spalanlikt und Im I S . J ahrhundtn tmt .aus heu1lGtr Ptnptkm·t ubc"H.1.schtndt Akluolilital . Zum Rtchtsfall .11, · G ul.hichlt· H i nwtlst �, '1i . A. Schcutrlt, ""Bcur:agt 7um Prubltm o.!tr Trtnnung von Tal - und Rechhfr.agt " " , in Arch,,, ';;r d,� crv;lift"ch� Pruu I S 7 ( 1 958/S9), 5. 20, 28 und 3S. So G . R.J.dbru.. h , R�"htfphJoJoph,t, 51ultpn ' 1 950, 5. 1 9 8 f .
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Charakters vielerlei für das Recht unwesentliche Elemente enthält, gerade diese Fil terwirkung der rechtlichen Würdigung nicht deutlich hervortreten ; immerhin könnte man das Motiv, das Gon angibt. wie er Adam die Gehilfin verschafft ( 2 , 1 8 : "Es ist nicht gut. daß der Mensch allein sei"), die Benennung der Tiere, die Adam vornimmt (2, 1 9-20), sowie die Modalitäten der Ermittlung des Sündenfalls ( 3 . 8 ff.) der hier gemeinten Rubrik rechtlich nicht erheblicher Tatsachen zuweisen. Der reduziene, von allen u nerheblichen Fakten befre ite Text oder Sachverhalt wird alsbald durch weitere Prozeduren für richterl iches Handeln z u bereitet. Für richterliches Handeln. für ein Uneil : der Richter prüft, was geschehen ist und ob dieses Geschehen den gesetzlichen Normen entsprochen hat oder nicht. Wenn er keinen Normverstoß festzustellen vermag. dann hat sein U rteil eben d iese Feststel lung auszusprechen : daß keine Strafe verw i rkt sei. daß keine m i t staatlichem Zwang durchsetzbaren Ansprüche bestünden usw" Auch ein solches U rteil hat Folgen : ne bis in idem ; derselbe Sachverhalt darf nicht noch einmal für die Anrufung eines Gerichts benutzt werden. Der Richter stellt also fest. daß ein Normverstoß vorliege oder daß er nicht vorliege ; etwas Drittes zu tun. ist ihm h i n gegen verw e h rt : er darf nicht behaupten. daß er dem Sachverhalt keine Entscheidung abzugewinnen ver" möge - weil er die Tatsachen nicht überblicke oder weil er das Gesetz für dunkel. unzulänglich oder lückenhaft haltelo. Die Rechtsordnung - so lautet der G r u ndsatz hat im Vorhinein für alle nur denkbaren Verwicklungen eine Remed u r bereitgestellt; der Richter muß lediglich die passenden Maximen ausfindig machen, und er kann den ihm vorgelegten Sachverhalt gerecht entscheiden. Dieses Aporieverbot ist eine eigentümliche Bedingung des richterlichen Handeins. Der Philologe darf erklären. daß ein Text dunkel oder vieldeutig sei ; der H istoriker darf sich auf den u ngünstigen Stand der Quellen berufen und z . B . zugeben, daß er nicht wisse, ob und seit wann Cäsar nach der Monarchie gestrebt habe : i n beiden Berufen gilt gerade solche Bescheidung als höchste Stufe wissenschaftlicher Lauter keit. Anders der Jurist par excel lence, der Richter : seine Prüfung darf nie im Di lemma enden; sie darf sich nie damit begnügen, die U nbestimmthciten eines Sachver halts aufzudecken und vor ihnen Halt zu machen, sie muß sie vielmehr i n Bestimmt heit - u nd sei es die Bestimmtheit mangelnder Beweisbarkeit - transformieren. Die ser Zwang zur Vereindeutigung steht gewissermaßen als Motor h i nter aller richterli chen Tätigkeit, und seine Wirkung, ein wichtiges Kennzeichen der j uristischen Me thode und nicht selten auch Routine, erstreckt sich nicht nur auf die Gesetzesausle gung, sondern auch auf die Würdigung der Tatsachen. Gesetz und Sachverhalt wer den durch die Bemühungen des R ichters gleichsam aufeinander zugebogenl l - bis beides zur Deckung gebracht ist, bis es sich zueinander verhält w i e Regel und Fall. I:
E r d a rl hingl'gl'n ( u n d muS gl'gI'Mnl'nh.lIs) I'rkl�rl'n. d a ß I'r I' t w a s für n i c h t bu,'II'\l'n I'rachtl' - I'r h ol t I'ben. w i e oben schon hl'rvorgehoMn. jl'den NormvrfStoß /I'JI7.IlJull�I'I. E , n c m U n e i l k a n n I' r S I c h oI u � h In diesl'm Falle nicht l'ntziehl'n. V g l . K . Engisch. C"./.hrlll'lg ". J.J '"I'JJlUchl' D�"Jul'l, Stuul1;an
11
S . 60ff.; K . larl'n7. • Ml'thoJrl'lJrhrI' S.
279 f.
" 1 977.
Hil'f nicht (wie Mi K . laren1. • Ml'thodl'''/l'h'l" S. 2 6 5 : ' " , u rcchtbiegen" ) i m prjoroltivcn Sinnl': als dürfe"
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Der Richter, der den Text (den Sachverhalt) auf eine angemessene Entscheidung hin studiert, sucht nach Normverstößen : nach strafwürdigen Handlungen oder Ver tragsverletzungen. I n dem einen Falle hat er verhältnismäßig leichtes Spiel : er braucht lediglich zu prüfen, ob eine Handlung - als species - zu einem der im Strafgesetzbuch umschriebenen deliktischen Tatbestände - als dem einschlägigen genus - paßt, ob sie ihn 'erfüllt'. I n dem anderen Falle. bei Vertragsverletzungen, kann er nicht sofort auf ein Gesetzbuch rekurrieren; e r muß zunächst ermitteln, was die Parteien gewollt, was sie miteinander vereinbart haben, und erst dann vermag ihm das Gesetzbuch weiterzuhelfen: ob das Vereinbarte gültig ist, in welcher Weise dagegen verstoßen wu rde und wie sich eventuelle Lücken des Vertrages ergänzen lassen. Doch hier wie dort findet das erwähnte Aufeinander-Beziehen und Zur Decku ng-Bringen von Norm und Sachverhalt statt - behutsam und auch für den Laien leicht d u rchschaubar i m Strafrecht, rigoroser und für den Laien mitunter auf verblüffende Weise i m Z i v i l recht. Die rechtliche Würdigung des aus der biblischen Erzählung herauspräparierten ' Falles' (2. Abschnitt) prüft zunächst. ob das einverständ liche Handeln zweier Betei ligter, Gottes und Adams, ein rechtsgeschäftliches (rechtliche Bindungen erzeugen des) Handeln bestimmter Art war, ob Gott und Adam einen Vertrag miteinander abgeschlossen haben, und sie bejaht diese Frage. Schon hier wird das diffuse Gesche hen auf eine bestimmte Struktur bezogen und seinerseits nach Maßgabe d ieser Struk tur gefor m t : nach der Struktur des Vertrages, der aus Antrag und Annahme besteht und perfekt ist, wenn beides übereinstimmt (§§ 1 4 5 fl. BGB). Der Antrag, das Ange bot und der Vorbehalt Gottes, springt jedermann sofort in die Augen; doch die Annahme von Seiten Adams scheint zu fehlen - sie wird jedenfalls nicht ausdrücklich erklärt. Der das Recht anwendende Richter gerät indes keinen Augenblick in Verle genhei t : Adam hat sich ja so verhalten, als ob er mit den Bedingungen Gottes einverstanden wäre - e r hat somit den Ant rag d u rch 'konkludentes Handeln' ange nommen, und der Vertrag ist zustandegekommen. Der nächste Schri t t : der Richter prüft, ob der Vertrag auch wi rklich gültig war oder ob ihm i rgendein Mangel anhaftete. Schon ist er aufs neue mit bestimmten Schemata z u r Hand (und eben hierin, in dem Heranschaffen möglichst vieler i n Betracht kommender Schemata, besteht ein gut Teil der juristischen Heuristik und Phanta s i e I ! ) : enthielt Gottes Handeln die Merkmale, die Gesetz und Rechtsprechung unter die Kategorie 'arglistige Täuschung' subsum ieren ; entsprach der Vorbehalt einem der Tatbestände, die das Recht als 'sittenwidrig' verw i rf t ? Bei diesem Schritt
I!
dem Sach\'erhalt od�r der Norm G�w.dt angctan. d . h. hier oder don willkürlich cin EI�mcnt hinio':ugc· fugt wcrden. du di� An ..... endung ll�r Norm auf de:n Sach\'e:rhalt überhaupt erst �rmöglicht. Gcmeint i�t \'iclmehr die sprachliche: (semantische) Ann;ah�rung d�s spr7icll�n S.1ch\'crhahs an di� �in�ch l,jl;igen g"n"rcllen Kalcgori"n der Ge�l·t"/e: "gi. R. Herl.og. u. S. 381 H.; ferm·r l . ß . M . Kumm. Rrchu"orm u"d 5rm�"t,,�hr Eindrutlgkrlt. Diss. jur. F.rbng�n-Nurnb�rg 1 970. be:§. S. 5 3 ff. V g l . K . L.uenl, Mrthodr,drhrr S. 26M. ; f�rner 7 . 8. H. Schopf. D,r Wrchsrlbrzlrh,,,,g zu."uchr" S��h t'r,h�/t und Normenordn"nR bri drr RrchlJ�nu)rnd"ng. Diss. jur. Erlangcn-Nürnberg 1 9 7 1 . S. 31 ff.
so
MANFRED F U H RMANN
mißlingt das Zur-DeckunG-Bringen von Norm (Struktur. Schema) und Sachverhal t es mißlingt so sehr, daß ein realer Richter (im Unterschied zu dem Richter. der hier zur Unterrichtung des Lesers präpariert wurde) gar nicht erst den Versuch u n ter nommen hätte, den Vertrag auf Arglist oder Sinenwidrigkeit hin zu prüfen. Der Vertrag ist also gültig. Ein weiterer Schri t t : was für eine Art von Vertrag haben Gon und Adam mitein ander abgeschlossen? A n sich herrscht Vertragsfreiheit, d. h . die Parteien können sich zu beliebigen Leistungen verpflichten, sofern sie dabei nicht gegen ein gesetzliches Verbot oder gegen die guten Sitten verstoßen. Gleichwohl pflegt der Richter einen gegebenen Vertrag nach seinen wichtigsten Merkmalen unter einen der i m Gesetz buch umschriebenen Vertragstypen - unter eine dortselbst definierte Struktur - zu subsumieren ; hierbei braucht er nicht unbed ingt die von den Parteien verwendete Ausdrucksweise zu übernehmen (er kann z. B . für ' Miete' erklären , was die Parteien ' Leihe' nennen) - er orientiert sich vielmehr an den jeweils vorherrschenden w i rt schaftlichen Zwecken und Interessen. Die Subsumtion eines gegebenen Vertrages unter eine gesetzlich umschriebene Vertragsstruktur ist deshalb von Belang, weil jede Struktur neben zwingenden Vorschriften auch sogenannte dispositive oder nachgie bige Rechtssätze enthält (Rechtssätze, von denen die Parteien in ihren Vereinbarun gen abweichen können) und weil bei allen Punkten, in denen die Parteien nichts Abweichendes vereinbart haben, unterstellt wird, daß die Parteien die dispositive Regelung gewollt hänen. Die Subsumtion unter ein Schema verschafft daher dem Richter mit einem Schlage eine Fülle von Gesichtspunkten. die seine Entscheidung kanalisieren - zumal für Eventualitäten. mit denen die Parteien nicht gerechnet und die sie in ihrem Vertrag nur mangelhaft oder überhaupt nicht berücksichtigt hanen. I m vorliegenden Falle werden zunächst zwei auf den ersten Blick i n Betracht kommende Strukturen des Gesetzbuchs, der Nießbrauch und der Dienstvertrag, ausgeschlossen, weil der Sachverhalt jeweils in einem wesent l ichen Merkmal von ihnen abweich t ! ) . Die weitere Argumentation beruht auf folgenden Gegebenheiten : der Gesetzgeber hat nur die gängigsten Vertragstypen normiert ; für alle 'atypischen' Fälle fehlt es an einer besonderen Regelung. Der vorliegende Vertrag hat i m wesent lichen zum Inhalt, daß Gon seinem Geschäftspartner Adam ein Grundstück auf Zeit zum Gebrauch überläßt. Der Gesetzgeber hat für diesen Bereich - d i e befristete Gebrauchsüberlassung - folgende Strukturen vorgesehen : 1 . die M iete, d. h. die entgeltliche Gebrauchsüberlassung ohne Fruchtziehungsrech t ; 2. die Leihe, d. h . die unentgeltliche Gebrauchsüberlassung o h n e Fruchtziehungs recht; 3 . die Pacht, d. h . die entgeltliche Gebrauchsüberlassung mit Fruchtziehungsrecht.
U
Der Nießbrauch wird ausgeschlossen. weil es an der Eintragung im Grundbuch feh l t : der Fall spieh ja In der Gegenwan. die nun einmal die EinrichtunJl: de� Grund buchs kennl (und 7. . B. auch einen 'Markt' für Pachtobjekte. 5 . 0 . 5 . 40); da in der FaJlschilderung ( I . Absc;hnin) keinerleI Elnlragung in� Grund buch crwahn1 wird. gilt sie al .. nicht vorhanden.
ZUM PACHTVERTRAG G on/ A OAM
SI
Nicht vorgesehen ist somit eine viene Struktur. die das System vervollständigen würd e : die unentgeltliche Gebrauchsüberlassung mit Fruchtziehungsrecht: sie wird selten vereinban. sie ist atypisch. Sie liegt nun aber offensichtlich dem Venrag zu grunde. den Gon und Adam m iteinander abgeschlossen haben. Der Richter muß demnach auf d ie nächst verwandten Strukturen rekurrieren. und so interpretiert er den vorliegenden Vertrag als Pacht. welche Elemente der Schenkung oder der Leihe enthält i". Der letzte vorbereitende Schrin. den der Richter vollziehen muß. um für die Beuneilung des weiteren Geschehens - des Genusses der vorbehaltenen Frucht und der Venreibung aus der Obstplantage - die Fäden in die Hand zu bekommen. ist u nproblematisc h : der Sachverhalt erkJän Eva zur Gehilfin Adams. H ieraus folgt einerseits. daß keine venragliche Beziehung zwischen Gon und Eva existien. und andererseits. daß Adam im Rahmen der einschlägigen Vorschriften (§§ 278 und 831 BGB) für Schäden haftet. die Eva einem Drinen - hier: Gon - zufügt. Nunmehr steht der Rahmen fest. innerhalb dessen der Richter alle weiteren Hand lu ngen der Beteiligten würdigt. Es ist wahrscheinlich, daß ein w irklicher Richter in manchem Punkt zu anderen Ergebnissen als zu den im 2 . Abschnitt skizzienen gelangen würde - wenn er je einen derartigen ' Fall' zu beuneilen hätte. Es geht hier jedoch weniger um die sachliche ' Richtigkeit' als um die Technik der Heuristik und der A rgumentat i o n : der angenommene Richter subsumien den Fruchtgenuß unter das strafrechtliche Schema der Unterschlagung und läßt Adam sowohl wegen einer delikt ischen Handlung als auch wegen Venragsverletzung für den von ihm verzehr ten Teil der Frucht zum Schadensersatz verpflichtet sein; er billigt Eva Zurechnungs u nfähigkeit und somit mangelndes Verschulden zu und bestreitet gar, daß Adam für den von ihr verursachten Schaden aufkommen müsse usw. Von einigem Gew icht ist jetzt nur noch die vom Richter aus den Drohungen Gottes herausdestill iene fristlose Kündigung. Sie macht nämlich deutlich, daß der Richter den von Gon und Adam vereinbarten Venrag nicht ohne Grund - nicht, um lediglich einem theoretischen Ordnungsbedürfnis zu genügen - analysien und klas sifiziert hatte. Die Parteien waren auf diesen Punkt nicht eingegangen; folglich mußte sich der Richter nach einer geeigneten dispositiven Norm umsehen. Nun billigt das Gesetz dem Verpächter das Recht, den Venrag wegen eines venragswidri gen Gebrauchs der Sache fristlos zu kündigen. nur nach einer vorherigen Abmah nung zu ; der Verleiher h ingegen kann die fristlose Kündigung sofon aussprechen. Der Grund für die j e verschiedene Regelung liegt auf der Hand : der Pachtvertrag ist entgeltlich und bringt auch dem Verpächter Gewinn - folglich darf ihm etwas Ge duld zugemutet werden ; der Leihevenrag hingegen ist nur für den Entleiher von '4
D , t'$ c � F.rgcbnis c n t f c r n l sich nichl allzu ,,·Ctl von der lhcologischcn Dcul u n g ; vgl. G . v . Rad, D , u eNte B",h MOlI:' S . 64: . . . . nuchtC'rn ist dic ArbC'il als d,C' BC'stimmung dcs MC'nschen auch ,n sC'incm
Uruandc bC':l'.C'ichnC'l. Daß dC'r Mensch 7.ur Bcwachung in den Gantn VCr5ctZI wurdc, dcutct an, daß cr
in tin Dienslverhähnis bC'rufC'n Wolf und sil:h i n cmcm Bcrcich z u bcwährcn h.anC'. dcr nlChl scin l- 1 !:cntum wOll f . "
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MANFRED FUHRMANN
Vorteil - folglich darf der Verleiher auf eine Vertragsverletzung empfindlich reagie ren. Der Richter hielt es im vorliegenden Falle wegen des Unentgeltlichkeitsmomen tes für angemessen. das Problem der Kündigung nicht nach Pacht-, sondern nach Leiherecht zu lösen ; er glaubte. daß die Behandlung des Falles auf diese Weise am getreulichsten den Vorentscheidungen des Gesetzgebers nachgebildet werde. Die letzte Prozedu r subsumiert die Vertreibung unter das gesetzliche Schema der verbotenen Eigenmacht ; sie hat angesichts des - nur von wenigen, eng umschriebe nen Ausnahmen d u rchbrochenen - Selbsthilfeverbots geradezu zwingenden Char-ak ter: auch das dem Vertrage inhärierende Gefälligkeitsmoment vermag die gewalt same Entziehung des Besitzes nicht zu rechtfertigen.
O D O MARQuARD F E L I X C U LPA ? - B E M E R K U N G E N Z U E I N E M A P P L I K ATl O N S SC H I C K S A L V O N G E N E S I S 3
H e rmeneutik ist die Kunst. aus einem Text herauszu kriegen. was nicht drinsteht : wozu - wenn man doch den Text hat - brauchte man sie sonst? Freilich : wer aus einem Text herausbekommen will. was nicht im Text steht. benötigt offenbar noch etwas anderes als den Tex t ; er braucht etwas. was vor dem Text oder um ihn herum oder nach dem Text und dabei häufig mit ihm und manchmal gegen ihn ist : er braucht den Kontex t ; drum auch ist H ermeneutik die Lust am Kontext. plaisir ou jouissance du contexte l . O h n e Vollständigkeitsprätentionen mache i c h dabei folgende U nterscheidung. Es gibt - einerseits - den primiiren Kontext: das ist - mindestens - das Ensemble der im Text nicht ausdrücklichen Fragen, auf die der Text die Antwort war; d iese - fremd oder unbekannt gewordenen - Fragen müssen rekonstruiert werden. um den Text als A n twort darauf verstehen zu könne n ; dies kann rekonstruktive Hermeneutik hei ßen : sie ermittelt - um des Textes w i l len - seinen primären Kontext. Es gibt andererseits - den sekundären Kontext: das ist - mindestens - das Ensemble der im Text nicht ausdrücklichen Fragen. auf die der Text noch nicht die Antwort war und sein konnte. weil es diese Fragen noch nicht gab. als der Text entstand ; zur Antwort auf diese - später d. h. neu hinzugekommenen - Fragen muß der Text erSt werde n : er m u ß auf sie appliziert werden': dies kann app/ikative Hermelleutik heißen: sie fügt um des Textes willen - den Text in einen sekundären Kontext. paßt ihn in ihn ein und an ihn an. Ich beuge M ißverständnissen vor, indem ich ergänzend unterstreiche: es gibt keine rekonstruktive Hermeneutik ohne applikative Hermeneutik. und es gibt keine applikative Hermeneutik ohne re konstruktive Hermeneutik. I m folgend en interessiert vor a llem die appl ikative Hermeneutik. und zwar nicht als Objekt einer allgemeinen Theorie. sondern als Subjekt eines h istorischen Diago nal- und K u rzberichts ; denn es beschäftigt hier die Frage : wie wird die Geschichte vom Sündenfall (Genesis J) applizierend interpretiert, sobald der sekundiire Kontext 1
Der Kontexlbegnff in hn:r im "'eilC'slen Sinn ... - als Tild fur d ,,,, Umsüinde. unter denen ein Text exiuler! - aufgC'nomm... n 7.uglC'ICh in Anspielung auf R. Barthes. LC' Pl#isir dlf Textr. Paris 1973. Vgl. K . Slierie. "Zur BegriffsgeschichtC' von · Kont...x l ·. . . in Archiv !;;r BC'grillsgC'schlchtr 1 8 ( 1 974). S. 1 44-149. 2 Zur Bedeutung dC'r " Lor;ik von Frage und Antwon" fur diC' HC'nnC'neutik vgl. H . G . Gadamer. W"hr_ hC'11 If"d MC'thodC' - Grlfndz;;gC' C'",C'r phi/osophlJmC'IJ HC'rmC'nC'ulik ( 1 9600 ). Tübingen l I 972. S. 344 ff., S. 3 5 1 H.: vgl. d i e Weuerenl"'icklung im Absehniu " FragC' und A nt"'on als Pramisse des VerSlehens" der Vorlag... von H . R . Jauß. "Zur Abr;renzung und Beuimmung einer literaris,hen Hermeneutik" in diesem Band. , Vgl. Gadamer. W"hrhC'lt IfIJd MC'thodC' S. 29O ff.
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die Theodizee nebst ihren philosophischen Nachfolgeformationen ist? Dabei datiere ich hier - ebenso grob wie umstreitbar - den Beginn dieses sekundären Kontextes auf das Erscheinungsjahr der Theodizee von Leibniz: auf 1710. Es geht hier also um eines - und keineswegs um alle oder auch nur um mehrere - der Applikationsschick sale von Genesis 3 seit 1 7 1 04, Meine Bemerkungen dazu mache ich i n folgenden fünf Abschnitten : 1 . Erste Positivierung des Sündenfalls; 2 . Zweite Positivierung des Sündenfalls ; 3 . Renegativierung des Sündenfalls ; 4 . Partialisierung der felix-culpa Figu r ; 5 . Applicatio actualis.
t Erste Positivierung des Sündenfalls Der i n Genesis 3 erzählte Sündenfall nebst seinen Folgen ist ein malum: ein Obe/. Dieses übel zu positivieren - sozusagen zu ent-übeln - konnte, scheint mir, schwer lich zu einem applikativ-henneneutischen Pensum werden, solange die christliche Optik der Heilsgeschichte - des Sündenfall- und Erlösungsgeschehens - dominant war; denn da lag das Positive gerade nicht beim Sündenfall, sondern ganz und gar nur bei seinem Gegenteil : der Erlösung. Der Möglichkeit einer Positivierung des Sündenfalls mußte also vorausgehe n : die Emanzipation der Welt aus der Optik der Heilsgeschichte�. Der erste Emanzipa tionsschritt war der, die Welt - statt sie ausschließlich als Sündenfall- und Erlösungs geschehen zu sehen - wieder als Schöpfung, der zweite Emanzipationsschritt war der, sie als Selbstschöpfung und Selbsterhaltung zu begreifen. Bereits zum ersten Emanzipationsschritt gehört die Notwendigkeit, die übel unabhängig von ihrer heilsgeschichtlichen Qualifizierung zu bemerken ; wenn aber so die übel nicht mehr - hei lsgeschichtlich qualifiziert - als die Sünde und durch die Sünde sind, sondern heilsgeschichtlich neutralisiert d. h. kreationsphilosophisch qualifiziert - in der Schöpfung: dann muß die Frage brisant werden : wie verträgt sich die Tatsache der Ubel mit der vernünftigen Güte Gottes ? Das ist - spezifisch frühmodern - die Frage Freilich nur in Auswahl. Zur Exegese von Gen. 1 im genannten Zeilraum vgl. M . Metzger. 0" P"r"d,tseserz.ihIMng - Dit GeuhKhrt Ihrer AM,leg""g 1Ion J. Cleri�Ms bi, W. M. L. d, Wellt. Bonn 19S9; zur Interpretation von Gen. 3 in der Philosophie von Kant bis Schleiennacher vgl. E. Lammer· zahl. Der Sii"de"/,,JJ in der Philosophie des dtMrs�he" Idt"lis"'Ms. Berlin 1914; zur I nterpretation von Gen. 1 in der spätromantischen Philosophie vg!. H . Wimmershoff. D,t Lthre 110m Sii"dt"/,,JJ in der PhJO$ophit S�htlli"gs. Buders ""d FrUd"�h S�hlegeJs. Freibul'ß 1914. - W . Schmidt-Bi ggemann, " Mutmusungrn über die Vorstellung vom Ende der Erbsünde" (Vonrag bei der 1 . Jahrestagung der Gesellschaft für die Erforschung des I B . J ahrhundens 20m 2 1 . 1 1 . 1978 in der Herzog- August-Bibllo· thek in WoUenbüttcl, erscheint in Sr"die" z"", 18.J"hrhMndert Bd 1, Nenden 1 980), hat inzw ischen die Sundenfallgeschichtenrezeptionen bzw. -interpretationen bei J . L Schmidt. Reimarus, Leuing, Her der, Rousseau, Kanl (Rcligionuchrift) und Mim frühen Schelling auf einschlägig hochinterenanu' Weise inlerpretien. , Vgl. Verf. • " G lilck im Unglück - Zur Theorie dc-s indi�kten G lücks zwiso;hen Theodizee und G ... schichlsphilosophie" in G . Bien (Hg.), Die FrlJgt ".�h de", Gl';clt. Stuugan 1978, S. 93-1 1 1 , bei. S. 9<4 ff.
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dcr Theodizee. D i e Amwort scheint dabei - in Absicht a u f e i n e Rechtfenigung, eine Ent lastung Gottes - offenbar immer darauf hinauszu laufen, daß die übel so übel nicht sind : sie sind dann übel nicht in letzter I nstanz, sondern sind - in letzter I nstanz - ent-übelte übel. Diese Ent-übelung der übel ist auch die A ntwort der ersten d . h . jener Theodizee, die den Theodizeebegriff geprägt hat. Das sind die Essais de theodicee Sl4r Ia honte de DieN, Ia liberte de /'homme et /'origine dl4 mal von Leibniz. Ich betone d rei ihrer Argumente. Das erste Argument - das G ru ndargument - verteidigt Gott, grob ge sprochen, durch Teleologisierl4ng: durch den Gedanken 'der Zweck heiligt die Mit tel'. 'X' ie für den 'Realpolitiker' die Politik ist für den ' Realkreator' Gon Schöpfung die Kunst des Möglichen, des Bestmöglichen. Die bestmögliche Welt ist nicht ohne Konzessionen an die 'Sachzwänge' - die ' Kompatibilitäten' - durchsetzbar; so muß Gou, um Schlimmeres zu vermeiden und die bestmögliche Welt zu schaffen. die übel in Kauf nehmen und 'zulassen', denn: ohne malum kein optimum. Das Opti mum als Zweck heiligt das malum als Mittel : justament das rechtfenigt Gott. Das zweite A rgument - ein flankierendes Zusatzargument - veneidigt Gou durch den Gedanken der Kompensation; die übel sind bereits innerweltlich aufgewogen durch Güter: " L'auteur de la nature a compense ces maux . . . par mille commodites ordi naires et continuelles"'. I n Nachfolgetheodizeen - etwa bei Pierre Hyacinthe Aza·is, Des compensations tUns les destinees humaines ( 1 808) - wird dieses Zusatzargumem zum Grundargument. Das dritte Argument - ein zugespitzter Spezialfall des zweiten - verteidigt Gon durch den bonl4m-durch-mall4m-GetUnken; häufig entsteht durch Schlimmes Gutes und durch Unglück G lück, das es ohne Unglück gar nicht gäbe : "Nous savons d'ailleurs que souvem un mal cause un bien, auquel on ne seroit point arrive sans ce mal . . . Un General d ' A nnee" - zum Beispiel - " fait quelques fois une faute heu reuse, qui cause le gain d'une grande bataille"7. Das ist jenes A rgumem, das von Schopenhauer bissig aposErophien wurde : " ich" - schreibt er in Die Welt als Wille und Vorstelll4ng 11 ( 1 844)8 - "kann der Theod izee . . . kein anderes Verdienst 1.ugestehen als d ieses, daß sie später Anlaß gegeben hat zum unsterblichen Candide des grofSen Vohaire; wodurch freilich Leibnizens so oft wiederholte lahme excuse für die übel der Weh, daß nämlich das Schlechte bisweilen das Gute herbeiführt, einen ihm unerwaneten Beleg erhalten hat". Lahm oder nicht lahm : jedenfalls braucht Leibniz diese "excusc", und die Figur dieses Gedankens entspricht dem des ersten, des Grundarguments : mit H i l fe von übeln und durch übel entsteht Gutes, das auf andere Weise nicht entstehen könnte. Was im Sinne d ieses drinen A rguments - d as dem ersten nachgebaul ist - generell für Obel gilt, kann oder muß - im Kontext der optimistischen Theodizee - dann auch für ein ausgezeichnetes Obel gelte n : für den S;;ndenfall. Darum muß Genesis 3 - Sündenfall und Paradiesesaustreibung - gemäß diesem Argumem gelesen werden . •
l.ribml . ··Th�d'ceC" ', In
• E bd . S.
Ph,JoJopl",chC' Sehn/fr'" (GC'rhardt) Bd
1 08 .
I S.. ,."tI,C"hr
lI'r,kC' (LohnC'ysC'n) Bd 2. S. 746.
6, S. 409 .
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ODO MARQUARD
Wie kann das gelingen? Eine Lösung bietet die Aktualisierung eines \"on A u gustinus stammenden Gedankens : nur weil es den menschlichen Sündenfall gab, wurde Gon zum Erlöser und kam in die Weh. Darum ist nicht erst die Erlösung, es ist schon die Schuld des Sündenfalls, die ihr d i e Gelegenheit schuf, insofern posi t i v : eine fe/ix cu/pa. Leibniz schreibt : "Nous savons d'ailleurs que souvent un mal cause un bien. auquel on ne semit point arrive sans ce mal . . . nc chantet-on pas la veillc dc Päque dans les Egliscs du rite Rom a i n : 0 certc necessarium Adae peccatum, l Quod Christi marte deletum est! 1 0 felix culpa, q uae talern ac tanturn I Meruit habcre redcmpto rem !"", Und Leibniz meint, sich auf Röm. 5 , 20 beziehend, "que la Oll le peche a ete abondant, la grace a ete surabondante : et nous nous souvenons que nous avons obtenu Jesus Christ luy meme a I 'occasion du peche"\o. Das ist das, was ich hier die erste Positi'flierung des Sündenfalls nenne : die I nterpretation des Sündenfal l s - und insofern von Genesis 3 - als app l ikabel auf den bonum-durch-malum- Gedanken des Theodizeekontexte s : das führt zur - über die Theodizee hinaus wirku ngsreichen -
Fundamemalisierung der felix-culpa-Figur. Die Erlösung heiligt - sie ent-übeh - den Sündenfall : dies l iegt in der Kon!>equenz des G rundarguments der optimistischen Leibniztheodizee, der Verteidigung Gottes durch das Prinzip 'der Zweck heiligt die Mittel'. Nur frei lich : gerade dieses Prinzip 'der Zweck heiligt die M ittel" das Gott als den guten bestätigen sollte, weckte Zweifel an seiner Güte. Vielleicht war es in einer Zeit. in welcher der Teufel als genius malignus aus einer geglaubten Realität zur Fiktion - entweder zu einem Argumentationskniff im Kontext des methodischen Zweifels (Meditationes) oder zu einem poetischen Sujet der Heroisierung (Paradise Lost) 1 I - sich entwirklichte. na hezu unvermeidlich. Gott - und zwar gerade durch diese 'optimistische' Strategie der Rechtfertigung seiner Güte - zur M itbewältigung der vakant gewordenen Stelle des Teufels wider W illen ein wenig zum Teufel zu stilisieren. Descartes method isierte und Mihon heroisierte den Diabo l u s ; Leibniz h ingegen - faktisch - diabo l i sierte Gon. So mußte es alsbald - und zwar insbesondere nach 1 75 5 : nach dem E rdbeben von Lissabon - zur Einsicht kom m e n : die Theod izee gelingt mitnichten dort, wo wie bei Leibniz - Gon durch das Schöpfu ngsprinzip 'der Zweck heiligt die Mittel' entlastet wird. sondern sie gelingt erst dort, wo - wie seit Kant - Gott von dem Schöpfungsprinzip 'der Zweck heiligt die Mittel' ent lastet wird. und zwar radikal : durch die These. daß Gott d ieses Schöpfungsprinzip nicht braucht, weil nicht Gon der Schöpfer ist. sondern ein anderer : nämlich der Mensch. Das ist - bei Kant, Schil ler. Fichte verschieden extrem durchgeführt - die Radikaltheodizee durch die
autonomistische Emanzipationsphilosophie: sie rechtfertigt. sie entlastet Gott. i ndem sie statt Gones den Menschen zum Schöpfer und Erlöser ernennt 1 2 • , Lcibni7. "Throdiccc" S. I OB . F.bd . S. I O'1. DC'�unC's. MC'JitlltlOnC'1 Jr pri",,. ph,loloph,.. ( I M I ) ; M ihnn, p,.r4Jur LOII (1 toto I ). U Vgl. V('rf .• "ldC'�li)mu\ und ThcodilC'1:"" ( 1 965). in Ven., .'\chu·.rn,lrrllt71 ",11 drr GrJCh,chllph,/OIflph.r, f=rmkfun 1'173, S. 52-65 und S. 1 6 7 ft.
'0
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FE1.IX C U L P A ? 2 Zweite Positivierung des Sündenfalls
Dieser Machtwechsel im Amte des Schöpfers und Erlösers hat mindestens drei Kon seq uenzen. Erstens : als Schöpfung ausgezeichnet wird fortan jene Schöpfung, die der Mensch wirklich schaffen zu können schei n t : das ist - Vicos These zufolge - die Geschichte. Zweitens : diese Geschichte hat nicht nur einen Anfang (Sündenfall), sondern auch ein Ziel (Erlösung) : die Optik der Schöpfung und die Optik der H eilsgeschichte werden erneut identisch. Drittens : als Anfang der Geschichte ist der Sündenfall nicht nur Anfang der menschlichen Selbstschöpfung, sondern auch An fang der menschlichen Selbsterlösung: darum muß der Sündenfall jetzt erst recht und unanfechtbar positiviert werden. Diese zweite Positivierung des Sündenfalls durch seine hermeneutische Applikation auf den Kontext der autonomistischen Emanzipa tionsphi losophie geschieht durch Steigerung und Obersteigerung der felix-culpa
Figur. Dabei bleibt - nunmehr in Absicht auf eine Entpflichtung Gottes - die Theod izee frage der Kontext. Kant schreibt in seinem 1 786 publizierten Aufsatz Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichtel 3 : " Der denkende Mensch fühlt . . . Unzufriedenheit mit der Vorsehung. die den Weltlauf im Ganzen regiert. wenn er die übel über schlägt. die das mt.'nschliche Geschlecht . . . drücken . Es ist aber von der größten Wich tigkeit : mit der Vorsehung zufrieden zu sein (ob sie uns gleich auf unserer Erden weIt eine so mühsame Bahn vorgezeichnet hat) : teils um unter den Mühseligkeiten immer noch Mut zu fassen. teils um, indem wir die Schuld davon aufs Schicksal schieben, nicht unsere eigene, die vielleicht die einzige U rsache aller dieser übel sein mag, darüber aus dem Auge zu setzen und in der Selbstbesserung die Hülfe dagegen zu versäumen" 1 4 . Darum bedarf es "eine solche Darstellung seiner Geschichte . . . : daß cr der Vorsehung wegen der übel, die ihn drücken, keine Schuld geben müssc" I \ Das gelingt, wenn der Mensch die Geschichte und - als ihren Anfang - des Menschen Schritt in die Geschichte "als von ihm selbst getan anerkennen und sich also von allen übeln, die aus dem Mißbrauche seiner Vernunft entspringen, die Schuld gänzlich selbst beimessen" kann und mußI". Die " heilige Urkunde" " 1 . Mose Kap. I I-VI " ' i - insbesondere aber Genesis 3 - muß darum entsprechend gelesen werden : als Emanzipation des Menschen zur Vernunft. Diese vollzieht sich in vier Etappen : Entdeckung der Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Lebensweise n i ' ; Entdeckung d e s Freiheitspotentials d e r Phantasie'9; Schritt in die "überlegte Erwar tung des K ünftigen" mit Vorsorgemöglichkeiten20 ; Schritt zum "A nspruch. selbst AIt"de""e"Hlg,,br Bd 8 , S. Ebd. S. 1 2 1 . EbJ. S . 1 2 3 . 1 . Eb..1 . l ' E b..l . S. l 1 Q . I" F b..I . S. 1 1 2 . 1� EbJ. S. I D . � : Ebd. I'
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Zweck zu sein". d . h . in die moralische Autonomiel i . " Dieser Schritt" - schreibt Kant - "ist . . . zugleich mit Entlassung (des Menschen) aus dem M unerschooße der Natur verbunden : eine Veränderung. die . . . ihn . . . gleichsam aus einem Garten, der ihn ohne seine Mühe versorgte, heraustrieh (Vers 23) und ihn in die weite Welt stieß" z2. " Aus dieser Darstellung der ersten Menschengeschichte ergibt sich : daß der Ausgang des Menschen aus dem . . . Paradiese nichts anders, als der übergang aus der Rohigkeit eines bloß tierischen Geschöpfs i n die Menschheit. aus dem Gängelwagen des Instinkts zur Leitung der Vernunft. mit einem Wane, aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit gewesen sei. Ob der Mensch d u rch diese Verän derung gewonnen oder verloren habe, kann nun nicht mehr die Frage sein, wenn man auf die Bestimmung seiner Gattung sieht' >H : er hat - meint Kant nach abwägen dem Rekurs auf Rousseau24 - gewonnen; denn der Sündenfall ist der Schritt des Menschen zu sich selbst. Als Gewinn der Freiheit durch die erste Freiheitstat ist der Sündenfall eine felix culpa, die kaum noch culpa, sondern nur noch felix ist. Diese Lesart von Genesis 3 haben Schi ller und F ichte i m wesentlichen nur variiert. Schiller tut das 1 790 i n seiner überlegung Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkl4nde25: wäre der Mensch im Paradies geblie ben, "so wäre aus dem Menschen das glücklichste und geistreichste aller Tiere ge worden . . . Aber der Mensch war zu ganz etwas anderm bestimmt . . . Was die Natur i n seiner W iegenzeit für ihn übernommen hatte. sollte er jetzt für sich selber über nehmen, sobald er mündig war. Er selbst sollte der Schöpfer seiner G lückseligkeit werden, und nur der Anteil, den er daran hätte, sollte den G rad d ieser G lückseligkeit bestimmen. Er sollte den Stand der U nschuld, den er jetzt verlor. wieder aufsuchen lernen d u rch seine Vernunft und als ein freier vernünftiger Geist dahin zurückzu kommen, wovon er als Pflanze und als eine Kreatur des I nstinkts ausgegangen war; aus einem Parad ies der Unwissenheit und Knechtschaft sollte er sich. wär es auch nach späten Jahrtausenden. zu einem Paradies der Erkenntnis und der Freiheit hin aufarbeiten" 2'. So " ist sein vermeintlicher U ngehorsam gegen jenes göttliche Gebot" - "jene Stimme Gottes in Eden. die ihm den Baum der Erkenntnis verbot" - "nichts anderes als - ein Abfall von seinem I nstinkte - also erste Äußerung seiner Sclbsttätig keit. erstes Wagestück seiner Vernunft, erster A nfang seines moral ischen Daseins. Dieser A bfall des Menschen vom Instinkte . . . ist ohne Widerspruch d i e glücklichste und größte Begebenheit i n der Menschengeschichte, von diesem A ugenblick her schreibt sich seine Freiheit. hier wurde zu seiner Moralität der erste entfernte Grund stein gelegt" 27. 1L �! n 14
E b ei . S. 1 1 4 . Ebei. Ebei. S. 1 1 5. Ebd. S. 1 1 6 f.
:, SiimtJ,che Werke ( r.nckc.GopfcrtJ ßd 4, S. 767-78). lCo 27
Ebei. S. 768. Ebd. S. 769.
Ff.I.IX C U U' A ?
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I n der Tendenz ganz ähnlich interpretiert Genesis 3 auch Fichte noch i n seinen Vorlesungen aber die GrMnJziige deI gegenwiirtigen Zeitalten ( 1 806) : "Der ge samte Weg . . . , den . . . die Menschheit hienieden macht, ist nichts anderes, als ein Zurückgehen zu dem Punkte, auf welchem sie gleich anfangs stand, und beabsichtigt nichts, als die Rückkehr z u seinem Ursprunge. Nur soll die Menschheit diesen Weg auf ihren eigenen Füßen gehe n ; m i t eigener Kraft soll sie sich wieder zu dem machen, was sie ohne alles ihr Zutun gewese n ; und darum mußte sie aufhören es zu sein. Könnte sie nicht selber sich machen zu sich selber, so wäre sie überhaupt kein lebendiges Leben ; und es wäre sodann überhaupt kein Leben wirklich geworden, sondern alles i n totem, unbeweglichen und starren Sein verharret. - Im Paradiese, daß ich eines bekannten Bildes mich bediene - im Paradies des Rechttuns und Rechtseins ohne Wissen, M ü h e und Kunst, erwacht die Menschheit zum Leben. Kaum hat sie M u t gewonnen, eigenes Leben zu wagen, so kommt der Engel mit dem feurigen Schwerte des Zwanges zum Rechtsein, und treibt sie aus dem Sitze ihrer Unschuld und ihres Friedens. Unstet und flüchtig d u rchirrt sie nun die leere Wüste, kaum sich getrauend, den Fuß i rgendwo festzusetzen, aus Angst, daß jeder Boden unter ihrem Fußtritte versinkt. Kühner geworden d urch die Not, baut sie sich end lich dürftig an, und reutet im Schweiße ihres Angesichts die Dornen und Disteln der Verwilderung aus dem Boden, um die geliebte Frucht des Erkenntnisses zu ziehen. Vom Genusse derselben werden ihr die A ugen aufgetan, und die Hände stark, und sie erbauet sich selber ihr Paradies nach dem Vorbilde des verlorene n ; der Baum des Lebens erwächst ihr, sie streckt aus ihre Hand nach der Frucht, und ißt, und lebet in Ewigkeit"28. Bei Fichte und Schiller also derselbe Vorgang wie bei Kan t : die Positivierung des Sündenfalls zu einer felix culpa, die kaum noch culpa, sondern nur noch felix ist19• Diese zweite Positivierung des Sündenfalls durch Steigerung und Ubersteigerung der felix-culpa-Figur ist i m Kontext der autonomistischen Emanzipationsphiloso phie konsequent : durch die autonomistische Radikalisierung der Theodizee wird hier staU Goues der Mensch sein eigener Schöpfer und - indem er d u rch die Ge schichte aus der Geschichte das Bestmögliche, sozusagen ein selfmade-Paradies und also das H e i l macht - sein eigener Erlöser. Sol l man ihn zuversichtlich für den guten und die menschl iche 'Selbstbesserung' für erfolgreich halten können, darf jene U rtat, durch die er sein eigener Schöpfer und E rlöser wurde. nicht schlecht sein : also m u ß d e r Sündenfall als S c h r i t t in d i e Geschichte - ü b e r die erste, die Leibnizpositivieru n g hinaus - i n s Extreme h i n e i n positiviert werden ; a u s einem malum muß er z u m
: . loh�n" GOrll,�h Fichu. wrnmll,r;h� W'l.'r'� (hg. I . H . F ..;:hu:) Bd 7, S. 1 2 . :'I
H C-Kcls I nl�rprrt.llion d � $ Sundrnl.llls blribl hi�r ll U S konllnl�nl-trchnischrn GrUnden briseile-; d i e- zu Ißlrrprrlic-rC'nde-n Slrllrn nennl F.. Limmrruhl. D�r S;;nJ�"f.1I 111 Jrr PhJo.oph� J�. J�lIur;hrn Ur. I"rnll, S . 1 0" H.; 1.ur Inlrrprl'uliun vgl. F.. Bloch , S"hirltr-Obir', - frlM"ur"ng�" z " H�gr/ ( l 9S I ) , J· ,.. n kfun 1 962, S. ) ) I H. Zur Aufn .. hmr drr f">ositivierung des Sündrnl .. lIs bei Bloch sdber VII. U . .I . E . BIl'ch • .-t rhrurnll' I m Ch,uu"r"m - Z " r RrI'B,on Jr, EXoJ"' II"J J�, RI.',�h,. Frankfun ' 1 977, S. 8 8 f f. •
s
192ff.
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bonum avancieren. und zwar nicht zu irgend einem. sondern zum entscheidenden Anfang des summum honum humanum. Dazu gehört dann die Umwertung auch der Einzelheiten von Genesis 3 ; ich weise hier nur auf zwei hin: "eritis sicut Deus" - als das " absolute Ich" - "scientes bonum et malum " : als das absolute Weltgewissen. das über-Ich der Menschheit. das Subjekt der Geschichte als des Weltgerichts)O, h ilfs weise - bei der spätaheuropäischen Fortsetzung der autonomistischen Emanzipa tionsphilosophie in die Gegenwart - als der in sich selbst herrschaftsfreie und über alle Normen herrschende Normenbegründungsdiskurs, der als einziger wirklich weiß. was gut und böse ist, weil er selber darüber entscheidet. Zugleich - dies ist bedeutsam - wird die Umu:ertung des Sündenfalls zum PriizedenzfaU: wenn d ieses trad itionell vermeintlich Böse in Wirklichkeit ein Gutes ist, dann ist womöglich vieles oder gar alles scheinbar Böse in Wirklichkeit gut : das Böse ist dann nur das offiziell nicht zugelassene (tabuiene), das offiziell unterdrückte Gute. Zu d ieser großen " Entbösung des Bösen" (Edeltraut Luise Marquard) gehört zugleich eine allgemeine "Verbösung des Guten " : die Ökonomie erscheint als pure Unmensch lichkeit, der Staat als repressiv und diabolisch, die Familie nur mehr als 'Patient' : als Institution exklusiv zur Quälung und Deformierung der jeweils nächsten Genera-
.: Vgl. Heine, "Zur Geschichle der Religion und Philosophie in OeuI5chland" ( 1 8l5), Vorrede ,ur 7weilen Auflage ( 1 152), in Sä",tlKbr Wr..kr ( Kaufmann) Bd 9, S. 1 59 : don verweUl er auf " d,e Ge· schichle von dem verboll�ncn Baume im Paradiese und von der Schlange, der kleinen Pnvaldo1-enlin, die schon sechsuusend Jahre vor Hegds Gebun die gan1-e HegeIsche Philosophie ,·ortrug. Dieser Blauslrumpf ohne Füße 1-"igl \ehr scharfsinnig, wie das Absolule i n der Idenlil.il von Sem und Wissen beSlehl, wie der Mensch 1-um Gone werde durch die Erkennlnis oder, was dasselbe in, wie Gon im Menlchen zum 8cwußu"in !i"iner seibSi gelange. - Dicse Formel iSI nichl so klar wie die ursprung· lichen Wone: "Wenn ihr vom Baume der Erkennlnis genossen, werdei ihr wie Gon sei n ! " Frau }o:"a verSland von der ganzen Demonnralion nur das eine, daß die Fruchl verboien sei, und w"il \Ie ,·noolen. aß sie da"on, die gUle Frau, Aber kaum hane sie von dem lockenden Apfel gegenen, so v"rlor Sie ihre Unschuld, ihre naive U nmillelbarkeil, sie fand, daß 1'" viel 7.u nack"nd sei für eine P"uon von Ihrnn Sland", di" Slammull"r so vider kunhig"r Kai,,,r und Konig" . und li" v"rlangl" "in Kl"id. Fr"ilich nur ein Kleid von F"ig"nbläunn, weil damals noch keine l)'oner Scidenfabrikanlen geboren 'ur"n und weil cs auch im Paradi,,'e noch keine PUlzmacherinnen und Modehand lerinnen gab - () Paradi"s! Sonderbar, sowie das Weib 7um denkend"n SdbSlbewußlSein kommi, iSI ihr ersl"r Gedank" "in neues Kleid ! Auch dieS(' biblische Geschichle, zumal die Rede der Schlange, komml m i r nlchl aus d"m Sinn, und ich mochle sie als Mono d i"sem Buch" voranS"lzen, in d"uelben Weis", wie man oh vor fürnlich"n Gänen ein" Tafd siehl mil der warnend"n Aufschrih: ' H i"r li"g"n Fußangdn und Sdh§! S('hüssc· . .. - Di" zweii" Posillvierung d"s Sünd"nfalls li"ß" lich, in der Form "iner R"plik auf die Vorlage "on M . Fuhrmann, namrlich auch über das BGB abwickeln durch eine ah"rnaliv" FallschIlde rung und r«hdiche Würdigung: "s handeh sich um em"n Mi"lv"nrag mll langer laubeil 7 '1"! I �hen Gon als Verminer und Adam und ["a ah Mieler d"!i Paradle\cs, aus dem Adam und Fva 7um Z"'«ke ein"r V"rbess"rung ihr"r Wohnslluauon als Menschen ( Erwerb "ines Eigenheims) vor7"illg h m"u'''·ol · l e n. .. ber - da Adam keinen Mi"ln ..chfolg"r benennen und keine V"rselzung oder Berufung als Mi lil�r p"uon. Be..mler, Geistlicher od"r l"hrer .. n offendichen Schulen (Hochschullehrer) gemaß dem hier einschlagigen Mielrechl S 570 BGB gellend mach"n kann - nichl herauskonnen; darum wendel Sich Eva an ein"n versienen Rechnkundigen, di" Schlang" ("s muß sich um ein"n Mi"lv"nrag mit langrr Lauf7eil gehanddl hab" n : sonll hälle Eva gar k"in"n Grund gehabi. sich um Rechural an Ji" Schlang" 7U wenden). Adam und Eva befolgen den Ral d"r Schlang" : Gon wird durch v"nragswidragen Gebrauch zur friSllos"n Kundigung provozien. wodurch Adam und Ev.a aUI dem Mi"n·"nrag. d . h . aus d"m Paradiese freikomm"n.
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tion ; die Toleranz erscheint a l s schiere Repression; die Kunst erscheint als Betrug, die Religion als doppelter Betrug, die Philosophie als dreifacher Betrug, und als was dann die 'Poetik und Hermeneutik' zu gelten hat. wagt man gar nicht erst zu denken. Wo das Böse zum Guten avanciert, bleibt das Gute nicht das Gute, sondern wird zum maskierten Bösen ; und so sieht man schnell, daß - mit der Positivierung des Sündenfalls - der Sündenfall zwar einerseits verschwindet, aber andererseits wieder auftaucht : näml ich im dann nur noch sogenannten Guten, das so plötzlich zum eigentlich Bösen wird. Wo das Heil daran hängt. zu erkennen, daß der Sündenfall kein Sündenfall ist, liegt der eigentliche Sündenfall darin, den Sündenfall einen Sün denfall zu nennen, und wer es tut, sündigt. So beschafft sich eine neue Priesterkaste, die der Emanzipatoren, dasjenige, was sie der alten zu haben verbo t : Sünder alias Zeitgenossen des Zeitalters bzw. "Standes der vollendeten Sündhaftigkeit" (Fichte)}) alias Entfremdete alias Reaktionäre, über die sie zu Gericht sitzen kann, also die occasio für Tribunale.
3 Renegativierung des Sündenfalls Jedermann sieht sofort, wo das zuerst - aber keineswegs zuletzt - in großem Stile praktisch wurd e : i n der Französischen Revolution. Und dabei kam es nun so : j e mehr diese Revolution - statt das zu bringen, was die autonomistische Emanzipationsph i losophie von ihr erwartete : nämlich das sofortige und totale Heil - vielmehr ganz und gar nicht das Heil brachte, sondern dessen genaues Gegenteil, den Schrecken, mußte ihr Prinzip - die Freiheit - zweifelhaft werden. Die 'terreur' problematisiert die menschliche Freiheit a l s Prinzip. Ich übergehe die Entschuld igungstheoreme : die 'terreur' als Greuelpropaganda des Gegners ; die 'terreur' als Panne ; die ' terreur' als Kinderkrankheit ; die ' terreur' als Ubergangsphänomen; die 'terreur' als die notwen d igen Unkosten des Fortsch ritts; etc. Doch immer mehr ergab sich : die ' terreur' war nichts nur Akzidente l les, sondern hing mit der mensch lichen Freiheit und dem Versuch, sie zum Absoluten zu machen, offenbar eng zusammen, so daß sie von langher angelegt war. Sobald man nur gründlich genug nach ihrer Ursache suchte, fand man sie schließlich auch schon ganz am Anfang: bei Adam und Eva unter besonderer Berücksichtigung der Schlange. Alsbald stellten sich Evidenzen ein: wer so mit der Freiheit anfängt, wie - nach Kant. Sch iller und Fichte - die ersten Men schen, der landet notwendigerweise sch ließlich bei der Französischen Revolution und in der 'terreu r ' ; das erste Menschenpaar - apfelessend - waren die ersten Jakobiner; Adam war Robespierre in nuce (und komisch allenfalls im Zerbrochenen Kru�l), und wenn dabei Eva - als Beraterin und Begeisterin : halb Fischers Fru, halb Protoin-
H l�
FKhrr, ,�mm,l;(hr \('("rkr Bd 7, S. 1 2 . Wegen der Identität von Täter und Ri,hter bei der F igur d e s Adam In Kleist, Der zerbrochr"e Kr", kann dieser als d,e Komüdie Jer Autonomie verstanden werden.
( 1 806).
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lellektuelle - eine Rolle gespielt hat, dann war es eine wesendiche : denn es handelte sich um die Emanzipation des Mannes durch die Frau - die Emanz ipation aus dem Paradies. D iese ersten Revolutionäre gingen m it dem. was sie hanen. dem Parad ies, sehr Icichtfenig umi und so in es bei den Revolutionären auch geblichen. Wer mit der Revolutionicrung des Paradieses angefangen hat, wird mit der Revolutionierung Frankreichs nicht aufhören ; u nd wenn die Menschen - leichtsinnig - schon auf das Bcnchcndc, das das Parad ies war, keine Rücksicht genommen habe n : um w icvieles weniger werden sie Rücksicht nehmen auf bestehende Verhältnisse, die nicht das Paradies sind. Schon am Anfang hane der Schritt in die Freiheit mit Rücksichtslosig keit und wirklich mit dem Bösen zu tun: der Sündenfall war der Anfang der mensch lichen Freiheit, jawohl, aber die menschliche Freiheit, indem sie i n den Schrecken umschlug, scheitene; und so war der Sündenfall vor allem : der Anfang des Scheiterns der menschlichen Freiheit, so daß man sagen muß: d ieser Sündenfall war die Gebun der Freiheit, aber vor allem war er wirklich der Sündenfall. Wo die autonom ische Revolutionsphilosophie sich zur Revolution nicht mehr als zu ihrem Traum, son dern als zu ihrer Realität verhalten muß, da kommt es - gerade für jene "Ph iloso phie". die "alles von der menschlichen Freiheit erwanet.. n - zur Enttäuschung ihrer Naherwanung, zur Verzweiflung über die Verzögerung der Heilsparusie und eben darum - der Tendenz nach - zu dieser These. Das bedeutet die Renegati'Vier.mg des Siindenfalls: sie geschieht - unter dem Ein druck von Verlauf und Resultat der Französischen Revolution - in der Spätromantik. Ich konzentriere mich hier auf Schelling; der war wohlvertraut mit d ieser Materi e : s c h o n s e i n e erste Publikation - die Magisterd issertation v o n 1 792 - h i e ß : Antiquis simi de prima malorum humanorum origine philosophematis genes. /11 explicandi tentamen critic"m et phiJosophicum14• Der voridentitätsphilosop h i sche Schelling fragt nach der menschlichen Freiheit. der nachidentitätsphilosophische Schelling fragt nach der Ohnmacht der menschlichen Freiheit. Paradoxerweise ließ gerade die "Tendenz zum Geschichtlichen")� seiner späteren und späten Philosophie die Be hand l ung d ieser Frage überspekulativ werden; so kommt es - mit viel Platonismus zur spekulativen Vertiefung von Genesis 3, bei der d ie Sündenfallerzählung selber zunächst im Spekulativen untergeht. Das beginnt schon in der Schrift Philosophie und Religion von 1 804. Die Frage nach der Freiheit ist - wie dann vor allem auch im Freiheitsa"fsatz von 1 809 - jetzt wesentlich die Frage : wie kommt es - der Möglich keit und der Wirklichkeit nach - zum Bösen ? Die Möglichkeit des Bösen ist - unter bestimmten Bedingungen - die Endlichkeit; darum interessiert Schelling die "Ab kunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten"}f" und er schreibt : "vom Absoluten zum Wirklichen gibt es keinen stetigen ü bergang, der Ursprung der Sinnenwelt ist )J .M
Schdling, "Philosophische Briefe uber Dogmatismus und K rui7.i,mus" ( 1 795), i n Sit",t/'che We,.kr ( K . F . A . Schellin,) Bd I , S. l06 .
S.mtluhr Wr ....r Bd I , S. 1 -4 0 .
,. ScheUing, " Z u r Geschichte d e r neueren Philosophie" ( 1 827), in S. W. B d 1 0 . S. 94 . Schellin" " Philosophie und Religion" . in S. W. Bd 6, 5 2 8 .
.M
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nur a l s e i n vollkommenes Abbrechen v o n der Absolutheit. d u rch einen Sprung deutbar . . . er kann nur in einer Entfernung. in einem Abfall von dem Absoluten l i egen" l1 , der " nicht (was man so nennt) erklän werden kann")! ; die endliche Welt selber ist das Produkt eines Falls. D ieser ontologische Fall in die Möglichkeit des Bösen w ird - und all das hat damit zu tun, daß Gon es mit dem, "was in Gott selbst nicht Er Selbst ist"19, daß also das Ich Gottes es mit seinem Es in der Spätphilosophie Schellings immer schwerer hatte, so daß er ebendadurch in seiner Allmacht behindert war - überboten d u rch den hamaniologischen Fall in die Wirklichkeit des Bösen : für Schelling i n seiner Philosophie der Mythologie ist d ieser Sündenfall - "Wollen ist U rsein"41: - "ein Wollen" und " reine That" 4 1 ; durch den " U rzufaW'42 dieser reinen Tat will der Mensch "als Gon sein"41, indem er die Gegenschöpfung der Individua tion und " Geschichte" beginnt. " Dies" - schreibt Schelling in der Philosophie der Offenbarung und bezieht sich dabei ausdrückJich auf Genesis )+4 - "wird in der ältesten Erzählung so ausgedrückt, daß er (der Mensch) aus dem On der Seligkeit aus- und ins weite. unumschlossene Feld getrieben wird", und daß "der Elohim der mosaischen E rzählung sagt : Adam weiß. was gut und bös ist". " E r dachte. wie es in der Erzählung der Genesis heißt, seine Hand auch nach dem Baum des Lebens auszustrecken, von der Frucht desselben zu essen. und ewiglich zu leben, d. h . er dachte mit jenem Prinzip eine ewige, unauflösliche, immerwährende Bewegung, wie Gott, anzufangen" . Indes: zwar erlangt so der Mensch - usurpiene - göttliche Freiheit, aber ohne die göttliche Macht, sie zu beherrschen; darum verliert er - wie Goethes Zauberlehrling - die "Gewalt" über seine Freiheit und ihre Produkte4 � ; so geht - Erinnerungsstichwort : ' terreur' - d ieser revo lutionär-usu rpatorische Auf stand gegen Gott schief und landet im Unheil. Ich verfolge hier die genauere Ent wicklung d ieses G edankens bei Schelling nicht. Ich u ntersuche auch nicht. ob und gegebenenfalls wie bei Schel ling mit der Erzählung des Sündenfalls der Prometheus mythos zusammengebracht wird ... . Ich kennzeichne ebensowenig die Filiationen von Schellings einschlägiger Position : die These 'die Individuation ist der Sündenfall', wie sie bei Schopenhauer und beim frühen Nietzsehe wichtig w u rde. Ich betone hier einzig d i e wesentliche Pointe d ieser Position durch Schellings Bestimmung des Sün denfalls als jene U rdezision, die "das reine Daß"47 und ein "durch sich selbst Zufälli-
) " f-.bd .
S. JS .
U E bJ . s. 41 " Sthrlling. "Ph ilosophi'Chr U nlrnuchungrn u�r das '«'rnn drr mrnsch lic hen Frei h eit",
S . J 5 'J . 4C I ' b d .
S. J � C . 4 1 S... hrlling, " Phllo50phlr drr MYlhologlr·· ( 1 820ff.). in S. W . Bd 1 1 , S. 4 1 'J . 41 Fbtt. S. 4ftot. 4._ Schrlling, " Phllosoph lr drr Offrnbarung" ( 1 82 7 ff.), in S. W. Bd 1 3 , 5. J4'J. " Hl(.1 5. 3 50 . 4' Ul(.I . 5 . J 5 1 .
-. · · Phi l",oph,r drr M '·lhol'lj;lr·· . • n .�. \"C. 8d 1 1 , S . 4 8 1 H.
0' U".I . S . .f20
In
S. \"C'. Bd 7,
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ges"U ist: Schdling akzentuiert die pure, ' u m'ordenkliche' und unhi ntergchbarc Fak
tizität des Falls. Daran l iegt ihm (und nicht nur ihm), weil diese Faktizität des Falls plausibel macht, daß seine Heilung nicht als notv.·endiges Resultat eines gesc hichtli chen Fortschritts durch eine bloß menschliche Macht herbeigeplant werden kann; vielmehr: die Erlösung ist G nade des wirklich A l lmächtigen, also Gottes, u n d darum selber unerzwingbare fakti7.ität. Die unvordenkl iche Faktizität des Fal ls kann nur durch unvordenkliche Faktizität besiegt werden: du rch "Gon selbst", "der der H err des Seins ist" und "als ein selbst Thatsächlicher dem Thatsächlichen des Abfalls entgegentreten kann"4'1. Dieser Gedanke der Faktizität bedeutet : es liegt i n allem Wesentlichen gerade nicht beim Menschen, seine Misere zu wenden; und genau dieses implizien - im Ausgang von einer Theorie der Faktizität des Sündenfalls - den Start eines neuen Geschichtsbegriffs, der besagt: Geschichte ist in allem Entscheiden den nicht das, was der Mensch macht. sondern das. was dem Menschen widerfährt. Dies - der Start eines Geschichtsbegriffs, für den die kontingenten Widerfahrnisse der Zentralbefund sind - begann mit Schellings später Philosophie des Sündenfalls, die - in ihrer wesentlichen Pointe - ist : eine Philosophie der Faktiziti.it. Bei dieser Betonung der Faktizität des Sündenfalls hat Schelling mindestens einen Vorläufer und m indestens einen Nachfolger. Der Vorläufer, auf den Schelling selber h inweistSO, ist - horribile dictu - Kant, dessen Blick auch für entferntere Konsequenzen eines philosophischen Ansatzes allemal schärfer war als der fast jedes seiner Nachfolger. Sein Mutmaßlicher Anfang von 1 786 - der oben besprochen wurde - war ja nur eine vorbereitende Fi ngerübung für sein Buch über Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ( 1 793) mit seiner Lehre vom " radikalen Bösen in der menschlichen Natur". Dort beantwor tet Kant die Frage nach dem " U rsprunge des Bösen in der menschlichen Natur"�' durch H i nweis auf eine unbegreifliche "intell igible Tat", d . h. eine unerforschl ich kontingente Urdezision, und er faßt dort die entsprechende Interpretation von Ge nesis 3�l folgendermaßen zusammen : die Erklärung des " H anges zum Bösen" setzt den "Hang zum Bösen" vorau s ; so bleibt "der Vernu nhursprung . . . dieser Verstim mung unserer W i l lkür in Ansehung der Art, subordinierte Triebfedern zu oberst in ihre Maximen aufzunehmen, d.i. dieses Hanges zum Bösen, . . . uns unerforschlich . . . . . . . für uns ist also kein begreifl icher G rund da, woher das moralische Böse i n uns zuerst gekommen sein könnte"�} : als intelligible Urdezision bleibt es ein Faktum, zu dessen Faktizität unsere Vernunft nicht zukann. Justament das bleibt die A ntwort auch noch von Kierkegaard, der sein Buch Der
Begriff Angst ( 1 844) im ersten Kapitel mit einer Diskussion von Genesis 3 bestreitel u
F.bd . S . 4ft4 . Ebd. S. S66. Ebd. S. 483. ' I K.ant, Ai.. Jt't1llr...ug.. br Bd 6. 5. 39. ': E bd . 5. 4 2 f . � l Ebd. 5. 43.
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und schreibt : "Die Erzählung von der ersten Sünde in der Genesis . . . ist die einzig dialektisch·konsequeme Auffassung. Ihr ganzer Gehalt ist eigentlich in dem Satz konzentrien: Die Sünde kam in die Welt hinein durch eine Sünde", so "daß die Sünde sich selbst voraussetzt . . . Die Sünde kommt also hinein als das Plötzliche, d . h . durch den Sprung"�4. D i e s - w a s " d e m Verstand ein Ärgerni s "s!> ist - ist wohlkom· patibel, meint Kierkegaard. mit der Aussage der Schmalkaldischen Anikel 1 1 1 . 1 . 3 : " peccatum haereditarum t a m profunda et tetra e s t corru ptio naturae, ut nullius hominis ratione i ntelligi possit, sed ex scripturae patefactione agnoscenda et credenda sit "�". Drum auch legt Kierkegaard andernons - i n der Krankheit zum Tode ( 1 849) Wert darauf, "daß die Sünde nicht eine Negation, sondern eine Position ist"S7; denn : zwar " benutzt man in der Logik das Negative als die anspornende Macht, die alles i n Bewegung bringt"S1, aber gerade d a s verharmlost die S ü n d e zur MephistopheIes. Rolle eines ClTeils von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft"s, ; demgegenüber gilt : die Sünde ist Faktizität, die nicht durch Teleologisie. rung aufgelöst werden kann. Der paradoxen Faktizität des Sündenfalls aber ent spricht die paradoxe Faktizität des göttlichen HeilshandeIns ; daraus folgt : die w i rk liche W i rklichkeit ist Faktizität. Das wurde bei Schelling als Grundeinsicht durchge setzt, es war in Kanu Religionsschrift präfigurien, und es wurde bei Kierkegaard extrem gehend gemacht : die Philosophie wird - und zwar ""on der Ham4rtiologie her
- zur Philosophie der Faktlziliit. Bei diesem Schritt i n die Faktizität kommt Gon wieder ins Spiel: ebendadurch scheiten - nach der Leibnizform der Theod i zee - auch die autonomistisch emanzipa· tionsphilosophische Ra.dikaltheodizee. die es durch die Entpflichtung Gottes und die Ermächtigung des Menschen war. Dabei wird - gleichzeitig mit der Renegativierung des Sündenfalls - die Geschichte sichtbar als ein Kontingenzfeld - nicht im Sinne eines Beliebigkeiufeldes. sondern eines Schicksalfeldes - intervenierender Kontin· genzen. Dieser Faktizitäucharakter des Geschichtlichen - den Heidegger in seiner " H ermeneutik der Faktizität"ltoO meinte, und den heute diejenigen wieder bemerken, die, wie etwa Hermann Lübbe" ' , die " Historie" als " Komingenzerfahrungskultur" definieren und die "Geschichte" als "das, was passiert" - wurde an der Sündenfal l · u n d Heilsgeschichte entdeckt (denn in d e r Philosophie s i n d die meisten kategorialen Probevorläufe, wenn sie nicht ästhetisch vonstatten gehen, theologisch). An dieser Entdeckung - oder richtiger: W iederentdeckung - der Faktizität von Sündenfall und Erlösung scheitert die felix-culpa-Figur als totalgeschichtliche Kategorie. Sie tut es \4
Kirrkrgurd. ""Orr ßt"griff Ang§t". in Gr$ll mmt"Jtt" Wt",kt" ( H .rsch) A b t . 1 1 / 1 2 . S. 29.
\\ F.bd. � F.bd. S. 23.
" Gt"Jtlmmrlu Wt",.tt" Abt. 2412S. S. 96. Gt"Jtlmmt"lu Wr,.tt" Abl. 1 1 / 1 2 . S . 9 . Gut"fht". FtI"Jt. Vt"rs I n S/6 . ..:i Hridrggt"r. St"", ,md Zm, H;o.lIr 1 92 7 , S. 72 A n m . l . � I H . llibbr, Gt"Jch,chnngl"Jff ,."d Gt"JChlChnl1ltvt"JJt" - AII41ytiit ""d PTtlg""".t dr, Hurol"Jt", B�§dl
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Stungan 1 9 7 7 .
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nicht nu r deswegen. weil der rcnegativiertc Sündenfall eben kaum mehr felix, son dern n u r noch culpa ist ; sie tut es vor allem deswegen. weil die Faktizität sie zer bricht. Denn Sündenfall und Erlösung sind als zwei Ereignisse von unhintergchbarcr Faktizität fonan nicht mehr - und zwar weder ex ante noch ex post - teleologisch aufeinander beziehbar: sie können - wenn man es wirklich streng nimmt (was viel leicht Schelling, dem immer sein transzendentaler Idealismus dazwischenkam. noch nicht hinreichend tat) - nicht mehr durch den Notwendigkeitsnexus eines Heilsplans miteinander verknüpft werden. Ebendeswegen wird - in genau jenem Augenblick. in dem nach der Leibniztheodizcc auch die autonomistische Radikahheodizee. die Emanzipationsphilosophie. stürzt - die felix-culpa-Figur als Figur der Gesamtge schichte u nanwendbar und muß abtreten .
.. Panialisierung der fel ix-culpa-Figur Wohin? Sobald die felix-cu lpa-Figur keine Figur des Totalverlaufs der Gesamtge schichte mehr sein kann, kann sie nur durch Parti4lisierung festgehahen werden : als
geschichtliche VerlaN/s/igu r geringerer Reichweite oder als anthropologischer Nexus. So wird sie - und dies geschieht nicht ausschließlich erst nach dem Ende der autono mistischen Radikahheodizee i m 1 9 . J ahrhunden. sondern ebenso bereits nach dem Ende der Leibniztheodizee i m 1 8 . J ahrhunden - zur geschichtlichen und anthropo logischen Miuelstreckenkategorie. Dies geht nur um den Preis, daß die felix-culpa Figur nicht mehr den gesamtmenschheidichen Sündenfall charakterisiert : so m u ß sie von der H e i lsgeschichte unabhängig - fast, wenn Hans Blumenberg gerade nicht aufpaßt, könnte man sagen : säkularisien - w ieder jener bonum-durch-malum-Ge danke werden, der i m Argumentationsarsenal der Leibniztheodizee begegnete und dort als " lahme excuse" den Zorn Schopenhauers auf sich zog; sie gibt auf die Dauer auch ihren theodizee- bezogenen Entschu ldigungscharakter auf und wird dann - peu a peu - zur neutralen Beschreibungskategorie für einen Verlaufsnexus. Zur Applika tion eines Textes auf einen sekundären Kontext kann es gehören, daß vom Text fast alles preisgegeben w i rd und nur noch ein Motivresiduum wirkt.
Das bedeutet hier, daß Genesis 3 als Text weitgehend uninteressant wird ; und es trin die hier analysiene Verlaufsfigur dann auch nicht mehr als felix-culpa- Figur auf,
sondern sie wird nur mehr nach dem Muster der felix-culpa-Figur gedacht. N u r weil - malum - die Menschen sündigten, darum kam - bonum-durch-malum - Gon in die W e h : das wird jetzt zum Verlaufsparadigma für mancherlei ganz und gar nicht mehr theologische und teilweise entfernte oder gar kuriose Befunde62• Noch ganz im Rahmen der Theod izee spricht, diese Figur w iederholend , Pope i m Essay on Man von "happy frailties", durch die "the joy, the peace, the glory of mankind" zustan dekommt61 ; aber auch Malthus - i m Principle 0/ Population: um über dessen Kau'I
VII. Verf., " G lück im Unl!:luck ' · S. I 02 ff . ., F.p. 2 . 6 , Vers. 2 4 1 ff.
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strophenprognose zu trösten - schreibt entsprechend : "übel gibt es in der Welt, nicht um Verzweiflung hervorzubringen, sondern Tätigkeit" 64, Eine eindrucksvolle Artikulationskette dieser - nach dem Muster des felix-cu lpa-Gedankens gebauten bonum-durch-malum-Figur ist belegbar, Da ist Mandeville: es gibt - malum - " p u blic v i c e s " , a b e r sie sind - bonum-durch-malum - " p u b l i c benefits"; o d e r Herder: der Mensch ist - malum - ein Stiefkind der Natur, aber - bonum-durch-malum - nur deswegen hat er Sprache; oder Kant: es gibt - malum - .. Antinomien", aber bonum-durch-malum - sie " wecken" aus dem "dogmatischen Schlummer" i oder: es gibt - malum - geschichtliche " Antagonismen", aber - bonum-durch-malum - sie beflügeln den Fonschritt'� ; oder Hegel : es gibt - malum - die Leidenschaften und das U nvernünftige, aber - bonum-durch-malum - gerade dadurch wird Vernünftiges bewirkt ; das ist der Gedanke der "List der Vernunft"", Daß die bonum-durch malum-Figur mit dem Kompensationsgedanken zusammenhängt, wurde oben - im B l ick auf Leibniz und Azals - angedeutet ; und so kann Emerson in seinem Essay Compensation, leicht umakzentuien, grund sätzlich den selben Gedanken äußern, nämlich so : nur durch Entrichtung einer "tax" - mal um - erringt man - bonum durch-malum - ein " gift" oder "benefit" ; das ist das "Iaw of compensation " : "What will you have? quoth God ; pay for it and take i t " ; insofern ist "human labor . , . an immense illustration of the perfect compensation of the universe, The absolute ba lance of G ive and Take" macht es " impossible to get anything without its price" und zugleich wahrscheinlich, daß "every stroke shall be repaid", so daß "the good are bdriended even by weakness and defect . . . No man had ever a defect that was not somewhere useful to hirn", denn : "Every . " defect (causes) an excess. Every , . , evil (hath) its good " ". Zwar ist Burckhardt skeptisch gegenüber diesem "geheimnisvol len Gesetz der Kompensation"'· ; gleichwohl wird es - im Umkreis der Psychoana lyse durch Adler und Ju ng'9 - reformulien und avanciert schließlich zur anthropolo gischen Zentral kategorie, nämlich bei Gehlen7c : der Mensch - malum - ist " M ängel wesen", aber - bonum-durch-malum - gerade das en.wingt die Kompensation durc h " E ntlastunge n " ; und dieser anthropologische bonum-durch-malum-Befund ist in :I.wischen (unter Zuwachs an Subtilitätsappeal) systemtheoretisch generalisien wor... 7.n. n a c h JC'r Jt. ObefSC't7ung D.u BNJoJ,,.r',,,gsg,.setz, Müm;hen 1977. 5. 1 70. M MandC'\·.lIe. Th,. F"bl,. 01 th,. B,.,.s or PrlfldU V''"''S - PlIbi" B",,"I,ts ( 1 72 S ) : Herder, " Abhand lung uber den U rsprung der Spru:hC''' ( 1 772). in W,.rk,. (Suphan) Bd S. be§. S. 2 7 ff. ; Kant, " Prolegomcna" ( 1 783), m .'tk.. d,."" ,.dIlJg.. H Bd 01 , 5. 318, und " K ritik dC'r puktlschC'n Vernunft" ( 1 788), in A.·A. Bd S, 5 . 1 0 7 ; K .. nl, " l d u .. u einer allgtmeinC'n GeschichtC' In ... ehburgC'rlicher Ab S i c ht " ( 1 7801), in A . -A Bd 8 , bcs.
S . lo H .
... He!;d. "Vorlesungen ubcr die PhilmuphiC' der Geschichte" ( 1 822f1.), in Th,.ofl,.-W,.r'dIlJgdb,. BJ 1 2 , 5 . 019. h ' K. . W . l-:mC'f5on, "Cumpensalion" ( 1 86S), in Cornplne Wor's Bd 2, 5 . 9 1 - 1 2 7 ; hier 7.1liC'n si nd S. 9S, S. 1 09, S. 1 1 5, S. 1 19, S. 107, S. 98. hl J . Burckhardl, "Wdlgc)chichlliche Belrachtungen" ( 1 8108), in G,'..,,,,rn,.lu Werk,. Bd 01, S. 191 ff. h� A . A dler, Stlldi,. IIber M",dC'rtI.,C'rtlgkt'lt 110" Org.. ",.", 1 90 7 ; C G . Jung, Ob,.r d,C' PsychologlC' JC'r J,.",C'fltwprd,.C"Ox, 1 907. ' ; D r r M""fch - S,.",,. Ndtllr ,. " d s,.",,. Sullll", ,,, JC'r lI'rlr, 19010.
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den, durch Luhmann" : die Welt ist - malum - " komplex", aber gerade das erzwingt - bonum-durch-malum - die " Komplexitätsted uktionen" mit ihren Reduktions kompensationen. Kein Zweifel also : die felix-culpa-Figur startet - als bonum-durch mal um-Gedanke - neben und nach den Theodizeen eine vehemente partialhistori sehe und anthropologische oder gar systemtheoretische Karriere. Diese Figur hat auch cin ästhetisches Schicksal. Bemerkenswert ist eine einschlä gige Metamorphose des Gedankens der "List der Vernunft" zu dem einer Art List der Sensibilität, durch den sich das 19. und das beginnende 20. Jahrhu ndert - von Schell ing über Schopenhauer und Lombroso bis Lange- Eichbaum und Benn - haI faszinieren lasse n : es gibl - malum - das . Pathologische und seine Passionen, aber bonum-durch-malum - gerade darin steckt die Chance zur Genialität und den subli men Freuden der Kunsez. Und so gibt es die bonum-durch-mal um- Figur denn auch l i terarisch, etwa bei Hölderli n : "Wo aber Gefahr ist, wächst das Reuende auch", oder bei Busch : "Wer Sorgen hat, haI auch Likör"?'). Die philosophische Ästhelik selber operiert mit dieser Figur, etwa in der " Analytik des Erhabenen" bei Kane4 : unsere Sinne - malum - scheitern, aber - bonum-durch-malum - gerade dadurch beweist die Vernunft ihre Macht. I ndes : diese Figur ist nicht nur ein Thema der Ästhetik, sie ist vielmehr die eigentliche Schicksalsfigur der Ästhetik selber ; das hat Joachim Riuer7S gezeigt : in der modernen Weh - so interpretiert er - betreibt ein Prouß, der eine unverzichtbare Gewinnseile hat, nämlich der Prozeß ihrer Versach lichung, zugleich ihre Entzauberung; diese Entzauberung ist - mal um - ein Verlust : aber dieser Verlust wird - bonum-durch-malum - kompensiert durch die mit ihm gleichzeitige Ausbildung des Organs einer neuen Verzauberung, die zur prekären Entschädigung für den VerluSl der alten wird : das ist das spezifisch moderne Organ der ästhetischen Kunst. Im Bündnis mit dieser ästhetischen Kunst und ihrer Philoso phie - der Ästhetik - aber kommt es zur modernen Konjunktur auch und gerade der Hermeneutik und ihrer Philosophie.
S Applicatio actualis Die hermeneutische Philosophie bestimmt den Menschen nicht mehr - nur - als das "Sein zum Tode", sondern - ebensowohl - als das Sein z u m Text: justament darum wird er - wie eingangs angedeutel - zugleich damil das Sein z u m Kontext, das in der - geschichtlichen - Spannung zwischen primären und sekundären Kontexten SIeht. J, u . � . : " Soziologi� �15 Th«lri� S01-i�l�r Systeme", in N. I.uhmann, 1J 11 l' �
SoziologlScht Allfilii n",g 8d I , Opladen ' 1 974. S . 1 1 ]-1 16. Vgl. Ver!.. SChWltt1glrtltt1l ",,, dtr Gtsch.chtsphilosophlt S. 85 ff . und S. 1 8 5 ft Hold�rlin. "Pumos" ( 1 801), in Kltmt Stllttg.rttr AlIlg.� 8d 2, S. 1 7] und If. ; W. 8U5("h, Dlt /ro",,,.,, Htlt1lt ( I 872), Kap. 16, Vers 1 . Kant. " K ritik der Urteilskraft" ( 1 790), i n A k.. Jtmitflll,g.. bt 8d 5. S . 2.. .. 1f. Vgl. 1 - Riner. SlIbjtktitJltiit, Fnnkfun 1 9 7.. .
Ebendeshalb ist für die Sündenfallgeschichte Genesis 3 - im Blick auf die felix culpa-Figur und ihre profane Panialisierung zum bonum-durch-malum-Gedanken eine applicatio actual is möglich. Denn in der Tat verhält es sich so : nicht nur ist Genesis 3 - durch die Geschichte hindurch - Dauerpensum einer hermeneutischen Applikation auf sekundäre Kontexte, sondern als Geschichte des Falls ist Genesis 3 eben auf dem Weg über die fel ix-culpa-Figur und den bonum-durch-malum-Gedan ken - selber applikabel auf die Hermeneutik. Denn dies ist durchweg der Vorgang, in dem die Hermeneutik steht und entsteht : der - emphatisch betriebene oder ele
- Fall aus dem primiiren Kontext erzwingt seine Kompensation durch Hermeneutik. In genau diesem Sinne ist also die Hermeneutik grundsätzlich postlap
gisch erlittene
sarisch. D iesen Fall aus dem primären Kontext hatte Karlfried Gründer im Auge, als er schrieb : " zw ischen der zu verstehenden Äußerung und dem, der sie verstehen möchte, l iegt ein geschichtlicher Bruch, bei dem der, der verstehen möchte, aus dem geschichtlichen Zusammenhang, dem die Äußerung zugehön, herausgetreten ist, sich emanzipiert hat. Hermeneutik ist Theorie des Verstehens unter den Schwierig keiten von Emanzipationen" 7". D iese Charakteristik stimmt auch dann, wenn man wie ich das hier durchweg getan habe - mit " Hermeneutik" nicht die "Theorie des Verstehens", sondern "das G eschäft der Auslegung"", d. h. die Kunst des Verste hens selber meint. Auch und gerade dann gil t : j ener "geschichtliche Bruch", das malum des Falls aus primären Kontexten in sekundäre, erzwingt - bonum-durch malum - die Hermeneutik. Dieser formal-generelle Befund ist konkretisierbar d u rch den H inweis auf jenen historischen Prozeß, der die Hermeneutik - als Pensum hermeneutischer Wissen schaften: der 'Geisteswissenschaften' - gegenwänig fundamental werden ließ : das ist die moderne Ausbildung des historischen Sinns. Joachim Ritter'B venrat die These : der historische Sinn wird - spezifisch modern - erzwungen durch den Traditionsver lust der modernen - versachlichten - Gesellschaft : diese ihre " Geschichtslosigkeit" erzwingt die hermeneutisch-historischen, die Geisteswissenschaften als "Organ ihrer geistigen Kompensation "7'f. D iesen Ansatz hat Hermann lübbe aufgenommen und weitergeführt, indem er bekräftigt : " Kompensation ist das entscheidende Stich wort"80; und er schreibt : "Im Blick auf diese Zusammenhänge hat Joachim Ritter den historischen Geisteswissenschaften die kulturelle Funktion einer Kompensation der realen Geschichtslosigkeit der modernen Welt zugeschrieben. Das wird" in lüb bes Buch "au fgenommen - mit der nicht unwesentlichen Nuance, daß d iese reale Geschichtslosigkeit, unmißverständlicher, als die h istorisch beispiellose Geschicht-
"
K . Grunder, " H ermeneutik und Wissensch.1ftsthrorie", in PhiloJophjJrhrJ Jahrb,.rh 75 ( 1 967/68) 5. 1 55. Heidegger, Sri" ,. " d ZM S. J7, � J . Ritter, "Die Aufgabl' der Geisteswissenschaften in der modernen Gesdlsch.1ft", in S"b,rJuI1IUilt 5 . 1 05 - 1 -4 0 . ... F.bd. 5. 1 J 2 . Ne H . Lubbe, GrJrhlChtJlngri/f ""d GeuhjrhtsmtrrrJJr 5. JO-4. n
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lichkeit, nämlich strukturverändernde Dynamik unserer Zivilisation interpretien wird"'I : ihr "wandlungshedingter Schwund an Venrautheit "S2 verlangt nach Kom pensation durch h istorischen Sinn und - w issenschaftlich institut ionalisierte - Her meneutik. Daß in der modernen Welt - durch ihre exponentielle Beschleunigung des 'sozialen Wandels' - die Verahungsgeschwindigkeit ständig wächst. bewirkt einen
modern sich beschleunigenden Dauerfall aus primären Kontexten in sekunda·re Kon texte: i ndem zugleich das, was einstmals ein simpler Ein-Schlangen-Job war, zum Dauerpensum einer expandierenden Beratungs- und Verführungsbranche wurde. geschieht durch wachsenden Konsum eines zunehmend industriell produz ierten Fruchtertrags agranechnisch betreuter Plantagen von Bäumen der Erkenntnis eine immer schneller vor sich gehende Dauervertreibung aus - ständig t ransitorischer bewohnten - Parad iesen selbstverständ licher Wehvertrautheit. Wo aber d ieserart alles fließt - wo immer schneller Vertrautheit abgebaut wird und dadurch Fremdheit entsteht - wird das Verstehen immer schwieriger, unselbstverständlicher, unwahr· scheinlicher: darum muß es - kompensatorisch - zur Sache einer eigenen Kunst werden. eben der Hermeneutik. Sie ist das indirekte Prod ukt dieses Falls, denn sie ist die Kunst, bei diesem Fall nicht zu fallen. Ihr Pensum ist diesseits von " verbergen" und "entbergen" - bergen. Gerade der Prozeß der Modernisierung wird also zum Sturz in die Hermeneut i k : so wenig wird die Hermeneutik durch die Theorien und Praktiken, die die Weh verändern, modern überflüssig gemacht. daß sie durch diese vielmehr gerade erst nötig wird. Gerade der zunehmend rasante Vertrautheits schwund der modernen Weh erzwingt - kompensatorisch - die Konjunktur von rekonstruktiven und applikativen Techniken des Wiedervert rautwerdens : also die Hermeneutik; erst in der modernen und modernsten Welt - weil sie sich immer schneller ändert - kann man vollends ohne Hermeneutik nicht mehr lebe n : in ihr wird. was einstmals das Geschäft nur von Spezialisten gewesen sein mag. nunmehr je compense, je suis - zur Sache der tagtäglichen Oberlebensku n s t ; erst jetzt modern - beginnt das eigentlich hermeneutische Zeitalter. Zu ihm gehört die List der Tradition : der hermeneutische Ausgleich des Vertrautheitsverlustes erbringt eine A rt von hermeneutischem Zugewinn. Die H ermeneutik erweist sich als die Kunst, durch immer weniger Tradition immer mehr Tradition zu habe n : weil i n der modernen Welt - änderungstempobed ingt - alles Eigenste stets fast unverzüglich fremd wird, rückt zugleich alles Fremde in die Entfernung des Eigensten und damit in den Aktionsradius hermeneutischer Aneignung. Wo wir - in zunehmendem Maße ständig hermeneutisch erinnern müssen, um nicht zugrundezugehen, können wir schließlich sogar das erinnern, was wir niemals vergessen haben. weil wir es über· haupt noch nicht kannten : der ganze Um kreis und Reichtum der menschl ichen Herkunftswelten rückt in die Reichweite unserer Appl ikationsbegab u n g ; und so gewinnen wir - hermeneutisch - selbst noch jene Paradiese zurück. aus denen wir nie 11 Il
Ebd. S. 22. vgl. S. lO4 ff. Ebd. S. l I 8 .
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vertrieben w u rden. weil wir n i e in s i e h i neingeboren waren. Dieser Zugewinn a n Horizonten gehört zur Kompensationsleistung d e r - durch d e n Modernisierungsfall - erzwungenen Hermeneutik: zur Entschädigung für das Unglück unseres Sturzes aus der Selbstverständlichkeit. Der moderne Dauerfall aus primiiren Kontexten in
sekundiire Kontexte - malum - erzwingt - bonum-durch-malum - gerade modern zugleich mit der kompensatorischen Konjunktur der Hermeneutik diesen henneneu tischen Mehrwert: durch d iesen Fall - zum Unglück - stürzen wir in die Fremde. aber wir fallen - G l ück im Ungl ück - in eine sekundäre Weltoffenhei t ; der lapsus des " änderungstempobedingten Venrautheitsschwunds" erzwingt - als felix lapsus diese hermeneutische Ubiquität. Bei einer solchen applicatio actualis von Genesis 3 auf die Hermeneutik selber mag - situationsbedingt - allerlei hermeneutischer Beziehungswahn mit im Spiel sein; indes : wenn auch nur einiges davon stimmt. dann könnte - eben weil i n der moder nen Weh zunehmend immer mehr mit diesem Fall aus primären Kontexten in sekun däre Kontexte zu tun hat und immer weniger nicht mit diesem Fall - schließlich auf eine etwas unverm utete Weise gerade für die Hermeneutik das gehen. was ein klassi scher Nicht-Hermeneutiker. nämlich der frühe WingensteinRl• formul ierte : "die Welt ist alles. was der Fall ist". mundus est omnia. q uae lapsu sunt.
�)
Trflcrfltlll [ogico-phi[OIOph,cIII, 1 92 1 , 1 .
R E I N IHl I.() R. G R I M M E NTMYTH I S I E RU N G U N D R E M YTH I S I E RU N G D E R PA RAD I E S E S E R Z A H L U N G : Z U Z O LAS PA RAD O U
I n die lange Reihe literarischer Anknüpfungen a n den biblischen Paradiesesmythos gehört überraschenderweise auch der 1 875 erschienene Priesterroman La faute de I'A bbe MONret' aus Zolas Zyklus Les Rougon.Macquart: der Priester Serge Mouret verbringt mit der fern von aller Zivil isation aufgewachsenen Albine einen Sommer im Paradou, einem zum irdischen Paradies stilisierten verwilderten Rokoko·Park, in dem sich auf andere Weise die Erzählung von Gen 24b_3 'w iederholt'. Auf den ersten Blick scheint der Roman den theologisch beschlagnahmten Mythos im Sinne des Naturalismus neu zu deuten : diese polemische und antiklerikale Ab sicht unterstellte jedenfalls die literarische Kritik der Referenz auf den biblischen Mythos ; auch stünde ein solches Verfahren einem ' l i nken' Priesterroman des ausge henden 1 9 . J ahrhunderts gut an. I n der Tat mag Zola i n der Konzeptionsphase, soweit sie sich aus den Arbeitsnoti zenl rekonstruieren läßt, vor allem an d iesen polemischen Bezug gedacht haben, denn er nennt als Thema des Romans "la grande lutte de la nature et de la religion". Doch ist ebenso unübersehbar, daß die Auseinandersetzung mit dem biblischen Mythos eine hermeneutisch komplexe Beziehung zur 'Vorlage' konstitu ierte, die nicht einsinnig zu verrechnen ist. Dies geht schon daraus hervor, daß das Paradies und seine Auslegungsgeschichte nicht nur die Folie für die Paradou-Kapitel. sondern für den ganzen Roman bildet. Im Roman übernimmt der Paradou die Rolle eines literarischen Mythos. der seine Referenz auf den alten Mythos mit reflekt iert. Beide Bestimmungen bedürfen frei lich einer genaueren U ntersuchung, soll die Funktion des literarischen Mythos im naturalistischen Roman grundsätzlicher bedacht werden. Bekanntlich stand die Anthropologie Zolas. wie sie sich in den Rougon-MarqNart explizierte. unter der Spannung letztlich nicht ausgeglichener sozialer und biologi scher Determinanten}. Da isomorphe Grundgesetze für alle Ebenen der Entwicklung von Leben gehen sollten, diese Behauptung aber diskursiv oder deskriptiv nicht zu verifizieren war. solhe der literarische Mythos diese Lücke schließen. Wenn wir von F.milt Z o b " Ltl ROIIgon-M..cq_rr - HiJtOlrt ""tllrrlh rt I_Ir J'IInt '.. m Jlt 10111 It IrconJ Emp,rt, hg. H. A. Ll,noux/H. Milltrilnd, Bd I , Pilris 1960 (Biblio,heque de la Pleiade). F."" Jrl'Abbr MOllrrt finde, sich in der ziüenen Ausgabe, S. 1 674- 1 7OO. 1 H . U . Gumbrrch" Zow ,m hutoruchrn Konrur - F;;r rlllr nr"r Ltltrifrr Jtl Ro"gon-M..cq""rt-Z,ltl",. M unchen 1978. S. 29.
1
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b ne A u swahl aus dem Dossier zur
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dieser A rbeitshypothese ausgehen, wäre zunächst die Beziehung zwischen bibli schem und l iterarischem Mythos näher zu bestimmen. Die nicht gänz lich sozialisierbare Macht des Eros, die 'elementare Frage' nach der Sexualität und ihrer Beziehung z u r Gesell schaft ist das eigent liche Thema des Ro mans, für die der Parad iesesmythos - auch abgesehen von aller naheliegenden anti klerikalen Polemik - eine parad igmatische Lösung bot. Denn auch der biblische Parad iesesmythos antwortete auf d i e so gestellte 'elementare Frage' und konnte als " ätiologische Erklärung der Macht des Eros"· verstanden werden. Allerdings kann Zolas Paradou-Mythos nicht nur als eine der ' s äk u larisienen' Formen der biblischen Vorlage begriffen werden. D i e " hermeneutische A ufgabe der Obersetzung überlie ferter Sachverhalte aus einer vorwissenschaftlichen Weltauffassung in ein d u rch die moderne Wissenschaft geprägtes Verständnis der W i rklichkeit" 5 war zwar zweifellos eine der Intentionen Zolas. Aber die l i terarische Hermeneutik, die seinen Verfahren zugrunde liegt, läßt sich leichter als Remythisierung denn als Entmythisierung be schreiben. Dieser auf den ersten Blick überraschende Sachverhalt kann n u r expliziert werden, wenn zuvor wenigstens schematisch e i n i ge i n der Neuzeit geläufige Ausle gungsmuster der Parad ieseserzählung i n Erinnerung gerufen werden. Dies soll zu nächst - in der gebotenen K ü rze - geschehen. Die literarischen und philosoph ischen Funktionalisierungen des Paradiesesmythos in der Neuzeit lösten sich zwar mehr und mehr von den zentralen Themen der theologischen Exegese, behielten aber deren heilsgesc h ichtliche und typologische Orientierung bei. Daneben gab es freilich auch Literarisierungen, die sich dem typo logischen Auslegungsmuster entzogen. A l s Beispiel sei hier der profane parad isus amoris des M i ttelalters genannt. der als Kontrafakt u r des christlichen Parad ieses eine Gegenwelt konstruierte, in der Amor ohne E inschränkungen herrschte und i n der die ' irdischen' Bedingungen t ranszend iert w u rden". Solche Literarisierungen konn ten an die märchenhaften Elemente des biblischen M ythos anknüpfen und eine normative Gegenweh begründen, die nicht n u r evasorische. sondern auch kritische Funktionen übernahm. Ähn lichcs gilt für d i e seit der Renaissance geläufigen Konta m inationen des Parad iesesmythos m i t der bukolischen Trad ition7• Freilich m ußten solche Rezeptionsformen einen Aspekt des biblischcn Mythos von vornherein aus blenden : seine aitiologische Struktur. Die märchenhaften Elemente, d i e sich zweifellos i n der biblischen Erzählung fin den. sind d o rt funktionalisiert und haben keinen Einfluß auf d i e narrative Struktur. , G . ... . Rad, Thrologir drJ Alu" Tr.'amr,,'., Bd I, Munchen 1 962, S. 16.1. \ W. Pannenberg, " Spathorizonte de� Mythos in biblischer und chnstllcher Oberhdcrung··. I n Trrro, "nd 5p,cl - Problcmr drr Mythc".,rupt,on. ha:,. M. I;uhrmann. Munchen 1 9 7 1 (Poetik und Hermeneu lik IV). S. -4 7.1-525. hier S. -4 8 1 . 6 H. R. Jauß. "Enlslehung und Siruklurwandcl der allegori�chen Dichtung", in La IrttrratN'C d,dacr''IHr. allrgonq"c CI sat;nqllC (hg. H. R. J :II u ß). Bd I . Heidclherg 1 96 8 (Grund riß der romaniichen Liu'raturen des Miucl:ll h ers V I / I ). S. 1 -46-1-4-4 . , Hierzu demn:ichst: B. EUe/ R . R . G r i m m / K . K rauuer. BNkoMt - Gc"rJc ""d FH"k"o"Ju·andrl cmc' I,u'aruchrn Gat"mg
ENTM YTHISIERUNG U N D R U 4 YT H I S I ERUNG D E R PARADI ESES ERZÄHLUNG
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die vielmehr ganz auf die Pointe, das Strafgericht und die Vertreibung ausgerichtet bleibt. Die Beschreibung des vollkommenen Lebens im Paradies hat kein eigenes Gewicht und erfolgt nur kontrastiv und beiläufig. Eine M ärchenweh vollkommener Liebe (etwa im parad isus amoris) kann zwar die Bedingungen solcher Vollkommen heit rekonstruieren und insofern kritisches Potential enthalten; sie stellt aber nicht die vom aitiologischen M y thos beantwortete Frage nach den G ründen der unvoll kommenen Bedingungen. unter denen w i r leben. Verknüpfte der Mythos strukturell Parad ies und Vertreibung, Eros und Thanatos i n einer kausalen Reihenfolge so, daß das eine ohne das andere nicht mehr denkbar war, dann liegt gerade in d ieser Ver knüpfung das semantische Potential der aitiologischen Erzählung. Rezeptionsfor men wie der parad isus amoris stehen dem Märchen näher als dem Mythos. weil sie folgerichtig - auf die Verbindung von Paradies und Vertreibung verzichten und a posteriori paradiesische Verhältnisse beschreiben. d i e kei nen aitiologisch vennittel ten Anschluß an die nach- oder nicht-parad iesische W irklichkeit mehr haben'. Eine solche Versclbständ igung der Parad iesesthematik lag freilich nahe und ist bereits in der m i ttelalterlichen A llegorese im Anschluß an augustinische Traditionen nicht selten·. Dabei ist noch zu bedenken. daß solche Verfahren die narrative Struk tur des M)·thos aufzulösen genötigt waren und z u r Deskription übergingen, die ihrerseits wieder Vorbilder i n der monastischen Meditation haue. Im folgenden sehe ich von Literarisierungen der eben beschriebenen A rt ab. da Zola die narrative Grundstruktur des biblischen Mythos wieder voll repristiniert, auch wenn er sein aitiologisches Verfah ren zu ersetzen versucht. Die bibl ische Parad ieseserzählung konnte a l s " Musterbeispiel eines ätiologischen Mythos" ' C charakterisiert werden. der einen deteriorierten Zustand aus einem besse ren. ' u rsprünglicheren' ableitet. dessen Verlust erzäh l t w i rd . Zwar sind in der Fas sung des J ahwisten viele My thologeme bereits i n den H intergrund getreten ; die narrative Grundstruktur w u rde gleichwohl u nverändert beibehalten. auch wenn der Mythos bereits j u ristisch reflektiert und systematisiert auftritt. " Die mythischen Elemente der Parad iesesschilderung dienen den Absichten einer ätiologischen Erzäh lung, die erkl ären will. woher das Verlangen von Mann und Weib nach einander kommt. worin die Schmerzen der Schwangerschaft. die M ü hsal der Arbeit. die Kärg lichkeit des Ackerbodens ihren G rund haben ( . . . ). Die myth ischen Motive werden in dem d u rch die ätiologische Tendenz gegebenen Rahmen nur als Ausdrucksmittel herangezogen, und zwar in diesem Fall vorwiegend als Folie. von der sich die gegen wärtige Realität des Daseins abhebt" " . E s mag hier dahingestellt bleiben. ob " M )' V g l . w . B1.�nk. D,� dtll'lCht Mm"t.J/�IO"t - G�Jt./u."g Il " d FIl"Jwo" tmtr 'pd,muttl.lurl"ht" D,ch'""g,!orm. Slung;an 1 970; I. C hC'r. ArtC', A",.."d, - U"uru.chll"l z .. GC'uh,ch,C'. a,"r1'4�rll"g .. "d Typolog,C' JC'r JC'''lJchC'" .w",,,C'rC'd�,,. Munchtn 1 9 7 1 . � Vgl R. R G nmnl. P.,,,J,, .. , c�/,.stu - Pa,.d" .. , UrT�tt"' 7.. , A .. Jtg""R'gC'JCh"hu dC', P.r.d,t,,., ,m AbC'"dL",d b" .. m /200, Mun,hen 1 '1 7 7 (MC'dium AC'�·um - Phllologischt Sludltn .n). I � H . Gunke-!. Gt1lC'm, Götllngtn ' 1 '166, S . I J . 1 1 'X: . P.lnntnbc:q;, "Sp.llhoril.onu" S . S04. •
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Ihos" u n d "ätiologische Erzählung" oppositionelle Begriffe s i n d 1 2 , da die Funktion der Paradiescserzählung jedenfalls unbestritten bleibt. Der Mythos antwortet auf einige G ru ndfragen menschlicher Existenz, allerd ings so, daß er weitere Fragen ver anlaßt. die in der Fassung des Jahwistcn teilweise schon mitreflektiert sind. Die normativen Auslegungsmuster. welche die Theologie später entwickelte, soll ten eine Neugier kanalisieren, die dem Mythos andere Fragen als die ' zugelassenen' stellte. ohne freilich das subversive Potential, das i n der konstitutiven Unbestimmt heit des Mythos liegt, je gänzlich neutralisieren zu können. Ein gewisses Mißtrauen scheint sich denn auch i n der bereits von Hege l I J konstatierten erstaunlichen Zurück haltung der alttestamentlichen Literatur gegenüber dem Paradiesesmythos zu doku mentiere n : breitere Rezeption ist erst im J udentum und i n der Apokalyptik erfolgt. Wenig tröstlich ist das, was erzählt wird, ja allemal. zumal die streng aitiologische Fassung einen unwiderrufl ichen Verlust berichtet, über den die nachparadiesische Wirklichkeit kaum hinwegtrösten kann. Zyklische Mythen bieten da schon mehr Trost. Die aitiologische Struktur wurde denn auch schon bald dadurch neutralisien, daß sie heilsgeschichtlich und typologisch überboten wurde, ein zumindest im A nsatz ebenso mythisches Verfahren. Schon i n der hei lsgeschichd ichen Konzeption des Hexateuch, zu dessen kosmologischem Prolog die Erzählung gehön, ist dies teil weise der Fall, entschiedener dann im prophetischen Denken. Dort wird die Endzeit nicht einfach als Rückkehr zur U rzeit und zu paradiesischen Verhältnissen beschrie ben, sondern als deren überholung und überbietung, als neues Paradies. Eschatolo gische Erwanungen nehmen Motive der mythischen Urzeit überbietend wieder auf. "Erst die Prophetie hat den Jahweglauben von der das Leben des Volkes und seine Ordnung begründenden U rzeit des Geschehens von Auszug und Landnahme gelöst und auf ein künftiges Handeln Jahwes i n der Geschichte h i n orientien, das jedoch wiederum nur in Bildern der überlieferu ng gedeutet werden konnte, so daß die eschatologische Sprache dem M ißverständ nis im Sinne einer qual itativen Identität von Urzeit und Endzeit, wie sie der genuine Mythos verbürgt. ausgesetzt blieb"l4. Die prophetisch-eschatologische Wendung des Paradiesesmythos ist von entschei dender Bedeutung für die Rezeptionsgeschichte, weil sie die parad iesische U rzeit zum Inhalt eschatologischer Hoffnung auf eine künftige Vollendung machte und damit das aitiologische Schema durch eine eschatologische Perspektive ergänzte. Dieser Ansatz wurde in der christlichen Theologie und ih rem typologischen Denken systematisien. Zwar entsprechen sich Antitypus und Typus, ohne sich zu gleichen, was typologisches Denken von genuin mythischem unterscheiden mag; i n beidem ist
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Vgl. dic Diskunion in T",",r ."d Spwl - Prob/�",� d�r Myth�"r�7:�ptlo". hg. M. Fuhnnann. Munt;hcn 1 9 7 1 (Portik und Hnmcncutik IV), S. S27 ff. Vorkn"'B�" ;,b�r di� Philo'ophw drr R�/'BIO". Frankfun I.M. 1 969. S. 78 (l'h�onc.Wcrkaulxab�. Bd 1 7). W. PannC'nberg, "Späthorizont�" S. 497.
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freilich "ein Moment des Zyklischen enthalten . . . , das sich schwerlich vom Mythi· schen t rennen läßt " a . Hier ist v o n Belang, d a ß s i c h in der typologischen Exegese ein Auslegungsmuster des aitio logischen Paradiesesmythos d u rchsetzte. das unter Zuhilfenahme eines so weit wie möglich entschärften zyklischen M ythologems die aitiologische Struktur d u rch eine eschatologische Perspektive überlagerte und einen ' G eschichtsverlauf' zu konstruieren erlaubte : Geschichtsphilosophie in nuce. Zwischen Protologie und Eschatologie waren nun die verschiedensten A kzentuierungen möglich, die in den mittelalterlichen Diskussionen unschwer aufzufinden sind!". In dieser Form hat auch das moderne Emanzipationsdenken den ' e rweiterten' Mythos übernommen, wobei die ' U rzeit' und die 'Anfänge' immer mehr zur Hypo these verblaßten, die erst von der Zukunft der gesellschaftlichen Entwicklung einzu lösen war. Es versteht sich von selbst. daß der Mythos dabei mehr und mehr von seinen inhaltlichen Elementen 'gereinigt' wurde. Stand im 1 8 . Jahrhundert noch die Frage nach dem " Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte " 1 7 i m Vorder grund, wurde im 19. Jahrhundert die eschatologische Erweiterung der aitiologischen Vorgabe für die Geschichtsphilosophie wichtig: die Anverwandl ungen des Paradie sesmythos an das moderne Emanzipationsdenken belegen den fortschreitenden Ver lust an sinnlicher Konkretheit. In diesen Zusammenhang gehört auch ein weiterer bezeichnender Paradigmen wechsel. Wurde in der Geschichtsphilosophie zunehmend, dann ausschließlich der Mensch zum Subjekt der geschichtlichen Prozesse, trat folgerichtig die Arbeit an die Stelle der Liebe, die in den ersten Literarisierungen des Paradiesesmythos das beherr schende, wenn nicht ausschließliche Thema gewesen war. Sie wurde zum Vehikel, das den Geschichtsprozeß überhaupt erst ermöglicht. Es wäre lohnend. diesen Aspekt von Rousseau bis Marx einmal näher zu verfolgen. versuchte doch noch Fourier in seinen weltgeschichtlich-kosmologischen Konstruktionen die beiden The men, Arbeit und Liebe. zusammenzuhalten li. "Was die letzte Bestimmung ist, wird hier als primitiver Zustand vorgestellt"I' diese Kritik HegeIs am Parad iesesmythos faßt präzis zusammen, was die prophe tisch-typologische Deutung der Paradieseserzählung und modernes Emanzipations denken strukturell verbindet. Die aitiologische Erzählung, die zunächst nur die con dition humaine begründete, wurde als Auslöser eines heilsgeschichtlichen oder ge schichtSphilosophischen Emanzipationsprozesses verstanden, dessen Finalität nur noch partiell in den mythischen Anfängen begründet war. Das Paradies wurde vom "primitiven Zustand" zur "letzten Bestimmung". eine Wendung, in der die fel ix 1 \ W Pn:ist'ndanz . in
T,rror ""J Sp" I S. 6 1 1 .
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Vgl. R . R . Grimm, PdrdJu"s K�nt. M"rm ..p/ich,r Anf.. n8 J,r M,1IJch,n8,srhicht, ( 1 786); Herder, ldun z"r Philosoph" d,r G,·
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Ich bereite h,erzu ,ine Abhandlung ("TheorIe und Praxis des An sotial") vor. Hegd, Vo rl,s""Stn S. 76.
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,d"chr, d" M,nschJJ" t ( 1 784- 1 79 1 ).
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culpa d e r Theologen als dialektisches Moment im Emanzipationsprozeß d e s Men schen von der Natur begriffen wurde. An die Stelle der Dialektik von Gehorsam und U ngehorsam. wie sie der Mythos beschreibt, trat die Dialektik von Natur und Gesellschaft. Was zunächst nur eine mißliche Folge des 'Falls' war, Liehe und Ar beit. konnte als produktive Kraft des geschichtlichen Prozesses begriffen werden20• Die modernen geschichtsphilosophischen Funktionalisierungen haben i h ren An halt im Mythos seihst, insofern als auch i n ihm die Vertreibung als unvermeidlicher Prozeß begriffen wird - ohne die Vertreibung kein Paradies. Das Emanzipationsden ken bleibt dem Mythos darin treu, daß es ihn auf Geschichte bezieht, die er begrün det, während die eingangs geschilderten l iterarischen Rezeptionsformen aus ihm gesch ichtlich nicht vermittelbare Gegenwe lten ableiten. "Der 'neue Mythos' ist nicht die letzte Stufe einer Ästhetisierung alter Mythen. Vielmehr bedienen sich seine Schöpfer - wie in der Geschichte politischer Ideologien ( . . . ) immer wieder zu Tage tritt - des Verfahrens der Ätiologi e : wie diese die Ordnung der realen Welt aus einer U rsprungsgeschichte, so sollen die neuen Mythen durch den Rückgang auf einen begründenden Anfang der Gesellschaft ihren gegenwärtigen Zustand oder übelstand erklären, ihr wünschbares Ziel legitimieren" l ' . Der Paradiesesmythos ist nun freilich für eine Theorie gesellschaftlicher Entwicklung der aitiologische Mythos par excel lence : es kann daher nicht verwundern, daß seine Nachwirkungen in der neuzeit lichen Emanzipationsphilosophie allenthalben zu verspüren sind. Die typologische Deutung des Mythos stellte transhistorische Sinnkategorien zur Verfügung. die auch in seinen Literarisierungen wiederzufinden sind.
II E r s t v o r d e m H intergrund dieser eben skizzierten Rezeptionsgeschichte des Paradie sesmythos in der Neuzeit bekommt die ungewohnte Behandlung der mythischen Vorlage bei Zola ihr Relief. I n der Faute de /'Abbe MOuTet wird zwar im Gegensatz zu den zahlreichen Literarisierungen, die das Verfahren des paradisus amoris fortset zen, die Verknüpfung von Paradiesesleben und Vertreibung beibehalten, aber im übrigen findet sich bei Zola ein den literarischen wie den philosophischen Adaptatio nen der Neuzeit geradezu w idersprechender Rezeptionsmodus. I n der Tat versucht Zola in der Paradou- Erzäh lung ein mythisches Kontrapost zu konstruieren, das alles Aitiologische aus der Anknüpfung an den bibl ischen Mythos z u tilgen bestrebt ist. Den Funktionen dieses neuen ' l i terarischen Mythos' soll im folgenden nachgegangen werden. Der Begriff ' neuer Mythos', wie ihn die Literaturwissenschaft vielleicht zu leicht fertig auf Texte des 1 9 . J ahrhunderts anzuwenden pflegt, bedarf dabei noch einer 10 2L
In dit"ser Verbindung freilich nur in dt"r vorm�n i§lischt"n Tht"oriebildun�. H . R. Jauß. in TePTOr ""d SpielS. 535.
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vorgängigen Verständigung. Literarische Mythen sind bekanntlich im 1 9 . Jahrhun dert keine Seltenheit. lieferten sie doch gerade der gesellschahsanalytischen Literatur Möglichkeiten zur narrativen Lösung elementarer Fragen. die diskursiv noch nicht zu bewältigen waren und für die kein anderes Organon zur Verfügung stand. Wenn der Begriff nicht in bloße Metaphorik abgleiten sol l, dürfte er freilich nur dann verwendet werden, wenn literarische Mythen nicht als gänzlich instrumental isierbare Parad igmen eingesetZt werden. die in ihrem Kontext exempelhah aufgehen. Der genuine Mythos ist dadu rch gekennuichnet, daß seine Beantwortung elementarer Fragen einen semantischen Uberschuß aufruft, der sich nicht mehr instru mentalisie ren läßt. sondern seinerseits sekundäre Fragen ergibt. Diese Bestimmung muß auch für literarische Mythen zutreffen. wenn der Begriff einen spezifischen Sinn behalten soll. E s wird zu zeigen sein, daß der Paradou-M ythos eine Antwort auf die vom Roman aufgeworfene elementare Frage gibt - dies jedoch so, daß sein Sinn potential i m Romankontext nicht gänzlich eingelöst werden kann, vielmehr auf eine narrativ nicht e i n lösbare Problematik hinweist. Die Faute de I'Abbe Mouret versucht. so wurde eingangs behauptet. eine Antwort auf die elementare Frage nach der Sexualität und ihrer Beziehung zur Gesellschaft, in der sie als Natur par excel l ence nicht vollSländig sozialisierbar ist. Es kann nicht überraschen. daß diese Frage in einem Priesterroman geSlel1t wird; der Priester ist für Zola e i n sozialer Außenseiter. dessen zölibatäre Lebensform die Sexualität negiert und der deshalb für die Bourgeois in den Rougon-Macquarr etwas Unheimliches und Beunruhigendes inkarniert, eine archaische Macht, die sich den biologischen Gat tungsgesetzen entzieht. Auf der anderen Seite ist der Priester der Versuchung durch die Frau i n besonderer Weise ausgesetzt: " Pour tout pretre, la femme, c'est I 'enne mie." Die zöli batäre Außenseiterexistenz mußte zum Anstoß in einer Gesell schaft werden. die darin einen in besonderer Weise enervierenden archaischen Vorbehalt �cgen ein innerweIdich ausgerichtetes 'demokratisches' und ' fortschrittliches' Nor mcnsystcm sah. Die antiklerikale Literatur aller Schattierungen greift denn auch seit dem I R . Jahrhunden das latente M ißtrauen gegen den Zölibat auf, um paradigma tisch d i e ' reaktionären' Kräfte zu brandmarken. In d iesen l i terarischen Erwanungs horizont scheint sich auf den ersten Blick auch Zolas Roman einzuordnen. Die Romanhandlung läßt sich kurz zusammenfassen : ein junger Priester (Serge Mouret) hat sich auf eine Pfarrei in einer ärmlichen Landgemeinde (Les Anaud) beworben. u m don ein seinen mystischen Neigungen entsprechendes Leben 1.U führen. Seine gleichsam welt l ose Frömmigkeit wird vom primitiven, fast tierischen Leben der in der gesellschaftlichen Entwicklung zu rückgebl iebenen Landbevölke rung angefochten. Die Begegnung mit einem fast wild aufgewachsenen j ungen Mäd chen ( A lbine) löst schließlich die Krise aus. Eine Nervenkrankheit bringt Serge an den Rand des Todes und führt zu einer fast vollständigen Amnesie. Er verbringt einen Sommer mit Albine i m Paradou, einem abgelegenen Park. ohne sich seines bisherigen Lebens zu entsinnen. Im Paradou gesundet er langsam und holt die natür liche Entwicklung eines jungen Menschen nach. die ihm durch seine kirch liche 50-
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zialisation verwehrt geblieben w a r . Zusammen mit Albinc entdeckt er die Liebe. Nach der "faute" verliert der Pandou freilich seinen anamnetischen Zaub e r : Serge und Albine werden von neuern mit der Außenwelt konfrontiert. I m Konflikt zwi schen Liehe und Priestertum, dem Serge nun ausgeliefert ist, entscheidet er sich zugunsten des letzteren. Allerdings nicht ohne innere Kämpfe ; noch einmal kehrt er in den Paradou z u rück. findet sich dann aber mit seinem Anders-Sein ab. Albine resigniert ihrerseits und begeht Selbstmord. I n dieser äußersten Verkürzung mag man das geläufige Schema eines Priesterro mans wiederfinden. das den d urch eine widernatürliche Geschlechtslosigkeit ausge lösten tragischen Konflikt eines j ungen Priesters denunziert. Der literarische Mythos des Paradou sprengt freilich dieses Schema. I m M ittelpunkt des Romans steht das Leben von Serge und Albine i m Paradou, einem künstlichen Freiraum außerhalb der gesellschaftlich verminelten Lebenswelt. Dieser neue parad isus amoris läßt den Kon flikt des Priesters vorübergehend völlig vergessen. Die Paradou-Kapitel s p rengen das t raditionelle Schema des ' l i nken' Priesterromans, der die Opposition zwischen Natur und K i rche brandmarkt. Der literarische Mythos versucht vielmehr i m allge meineren Konflikt zwischen Natur und Gesellschaft zu verminel n . Dies allerdings so. daß die angebotene Lösung nicht stimmig in die Romanfigur eingebaut werden kann. Eine Analyse des Romans hat deshalb mit den Paradou- Kapiteln z u beginnen. Dabei gehe ich zunächst auf Identität und Differenz mit der biblischen Vorlage ( I I I ) e i n , um d a n n d i e hermeneutischen Verfahren d e r Transformation zu e i n e m ' neuen Mythos' (IV) und die Funktion des Paradou-Mythos i m Kontext des Romans zu erörtern (V). Schließlich ist in einem abschließenden Teil die Funktion des ' neuen Mythos' im naturalistischen Roman anzudeuten (VI).
III Die Paradou-Erzählung im zweiten Buch der Faute de I'Abbe Mouret scheint die Romanhandlung völlig zu suspendieren. Der Leser sieht sich unvermutet aus dem bedrückenden Realismus der Beschreibung von Les Anaud in eine allegorisch anmu tende Idylle versetzt, die zunächst ohne jeden Bezug zur eben evozienen Lebensweh bleibt; eine handlungslogische Verknüpfung wird nur angedeutet und erst im letzten Teil des Romans nachgetragen. Die Paradou- E rzählung setzt einen völligen Neube ginn und verlangt vom Leser überraschend eine neue Einstellung. M i t Les Anaud und dem Pfarrhaus verschwinden, von Serge Mouret und Albine abgesehen, auch alle Personen der bisherigen Handlung aus dem Bewußtsein, wobei der erstere mit dem j ungen Priester zunächst nur noch den Namen gemeinsam hat. Diese Suspension der vom geläufigen Romanschema geprägten Lesererwartung und die gefordene langsame Einstellung auf einen ungewohnten Kontext erfähn der Leser freilich gemeinsam m i t dem Protagonisten, der aus schwerer Krankheit zum
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erstenmal erwachend sich zusammen mit Albine im Gartenpavillon des Paradou22 w iederfindet und sein früheres Leben völlig vergessen hat. Die psychosomatische Krise hat zu einer völligen Amnesie geführt. zur Regression i n eine zweite Kindheit. D i e Gebunsmetaphorik bestimmt denn auch die ersten Kapitel der Paradou·Erzäh lung, die die langsame Genesung Serges unter der Obhut Albines als komplizierte zweite Gehurt darstellen, bei der es Albine nur langsam gelingt, den Kranken aus der Passivität eines " enfant assoupi" (S. 1 3 1 6) herauszulocken. Die Welt hat sich eingeengt auf den Pavillon und den Paradou -Garten, wobei das Gartenhaus den schützenden Mutterleib, der Paradou die beunruhigende und angst ei nflößende Außenwelt symbolisiert. Lange bleiben die Vorhänge des Gartenhauses dicht geschlossen, bevor Albine Serge langsam für die ' Außenwelt' zu interessieren vermag. Die Geburtsmetaphorik umschließt von den ersten Zeilen an Mensch und Natur: 'draußen' herrscht Winter; dem Warten des Gartens auf die Frühlingssonne entspricht die nur dämmernde Existenz des ' N eugeborenen'. Erst mit der Rückkehr der Sonne erwacht das Leben im Pavillon und im Garten : der Text assoziiert wieder holt " soleii" • "matin", "printemps" und " enfance". Die vorsichtige Neugier für die vom G arten repräsentierte A ußenwelt ist freilich zunächst mit Angst verbunden; wie die 'Welt' für das Kleinkind, bleibt der Garten für Serge das unheimliche Andere. das nach eigenen Prinzipien lebt : "Ie grand jardin vivait avec une extravagance de bche heureuse, lächee au bout du monde, loin de tout, libre de tout" (5. 1 328). Albine hat Serge einige Erfahrungen voraus und übernimmt in den ersten Kapiteln die Rolle der M utter im schwierigen Gehurtsprozeß. Sie kennt den Garten seit ihrer ersten Kind heit, denn der seltsame Philosoph Jeanbernat ließ sie fern von allen E i nflüssen der Zivilisation im Paradou in einer Art etat de nature aufwachsen. Das Leben im Para dou scheint parad igmatisch für ein von gesellschaftlichen Normen ungestörtes Er wachsenwerden zu stehen. Die Bedingungen dieses Experiments müssen in der Paradou - E rzählung allerdings erst hergestellt werden. Dazu ist nicht nur die Anamnese und ' Wiedergeburt' 5erges nötig; auch A l bine hat trOtz der gesell5chaftsfernen Kindheit, die sie im Paradou verbracht hat. noch nicht alle Geheimnisse des Gartens entdeckt, weil ihr der Partner fehlte. Die mythische Ausgangssituation verlangt die Einsamkeit zweier j unger Men schen ("Nous sommes seuls a jamais" ; 5. 1 344), die unwissend die 'Welt' neu ent decken. I n der Tat scheint ihnen der Garten zunächst unbegrenzt und unendlich. Eine sie gelegentlich beu n ruhigende vage Erinnerung an seine G renzen verliert sich, da die j ungen Menschen bei ihren Streifzügen durch den Paradou nie auf seine Mauern stoßen . Dem Leser und den Protagonisten begegnet der Paradou zunächst als eine verwirrende Vielfalt von Blumen, Pflanzen, Bäumen u nd Tieren, die mikrokosmisch die ganze Natur repräsentierenH• Bei genauerem H insehen erweist sich die Topogra11 �l
D�r Paradou "'ar bc:r�lrs im �rst�n T�il d�s Romans kurz beschrieben ",·orden. " ( • . . ) j'ai tout� la natur�, I�s vegttaux, arbr�s, h�rbes, fI�urs. elC . , les oisC'aux, In inseCIC's, 1'C'au, le ciC'l. �IC . " · ( A rb�ilsnotl1., S. 1 69]).
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p h i e d e s Paradou aber ihrerseits a l s sinntragend. Serge u n d A l b i n e n e h m e n auf ihren Streifzügen nacheinander von den Blumen des " parterre" . den Obstbäumen des "verger", einem weiten Wiesengelände (" prairie") und einem Hochwaldgebiet ("fu taie", " foret") Besitz und lernen so die ihnen noch fremde Natur von außen kennen. Diese Etappen versinnbi ldlichen zugleich ihren inneren Entwicklungsprozeß. Frei lich erkennen sie zunächst noch nicht die Gesetze, denen Tiere. Pflanzen und Dinge unterliegen24• I m Verlauf ihrer langen quete im Paradou verändert sich das Verhältnis von Serge und Albine grundlegend. War Albine zunächst die Führerin und I n i tiatorin. über nimmt nun Serge die führende Rolle: als " gardien jaloux" (5, 1 345) beschützt er Albine, die langsam von der Mutter zur Gel iebten w i rd und i h re Prärogativen als Besitzerin des Paradou verliert2�, Die Ausgangssituation des Paradiesesmythos wird dergestalt von der Erzählung neu hergestellt : Albine erkennt den gesundeten. neu geborenen Serge nicht wiederl", Die Szene des Paradiesesmythos. in der Adam die aus seiner Seite geformte Eva als seinen Teil erkennt, w iederholt sich, als Serge einmal - wie Adam - aus dem Schlaf erwacht : "Qui es-tu, d'ou viens-tu, que fais-tu a mon cote? (, . . ) Je sais, tu es mon amour, tu viens de ma chair ( . . . ) " (5, 1 339), In der Beschreibung des Paradou selbst mehren sich die Referenzen auf den biblischen Mythos und auf die Paradiesestopik, I n der Mitte des Ganens gibt es e i n Quellge biet, von dem vier Wasserläufe ausgehen. Von einem geheimnisvollen Baum ist die Rede, der sich irgendwo versteckt im Paradou befindet, Das Leben im Paradou scheint statisch zu sei n : ein ewiger Frühling mit immer gleichen Temperaturen27, Die Entdeckung des Gartens und seiner Geheimnisse wird in der Erzählung ver bunden mit der Entwicklung einer erotischen Beziehung zwischen Serge und A lbine: Die Inbesitznahme des Gartens und des anderen Geschlechts können nicht vonein ander getrennt werden. Freilich bleibt es zunächst bei der unschuldigen Liebe von unwissenden Kindern : " I'amour avant le sexe" (5. 1 37 3 ) ; die beiden spielen noch unwissend miteinander. Zola schildert in großartigen A m p l i fikationen des M y thos die schamlose Nacktheit der neuen ' e rsten Menschen', die in der U n befangenheit des vegetativen Lebens im Paradou aufgehen. Alle lebensweltliche Erfahrung der beiden Liebenden ist nun endgültig vergesse n : " I 1 s y etaient bien ; ils achevaient de naitre" (5. 1 353). Sie sind nun endgültig ein Teil des Paradou : " Les neurs, penchees, les adoraient" (5. 1 345). Der Frühling des Gartens und ihrer Liebe scheint für die Ewigkeit bestimmt zu sein28• lt
n 1. :1 l.
"Je monne le eouple lIoy/urt la vie qui fourmille dans I.: pare, un� pounanl elf.: .:neor.: I.:nle par eil.:" (A rbeilsnoliz. S. 1 695). " L r jardin C'SI a moi, jC' le le donnerai" (S. 1 327). " EIIC' maudissail 1.1 sanle, qui mainlrnanl le dressail dans b 'umlere. parri' A u n il'Unl' dieu Ind ifferenl" (S. 1 336). " L 'hrureusC' paill: du Paradou, dormanl au grand soleil, C'nlpi:chall 'a degcncr.:scC'nec: de� C'spi.·ees. 11 y avail l a une lemperalure egale ( . . . )" (S. 1 345). " ( . . . ) il leur semblail qu'ils vC'naienl de sC' rC'nconm::r. sculs au fond du grand jardin. pour y \·jvrC' dans une amilie el dans un jeu elernel�" (S. 1 3 5 3 ) .
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A l lein, hier tritt eine neue Spannung zwischen dem Paradou und seinen beiden Bewohnern auf, die sich auf Serge und Albine selber überträgt. Sie bemerken, daß ihnen der Garten noch etwas verbirgt. Albine entsinnt sich des verborgenen Winkels, den sie noch nie gefunden hat. Dort soll sich ein legendärer Baum befinden, in dessen Schatten ein unbekanntes, abso l u tes Glück zu erreichen wäre : "On m'a raconte qu'on vivait la dans une m i n ute toute une vie . . . " (5. 1 357). Freilich ist dieser Baum auch von einem Tabu betroffen, das mit seiner Entdeckung ein nicht wieder gut zu machendes Unglück verbindet29• Dergestalt transponiert adaptiert die Paradou- Erzählung das Verbot des bibli schen Mythos und seine Strafandrohung, ohne die mythischen Aktanten Gott und Schlange zu bemühen. Zum erstenmal ist das Leben der beiden Paradou- Bewohner durch ein Nicht-W issen gestört : "Le parc leur causait une sourde inquichude qu'ils ne s'expliquaient pas" (5. 1 3 84). Zwischen dem "defendu" des Tabus und der "ter reur delicieuse" der Neugier h i n und her gerissen suchen sie zögernd den Zauber baum und geben diese Suche vorübergehend wieder auf; Unruhe und A ngst zerstö ren das erste G l ück. Auch hier verbi ndet die Erzählung Aneignung des Gartens und erotische Beziehung zwischen den Liebenden. Die beiden ziehen sich beunruhigt in den Pavillon zurück und isolieren sich voneinander: ihre quete ist in die entschei dende Krise getreten . Zugleich erinnern sie sich nun w ieder der hohen Mauer, die den Paradou umgibt und der sie auf ihren Streifzügen nie begegnet waren. Eine erste Ahnung von der Endlichkeit des ihnen zunächst unbegrenzt erschienenen Paradous stellt sich e i n : früher hatte Albine wohl einmal eine Lücke in der Mauer gefunden, diese aber gleich geschlossen. D i e Angst wird freilich von unwidersteh l icher Neugier überwu nde n ; mit der stillschweigenden Zustimmung Serges sucht Albine u nermüd l ich nach dem geheimnisvollen Baum, denn dies allein verspricht, ihrer Unruhe ein Ende zu setzen. E i n Verweilen im Paradou ohne diesen Tabubruch ist - um im Gedankengang der Romanfabel zu bleiben - unmöglich. Hierin liegt eine entsche i dende Modifikation d e s bi blischen Mythos, dessen aitiologische Struktur ja eben darauf beruht, daß die Verbindung von Paradiesesleben und Vertreibung ak7 identell bleibt. Die 'Versuchung' der Paradou-Erzählung ist eine innere Notwendigkeit)(l. So wiederholt sich der biblische Mythos im Paradou ; wiederum ist es die Frau, die eines Tages dem Mann berichten kann, daß sie den Baum gefunden hat und daß die Angst vor dem Tabu u nbegründet sei : " e'eSt u n mensonge, ce n'est pas defendu, murmura-t-elle. Tu es u n homme, tu ne dois pas avoir peur . . . " (S. 1 4 0 1 ) . Allerdings hat sie den Baum nicht allein gefunden ; der Garten hatte ihr den Weg gezeigt, Pflanzen und Tiere sie h ingeführt. Der Garten selbst inszeniert die Versuchung)J und .'" · · L ' .. rhrt .. une omhrc dont Ic .:h .. rme f.. il mourir ( . . . ). C:; .. doil eIn· d�ftndu dt s' ..sstoir sous un .. rhrt ,� \1
lltlnl l·omhr.. gt donnt un Itl friuon. - Oui, c·en ddendu, d�cI .. r.. gr .. vemenl Albine·' (5. I J57f.). ··Crsl I.. nnure qui joue le röle du Sal .. n dc I.. Bible; c·cst elle qui lente Sergc el BI .. nc;hc ( = Albinc) CI qui les couc;he sous I·ubrc du m .. 1 p .. r une m"linee splendidc·· ( A rbeitsnoti7. • S. 1 69J). Zol .. ubernimmt .. l lcrdings .. us der Bibel und der ellegel1sc;hen Tr..dltion die hcsondcrc Rollc der Fr .. u in der Versu.:hu ngsgesch"hte. Diele w .. r schon in dcr Auslegungsgcschichlc .. Is .. nlhropologische Kon· sunlc intcrpretiert worden.
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w i ll d i e "faute". B e i ihrem letzten G a n g durch d e n Garten erfüllen Serge und Albine so nur die Forderung des Paradou, den sie zum erstenmal voll verstehe n : " Pendant des semaines. iI s'ctait prete, au Icnt apprentissage de Icur tendresse ( . . . ). Maintenant. il etait le tentateur, dont tautes les voix enseignaient " amour" (5. 1 407). Zum ersten mai erkennen Serge und Albine das G rundgesetz des Paradou, die " fatalite de la generation" (5. 1 409). Der endlich gefundene Lebensbaum}l versinnlicht das Natur gesetz selbst, die "fecondation", die "virilitc: de la terre", dem sich die heiden Liebenden nicht entziehen können. Ihr 'Fall' wird denn auch vom ganzen Garten applaudiert. Versuchung und Fall sind nichts dem Paradou Ä ußerliches : sie führen Serge und Albine in den vollen Besitz des Gartens. I nbesitznahme des Gartens und Entdeckung der Gattungsgesetze sind identisch. Beides bedeutet den unvermeidlichen übergang von der statischen Kindheit in die Lebensreife: " I'entree de ces deux enfants dans I'eternite de la vie" (5. 1 409). Paradoxerweise führt dies freilich z u gleich das Ende der Paradou-Idylle herbei. denn Liebe und Tod sind dialektisch verknüpft : zu den Lebensgesetzen gehört die Endlichkeit. Auch hier gelingt es dem Paradou-Mythos. wichtige Elemente des biblischen Mythos zu integrieren. Nach dem Fall verlieren Serge und Albine ihre kindliche Unbefangenheit und entdecken ihre schamlose Nacktheit. Zugleich verschw indet die Egalität der beiden Geschlechter: hatte Albine bei der Suche nach dem geheimnisvol len Baum noch einmal die I nitiative ergriffen, wird nun aus der Geliebten eine dem Mann ausgelieferte Frau, die um seine Liebe fürchten muß. Wichtiger noch : der Paradou verliert seine paradigmatische U nbegrenztheit und erweist sich als bloßes Durchgangsstadium. Seine Mauer, auf die Serge und Albine bisher nie gestoßen waren, steht nun plötzlich vor ihnen. D u rch die Lücke (dieselbe, die Albine früher geschlossen hatte) erblickt Serge Les Artaud und die K i rche, die vergessene andere Welt. Dem Lebensbaum im Paradou korrespondiert die große Zypresse auf dem Kirchhof)). Noch versucht Albine Serge zurückzuhalten. aber er ist schon für sie verloren und wieder zum Priester geworden. Vor der M auerlücke wartet bereits Frere Archangias, der in der Paradou- Erzäh lung die Rolle des rächen den Gottes übernommen hatl". Ein erster überblick über die Paradou-Erzählung sollte zeigen. daß sich dem Leser immer deutlicher die Referenzen auf den biblischen Mythos aufdrängen. Zu nächst handelt es sich nur um einzelne Konnotationen ; nach der Wiederherstellung der mythischen Ausgangssituation mündet die Erzählung ganz in den narrativen Zusammenhang des biblischen Mythos ein. wobei es für alle Elemente des Referenz-
U Zu seiner Funktion in der biologistischen Kosmologie Zolas vgl. H. U. Gumbrecht. Zot.. S . 5 7 ff . )) Auf diese Weise w i r d d a s biblische Muster d e r beiden Bäume im Paradies nansformien. I n einer späteren Passage ubc-rnimmt Archangias die Rolle des den EinGang lum Paradies versperren· den Engels (S. 1-499).
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mythos ein (wenn auch mitunter verstecktes) Pendant i m Paradou gibt}4�. Zunächst scheint es so. als habe Zola nur auf die i m engeren Sinn mythischen Protagonisten verzichtet. Die Rollen von GOtt und der Schlange übernimmt die vom Paradou symbolisierte Natur selber. Das Verbot w i rd als Tabu interpretiert. das der beglaubi genden Autorität Gottes entbehren kan n ; das Strafgericht vollzieht sich von selbst und kann von A rchangias nur noch ratifiziert werden. Die "faute" illust riert ein anthropologisches Grundgesetz paradigmatisch, das an die Stelle der aitiologischen Funktion des biblischen Mythos tritt. Das Paradies der Kindheit. die Liebe vor der Sexualität ist ein Entwicklungszustand. der nicht andau ern kann und der notwendig z u r "faute" führt. Das Gattungsgesetz der "procrea tion". das den Menschen mit der ganzen Natur verbindet, vertreibt die Liebenden aus der Idylle i n die natürliche D ialektik von Werden und Vergehen: der Tod ist ebenso unvermeidlich wie die entwicklungspsychologische Ablösung des Sexual tabus durch das W issen. Ist das Geheimnis des Paradou erst einmal entdeckt, zeigt sich die Begrenztheit kindlichen Glücks. So gesehen exemplifiz iert die Paradou - E rzählung paradigmatisch den Entwick lungsprozeß zweier Liebender. allerdings so, daß die Verzerrungen und Brechungen, die i n der Zivilisation diese Entwicklung entstellen. ausgeschlossen werden. Serge und Albine erleben archetypisch, was sich ontogenetisch immer wieder von neuem ereignet. Ganz so fern ist eine solche Deutung vom ursprünglichen Sinn des bibli schen Mythos wohl nicht entfernt. wenn es darum ginge und wenn man manchen Exegeten Glauben schenken darps. In seinen E ntwürfen hatte sich Zola vorgenommen, die Handlungsstruktur des biblischen Mythos f ü r die Paradou-Episode beizubehalten, sie allerdings umzudeu ten"'. Die Literarisierung führt zwei neue Verfahren ein, für die sich freilich schon in der mittelalterlichen Exegese Vorläufer finden}'. Der Garten wird als mikrokosmi sche Darstellung der ganzen Natur und ihrer Gesetze verstanden. das Paradiesesle ben als die Entwicklung zweier Liebender in einzelnen Stadien ihres psychologi schen Reifungsprozesses konkretisiert. Konsistenz gewinnt die Literarisierung des Mythos allerdings erst dadurch, daß der psychologische Reifungsprozeß mit der sukzessiven Inbesitznahme des Gartens parallelisiert wird . Die Entdeckung der "ge neration" als Grundgesetz der ganzen Natur gibt dem Paradou-Mythos eine neue Perspektive über die I nterpretation von Fall und Vertreibung als anthropologische Konstanten hinaus. Gerade hier liegen aber schon bei einer ersten Analyse die Probleme des Paradou Mytho s ; erste Inkons istenzen werden deutlich. Die aitiologische Verknüpfung von Fall und Vertreibung aus dem Parad ies läßt sich unschwer in ein phy logenetisches )., Vgl. auch R . Ripoll. " L l' symbolism" vtgcul dans La Fautl' dl' I'abbc Mourl't - rcmlßiscl'ncl" l't lIb�ession$", in C",hi('F"f deI N"'t".,,,/ureJ 31 ( 1 966), S. 1 1 -22. l� H. Gunkd. GellefIJ S. 2 9 f . 11> " Jl' calqul' Ir drame de la Bibi,," ( A rbeitsnotiz, S. 1 693). \ 7 R . R . Grimm, P".,,,, J iJ"', S. 1 3 7 ff . und S. I S B ff.
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Parad igma sich ständ ig wiederholenden Erwachsenwerdens überführen. Die Verbin dung dieses anthropologischen Problems mit isomorphen Natu rgesetzen, die für alles Leben gelten, wäre h ingegen nur dann möglich, wenn der l iterarische Mythos von der Reflexivität menschlichen Lebens (im Gegensatz zur übrigen Natur) absehen könnte: eben diese kann er aber, wie noch zu zeigen sein wird, nicht eskamotieren. Auf der Ebene der Romanfabel macht sich diese Inkonsistenz zunächst darin be merkbar, daß Serge wohl den Paradou verläßt und in die Lebenswelt zu rückkehrt, Albine aber im Paradou bleibt, obgleich auch sie der Logik des Parad igmas folgend, das Paradies der Kindheit verlassen müßte. IV Nach dem bisher Gesagten könnte Zolas Replik der Paradieseserzählung als entmy thisierendc Literarisierung aufgefaßt werden, die beabsichtigt. Paradiesesleben und Fall als anthropologische Konstanten darzustellen. Das Sinnpotential des My thos wäre dann nicht mehr in einem urzeidichen, geschichtsgründenden Geschehen zu suchen. sondern in den jedem einzelnen Leben vorgeordneten Gesetzen der Phylo genese, deren ständige W iederholung die Ontogenese in der Tat ist. Diese I nterpretation der mythischen Vorlage führte zu tiefgreifenden Konsequen zen, die sich in der narrativen Struktur der Paradou- Erzählung reflektieren. Der Paradiesesmythos hane sich in seiner Rezeptionsgeschichte als Geschichtsmythos par excellence erwiesen, wie immer sich die Deutungen im einzelnen unterscheiden mochten. Zola scheint davon auszugehen, daß die Wahrheit des Mythos nur dann wiederhergestellt werden könne, wenn alle geschichtsphi losophisch bezogene Aitio logie aus ihm getilgt wird. Dieser hermeneutischen E rwägung folgend ersetzt die Paradou - E rzählung durchgängig aitiologische Elemente du rch repetitive. E i n zwei ter analytischer Durchgang kann aber zeigen, daß paradoxerweise die dad u rch beab sichtigte Entmythisierung notwend igerweise eine neue Remythisierung z u r Folge hane : das abgelehnte lineare, aitiologische Mythenschema w ird durch ein anderes, zyklisches ersetzt. Zu den repetitiven Verfahren der Paradou - E rzählung gehört zunächst der sich in ständigen Referenzen auf den biblischen Mythos artikul ierende Bezug auf die Vor lage, der i n komplexer Weise Anknüpfung und Distanzierung zugleich erforderte : für den Leser wiederholen Serge und Albine die Paradiesesgeschichte und dementie ren allein schon dadurch ihren aitiologischen Status. Unter diesem Gesichtspunkt wäre auch die narrative Verknüpfung der Paradou Episode mit dem Romankontext noch einmal zu beden ken. Der 'Neubeginn' im
Paradou ist vielfach verminelt: Serge und Albine sind nicht von Anfang an im Paradies, sondern kommen von außen in den Paradou, u m ihn dann wieder zu verlieren}8. Das Paradou- Leben begründet kein Paradigma, das jedenfalls potentiell U
Lange Zeit fühlt sich Serge nur im Pnillon geborgen und empfindet den Paradou al\ etwas Bedroh liches.
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ein ganzes menschl iches Leben umfassen könnte ; vielmehr bleibt es notwendiger weise Episode und gewinnt seinen Totalitätsanspruch nur daraus, daß es exempla risch die Gattungsgesetze für einen jedem Individuum auferlegten Reifeprozeß dar stellt und 'ausspekuliert' l ". So wenig der Paradou für Serge oder Albine einen absoluten Anfang bedeutet, so wenig steht er für einen vorgeschichtlichen oder außergeschichtlichen etat de nature. Der verlassene und verw ilderte Rokoko-Park ist vielmehr ein vergessenes und wie der zur Natur gewordenes Kunstwerk : " u ne foret redevenue viergc" (S. 1 328). Die "virginite" des Gartens wie seiner Bewohner ist kein absolutcr A nfang, sondern ein wiederholender Neubeginn. überall treffen die Liebenden bei ihren Streifzügen auf Vergangenheit : auf die Reste ehemaliger Gartenanlagen, auf die Trümmer zerbro chener Skulpturen4o, auf ausgetrocknete Wasserbecken, eingestürzte Brücken, wei terwuchernde Obstgärten. Zwar ist der Paradou nicht geschichtslos, aber die Rück nahme seiner Geschichte in die Natur desavouiert alle Kontinuität. Mit dem Garten verbunden bleibt eine vage, schon undeutlich gewordene Erinne rung an eine vergangene Liebe. Ein Aristokrat des t 8 . J ahrhunderts soll Schloß, Pavillon und Parkanlagen für seine Geliebte erbaut haben. Niemand bekam die schöne Frau je zu Gesicht, denn er verbrachte mit ihr einige J ahre völlig von der Außenwelt zurückgezogen im Paradou . Vollkommene Liebe und Tod sind schon in dieser Lokalsage untrennbar; denn nach dem plötzlichen Tod seiner Geliebten ver ließ der " seigneur" den Paradou . Das Schloß brannte ab, die Parkanlagen wurden verschlossen und langsam von der Natur zurückgenommen. Diese legendäre Liebe der Vorgänger ist in der Paradou-Erzählung allgegenwärtig und mit ihr die Drohung eines tragischen A usgangs : das vollkommene G l ück scheint unabdingbar mit dem Tod verknüpft zu sein. Serge und Albine spielen - zunächst ungeschickt genug - die Rokoko- Liebe nach und versuchen, ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Als Wiederholung in der Wiederholung thematisiert diese imitatio innerhalb der Erzählung selbst die hermeneutische Beziehung zwischen Parado u - E rzählung und Parad iesesmythos. Alles ist nur Wiederholung; im Garten, in der Liebe, im tragischen Ausgang: überall sind die vestigia der Vorgänger unüber sehbar. Die narrative Strategie der Wiederholungen deckt ein Allgemeines auf, das h inter aU diesem Spiel steht. Besonders signifikant mag da eine ins Wasser gefallene weib liche Statue aus dem alten Rokoko-Park �ein, mit der sich die Phantasie der Lieben den über l ängere Zeit beschäftigt. Die Zeit hat ihre Gesichtszüge so verändert und entste l l t . d a ß alle I nd ividualität ausgelöscht ist und nur noch der Gestus einer lieben den Frau schlechthin bleibt - Stein gewordener Hinweis auf ein Al lgemeines, jenseits aller Wiederhol ungen : "( . . . ) la femme ctait sur I'echine, nue jusqu'a, la ceinture ( . . . )
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Im b i b h � o.: h c n M y t h u s .... t·rden Adam und E " a CHI nach dcn. ,ie.' es \'un A nbnt: an
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C'ctait quclque noych� de cent a n s , le lent suicide d ' u n marbrc q u c d e s pcines avaient dü laisser choir au fond de cent: source. La nappe daire q u i coulait sur elle, avait fait de sa face une pierre lisse, une blancheur sans visage, tandis que ses deux seins, comme souleves hors de J 'cau par un effort de la nuque. restaient intacts. vivants encore, gonfIes d'une volupte anciennc" (5. 1 347). Neugewonnene Unmittelbarkeit der Erfahrung, als die sich die Paradou- Erzählung zunächst darstellte. erweist sich als Wiederholung eines Geschehens, das seinerseits von der Zeit auf das Allgemeine zurückgefühn wurde, das es schon immer war: aufeinanderfolgende ' historische' Realisierungen von G esetzen, denen das menschliche Leben u nterliegt. Das Allgemeine. das Serge und Albine an der von allem Individuellen gelösten Frauenstatue entdecken. können sie freilich in gleicher Weise auch in der Natur auffinden. ohne alle Vennittlung von Kunst und Geschichte. Der eben zitierten Stelle geht eine Beschreibung des verwildenen Ganens voraus. deren Metaphorik ebenfalls den zeitlosen Gestus weibl icher Hingabe evozien : " Chevelure immense de verdure, piquee d'une pluie de fleurs, dont les meches debordaient de toutes parts, s 'echappaient en un echevelement fou, faisaient songer a queJque fille geante, pämee au loin sur les reins, renversant la tete dans un spasme de passion. dans u n ruisselle· ment de crins superbes. etales comme une mare de parfums" (S. 1 347). Die Natur wird zum Horizont der Geschichte. Insofern u nterstreichen gerade die h istorischen Reminiszenzen und verschütteten Erinnerungen. die Fresken des Pavillon und die geborstenen Statuen des Ganens die Unveränderlichkeit immer gleicher Erfahrun· gen, die jede Generation von neuem macht. Serge und Albine erleben im Paradou paradigmatisch den schw ierigen übergang von der Kindheit zum Erwachsensein; sie entdecken die scientia sexual is und verlie· ren das Paradies der Kindheit. Darin sind sie nicht die ersten und nicht die letzten : die Paradou-Erzählung scheint den aitiologischen Mythos als entwicklungspsycho logisches Paradigma zu interpretieren, das die Verknüpfung von Paradiesesleben und Fall beibehält. ansonsten aber das aitiologische Mythenschema völlig aufgibt. Die repetitiven Verfahren der Paradou- Erzählung führen indessen entschieden über d iese Deutung des aitiologischen Mythos als zeitloses Paradigma sich immer wiederholender menschlicher Entwicklungsphasen hinaus. Die anthropologischen Gesetzl ichkeiten werden ihrerseits wieder eingebunden in einen Mensch und Natur umfassenden zyklischen Zusammenhang. I somorphe Gesetze bestimmen Mensch und Natur und beanspruchen eine Natur und Geschichte umfassende Geltung. So gewinnt die Paradou- Erzäh lung eine Sinndimension. die ihrerseits nur durch einen neuen, diesmal ' literarischen' Mythos eingelöst werden kann. Die Wiederholungen der Paradou - E rzählung werden i n einen zyklischen Natur mythos integrien. der das entwicklungspsychologische Paradigma als Teilaspekt eines Zivilisation und Naturgeschehen umfassenden Sinnhorizonts aufhebt. Erst da· durch verlieren die Wiederholu ngen ihre letzte Referentialität auf Geschichte. als deren Reduktion sie zunächst auftraten. I n der Paradou-Erzählung wird dies dadurch erreicht, daß die Erfahrungen von
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Serge und Albine in einen jahreszeitlichen Zyklus integriert werden. der das ganze Geschehen umschließt. Als Serge im Pavillon zu neuem Leben erwachte. war es Winter; erst die Frühlingssonne kann ihn zu ersten. zaghaften Exkursionen in den Paradou ermutigen. Die Stadien der Liebesgeschichte werden nicht nur mit der voranschreitenden Entdeckung des Paradou verbunden. sondern zugleich mit dem Voranschreiten des jahreszeitlichen Zykl u s : an einem schwülen A u gusuag schließ lich entdecken die beiden die Geheimnisse der Liebe unter dem lange vergeblich gesuchten Lebensbaum. Als Serge noch einmal i n den Paradou zurückkehrt und vergebl ich seine Liebe wiederfinden will, ist es dort Herbst geworden. M i t Herbst blumen füllt die allein zurückgebliebene Albine ihr Zimmer; noch ihr Selbstmord ratifiziert den Zyklus der Natur und erweckt insofern Hoffnung. als zwar für Serge und Albine, nicht aber für die Natur alles vorbei ist. Die Substituierung eines zyklischen Mythenschemas an die Stelle eines linearen erschließt nunmehr einen Sinnhorizont. der denkbar weit vom biblischen M y thos und seiner parad igmatischen Deutung entfernt ist. Allein die Verknüpfung von Para d iesesleben und Vertreibung, von L iebe und Tod erinnert noch an die alte Vorlage. Die " v i rginite" ist eine Anfänglichkeit. bei der die Natur ebensowenig wie der Mensch stehen bleiben kann. Ihr Verlust. die Liebeserfüllung. führt zur Vertreibung und z u r "decomposition". I m Kontext der Erzählung w i rd d iese D ialektik von Leben und Tod in der Todesahnung narrativ u mgesetzt. die von Anfang mit dem tabuisierten Baum der Fruchtbarkeit und des Lebens verbunden war. Die Vertrei bung und der Tod bleiben insofern nicht das letzte Wort. als der Garten selber unvergänglich ist und den gleichen Zyklus w ieder von neuem beginnen wird : "Tais toi ! Est-ce que le jardin mourra jamais ! 11 dormira. cet hiver; il se reveillera en mai ( . . . )" (S. 1 503). Der wirkliche. end gültige Tod wäre ein Heraustreten aus diesem natürlichen Zyklus. der alle Manifestationen des Lebens umfaßt, oder das Ausblei ben der Sonne, des zentralen Symbols i m naturalistischen Lebensmythos4 1 • Beide Möglichkeiten werden in der Faute Je I'Abbe MONret thematisiert: der seltsame Philosoph J eanbernat ebenso wie der wieder zum Priester gewordene Serge Mouret wünschen sich das Ausbleiben der Sonne und das Ende des natürlichen Lebens zyklus42• Nur Albine akzeptiert vorbehaltlos die Gesetze des Paradou. Der literarische Mythos wird so innerhalb des Romans selbst angefochten und ist für sich allein ungeeignet, die Thematik des Romans zu einer schlüssigen Lösung zu bringe n : eben hiennit teilt er freilich eine wesentliche Bestimmung des authentischen Mythos und erweist sich als Sinnkonfiguration. die nicht i m Romankontext aufgeht .
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D i C' SonnC' w i r d l u m durchgC'hC'ndC'n LC'itmotiv im Roman. BC'sondC'rs diC' VC'rbindung m i t d C' m ahC'n Mrtho� vom Goldregl"n. dC'r Danae bC'fruchtel. vC'rdC'udichl dC'n nC'uC'n Sinnhorizont: "11 plC'uvail la de large\ gouttes de )oleil. L'astrC' r triomphail, y prcnait b. lC'rrr nur, la serrail contrC' J'C'mbrasemrnl dC' §a p011rinC'· · (S. 1 l90). Vgl. I , 8 und 1 1 1 , 9.
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Welche Funktion hat nun der Lebensmythos des Paradou in der Faute de /'Abbe Mourer? Dem Schema des Priesterromans entsprechend widerspricht er zu nächst entschieden der Religion. die den Kreislauf des Lebens ablehnt und den Traum einer ewigen "virginite" propagiert. Sie steht in der Faute de I'Abbe Mourer tendenziell auf der Seite des Todes. Das Scheitern der Paradou-Erfahrung i m Roman bleibt zweideutig: die Vertreibung aus dem irdischen Parad ies hätte demnach einen ' wah ren' Sinn, insofern sie die zyklische Wiederkehr alles natürlichen Geschehens, die unausweichliche Dialektik von Leben und Tod beträfe, einen ' falschen' Sinn jedoch. auf den konkreten Fall des Priesters Serge Mauret angewand t, der sich der "eternite de la vie" verweigert. Diese explizite Opposition zwischen Lebensmythos und Religion verdeckt aller dings ein unausgesprochenes Problem, das der literarische Mythos nicht lösen kann : die nie völlig gelingende I ntegration des Menschen in die Naturgesetze. Die Natur ist auch im Paradou nicht autonom : die scheinbar ausgesparte und vergessene Welt der Zivilisation ist nicht nur aup�n, vor der Mauer des Paradou, ständ i g präsent. sondern auch inn�n, im Paradou selbst. Am sinnfälligsten wird dies im entscheidenden Au genblick der Entwicklung von Serge und Albine. Allein mit H ilfe der Natur scheint die scientia sexualis nicht erlernbar zu sein, denn die beiden ziehen sich ratlos in den Pavillon zurück, wo ihnen die alten Fresken die Augen öffnen, denen sie zu nächst keinen Sinn abzugewinnen vermochten und die sie als spielende K i nder mißdeuteten. Das "paradis fanc" der Rokoko-Sinnlichkeit kommt der Natur des Paradou zu H i lfe. " Les couples s'animaient. dcroulaient I ' h istoire de cette grande fille nue aimce d'un faune. qu'i1s pouvaient reconstruire depuis le guet du faune derriere u n buisson de roses. jusqu'a, I 'abandon de la grande fille au milieu des roses cffeu illees" (5. t J96). Der literarische Mythos bleibt mit dem inneren Widerspruch behaftet. daß die " science d'aimer" nicht einfach durch einen Rekurs auf den CUt de nature erlernbar ist, sondern h istorischer Vermittlung bedarf41• Der Freskenz)'klus steht so stellver tretend für das ausgesparte Problem der Zivilisation, Die beiden j u n gen Menschen folgen nicht nur wie die Tiere und Pflanzen des Paradou eingeborenen Triebkräften, sondern gelangen erst durch Reflexivität zur vo llen Erkenntnis der Natu rgesetze, So sind es nicht nur die Schwierigkeiten einer sinnvollen Verbindung von Roman fabel und Paradou - Mythos, die den von der Kritik oft hervorgehobenen Bruch zwischen der Alltagswelt des Romans und der mythisierenden Welt des Paradou hervorriefen: vielmehr verweist d ieser Bruch auf einen konzeptuellen W i derspruch . Der literarische Mythos formu liert die Lösung eines Problems, das weit über die Grundopposition zwischen Natur und Religion hinausführt, die dem Schema des Priesterromans zugrunde liegt. Der Sinnhorizont des l iterarischen M ythos sprengt folgerichtig den Priesterroman. 0' Auch dll:\c ... iedcr oIl� WicdcrholunK Kckcnnzcichnct : 'n:'\urrc"lion\ Je, "holln" ,
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War der überlieferte Sinn des bibl ischen Mythos zunächst als Paradigma der Gat tun�sbestimmung des Menschen neu interpretiert worden, gewinnt der neue Mythos seine Konsistenz doch erst aus der mythischen Oberhöhung dieser Gattungsbestim mung d u rch seine Eingl iederung in den zyklischen Verlauf des Lebens überhaupt. Vorher und Nachher, Synchronie und D iachronie wurden in einem literarischen Mythos seltsam v e rflochten, dessen G leichzeitigkeit mit der übrigen Romanhand l ung zunächst suspendiert war, auch wenn die Außenwelt im Paradou selber präsent blieb. Der neue Mythos beantwortet (wie unvoll kommen auch immer) die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Geschichte, von Natur und Zivil isation so, daß menschl iche Geschichte in den Naturkreislauf zu rückgenommen wird und damit eben die D ifferenz zwischen Mensch und Natur, die Reflexivität geleugnet wird. Steht dergestalt im Roman die Religion auf der Seite des Todes, so doch mit ihr zugleich die gesamte Emanzipationsgeschichte des Menschen von der Natur, wie sie die Rezeptionsgeschichte des biblischen Mythos a l s geschichtsphilosophisches Para d i gma w iderspiegelte. Der neue Naturmythos findet mit der Aufhebung der Ge schichte auch kein Verhältnis zur Zivilisation mehr: die angegriffene Religion ver tritt mehr, als ihr i m Roman explizit eingeräumt wird. Das komplexe Verhältnis von nature und clv;!isat;on im Paradou- Mythos kann frei lich nicht expl iziert werden, ohne zuvor die anderen Model l e elementarer Sinn l ichkeit. die der Roman vorste l l t , kurz zu erörtern; sie alle demonstrieren verschie dene Vennittlungsfonnen zwischen Natur und Zivil isation. Les Artaud, das kleine Dorf, dessen Priester Serge Mouret ist, wird als eine abge schlossene, noch kaum von der gesellschaftlichen Entwicklung berührte Welt be schrieben, die ganz e lementar vom darwinistischen Prinzip des Lebenskampfes be stimmt bleibt44• Die primitiven Lebensverhähnisse führen auf einen gesellschaft l ichen Zustand zurück, wie er am Anfang der Zeiten geherrscht haben mag: " u n peuple a part , une r a c e n e e du sol, u n e humanite de t r o i s cents tetes qui recommen �ait les temps" (5. 1 2 32). Zwar- sind die Eigentumsverhältnisse bereits so differen ziert, daß sich i m D o rf hierar-chischc Strukturen herausgebildet haben; die fast noch animalische Lebensweise wird davon gleichwohl noch kaum berührt. Das von Fortune geschwängerte Bauernmädchen Rosalie mag hier als Beispiel genügen. Für den Vater Rosalies ste l l t sich allenfalls das Problem, wie die Arbeits kraft Rosalies der Fam i l i e zu erhalten wäre, auch wenn man dabei der Natur durch eine Abtreibung etwas nachhelfen müßte. Nicht nur für den m i sogynen Kleriker A rchangias u nterscheiden sich die sexuellen Usancen in Les A rtaud kaum von denen der Tiere, die ihren Bedürfnissen nachkommen, wie es sich eb<-n ergibt. Rosalie ist wie andere Bauernmädchen eine "bete impudique" (S. 1 242), eine "chienne" (S. 1 244) - \"on aller erotischen Sublimation denkbar weit entfernt .
.. . . ( . . . ) un rrnupuu hum.lln rcl qu·il .I du txisrtr .IUll prtmltn rtmps du mundt. Jt f.li� tnrrtr b ": 1 \ il i'.I,ion It moin� pu��iblt" (Arbtn�nnri1., S. 1 6079).
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Für das primitive NonnensYStem v o n Les Artaud. das die Sexualität nur insoweit kanalisiert. als sie den materiellen Kampf ums überleben zu konterkarieren droht, bleiben die I nterventionen des Priesters völlig unverständlich. der dem Skandal ab helfen will, den in seinen Augen eine Schwangerschaft außerhalb der Ehe darstellt. Zwar setzt sich Serge mit diesem Begehren schließl ich doch d urch. aber auch d ieses Zugeständnis bleibt konsequenzlos und wird von der Familie desavouiert. Von idyl lischen Verhältnissen auf dem Lande sind die Zustände i n Lcs Artaud denkbar weit entfernt. Die den Priester abschreckenden und verstörenden Sexualgewohnheiten von Lcs Anaud unterscheiden sich kaum von den unerbinlichen Gesetzen animalischer Re produktion4s• wie sie auf dem W i rtschaftshof herrschen. in dem Desiree. die geistig z u rückgebliebene Schwester Serges. einen ganzen Zoo von Tieren versammelt hat. Desiree w ird als ein nur physiologisch voll entwickeltes j unges Mädchen geschi ldert, dessen beschränkter Verstand gerade dazu ausreicht, die Reproduktionsgewohn heiten ihrer Tiere zu durchschauen. D iese " creature a part" (5. 1 262) bleibt von aller Reflexivität verschont und ist eben deshalb auf ihre Weise glücklich; der W i rtschafts hof wird ihr zum Paradies, weil sie die unerbittlichen animal ischen Ganungsgesetz lichkeiten ohne Einschränkung akzeptiert. Freilich schreckt dieses Modell primitiver Sinnlichkeit den Priester nicht weniger als Les Artaud. Die negative Utopie einer Reduktion zivilisatorischer Reflexivität auf reine Ganungshaftigkeit, die i m Tierhof verwirklicht scheint, wird nur vom Docteur Pascal'"' erkannt, der in dieser Lebens weise den unerreichbaren Traum einer A ufhebung des Gegensatzes von Natur und Zivilisation entdeckt : "On serait beau, on serait gai, on serait fort. Ah! c'est le reve ! " (S. 1 454). Die beiden Modelle ganz in den Kreislauf der Natur eingebundener Sexualität in der animalischen Welt des W i rtschaftshofes und in der noch primitiven O rganisation von Les Artaud sind nur beim Verbleiben i n reiner Animalität oder unter den Bedin gungen primitivster sozialer Verhältnisse denkbar: die elementare Macht des Eros geht in beiden Fällen noch in der ganungsgesetzlichen Reproduktion des Lebens auf, ohne sich zu verselbständigen. Beide Modelle sparen also das Grundproblem des literarischen Mythos. das Verhältnis von Natur und Zivilisation, aus. Konsequent werden die Naturgesetze nur von Desiree verw i rklicht : A lbine ist denn auch von deren animalischem Glück inmitten ihrer Tiere so beeindruckt, daß sie das Hindernis nicht mehr versteht, das zw ischen ihr und Serge steht und sie davon abhält, so zu l ieben wie die Pflanzen: "comme les arbres poussent. naturelle
ment. sans honte, en ouvrant chacune de ses veines aux jets de la seve" (5. 1 46 1 ) . Die Pflanzenmetaphorik47 indiziert das Problem : eine solche ' natürliche Liebe' wäre nur vorstell bar, gelänge es, die Reflexivität i n die zyklischen Lebensgesetze zu integrie ren, die das Charakteristikum der Zivilisation ist. Der Paradou-Mythos überspielt " ( • • • ) 1.1 mi-mr chalrur dr grnrratlOn. In mi-mr5 cuuchn (unlinur� ( . . )"' (S 1 2 7 } ) . .. Zur Ikdeulunj; dluer Romanfigur s. G umbrechl. ZoI.. Vgl. R. Ripoll. "Symbolismr".
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dieses Problem, für das Zola keine Lösung bietet. Bezeichnenderweise setzt der l iterarische Mythos vorzugsweise eine Pflanzenmetaphorik an die Stelle der kruden animalischen Betrachtungen, die Desiree vorzieht. So bleiben beide Modelle ambiva lent: der Tierhof ist nicht zufällig abschreckend geschildert, obwohl gerade dort die Postulate des Paradou- Mythos am vollkommensten verwirklicht sind. H ieraus er hellt, daß die Pflanzenmetaphorik des Paradou selber schon eine Sublimation der unerbittlichen Naturgesetze versucht, des Kampfs ums Leben, den die Bauern von Les Artaud u nd die Tiere Desirees ungeschönt demonstrieren. Zwischen dem Paradou-Mythos einer in die Lebensgesetze integrierten Erotik und den Formen unreflexiver Sexualität in Les A rtaud und im Wirtschaftshof fehlt die von Zola ausgesparte Zivilisatio n : die Gegenposition zum Mythos übernimmt allein die Religion, deren Verneinung der Sexualität in mythologisierender Metapho rik dem Paradou entgegengesetzt wird. Zwischen Sublimation und Verweigerung scheint im Roman kein weiterer Weg gangbar. Als Verweigerung der Lebensgesetze wird die Religion in der Tat verstanden: im unerbittlichen Krieg zwischen Kirche und Paradou zerbricht die Verbindung von Serge und Albine: "C'est la guerre entre nous, seculaire, implacable" (S. 1473). Albine m u ß erkennen, daß Serge, unwiderruflich durch sein Priestertum gebrand markt, zur Liebe (und zum Paradou- Leben) nicht mehr fähig ist; er steht auf der Seite des Todes. Nur seine mineralische Versteinerung kann ihn vor der Promiskuität der Sinnlichkeit, des Lebens retten : "Oh! vivre, grandir, en dehors de la honte des sens ! Oh! m ultiplier, enfanter, sans la necessite abominable du sexe, sous la seule approche d'un baiser celeste ! " (S. 1 3 1 3). I n seinem verzweifelten Versuch, sich der Kontamination durch das Leben zu entziehen, rettet sich Serge in die Religion, die er allerdings vor und nach dem Fall in verschiedener Weise erlebt. , Vor dem Fall verstand Serge die Religion als sublimierte Form des Lebensprinzip s ; seine Frömmigkeit w a r entscheidend vom Marienku lt, v o n d e r " grice de l a religion" (S. 1 2 88) geprägt. Die sublimierte Liebe zu Maria begleitete ihn in allen Lebensaltern. Die weibliche Komponente seiner Rel igiosität löste ihn von der Schmach der Gat tung, auch wenn sie ihn gelegentlich etwas beunruhigte: "11 se sentait feminise, rapproche de I'ange. lave de son sexe, de son odeur d'homme. Cela le rend ait presque fier, de ne plus tenir a I'espece ( . . . ) " (S. 1 306). Nach dem Fall verschwindet die Darstellung der U nbefleckten Empfängnis aus Serges Schlafzimmer: wie A rchangias angekündigt hatte, konnte die subtile Sinn lichkeit seiner Marienfrömmigkeit ihn nicht vor der "faute" bewahren. Der Roman hatte im Marienmonat Mai unter dem Zeichen der Maricnfrömmigkeit begonnen ; im Herbst kann sich Serge vor der erneu ten Versuchung durch Albine, die ihn ins Paradou zurückholen will, nur durch eine verzweifelte Erinnerung an Leiden und Passion Christi retten. Die Frau ist aus der Religion verschwunden: an die Stelle der Sublimation48 ist die entschiedene Verwei.. Nicht umsonst ".. u dic Muicnfrömmigkcil mit Mcuphern aus der kirch l ichen ParadleK".5allegorne um�chriebcn worden ; · ' F.lle cuit la Rose mystique. une grande f1eur «lose au puadi,s" (5. 1 29-4).
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gerung getreten. Die Paradou-Versuchung d a r f n i c h t a l s kontingentes Ereignis ver standen werden, vielmehr ist sie eine notwend ige Erfahrung, die nunmehr jeden A usgleich zwischen Natur und Religion ausschließt: "Sa faute avait tue la virginite de Marie. Alors, d'un eHort supreme, il chassait la femme de la rel igion, il se refugiait dans Jesus ( . . . ) " (5. 1 480). Religion wird in der Faute de I'Abbe Mouret als Konglo merat zweier mythischer Sinnstrukturen vorgestell t : auf der einen Seite die subli mierte Form des Lehensprinzips in der Marienfrömmigkeit, auf der anderen Seite die Apotheose des Todes in der Passionsfrömmigkeit. Beide Aspekte der Religion ver weigern jedoch die A nerkennung der Grundgesetze des Lebens, wie sie vom Para dou-Mythos formuliert werden. Die kleine Dorfkirche wird so zum Symbol des Todes, zur Bastion gegen die zyklischen Lebensgesetze. Zwei gegensätzliche Visionen verdeutlichen den Kampf dieser beiden Prinzipien und verbinden in ihrer mythologisierenden Rhetorik notdürftig den Paradou-My thos mit der weiteren Romanhandlung. Der Aufforderung Albines, in den Paradou zurückzukehren, setzt Serge eine Apotheose seiner kleinen, baufäl ligen D o rfkirche entgegen, die schon zu Beginn des Romans von der um sie wuchernden Vegetation bedroht wurde: "La petite eglise deviendra si colossale, elle jettera une teile ombre, que toute ta nature crevera. A h ! la mort, la mort de tout ( . . . )" (5. 1 474). Freilich ist dies nicht sein letztes WOrt. Noch einmal wird die Erinnerung an den Lebensbaum des Paradou in ihm mächtig und mit ihm die Angst, daß die Kirche kein sicheres Refugium gegen die alles umfassenden Naturgesetze bieten könnte. I n einem Alp traum wächst der Lebensbaum durch die Kirche hindurch zum Himmel: " C'etait I'emeute victorieuse, la nature revolutionnaire dressant des barricades avec des autels renverses, demolissant I'eglise qui lui jetait trop d 'ombre depuis des siecles" (5. 1 489). Die Rhetorik dieser Visionen kann allerd ings nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Paradou - M ythos im Kontext des Priesterromans nicht restlos einzulösen ist. Die von ihm geforderte Integration des Menschen in die alles umfassenden Lebens gesetze der Natur findet im Roman nur eine negative Konkretisation: in der Ableh nung der lebensverweigernden Religion.
VI " U nter ' neuer Mythos'" kann "eine Erzählung verstanden werden, die das G anze der Welt betrifft, das Verhältnis des Menschen zu höheren Mächten verbildlicht und auf eine elementare Frage antwortet"�'. Alle diese Bestimmungen treffen für den Paradou -Mythos zu, denn er beantwortet in hermeneutisch reflektierter Referenz auf den biblischen Mythos die elementare Frage nach der Sexualität und damit .�
H . R . Jauß. " A l legorese. Rem>·thisierung und neuer Mythus - Bemerkungen lur chrinli..:hen Gefan· genschaft drr Mythologie im M indalu:r", in TerYor "nd Spiel S . 1 87-209, hier S . 2 0 1 . - Das Wichtige Buch "Von J. Borie, ZoI. et /e' mythe, 0" de I. ".",ir .. " ,.. /"t. P;aris 1 97 1 , geht "Von einem ps)"cho;analy' tischen Mythenbegriff ;aus und trägt lU unserer Fr;agtstellung ni,hlS bei.
ENTM YT H I S I E RUNG U N D R E M YT H ISIERUNG D E R PARADIESESERZÄHLUNG
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7.ugleich die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zu den zyklischen Gesetzen. die alles Leben bestimmen. Die ungelöste Problematik des neuen Mythos ist in der ausgesparten Vermittlung von Natur und Zivilisation zu suchen, die der Roman nicht zufäll i g schuldig bleibt. Am nächsten kommen der Logik des Mythos eigenartigerweise die reine Gat tungshaftigkeit Desirt:es und der elementare Darwinismus der Bauern von Les Ar taud . Freilich reduziert Zola die geistig zu rückgebliebene Desiree zum ' glücklichen Tier', das zu der Reflexivität nie gelangt war, die den Menschen von Pflanzen und Tieren unterscheidet. Nicht weniger unreal istisch sind die Lebensbedingu ngen der Bauern von Les Artaud, deren elementarer Darwinismus Jahrtausende gesellschaftli cher Emanzipationsgeschichte außer Betracht läßt. Daß gegenüber d iesen beiden Bereichen primitiver Sinnlichkeit nur die Religion steht, die sich den elementaren Natu rgesetzen der " p rocreation" entzieht und in ihrer absoluten Verweigeru nglihahung aus ihren Vertretern reduzierte Menschen macht, die in der "impu issance" enden, verdeut l icht einmal mehr, daß der Priester roman die entscheidende Gegenposition gegen den Paradou-Mythos ausspart. Diese wäre in einer Emanzipations-Philosophie zu suchen, die von der Geschichte eine fortschreitende Befreiung des Menschen aus seiner gattungshaften Bestimmung er wartete. Die gesch ichtsphilosophische Perspektive allerdings hatte Zola zugunsten einer Integration von anthropologischen und naturgeschichtl ichen Gesetzen aufge geben. Die Position der Aufklärung wird allenfalls noch vom eigenartigen Jeanber nat vertreten; freilich hat dieser seltsame Kenner der Philosophen des 1 8 . Jahrhun dens selbst bereits kapituliert und erwartet sich allenfalls noch das Ende des trostlo sen Spektaku lums - den endgültigen Untergang der Sonne. Es ist kein Zufall. daß er diesen Wunsch jedenfalls mit dem Priester teih : in d iesem kleinen Detail tritt verräte risch zutage, daß die Rel igion in der Faute Je I'Abbe Mauret zugleich die Position der Zivilisation in bedenkenswerter Verzerrung mitvertritt. Die widernatürliche Verweigerungshaltung der zölibatären Lebensform hat des halb nicht ei nfach unrech t : sie unterlitreicht ein von Zola nicht gelöstes Problem. In der Faute de I'Abbe Mauret exemplifiziert der Priester die ausgesparte reflexive Dimension der menschlichen cond itio, die eben nicht in der bloßen Gattungshaftig keit aufgeht . Serge erkennt d i e iliomorphen G rundgeset7.e der Natur - und lehnt sie gleichwohl ab. Insofern w ird die schematische Opposition zwischen Natur und Kirche, wie sie dem Priesterroman 7.ugrundeliegt, gesprengt und enthüllt sich als Sonderfall deli nicht überbrückbaren Gegensatzes zwischen Natur und Gesellschaft. Der Parad ou-M ythos postul iert eine überwindung des Gegensatzes von Natur und Gesell schaft und versucht den Zusammenhang von Unschuld, Eros und Thana tos als alle Bereiche des Lebem umfassend so zu konstru ieren, daß er sowohl der Episteme des ausgehenden 1 9 . J ahrhunderts als auch der subjektiven Sinnstiftung Genüge leisten kann. Daß dies nur in Form eines ' neuen Mythos' geschehen kann, zeigt die Brüchigkeit des wissenschaftlichen Weltbildes, auf das sich der Natural is mus berief. So endet der Roman, ohne daß die subjektive Sinnstiftung eingelöst
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REINHOLD R. GRIMM
würde, die der Paradou - Mythos anbietet : Serge fällt in eine resignierte Verweige rungshaltung. AJbine nimmt sich das Lehen und akzeptiert ihren Tod als Eingang in die "eternite de la vic". Der Paradou-Mythos bricht mit der geschichtsphilosophischen Deutung der Para dieseserzählung so radikal, daß noch die letzten aitiologischen Elemente des über kommenen Mythos exstirp iert werden. Hatte die Rezeptionsgeschichte den Paradie sesmythos einer geschichtsphilosophischen These nutzbar gemacht, die den Men schen progressiv von der Natur emanzipieren sollte, postuliert das zyklische My thenschema des Paradou eine Versöhnung von natürlicher und gesellschaftlicher Welt. I n tegration an der Stelle von Emanzipation. Die komplexe hermeneutische Beziehung zum biblischen Mythos geht weit über die polemisch-antiklerikale Ab sicht des ursprünglich konzipierten Priesterromans hinaus, denn sie indiziert ein u ngelöstes Problem der E pisteme des ausgehenden 1 9 . J ahrhunderts, die soziale und biologische Determinanten zwar als isomorph postul ierte, aber nicht auszugleichen verstand. D ieser W iderspruch reflektiert sich in der Romanfabel auf verschiedene Weise. Der Paradou-Mythos konstituiert nur eine Subsinnwelt unter anderen : i n der seman tischen Topologie des Romans stehen Paradou, Les A rtaud, Tierhof und K i rche gleichberechtigt nebeneinander. Die Mauer, die den Paradou umgibt, sperrt ihn nicht endgültig von der Außenwelt ab, wie Serge und Albine zunächst meinen: im Paradou selbst vermitteln die Fresken des Pavillon und die vestigia der Vorgänger dem My thos fremde Sinnkategorie n : die exstirpierte Weh der Geschichte ist immer gegen wärtig, ohne daß eine Versöhnung gelänge. Zolas Rougon-Macquart gehen von einer problematischen G rundthese aus, der Annahme von isomorphen G rundgesetzen für alle Formen des Lebens und der Identität von natürlicher und geschichtlicher Diachronie. Diese Einheit von Natur und Gesellschaft, von H i s torie und Naturgeschichte war freilich nicht zu leisten, ohne die Reflexivität des Menschen u nd damit die emanzipatorischen Implikationen des aitiologischen Paradiesesmythos zu leugnen. Daß der 'wissenschaftliche' Roman des Naturalismus nicht ohne Rekurs auf Mythenbildung auskommt, zeigt die ex treme Gegenposition, die er zur Trad ition der Geschichtsphilosophie einnimmt. Der 'neue Mythos' realisiert ein diskursiv noch nicht zu leistendes Postulat der Episteme des ausgehenden 1 9 . Jahrhunderts. Die ' U nbestimmtheit' der von ihm ver m ittelten Sinnkategorien allein ist noch kein Einwand gegen den 'neuen Mythos', da diese auch dem genuinen Mythos nicht fremd war. Der innere W iderspruch dieses Versuchs der literarischen Neubildung von Mythen manifestiert sich vielmehr in der mythologischen Metaphorik, die den Gegensatz zwischen Paradou und Lebenswelt verdeckt und das Problem der Zivilisation ausspart.
R. H ERZOG G OlTE S M O N O LO G UND H E R M E N E UTI S C H E R D I ALOG E I N E A N F RA G E AN D I E TH E O LO G I E
"Was d i e Geschichte Gen. 2 f. sagen will, das gibt Gott i n 3 , 22 z u verstehen : Die 7.wei Bäume verkörpern die beiden Eigenschaften, die ihn zum Gott machen ('wie unsereiner' ; vgl. 3. 5), Wissen und Ewiges Leben. Sie sind dem Menschen zugänglich (stehen in seiner Lebenswelt). A lso hat GOtt das Interesse, den Zugang zu verh in dern. Dafür genügt das Verbot des Wissens ; denn erst wenn man dies hat. kann man überhaupt der Besonderheit eines zweiten Baumes gewahr werden, kann man 'die Hand' auch zum Ewigen Leben 'ausstrecken' - diese überlegung wird dann Gott zur Vertreibung veranlassen. Notwend ig ist also. dem Zufa l l (bei der Nahrungssu che) vorzubeugen und ein Tabu (bei Verletzung typischerweis e : sofortiger Eintritt des Todes) vor den Baum des W issens zu setzen. Nur vor den Baum des Wissens : denn die zufällige und unbelehrt-dumpfe Unsterblichkeit, die der Mensch durch die Entdeckung des Lebensbaums bei der Nahrungssuche allenfalls hätte gewinnen kön nen, wird in Kauf genommen. Offensichtlich hat sie nicht entfernt den Rang wie das göttliche Wissen ; sie aktualisiert nur das potentiell Göttliche des Wissens und würde den Tabuverletzer für den alten Gott unbesiegbar machen. Den Tabuverletzer : denn nicht von der Aufdeckung einer Lüge Gottes handelt die Geschichte (auch die Schlange sagt nicht, daß Gott lüge). Die vorsätz l iche und ungläubige Tabuverletzung (sie verkörpert der Schlangenrat) ist es, wie die Ethnographie bezeugt, die das Tabu außer Kraft setzt - man kann davon ausgehen, dall ein bloß unachtsames Pflücken vom Tabubaum in der Tat die sofortige Vernichtung gemäß 2 , 1 7 nach sich gezogen hätte. - Insgesamt die Geschichte einer mühevollen Machtbehauptung eines Gottes. " Es ist d a s Privileg d e s Kindes, nicht zu wissen, d a ß zu G e n . 2 f. Neues nicht mehr gesagt werden kann, nicht zu wissen, daß es sich mit seiner Spekulation in den Fußtapfen gnostischer Spekulation bewegt ; aber der Kern eines Verständnisses von Gen. 2 f. , wie ich es hier mit der hermeneutischen Direktheit des Laien umrissen habe, hat sich seit meinem 12. Lebensjahr nicht geändert. Bemerkenswert erscheint daran nur, daß ich von A nfang an - wie sicher eine große Zahl von Lesern vor und neben mir - durch eine ganz bestimmte TextsteIle in meiner Auslegung fixien wurde, näm lich durch 3 , 22 . Hier spricht der offenbare Beherrscher des Geschehens über seine Motive. und dieses merkwürdige 'Sprechen' - Monolog? soliloquium ? a pane? ad spectatores ? - ist es doch wohl, das die Fixierung nahelegte. - Daß hier ein hermeneutisches Problem vorliegt, wird jeder nachvollziehen können, der gerade auch in diesem Fall im ' Dialog' die Grundform hermeneutischen Fernverständnisses sieht. Will der Verstehende die Fragen ans Licht bringen, auf die der Text eine
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R E IN HART H ERZOG
Antwort war, will er, diese Fragen aus seinem Horizont erneut stellend, den Text zu einer neuen Antwort nötigen. wird er jede monologische Struktur - im Drama, wie in den Erzählformen - als eine privilegierte Brücke zum Ferndialog zu schätzen wissen. Das haben die U ntersuchungen Schadewaldts, Reinhardts, Leskys und Bain's zum Aufkommen des Monologs i n der altanischen Tragöd ie gezeigt l , Die Isolierung einer Dramenfigur im Selbstgespräch (bühnentech nisch : ' Monolog') w i rd von ihnen stets2 als ein über das aktuelle Publikum h i nausweisender Ort der Sinnge bung durch den Autor interpretien und ausgezeichnet. Vom mühsam sinnenden Pelasgos der aischyleischen H iketiden an hat der Klassische Philologe gern, über die Köpfe der M i tspieler und Zuschauer hinweg, diese Monologe zum diverbium inter pretationis komplettiert. Vergleich bares ist mir aus der alttestamentlichen Theologie nicht bekannt, obwohl Gen. 3 , 22 ja nur den Anfang einer Kette von urgeschichtlichen Selbstgesprächen Jahwes bedeutet ( 1 , 26 ? ; 3 , 2 2 ; 6 , 3 . 5 f . ; 8 , 2 1 ; 1 I , 6 f.). Drei kleinere Spezialarbeiten} befassen sich (abgesehen von den Kommentaren) mit dem Phänomen für das gesamte AT, ohne auf die theologischen lmplikationen des urgesch ichtlichen Sitzes im Leben einzugehen. Auch die literaturwissenschahlichen Termini (meist : 'Reflexion' oder 'soliloquy') werden hier nicht geklärt; eine formgesch ichtliche Untersuchung steht aus. - Zweifellos sind die adressatenlosen Verlautbarungen J ahwes in der U rge schichte für den Theologen etwas Problematisches : die Vorstellung eines monologi sierenden Gottes hat etwas unangemessen Plauderhahes - wie man h i nzufügen sollte, hat sie das insbesondere vor den Horizonten sowohl einer Theologie eines Gones der Verheißung und Erwählung wie der eines Schöpfergottes. Unter beiden Aspekten, wie sie G . von Rad zum J ahwe der Genesis hervorgehoben hat, ist für den nicht zu Menschen sprechenden, nicht menschliche Geschichte stihenden, sondern den sich eher von ihr abgrenzenden Gott des besorgten Ratsch lagens kein Raum. Vielmehr wird dem Literaturwissenschahler, der auf die hermeneutisch expon ierte Form des Monologs aufmerksam geworden ist, von theologischer Seite (repräsentiert durch die Kommentare) zur Zeit eine widersprüch liche Auskunft zuteil : 1) D i e urgesch ichtlichen Monologe geben außerordentlich wertvollen Aufschluß ü b e r d i e Entwicklung d e s Gottesbegriffs; in i h n e n w i rd vor a l l e m die 'Theologie' des J a h w i s t e n deutlicher als in d e n erzählenden Formen der Urgeschichte faßbar. - D i ese Aussage würde eine den Untersuchungen zur attischen Tragödie vergleichbar sorg-
I w. Sc:hadewaldt. 1 l
Monolog ,md Selb$tgt$prii�h, Berlin 1926; K . Reinhardt, SopholtleJ, Frankfurt ' 1 947 ( 1 93 3 ) ; A . Lrsky, D i e tr.gisehr Diehumg J e r Htlltnen, Göningrn 1 956: D. Bain. Ac10rJ and AHJ,e"er. Oxford 1977. Ehr die Bühnenpraxis srit Euripides und der jüngrren Komödir, dir Isolierung in ein a pane und rin ad sprctatof'ts diHrren7.irrrnd, wieder in den Horizont des aktuellen Theatrrpublikums einbiegt. R . MacKenzie, "Thr Divine Soliloquies in Genesis", in Thr eatho/,e b,lllre.'/ qHanerly 17 ( 1 955), S. 277 H . ; N . P. Brauiotis, " Der Monolog im AT", in ZertJehnlr l/ir Jrr altteJtamrntiiehe WiuemehlJ/t 7J ( 1 96 1 ), S. 30ff.; R. Lapointe, "The Divine Monologue as a Channrl of Rrvelation", in Thr �atholi� biblieal q"..rtrrly 12 ( 1 970), S. 1 6 1 H.
GOTTF.SMONOLOG UND H E RM ENEUTISCHER DI .... LOG
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fäl l i ge I nterpretation verlangen. 2) Die urgeschichtlichen Monologe sind traditions geschichtlich (textarchäologisch) zu deuten als stehengebliebene, z.T. hochmytholo gischc Verbindungslinien zwischen urgesch ichtlichem Erzählgut und den Traditio nen der altorientalischen Nachbarn. - Diese Aussage würde es nahelegen (und hat es - etwa bei Westermann - nahegelegt), den theologischen Gehalt dieser Formen nicht zu stark hervorzuheben. Eine solche Auskunft verrät ein hermeneutisches Dilemma, dessen Lösung auch für die I nterpretation von Gen. 3 , 2 2 entscheidend sein muß. Denn ist der J ahwemo nolog der privilegierte hermeneutische On der U rgeschichte, so setzt eine Deutung von Gen. 2 f. mit 3,22 durchaus an der rechten Stelle ein - so aber verfähn gegenwär tig ausschließlich der speku lierende Laie. Aber die theologische Wenschätzung die ser Monologe - "kostbares Zeugnis der Theologie des Jahwisten" (Westermann) ; "des Jahwisten eigenste Wone" (v. Rad) - wird in der exegetischen Praxis nur Gen. 6, 5-8 und 8,21 f . , den Sintflutmonologen, zuteil, in denen allein eine An personaler Reaktion Gottes (Kummer, Reue) aufscheint. Mit den göttlichen E rwägungen, Plä nen, eigentlich Selbstaufforderungen der übrigen Monologe w ird durchweg nicht mehr im d i rekten hermeneutischen Zugriff systematischer Theologie, sondern im historisch-kritischen der traditionsgeschichtlichen Textarchäologie verfahren. Die Jet7.tgestalt des Textes wird als ergänzungsbedürftig - mit der bekannten methodi schen Kautel des normativen 'zunächst' - durchstoßen und durch die 'fongefallenen' früheren Textphasen suppliert; es sind dies bei allen der hier in Frage stehenden Formen sog. mythologische Textbrücken zum ahorientalischen Kontext der urge schichtlichen Traditionen. Es erscheinen die folgenden Rekonstruktionen : aus der Synthese der 2-Bäume-Tradition Gen. 2 f. sowie der Verfluchungen und der Vertrei bung sondert sich seit Budde eine nur locker, sekundär verknüpfte Lebensbaumtra dition (ihr haftet die Venreibungstradition an); zu ihren Trümmern in der Jetztge stah gehön 3 , 2 2 ; zu suppl ieren ist eine Trad itionsphase vom geplanten Raub der lebensspendenden Götteräpfel. In 6, 3 ist die Bestrafung der sich empörenden Elo h i rn ausgefallen; verdrängt wurde die Trad ition eines ' Prometheus'-M ythO'i. I n den Sintflutmonologen wurden die in den Nachbanrad itionen besonders mannigfaltig bezeugten Motive für das göttliche Eingreifen (z, B , Ruhestörung) überlagen. In 1 1 , 5 ff. ist die Textsynthese aus Zerstreuungs- und Sprachverw irrungsmythos zu sondern und Jahwes Erwägung aus den kürzlich nachgewiesenen Parallelen (Atram hasismythos) zu ergänzen. Die traditionsgeschichtliche Hermeneutik führte in diesem Falle zu einem beson ders kohärenten H intergru ndsbild der urgeschichtlichen J etztgestalt der Texte" : den Behauptungs- und Abgrenzungsunternehmen der Götter gegen die Menschen sowie der Einbeziehung der Menschen in göttl iche Machtkämpfe, Eine Konsequenz dieser H ermeneutik aber hat die Theologie - wie die Bemerkungen zur monologischen •
WiC' .lufkr JC'n G,'n:l.nntC'n bC'50nJC'n O. EisddJt ( EIIt/C'mlng In tUJ AT, TublngC'n ' 1 963. S. I R f . ) mit ""lnC'n I'.rururungC'n ubc-r JiC' ...orhur.ltl�hC' RntC'form JC', Monolug5 im AT C'f'·C'''I.
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REIN HART H ERZOG
Form im AT zeigen5 - nicht bemerkt : die Supplierung der textlichen Jetztgestalt führt zur Supplierung der urgeschichtlichen Monologe zu mythischen Dialogen. Von 3 , 22 , "gesprochen im ' Rat d e r Heiligen', unter d e n Geistern. d i e Jahwe dienen", bis 1 1 , 1 H . - "er redet in seinem 'Rat', zu seinem Gefolge" (Gunkel) - liegen hiernach" nur mehr die abgerissenen Hälften dialogischen Erwägens vor, polytheistischer di verbia, wie sie die Nachbartraditionen in Fülle darbieten, eines defensiven RatschIa gens, dessen m y thischen Sinn die ägyptische 'Vernichtung des Menschengeschlechts' so formuliert hat: "Seht die Menschen. sie haben Pläne gegen mich ersonne n . Sagt mir was ihr dagegen tätet"7, Die 'Monologe' der Urgeschichte erhalten in dieser Beleuchtung eine eigentüm liche hermeneutische Kont u r ; sie dürften zudem literarisch ein Unikum sein. Die Isolierung dieser Schein-Monologe ist - mit Schadewaldt zu sprechen - nicht die "Einsamkeit als Zustand", sondern das " Alleinsein als Tatsache", nicht das "Versun kensein in sich selbst", sondern zertrümmerte M i tteilung. Verfehlt also wäre eine literaturwissenschaftliche oder theologisch-formgeschichtliche Hypostasierung in den Kreis Einfacher Formen. Das Selbstgespräch Jahwes entspringt. so möchte man sagen. einer traditionsgeschichdichen Einsamkeit. deren Vorstufe noch in dem a parte-Sprechen Enkis (Kommunikationsumweg über das Sprechen zur Wand)' greif bar wäre. Das bedeutet aber, daß auch die exegetische H ypostasierung zum locus theologicus der jahwistischen Urgeschichte - mit Ausnahme der Sintflutreflexionen - ve rfehlt ist. Nur in 6 , 5 ff . und 8 . 2 1 f. kann die Rede davon sein. daß "der polythei stische Konflikt in GOtt selbst zurückverlegt wird" (Westermann), daß der E rzähler diesem Gott den personalen Innenraum gewinnt, welcher der auktorialen Si nnge bung die Manifestation und der nonnativen Fernrezeption den identifizierenden Zugriff so ermöglicht wie im Monolog der attischen Tragöd ie. Mit diesem Hinweis könnte es sein Bewenden haben, wenn nicht eben am Beispiel der halbierten D ialoge Jahwes in der Urgeschichte das nach wie vor nicht ausgetra gene Dilemma alttestamentlicher Hermeneutik zu einer Anfrage an die Theologie nötigte. Denn die Fortschritte der historisch-kritischen Henneneutik seit d 'Astruc haben ja keineswegs zu einer fraglos akzeptierten I ntegration der biblischen Urge schichte in ihre mythischen Nachbartraditionen geführt. Zwar wird man in der Annahme nicht fehlgehen. daß eine Vielzahl von Theologen in der seelsorgerischen und wissenschaftlichen Arbeit mit der Urgeschichte als einem Portal vor der Gen. 1 2 beginnenden Theologie der Erwählung und Verheißung, als einem Annex der Theo-
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Die tuditionsgeschichtliche Koharenz fühne- - methodisch Ie-hrre-ich - bis zu redaktionsgeschlchtl.che-n Hypothe-sen (vor alle-m de-m Versuch Buddes, 3,22 und 6,3 zusamme-nzufüge-n). Se-il de-r Unbefange-nheit de-r 'urge-schichtlichen Mythologie' Gunkds sind zu Formen .... ie 1 , 26 und 1 1 , 7 sprachliche- Ein ..... e-ndungen e-rhobe-n .... orden, die- de-n pluralis ddiberalionis von der dialogischen Silua· liDn diffe-re-m:ie-re-n. I mmerhin .... ird das biblische- Nachklingen der GOllerUt-Siluation (vgl. Ps. 82) nicht in Frage ge-ste-Ih. Zil. nach Rel,gloruge.ehichtliehes Textb.eh z.m A T , ATD Ergän7ungueihe I, Goningen 1975, S. }6. Vg!. ebd. S. 1 1 5 f .
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logie d e s Schöpfergottes umgeht, d a s einen universalen mythischen Hintergrund eröffnet. Dennoch hat sich seit langem die Spezialität der 'urgeschichtlichen Theolo gie' entfaltet, die einem Nichttheologen hermeneutisch auf einem exemplarischen Widerspiel von normativ-applikativer und historisch-kritischer Exegese zu gründen scheint. Mit den Resten altkirchlich-normativer Exegese befaßt sich freilich mittlerweile auch die katholische Genesisexegese kaum meh r ; allenfalls in den Kommentaren werden noch die alten urgeschichtlichen Applikationen in milder Polemik genannt: so die messianische Deutung der Schlangenverfluchung, die Harmonisierung der Engelehen mit den Sethiten, vor allem die große u rkirchliche I ntegration der U rge schichte durch die paulinische Adam-Christus-Typologie und die E rbsündenlehre. Doch andererseits manifestiert sich seit und im Gegenzug zur Gunkelschen 'Mythi sierung' ein eigentümlicher Umgang mit der traditionsgeschichtlichen Methode. Am Beispiel der 'monologischen' Formen und des Westermannschen Kommentars : I m F a l l e von G e n . 2 f. w i r d , unter d e m klassischen Rekurs a u f den " ursprünglichen Erzähler", die Lebensbaumtrad ition separiert und als " kompositorisch zweite Stimme", als led iglich "anklingende" und " locker verknüpfte" überlieferung theo logisch ausgegrenzt ("fremder Gesichtspunkt" ) ; die seit je die Spekulationen erre genden U nebenheiten von Gen. 2 f. verlieren so ihren Boden, die Fragen an die Jetztgestalt der Texte " fallen fort". Deutungsziel ist die abstrakte - natürlich auch nicht sexuell zu deutende - " Gehorsamkeitsfrage", die "Prinziplosigkeit des Stra fens, das nicht im Dienst der Gerechtigkeit, sondern des Lebens steht". Was immer das theologisch heißen mag, hermeneutisch wird nach den seit der neuzeitlichen B i belkritik entwickelten Methoden verfahren. Gerade umgekehrt jedoch im Fall von 6, 3 : die von Gunkel ausführlich rekonstruierte Textphase des Strafgerichts gegen die sich mit den Menschenfrauen vermischenden ' Nebengötter' wird nun als (theolo gisch) irrelevanter "hochmythologischer" Rest deklariert ; es wird ausdrücklich n u r die Jetztgestalt des Textes konträr zum traditionsgeschichtlich Erschließbaren ge deutet : " Auch wenn die eigent lich Handelnden die 'Göttersöhne' sind, kann das Ergebnis nur als eine Grenzüberschreitung der Menschheit gemeint sein"'. Einen solchen Umgang mit dem Text, selbst in seiner Jetztgestalt, würde sich kein Philo loge gestatten können ; er ist nur normativ möglich, nur in einer methodischen Springprozession, die der Textarchäologie mit allen heute zur Verfügung stehenden M itteln folgt, um sich plötzlich zu exegetischen Verwahrungen zurückzufinden, wie sie die Hermeneutik Tertullians nicht strikter formulieren könnte : "So sollen wir nicht fragen" (v. Rad); "diese Frage ist ganz unzulässig" (Westermann). 9
Sehr ähnlich - aber hitr gtgen den Sinn dtr \'orlio:gendtn TUlgtuah! - Wnltrmann zu ] , 2 2 ; "auch in d ieser besorglen Refltxion iSI Gon nichl um �tin Gon,stin, sondtrn um dtn Mtnschen besorgl"' (ähnlich v . Rad). - Die melhodisch lehrrtiche Difftrenl. 1.U 6,3 litgl darin, daß hitr - nach Weslermann - das 'mphologlsche' TexlSluck slehengebliebcn in; es muß isolierl und abgo:schwächl werden ("'Sammeln lio:gengeblitbcner Enden"); damll 151 es zur Inlerprelalion gegen den Suich pr;iparien. - Es wird deudich. daß die normallve Eugese Sich sowohl gegen die vorliegende wie gegen die krilisch erschlos stnt Texlge5lah durch�tlzen kann.
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Die Anfrage an die alnestamentliche Theologie kann also dahin präzisien werden, ob der Exeget der Urgeschichte nicht angeben - und dann auch exegetisch einheitlich danach verfahren - sollte, 'U/elchen Text er auszu legen gedenkt - die Jetztgestalt oder die ' u rsprünglichen Erzähler'. Wie deutlich geworden ist. impliziert diese Entschei· dung auch jene zwischen den konkurrierenden H e rmeneutiken; sie berührt damit den hermeneutischen Grundkontrast zwischen applikativer und historischer Herme neutik. Und beide Positionen. was den auszu legenden Text betrifft, werden für d ie U rgeschichte vertreten: der Text ist " i n seiner Jetztgcstah zu deuten" (v. Rad ) ; "eine Möglichkeit früherer Exegese ist ausgeschlossen : daß der Text aus seiner Endgestah erklärt werden kann" (Westennann). Hier liegt eine henneneutische Beliebigkeit von hohen Graden vor. Das ist nicht polemisch gemeint; es beschreibt ein Dilemma normativer Henneneutik, das im Bereich der J urisprudenz sich in dieser Weise nicht zuspitzen kann: abrogierte 'Textstufen' einer Kodifikation überläßt der dogmatisch applizierende J u rist der Rechtsgeschichte und ihrer verstehenden Hermeneutik. Den Jahwe der Engelehen auch nur mit dem Gott der Väter (geschweige denn mit dem Prinzip der 'exegetischen M itte Christus') in eine systematische Theologie einzu bauen, hieße vom J u risten verlangen, aus der Kodifikation eines BGB. in dem sich zNgleich Kranzgeldparagraph und der Rentenausgleich des modernen Scheidungs rechtes befänden. eine einheitliche Rechtsdogmatik auszuarbeiten. Die urgeschichtliche Theologie spiegelt vermutlich gerade in der A llgemeinheit ihrer Auslegungsziele (' Begrenzung und Gefährdung des menschlichen Bereiches', ' Beziehung des Menschen zu seinem Schöpfer') ihr hermeneutisches Dilemma. Ge wiß hat sie eine systematische Lösung gefunden, indem sie der Urgeschichte einen jenseits der Heilsgeschichte möglichen, direkten Zugriff auf anthropologische Kon stanten zugesteht. die sich im geschichtlichen Wirken Gones mit den Menschen immer wiederholen (sie hat damit eine der dogmatischen Systematik des Allgemei nen Teils im BGB sehr ähnliche Lösung erreicht). Aber weisen nicht die sehr weiten, z. T. übrigens durchaus ' p rogressiven' Kategorien der Theologie einer U rgeschichte nach dem Mythos und vor dem Gon der Väter (positive Wenung der menschlichen Technik, Theologie der G rundzüge sozialen Verhaltens. der mensch l ichen A rbeit) auf eine Bel iebigkeit der Deutungsziele, die der hermeneutischen Zweideutigkeit entspricht? D iese Anfrage wird der Theologe gebührend beantworten können; die folgenden Bemerkungen beziehen sich noch einmal auf die eigentümliche Figur des 'halbienen Dialogs'. Daß diese Figur ein hermeneutisches Paradigma bildet. konnten die Schwierigkeiten der Theologen zeigen : kann der mythisch-polytheistische Dialog wie auch der Dialog der Verheißung und Offenbarung zwischen Gou und Mensch sowohl applikativ wie historisch ausgelegt werden. so fordert die singu läre, tradi tionsgeschichtlich bedingte Form des monotheistischen Pseudo-Monologs geradezu zur applikativen Fernrezeption auf: der Hermeneut substituien sich den göttlichen Dialogpannern Jahwes. Es ist das Trad itionsverständ nis der j ahwistischen Tradition und ihre Textbegrenzung, die eine Deutung dieser Texte nicht zur Ruhe kommen
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lassen werden : wie die 'Monologe' ergänzt werden, so werden die Traditionsüber� schneidungen harmonisiert. Die zu Anfang gegebene Spekulation ist endlos, und sie hat erlauchte Vorgänger: "Wir sind nicht nur deshalb sündig, weil wir vom Baum der E rkenntnis gegessen haben, sondern auch deshalb, weil wir vom Baum des Lebens noch nicht gegessen haben" ( K afka). Zur Ruhe kommen die Texte nur in ihrer historisch- kritischen Verliingerung zum Mythos oder ihrer normativen Ver kürzung zur Theologie. H inter dem hermeneutischen Paradigma läßt der 'halbierte Dialog' ein religiöses erschei n e n : der zu nicht mehr vorhandenen Partnern sprechende Gott erlöst sich aus diesem Reden erst durch den Dialog mit den Menschen. D ieser ist es, der die Urge schichte mit dem Untergang Sodoms in einer denkwürdigen Textredaktion (Gen. 1 8 , I M . ) abschließt. Noch spricht Jahwe im planenden Plural 1 8, 20-22 (dem letzten 'Monolog' der Genesis); und erstmals sieht er sich zur Mitteilung an den erwählten Menschen gedrängt ( 1 8, 1 6-1 8). Es ist der Wachstumsschub, der ihn endgültig aus den Reihen Enlils und Enkis entfernt. Tritt sonst das Prinzip der Selbstbehauptung und der Vernichtung von der Bühne, so endet mit den Monologen auch der D ialog : "What you know, you know : from this time forth I never w i l l speak word" (Othello 5,2). Gon aber beginnt erst zu reden : "Wie kann ich Abraham verbergen, was ich tun will? Soll er doch ein großes und mächtiges Volk werden, daß alle Völker der Erde in ihm gesegnet werden sollen".
W A I.T F. R MAGASS D I E LITU R G I S C H E A P P L I K AT I O N V O N G E N E S I S 3
Die gottesd ienstliche Handlung des Sonntags Invokavit und die alttestamentliche Lesung beziehen sich aufeinander. Das gilt es hier aufzuweisen. Der Gottesdienst als ein I nsgesamt von Zeicheninventaren w i rd vom Proprium Je t�mpore und vom sog. CommNne der jeweiligen liturgischen Formulare gekenn zeichnet. Mit dem Sonntag I n vokavit beginnt die Quad ragesima, d i e Vorbereitungs zeit auf Ostern, volkstümlich auch als Fastenzeit beschrieben. Die liturgische Farbe als textiles proprium war einen Sonntag vorher grün, jetzt ist sie violett. Das Evange lium des Sonntags ist Matth. 4 , 1 ff: die Versuchung jesu ; die Epistel des Sonntags 2 . Kor. 6, 1 - 1 0 : die Prüfung der Christen ; die alttestamentliche Lesung Gen. 3 , 1 ff: d i e Prüfung des Menschen. Der Sonntagspsalm 9 1 gibt auch den E ingangsspruch des Sonntags, den Introitus Ps. 9 1 , 1 5 : Invocavit me, et ego exaudiam eum. Das figurale Schriftverständn i s gab für Lesungen, Lieder, Wochenspruch, Predigt text und litu rgisches Proprium soviel Referenzen, daß der Gottesdienstbesucher sowohl m i t dem " Großen Volks-Schott" als auch m i t der lutherischen Predigt, dem Fürbittengebet und den Lesungen an d i esem Sonntag I n vokavit mit der Geschichte vom Sündenfall nicht allein gelassen w u rde. Lesungen und Predigt, Gebete und Lieder sind i n einem Gefüge des pastoralen Steuerns und psychagogischen G egensteuerns zu sehen. D i e Adam-Christus-Typo logie baut dann die theologischen Entsprechungen auf: die exemplarisch beschrie bene katastrophale N iederlage des Geschöpfes gegenüber dem Nichtigen - dagegen versagt sich jesus d i e höchste religiöse Lust und Befried igung als Form der Sünde. W i r erlauben uns alles Mögliche : Entscheidungen und Verhaltensweisen, Gedanken und Worte, i n denen wir uns für frei halten . . . lauter Erlaubnis scheint da zu herrschen (Gen. 3,6) - jesus dagegen hat sich die ihm nahegclegte Bekehrung z u m Realismus verbeteni . W i r sehen hier die typologische gottesdienstliche Vorsortierung: denn gesungen wird : " Gott der Vater wohn u n s bei" (EKG 1 09), �;ngele;tet wird mit dem 9 1 . Psalm als Gegensteuerung, gelesen wird als Stützfunktion die Epistel, gepredigt wird das Evangelium Matth. 4 , 1 . D i e hermeneutische A u fschließung erfolgt über Frage und Antwort, über Figura und Praefiguration, über Typisierung und plausible Le benswelt. Das ist der eminente Aufschließerwen der l iturgischen Partien, wenn man " Litur gie" im Sinne des " R eihendienstes" versteht, wie jost Trier das i n seiner Rektorats, Kul ßanh. K,,'chllch� Dognwtik. Zullikun 19J8 f., ßd l , J . S . 4 1 0 und ßd 4 , 1 S. 286ff.
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W A LT E R MAGASS
rede von 1 956 getan hat: es werden gemeind liche Leistungen erbracht. die m,mertJ per viecs sind2, A n diesem Sonntag kann der Anfang der Verführbarkeit Adams zurückgeholt werden. der Gehorsam Jesu, thc hidden persuaders - Christus humilis, vos superbi, wie Augustin sagt. Die Predigt des Wanes Gones schließt die Lesungen auf, und die Lesungen kön nen ein Widerlager gegen Subjektivität und Gespreiztheit sei n ; sie bieten den An schluß an die glaubwürdigen Zeugen der Heiligen Schrift. Deshalb heißt es immer wieder: Depositum custod i ! ( 1 . Tim. 6, 20) Rites de p.u.ge. Es darf nicht unterschlagen werden. daß Gen. J eine Häufung von Argumenten, cena ct sollemnia verba für Geburt, Hochzeit und Bestattung enthält, die in den liturgischen Formularen, in der Hausväterliteratur (Okonomik) und in den Katechismen als hermeneutische U niversalia fungierten ; Sprache für die Sprachlosen, auctoritas directiva für die Fragenden und Ratlose n . Obergangsriten für den unübersehbaren Lebensstrom. "in dem es immer wieder gilt. über die gefähr lichen Klippen hinwegzukommen, wo die Macht aussetzen, aber auch überwältigend stark werden kann"). Die vielen Argumente aus Gen. 3 haben die katastrophischen Stellen im Leben mit verba certa versehe n : schmerzhafte Geburt. Ehe. Beerdigung (Gen. 3 , 1 9 etc.). Im Sinne der altorientalischen Weisheit und Listenwissenschah ist das 3 . Kapitel der Genesis eine Versammlung der lebensweltlichen Segmente von Mann/Frau, Geburt/ Kinder, Acker/Arbeit, Erde/Kleid. gut/böse. Tod/Leben. Gegeben werden die The· matisierung und das Relief. die Legitimation von GOtt her als rettender Nomos für die beiden Menschen4• Von daher gesehen ist diese Geschichte eine K u m ulation von disponiblen Legitimationen für die Segmente des menschlichen Lebens, für die Amtsträger als Bedeutungsträger.
I j05t Trier, RrihrnJk"JI. Munstrr 1957. - Erieh Auerbach, TypoJogucbr MoI",� In Jrr m",ruJurJlehr" Lurr"',,r. Krefdd ' 1 964. , G . van de l«uw. Ph.nomr"oJog,r JrT RrJigw1I, Tübingen 1 9 } ) . S. 1 76 . • A. H. Gardiner. Ann:,111 COP,,.,n O"oIPMmc", london 1947.
W A t.H. H. M A G A S S D R E I E X E M PLAR I S C H E A P P L I KATI O N E N VON G E N E S I S )
Aus der Auslegungsgeschichte von Gen. 3 möchte ich auf drei verschiedene Exege sen hinweisen. I n der A lten K irche und im Mittelalter wurde über I . ]oh. 2, 1 6 (concupiscentia carnis e t concupiscentia oculorum) besonders der Gesichtspunkt der u n rechtmäßigen Wißbegierde des Menschen hervorgehoben. Augustin sagt vom ver lorenen Menschen : "Stolz der überhebung, E rgötzen der Begierde und G ift der Neugier sind Regungen der abgestorbenen Seele " ' . W a s b e i m peccatum die besonders verderbliche cupiditas scientiae i s t , d a s i s t i m kirchenrechtlich fixierten Pragma d e r Ketzerpolemik die G renzüberschreitung des hochmütigen plus sapere, Röm. 1 2, 3 : "wer mehr zu wissen begehrt, als ihm zusteht, , der ist hochmütig. . Augustin und dann Petrus Damiani haben darin das bischöfliche W ächteramt, custodia utriusque tabulae, nur bestärkt ; Mauern und G renzen sind besonders gefährdet ; daher der Terma-Verdacht für das Wissen2• Der Bildungsver dacht w i rd hier vorgebracht angesichts der aufblähenden artes liberales : " B ruder, w i l lst du G rammatik lernen? Disce deum pluraliter dedinare"l. Schmecken und Sehen (Ps. 3 4 , 9 ) werden in dieser Applikation zur Perversion und zur unrechtmäßi gen übersch reitung des possessiven Adam s ; Schmecken und Sehen als Exzeß be kommen i n der Folge das Unrechtsbewußtsein des übergriffs. Gen. 3 , 6 : Sehen, Nehmen, Geben, Essen. Diese Sequenz wird zur weltgeschichtlichen Tischsequenz von Nehmen, Geben und Teilen. I n dieser Sequenz zeigt sich die Tiefe der paradiesi schen Parad igmatik. Nach der Französischen Revolution kommt die sprechende Eva, das diskutierende Paar, in die Auslegung der Denker und Theologen. Der parlierende, räsonierende Zug dieser Geschichte wird als besonders unheilvoll, als Brandmal des Liberalen, gesehen. De Bonald und De Maistre nehmen die sprachliche Verfassung des Men schen in ihre überlegungen auf, der Einsicht folgend, daß der gesellschaftliche und sprachl iche Austausch den sozialpflichtigen und bedürftigen Menschen zeigen·. Aus der verfallsgeschichtlichen Einsicht in die Gegenwart wird der Satz Salomos immer wieder zitien: "Weh dem, der allein ist" (Ed. 4 , 1 0). Angesichts der eu ropäischen Revolutionen von 1 830 und 1 848 sieht Donoso Cor tes die " Herrschaft der Halben und Furchtsamen " ; mit ihrem "distinguo" signalisieI �
Conl. X I I I , X X I , lO. Pttrus namlani, Dt sancta simplicllalt scitntiat inflanti antcponcnda, PL 1<45, S. 69S-704.
, Ebd. cap. I . • J. dt Malstre.
Lt, So,,.jtl Je s.rnt·PeteTlho. ,." Paris 1 960, S. 245 ff. ubcr convenauon, dialoKuc. R. Spacmann. Oe,. U,.,p,..ng JeT SOZIOlogie ..., JtrrI Gellt Je,. ReJt... ,...tlOn, München 1 959 .
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WALTER M AGASS
ren sie die aufkommende Bodenlosigkei t : hier stehe ich, ich kann auch noch anders ! 00n050 Cortes interpretiert diese "diskutierende Klasse" mit der Passage aus Gene sis 3 , 1 -7 - eine exemplarische Appl ikation von Hermeneutik! A u s der Tiefe der Schrift holt der spanische Botschafter (erst in Berlin und dann 1 85 1 in Paris) Augen, Mund und H ände dieser beiden Menschen so heran, daß er den Liberalismus des 1 9 . Jahrhundens interpretieren kann : "Die Diskussion ist die Visitenkarte, mit der der Tod reist. wenn er inkognito geht und unerkannt bleiben will"�. Don050 Cortes bringt bei seiner Lektüre die Aktualität. die Herrschahsformen und die sprachlichen Phänomene zusammen und heraus kommt eine Symptomatik, die wert ist. zitiert zu werden : "Nach meiner Ansicht stürzte Adam n u r deshalb ins Verderben, weil er sich mit dem Weib in eine Diskussion einließ, und das Weib nur deshalb, weil es mit dem Teufel diskutierte. Dieser D iskussionsteufel ersch ien. wie die Katholiken weiter mei nen, in der Mitte der Weltzeit ihrem Jesus in der Wüste und forderte ihn zu einem geistigen Kampfe heraus. sozusagen zu einer Paradediskussion. Aber da bekam e r es anscheinend mit einem Klügeren zu tun, der ihm das Wort entgegenschleuderte ' Weiche Satan' ! und mit diesem energischen Wort der Diskussion und dem Blend werk des Teufels mit einem Schlage ein Ende machte"". Was Donoso C o rtes hier tut. das haben Maine de Biran, Vilmar, F . j . Stahl und S . Kierkegaard ebenso getan ; aus der Predigt und der Meditation hatten sie eine F ü l le von appl ikativen Instrumenten zur Hand, die ihnen ennäglichte. henneneutisch " Kritik der Gegenwart" zu ma chen7. Das dritte Beispiel betrifft den Vokativ. Gott ruft den Menschen mit Namen - eine paradiesische Wohltat ! (Gen. 3.9 - Jes. 4 3 , t ) . Franz Rosenzweig h a t d e r Offenbarung Gottes eine Grammatik beigegeben - und im Stern der Erlösung (11. Buch) entfaltet er die Oberlegungen zum Vokativ Gottes und des Menschen'. Mit dem Anruf ,. Adam" erweist GOtt dem Menschen eine große Wohltat. mit dem Anruf des Vor-namens tun wir es ebenso. Mit dem Vokativ beginnen wir genetisch in der Zeitlichkeit, mit dem Anruf überwinden wir auch d ie D istanzen in der sog. Gegenständlichkeit. Rosenzweig sagt zu dieser Qual ifikati o n : "im Eigennamen ist e i n e Bresche in die starre M a u e r der Dinglichkeit gelegt. W e r e i n e n eigenen Namen h a t , kann n i c h t m e h r Ding, n i c h t mehr jedermanns Sache sein"9, Oberhaupt sollten die Wohltaten der guten A usstattung des Menschen in dieser Schulfragen aufarbeitenden Geschichte nicht unterschlagen werd e n : Vokativ, Arbeit. Kleidung, Zweisamkeit. Für Synagoge, K irche und Literatur war das plurale tantum dieser Ausstattung ein henneneutisches superadditu m : Exegese und K ritik hatten damit für die Applikation genügend Versatzstücke ; k u l t u ranthropologisch t rat damit •
DonolO Concs, D r r S r.. r Gorrr" Darms'ad, 1 966, S. 196. Ebd. S. 197. I W . Ma&aß, Er.rmpw rcc/r,wJlIcif, Bonn 1 1 976, §§ I �, 18. I F. Rosenz ....�i&. D rr Srrrn ,Irr Er/ö'''Ng, Hridclbe-rg l l 9S4, S. 1 1 2 ff . • Suack-Billerh«k. KOmmrN'ifr z " m NT, I , S. 4S8. IV, S. SQ6. •
DRt:1 E X E M P LARISCHE A p P L I KATI O N EN VON G ENESIS l
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der arme/reiche Mensch auf. Voltaire, Schiller, Fichte und Hegel haben den Blick oder Griff als einen ersten Freiheitsschrin interpretiert, "eine felix culpa, die kaum noch culpa, sondern nur noch felix ist" (Odo Marquard). Wir können an der kleinen theologiegeschichdichen Paradigmatik dieser Ge schichte das Kompetenzgefälle der auslegenden Kirche sehen. Das bestreitende Ge genüber ist der wißbegierige, der räsonnierende und verstummende, der sich behal tende Mensch. Einher ging damit die Diffamierung der theoretischen Neugierde, der Frage und der menschlichen Selbstbehauptung. Obendrein wird hier eine Fundie rung der grammatischen Modi und eine Fülle der überlagernden Reflexionen gege ben : "die jeder natürlichen Sprache inhärente Metasprache wird dabei auf sie selber angewandt mit dem Ziel, die Reflexivität zum konstitutiven Prinzip der Sprache zu machen"'o. Prediger und Bischöfe können Meister in solcher Applikation sein : Text und Konkretion so zusammenzuführen, daß nur der Betrachter suppositio materialis u nd suppositio formalis zu scheiden vermag.
LC H . W't'Lnrich. "Von dt'r A lhäglich kt'il dt'r Mt'lupracht" ', Ln Spr.(h� II'J
Tnun, Slultgan 1 976, S. 1 1 2 .
JA C O B TAUBES VON FALL Z U FALL. E R K E N N T N I ST H E O R ET I S C H E R E F L E X I O N ZUR G ESCH I CHTE VOM S U N D E N F A L L
D a s Programm einer " Kritik d e r historischen Vernunft" steht seit Diltheys Einlei tung in die Geisteswissenschaften auf der Tagesordnung philosophischer Reflexion. Der Titel des Programms knüpft - von Dilthey zu Heidegger - bewußt an die d reifähige Form der Kritik Kants an. Denn Kant ging es zu allererst um eine Recht fertigung der Erkenntnis. Was bei Kant in seiner noch traditionellen Lehre von den ' Vermögen' in d rei Teile auseinanderfällt, in eine Kritik der " reinen Vernunft", in eine der " p raktischen Vernunft" und in eine " K ritik der U rteilskraft .. , ist im Pro gramm einer " Kritik der historischen Vernunft" zusammengefaßt. Nicht als Appen dix ist diese vierte Kritik gedacht, sondern als Summe der drei Formen der Kritik, die Kam entfaltet hat. Dabei kann man sich auf Kant selbst berufen, wenn er gleichsam in Form eines Katechismus das Problem der Einheit der drei Kritiken so form uliert : "A lles I nter esse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische) vereinigt sich in folgenden drei Frage n : I . Was k a n n i c h wissen? 2 . Was soll ich tun? 3 . Was darf ich hoffen?" D iese d rei Fragen bestimmen den Menschen nicht als natürliches Wesen, sondern als geschichtliche Person, als "Weltbürger". So kann die dreifältige Frage "in welt bürgerlicher Absicht" von Kam auch so formuliert werden : " Das Feld der Philoso phie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen : I . Was kann ich wissen? 2 . Was soll ich tun? 3 . Was darf ich hoffen ? 4. W a s i s t d e r Mensch ? " . Die letzte Frage, die " i n weltbürgerl icher Absicht" d a s Feld der Philosophie be stimmt. ist den vorangehenden nicht angeheftet. Sie faßt zusammen, sie zieht die Summe der Reflexion Kants. " weil sich die ersten Fragen auf die letzte beziehen".
II Daß Kant sein ungeheures Werk einer dreifältigen Kritik unter der Konstellation der Aufklärung begann, war freilich nicht ohne Folgen für sein U nternehmen. In dieser
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Konstellation h ieß das kritische Geschäft einer Rechtfertigung von Erkenntnis be treiben, den Sieg der Aufklärung über die (protestantische) Orthodoxie, die in den Zeugnissen der Bibel zur "Schrift" geronnene geoffenbarte Wahrheit erblickte, gleichsam dogmatisch voraussetzen. Kanu Rechtfertigung der Erkenntnis geschieht in einem Tief religiöser Erinnerung. Einige Reste scheinen freilich noch du rch und haben mit Recht den Unwillen des aufgeklärten Publikums, also der Religion der Gebi ldeten seiner Zeit erregt. Die Lehre vom " radikal Bösen" ist ein solcher Rest. Goethe schrieb 1 793 an Herder über Kann Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, auch Kam habe "seinen philosophischen Mantel, nachdem er ein langes Menschenleben ge braucht hat, ihn von mancherlei sudelhaften Vorurteilen zu reinigen, freventlich mit dem Schandfleck des radikalen Bösen beschlabbert, damit doch auch Christen her beigelockt werden, den Saum zu küssen" . In der Tat zeigt Kant ein J anusgesicht. Kant hat einerseits den deutschen Aus druck " Fortschritt" geprägt und so der kommenden Geschichtsphilosophie bis He gel und Marx das Stichwort geliefert. Sogar die Formel Geschichte als " Entwurf der Vernunft" ist schon bei Kant zu finden und damit Hegels Formel von der "Vernunft in der Geschichte" vorgeprägt. A ndererseits hat niemand vor oder nach Kant die Grenzen der Vernunft, sowohl nach ihrer spekulativen als auch nach ihrer prakti schen Seite hin so deutlich gezogen. Auch in geschichtsphilosophischer Absicht w i rd von Kant die Grenze der Erkenntnis bestimmt, wenn er fragt : "Wie ist Geschichte apriori möglich ?". I n dieser Frage exponiert Kant selbst das Programm einer " Kritik der historischen Vernunft" , das sich im öffentlichen Bewußtsein erst an Dihheys Einleitung in die Geisteswissenschaften und Heideggers kritischen Kommentar dazu in Sein und Zeit knüpft. Kants Antwort scheint eindeutig im Geist der Aufklärung, enthüllt sich am Ende aber als doppeldeut i g : "Wenn der Wahrsager die Begebenhei ten selber macht und veranstaltet, die er zum voraus verkündet". Reinhart Koselleck hat jüngst mit Recht den provokativ ironischen Ton in der Antwort Kants hervorge hoben. Geschichte ist Wahrsagerei, sie sagt aber nur dann wahr, wenn der Mensch die Ereignisse selber hervorbringt und gestaltet. Fragt sich n u r : was ist das für ein Selbst. das die Geschichte hervorbringt und mach t ? Vicos Prinzip der Neuen Wissen schaft: verum et factum convertu ntur regiert zwar auch Kants Idee zu einer allgemei nen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, aber die Grenzen des Prinzips werden in der Formulierung Kants ironisch sichtbar. Noch bei Marx, der die "Wissenschaft der Geschichte" als "einzige" Form wis senschaftlicher Reflexion gehen läßt und alle Wissenschaft von der Natur als histo risch, also als ein Produkt menschlicher Geschichte bestimmt, klingt noch die Erin nerung an die kantische Grenze für den Gegenstand historischer Erkenntnis a n : "Die Menschen machen i h r e eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewähhen, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten U mständen" , Während für Marx der Gegenstand histo rischer Erkenntnis durch vorgefundene und überlieferte U mstände begrenzt ist, die
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e s verbieten, Geschichte nach allen Seiten hin durchsichtig z u machen, l iegt die Grenze bei Kant in der Konstitution der autonomen Person selbst. Wer kann sagen, daß Kant, der der Vernunft bescheinigt, sie kenne " keine Grenzen ihrer Entwürfe", nicht den Schein beschreibt, in den die Vernunft in geschichtsphilosophischer Ab sicht sich notwendig verstrickt ?
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Geschichtsphilosophie als " Kritik der historischen Vernunft" tendiert auf einen Be griff von Erkenntnis, der Konsequenzen aus den erkenntnistheoretischen Vorausset zungen zieht, die Kant i n den drei Kritiken formuliert hat, vor denen er aber wohl selbst als 'Sohn der Aufklärung' zurückschreckt. Die erkenntnistheoretischen Vor aussetzungen, die Kant insbesondere in der Kritik der reinen Vernunft bloßlegt, werden von Kant selbst schon als ' Kopernikanische Wende' in der Philosophie indiziert. Wenn die ' Kopernikanische Wende', die Kant einleitet, in geschichtsphilosophi scher Absicht interpretiert wird, so folgt ein Wechsel in der Perspektive, die den Begriff der Geschichte betrifft. Bekanntlich hat Kant das kategoriale Netz des Na turgesetzes als Erscheinungsfonn des Su bjekts enthüllt. Aber nicht nur verbirgt sich ein ' D i ng an sich' hinter den Gesetzen der Natur. H i nter den Erscheinungsformen der Zeit verbirgt sich das unzugängliche ' E reignis an sich'. Kant schreckt vor den Konsequenzen zurück, die seine Lehre vom Ich als Grund legung des Bewußtseins von Zeit u nd (in Konsequenz) von Geschichte enthält. Eine zentrale Aufgabe einer noch zu leistenden " Kritik der historischen Vernunft" wäre es, den G rund für die Reflexion zu legen, daß mit der Entdeckung der Phäno menalität kategorialer Gesetze der Geschichte ein Begriff von Erkenntnis gefordert ist, der i n die Erfahrung einer jeweiligen Gegenwart des Ich die zeitlichen Extensio nen von Vergangenheit und Zukunft einbringt. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft sind keine fixpunkte auf einer emsinnigen Linie der Zeit, sondern Vergangenheit und Zuku nft sind in der jeweiligen Gegenwart des Selbst ineinander verschränkt u nd werden d u rcheinander neu bestimmt. Der Mangel an Konsequenz bei Kant ist früh bemerkt u nd kritisiert worden. Eigentlich hat jedes Ereignis das Maß seiner Zeit i n s i c h , bemerkte schon Herder in seiner Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. Romantik u nd H istorismus haben den Einwand Herders aufgegriffen u nd auf jene "zu e i ne r Zeit unzähl bar vielen Zeiten" verwiesen . Theo logisch form u l i e rt Ranke das historistische Axiom, jede Epoche sei "unmittelbar zu Gou". Aber Ranke als Princeps der deutschen H istoriograph ie verstand sein Theologumenon noch als Le gitimation einer " objektiven Darstellung" der Geschichte, ohne jede Ahnung von den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, auf denen eine solche Fonn von Ge schichtserzählung erst ruht. Darum konnte Ranke vom Ich des H istorikers absehen. Es stellte geradezu die Maxime auf: "Mein Selbst gleichsam auszulöschen", so daß
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die Ereignisse "erscheinen" können, wie sie "eigentlich gewesen" sind. Geschichte diente Ranke noch der "Vergcgenwänigung der vollen Wahrheit" , angesichts der Quellen : von Angesicht zu Angesicht. Geschichte will in der Tat Vergangenes 'historisch' artikulieren. Vergangenes hi storisch anikulieren heißt aber, den eigentümlichen Zeit index für jedes E reignis bestimmen. Jedoch dieser bestimmt sich nicht (wenn jene ' Kopernikanische Wende' der Kritik Kants auch unseren Begriff vor der Geschichte bestimmt) aus einem G l auben, jede Epoche sei "unmittelbar zu Gou", Geschichte ist nicht " u n m ittelbar zu Gou " : also auch keine ihrer Epochen. Geschichte ist die Erzählung vorn achten Schöpfungstag, also die Erzählung von Adams Fall. von der Welt. die alles begreift, was der Fall war und der Fall ist. Das Ich des Erzählers. das in einer 'Gegenwan' lebt, i n Wahrheit im Stunnlauf der Geschichte von Jetzt-punkt zu Jetzt-punkt getrieben wird, beschwön im momenta nen Jetzt ein Bild vom Vergangenem. das mit dem J etzt-punkt (als privilegienem Gesichtspunkt) auch wieder schon zu verschwinden droht. Vergangenes historisch anikulieren heißt also perennierende 'Totenbeschwörung' d u rch ein von Jetzt zu Jetzt getriebenes. am Ende sterbliches Ich. Wenn Kants Lehre von der ' Idealität' der Zeit, nicht nur der ' Idealität' der natura len. sondern noch eindeutiger der ' I dealität' der transnaturalen, also geschichtlichen Zeit erkenntnistheoretisch zu Ende gedacht wird. so enthüllt sich jedes geschichtli che Ereignis konstitutiv als eine Schöpfung des Selbst. in der das Ich eine reißende Gegenwart mit einer schwindenden Vergangenheit in Verabredung bringt. Diese Verabredung einer jeweils wechselnden Gegenwan mit einer bestimmten. aber schwindenden Vergangenheit nennt Walter Benjamin " Konstellation". Der h i stori sche Schein erzeugt ein ewiges B ild der Vergangenheit. sucht jedes ' Einst' in ein feststehendes 'Es war einmal' einzufrieren. Dieser Schein der historischen Reflexion ist freilich ein notwendiger jeder historischen Erzählung.
IV Die Idee einer Entwicklung, allmählich oder sprunghaft. also eines Fortschritts vom Unvollkommenen zum Vollkommenen auf der Achse der eins innigen Zeit ist Signa tur der abendländischen Geschichtserzählung seit der Aufklärung. Sie beherrscht sowohl die Werke ihrer Historiker als auch die Entwürfe der Geschichtsphi losophie von Lessing und Condorc:et. Hege l und Comte. Man: u nd Darwin. Diese l iefern nur
verschiedene Versionen zum gleichen Thema E n twicklung. Du Vorverständnis aber moderner Theorie der Geschichte wurzelt, jenseits aller ideologischen Wertsetzun gen, in der unausgesprochenen überzeugung, daß das jeweilige Jetzt dem jeweiligen Vergangenen das Moment der Gegenwänigkeit je voraus hat. Dies durchschnittliche Verständnis von Zeit und Zeitlichkeit verleiht der gängigen Erfahrung von Ge schichte unbefragte Evidenz. Es bestimmt das Schema der historischen Erzählung
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der bedeutenden Werke und Konstruktionen der Geschichtsphilosophie seit der Aufklärung. Eine " Kritik der historischen Vernunft" müßte dieses durchschnittliche Verständ nis von Zeit und Zeitlichkeit, das die Erzählung von Geschichte bestimmt, aus den Angeln heben. D i e versch iedenen Versionen der Geschichte können gar n icht erzählen. "wie es eigentlich gewesen" ist. sie kommen ans ' E reignis an sich' gar nicht heran, bewegen sich je immer schon im Vorfeld der Erscheinungen. wurzeln in der besonderen Verfassung des Erkenntnissubjekts, seines Hier und Jetzt. Also ge rade die W issenschaft der Geschichte. von der Marx sagt, sie sei die "einzige W issen schaft", ist nicht voraussetzungslos, sondern ist im Gegenteil mit einer fundamenta len Voraussetzung belastet, die i m Streit zwischen ' Aufklärung' und 'Orthodoxie' und dem darauf folgenden 'geschichtlichen' Sieg der A ufklärung, der auch Kants
Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht bestimmt, immer mehr ausgeblendet w u rde. Gegen jeden modernen Begriff von Geschichte steht der Fels der biblischen Er zählung vom Sündenfall. Der biblische Erzähler setzt am Anfang Adam als Ebenbild Gottes im status integritatis des Paradieses. aus welchem Urstand erst der Fall er folgte und eine immer tiefere Verstrickung in Schuld, die sich fonsetzt von Fall zu Fall bis hin z u m J ü n gsten Gericht. Wenn im folgenden für eine erkenntnistheoreti sche Bestimmung des Begriffs von Geschichte an die ersten Genesiskapitel erinnert wird. so soll damit weder Bibelinterpretation als Zweck verfolgt noch auch die Bibel an dieser Stelle 'objektiv' als Zeugnis geoffenbarter Wahrheit unserer Reflexion zu grunde gelegt werden. Sondern Ziel ist es, das, was aus den ersten Genesiskapiteln i n Ansehung v o n Geschichte sich w i e v o n selbst ergibt. anzuzeigen. Die biblische Erzählung vom Sündenfall w i rd von uns nicht herangezogen, u m wie Kant über den Muthmaplichen Anfang der Memchengeschichte zu 'spekulieren'. Sie ist für uns allein darum wichtig, weil sie - als Erzählung - eine Geschichte über Geschichte selbst ist. Der moderne Begriff von Geschichte seit der A ufklärung hat - verschwie gen oder bewußt - gegen die Voraussetzungen der biblischen Erzählung Stellung bezogen . Die Erzählung v o m Sündenfall s e t z t i m Augenblick e i n , da d a s Siebentagewerk d e r Schöpfung abgeschlossen ist. Die Schöpfungsgeschichte v o r d e m Sündenfall be schreibt noch kein Geschehen i n der Zeit. Was immer an ihr den Index von Zeit trägt, kommt aus der Perspektive nach dem Sündenfall. Der Anfang von Geschichte ist abgetrennt von der Erzählung über die sieben Schöpfungstage und leitet den achten Schöpfungstag ein. Von der Schöpfung Gottes heißt es, sie sei "gut", sogar "sehr gut". Mit dem achten Schöpfungstag wird ein neues Thema eingeleitet : die Geschichte Adams. Die Geschichte Adams ist aber die Geschichte seines Falls oder seiner Obertretung. Sie soll erklären, wie das Böse in die Welt gekommen ist. Das Böse also ist kein Resultat mythischer Götterkämpfe. Die biblische Erzählung streicht allen ' vorgeschichtlichen' M ythos aus und läßt Adam allein die Last des Bösen tragen. A l l e mythischen Restbestände der biblischen Erzählung sind der Ge schichte Adams unterworfen.
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Erstaunlich bleibt für uns, wie verborgen die Geschichte von Adams Fall in den biblischen Büchern bleibt. Gesetz und Propheten, aber auch Evangelien rekurrieren nicht auf die Geschichte von Adams Fal l . Es scheint, daß erst die messianische Reflexion des Paulus über den 'zweiten Adam' die Erzählung der Genesis zitierbar macht. E rst im Römerbrief (5, 1 2 - 1 9 passim) wird die Linie: vom ersten zum zweiten Adam gezoge n : "Deshalben wie d u rch einen Menschen die Sünde in die Welt ge kommen und der Tod durch die Sünde ( . . . ) denn das Urteil hat aus der einen Sünde geführt zur Verdamnis ( . . . ). Wie durch eines Sünde die Verdamnis über alle Men schen gekommen ist, so ist auch durch eines Gerechtigkeit die Rechtfertigung zum Leben für alle Menschen gekommen. Denn gleich wie durch eines Menschen U nge horsam viele zu Sündern geworden sind, so werden auch durch eines Gehorsam viele zu Gerechten". Erst eschatologisch wird die A rchäologie bedeutsam. E rst vom ' zweiten Adam' her wird die Geschichte des ersten Adam belichtet. A rchäologie und Eschatologie Adams aber sind ' U rgeschichte' im eminenten Sinne. U rgesch ichte, Anfang und Ende, bleibt im Lauf der Geschichte selbst verdeckt. Offenbarung im strengen Sinne geschieht am Anfang und am Ende der Geschichte, die in geheimer Verabredung stehen. Aber gerade nicht im Gang der Geschichte selbst. Herkunft und Hinkunft des Adam geschehen von Angesicht zu Angesicht. I m 'Jetzt' der Geschichte sehen wir nur "durch einen Spiegel in einem dunklen Wort". Das Spiegelbild aber, bedeu tet uns Pau lus, liefert ein verkehrtes Bild von Welt und Geschichte. Geschichte ist der Zeitraum menschlicher Verkeh rung. I ndem Paulus aber den ersten und letzten Adam in eine Konstellation verspannt, ermöglicht er das Vokabular aller Lehre vom Fortschritt, die die Signatur des moder nen Begriffs von Geschichte ist : " Denn wenn um des einen Sünde willen der Tod geherrscht hat durch den einen, wieviel mehr werden die ( . . . )" (Röm. 5 , 1 7) ist das Schema aller List des Fortschritts, der am Ende ein Mehr an Erkenntnis bietet als der Anfang in sich trug. Das Vokabular für die Idee des Fortschritts stand also christlich bereit. Die escha tologische ' U rgeschichte' brauchte nur geschichtlich verzeitlicht zu werden. Ge schichte selbst wurde so zur Signatur der Offenbarung. 'Offenbarung als Geschichte' heißt das Programm auch der j u ngen Theologen heute. War Fortschritt einst bei Paulus als Tilgung der Sündenspur exponiert, so konnte Fortschritt verzeitlicht zum Index für die Entwicklung von Gas, Dampf und E lektrizität werden. Es ist darum vielleicht nicht ohne Sinn an jenen "Schandfleck des rad ikalen Bösen" zu erinnern, der nicht nur unser moralisches Uneil "besch labben", sondern u nsere historische Erkenntnis tingien.
ODO M A RQUARD SC HWAC H E R TROST
Wolfhart Pannenberg hat - malum - meine Vorlage kritisiert ; aber - bonum-durch malum - gerade dabei hat er Gesichtspunkte geltend gemacht, die es mir lohnend scheinen lassen, ihre These aufrechtzuerhalten. Das kann man - aus anderer Perspek tive - natürlich auch umgekehrt formulieren : Wolfhart Pannenberg hat - bonum meine Vorlage kritisiert ; aber - malum-durch-bonum - gerade dadurch provoziert er mich zu einer präzisierenden Weiterführung ihres Gedankens, für die ich im folgen den einige vorläufige Formulierungen erproben mächte, und zwar in vier Schritten. I. Zunächst einmal bin ich Pannenberg sehr dankbar für seinen zentralen H inweis auf den Zusammenhang des bonum-durch-malum-Gedankens - von dem meiner Meinung nach der felix-culpa-Gedanke ein ausgezeichneter spezieller Fall, nämlich ein Präzedenzfall ist - mit dem "Thema von Kreuz und Auferstehung. Kreuz und Tod als Durchgang zum Lebe n : sollte" - fragt Pannenberg - "das nicht das heimli che Paradigma der verschiedensten Varianten der bonum-durch-malum-Figur sein?"
M i r leuchtet dieser H i nweis ungemein ein. Zusätzlich plausibel wird er dadurch, daß die von Pannenberg unterstreichend zitierte Pau lus-Stelle (Röm. 5,20) auch von Leibniz justament dort zitiert wird, wo dieser - in seiner Theodicee - auf den Gedanken der "felix culpa" rekurriert ' . Warum - diese Frage plagt mich jetzt - habe ich mir diesen Zusammenhang entgehen lassen? Vielleicht bin ich "zurückgewichen" vor einer Konsequenz, bei der ich Pannen berg auch jetzt nicht folgen möchte. Man könnte diese Konsequenz die - bei Pan nenberg theologisch inspirierte - Olonomyth ische Lesung des bonum-durch-malum Gedankens nennen, durch die alle bonum-durch-malum-Befunde zu bloßen vestigia redemptionis per crucem werden. Solch eine monomythische Lesung - die Verwand lung vieler Geschichten in eine : die Singularisierung der Geschichten zur Geschichte durch Interpretation - ist ein allgemein interessantes hermeneutisches Problem, auf das ich noch zurückkomme. Alle Formen der felix-culpa-Figur, darüber hinaus alle Formen konsolatorisch gelesener Kompensationsbefunde überhaupt - scheint mir Pannenberg zu meinen - werden tröstlich nur dann, wenn sie durch das Kreuz Aufersteh ungs-Motiv gedeckt und getragen sind : "von einer solchen Vorgabe" schreibt er - "d ürften auch die anderen Varianten der bonum-durch-malum-Figur zehren", nämlich davon, daß "anderweitig schon Befreiung von diesem (übel) und zugleich von allen anderen übeln gewährleistet ist " : eben durch Krt"uustod und I
l t' i bn i 7 , Ph,/oiophucht Schnlttn.
hr:. Gcrhardt, Bd 6. S. 108.
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000 M A RQIJARD
Auferstehung Christi. Alle Kompensationsgeschichten - deren Teilmenge die bonum-durch-malum-Figuren sind - sind eigentlich immer nur eine Geschichte: die Erlösungsgeschichte vom Tod und der Auferstehung des menschgewordenen Got tes. Alle "anderen Varianten" sind eben nur Varianten. die - gegebenenfalls typolo gisch - durch Bezug auf Christus verstanden werden müssen: auch die neuzeitlich sten und profansten Formen des bonum-durch-malum-Gedankens sind - bewußt oder unhewußt - I nkarnationen des christlichen Erlösungsglaubens : sie trösten ein zig dadurch, daß der G laube an Kreuz und Auferstehung sie trägt. E s kann sein, daß es nur eine Umnuancierung ist, wenn ich demgegenüber meine : zur spezifisch neuzeitlichen Konjunktur der Kompensationsrecherchen - also auch und gerade zur modernen Weiterentwicklung der felix-culpa- Figur und zur allge meinen Fahndung nach bonum-durch-malum-Befunden - kommt es gerade dort, wo der christliche Erlösungsgedanke an Kreuz und Auferstehung in repräsentativem Umfang nicht mehr trägt. Der moderne Eifer beim Kompensationensuchen seit der Leibniztheodizee ist keine Manifestation intakter Glaubwürdigkeit, sondern der Versuch einer Kompensation des Glaubwürdigkeitsverlusts des Kreuz-Auferste hungs-Motivs. Vielleicht läßt sich das auch so formuliere n : zwar - malum - wird der christliche Erlösungsglaube modern erschütten ; aber - bonum-durch-malum - ge rade dadurch werden die modernen Menschen gezwungen zur Aufmerksamkeit auf den binnenweltlichen Reichtum vielgestaltiger bonum-durch-malum G eschichten.
2 . I n einem Punkt stimme ich mit Wolfhart Pannenberg dessenungeachtet völlig überein : die Tröstlichkeit des bonum-durch-malum-Gedankens wird z weifelhaft, wo er nicht mehr gedeckt ist durch religiöse Vorgaben. "Wenn das übel durch menschliches Handeln und sogar durch Hermeneutik nicht eliminiert werden kann, wie tröstlich bleibt dann noch, daß das übel solches Handeln veran laßt?" Dieser Zweifel an der Tröstlichkeit der Kompensationen ist nicht nur dem Theologen, sondern auch dem Skeptiker durchaus geläufig. Seine klassische Artikulation finde ich bei Jacob B u rckhardt in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen: dieser sucht dort angesichts der Schrecken der Weltgeschichte einen "unserer A h n u n g z u gängli chen Trost"; und da - schreibt er - "meldet sich als Trost das geheimnisvolle Gesetz der Kompensation . . . Es scheint ein Gesamtleben der Menschheit z u existieren, welches die Verluste ersetzt . . . Nur ist die Kompensation nicht etwa ein Ersatz der Leiden, . . . sondern nur ein Weiterleben der verletzten Menschheit mit Verlegung des Schwerpunktes . . Die Lehre von der Kompensation ist meist doch nur eine ver kappte Lehre von der Wünschbarkeit, und es ist und bleibt ratsam, mit diesem aus ihr zu gewinnenden Troste sparsam umzugehen, da wir doch kein bündiges Urteil über diese Verluste und Gewinnste haben"2, Freilich gilt das auch für jene Kompen sation, die die Eriösungstat Christi ist : begriffsgeschichtlich gesehen beginnt ja das Wort " compensatio" seine philosophische Karriere - von Tenu llian bis Anse1m - als !
J. Burckhardl.
G�J4mm�lu W�,kt,
Basd/Slultgan 19S5 ff., Bd 4. S. 1 9 1 - 1 93.
SCHWACHER T ROST
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(beiläufig gebrauchtes) Äquivalenzwort für Erlösung). Und jedenfalls ist Skepsis angebracht : jeder Kompensationsgedanke - auch in der neuzeitlichen Form des bonu m - d u rch-ma lum-Gedankens - ist dort, wo der Trost, den das Christentum anbietet, in der modernen Welt schwach geworden ist, seinerseits stets nur ein
schwacher Trost. Dabei m u ß oder kann der Skeptiker - scheint mir - eins weiter gehen als der Theologe, indem er geltend mach t : dieser Zweifel an den Kompensationen ist angesichts der menschlichen Schwäche - keineswegs ein vernichtender Einspruch. Wenn Kompensationen - also bonum-durch-malum-Verläufe und andere, bei denen der A u sgleich nicht durch das malum erzwungen ist, sondern auf andere Weise zufällt - nur einen schwachen Trost bieten, so ist - für schwache Wesen - ein schwacher Trost immer noch besser als gar keiner. Die Menschen sind - als bedürftig Lebendige - ontologisch nicht so gestellt, daß sie auf ihn verzichten könnte n : der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach auch dann, wenn diese Taube den heiligen Geist symbolisiert. Auch wenn die Option für Kompensationen i l lusionär sein kann, wäre es erst recht illusionär, auf Kompensationen verzichten zu wollen. Ich räume gern ein, daß es in der Konsequenz dieser überlegung liegt, auch den neuzeitlich schwach gewordenen Trost des christlichen Erlösungsglaubcns als solch einen schwachen Trost anzusehen, den einfachhin auszuschlagen - angesichts der menschlichen Bedürftigkeit - leichtfertig wäre : zweifellos gibt es Situationen, in denen die Taube auf dem Dach - sozusagen - der einzige Spatz ist, den man noch in der Hand hat. E s gehört zum Schicksal der Skeptiker, daß gerade sie disponiert sind zur Respektierung der Unvermeidlichkeit des Religiösen.
3 . Drum auch ist es - im Blick auf die Geschichte der felix-culpa-Figur und des bonum-durch-malum Gedankens - nicht der Rekurs von Wolfhart Pannenberg auf das Kreuz-Auferstehungs-Motiv, gegen das ich hier Bedenken anmelde : gerade der H inweis auf diesen Zusammenhang - sagte ich ja schon - leuchtet mir ungemein ein. Bedenken h a be ich n u r gegen den - von m i r bei Pannenberg vielleicht nur irrtümlich vermuteten - monomythischen Reduktionismus einer Hermeneutik, die in den vielen vielgestaltigen Geschichten - auch in den vielen vielgestaltigen Geschichten vom bonum-durch-malum - immer nur die eine und selbe Geschichte wiederfindet : eben die vom Kreuz und der Auferstehung. A uch jeder andere monomythische Reduktio nismus wäre m i r in gleicher Weise unbehaglich, der den Menschen - jedem Men schen für sich und allen Menschen zusammen - nur eine einzige Geschichte zu haben und zu erzählen erlaubt. Dabei ist die christliche Monomythie sicher eine sehr milde Form. Die m i litante Monomythie wurde vermutlich erst nachchristlich mögl i c h : modern, a l s o don, wo - n a c h 1 750, wie d i e s Koselleck gezeigt hat - der singulari sierte Begriff der "einen" Weltgeschichte, eben " der" Geschichte entstand. , Vgl. Ven., " Kompensalion - Obcrlcgungen zu eincr Verlauhfigur geschichtlicher Prouue", in K . G . Fabcr/C. Meier, Huro"sch� ProuJSe (Theo"� d�,. Ge'chlchte - Beitriig� z u ,. HuroriJt. B d 2 ) , M ünchen 1 978, S. HO-l62.
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Man könnte - zumindest dort, wo es um Geschichten geht, zu denen auch die hei l i gen Geschichten gehören - unterscheiden zwischen singularisierender und plu ralisierender Hermeneutik. Jene entdeckt in allen vielgestaltigen Geschichten stets nur die eine einzige und selbe ; diese findet in jeder einzelnen - und vielleicht dem Anspruch nach einzigen - Geschichte stets noch viele weitere und immer wieder andere Geschichten. Beide Weisen der Hermeneutik leben davon, daß sie eine eigentliche Lesung von der uneigentlichen unterscheiden : "Geist" und " Buchstabe" (vgl. 2 . Kor. 3 , 6 ) , oder wie immer die Opposition vom D ienst sich hier nennt (Hans Robert lauß hat ja in seiner Vorlage unter anderem die einschlägige Substitutionsge schichte skizziert). Jene - die singularisierende Hermeneutik - ruft die Vielgestaltig keit der buchstäblichen Geschichten zur Ordnung des einen und einzigen Sinnes und Geistes ; diese - die pluralisierende Hermeneutik - findet i n der einen und selben buchstäblichen Gestalt viele Sinnmäglichkeiten und verschiedenartigsten Geist. Jene gehört zur schweren Phase der institutionellen Etablierung von Religionen; diese gehört zur nicht minder schweren Phase der Liberalisierung von Religionen. Jene die singularisierende Feststellung einer einzigen verbindlichen Lesung - ist nötig, wo Orthodoxie gegen Heterodoxie und Häresie gesichert werden m u ß ; diese - die Eröffnung verschiedenster Lesungsmögl ichkeiten - ist nötig, wo man Tödlichkeits folgen des Streits um die verbindliche Lesung ausweichen muß : darum ist - in der Geschichte der christlichen Theologie und der ihr verbundenen Philosophie und Jurisprudenz - der Kenterpunkt zwischen der Dominanz des singularis ierenden und der Dominanz des pluralisierenden Verfahrens das Zeitalter der Glaubenskämpfe : es ist der Augenblick des repräsentativen Funktionswandels der D i fferenz von Geist und Buchstabe. Vorher dominiert - hermeneutisch - die Erfahrung, daß vielgestalti ger Buchstabe einerlei Geist haben kann und muß; nachher dominiert - hermeneu tisch - die umgekehrte Erfahrung, daß einerlei Buchstabe vielerlei Geist haben kann und sol l. Vielleicht kann man - grob typisierend - sagen : exemplarischer Exponent der singularisierenden Hermeneutik ist das kirchliche Lehram t ; exemplarischer Ex ponent der pluralisierenden Hermeneutik ist das unendliche Gespräc h ; zu jenem gehört die Dogmatisierung; zu diesem gehört die Interpretation. Zu jenem gehört die Dogmatik, die nur eine einzige Auslegung kanonisiert ; zu diesem gehört die Rezep tionsästhetik, die keinen "Sinn an sich" kennt, sondern repl ikhaft-sukzessiv unendl i c h e Rezeptionsversionen zuläßt. Wo das pluralisierende Verlahren blüht, dominiert die literarische Hermeneut i k : sie garantiert die Auslegungsliberal ität ; es wäre - meine i c h - falsch, b e i dieser Dominanz ein schlechtes Gewissen zu haben. Ein solches aber hat - scheint mir Wolfhart Pannenberg, z. B. wenn er "die H errschaft der Literaturwissenschaft im Kreise der Poeten und Hermeneuten" im Grunde ein wenig moniert : darum - aber vielleicht irre ich mich - tendiert er zum s i ngularisierenden Verlahren zumindest unbewußt und zumindest dort, wo er alle fel ix-culpa-Figuren und bonum-durch mal um-Geschichten und alle tendenziell konsolatorischen Kompensationsverläufe zu vestigia resurrectionis stilisiert. Und er tut das - scheint mir - auch und gerade
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dort, w o e r dem "nur Imaginären" einer offenbar uneigentlichen Poesie eine eigent liche Poesie entgegensetzt, die "mehr" sein kann "als nur imaginär im Sinne einer Kompensation durch Drogen oder eine bunte Traumweh", indem sie "zur Verhei ßung einer realen überwindung des übels und so zum Vorzeichen" wird : zum " Geschichtszeichen", wie Kant das nannte". zum "Vorschein"s, zur " poetischen Theodizee" und " Poesie" der " H eilsgeschichte". All das - scheint mir - sind Sym ptome einer hermeneutisch monomythischen Reduktion : selbst das Ästhetische ist dann nur noch als heilsgeschichtliches Phänomen gerechtfertigt.
4. Das eben ist die Konsequenz, bei der ich Wolfhart Pannenberg nicht folgen möchte; darum setze ich weiterhin auf die pluralisierende Hermeneutik einer poly mythischen Lesung der bonum-durch-malum-Geschichten, der felix-culpa-Figur, der Kompensationsgeschichten. Darum finde ich in ihnen auch nach Pannenbergs erhellendem Hinweis nicht allein - und nicht zuerst - das Motiv ' K reuz und Aufer stehung', sondern auch noch manch andere Motive: etwa jenes universellere Motiv des do ut des, das die Logik des Opfers bestimmt, nicht nur des Opfers des mensch gewordenen Gottes am Kreuz, oder jenes Motiv der bonum-durch-malum-Verfas sung des Menschen, die die moderne phi losophische Anthropologie - von Herder über Plessner bis Gehlen - ihm zuspricht : daß er gerade durch seine primären M ängel - sie kompensierend - sich zum Menschen macht. Die felix-culpa-Figur und der bonum-durch-malum-Gedanke hat nicht ein einziges "heimliches Paradigma", sondern viele - und dabei auch unheimliche - Paradigmata. Das gilt dann auch für Gen . 3 , wobei gerade das zur Chance wird, was Pannenberg theologisch als Schwie rigkeit dieses Textes kennzeichnet : daß er erst sekundär - von Pau lus her - zur Erbsündenu rsprungsgeschichte wurde. Es handelt sich offenbar um einen Text, der schon innerbiblisch 'mit sich reden ließ', und er blieb offenbar ein derartig konzilian ter Tex t : das belegt seine Rezeptionsgeschichte, und zwar insbesondere auch dort, wo dieser Text gelesen wird als einer, der gerade die Genesis der Hermeneutik oder die Genesis des Ästhetischen - der Kunst und Literatur - vorerzählt: etwa, wenn Kant in seinem Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte die Bedeckung durchs Feigenblatt als Ursprung der ästhetischen Phantasie interpretiert', oder wenn Paul Valcry - das Motiv des positivierten Sündenfalls, des bonum-durch-malum Gedankens aufnehmend - in bezug auf den Künstler schreib t : "Chätiment ( . . . ) Et pour ta punition, tu feras de tres beiles choses. Voil.i ce qu'un Dieu, qui n'est pas du tout Jehovah, dit vcritablement .i I'homme, apres la faute"'. So kann - das zeigt Hans •
Kant, "Der Streit der Fakulti.tC'n" ( 1 798). in Alradrm,e,uug abe, Bd 7. S. 84. n.u PrIn�;P Hoff.""."g. Bd 1. Berlin 1954. S. 229ff. Kant, AlrtAdrm,e""sgan. Bd 8, S. 1 1 3 : " Das FC'igenbl:m (V. 7) war also das Produkt einC'r ( . . . ) großC'ren Ä ußerun g der Vernunft ( . . . ). ( . . . j eine Neigung dadurch inn iglicher und dauerhaftC'r zu machen, daß m a n ihren Gt'genstand den Sinn ... n ent7ieht", d. h. "WC'igerung "'ar das Kunsutuck. um \'on bloß empfundt'nen 7U idC'alischen Rei1cn, ( . . . ) ... om GC'fiJhl dC's bloß AngC'nehmen zum GC'schmack fur Schonhell ( . . . ) uherlufuhren . " P. Valrrr. a:",,·yC's, h g . J . Hytier. B d 2, Paris 1 9&0 (Biblioth�que de la PliiadC'), S. & 7 2 .
I E Bloch.
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Roben JauB i n seiner literarischen Exegese von Gen. ) - die Sündenfallgeschichte von den Dichtern als Selbstbestätigungstext rezipiert werden : als E nn unterung, an der göttlichen Schöpfung mit zuarbeiten, d . h . zur produktiven Seite der ästhetischen Erfahrung (Poiesis}j als A ufforderung, die durch den Fall eingebüßte paradiesische Reichhaltigkeit und Feinheit der Sensibilität zu retten. d . h . zur rezeptiven Seite der ästhetischen E rfahrung ( Aisthesis); als Ermutigung schließlich, die kommunikative Seite der ästhetischen Erfahrung ( Katharsis) zu pflegen. Dabei wird z u gleich deut lich, daß das. was so für die Dichter gilt, auch für ihre Interpreten z utreffen mag; das bedeutet. daß auch die literarische Henneneutik diese Sündenfallgeschichte so - als geheime Geschichte der e i genen Geburt - lesen kann : also religiöse Schlüsselerzäh lung des eigenen Ursprungs. Was dabei geschieht. möchte ich h�rm�n�lItisch� Inv�r$ion nennen. Sie ist wichtig. weil sich gegen das pluralisierende Verfahren der l iterarischen Hermeneutik. die alle Geschichten immer noch wieder anders lesen und interpretieren kann. leicht der Einwand erhebt : ihre polymyth ische Lesung sei eine unverbindliche Lesung. Das aber stimmt nicht. Freilich : man muß einen gemäßigten. gemilderten. temperierten Verbindlichkeitsbegriff ins Spiel bringen. u m das geltend zu machen. einen. der der literarischen Henneneutik L·ntspricht. Diese Verbindlichkeit meldet sich unter ande rem - scheint mir - eben d u rch die hermeneutische I nversion. Manfred Fuh rmann hat in seiner Vorlage eindrucksvoll gezeigt. daß bereits bei der juristischen Henne neutik die applikative Subsumption des "Falles" unter die "Norm" nur dann gelingt. wenn Fall und Nonn durch I nterpretation aufeinander zu präpariert werden. Der interessante Fall ist der Grenzfall: daß Fall und Norm dabei sozusagen ihre Stellen wechseln. daß bei der Applikation der Fall zur Norm und die Norm z u m Fall wird. Das - meine ich - geschieht in der l iterarischen Hermeneutik häufig: ich - als Subjekt. als Norm - interpretiere einen Text - als Objekt. als Fal l : etwa Gen. J ; als Subjekt der I nterpretation suche ich interpretierend sozusagen einen Kram. in den dieser Text - als Objekt der Interpretation - paßt ; aber indem ich interpretiere. wird peu a peu der interpretierte Text - das scheinbare Objekt und der scheinbare Fall zum Kram. in den ich - das scheinbare Subjekt und die scheinbare Norm - passe : ich interpretiere den Text. aber in Wirklichkeit interpretiert der Text mich. Das gilt hier in bezug auf Gen. J. aber es gilt zugleich allgemein : gerade im Felde der literarischen Hermeneutik. Wo diese merkwürdige und bemerkenswerte Subjekt-Objekt-Venau schung - diese so nur angedeutete hermeneutische I nversion - stattfindet : da ist meine ich - keine Unverbindlichkeit. und zwar auch dann nicht. wenn d ieser Text ständ ig umverstanden wird. weil er dabei mich selber umversteht. Das ist - kann man meinen - ein merkwürdiger Schluß eines Statements. das doch primär auf Wolfhan Pannenberg Bezug genommen hat ; denn jetzt - scheint es - ist die überlegung ganz woande rs angekommen. Doch ich glaube : auch hier. angesichts dieser Figur der hermeneutischen Inversion. wird sich Pannenberg schwerlich die G e legenheit entge hen lassen. mich darauf h inzuweisen. daß auch diese Figur biblisch - u nd zwar paulinisch - präfigurien ist; h i l fsweise mache ich ihn darauf aufmerksam. daß er es
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könnte, d u rch Verweis a u f G a l . 2 , 20'. Insgesamt aber k a m e s m i r hier - abschließend - darauf an, den Unverbindlichkeitseinwand gegen die l iterarische Hermeneutik, die p luralisierend verfahren und polymythisch lesen muß, i n Frage zu stellen d urch die Feststellung : auch dort, wo nicht die hane und eindeutige Ein-für-allemal-Wahrheit ins Spiel kommt, sondern eine Vielzahl von Lesungen, und zwar immer noch wieder andere, auch dort ist keine Unverbindlichkeit, und zwar m indestens wegen jenes merkwürdigen Stellen tauschs zwischen Interpret und I nterpretienem, den ich her meneutische Inversion nannte. Dabei ist mir natürlich kla r : für die Anhänger der einen eindeutigen Wahrheit ist, daß es diese hermeneutische Inversion gibt, wenn überhaupt, dann gewi ß ebenfalls nur ein schwacher Trost .
• " Ich lebe; doch nun nicht ich. sondern Christus lebt in mir."
W O LFHART PANNENBERG Z U 2 . KOR. 1 2, 9 ( R E P L I K AUF O D O M A R Q U A R D : " S C H WA C H E R TROST " )
Die eher halblaute Mutmaßung über eine Poesie d e r Heilsgeschichte, zu d e r die vielfältigen Rezeptionen der Paradieseserzählung immerhin Anlaß zu geben schienen und die als Geste theologischer Friedfertigkeit gegenüber der bunten Welt poetischer und hermeneutischer Freiheiten gedacht war, darüber hinaus sogar den schüchternen Wunsch nach Annäherung ausdrückte - solche zarten Triebe also haben es doch nicht vermocht, Odo Marquards Abneigung gegen die "harte und eindeutige Ein für-allemal-Wahrheit" der Theologie zu besänftigen, die nun - auch diese Lektüre des Schlußsatzes meiner Einleitung war offenbar möglich - sogar das Poetische noch vereinnahmen möchte. Diesen Verdacht jedenfalls drückt seine Erwiderung aus, freilich nicht ohne auch dem Theologen den " Schwachen Trost" offenzuhalten, mit dem der Skeptiker sich selber tröstet. Die ' Schwäche' solchen Trostes kann für den christlichen Glauben sicherlich kein Grund zur Zurückweisung sein. Ist doch "Got tes Kraft in der Schwachheit mächtig" (2. Kor. 1 2 , 9), und dazu paßt durchaus, daß auch die Kraft des göttlichen Trostes sich in dieser Welt als " schwacher Trost" darstellt. Dennoch wäre es zu billig, wolhe ich sogleich nach dem von Odo Mar quard bereitgehaltenen Trost greifen, ohne zuvor den Bußruf seiner Pred igt bedacht zu haben. Die "singularisierende Henneneutik" christl icher Dogmatik und lehramt licher Orthodoxie hat in der Tat geradenwegs in das "Zeitalter der Glaubenskämpfe" geführt, das in Marquards Vorsicht beim Umgang mit theologischen Eindeutigkeiten noch spürbar nachzinert. I n diesen auf die abend ländische Kirchenspaltung folgen den Glaubenskriegen wie auch schon zuvor in reichsrechtlicher Ketzerverfolgung und anderen K reuzzügen äußerte sich doch bereits eine recht "militante Monomy thie" des Christentums. Diese Feststellung wird man trotz Marquards konzi l i anter Bereitschaft, solche M ilitanz erst der nachchristlichen Entwicklung anzulasten, schwerlich umgehen können. Für den christlichen Theologen ist das alles um so peinlicher, als er sich nicht in jeder Hinsicht von seinem Erbe d istanzieren darf, sondern ein Moment von Wahrheit noch in der Perversion solcher militanten Mono mythie des Christentums anerkennen und festhalten muß: den Ernst des Anspruchs auf Wahrheit, die in aller Pluralität ihrer Erscheinungsformen doch nur insoweit wi rksam bleibt, als sie wesentlich eine einzige ist. Die Einheit und Endgültigkeit der Wahrheit Gones und seiner Offenbarung kann keine christliche Theologie preisge ben, ohne ihre eigenste Sache zu verraten. Aber solche Last hat doch auch nicht nur die Theologie zu trage n : Wie hält es denn beispielsweise der Philosoph mit der Einheit der Wahrheit angesichts der Umgänglichkeit, sie mit jedem Satz stets schon in Anspruch zu nehmen? Auch wer den Verpflichtungen der Reflexion und systema-
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tischen Denkens, die daraus resultieren, nicht ausweicht. braucht noch nicht darauf zu verzichten, sich an der Buntheit pluralisierender Hermeneutik zu erfreuen. Er hat ganz im Gegenteil auch seinerseits allen Anlaß, auf solcher P l u ralität zu insistieren. Die eine Wahrheit hat schließlich gar kein anderes Medium, in dem sie sich offenba ren könnte, nachdem Gott selber seine Schöpfung nun einmal i n solcher hunten V ielfalt geschaffen hat. Das ist von der singularisierenden Hermeneutik christlicher Dogmatik und kirchlicher Lehrautorität ebenso beharrlich w i e folgenschwer ver kannt worden. Insofern ist christliche Theologie gut beraten. sich i n der Sphäre des Poetischen und seiner Herrneneuten als Lernende zu bewegen. Wenn aber das Trauma der Religionskriege die Erinnerung an die Einheit der Wahrheit - sei es in ihrer religiösen oder i n ihrer philosophischen Gestalt - zu tabuisieren tendiert. dann kommt es wie bei aller Verd rängung von nicht Eliminier barem leicht zu nicht vorgesehenen Reaktionen. und zwar nicht nur i n G estalt von Kompensationen, sondern auch in der Form von m i litantem Fanatismus. Darum wohl möchte denn auch Marquard das pluralisierende Verfahren nicht i n U nver bindlichkeit abgleiten lassen, und seinem Bemühen um einen "gemäßigten. gemilder ten. temperierten Verbindlichkeitsbegriff" möchte auch ich gern folgen . Zu dessen Grundlagen gehört offenbar. daß ohne religiöse Vorgaben die Tröstlichkeit des bonum-durch-malum Gedankens " zweifelhaft·, wird, worüber erfreulicherweise Einverständnis zwischen Marquard und mir zu bestehen scheint. Das hat freilich seine Konsequenzen, denn Religion ist ja nicht nur etwas d i ffus Allgemeines, son dern gehört nun einmal zu den Gegenständen, die sich im Raume stoßen. Daher möchte ich mich in kulturgesch ichtlicher H i nsicht vorerst (nämlich bis zum Erweis des Gegenteils) noch weiter von der Vermutung leiten lassen, daß die christliche Botschaft von der Auferstehung des Gekreuzigten in unserer Kulturgeschichte (post Christum natum) nicht nur irgendein beliebiges Beispiel, sondern das offenbare oder verborgene Parad igma der verschiedensten Varianten der bonum-durch-malum-Fi gur darstellt. I n einem noch spezielleren Sinne gilt das sicherlich für das felix-culpa Motiv. Das schließt natürlich nicht aus, daß ähnliche Gedanken in anderen Kulturen im Zusammenhang mit anderen Vorgaben entwickelt worden sind. Die besagte Ver mutung wird auch durch die einleuchtende These von Odo M a rquard nicht h infäll ig, derzufolge die allgemeine Thematisierung des Prinzips " bon u m d u rch malum" in der Neuzeit gerade durch die Erfahrung motiviert wurde, daß "der christliche Erlö sungsgedanke an Kreuz und Auferstehung in repräsentativem U m fang nicht mehr trägt". Es könnte doch sein, daß die von Marquard zugestandene argumentative Defizienz eines Kompensationsglaubens ohne religiöse Vorgabe im Bewu ßtsein neu zeitlicher Emanzipation nur so lange übersehen und leicht genommen werden konnte, wie das aus jener Vorgabe erwachsene Vertrauen trotz oberflächlicher Di stanzierung von der Tradition noch weiterw i rkte. Damit w i rd der neuzeitlichen Distanzierung von der Intransigenz der konfessionellen Dogmatik nicht die Legiti mität abgesprochen. Zu solcher Legitimation sollte auch dem Theologen heute der H i nweis auf das "Zeitalter der Glauhenskämpfc" genügen, auf die Marquard denn
127 a u c h d e u t l i c h , w e n n a u c h nur beiläufig anspielt. Doch ändert die Legitimität der Neuzeit wiederum nichts an der Tatsache. daß das Pathos der Emanzipation dazu \'erführen konnte, die bleibende Bedeutung der religiösen Vorgabe zu unterschätzen - und zwar auf allen Lebensgebieten. I nsofern damit. über alle kulturgeschichtliche Reflexion hinaus, die Frage nach der religiösen Wahrheit selber verbunden ist. wird man bei aller Neigung zu Marquard gemildertem Verbindl ichkeitsbegriff auch nicht gänz lich von der Frage absehen können, von welcher Versöhnung des malum denn nun eigentlich die erstaunliche Zuversicht der Menschen verschiedenster Zeiten und Kulturen zehn, die trotz des malum dieser Welt nicht nur die Hoffnung auf das bonum nicht aufgibt, sondern geradezu das malum als den Weg zu diesem Ziel auf sich nimmt. Pluralisierende Hermeneutik braucht nicht schon aufgegeben zu sein, wo jemand auch diese Frage noch zu stellen sich erlaubt, die von der christlichen Versöhnungsbouchaft nicht nur beantwortet, sondern in d ieser Schärfe wohl selber erst hervorgebracht worden ist. Auch d iese Versöh nungsbotschaft selber und die Geschichte, von der sie erzählt, haben ja A nlaß gegeben zu vielfältiger Auslegung und Rezeption. Sie stehen darin wahrhaftig nicht z u rück hinter der Paradiesesge schichte der Genesis. H ier mag denn auch jene besondere Form hermeneutischer I nversion ihren Ort haben, die Odo Marquard an Gal. 2, 20 beobachtet : " Ich lebe, aber nun nicht ich, sondern Christus lebt in m i r . " Ein verallgemeinerungsfähiges Beispiel hermeneutischer I nversion gibt dieser paulinische Satz allerdings nicht ohne weiteres her. Daß der interpretierte Text mich, den I nterpreten, interpretiert, braucht doch. bitte, nicht überall gleich die radikale Form anzunehmen. daß der Text seiher und sein Thema zum eigentlichen Subjekt meines Tuns werden. Nicht von jedem Text und Thema möchte man derart vereinnahmt werden. Ob es nicht auch harmlosere Formen hermeneutischer I nversion gibt? I ch jedenfalls möchte an dieser Stelle gern für mehr Pluralität pläd ieren.
Il Z U R J U R I STI S C H E N H E R M E N E UTI K
M A N F R E D FUHRMANN E I N L E ITU N G
D i e Auswahl eines f ü r inlerdisziplinäre Bemühungen geeignelen Beispiels w a r i m Falle d e r ju ristischen H e rmeneutik besonders schwierig. E i n Analogon z u m Gene· sis· und zum Valchy ·Text häne in einer gesetzlichen Norm oder einem I n begriff von Normen bestande n ; es w ä re dann Sache der BeteiligIen gewesen, an Hand von Fällen die Breite der Auslegungsmöglichkeiten, der diese Norm offensteht. sowie eine rei che Vielfalt methodischer Oberlegungen vorzuführen. Außerdem häne sich wohl zum indesl der J u rist e i n Beispiel gewünscht, das für sein Tun repräsentativ in. das seine al ltägl ichen I n lerpretationsprobleme zu erläutern vermag - nicht irgend etwas Ausgefallenes, den G renzbereichen seiner Praxis Zugehöriges. Diese beiden Maximen hänen indes, wären sie rigoros befolgl worden, das inler disz iplinäre Gespräch gefährdet. Für den N icht·Juristen haben d i e abstrakten Vor schriften der Gesetze im allgemeinen einen wenig präzisen Sinn, und ihm fehh die argumentative Tech nik, d e ren man bedarf, wenn man einen gegebenen Fall auf eine gegebene Norm beziehen will. Diese Arbeit - das Geschäh der Subsumtion - mußle also bereits geleistet sein; led iglich ein schon von den Gerichten ausgiebig diskutier tes Problem schien auch dem j u ristischen Laien h inlänglich Anhaltspunkte für her· meneulische Reflexionen zu bielen. So ergab d i e Suche nach einem geeigneten Bei spiel, daß n u r ein Fall in Beuacht komme. für den veröffentlichle G erichtsentschei dungen zu G ebote stünden: lediglich e i n Ensemble von Norm, Fall und Entschei· dungs begründungen sei eine ausreichende G rundlage für e i n inlerdisziplinäres Ge spräch. Außerdem erwies sich ein 'banaler' Fall, wie er das tägliche Brot des J u rinen ausmacht - z. B . hermeneulische Probleme im Bereich der Vertragsau slegung, des Schadensersatzrechts usw. -, als zu spröde und unscheinbar. einen angemessenen Bezugspunkl für Betrachtungen jenseils der Fakultätsgrenzen abzugeben. Eine pro grammalische Norm von grundsälzl icher Bedeulung und e i n Streit u m ein elemenla res Rechtsgut schienen eher dazu angetan, das erw ünschle Ziel zu erreichen. und so fiel denn die Wahl auf einen Fall. in dem es um die Freiheit der Kunst. um die Freiheit der Meinu ngsäußerung und um den Schutz der Persönl ichkeil geht : auf den sogenannten ' M ephino··Fa l l . Der Jurist mag bedauern. daß sich das Gespräch hier mit auf ein Terrain begeben hat. das aus seiner Perspektive ein Randgebiet darstellt. Offenbar war dies der Preis, der gezahlt werden mußlc; offenbar sind Rechtspro. bleme, die sich zu komm unikativen Zwecken eignen. nur in 'Randgebieten' zu ha· ben: die Rechtsfälle, die in die Literatur eingegangen sind. scheinen d i ese Annahme zu bestät igen.
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D a s Substrat des 'Mcphisto'- F a l l e s hat bewirkt, d a ß die Problematik ' Kunst in d e r Rechtsprechung' d e n Generalnenner fast a l l e r Beiträge ausmacht und daß sie a l s vornehmster Prüfstein dessen d i e n t , w a s an juristischer Hermeneutik z u r Sprache kommt. Zur Einführung in den Fall sei der Leser auf Oeningers Beitrag " K unst ist als Kunst nicht justitiabcl" verwiesen ; dort steht ein ausführliches Resümee des Sachverhalts sowie der A rgumente. die von den Parteien und Gerichten vo rgebracht wurden, im M ittelpunkt der Betrachtung. Dcr Beitrag des Ju risten Krielc deckt das innere Getriebe der juristischen Behand lung des Falles auf; die Beiträge des Theolo gen Pannenherg sowie der Philologen Oeninger und Schläger befassen sich vor allem mit dem außerjuristischen H orizont der Kunstproblematik, mit meist unreflektier ten Interpretationsvoraussetzungen, die du rch die (christliche, l iberale, idealist ische) Trad ition bedingt sind. Lediglich die weit ausgreifenden, weder "trivialen" noch durchweg "aporetischen" überlegungen des Rechtshistorikers Nörr haben sich gän z l ich vom ' Mephisto'- Fall und von der Kunstproblematik gelöst . Pannenberg erörtert d i e (religiöse) Herkunft u n d Bedeutung d e r fundamentalen Kategorien, die sich am Anfang des G rundgesetzes finden ; er begi nnt mit der Trias "Verantwonung vor Gon und den Menschen" (Präambel), " Menschenwürde" (Art. l ) und "Sittengesetz " (Art . 2). Er bestimmt sie als Normbegriffe. die der Ge setzgebung und Rechtsprechung vorgegeben seien, und legt dar, daß, wer sie anwen den wolle. zweier Schwierigkeiten Herr werden müsse: es gelte einmal, die Bedeu tung dieser Kategorien zu verallgemeinern, d . h . eine Substanz ausfindig z u machen, die nicht dem Streit der Richtungen und G ruppen ausgesetzt sei ; es gehe zum anderen. die notwendi g unbestimmten Inhalte für die je anstehenden Entscheidun gen zu konkretisieren - h ierfür seien Staat und Gesellschaft auf die Präsenz der Religion und ihrer Einrichtungen angewiesen. Der Theologe argumentiert pro domo? Gewiß - weil ihn die Verfassung dazu auffordert. Ihre geschichtlich bedingte (HitIer) 'altmodische' Ausdrucksweise wird nicht beiseite geschoben (wozu der Ju rist neigen könnte) und nicht belächelt oder verhöhnt, mndern beim Wort genom men : bei einem Gesetz ein mindestens zulässiges Verfahren. Pannenberg erweitert die erwähnte Trias um den Freiheitsbegriff; er zeigt, daß sich aus allem ein bruchloses Ganzes ergibt, sofern man bereit ist, die Bindungen der Freiheit (Art . 2 ) im christlichen Sinne als konstitutive Merkmale der Freiheit selber zu verstehen. Hier macht freilich die Verfassung nicht vorbehaltlos m i t : ihre Aus drucksweise läßt die Bindungen der Freiheit als Schranken erscheinen, welche die freie Entfaltung der Persönl ichkeit von außen begrenzen - sie ergibt somit kein i n s i c h geschlossenes Menschenbild ; vielmehr stehen d o r t soziale u n d ind i\'id ualistische Komponenten in deutlicher Spannung zueinander. Anders freilich die Rechtspre chung (Pannenberg geht jetzt zum ersten Male auf den ' Mephisto'-Fall ein) : sie sucht diese Spannung durch eine harmonisierende Auslegung zu überspielen. Der letzte Schritt : Pannenberg prüft die vom Grundgesetz verbürgte " Freiheit der Kunst" (An. S). Hier zeigt sich eine besonders vertrackte Lage. Kunst und Wissen schaft genießen eine unbeschränkte Freiheit - die einzige Instanz jedoch, die dieses
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Priv i l e g zu rech tfert igen vermöchte, die Bindung an die Wahrheit, wird nicht er wähnt. Ferner: was Kunst sei, bleibt unbestimmt - folglich weichen die Gerichte aus, und man z ieht es vor, Probleme, wie sie der 'Mephisto'-Fall aufwirft, unter dem Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit zu erörtern. Pannenberg deutet an, daß auch in diesem Bereich die christl iche Tradition den richtigen Weg weisen könnte : wie die Freiheit der Person, so bedürfe auch die Freiheit der Kunst einer jedem Bel ieben vorgeordneten B i ndung - was dort die Menschenwürde und das Sittengesetz bedeu teten, das bedeute hier die Wahrheit. K ricle verwendet den ' M ephisto' - Fall als Beispiel für die juristische Auslegungs praxis, wie sie oft ist und wie sie seiner Meinung nach sein sollte. Hier die Schritte der einleitenden A rgumentatio n : jede richterliche Entscheidung stelle Verbindlich keit her; sie gründe sich fast stets auf applikative Hermeneutik im Sinne Marquards, da ' l ückenhafte' und somit der Appl ikation bedürftige Gesetze die Regel, nicht die Ausnahme seien; sie schlichte nicht nur den konkreten Einzelfall, sondern auch unbestimmt ...·iele künftige Fälle, sei also ein Präjudiz - folglich müsse jedes Gericht die präjudiziellen Folgen seines Urteils m itbedenken. Das ' M ephisto'-Urteil des Bundesverfassungsgerichts erweist sich unter dem Ge sichtspunkt möglicher präiudil.ieller Wirkungen als durchweg unzulänglich : Kriele zeigt, wohin es führt (oder führen müßte), wenn man - wie das Verfassungsgericht annimmt, die Freiheit der Kunst werde allenfalls durch andere Verfassu ngsgrund sätze. jedoch nie du rch Vorschriften gewöhnlicher Gesetze eingeschränkt, und wenn man weiterhin annimmt. ein Konflikt zwischen der Menschenwürde (einem hieraus abgeleiteten Persönlichkeitsrecht) und der Kunstfreiheit lasse sich stets nur auf Grund der je verschiedenen Umstände des Einzelfalles lösen. Kricles Lehre vom Präjud iz. von der "Prä;udizienvermutung" (Präjudizien sind verbind l i c h , es sei denn, sie würden mit G ründen für falsch oder für überho l t er klärt). läuft darauf hinaus, daß die juristische, der Gesetzesanwendung d ienende Hcrmcn ... utik nicht ' Fälle lösen', sondern Normen für Fallgruppen hervorbringen 0;01 1 ; sit" darf nicht zu s("hr individual isieren, sondern muß - um der Rechtssicherheit willen - zu generalisierbaren Ergebnissen gelangen. Was Pannen berg neben andL'rem erörtert und Kricle gestreift haue, rücken Oettin gers Beit räge " K unst ist als Kunst nicht justitiabel" und " K unst ohne Schranken?" in den M i ttelpunk t : daß der Begriff ' Kunst' im Recht kaum mehr ist als eine Etikette ohne Inhalt, als eine Gelegenheit für Deklamationen. Genauer: die Verfassung dekla miert über Kunst, und die Rechtsprechung weicht ihr aus, und beides läßt sich vor allem darauf z urückführen, daß Legislative und J ustiz noch stets am idealist ischen Kunstbegriff des bürgerlichen Zeitalters haften. an der Vorstellung, daß die Kunst, die Schöpferin einer höheren W i rklichkeit jenseits des banalen A lltags. autonom sei. Diese A u ffassung - fährt Oettinger fort. nachdem er sie am Beispiel der Schillerschen Ästhetik erläutert hat - könne gegenwärtig keine al lgemeine Verbindlichkeit mehr beanspruchen : ein unbeschränkt gültiger Kunstbegriff sei nicht mehr vorhanden, eine inhaltliche Bestimmung der Kunst nicht mehr möglich.
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Oeninger erklärt daher d i e privilegiene Stellung, d i e das Grund gesetz der Kunst zubilligt, für ein überbleibsel aus einem vergangenen Zeitalter: er fordert die Strei· chung des Kunstprivilegs. Denn nur der Anspruch auf eine Wahrheit von unge wöhnlicher Autorität vermöge dieses Privileg zu rechtfertigen ; ein solcher Anspruch aber lasse sich heutzutage nicht mehr begründen. H iermit ist Pannen bergs Frage nach der Öffentlichkeit und Verbindlichkeit der Kunst. deren besonderer Freiheit eine besondere Bindung an die Wahrheit entsprechen müsse, negativ beantwortet anscheinend zu Recht. Mit der Streichung des Ku nstprivilegs sollte man sich gleich wohl Zeit lasse n : Adressaten des Grund gesetzes sind nicht nur die Gerichte, sondern auch der Gesetzgeber, alle Bürger, das Ausland, künftige Generatione n ; wenn irgend etwas, dann darf und soll eine Verfassung ein wenig Staatstradition verkörpern, wozu auch ' überholte' Spuren ihrer Entstehungsbed ingungen (in d iesem Falle: die Kontrastfolie national-sozialistischer Kunstpol itik) gehören können. Oeningers kühne Haupnhese hat denn auch zwei kleinere Beiträge hervorgerufen, die Vorbehalte gehend machen. Der Philologe Haverkamp weist mit Recht darauf hin, daß das G rundgesetz auch sonst auf idealistischen Prämissen beruhe (man ver gleiche hierzu die Darlegungen Pannenbergs ) ; e r gibt zu bedenken. o b nicht die Einbeziehung der - von der bisherigen Rechtsprax is vernachlässigten - wirkungs ästhetischen Dimension zu angemesseneren Ergebnissen führen könne. Der Jurist Liebs bringt Beispiele für den Begriff ' Kunst' in Rechtsnor m e n ; Kunst sei demnach bemerkt er, Oeninger w idersprechend - durchaus justitiabel. So sehr dieser E i nwand in einem vordergründig-pragmatischen Sinne zutrifft, so wenig scheint er die zwie spält ige Haltung zu erklären, wie sie die bisherige Rechtsprechung dem emphati schen Kunstbegriff des Grund gesetzes gegenüber an den Tag gelegt hat. Wenn es u m Kunstwerke geht, dann räsoniert der J u rist gern über Meinungsfrei heit: so Pannenberg; wenn es um Pornographie geht, dann räsoniert er gern über Kunst : so Schläger im fünften, der gegenwärtigen Rechtslage gehenden Abschnin seiner Darlegungen. Der Jurist scheint also stets den locus minoris resistentiae zu suchen - die Meinungsfreiheit widersetzt sich ihm weniger als K u nst, die Kunst weniger als Pornographie. Was Schläger i n den vorausgehenden Abschnitten über die Geschichte der Zensur des Obszönen beibringt (er beschränkt sich hierbei auf die englische Praxis vom Beginn des 1 8 . Jahrhunderts bis zur Gegenwart) ist d u rchaus geeignet, das Verhalten des heutigen J uristen wenn nicht zu rechtfertigen, so doch zu entschuldigen : die bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts an Heftigkeit zu nehmen den Versuche, die literarische Obszönität mit H ilfe der Rechtsprech ung ein zudäm men, stellen sich dem jetzigen Betrachter kaum anders dar als eine Folge von W i l l kürakten, ausgeführt an einem untaugl ichen Objekt und m i t untauglichen Mitteln. Das Verhalten des heutigen J u risten ist also entschu ldigt - gerechtfertigt wäre es nach Schlägers Meinung erst, wenn die Freigabe pornographischl'r E rzeugnisse unter keinen U mständen mehr mit einem idealistischen Ku nstbl'griH (vergleichl' Oeninger) drapiert würde. Sch läger beruft sich hierfü r auf d i e Notwendigkeit gene ralisierbarcr U rteile (vert;leiche Kriele) - eben dieser Notwendigkeit könne die
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Rechtsprech ung bei der Zensur li terarischer Obszönität unter keinen U mständen genügen. An Schlägers Abhandlung " Hermeneutique dans le boudoir" läßt sich der drine Beitrag anschließen, den Oeninger beigesteuert hat: " Kunstverstand - Sachver stand " ; es geht auch dort u m das Verhältnis von Kunst, Pornographie und Recht sprechung. Aus seiner These vom U n tergang eines allgemeinverbindlichen Kunstbe griffs folgert Oeninger dieses Mal, daß auch der Kunstexperte der Vergangenheit angehöre. H i n gegen könne ein "Test-Experte" den Gerichten bei der Beurteilung literarischer Produkte wichtige Dienste leisten, da er deren W i rkungsintentionen zu besch reiben vermöge. Oeninger bringt nunmehr den Fall des Romans Die Memoiren der Fanny Hili ins Spiel; d ieses (erotische oder vielmehr pornographische) Werk sei sch ließlich von der höchsten I n stanz freigegeben worden - in der Sache zu Recht, jedoch mit unzulänglicher, die e i gentlichen W i rkungsabsichten des Textes verken nender Begründung. Oeninger führt sodann in einer kurzen A nalyse vor, welche Botschaft der Roman in Wahrheit enthalte : er sei ein Plädoyer für den schrankenlo sen Genuß s i nnlicher Lust. Schließlich der Beitrag von Nörr: er entfernt sich, wie bemerkt, nicht nur vom ' Mephisto'-Fall, sondern auch von der Kunstproblematik - um sich desto entschie dener grundsätzlichen Fragen der Rechtshermeneutik zuzuwenden. Es geht dabei mit einem WOrt - um U rsprungsbedingungen und Voraussetzungen sowohl der jetzt gängigen als auch denkbarer anderer Hermeneutiken; dieser Rekurs auf ein im allge meinen wenig oder gar nicht beachtetes Umfeld (übrigens kein unbegrenzt kulturel les, sondern ein durchaus auf das Recht, auf die Rechtsordnung und die Rechtspraxis beschränktes U m feld) vermag wohl gerade dem j uristischen Laien zu Einsichten in der Frage zu verhelfen, warum die Rechtshermeneutik so beschaffen ist, wie sie ist, und nicht anders. I m ersten Abschnin dient das verhältnismäßig altertümliche römische Recht als Kontrastfolie der modernen Gegebenheite n : Nörr zeigt, daß eine Rechtsordnung desto weniger auf hermeneutische Rege l n und Techniken angewiesen ist, je mehr sie auf ungeschriebenen Normen oder auf Kasuistik beruht und je mehr sie sich durch Autorität - stau d u rch Rationalität - legitimiert. Die jetzt gängige Rechtshermeneu tik erscheint so als dreifach bedingt : d u rch Texte, durch den ' Kontext' des Rechtssy stems und d u rch den (rational begründeten) Wahrheits- oder Richtigkeitsanspruch. Der zweite Abschnin befaßt sich mit dem Verhältnis der Rechtshermeneutik zu möglichen A d ressaten und Textarten : die jetzt gängige Hermeneutik ist vor allem auf die E ntscheidungsinstanz, den Richter, zugeschnitten, weniger auf die Parteien und die öffent liche Verwaltung, und was die Textarten angeht, so pflegt sie wenig zu berücksichtigen, daß es außer Gesetzen und Verträgen noch andere Rechtstexte (wie 7. . B. die 'narrativen' Protokolle) gibt - kur�, die Rechtshermeneutik läßt in dem einen wie dem anderen Bereich t raditionshedingte Schranken und perspektivische Fixierungen erkennen. Es bleibt anzumerken, daß sich der ' Mephisto'-Fall auch hätte behandeln lassen,
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als wäre er e i n literarisches, e i n fiktionales Erzeugnis. I rgendein Autor hat sich den Fall seihst und die Urteile nehst den abweichenden Meinungen einzelner Richter ausgedacht: schon ist das Ganze i n die Perspektive der literarischen H e rmeneutik gerückt. Die Parteien und die Richter verwande l n sich dann in Figuren des Autors, und alles, was sie tun, erhält symbolische Bedeutung. Nicht allein der Gegenstand verbindet die Texte z u r Einheit, sondern auch die Frage. was der Autor mit ihnen gewollt hat, mit den Teilen wie m i t dem Ganzen. Und was die richtige, die ju ristische Betrachtungsweise als sachliche Kritik gegen die U rteile einwendet, das wäre wohl i n l iterarischer Perspektive oder v i e l m e h r B rechung a l s Absicht, a l s Tendenz d e s A u t o r s zum Vorschein geko m m e n : der ' M ephisto'- Fall a l s Parad igma für etwas Allge meines. z . B . f ü r eine Justiz. die scheinhe i l i g m i t großen Worten unliebsame Meinun gen unterdrückt, oder f ü r etwas ganz anderes. Die Texte gewännen also plötzlich eine ganze D i mension der Offenheit. die Suche nach der Intention des A u tors, hinzu : erst die Lösung d ieses Problems - inklusive der Möglichkeit. seine U nlösbarke i t z u beweisen - schlösse das Geschäft des literari schen Hermeneuten ab. Eine derartige 'dysfunktionale' I n terpretation des 'Meph i sto'- Falles w ä r e freilich allenfalls geeignet. d a s I nstrumentarium d e r l iterarischen Hermeneutik z u verdeutlichen ; ob sie auch A ufsch lüsse über die juristische Herme neutik gäbe. mag mehr als zweifelhaft sein.
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ü B E R MENSCH ENWüR D E , PERSON L I C H E F R E I H EIT U N D F R E I H E IT D E R K U N ST - T H E O L O G I S C H E E R W Ä G U N G E N A U S A N L A S S D E S F A L L E S ' M E P H I ST O '
E i n theologischer Kommentar zu einem konkreten Rechtsfall könnte a u f e i n e moral theologische Uneilsbildung über d iesen Fall zielen und die dabei hervortretenden U nterschiede zwischen Rechtsprechung und moralischer (oder moraltheologischer) Uneilsbildung beleuchten. Eine deranige Betrachtung des Falles ' M ephisto' müßte sich einerseits auf die Geltung des achten G ebotes auch f ü r den Künstler e inlassen und andererseits die Möglichkeit einer Funktion prophetischer Sozialkritik in der Kunst berücksichtigen. wobei das theologische Problem darin läge. ob von propheti scher Kritik auch da gesprochen werden kann. wo sie nicht i m Namen des biblischen Gones erfolgt, sondern in säkularer Form, die schon dadurch gegeben ist, daß der Prophet im Gewande des Schriftstellers auftritt. I n einer solchen Betrachtung wür den anstelle der geltenden Rechtsnormen theologische Normen ( 8 . Gebot) und Sche mata (Prophet) zur Charakteristik der Geschichte des Falles eingesetzt. Resultieren würden übereinstimmungen und Kontraste zweier Besch reibungen des Falles. Un gelöst bliebe dabei die weitergehende Aufgabe, das Verhältnis des j u ristischen und des theologischen Bezugsrahmens solcher Besch reibungen selber z u thematisieren. Dabei handelt es sich nicht einfach um den Vergleich zweier verschiedener Normen systeme. Zwar werden auch im religiösen Leben Normen ausgebildet, Normen nicht nur des Verhaltens, sondern auch des Glaubens und seiner überl ieferung. Doch ist alles Normati,,·e nur abgeleitetes Moment im Leben der Religion. Die religiöse Er fahrung ist nicht primär Normbewußtsein. sondern Erfahrung einer ursprüngliche ren, eben 'göttlichen' Wirklichkeit. An dieser Stelle ist der Ort der tiefsten Differenz zwischen theologischer und juristischer Hermeneutik zu vermuten. Diese Differenz in der A n des Bezugsrahmens ermöglicht es aber auch. Unterschiede der j u ristischen Normensprache von der Sprache der Theologie als etwas anderes anzusehen denn als gegensät z l iche Besetzungen derselben Funktion. Gerade wegen der D i fferenz des Bezugsrahmens können sich in untersch iedlichen Formul ierungen tiefere Gemein samkeiten bekunden. Theologische Reflexion wird hinter die f ü r den J uristen maßgebenden ' Wenent scheidungen des Verfassungsgebers' z u rückgehen auf deren geschichtlichen Begrün dungsz usammenhang. Die Legitimation dazu ergibt sich aus d e r Sprache der Verfas sungstexte selber. Das leitende I nteresse einer solchen Interpretation richtet sich einerseits auf die von der Verfassung ausdrücklich beanspruchte Legitimation der Verfassungsnormen. andererseits darauf, das an den Grundrechten der Verfassung
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orientierte N o rmhewußtsein in den Zusammenhang des hcilsgcsch ichdichcn Be wußtseins einzuholen. D ieses letztere, spezifisch theologische I nteresse kann heute nicht mehr d u rch u n m i ttelbare ' Applikation' von Schriftaussagen oder kirchlichen Dogmen auf die Rechtsnormen oder auf die d u rch sie geregelte Rechtswirklichkeit befriedigt werden, weil solche Applikation der A l l gemeingültigkeit enthehren müßte. die den Rechtsnormen selber zukommt. Diese stehen von sich aus i n einer eigentümlich gebrochenen Beziehung z u r religiösen überlieferung auch dann, wenn man den Grundrechtskatalog des deutschen G ru ndgesetzes i m Zusammenhang mit seiner Präambel liest. Die Eigenart d ieser gebrochenen Beziehung z u e rfassen und i n ihrer Bedeutung z u würdigen, in eine erste A u fgabe i h rer theologischen I n terpreta tion. Die folgenden Ausfüh rungen sollen sich darum bemühen, wenigstens die A n satzpunkte e i n e r solchen I n terpretation freizulegen.
11 Das deutsche Grundgesetz betrachtet Art. 1 Abs. 1 die " W ürde des Menschen" als der Gesetzgebung und auch der Verfassung vorgegeben . Gerade darum kann sie als " unantastbar" bezeichnet werden. Worin die Menschenwürde besteht, w ird nicht gesagt. Doch legt die Präambel nahe, daß die " Verantwortung vor Gott und den Menschen" als Ort dieser Vorgegebenheit und U nantastbarkeit der Menschenwürde für menschliche Rechtsetzung und Rechtsprechu n g zu verstehen ist. Man kann dane ben auch an das "Sinengesetz" denken, d u rch das die Ausübung der aus der Men schenwürde begründeten (Art. t Abs. 2: "darum") Freiheitsrechte ebenso wie d u rch die Verfassu n g selber begrenzt sein soll ( A rt. 2 , t ). Auch das S inengesetz erscheint als eine der Rechtsetzung der Verfassung vorgegebene Größe. deren Vorgegebenheit ebenso wie die der Menschenwürde auf die Dimension der "Verantwortung vor Gon und den Menschen" z urückweist. Die mit der unverminelten Einführung des Begriffs der Menschenwürde verbun dene Schwierigkeit wird d u rch die Besinnung auf seinen Kontext i m G r undgesetz allerdings nicht behoben. sondern eher noch verschärft. Denn auch die Form e l n " Verantwortung vor Gon und den Menschen" und "das Sinengesetz" entbehren d e r inhaltl ichen Bestimmtheit. I m H inblick auf "das Sinengesetz" k ö n n t e der Singular den Gedanken an die Moralphilosophie Kants nahelegen. Es könnte aber auch das Naturrecht oder das christliche Sittengesetz gemeint sein. Wie ist d i e eigentümliche U n bestimmtheit solcher allgemein gehaltenen Formulierungen zu verstehen? Spricht aus ihr eine bewußte Zurückhaltung des Verfassungsgebers in dem Sinne. daß d ieser die genauere Auslegung solcher Begriffe dem jeweiligen Zeitgeschmack überlassen wollte? Eine derartige I nterpretation w ü rde doch wohl d i e Intention der Verfassu n g verfehlen. übergesetzliche Maßstäbe des Rechts zu benennen. Fragt man i n dieser Richtung weiter, so geht j uristische Hermeneutik in theologi sche Hermeneutik über. Das wäre auch dann der Fall. wenn der Verfassungstext sich
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nicht ausdrücklich auf eine Verantwonung vor GOtt beriefe. Es w ü rde genügen, daß er sich auf dem Verfassungsgeber vorgegebene Normen bezieht. Was der Begriff " M enschenw ürde" im Text des deutschen Grundgesetzes bedeutet, das ist eine Frage, die nicht ohne den Beitrag des Kulturh i storikers und wohl auch nicht ohne den des Theologen beantwortet werden kann. Dabei werden kultu rgeschichtliche und theologische I nterpretation d ieses Begriffs dann konvergieren, wenn der Kultur historiker sich der Verwurzelung menschlicher K u l t u r in religiösen Erfahrungen nicht verschließt und wenn der Theologe sich von einem unvermittelt apodiktischen Geltendmachen angeblicher Offenbarungswahrheiten zurückhält und sich die Diszi plin auferlegt. das religiöse Bewußtsein in seiner Vennittlung d u rch seine geschicht liche Welt und i h re Veränd erungen zu thematisieren. Die kulturh istorische ebenso wie die theologische I nterpretation des Begriffs der Menschenwürde w i rd unter solchen Voraussetz u n gen auf die Verbindung zw ischen naturrechtlichem Denken. wie es in der goldenen Regel oder i n dem Gebot " neminem laede" seinen A u sdruck gefunden hat, und dem bibl ischen Gedanken der G ottebenbildlichkeit des Menschen stoßen, der schon i n dem alten israelitischen Rechtssatz Gen. 9,6 z u r Grund lage für die U nantastbarkeit menschlichen Lebens f ü r den Menschen geworden ist : "Wer Menschenblut vergießt. des Blut soll auch d u rch Menschen vergossen werd e n ; denn Gott hat den Menschen nach seinem Bilde gemacht " . Die Unantastbarkeit des Got tesbildes führt z u m Gedanken der U nantastbarkeit des menschlichen Lebens . I n einer christlichen Sicht w i rd freilich die in seiner Bestimmung zu G ottes Ebenbild begründete Würde und U nantastbarkeit des Menschen nicht so u n mittelbar als Legi timation der Todesstrafe d ienen können. w i e das i n dem zitierten Text der Fall ist. Hat doch der Christ in jedem Falle i m andern Menschen den Bruder zu erkennen "für den Christus gestorben ist" (Röm. 1 4. 1 5 ; 1. Kor. 8 . 1 1 ). Der Zusammenhang zwischen todeswürdiger Tat und Todesfolge ist d u rch das stellvertretende Sterben Jesu unterbrochen. jedenfalls i n Frage gestel l t . Doch gerade die i n Jesu Botschaft und Geschichte offenbare Liebe Goues z u m Sünder bestätigt und vollendet andererseits die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, d i e das Alte Te'5tament in seiner gottebenbild lichen Bestimmung begründet sah. Der J urist w i rd sich solche theologische Begründung der überzeugung von der unantastbaren Würde des Menschen nicht ohne weiteres als j u ristisches Argument zu eigen machen wollen. Auch der Gesetzgeber kann die religiös-kulturelle überlie ferung n u r in dem Maße als d i e Rechtsprechung nonn ierende I n stanz gelten lassen, in welchem der Inhah dieser überlieferung verallgemeinerungsfiihig ist. Darum wohl spricht Art. 2 Abs. l des G r undgesetzes so vage von dem " Sinengesetz", ohne diesen Begriff inhaltlich zu füllen : E s kann dabei nicht einfach die christliche Ethik in einer ihrer konfessionellen Ausprägungen gemeint sein, aber auch nicht die kantische Vernunftethik oder die eine oder andere G estalt des Naturrechts. Die Bezugnahme auf "das Sinengeset 7. " erscheint als ein i n der Sprache des Gesetzgebers notwendi gerweisC' unbestimmter H i nweis auf das i n allen d iesen und anderen Ausprägungen sich bekundende sittliche Bewußtsein. i n der - vielleicht gewagten - Annahme eines
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gemeinsamen Kernes der unterschiedlichen sittl ichen Auffassungen. Auch die Präambel geht mit ih rem Bekenntnis zur " Verantwortung vor Gon und den Men� sehen" nur scheinbar weiter: Die Berufung auf Gon wirkt eigentümlich blaß, sie hat keinen konfessionellen und nicht einmal eindeutig christlichen Charakter. Sie kann zwar in solchem Sinne verstanden werden. aber ebenso im Sinne eines deistischen Gottesgedankens. Vor allem aber ist das Bekenntnis zur VerantwortunK vor Gon durch die Verbindung mit der Verantwortung vor den Menschen nicht nur konkreti siert und akzentuiert. sondern auch eingesch ränk t : Die Verantwortung vor Gott ist für den Gesetzgeber offenbar nur insoweit maßgebend, als sie zugleich Verantwor· tung vor den Menschen bedeutet, also humane Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. Wenn also die religiös· kulturellen Wurzeln des Begriffs der "Menschenwürde" für das Recht nur insoweit maßgeblich sein können, wie sie verallgemeinerungsfähig sind, und wenn daraus in der Situation der Neuzeit nach der Privatisierung konfes· sioneller und religiöser Differenzen jene eigentümliche Vagheit religiöser und ethi· scher Bezugnahmen im Verlassungstext verständlich wird, so umschließt dieser Sachverhalt doch eine Aporie : Wie können jene religiösen oder ethischen Orientie· rungspunkte in Anbetracht solcher Unbestimmtheit noch als der Gesetzgebung und Rechtsprechung vorgegebene Normen zur Geltung gebracht werden, wie es doch offenbar das Interesse des Grundgesetzes ist? Ist der Inhalt diese!' Normbegriffe nicht vielmehr wegen seiner Unbestimmtheit dem sich wandelnden Zeitgeist gänz· lich ausgeliefert, i n Widerspruch zur Absicht des Gesetzgebers, der unter dem Ein druck der Erfahrungen des Naziregimes eine Bindung an vorpositive Normen ge· wollt hat? Die Unbestimmtheit ihrer Formu l ierung steht nicht nur einer christlichen oder säkular naturrechtlichen, einer kantianischen oder material wertethischen, einer l iberalen oder rad ikaldemokratisch-egalitären Auslegung offen, sondern bedarf auch in der Anwendung der einen oder anderen Form solcher Konkretisierung. Da sie vom Gesetzgeber nicht vorgezeichnet ist, wird sie der Rechtsprechung überlassen bleiben. Sie wird mehr oder weniger dem jeweiligen allgemeinen Zustand des sitt· l ichen Bewußtseins entsprechen. I nsofern bleibt das Bemühen der Verfassung u m Orientierung an vorpositiven Rechtsgrundsätzen angewiesen auf die W irksamkeit derjenigen Einrichtungen im gesellschaftlichen Leben, die der Bildung des religiösen und moralischen Bewußtseins gewidmet sind. Die heiden Themen Religion und Moralität gehören deshalb zusammen, weil die Vorgegebenheit sittlicher Normen vor dem Belieben des wertenden Bewußtseins in der Religion oder ihren Su rrogaten verankert zu werden pflegt. Darin dürlte denn auch trotz aller neuzeitlichen Bemü h ungen um die Autonomie des moralischen Bewußtseins ein WesenSi'.usammenhang zwischen Religion und sittlicher Gesinnung zum Ausdruck kommen, u nbeschadet der spezifisch neuzeitlichen Problematik der A l lgemeinheit des Sittl ichen gegenüber der Parti kularität des religiösen Bekenntnisses : I ndem diese besondere Prob leml age für uns schon wieder Vergangenheit wird, stellt sich der fundamentalere Sachverhalt im Verhältnis von Religion und Sittl ichkeit wieder her, eben d i e Angewiesenheit der
M F.NSCHF.NW' Ü R D E . pt: R SÖNI.ICHE FREIH EIT UND FRF.IHEJT DER KUNST
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sittlichen Normen a u f religiöse Sanktion f ü r d i e Unbedingtheit ihres Gebietens. Die religiösen I nstitutionen sind allerdings ihrerseits kein in jeder H i nsicht zuverlässiger Anwalt des der Beliebigkeit menschlicher Wertung vorgegebenen Begründungszu sammenhangs des moralischen Bewußtseins. Sie sind durch ihr Bemühen um die allgemeine Wahrheit der religiösen überlieferung - oberflächlich gesehen um ihre ' Relevanz' - den wechselnden Tendenzen des Zeitgeistes ebenfalls ausgesetzt. Unter dem Zwang der Verpflichtung zur Rechtsgleichheit wird sich d i e Rechtsprechung häufig konservativer darstellen als so manche Predigt und Theologie. Dennoch ist das Rechtsleben für seine Orientierung an vorpositiven Verfassungsnormen und Rechtsgrundsätzen und für ihre Konkretisierung in der Rechtsprechung auf die Wirksamkeit der Religion im gesellschaftlichen Leben angewiesen, indem diese das Equilibrium des sittlichen Bewußtseins der Gesellschaft beeinflußt und damit auf die Rechtsanwendung so z u rückwirkt, daß diese fortfahren kann, sich an Normen zu orientieren, d i e als aller Rechtsetzung, aber auch den j eweiligen Zeitströmungen vorgegeben vorausgesetzt werden. I n diesem Zusammenhang hat dann auch theolo gische Interpretation und Kritik solcher Rechtsnormen und ihrer Anwendung ihren Ort und i h re mögliche Bedeutung.
III Seine konkrete u n d rechtlich relevante Ausformung erfährt d e r Begriff d e r Men schenwürde im deutschen Grundgesetz durch die darauf begründeten Freiheits rechte. Dieser Begründungszusammenhang (Art. I Abs . 2 : "darum") ist zu beachten, weil er zum A u sdruck bringt. daß die im folgenden aufgezählten G rundrechte ihrer seits eine tiefere Begründung \'oraussetzen und ihrer also wohl auch bedürftig sind : Sie sind nicht ei nfach aus sich evident. ohne Rückgriff auf den Gedanken der Men schenw ürde. Das Freiheitsverständnis des G rundgesetzes erweist sich darin als diffe renzierter als das des kl assischen Liberalismus. Ist der Freiheitsbegriff in dem der Menschenwürde verankert. so w ird er anderer seits an "das Sittengesetz" gebunden (Art . 2 Abs. 1 ). Die weitere Bestimmung. daß die Entfaltung der Freiheit "nicht die Rechte anderer" verletzen darf. kann als in den Umkreis der Bindung an "das Sittengesetz" fallend betrachtet werden. so daß dessen zusätzliche Erwähnung nahelegt, daß sein Begriff noch mehr umfaßt. Worin dieses ' M ehr' besteht, bleibt offen. Die ebenfalls noch genannte Beschränkung der Freiheit auf "die verfassungsmäßige Ordnung" ist ja anders geartet, insofern damit diese bestimmte positive Verfassung und nicht nur eine Verpflichtung von Freiheit auf eine verfassungsmäßige Rechtsordnung überhaupt gemeint ist. So besagt diese letzte Bindung der Freiheit nur. daß in der Bundesrepublik Deutschland Freiheit ihre konkrete Gestalt in der Bindung an diese bestimmte Verfassung hat. Durch die E rwähnung solcher Bindungen, in denen Freiheit sich entfaltet. wird zum Ausdruck gebracht. daß Freiheit nicht mit individ ueller Willkür zu verwechseln ist. Freiheit ist
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schon konstituien durch die übereinstimmung mit dem Sittengesetz, du rch die darin begründete Achtung der Rechte anderer und einer verfassungsmäßigen Ordnung des gesellschaftlichen Lebens. Gerade so ist Freiheit Ausdruck der Menschenwürde u n d unantastbare Grenze d e s rechtmäßigen Gebrauchs staatlicher Gewalt. Die vorgetragene Deutung der Aussagen des Grundgesetzes über die persönliche Freiheit versteht die Bindungen, die die Verfassung nennt. nicht als äußerliche Schranken der Freiheit, sondern vielmehr als konstitutive Momente der Freiheit selber. Freiheit kann nur solche Bedingungen für sich gelten lassen, die sie als konsti tutive Momente ihrer selbst, als Bedingungen ihres konkreten Selbstvollzuges zu begreifen vermag. Das ist in den Aussagen des Grundgesetzes nicht explizit so gesagt, aber es l iegt doch implizit in dem, was über die Bindungen verlautet, in denen die Freiheit steht, wenn diese Bindungen nicht nur als Schranke der Freiheit auf ge faßt werden sollen. Ein solches Verständ nis der Freiheit aus den für sie konstitutiven Bindungen entspricht nicht nur der kantischen Begründung der Freiheit aus dem Anspruch des Sinengesetzes, sondern auch dem christlichen Freiheitsverständnis, demzufolge die Gonesbeziehung konstitutiv für d ie Freiheit ist. Weil die Gonesbeziehung gegen über der Entfremdung des Menschen von Gon durch den Sohn neu erschlos sen wird, kann der johanneische Christus sagen : "Wenn euch der Sohn frei macht, d ann seid ihr wirklich frei" (joh. 8 , 36). Die Spitze dieses Satzes richtet sich gegen die Annahme, daß die Menschen schon von sich aus Freiheit besitzen. Von sich aus sind sie gerade nicht bei sich selbst, sondern Knechte einer Macht, die sie versklavt, auch wenn sie sich frei wähnen, indem sie ihr gehorchen. Diejenigen Ketten, die gar nicht als solche empfunden werden, sind ja stets am schwersten zu zerbrechen. Dem johanneischen Wort entspricht das des Apostels Paulus 2 . Kor. 3 , 1 7 : "Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit". Weil der Mensch nicht einfach von sich aus frei ist, sondern der Befreiung bedarf, um wirklich er selbst zu sein, darum ist Bindung nicht jede Bindung, sondern die Bindung an die ihn befreiende Macht - konstitutiv für seine Freiheit. I n diesem Sinne läßt sich die Begründung der persönlichen Freiheit auf die Menschenwürde verstehen, die das Freiheitsverständnis des Grundgesetzes kennzeichnet, und dem entspricht auch ihre Bindung an "das Sitten gesetz". Quer zu solchen Erwägungen steht nun aber die Formel "freie Entfaltung der Persönlichkeit" A rt . 2 Abs. l G G . Sicherlich ließe sich auch diese Formel im Sinne einer Entfaltung der durch Menschenwürde und Sittengesetz schon konstituierten " Persönlichkeit" auffassen. Doch dem steht entgegen, daß der Nebensatz "soweit er nicht die Rechte anderer verletzt" usw. deutlich einschränkenden Sinn hat. Diese Tatsache wurde in der obigen I nterpretation zunächst vernachlässigt, indem das Gefälle der Herleitung der Freiheitsrechte aus der Menschenwürde mit den H i nwei sen auf die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und "das Sinengesetz" verknüpft wurde. Nun zeigt sich aber, daß d ieser Zusammenhang in der Satzstruktur von An. 2 Abs . l eher eine Unterströmung darstellt, d ie sich zur Sinnstruktur dieses Satzes für sich gegenläufig verhält. Für sich allein genommen besagt der Satz in der
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Tat. d a ß die "freie Entfaltung" d e r "Persönl ichkeit" etwas i s t . w a s an d e n Rechten anderer. an der verfassungsmäßigen Ordnung und dem Sittengesetz seine Schranke findet. Was "Persönlichkeit" eigentl ich ist, von der hier gesprochen wird. und von wann ab Menschen "Persönl ichkeit" in d iesem Sinne sind (etwa erst vom Zeitpunkt ihrer Mündigkeit ab?), bleibt allerdings undeutlich. Es scheint nicht einmal sicher. daß die "Persönlichkeit". der An. 2 Abs . 1 freie Entfaltung zusichert. und die "Per son", deren Freiheit nach A rt . 2 Abs . 2 als unverletzlich zu gelten hat, dasselbe sind . Jedenfalls aber ist die Persönlichkeit nicht nur als ihrer eigenen freien Entfaltung vorausgehend zu denken. sondern auch als selbständig gegenüber den Rechten ande rer. der verfassungsmäßigen Ordnung und dem Sinengesetz. Der Satz von der Persönl ichkeit und ihrem Recht auf freie Entfaltung steht darum in einer deutlichen Spannung zum Bedürfnis des G rund gesetzes nach einer Begrün dung der Freiheitsrechte aus der Menschenwürde sowie auch zur durchgängigen Tenden7. des G rundgesetzes zur Betonung der sozialen Verantwortlichkeit des ein zelnen . Der Satz von der freien Entfaltung der Persönlichkeit muß so. wie er da steht. als Ausdruck einer individ ualistischen. atomistischen Anthropologie gelten, der die Sozialbeziehungen der Individuen (und darum auch so etwas wie Rechtsord nung und Sinengesetz) als i hrem Dasein äußerlich gelten: Nur so können sie Schranke ihrer Freiheit sein. Wenn die Abfassungsverhältnisse des Grundgesetzes weniger im hellen Licht dokumentarisch gesicherter Kenntnis lägen, könnte literar kritische Quellenscheidung an d ieser Stelle ein Relikt eines älteren überlieferungs stadiums vermuten oder auch die als sekundär zu betrachtende G losse eines späteren Redaktors. Tatsächlich mögen die Spannungen in den Formulierungen des Grund rechtskataloges auf die Wirksamkeit gegensätzlicher Tendenzen bei ihrer Entstehung in den Beratungen des Parlamentarischen Rates zurückgehen. J edenfalls aber er scheint es nicht ohne weiteres als einleuchtend , daß das Bundesverfassungsgericht im Singular von einem " Menschenbild des G rundgesetzes" spricht (BVerfG E 30, Nr. 1 6 , S. 1 93 [ 6 1 1 ] mit Verweis auf frü here Auslegepraxis), nämlich "vom Men schen als eigenverantwortlicher Persön lichkeit, die sich innerhalb der sozialen Ge meinschaft frei endaltet". E!iii stellt sich die Frage, ob d ieses einheitliche Menschen bild nicht erst ein Prod ukt der Auslegung der Verfassung ist, und dabei wird der Theologe nichl umhin können, sich daran zu erinnern. daß auch die kirchliche Schriftauslegung in den bibl ischen Schriften eine einheitliche Lehre verkündet glaubte. während die moderne h istorisch-kritische Exegese überall in den bibl ischen Texten die Gegensätze und Spannungen herausgearbeitet hat. In dem Sondervotum des Richters Dr. Stein 7 u m MephistoprozeR ( BVerfG E 30. Nr. 1 6, S . 2 1 4 [625]) kommt denn auch tatsächlich ein Bewußtsein der Spannung zwischen Art. 1 Abs. 1
und A rt . 2 Abs. l zum Ausdruck. Die Spannung wird allerdings von Dr. Stein dort auf ähnliche Weise bewältigt wie die Widersprüche biblischer Texte und kirchl icher Lehrautoritäten in der minelalterlichen Scholastik gelÖst wurde n : durch eine Di stinktion. "Im Verhältnis zu A n . 2 Abs . 1 GG. der die freie Entfaltung der EinzeI persönlichkeit sichert. ist Art. 1 Abs. 1 GG daher weniger auf die Individualität als
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auf die Personalität bezogen", Muß j uristische Hermeneutik mit den Spuren politi scher Kompromisse in Gesetzestexten so harmonistisch systematisierend umgehen ? Das Abheben a u f d i e "freie Entfaltung" der E inzelpersönlichkeit Art . 2 Ahs. l innerhalb der durch die gesellschaftlichen Rücksichten gez.ogenen Grcm.en hat frei lich im Ganzen des G rundrechtskataloges eine andere Funktion als die Legitimation eines abstrakten Individualismus. Es geht bei den Grundrechten allgemein und be sonders bei den Persönlich keitsrechten vorrangig um den Schutz des einzelnen vor übergriffen der staatlichen Gewalt, wie etwa Art . 2 Abs . 2 deutlich erkennen läßt. Der E inbau eines Fragmentes liberalistischer Anthropologie in An. 2 Abs . l ist of fenbar in d iesem Sinne zu verstehen, als Ausdruck des Mißtrauens gegen staatliche Reglementierung. Eine unter dem Gesichtspunkt der konstitutiven Bedeutung des Sozialbezuges für die individuelle Existenz entworfene Anthropologie würde sich zur Begründung solcher Vorbehalte sicherlich weniger rignen. Das Ergebnis der Zusammenspannung unterschied licher anthropologischer Ansätze in den Aussagen des Grundgesetzes ist aber eine anthropologische Unausgeglichenheit. Ein einheit liches ' Menschenbild' ist in der Verfassung gerade nicht gegeben. Statt dessen findet sich ein spannungsvolles Nebeneinander von E lementen einer liberal individualisti schen und einer anderen Anthropologie, für deren Verständnis des Individ uums die Sozialbeziehung konstitutiv ist. Nicht zufällig kennzeichnet die unausgeglichene Spannung zwischen d iesen Auffassungen des Menschen ja auch die Verfassungswirk lichkeit der westdeutschen Nachkriegsgesel lschaft. Im Verfassungstext sind d iese auseinanderstrebenden Tenden7Cn übergriffen durch den Begriff der "Würde" des Menschen. Das religiöse Potential d ieses Begriffs könnte in der Tat den Antagonis mus jener beiden anthropologischen Tendenzen vermitteln, wenn die individuelle Freiheit in einer Bindung begründet gedacht wird, die die sozialen Bindungen ein schließt, aber über sie hinausreicht, so daß sie auch der Selbständigkeit des einzelnen gegen die Zumutungen der Gesellschaft eine Basis verschafft. Der religiöse Bel.ug ist im G rundgesetz aber, wie bereits erörten, nur in einer vagen und andeutenden Weise gegenwärtig, wie das im Rahmen der neuzeitlichen Verfassungsgeschichte im Zei chen des Pluralismus und der Privatisierung der reli giösen Thematik wohl auch nicht anders sein kann. So erweisen sich die mit dem Begriff der Menschenwürde verbun denen Implikationen nur als eine weitere Facette des sch illernden Gebildes, als das die Anthropologie des G rundgesetzes sich darstellt.
IV I m Zusammenhang mit dem Fall ' M ephisto' haben die Gerichte hervorgehoben. daß die Freiheit der Kunst ebenso wie die der Wissenschaft von der Verfassung "außer ordentlich umfassend verbürgt" worden ist (BGHZ 50 Nr. 22, S. 1 45 [603]). Das Fehlen jeder ausdrücklichen Einschränkung hebe die Freiheit der Kunst und der Wissenschaft deutlich von der bloßen Meinungsfreiheit ab. die durch Art . 5 Abs. 2
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G G an die Schranken d e r allgemeinen Gesetzgebung gebunden u n d insbesondere d u rch die Rücksicht auf den Schutz der J u gend und auf das Recht der persönlichen Ehre eingeschränkt ist. Das Bundesverfassungsgericht hat darüber hinaus auch eine Beschränkung der Kunstfreiheit durch den "Gemeinschahsvorbehalt" , an den nach Art. 2 Abs. t die freie Entfaltung der Persönlichkeit gebunden ist. verneint ( BVerfGE 30 Nr. 1 6 . 5. 1 92 [6 1 1 ] . Das bedeutet. daß die Freiheit von Kunst und Wissenschaft nicht einfach als Ausdrucksform der freien Entfaltung der Persönlich keit gelten kann, während die Meinungsfreiheit diesem Persönlichkeitsrecht offenbar näher steht. wenngleich auch sie nicht darauf reduzierbar ist. wie schon daraus hervorgeht, daß die freie Meinu ngsäußerung zusammen mit der Presse- und Infor mationsfreiheit als besonderes Grundrecht gewährleistet wird. Schon der Garantie der Meinungsfreiheit muß also ein besonderes, über jenes allgemeine Persönlich keitsrecht hinausgehendes Interesse zugrunde liegen. Im Hinblick auf die Tradition des Offentlichkeitsprinzips i n der Neuzeit läßt sich auch sagen, in welcher Richtung d ieses zusätzliche Element zu vermuten ist : Es d ü rfte sich um das Interesse an der Wahrheit und an ihrer Chance handeln. sich gegen die Schranken menschlicher Uneilsfähigkeit durchzusetzen. Der Glaube an die wohltätige Wirkung freier, öf fentlicher Diskussion lebt von dem Venrauen, daß im freien Streit der Meinungen die Wahrheit sich am ehesten herausstellen wird. Erst recht dürfte die Orientierung an der Wahrheit als einziger Norm für die unbeschränkte Garantie der Wissen schahsfreiheit du rch Art. S Abs. 3 maßgeblich sein, und die Verbindung der Kunst freiheit mit der Wissenschaftsfreiheit scheint zum Ausdruck zu bringen. daß Kunst und Wissenschaft etwas gemeinsam haben. wodu rch ihre gemeinsame Abhebung von der bloßen Meinungsfreiheit und von der allgemeinen Garantie freier Entfaltung der Persönlichkeit gerechtfertigt ist. D iese Gemeinsamkeit wird man in der Bindung des Kun5twerks wie der Wissenschaft an Normen ihrer Wahrheit vermuten d ü rfen, die unter sich verschieden sind, aber beide keine Einschränkung durch andere Rück sichten zulassen. Es geht also bei der Kunstfreiheit nicht in erster Linie um "die Möglichkeit. die menschliche Persönl ichkeit im künstlerischen Schaffen frei zum Ausdruck zu bringen". Diese Formu l ierung der Verfassungsrichterin Rupp v. Brü neck (5. 220 [629]) scheint in dem Bemühen, die Kunstfreiheit auf "das Essentiale des Menschenbildes der Verfassung", wie sie es sieht, zurückzuführen, der im übrigen ,'on ihr selbst hervorgehobenen Sonderstellung der Kunstfreiheit die Grundlage zu entziehen. Vielmehr wird umgekehrt die besondere Garantie der Kunst- und Wis sensehaftsfreiheit als ein weiterer, selbständiger Mosaikstein zu dem vielfältigen B i ld des Menschen in der Verfassung gewertet werden müssen. Allerdings erfährt in der Verfassung der Begriff der Kunst ebensowenig eine ge nauere Bestimmung wie zuvor die Begriffe Menschenwürde, Persönlichkeit, Sitten gesetz. Somit scheint der Rechtsprechung die Entscheidung überlassen. was im Ein zelfall als Kunstwerk anzusehen ist. für das die Freiheitsgarantie der Verfassung gilt, und i n welcher Weise im Konfliktfall die ästhetische Qualität eines Werkes in Abwä gung gegenüber anderen Komponenten z u r Geltung zu bringen ist. Ein allgemein
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akzeptierter Begriff von Kunst läßt sich nicht voraussetzen. Daher kann die An wendbarkeit des Begriffes zumindest in einem mehr oder weniger breiten Randbe reich zweifelhaft sein, - ähnlich wie das übrigens beim Begriff der Wissenschaft der Fall ist. Gegeben ist häufig nicht viel mehr als der Anspruch auf den Charakter eines Werkes als Kunstwerk. Wieder steht es heim Begriff der Wissenschaft nicht viel besser. So hat sich bei der Erörterung der Frage. ob die christliche Theologie Wissen schah im Sinne von Art. 5 Ahs. 3 GG sei, angesichts der Strittigkeit des Sachverhalts zumindest der eine Anhaltspunkt als unzweifelhaft empfohlen, daß die Theologen gewöhnlich auf die Wissenschaftlichkeit ihrer Disziplin Anspruch erheben. A nge sichts der Schwierigkeiten. von denen das U rte i l über die Anwendbarkeit von Begrif fen wie Kunst oder Wissenschaft belastet ist, und angesichts der Rolle. die dabei den Ansprüchen des Künstlers oder Wissenschaftlers für ihre eigene Tätigkeit und deren Produkte zufällt, könnte es sich nahelegen, solchen Äußerungen in vielen Fällen nicht mehr als den Schutz der Meinungsfreiheit zuzugestehen. Die Rechtsprechung verfährt darin großzügiger. In der Tat setzt ja das Grundgesetz voraus, daß es Kunst und W issenschaft jedenfal l s gibt, und die Unbestimmtheit der beiden Begriffe hat nicht zuletzt eine kaum kalkulierbare Erschwerung der Beweislast für denjenigen zur Folge, der die Rechtmäßigkeit eines Anspruchs auf künstlerischen oder wissen schaftlichen Charakter eines Werkes bestreiten wollte. Tatsächlich ist auch beim Streit um den Mephistoroman Klaus Manns der Charak ter des Buches als Kunstwerk nicht in Zweifel gezogen worden. Doch haben bei der Wertabwägung der Berufungsinstanzen die m i t dem Fall verbundenen außerkünstle rischen Faktoren sicherlich nicht zuletzt wegen der Unbestimmtheit des Kunstbe griffs und der damit verbundenen Unsicherheit über die Reichweite der Grund rechtsgarantie den Ausschlag gegeben. Wenn das Oberlandesgericht H amburg das Buch als "eine Schmähschrift in Romanform" bezeichnete (BGHZ 50, Nr. 2 2 , S . 1 4 1 f. [60 1 ]) . so steht diese Charakteristik zum Begriff d e s Kunstwerkes in Spannung. Vermag denn etwa schon der Gebrauch einer bloß äußerlichen Fonn eine publizisti sche Äußerung als Kunstwerk zu qualifizieren? Der Zweideutigkeit d ieser Sachlage entspricht es, daß der Bundesgerichtshof zugunsten der Beklagten das Recht auf freie kritische Meinungsäußerung in seinen Erwägungen mit herangezogen hat (5. 1 43 f. [602] ) , wobei deren Freiheitsspielraum "dann, wenn eine Meinungsäußerung i n die Fonn eines Kunstwerks gekleidet ist • . . . weiter zu ziehen sein kann als bei solchen Mei nungsäußerungen, die nicht den Rang eines K unstwerks erreichen" (5. 145 [603 ] ) . Dennoch ergeben s i c h unter d iesem Gesichtspunkt unvermeid lich Schranken d e r künstlerischen Freiheit durch die Persönlichkeitsrechte d e r DargestelJten u n d ande rer betroffener Personen. Das Bundesverfassungsgericht ist dieser A rgumentation zwar nicht gefolgt, hat aber seinerseits neben der ästhetischen Realität des Kunst werks sein "Dasein in den Realien", die trotz ästhetischer Uberhöhung " ihre sozial bezogenen Wirkungen nicht verlieren" (5. 1 9 3 f . ( 6 1 2 ) , als rechtlich relevant aner kannt, und zwar als Grund eines möglichen Konflikts mit dem sozialen "Wert- und Achtungsanspruch des Dargestellten" . Die vom Beschluß abweichenden Meinungen
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d e r Richter Dr. Stein u n d R u p p v. Brüneck haben dafür plädiert, d e r Kunstfreiheit in diesem Fall den Vorrang vor der ihres Erachtens nicht schwerwiegenden Schmäle rung der Personwürde des verstorbenen Gustaf Gründgens zuzuerkennen. Doch geht bezeichnenderweise Dr. Stein auf die Verflechtung der gesellschaftspolitischen Zielsetzungen von Klaus Mann mit der künstlerischen Eigenart seines Werkes gar nicht ein. während Frau Rupp v. Brüneck gerade diese gesellschaftspol itischen Ziel setzungen zur Entkräftung des gegen Klaus Mann erhobenen Vorwurfs der Ver leu mdung seines ehemaligen Schwagers heranziehen möchte (5. 224 ff. [632 f. ]). damit aber wiederum nicht auf die Ebene der Kunstfreiheit. sondern der Meinu ngsfreiheit argumenticn. wie besonders der Schluß ihres Votums zeigt (5. 226 [633]). Daß die Argumentation der Gerichte immer wieder von der Kunstfreiheit auf die Ebene der Meinungsfreiheit überwechselt. obwoh l die Differenz grundsätzlich er kannt ist. scheint einerseits durch die U nbestimmtheit des Kunstbegriffs der Verfas sung bed ingt zu sein. Er wird durchweg d u rch den Gedanken der ästhetischen Autonomie des Kunstwerks erläutert. ein Gedanke. der aber keinen Gesichtspunkt zur Beurteilung des Verhältnisses des Werkes zur dargestellten Wirklichkeit und seiner W i rkungen in der sozialen Lebensweh hergibt. Auf der anderen Seite wird die Kunstfreiheitsgarantie im Rahmen eines der Verfassung zugeschriebenen einheit lichen " Menschenbildes" gewürdigt. das offenbar primär an dem Persön l ichkeits recht auf freie Selbstentfaltung und seiner Begrenzung durch Rechte anderer orien tiert ist. Demgegenüber wird die Bindung des Kunstwerks an eine der Beliebigkeit bloßen Meinens übergeordnete künstlerische Wahrheit faktisch vernachlässigt - eine Wahrheit, an der dann freilich zuallererst das Kunstwerk selber zu messen wäre. Statt dessen wird die Besonderheit künstlerischer Darstellung unter bloß formalen Kriterien ästhetischer Autonomie erörtert. Vielleicht übersteigt die Frage nach der künstlerischen Wahrheit eines Kunstwerks die Möglichkeiten seiner rechtlichen W ü rdigung. Auch das würde zur Erklärung des Umstandes beitragen. daß die Argu mentation der Gerichte immer wieder auf die Ebene der Meinu ngsfreiheit und ihrer Problematik zurückgeht . Es würde aber auch besagen. daß die I ntentionen der Ver fassu ngsgarantie der Kunstfreiheit in der Anwendung durch die Rechtsprechung nicht voll eingelöst werden können. v
Die Bindung an eine der bloßen Meinung überlegene Wahrheit schl ießt die Garantie der Freiheit der Kunst (wie auch der Wissenschaft) zusammen mit der Begründung der persön l ichen Freiheit in der Menschenwürde. In beiden Fällen geht es um die jedem bloßen Bel ieben vorgegebene Konstitution von Freiheit, um den Hervorgang der Freiheit aus einer Bindung. Darüber hinaus bezieht sich die Begründung der Grundrechte aus der Menschenwürde auf die Freiheit von Kunst und Wissenschaft ebenso wie auf die persön liche Freiheit. Dieses Begründungsverhältnis erscheint bei Kunst und Wissenschaft eben in der besonderen Form ihrer Bindung an eine künst lerische b1. w . wissenschaftliche Wahrheit. Ist darauf nun sinngemäß auch an1.uwcn-
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den, was oben über die religiöse Verwurzelung des Begriffs der Menschenwürde gesagt wurde? Das Verhältnis des Christentums zur Kunst war nie unproblematisch. Das gilt namentlich für die bildende Kunst, die aber mit guten Gründen als Paradigma für das Verhältnis des Christentums zur Kunst überhaupt gelten kann. Die alttestamentliche D istanz zum Bild blieb u ntergründig in der Geschichte des Christentums wirksam, brach durch im Bilderstreit und später im B ildersturm des Reformationszeitalters. Wo aber das Bild angenommen und gerechtfertigt wurde, veränderte sich die Bild auffassung. Sie suchte nicht mehr die i n sich vollendete Gestalt, sondern die Transpa renz der künstlerischen Gestalt für eine andere Dimension. Das gilt nicht nur für Mosaiken und I konen, sondern auch für den christlichen K i rchenbau, für Literatur und Poesie, Musik und Theater, j a sogar für die aus christlichem Geist geschaffene Plastik. Die enge Verwandtschaft von Kunst und Religion ist darin erhalten geblie ben, wenn auch i n den verschiedenen Spielarten des Modells einer Einheit i n D iffe renz. Bei dieser Verwandtschaft handelt es sich nicht so sehr um den Gegenstand als um die An der Darstellung, und gerade weil jeder, nicht nur der spezifisch religiöse Gegenstand solcher Darstellung fähig ist, kann die künstlerische Darstellung selber in der Geschichte der Kunst im Christentum religiöse Funktion gew innen. I n einer Spätphase der Verunsicherung des religiösen Lebens kann die Kunst darum sogar als Surrogat der Religion dienen. Auf jeden Fall aber ist mit der Gegenstandsfreiheit die Freiheit der Kunst selber eng verbunden, - und zwar vielleicht i n einem untergründi gen Zusammenhang mit der Religionsfreiheit, sofern diese in der Entdeckung der christlichen Freiheit als Unmittelbarkeit zu Gott ihren Ursprung hat. Mag so in der christlichen Religion ein Zugang zur Freiheit der Kunst, unbeschadet der religiösen Bindung, begründet sein, so ist es doch i n ihrem Wirkungszusammenhang nicht denkbar, die Kunst primär als Ausdruck der Selbstentfaltung des Individuums zu begreifen, es sei denn, das Individuum wäre dabei schon vorweg als so konstituiert gedacht, daß als freie Selbstentfaltung erscheint, was in Wahrheit Ausdruck einer Inspiration ist, die den Künstler erst als solchen ermöglicht. Der Gedanke der freien Entfaltung der Persön lichkeit bleibt zweideutig. Alles hängt davon ab, was die Persönlichkeit konstituiert, die sich frei entfalten soll. Bedeutet aber die Freiheit der Kunst, daß die künstlerische Betätigung dem privaten Belieben anheimgestellt wird. so ist dadu rch die Kunst in ihrer Substanz bedroh t : durch d e n Absturz i n eine Beliebigkeit, d i e letzten Endes Belanglosigkeit bedeuten muß, wenn sie auch aufgefangen wird durch ein ebenso beliebiges Kunstinteresse, das durch den Markt und seine Mechanismen mit der künstlerischen Tätigkeit ver mittelt wird. Hier zeigt sich noch einmal eine tiefe Gemeinsamkeit von Kunst und Religion gegenüber einer Anthropologie, die die eine wie die andere nur noch als private Betätigung und Selbstentfaltung der I ndividuen thematisiert. Die Reduktion auf private Beliebigkeit ist für die Kunst ebenso verhängnisvoll wie für die Religion. Solche Reduktion ist im modernen Verfassungsrecht und der Rechtsprechung sicher lich nicht intendiert. Aber gibt es rechtliche Möglichkeiten, ihr entgegenzuwirken?
M A R T I N K R l uE
J U R I ST I SC H E H E R M E N E UTI K AM B E I S P I E L D E R ' M E P H I STO ' - E NTS C H E I D U N G
E i n Rechtsstreit erreicht d i e oberen Gerichtsinstanzen in d e r Regel n u r in Fällen, deren Entscheidung sich an Hand der Gesetzestexte nicht von selbst versteht. Es ist ja Sinn und Zweck des Gerichtsverfahrens, über "Zweifel und Meinungsverschie denheiten" zu entscheiden, wie es zum Beispiel in A rt. 93 I 2 GG über das Normen kontrollverfahren heißt. Gerade weil es auch unter seriösen J u risten stets Zweifel und Meinu ngsverschiedenheiten geben kann, bedarf es einer Entscheidungsinstanz. Entscheiden heißt, Verbindlichkeit herstellen, ehe im Diskurs ein Konsens ent s tanden ist. Bestünde Konsens. gäbe es keinen Rechtsstreit über Auslegungsfragen. und es bedürfte jedenfalls insoweit keiner Entscheidung. Die Entscheidung bricht den Diskurs nicht ab: er w ird zum Beispiel in der Revision, in der rechtswissen schaftlichen oder publizistischen Kritik an der rechtskräftigen Entscheidung, im d issenting vote, in künftigen Streitverfahren, die auf das Präjudiz Bezug nehmen, oder im Gesetzgebungsverfahren fortgesetzt. Es ist also vorausgesetzt, daß über die Entscheidung rational d iskutiert werden kann. Es ist ferner vorausgesetzt, daß das Geril.:ht seine Entscheidung durch Gründe rechtfertigen kann - auch wenn diesen G ründen Gegengründe entgegengehalten werden können. I m Begriff der Entschei dung liegt also nicht subjektive Beliebigkeit (wie die ' Dezisionismus'-Diskussion gelegentlich unterstellt), sondern lediglich ein Kompromiß zwischen rationaler Dis kussionsfähigkeit einerseits und dem praktischen Bedürfnis nach Diskussionsab bruch und Verbind l ichkeitsherste l l ung andererseits. Die juristische Entscheidung wird übl icherweise aus den drei E l ementt'n begriffe n : 1 . Aufklärung d e s Sachverhahs, 2 . hermeneutische K lärung der Rechtsnormen, 3 . Subsumtion d e s Sachverhalts unter d i e ei nschlägige Norm. Die Schwierigkeiten lie gen bei Ziffer 2: Was heißt Klärung der Rechtsnorm? Odo Marquard unterscheidet : rekonstruktive Hermeneutik - Rekonstruktion der Frage, auf die der Text die Antwort war - und applikative Hermeneutik - Klärung der Fragen, "auf die der Text noch nicht die Antwort war und sein konnte, weil es diese Frage noch nicht gab, als der Text entstand " ' . I n diesem Sinne ist j u ristische Hermeneutik fasE immer 'applikativ', aus folgendem Grund: Angenommen, die in einem Rechtsstreit auftauchende Rechtsfrage sei identisch m i t der Frage, auf die der Text die Antwort gab. und dies lasse sich unter Auswer tung sowohl der Gesetzesmaterialien als auch der historischen Situation, in der der I
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Geseugeber entschied, unstreitig feststellen. Dann bleibt es dennoch zulässig, daß eine Partei geltend macht, die vom Gesetzgeber vorausgesetzten Gegebenheiten hät ten s ich geändert - i n tatsächlicher oder auch in normativer H i nsicht. Zum Beispiel hat das Bürgerliche Gesetzbuch die Frage, ob ein Pfandrecht auch ohne Besitzüber tragung zulässig sein solle mit 'nein' beantwortet ; Wortlaut und Entstehungsge schichte erweisen das unstreitig. Einem Bedürfnis der Wirtschaft entgegenkommend. hat die Rechtsprechung dennoch das Institut der 'Sicherungsübereignung' , also des besitzlosen Pfandrechts begründet. weil sich die tatsächlichen Umstände geändert hatten. Oder : der Schöpfer des Strafgesetzbuches von 1 87 1 hat die Frage, ob Rechts· unkenntnis vor Strafe schützen kann, mit 'nein' beantwortet. Der Bundesgerichtshof hat dennoch dem Verbotsirrtum in Grenzfällen entschuldigende Wirkung zugespro chen, weil sich der normative Rahmen geänden hatte. Es kann also immer die Frage auftauchen : Ist die Rechtslage heute anders zu beurteilen als zur Zeit der Gesetzesentstehung? Der Richter kann diese Frage vernei· nen, und man kann die Regel aufstellen : er hat sie zu verneinen, wenn nicht beson· dere Gründe ausnahmsweise eine Abweichung gebieten2• Selbst diese Vermutungsre· gel wird von den Venretern der sogenannten ' objektiven Auslegung' bestritten, derzufolge es nicht auf den Willen des Gesetzgebers ('subjektive Auslegung'), son· dern den im Text 'objektivierten Willen des Gesetzes' ankommen soll. Aber auch die Feststellung, die Rechtslage sei heute anders zu beurteilen als zur Zeit der Gesetzes entstehung, antwortet auf eine Frage, auf die der Text noch nicht die Antwort gab. I nsofern muß das Gericht im Einzelfall gewissermaßen eine Entscheidung für die rekonstruktive Hermeneutik treffen, aber auch d iese Entscheidung ist nur im Rah· men einer appl ikativen Hermeneutik denkbar. Lediglich, wenn der Gesetzgeber auf eine richterliche Rechtsfortbildung nicht schweigt, sondern auf sie mit einer korri· gierenden Gesetzesnovelle antwortet, ist dieses Gesetz - jedenfalls solange es 'neu' ist - der rekonstruktiven Hermeneutik unterworfen. I m übrigen ist alle juristische Auslegung 'appl ikative' H ermeneutik. Erst recht ist sie das dann, wenn sich das Gesetz als lückenhaft erweist. Das aber ist in fast allen Fällen so, die die Revisionsinstanz erreichen (bei der es nur um Rechtsfragen geht, im Unterschied zur Berufungsinstanz, in der es auch um tatsächliche Feststellungen gehen kann). Denn selbst die umfangreichsten Kodifikationen lassen weit mehr Rechtsfragen offen, als sie lösen. Die Gesetzeslücke ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Eine der Grunderfahrungen des Ju risten besteht darin, daß das Leben unendlich viel mehr Phantasie hat, als der schöpferischste Gesetzgeber vorhersehen kann. Ein Rechtslehrer oder ein Rechtsdogmatiker, der versucht, sich halbwegs lebensnahe : "Argumenle. die eine Bindung an den Wortl.ll u t des Ge5e17.e5 oder den Willen des historischen Geselz gebers zum Ausdruck bringen, gehen .lInderen Argumenten vor. es sei denn. es lassen sich vernünftige Grunde dafür anführen, den anderen Argumenten den Vorrang einzuraumen". Roben Alexy, Theor,e der j"nslISche" Arg"",e"tation - Die Theor,r des rat,ona/r" Dult"rsrJ als Thror,e drr ,,,r;suschtPJ Brgr;;"d""g. Frankfun a. M. 1978, 5. 105.
J R I ST I S C H E
H E R M ENEUTIK AM BEISPIEL DER ' M E PHISTO'- ENTSCHEIDUNG
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eispielfiill e auszudenken, lernt d i e G renzen der menschlichen Phantasie kennen. reift er aber ins volle Menschenleben, sucht er seine Beispielfälle näml ich in den echtsprechungssammlungen, so findet er, daß das Leben in sprudelnder Fülle viel )erraschendere Problemsituationen hervorbringt, als er zu erfinden oder der Ge 'tzgeber vorherzusehen vermag. Der Richter muß die Fragen entscheiden, die an In herangetragen werden. Er kann die Antwort nicht mit dem H i nweis verweigern, �r Geset7.geber habe die Sache nicht vorentschieden: das wäre Rechtsverweigerung. r kann die Antwort nur geben, indem er angesichts des Falles darüber entscheidet, as genau als Recht gilt. Er tut dies, i ndem er feststellt, ein Gesetzesbegriff sei eng der weit auszulegen, eine Gesetzesstelle sei mit Vorbehalten, Einschränkungen oder usnahmen zu denken, als abschließende Regelung anzusehen oder durch Analogie J ergänzen, ein Wortlaut sei genau zu nehmen oder durch die ratio legis zu relati leren usw. Insofern ist er ständig an der Rechtsbildung beteiligt. Er entscheidet also eineswegs nur über den konkreten Fall, sondern über den genauen Inhalt des )strakt und generell geltenden Rechts. Er schafft, mit anderen Worten, ein Präjudiz. r fragt deshalb nicht nur nach den Folgen der Entscheidung für die unmittel bar erfahrensbeteil igten, sondern nach den Folgen für die unbestimmt vielen, die denk arerweise in künftigen Fällen von seiner Rechtsauslegung betroffen sein könnten. liesem Vorausblick auf die präjudizielle Wirkung der Entscheidung korrespondiert ie Orientierung an früheren einschlägigen Präjudizien. Der Richter ist an diese zwar nicht strikt gebunden. Er kann sie zum Beispiel so �g auslegen, daß sie für seinen Fall nicht mehr einschlägig sind. Er kann aber auch, 'enn sie e insch l ägig sind, von ihnen abweichen, dies jedoch nur, wenn er sich rgumentativ mit ihnen auseinandersetzt . Präjudizien sind weder verbindlich noch nverbind lich. Vielmehr besteht eine ' Präjudizienvermutung' : Präjudizien sind ver indlich, wenn sie nicht mit G ründen für falsch oder überholt erklärt werden kön en. Können sie das, wird eine neue Judizienkette begonnen. Auf diese Weise entsteht eine Fülle von Rechtsinstitutionen, die durch ' A usle ung' aus dem Gesetz 'abgeleitet' werden, die aber Probleme regeln, auf die das ;esetz ursprünglich keine oder gar eine abweichende A ntwort gegeben hat, Einige eispiele aus dem Schuld recht des Bürgerlichen Gesetzbuch s : Positive Forderungs erletzung, culpa in contrahendo, faktische Verträge, Sicherungsübereignung, Treu and, Wegfall oder Änderung der Geschäftsgrundlage. Angesichts d ieser Rechts :höpfungen sagt Wieacker, daß sich das Schuldrecht in seinen tragenden geistigen ; rundlagen umgestaltet hat ( ....om liberal-individualistischen zum sozialorientierten chuldrecht). Die Folge ist, daß "das heute geltende Privatrecht, insbesondere seine llgemeinen Lehren und das Schuld recht aus dem Gesetzbuch nicht mehr abgelesen 'erden können", Es gilt nicht das BGB, sondern das BGB in der Auslegung der echtsprechung. Eine Orientierung über das geltende Recht ist deshalb nicht anhand es Gesetzes, sondern nur anhand eines die Rechtsprechung vermittelnden Kom l entars möglich. Die appl ikative Hermeneutik ist im juristischen Bereich verantwort l iches Mit- und
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Weiterdenken d e s Gesetzes und deshalb nicht nur 'Verstehen d e s Gesetzes'. Die juristische Hermeneutik ist Beteiligung an der Normbildung und deshalb nur im Zusammenhang mit dem Problem der praktischen Normenbegründung zu be greifen. Ein anschauliches Beispiel bietet der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts in der Sache des Romans Mephisto von Klaus Mann (BVerfG 30, S. 1 73)'. Dieser Roman lehnt sich in leicht erkennbarer Weise an den Lebensweg von Gustaf Gründgens während des ' I I I . Reiches' an, dichtet ihm aber besonders niederträchtige Verhaltens weisen an. für die es im wi rklichen Leben keine Grundlage gab. Dcr E rbe von G ustaf Gründgens verhinderte das E rscheinen des Romans in den fünfziger Jahren d u rch Gerichtsurteil mit dem Argument, daß die ehrverletzende Darstellung das nachwir kende Persön/ichkeitsrecht von Gründgens verletzt. Der Verlag wandte sich an das Bundesverfassungsgericht und berief sich auf die KNn5tfreiheit des Art. S i l l G G : " Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei." Der Fall warf Fragen auf, die die Gesetze [S. 6 3 3 ff.] nicht 'aus sich heraus' beant worten, d . h. nicht aus Text und Entstehungsgesch ichte, nicht mittels der rekon struktiven H ermeneutik. Einige kommentierende Bemerkungen zu den Entschei dungsgründen ( BVerfG 30, S. 1 8 8 ff. [608 ff.]), und zwar waren folgende Fragen zu entscheiden : 1 . Seite 1 88 unter I l I : Ist Art. S I I I GG nicht nur ein individuelles Freiheitsrecht, sondern zugleich auch eine "wertentscheidende Grundsatznorm "? Ja. Folge : Gene ralklauseln des einfachen Gesetzes sind "im Lichte dieser Grundsatznorm" verfas sungskonform auszulegen. I nsofern wirkt Art. S III nicht nur im Verhältnis Bü rger Staat, sondern auch im Verhältnis Bürger-Bü rger, insofern dieses Verhältnis d u rch das einfache Gesetz geregelt w ird (sog. 'mittelbare Drittwirkung' der Grundrechte). Das Bundesverfassungsgericht nimmt hier unausgesprochen auf das Präjudiz BVerfG 7, 5. 1 98 ( Lü,h-Harlan) Bezug. 2 . Seite 188 Ziff. 1 : Erstreckt sich die Kunstfreiheit nur auf das Schaffen des Werkes ("Werkbereich") oder auch auf seine Verbreitung ("Wirkbereich")? Das Bundesver fassungsgericht antwortet: Auf beides, und zwar im Hinblick auf die Folgen. Ohne diese Erstreckung "würde das G rundrecht weitgehend leerlaufen" . Die Rechtsdog matik spricht von der Auslegung der Grundrechte aus dem " G ru ndsatz der Grund rechtseffizienz" : G rund rechte sind so auszulegen. daß sich ihre freiheitsschützende Wirkung möglichst effizient entfaltet. - Damit hat das Bundesverfassu ngsgericht die Weichen für die weitere Frage gestellt, ob sich auch der Verleger auf die Kunstfrei heit berufen kann. J
Die für den 'Mephisto'-Fall einschlägigen Entscheidungen des Bundesgrrichuhofes Bd 50, S.I3J- 1 35. 1 4 1 - 1 47, und des Bundesverfassungsgerichts Bd JO, S. 1 73- 1 77, 1 88-227 �ind im Anhang zu diesem
Band abgedruckt. ZukünhiJ!: wird zwischen [
1 darauf verwiesen. Hirr S. [605ff.].
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3. Seite 1 88 Ziff. 2 : Ist Mephisto ein Kunstwerk ? Ja (nicht begründungsbedürftig). Wird der Umfang der Kunstfreiheit eingeschränkt, wenn ein erzählendes Werk an Vorgänge der historischen Wirklichkeit anknüpft? Nein. 4 . Seite 1 88 Ziff. 3: Kann sich der Verleger auf die Kunstfreiheit berufen? Ja. Voraus setzung ist die Erstreckung der Grundrechtsgarantie auf den "Wirkbereich" (s. o., Ziff. 2). Begründung wieder aus den Folgen; Ableitung der Entscheidung aus dem unausgesprochenen G rundsatz der G rund rechtseffizienz. 5. U nterliegt die Kunstfreiheit einem Gesetzesvorbehalt? Das Bundesverfassungsge richt erönert versch iedene Möglichkeiten, mit denen die Dogmatik einen solchen zu begründen versucht hat, und weist sie pauschal und ausnahmslos zurück. Kritik : Das Bundesverfassungsgericht hat die präjudizielle Wirkung d ieser Ent scheidung nicht zu Ende bedacht. Beispiele : Der künstlerische Architekt verletzt die Vorschriften der Bauordnung über Statik; der Maler beansprucht eine verkehrsreiche Kreuzung; das Straßentheater mißachtet Vorschriften über Jugendschutz. Ferner war die präjudizielle Wirkung auf andere vorbehaltlos gewäh rleistete G rund rechte zu bedenken, z. B. die Freiheit der Wissenschaft : der Wissenschaftler mißachtet die Gesetze über Umweltschutz, Tierschutz usw., oder Religionsfreihei t : der Mormone verletzt das gesetzliche Verbot der Bigamie; die Prozession hält sich nicht an die Rege ln des VersammlungsgesL·tzes usw. Das Bundesverfassungsgericht konnte solche rigorose ' Liberalität' zeigen, weil es die Kunstfreiheit durch andere Verfassungsvorschrihen eingeschränkt sieht, die in diesem Fal l einschlägig waren. Es bedachte aber nich t die präjudizielle Tragweite seiner Entscheidung. 6. Ist die Kunstfreiheit gegen andere Verfassungsgrundsätze abzuwägen? Ja, und zwar nur gegen Verfassungsvorschrihen. Kritik: Die präjudiziell e Wirkung dieser Entscheidung ist folgend e: Alle etwa nutwendigen Einschränkungen der Kunstfreiheit oder anderer vorbehalt los gewähr leisteter G rundfreiheiten müsscn unmittelbar aus dem G rundgesetz 'abgeleitet' wer den. Das führt zu einer judiziellen Aufladung des G rundgesetzes mit Inhalten, die dad urch Verfassungsrang erhalten und unnötigerweise der Disposition des einfachen Gesetzgebers entzogen werden. Da diese präjudizielle Wirkung in hohem Grade unvernünftig wäre, ist die tatsächliche Wirkung der Entscheidung aber eine andere : Obwohl sie nach der gesetzlichen Vorschrift des § 3 1 Abs. l BVerfGG präjudiziell verbindlich ist, wird sie in der Praxis als Präjudiz nicht ernst genommen. Das schwächt die Autorität sowohl des Gesetzes als auch des Bundesverfassungsgerichts. 7. 5. 193 Ziff. 5 [ 61 1 f.]: Ist das Persönlichkeitsrecht (hier: von Gründgens) verfas sungsrechtlich gesch ützt? Ja. F.in zivilrechtlicher Unterlassungs- oder Schmerzens geldanspruch ist zwar im BGB nicht enthalten. Der Bundesgerichtshof hat d ieses Rechtsinstitut jedoch in schöpferischer Fortentwicklung dcs positiven Rechts präju-
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dizie ll geschaffen (Leitentscheidung: " HerrenreitcrfaU" : Werbung f ür d as Potenz mittel " Okasa" mit dem Foto eines eine Hürde überspringenden bekannten Sport reiters. der auf dem Bild erkennbar war, aber seine Zustimmung nicht gegeben hatte : BGH 26, S. 349). Der BGH hat dieses Persönl ichkeitsrecht an die §§ 823 und 1 004 8GB 'angelehnt', zugleich aber aus den Verfassungsgrundsätzen des Art. I I GG ("die Würde des Menschen ist unantastbar") und 2 1 GG (" jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit") 'abgeleitet' und damit verfassungsfest ge macht. Dieses Persönlichkeitsrecht setzt sich auch gegen andere Verfassungsbestim mungen durch, z. B. die Pressefreiheit dt;s Art . S I GG (Leitentscheidung: "Soraya fal l " : Das Neue Blatt hat in einem frei erfundenen Interview angebliche Äußerungen der Soraya aus ihrem Privatbereich wiedergegebe n : BVerfG 34, S. 269). Kritik: Die Neuschöpfung des zivilrechtlichen Persönlichkeitsrechts ist zwar ver nünftig, doch hätte es seiner Verankerung im Grundgesetz nicht bedurft. Es hätte genügt, dieses Rechtsinstitut ebenso wie zahl reiche andere durch ' Analogie' aus dem 8GB 'abzuleiten'. Damit wären methodische Fehler, die sich auch auf die Mephisto entscheidung auswirken, vermieden worden. H ätte das Persönlichkeitsrecht nicht Verfassungsrang, sondern Gesetzesrang, wäre es der Gestaltungsfreiheit des Gesetz gebers nicht entzogen : der Bundestag könnte das richterlich entwickelte Persönlich keitsrecht durch Schweigen billigen oder es bei einer künftigen Neugestaltung des 8GB oder eines besonderen Ehrenschutzgesetzes so oder anders regeln. Ergibt sich das Persönlichkeitsrecht jedoch unm ittelbar aus dem Grundgesetz, so ist jede Rege lung, die das so begründete Rechtsinstitut auch nur modifiziert, verfassungswidrig. Auch ein Persönlichkeitsrecht im einfachen Gesetzesrang könnte bei der Ausle gung der Grundrechte nicht einfach außer acht bleiben, auch dann nicht, wenn dem Grundrecht kein ausdrücklicher Gesetzesvorbehalt beigefügt ist. So wird jedenfal ls sonst bei der Grundrechtsauslegung generell verfahren ( s . o . Ziff. 5) und muß ver nünftigerweise verfahren werden : auch das künstlerische Bauwerk muß z. B . die gesetzlichen Vorschriften über Statik beachten, ohne daß diese Vorschriften deshalb Verfassungsrang besäßen. 8. Zu Seite 194 Ziff. 6 [ 6 1 2 ] : Setzt sich das Persön lichkeitsrecht auch nach dem Tode fon? Ja. Der BGH hatte das Persönl ichkeitsrecht aus Art. 1 GG (Menschenwürde) und An.2 GG (Freie Entfaltung der Persönl ichkeit) abgeleitet. Das Bu ndesverfas sungsgericht meint dazu : Die Wirkung des A n . 2 GG ende mit dem Tode, nicht jedoch die des An. 1 GG. ( Al lerdings wurde das Lebensrecht des Embryo nicht nur aus Art. 1 GG, sondern auch aus Art . 2 I GG abgeleitet : 8VerfG 39, S. 1 . ) Jedenfalls folgt aus der Menschenwürde auch ein "allgemeiner Achtungsanspruch auch nach dem Tode". 9. Zu Seite 195 [ 6 1 2 f . 1 : Was geht im Konfli ktfal l vor - das Persönlichkeitsrecht aus Art. 1 I GG oder die Kunstfreiheit aus Art . 5 III G G ? Diese Frage kann nicht abstrakt, unabhängig von den Umständen des Einzelfalles beantwortet werden. weil die Auslegung der Menschenwürde durch d ie Kunstfreiheit mitgeprägt wird, \\.'äh-
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rend die Kunstfreiheit ,,'on der Menschenwürde beeinflußt wird. (Der sprachliche U nterschied zwischen 'mitgeprägt' und 'beeinflußt' scheint keine praktische Bedeu tung haben zu sollen.) Es besteht also eine 'Wechselwirkung' zwischen Art. 1 I GG und 5 I I I G G . H ängt es aber vo n de n Umständen des Einzelfalles ab, welche Norm sich im Konfliktfall durchsetzt, so kann es Rechtssicherheit im Sinne von Vorhersehbarkeit oder Berechenbarkeit der Entscheidung kaum geben. Für den Bürger, selbst auch für den verfassungsrechtlich erfahrenen Juristen ist das Prozeßrisiko schwer abschätz bar. Eine gewisse Vorhersehbarkeit läßt sich erst a) aus den einschlägigen Präjudizien gewinnen, aus denen sich ergibt. welchen Umständen welche Relevanz zukommt, b) aus der Kenntnis aller evtl. relevant werdenden Umstände des Einzelfalles - eine Kenntnis, die der von einer Panei einseitig informierte Rechtsberater sehen vor der letzten mündl ichen Verhandlung haben kann. Darüber hinaus können selbst nach erschöpfender Klärung der Sach- und Rechts lage Meinungsverschiedenheiten darüber bestehen bleiben, welchen Umständen des Falles welche Relevanz und welches Gewicht zukommt . Im 'Mephisto' -Fall haben die sechs an der Entscheidung beteiligten Richter die Frage mit einem Stimmenverhähnis von 3 : 3 beurteilt. In einem solchen Fall gilt § 15 111 Satz" Bundesverfassungsge richtsgesetz : " Bei Stimmengleichheit kann ein Verstoß gegen das Grundgesetz . . . nicht festgestellt werden." Die Verfassungsbeschwerde war also zurückzuweisen : der Erbe von Gründgens siegte über den Verleger von Klaus Mann. Es ist zu beachten, daß sich die Meinungsverschiedenheiten im Senat nicht auf die bisher kommentienen abstrakten G rundsätze bezogen, sondern nur auf deren Ap plikation im konkreten Fall . Die Notwendigkeit, die beiden Rechtsprinzipien Persönlichkeitsrecht und Kunstfreiheit - unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles gegeneinander ' abzuwägen', war nicht umstritten. Diese sogenannte 'Wechselw irkungstheorie' war jedoch in der Rechtswissenschaft Gegenstand heftiger Kontroversen. D iese Kontroversen knüpften vor allem an die Leitcnhcbeidung an, die die 'Wech selwirkungstheorie' präjudiziell verbindlich gemacht hatte, an das " Lüth-H arlan Urteil" (BVerfG 7, S. 1 98). In jenem Fall ging es nicht um die Abwägung zweier Verfassungsprinzipien, sondern um die Abwägung eines Grundrechts (Meinungs freiheit: Art. S I GG) mit dem einfachen gesetzlichen Anspruch auf Unterlassung sittenwidriger Boykottaufrufe (§ 826 BGB). An. S I GG steht ausdrücklich unter dem Vorbehalt des An. 5 " GG: "Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vor schriften der allgemeinen Gesetl.e." Aber das Prinzip der Wechselwirkung, das sich hier durchsetue, gilt auch für das Verhältnis zwischen zwei Verfassungsbestim mungen . In jenem Fall ging es um fol gendes : Der Hamburger Senatsd irektor Lüth hatte 1 950 vor Filmverleihern zum Boykott des Films Unsterbliche Geliebte aufgerufen, weil sein Regisseur Veit Harlan sich mit dem Film JNd SNP als Nazipropagand ist
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hervorgetan hatte. D i e zivilgerichtliche Klage gegen d e n Boykottaufruf hatte zwar Erfolg, weil die Meinungsfreiheit nur in den Schranken der allgemeinen Gesetze gilt. die das Verbot des Boy konaufrufs - jedenfalls in der Auslegung der ständigen Recht sprechung - vorsehen. Das Bundesverfassungsgericht hob das Urteil aber mit dem Argument auf, daß allgemeine Gesetze nicht nur der Meinungsfreiheit Schranken setzen, sondern ihrerseits " im Lichte des Grundrechts verfassungskonform auszule gen" sind : Wechselwi rkungstheorie. Ob sich das Grundrecht oder das allgemeine Gesetz durchsetzt, läßt sich nur aufgrund einer Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls entscheiden. Im Lüth-Harlan-Fall hatte die Mei nungsfreiheit angesichts der besonderen politischen Implikationen Vorrang . D ieser a l s 'Schaukeltheorie' verspotteten Methode w urde insbesondere vorgewor fen : Preisgabe der Rechtssicherheit und der Techniken juristischer Methode sowie Anmaßung von Richtermacht. Dieser Angriff konnte sich jedoch weder in der Praxis noch in der Rechtsdogmatik durchsetzen. Denn die Alternative zur Wechselwir kungstheorie wäre eine eindeutige Vorrangregel : bei den Grundrechten, die unter dem Vorbehalt des allgemeinen Gesetzes stehen, hätte das allgemeine Gesetz Vor rang. Der Gesetzgeber könnte das Grundrecht beliebig einschränken, ohne selbst grundrechtlich gebunden und verfassungsgerichdich kontrollierbar zu sein. Das Grundrecht ' liefe leer'. Bei den Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt w ü rde sich umgekehn das Grundrecht immer und unbedingt gegen einschränkende Gesetze durchsetzen. Da dies, wie die Beispiele oben unter Ziff. 5 anschaulich machen, eben falls von den Folgen her unannehmbar wäre, müßte man, um die Folgen z u vermei den. alle praktisch unvermeidbaren Vorbehalte unmittelbar in das Grundgesetz hin eininterpretieren. Damit würde man sie verfassungsfest machen und der Gestal tungsfreiheit des Gesetzgebers entziehen. Abgesehen von der Unzweckmäßigkeit dieser Folgen käme man aber ebenfalls nur zu einer Abwägung von Verfassungsprin zip gegen Verfassungsprinzip (wie der 'Mephisto'-Fall zeigt ) : man endete also auch nur wieder bei der Wechselwirkungstheorie, der man hatte entrinnen wollen. Die Wechselwirkung und damit die Abwägung angesichts der Umstände des Einzelfalls erweist sich also unter Berücksichtigung der Folgen als die einzig prakt ikable und mögliche Methode, um das Spannungsverhältnis zwischen Grundrechten und ein schränkenden Rechtsprinzipien zu lösen. Die hier nur skizzierte Kontroverse hat eine Neubesinnung auf die Techniken der j uristischen Henneneutik ausgelöst. Forsthoff hane vorgeschlagen, sich auf die Savi gnyschen Auslegungselemente - das grammatische, logische, historische und syste matische - zurückzuziehen. Diese Beschränkung erwies sich als praktisch unmög lich. Sie wäre auf Rechtsverweigerung hinausgelaufen. Diese Einsicht führte in die Frage, wie denn dann die juristische Henneneutik im Interesse eines Maximums an Rechtssicherheit methodisch disziplinien werden kann? Im Zusammenhang dieser Diskussion steht auch meine Analyse der Präiudizienvermutung4• Gegen diese •
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wurde e ingewandt, sie sei ein angelsächsisches Prinzip, für das in der deutschen Rechtstrad ition kein Raum sei ; man müsse statt dessen die Savignyschen Methoden elemente ergänzen, verfeinern, komplettieren (vor allem Larenz, Friedrich Müller. E. W. Böckenförde). D ieser Gegenvorschlag erscheint mir illusorisch. weil er die jeweils unvermeidbare Abwägungsfrage nur aus dem Bewußstein. nicht aber aus der Wirklichkeit verdrängen kanns. D ieser Meinung sind auch u . a. Esser, Wieacker und wohl die mittlerweile herrschende Lehre. Die Diskussion ist jedoch nicht abge schlossen und w ird jetzt vor allem unter dem Stichwort "Theorie der j uristischen A rgumentation" weitergeführt. Die Kontroverse wird auch auf politisch-publizistischer Ebene geführt : Wer näm lich jeweils einen Verfassungsprozeß verliert. pflegt dem Bundesverfassungsgericht regelmäßig Preisgabe der juristischen Methodik vorzuwerfen. Auffallend an d iesen V orwürfen ist jedoch die parteiliche I nkonsequen z : Man verlangt vom Bundesver fassungsgericht entweder stärker zupackende Aktivität unter Berücksichtigung der politischen Implikationen der Entscheidung oder im Gegenteil Zurückhaltung ge genüber den Entscheidungen des Gesetzgebers oder der Gerichte. Der Maßstab schwankt von Fall zu Fall je nach dem erwünschten Ausgang des Verfahrens. Die einzige Weise. um i n dem überhaupt erreichbaren Maße Unparteilichkeit zu gewähr leisten, ist die Orientierung sowohl an Präjudizien als auch an der präjudiziellen Zukunftswirkung der Entscheidung unabhängig vom Wechsel der politischen Mehr heiten. Das Gericht entscheidet nicht nur den konkreten Einzelfall. sondern es stellt bei Gelegenheit dieser Entscheidung Grundsätze auf. aus denen es nicht nur die konkrete Entscheidung ableitet, sondern an dem sich auch künftige Entscheidungen orientieren können. Diese Grundsätze sollen solcher Art sein, daß man wollen kann, daß sie zu allgemeinen Grundsätzen werden. Diese Methode verhindert in der Praxis zwar nicht Meinungsverschiedenheiten im Gericht (die ihren Niederschlag in den dissenting votes finden). wohl aber in aller Regel eine Spaltung je nach der partei pol i tischen Herkunft. (Gegenbeispiele wie das Grundvertrags- oder Abtreibungsurteil sind Ausnahmen). Au c h im ' Mephisto'-Fall stammten die Verfasser der beiden dis senting votes aus verschiedenen Parteien : Stein aus der CDU. Rupp-v. Brünneck aus d.r SPD. 10. Die Meinungsverschiedenheiten im Senat betrafen in erster Linie die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verhältnis zu den anderen Gerichten : Wieweit soll sich das Bundesverfassungsgericht ihrer Abwägung gegenüber durchsetzen oder zu rückhalten? Die Entscheidung beruft sich erstmals - und, wie die weitere Rechtspre chung gezeigt hat, auch ohne präj udizielle Wirkung - auf einen Grundsatz des judicial self- restraint : danach soll die von den Gerichten vorgenommene I nteressen abwägung nur noch darauf überprüft werden
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3 . ob die Gerichte erkannt haben, d aß es sich um eine grund rechtliche A hwä gungsfrage handelt, b. ob ihre Entscheidung auf einer "grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und dem Schutz bereich eines Grundrechts beruht". Das Bundesverfassungsgericht w i l l sich auf die Nachprüfung beschränken, o b die Instanzgerichte bei ihrer Abwägung die Grenzen des WilIkürverbots aus Art. 3 I GG (Gleichheitssatz) überschritten haben. Kritik : Die präj udizielle Folge wäre, daß das Bundesverfassungsgericht für einen beträchtlichen Teil der Grundrechtsauslegung nicht mehr zuständig wäre. E s gäbe Verfassungsrechtsauslegung, die vom Verfassungsgericht nicht überprüft werden könnte. Die allgemein gehaltenen ' grundsätzlichen' Ausführungen des Bundesver fassungsgerichts über Bedeutung und Tragweite des Grundrechts können von jedem anderen Gericht gegebenenfalls leicht übernommen werden. Erst bei ihrer A nwen dung auf die konkreten Umstände des Einzelfalls gewinnen d iese Formeln überhaupt Leben und Bedeutung. Nach der das Urteil tragenden Auffassung hätte das B undes verfassungsgericht künftig nur noch zu prüfen, ob die Gerichte die ihnen eneilten Grundrechtslektionen auswendig gelernt, nicht aber, ob sie sie auch verstanden ha ben. Letztlich könnte ein Leerlaufen der Grundrechte die Folge sein. Deshalb stellten sich die Dissenter mit Recht gegen d iese 'Zurückhaltung' des Bu ndesverfassungsgerichts. Seitherige Präjudizien haben gezeigt, daß sie und nicht die die Entscheidung tragenden Richter sich durchgesetzt haben.
1 1 . Bei der Abwägung zwischen Persönl ichkeitsrecht und Kunstfreiheit bestehen drei Möglichkeiten zur Verteilung der Begründungspflicht : a. Entweder beide Verfassungsprinzipien sind gleichberechtigt, b. die Kunsdreiheit geht vor, wenn nicht besondere Umstände ausnahmsweise einen Vorrang des Persönlichkeitsrechts begründen, c. das Persönl ichkeitsrecht geht vor, wenn nicht besondere Umstände ausnahms weise einen Vorrang der Kunsdreiheit begründen. Diese drei Möglichkeiten müßten sich juristisch-technisch in verschiedenen ' Ver ankerungen' der abzuwägenden Prinzipien spiege l n : a. Verankerung in gleichberechtigten Verfassungsprinzipien, b. Verankerung des die Kunsdreiheit einschränkenden Persänlichkeitsrechts im unterverfassungsrechtlichen Gesetzesrecht, c. Verankerung des Persönlichkeitsrechts in einem Verfassungsprinzip, das vor Art. 5 III GG Vorrang hat. Ein Verfassungsprinzip, das vor allen Grund rechten Vorrang hat, ist Art. 1 I G G : "Die Menschenwürde i s t unantastbar. " Dieser Grundsatz gilt a l s das oberste Leit prinzip des Grundgesetzes, als die wichtigste verfassungsgestaltende Grundentschei dung. Deshalb ist es auch der Abänderung im verfassungsändernden Verfahren ent zogen : An. 79 III GG. Es soll nicht einmal dem Verfassungsgeber zur Disposition stehen, erst recht also nicht dem Verfassungsanwender. Wenn feststeht, daß ein
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bestimmtes Verhahen die Menschenwürde verletzt. so ist es absolut unzulässig und kann unter keinen Bedi ngungen und Vorbehalten gerechtfertigt werden. Es ist der Abwägung entzogen. Hier zeigt sich die Mißl ichkeit der Verankerung des Persönlichkeitsrechts statt auf der Ebene des bürgerl ichen Rechts auf der Ebene des Verfassungsrechts, und zudem noch in den Grundsätzen des Art. 1 und 2 I GG, von denen das Bundesverfassungs gericht im H inblick auf die nachtodliche Wirkung nur noch Art. 1 GG gelten läßt. D iese Konstruktion läßt eigentlich nur zwei Lösungen zu: Entweder verletzt der Roman Mephüto das Persönlichkeitsrecht und damit die Menschenwürde, dann ist seine Verbreitung auch nicht mit Berufung auf Art. 5 1 1 1 GG gerechtfertigt. Oder er verletzt sie nicht, dann ist zur ' Abwägung' kein Anlaß und die Kunstfreiheit setzt sich durch . Weder die die Entscheidung tragenden noch die abweichenden richterlichen Dar legungen nehmen es jedoch mit der Logik genau. Die entscheidungtragenden Gründe gehen im Anschluß an den Bundesgerichtshof davon aus, daß die Verbrei tung des Romans die Menschenwürde verletzt. Sie lassen dies aber für die Entschei dung nicht schon an sich genügen. sondern konstru ieren eine "Spannungslage" zwi· schen beiden Verfassungsprinzipien Menschenwürde und Kunstfreiheit. Diese könne zwar so oder anders gelöst werden. doch gebe es "keine hinreichenden Gründe", der "von den Gerichten vorgenommenen Wenung entgegenzutreten" (5. 199 [6 1 5]) . Auch die Dissenters sehen das Persönl ichkeitsrecht in Art. 1 I GG verankert, jedoch nur insoweit. als es sich auf die " Personalität" und nicht auf die " I ndividuali· tät" bezieht. Wie dieser begriffliche Unterschied zu verstehen sei, w ird nicht deut· lich, es heißt nur, daß der Roman nicht "zu einem besonders qualifizierten Eingriff in die Persönlich keitssphäre" führe, sondern bloß den " Ehrenschutz" berühre, der zudem mit der Zeit verblasse (S. 2 1 4 f. [62 5 ]) . Es sei also nur die Sphäre der Indivi dualität, nicht die der Personal ität betroffen. Da aber nur die Sphäre der Personalität von dem Begriff der Menschenwürde und damit dem Persön lichkeitsrecht, 'ioweit es auf Art. 1 I GG gestützt ist. umfaßt ist, müßte die Bezugnahme auf Art. l I GG eigentlich ausgeräumt sein. Es ist dann nicht konsequent. daß dennoch weiterhin von einer " Abwägung der kollid ierenden Interessen im Sinne der verfassungsrechtl ichen Wertentscheidungen" die Rede ist (5. 2 1 6 [62 7]) . Wenn aber die Wertentscheidung zugunsten der Menschenwürde noch im Spiele ist, so muß dies konsequenterweise zu ihrem absoluten Vorrang führen. Es geht dann nicht an, festzustellen. die "Schmälerung der Personenwürde" sei "nicht so gewichtig" (5. 2 1 7) und es sei eine " schwere" Beeinträchtigung des Persönlichkeitsbereichs nicht festzustellen (5. 2 1 8 [628]). Eine Verletzung der Menschenwürde ist gemäß verfassungsgestaltender Grundentscheidung immer gewichtig und eine so schwere Beeinträchtigung. daß jedes andere I nteresse dahinter zurückstehen muß. Schließlich nimmt das d issenting vote noch eine überraschende Wendung: Es liege kein 'eindeut iger' Verstoß gegen Art. 1 I GG vor. Wenn die Sache nicht eindeutig
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wäre, so müßte sie eigentlich zur erneuten Beweisaufnahme an die I nstanzgeric hte zurückverwiesen werden. Gemeint ist wohl nur: Das Persönl ichkeitsrecht ist zwar berührt, aber nicht so stark, daß es verletzt wäre. D iese Feststellung wird aber nicht klar getroffen, sondern verschleiert . wohl wegen ihrer präjudiziellen Wirku ng. G inge es nämlich nicht um ein Kunstwerk, sondern um eine bloße Schmähschrift, so bestünde wohl kein Zweifel, daß das Persönlichkeitsrecht verletzt wäre. Daß es nicht oder nicht eindeutig oder nicht gew ichtig verletzt sei, diese Feststellung wird nur im H i nblick auf den Kunstwerkcharakter des Romans getroffen. Die Ahwägung zwi schen Kunstfreiheit und Persänl ichkeitsrecht, die erst nach der Feststellung der Ein schlägigkeit beider Verfassungsprinzipien möglich wäre, wird in die begriffliche De finition der Verletzung des Persön lichkeitsrechts vorverlagert, wo sie nicht hinge hört. D iese neue Definition soll zwar zu der erwünschten Entscheidung des Einzel falls verhelfen, jedoch keine präjudiziellen Wirkungen in die Zukunft ausstrahlen, und deshalb muß sie so vage und verschwommen gehalten werden, daß kein künfti ger Leser genau sagen kann, was eigentlich gemeint war. Beide richterlichen Meinungen sind also in sich widersprüchlich begründet und am Ergebnis orientiert. Die einen wollen den Gründgens-Erben recht geben, zu gleich aber ihr etwas banausenhaftes Verständnis des Kunstwerks und der Kunstfrei heit verhüllen. Sie erfinden deshalb die verfassungsgerichtliche Selbstbescheidung gegenüber den I nstanzgerichten. Die anderen wollen dem Verleger recht geben, gleichzeitig aber eine gewisse Indifferenz gegenüber dem Ehrenschutz verhüllen. Sie erfinden deshalb die Spaltung der Menschenwürde in einen geschützten und einen nichtgeschützten Teil (Personalitäts- und Individualitätssphäre) - eine Erfindung, die sie durch nebelhafte Ausführungen über "besonders qualifizierte", "gewichtige" und "eindeutige" Verletzungen so verschwimmen lassen, daß eine künftige präj udi zielle Anknüpfung unmöglich wird. 12. Eine j uristisch korrekte und deshalb als Präj udiz geeignete Entscheidung hätte m . E . so aussehen können : Das Persönlichkeitsrecht ist ein I nstitut des bürgerlichen Rechts, nicht des Verfas sungsrechts. Auch das einfache Gesetzesrecht kann Kunstfreiheit einschränken, aber nur ausnahmsweise, wenn der Schutz eines gewichtigen Rechtsguts die Einschrän kung dringend geboten und nicht unverhältnismäßig erscheinen läßt. Der Ehren schutz ist ein gewichtiges Rechtsgut, aber er kann sich gegenüber der Kunstfreiheit nur durchsetzen, wenn die Ehre i n ganz besonders gravierender Weise betroffen ist und es keinen anderen Weg zu ihrem Schutz gibt. Die Ehre des Gründgens ist zwar in ganz besonders gravierender Weise betroffen. I nsofern l iegt die Sache anders als in den von Stein (S. 208 [621]) angeführten "Schlüsseldichtungen". Wenn die Feststel lungen des Gerichts richtig sind, daß G ründgens eine antifaschistische G rundeinsteI lung hatte, daß er rassisch und politisch Verfolgten unter persönlichem Risiko u nd ohne berechnende Motivation geholfen hat und daß er niemals einen Menschen so wie die schwarze Tänzerin hintergangen und verraten hat - wenn das alles richtig ist,
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dann ist er durch den Roman nicht nur das Opfer einer künstlerischen Karikatur, sondern in einer Weise in seiner Ehre verletzt, die ihm den Anspruch auf staatlichen Rechtsschutz sichern sollte. (Um das einzusehen, muß man sich nur mit genügender Intensität vorstellen, man sei selbst der Betroffene.) Dennoch war das Verbot der Verbreitung des Romans weder erforderlich noch verhältnismäßig. Es hätte näm l ich genügt, die Freigabe der Veröffentlichung an die Bedingung zu knüpfen, daß eine Erklärung etwa folgenden I nhalts beigefügt wird : "Die Hauptfigur des Romans lehnt sich zwar in erkennbarer Weise an eine bekannte Persönlichkeit der Theatergeschichte an, dichtet ihr jedoch in freier schöpferischer Gestaltung Verhaltensweisen an, die nach den gerichtlichen Feststellungen keine Grundlage in der Wirklichkeit haben. Dazu gehören insbesondere die Vorgänge um die schwarze Tänzerin, die engen Beziehungen zu den nationalsozialistischen Macht habern und der berechnende Charakter der H ilfeleistung für rassisch und politisch Verfolgte." Damit wäre sowohl dem Ehrenschutz als auch der Kunstfreiheit Genüge getan. Es hätte weder einer 'Umdichtung' bedurft - eine allerdings abwegige Zumutung noch einer Erklärung, die auf die Einzelheiten im Lebensweg des Grundgens ein geht. Eine solche wäre angesichts der Eigenständigkeit des Kunstwerks gegenüber einer verzerrenden Realitätsbeschreibung unangemessen gewesen, wie die dissenting votes mit Recht hervorheben. Die von Klaus Mann selbst beigefügte Erklärung, "alle Personen dieses Buches stellen Typen dar, nicht Portraits", genügt für sich dem Ehrenschutz nicht; denn sie besagt ja nur, daß der geschilderte Höfgen-Gründgens ein "Typus" sei, nicht aber, daß sein niederträchtiges Verhalten auf dichterischer Erfindung beruht. Aber auch der in der einstweiligen Verfügung geforderte Vor· spann (BGH S. 1 34 f . [600]) ist zu unspezifisch, um dem Ehrenschutz zu genüge n : D a ß Handlungen u n d Gesinnungen " jedenfalls weitgehend d e r Fantasie d e s Verfas ser� entspringen", stel lt nicht klar, daß gerade die besonders gemeinen Handlungen und Gesinnungen auf Fantasie beruhen. Semper aliquid haeret. Es war also der Verfassungsbeschwerde stattzugeben und das Urteil des Bundes· gerichtshofs aufzuheben. Der 8GH hätte seinerseits darüber befinden können, ob nach den gerichtlichen Feststellungen eine solche oder ähnliche Erklärung gefordert werden kann oder ob die Sache zur Beweisaufnahme über das tatsächliche Verhalten des Gründgens - und damit über die Verletzung seiner Ehre - an das Oberlandesge. richt zurückzuverweisen war. 13. Fazit: Das Gericht hane auf Rechtsfragen zu anwonen, die in Verfassung und
G e�etz nicht vorentschieden waren. Es berief sich auf Grundsätze, die präjudiziell oder dogmatisch vorbereitet waren (z. B . das verfassungsrechtliche Persönlichkeits· recht), oder es entwickelte neu solche G rundsätze bei Gelegenheit d ieses Falls mit präiudizieller Wirkung auch in die Zukunft hinein (z. B. Fortwirken des Persönlich keituechts nach dem Tode, Ausdehnen der Auslegung des Begriffs ' Kunst' auf den ' W i�kbereich' und des G rundrechtsträgers auf den Verleger), Es entwickelte Grund·
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M A RTIN KRIELE
sätze zur Ahwägung der kollidierenden Verfassungsprinzipien Kunstfreiheit und Ehrenschutz (Verteilung der Begründungspflicht) u nd zum Verhältnis zwischen Verfassungsgericht und den von ihm zu ü berprüfenden Gcrichtsuncilcn (Zurückhal tung bei der Beurteilung der von den Instanzgerichten vorgenommenen Interessen abwägung). Sowohl die Entscheidung als auch die d is5cnting votes waren verfehlt. einmal. weil sie die verfehlten Präiudizicn über den Verfassungsrang des Persönlich keitsrechts zugrunde legten, anstatt die Gelegenheit z u ihrer Korrektur zu benutzen, dann aber und vor allem. weil sie sich z u stark an der (unterschiedlich beurteilten) Billigkeit des Einzelfalls und z uwenig an der präjudiziellen Wirku ng i n die Zukunft hinein und an den sich dabei ergebenden Billigkeitsfragen orientien haben.
KLAUS OETTINGER K U N ST I ST ALS K U NST N I CHT J U STITIAB E L D E R FALL ' M E P H I STO ' - Z U R B E G R ü N D U N G S M I S E R E D E R J U ST I Z I N E NTS C HE I D U N G E N Z U R SACHE K U NST
Das Grundgesetz u nserer Republik garantiert jedem Bürger das Recht, seine Mei nung frei zu äußern und sich ungehinden zu informieren, aus allgemein zugängli chen Quel len zumindest (An. 5. Abs. 1 GG). A llgemein zugänglich d ürfte wohl alles sein. was publiziert oder doch publikabel ist. Nicht alles aber ist publikabel : da sind die Vorschriften der allgemeinen Gesetze, die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und das Recht der persönlichen Ehre anderer zu respektieren (Art. 5 , Abs . 2 GG). Diese Schranken der allgemeinen Kommunikationsfreiheit gel ten jedoch nicht generell, nicht zum Beispiel für die Kunst. Was unter Kunst subsu mierbar ist, unterliegt keinerlei Schranken, ist unbedingt frei (Art. 5, Abs. 3 GG). So scheint es, - so scheint es dann, wenn man sich strikt an den Wortlaut des Gesetzestextes hält. Faktisch ist die Rechtslage anders. Es gibt in unserer Republik Kunst, die verboten ist, es gibt seit Bestehen unserer Republik Prozesse gegen A uto ren, Karikaturisten, Regisseure, Filmemacher, Verleger, weil sie die guten Sitten im weitesten Sinne, ja sogar unseren HerrGott, wenn auch nicht höchstpersönlich. so doch in seiner Kirche verletn haben sollen, und erst da, in den konkreten Fällen, zeigt sich, wie kompliziert die d iesbezügliche Rechtslage tatsächlich ist. In der Regel befindet sich die Rechtsprechung in diesen Prozessen in einer doppelten Verlegen heit : I. gilt es anzuerkennen, daß eine Dogmatisierung ästhetischer Normen in einer plu ralistischen Gese l l schaft grundsätzlich unstatthaft ist, und gleichwohl muß im Einzelfalle jeweils entschieden werden. ob eine Berufung auf An. 5, Abs. 3 zuläs sig ist oder nicht, ob also das je zu verhandelnde Werk Kunst ist oder nicht. - Was aber ist Kunst? Nach welchen objektiven Kriterien ist ein Kunstwerk als solches definierbar? 2. gilt es, das Rechtsgut Freiheit der Kunst mit anderen Rechtsgütern abwägend zu vergleichen und eine Gewichtsentscheidung zu treffen. - Welches kunstspezifi sche Gewicht wäre denn aber auf die Waage der zeitlichen Gerechtigkeit zu legen? Welches kunstspezifische Interesse könnte gegenüber konkurrierenden Interessen zur Geltung gebracht werden? Die juristische Not, diesem doppelten Di lemma zu entkommen, ist allemal groß und zw ingt oft 7.U bedrückend verdrießlichen Begründungsmanövern. D iese Misere der Justiz in Entscheidungen zur Freiheit der Kunst so l l im folgenden vorgeführt werden. Dabei geht es uns nicht nur u m die zugegebenermaßen schäbige Lust des
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juristischen Laien an d e r Demolierung d e s richterlichen Autoritätsanspruchs, son dern auch und dies vor al lem um einen Beitrag zur prinzipiellen Klärung des Argu mentationsverfahrens in den einschlägigen Rechtskonflikten. Es geht uns, um das Ergebnis vorwegzu nehmen. um den Nachweis, daß in diesen Prozessen streng ge nommen gar nicht primär Kunstuneile zur Diskussion stehen, genauer gesagt. daß der viel berufene Kunstvorbehalt des Gru ndgesetzes im Argumentationsgefüge der U rteilsbegr undu ngen insgesamt jedenfalls keine entscheidungstragende Re levanz besitzt. Es ist unsere Absicht, dieses vorderhand nur angedeutete Problem an einem signi fikanten Einzelfall zu demonstrieren. Es wäre natürlich naheliegend, dafür den spek takulärsten Literaturfall der jüngsten Vergangenheit, das Verfahren gegen d ie Doku mentarsatire Unse re Sie me nswe tl von C. F. Delius vorzustellen. Dieser Fall ist indes sen im Sinne unserer I ntention nicht hinreichend repräsentativ. Für unser Vorhaben sehr viel mehr geeignet ist der nun schon einige Jahre zurückl iegende Fall Me phisto. In d iesem langwierigen Prozeß, der sämtliche Instanzen d urch laufen hat, ist das juristische Argumentationsrepertoire sehr viel breiter entfaltet, sind auch die Prinz i pienprobleme sehr viel einläßlicher ausgetragen worden als i rgendwo sonst. Darüber hinaus hat die Me h p i sto-Entscheidung des Bu ndesverfassungsgerichts (s. im Anhang zu diesem Band S. 605 ff.) aus dem J ahre 1971 richtungweisende Bedeutung gewon nen und bestimmte die Judi katur maßgeblich bis zum heutigen T age.
Klaus Mann hat 1 936 im Querido-Verlag Amsterdam ein Buch mit dem Titel Me h p i sto. Ro ma n e ine r Ka me re veröffentlicht. Nach dem Kriege ist dieser Roman zu nächst 1 956 in Ost-Berlin erschienen. Im Jahre 1 963 kündigte die Nymphenburger Verlagshandlung München eine Ausgabe des Romans für Westdeutschland an. Ge gen dieses Vorhaben erhob Peter Gorski, der Adoptivsohn von Gustaf G ründgens, der inzwischen verstorben war, gerichtlichen Einspruch mit der Begründung, der Roman handle in verschlüsselter Weise von Gustaf Gründgens und verletze durch seine ehrenrührigen Entstellungen das Persönlichkeitsbild desselben. D iese Klage wurde vom Landgericht Hamburg abgewiesen (25. 8. 1 965). Daraufh in brachte der Verlag den Me phisto 1 965 auf den Markt. Auf Grund einer einstweiligen Verfügung wurde dem Buch folgende Bemerkung a nde nLe se rvorangeschickt: "Der Verfasser Klaus Mann ist 1 93 3 freiwillig aus Gesinnung emigriert und hat 1 936 diesen Roman in Amsterdam geschrieben. Aus seiner damaligen Sicht und seinem Haß gegen die H itlerdiktatur hat er ein zeitkritisches Bild der The aterge schichte in Romanform geschaffen. Wenn auch Anlehnungen an Personen der dama ligen Zeit nicht zu verkennen sind, so hat er den Romanfiguren doch erst d urch seine dichterische Phantasie Gestalt gegeben. Dies gilt insbesondere für die Hauptfigur. Handlu ngen und Gesinnungen, die dieser Person im Roman zugeschrieben werden,
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entspr echen jedenfalls weitgehend der Phantasie des Verfassers. Er hat daher seinem Werk die Erklärung beigefügt : 'Alle Personen dieses Buches stellen Typen dar, nicht Der Verlege r " Portr aits.' Im nachfolgenden Berufungsverfahren v o r d e m Oberlandesgericht Hamburg wurde das U rteil der ersten I nstanz aufgehoben und eine Veröffent lichung des Ro mans verboten ( 1 0. 3 . 1 966). Der Bundesgerichtshof bestätigte diese Entscheidung (20. 3 . 1 968). Daraufhin erhob der Verlag Verfassungsbeschwerde beim Bundesver fassungsgericht, die aber - übrigens ganz knapp : Stimmengleichheit im Senat, 3 Richter dafür, 3 dagegen - abgewiesen wurde (24 . 2 . 1 9 7 1 ) . - Der Roman darf also in der Bundesrepublik endgültig weder veröffentlicht noch vertrieben werden. Die Prozeßstrategie der Parteien läßt sich in großen Linien wie folgt skizz ieren : A. Der Verlag weist darauf hin, daß die Hauptfigur des Romans Hendrik Höfgen eine vom K ünstler geschaffene eigenständige Romangestah sei, die in entschei denden Z ügen so offensichtlich im Gegensatz zur gesch ichtlichen Persönlichkeit von Gründgens stehe, daß dessen Persönlichkeitsrecht nicht verletzt werde. Ein Verbot des Romans, der von namhaften Sachkennern als zeilkritisches Kunst werk, als eines der bedeutendsten Werke der Exilliteratur und als wichtiger Be standteil des Lebenswerkes von Klaus Mann gewürdigt werde. sei mit den Grundrechten der freien Meinungsäußerung (Art. 5, Abs. 1) und der Freiheit der Kunst ( Art. 5, Abs. 3) unvereinb ar. B . Dem wurde von der Gründgens-Partei entgegengehalten. der Roman mißbrauche die Kunstfreiheit; eine Veröffentlichung würde die grund rechtlich garantierten Persönlichkeitsrechte von Gründgens (Art . 1 und 2 GG) schwerwiegend beein trächtigen. Eine G üterabwägung zwischen Persönlichkeitsrecht und dem Recht auf Freiheit der Kunst scheide aus, weil der Bestimmungsgrund für Klaus Mann nach seinem eigenen Bekenntnis in erster Linie nicht ein Anliegen der Kunst. sondern Haßgefühle gewesen seien. Der Schutz des Art. 5, Abs. 3 sei ferner wegen des Interesses der Off entlichkeit an wahrheitsgemäßer Unterrichtung über Gründgens als einer bed t"utenden Persönlichkeit der Zeitgeschichte zu versagen. Ein Vorschlag zur Lösung des Konfl ikts, der vom Oberlandesgericht Hamburg eingebracht und vom B undesgerichtshof übernommen wurde, den Roman zwar zu veröffentlichen, das Vorwort des Verlags aber dergestalt zu erweitern bzw. neu zu fassen, daß den Belangen von Gustaf Gründgens ausreichend Genüge geleistet werde ("objektive Richtigstellung seines Charakterbildes", Darstellung seiner H i lfsbereit schaft gegenüber Juden und politisch Verfolgten nach 1933, Darstellung der Bezie hu ngen von Klaus Mann zu Gründgens in den 20er Jahren, Schilderung der Situation des Dichters in der Emigration) - dieser Vorsch l ag ist am Widerstand der Paneien gescheiten.
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Die Gerichte haben im einzelnen wie folgt argument iert: A. Landgericht Hamburg: 1. Das Gericht stellt fest, daß dem Roman Mephisto von Klaus Mann "der Rang eines Kunstwerks" zugesprochen werden d ürfe. Die für ein solches U rteil not wendige Voraussetzung sei zweifelsfrei erfüllt, insofern in dem vorliegenden Ro man "ein geistig-seelischer Gehalt . . . in einer dem Autor eigenen Form" gestaltet worden sei. Insbesondere sei hervorzuheben. daß die Hauptfigur wie auch die Zeiterscheinungen im Roman "mit einem meisterhaften Sarkasmus gesch ildert und bloßgelegt" worden seien, wobei es der Autor an "geistvollen und p r ägnan ten Formulierungen" nicht habe fehlen lassen. Der Verleger des Romans könnte sich also grundsätzlich mit Recht auf Art. 5 , Abs. 3 GG berufen. 2 . I n der Rechtsprechung bezüglich zeitgeschichtlicher Darstel lungen werde d urch weg anerkannt. daß der A utor eines l iterarischen Werkes bei der Schilderung des Handlungsablaufs und der Charaktere erheblich freier gestellt sei als der Autor einer historischen B iographie. E i n gewisser Spielraum von Veränderungen gehöre zur "Dynamik künstlerischen Schaffens". Abweichungen seien also erlaubt. inso fern sie allerdings das " Charakterbild" des Betroffenen nicht in ehrenrühriger Weise verzerr ten. E s sei lediglich zu fordern, daß die " großen Linien", die UHauptmomente" zutreffend seien. - Nun sei im gegebenen Falle gewiß für jeden Leser ersichtlich, daß es sich bei d iesem Text nicht um eine h istorische Darstel lung, sondern u m eine "freie dichterische Gestaltung" zeitgeschichtlicher Vor gänge handle. G u staf Gründgens sei namentlich nicht genannt, d ie gesch ilderten Personen seien als fiktive Figuren erkennbar. und es sei offensichtlich, daß zah l reiche Begebenheiten nicht m i t d e r W i rklichkeit übereinstimmten. 3 . Gleichwohl sei anzunehmen, daß eine nicht u nbeträchtliche A nzahl von Lesern die Hauptfigur des Romans, wenn auch nicht mit Gründgens identifiziere, so doch auf ihn beziehe. E s sei daher d u rch eine einläßliche Beweisaufnahme zum Lebenslauf von G u staf G ründgens z u prüfen, ob dessen " Lebensbild" d urch die Abweichung im Roman tatsächlich in schwerwiegender Weise entstellt worden sei. - Auf eine solche überprüfung könne jedoch im gegebenen Falle verzichtet werden, da hier nach Lage der I nteressen allemal dem Freiheitsrecht der Kunst nach Art. 5 , Abs. 3 GG gegenüber dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen nach A rt . 1 und 2 G G ein V orrang einzuräumen sei. 4 . E i n Verbot der Neuauflage des Romans lasse sich also nicht rechtfe r tigen, - und zwar aus folgenden Gründen : a) In Klaus Manns Roman Mephisto gehe es nicht um d ie Darstel lung der Lebens geschichte von G u staf G ründgens, sondern um die Verhaltensweise eines Typs : des gew issenlosen Intellektuellen, der sich in den Dienst der nationalso zialistischen Gesellschaft gestellt habe. Wer in d iesem Typ Züge von Gustaf Gründgens erkenne, sei m i t den Lebensdaten desselben und mit den Theater-
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verhältnissen d e r Z e i t offenbar 5 0 gut vertraut. d a ß er H i storisches und Erfun denes sehr wohl zu unterscheiden vennöge. I m übrigen könne man sich im Zweifelsfalle anhand der vorliegenden Gründ gens-Literatur hinreichend informieren. b) Dcr Roman sei du rch die wiederholten D D R - A u s gaben seit 1 9S6 auch in der Bundesrepublik derart weit verbreitet. daß das Persönlichkeitsrecht von Gründgens du rch eine westdeutsche Ausgabe kaum zusätzlich beeinträchtigt werden könne. c) Die Al lgemeinheit sei an einer Publ ikation des Mephisto in hohem Maße inter essiert, da dieser Roman "ein Stück Zeitgeschichte und Dokumentation über die deutsche Emigration" darstelle. B. Oberlandesgericht Hamburg: 1 . Das Gericht stellt fest. daß die im Roman dargestellte Wirklichkeit mit der histo rischen Wirkl ichkeit in zahlreichen Punkten übereinstimmt. So werde u . a. die H amburger und Berliner Theatergeschichte der 20er und 30er Jahre in histori scher Treue wiedergegeben und die Theaterkarriere der H auptfigur Hendrik Höfgen entspreche mitunter bis ins Detail der beruflichen Biographie von G ustaf Gründgens. - Nun sei zu erwanen, daß der Roman vor allem von einem theater kundigen Publikum gelesen werde. das mit den Leistungen von Gründgens als Schauspieler und Regisseur vertraut sei. Ein solches Publikum müsse den Ein druck gewinnen, daß der Autor i n der Figur des H öfgen den historischen Gründ gens in all seinen öffentlichen wie privaten Verhältnissen dargestellt habe. Mit d ieser Lesereinstellung sei insbesondere deshalb z u rechnen. weil der Text selbst keine Anhaltspunkte biete. Wahrheit und Dichtung auseinanderzuhalten. indem die historischen wie die erfundenen Begebenheiten in gleicher Glaubwürdigkeit dargestellt seien. " E i ne Verfremdung des H öfgen von Gründgens . . . d urch Schaf fung einer Romanfigur in der Weise, daß dies auch für den Leser erkennbar ist", könne nicht festgestell t werden. Der Leser werde die Romanfigur mit der histori schen Persönlichkeit " identifizieren". Das Vorwort des Verlags ...·ie auch die E rklärung des Au tors ( " A lle Personen stellen Typen dar, nicht Portraits") seien nicht geeignet. diesen Leseeffekt zu unterbinden. Kurz u m : wer Gründgens nur als Theatermann kenne, bekomme d urch die Schilderung des Privatlebens des Höfgen "e i n völlig verzerrtes negatives und diffamierendes Charakterbild" von Gründgens. 2 . Nun sei al lerdings i n der Rechtsprechung anerkannt, daß " Angriffe ehrenrühriger A rt" hingenommen werden müssen, wenn der Betroffene "d urch sein A uftreten in der Offentlichkeit A nlaß zu einer scharfen Kritik" gegeben habe. Solche An griffe seien du rch das Recht der freien Meinungsäußerung nach An. S, Abs. 1 GG wohl gedeckt. I m vorliegenden Falle seien jedoch die Voraussetzungen für eine solche Kritik nicht gegeben. Gründgens habe d urch seine öffentliche Rolle nach 1 933 keinen Anlaß zu einer beschimpfenden Kritik im Sinne des Romans gege ben. Es sei zwar zutreffend, daß er auch nach der Machtergreifung seine Theater-
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spielverträge erfüllt habe. d a ß er alsbald zum Generalintendanten d e r Preußischen Staatstheater aufgestiegen und endlich zum Staatsrat ernannt worden sei. Aber diese Erfolge seien eine Frucht seiner schauspielerischen Leistungen gewesen . Es gehe nicht an, "jedem in seinem Beruf tüchtigen Mann die Ehre abzuschneiden, weil er nicht 1 933 und später emigriert ist. sondern auch unter dem neuen Regime weiter seinen Beruf ausübte". Die im Roman aufgestellten unwahren Behauptun gen seien geeignet, Gusuf Gründgens verächtlich zu machen, ihn zu beleidigen und zu verunglimpfen. Klaus Manns Mephilto sei eine "Schmähschrift in Roman form", 3 . Dessen ungeachtet müsse bestätigt werden. daß dieser Roman als Kunstwerk einzuschätzen sei. Das Buch enthalte " spannende Szenen, Charaktergestaltung, d ramatischen Aufbau und mensch l iche Tragik" . Insofern könne für das Werk der grundrechtliche Kunstschutz prinzipiell beansprucht werden . ... . Bei der nun erforderlichen Güter- und Interessenabwägung sei der Anspruch auf Wahrung des Persön lichkeitsrechts, das Recht auf Schutz vor Verächtlichma chung, höher zu veranschlagen als die Freiheit der Kunst. 5. Bezüglich des vom landgericht berücksichtigten Arguments. der Roman d ü rfe der Allgemeinheit als ein .. Stück Zeitgeschichte und Dokumentation über die deutsche Emigration" nicht vorenthalten werden, sei festzustellen, daß es sich in diesem Falle gar nicht um eine " Dokumentation über die deutsche Emigration" handle, sondern nur um eine zeitkritische Darstel lung " aNS der Sicht eines Emi granten". Die Allgemeinheit sei aber nicht daran interessiert. "ein falsches Bild über die Theaterverhältnisse nach 1 93 3 aus der Sicht eines Emigranten z u er halten". C. Bundesgerichtshof : Der Bundesgerichtshof bestätigt die Argumentation des Oberlandesgerichts in allen wesentlichen Punkten. Einige Nuancen sind indessen bemerkenswert : 1 . Das Recht auf freie kritische Meinungsäußerung nach Art. 5, Abs. I GG hätte nicht nur eine allgemeine zeitkritische Auseinandersetzung mit den Verhältnissen des Theaterlebens seit 1 933 gedeckt. sondern auch eine scharfe Polemik bezüglich der Karriere und des " Charakterbildes" von Gründgens, insofern d ieser als eine " weithin bekannte Persönlichkeit der Zeitgeschichte" durch sein Verhalten wäh rend des Dritten Reiches Anlaß zu der Befürchtung gegeben habe, den National sozialismus in den Augen der Welt aufzuwerten. Nun habe aber K laus Mann über eine solche Kritik hinaus das " lebensbild" von Gründgens "mittels frei erfunde ner. oder doch ohne jeden Anhaltspunkt behaupteter, die Gesinnung negativ kennzeichnender Verhaltensweisen" entstellt. was durch das in Art. 5. Abs. 1 GG garantiene Recht nicht gedeckt werden könne. 2 . Im vorliegenden Falle sei allerdings die Meinungsäußerung "in die Form eines Kunstwerks gekleidet". Wenngleich die Freiheit der Kunst vorbehaltlos garan tien sei. so könne dies doch nicht bedeuten, daß diese Freiheit tatsächlich schran kenlos gewährt sei. Die Grenzen auch d ieses Freiheitsrechts seien jedenfalls über-
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5chritten, wenn eine historische Persönlichkeit durch frei erfundene Zutaten ne gativ entstellt werde. ohne daß dies als "satirische Ubertreibung" erkennbar sei. l. I m Unterschied zur Oberlandesgerichtsentscheidung wird vom Bundesgerichts hof anerkannt, daß der Roman als ein Beispiel dafür, "wie sich die innerdeutschen Verhältnisse seit 1 933 i n der Sicht eines emigrierten Gegners der nationalsoziali stischen Gewaltherrschaft widerspiegelten". von erheblichem öffentlichem I nter esse sei. Entscheidende Bedeutung wird diesem Argument aber auch vom Bun desgerichtshof nicht zugemessen. D. Bundesverfassu ngsgericht : 1 . D a s Bundesverfassungsgericht formuliert z u m Problem d e r Kunstfreiheit generell folgende Grundsätze : a) Die Freiheit der Kunst darf weder durch "wertende Einengung des Kunstbe griffs" • noch durch "erweiternde Auslegung oder Analogie aufgrund der Schrankenregelung anderer Verfassungsbestimmungen" (z. B. Art. 2 GG). noch durch eine "unbestimmte K lausel . . . ohne verfassungsrechtlichen An satzpunkt" ( z. B . .. Allgemeinwohl") eingeschränkt werden. b) Die Grenzen der Kunstfreiheitsgarantie sind nur "von der Verfassung selbst" zu bestimmen. Konflikte sind " nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertord nung und unter Berücksichtigung der Einheit d ieses grund legenden Wertsy stems durch Verfassungsauslegung" zu lösen. 2. Zum Problem einer Kollision der Grundrechte auf Kunstfreiheit und Persönlich keitsschutz sei festzustellen. daß eine Entscheidung nur unter Abwägung aller Umstände des Einzelfal les getroffen werden könne. Bei einer " A nlehnung der künstlerischen Darstellung an Persönlichkeitsdaten der realen Wirklichkeit" sei zu beachten. "ob und inwieweit das Abbild gegenüber dem Urbild durch die künstlerische Gestaltung des Stoffs und seine Ein- und U nterordnung in den Gesamtorganismus des Kunstwerks so verselbständ igt erscheint, daß das Indivi duelle, Persönlich- Intime 7.ugunsten des A llgemeinen. Zeichenhaften der FigNr objektiviert ist". 3 . Im vorliegenden Streitfalle könne das Bundesverfassungsgericht aus prozeßrecht lichen Gründen keine Entscheidung unmittelbar zur Sache treffen. Feststel lung und Würdigung des Tatbestandes seien nicht Aufgabe des Bundesverfassungsge richts. Diesem obliege allein die Kontrolle, ob die zuständigen Gerichte das oder die betroffenen Grund rechte in ihrer Bedeutung richtig erkannt und für die Beur teilung des Einzelfalles hinreichend in Betracht gezogen haben. I m Falle 'Mephi sto' könne das Bundesverfassungsgericht bei den Vorinstanzentscheidungen hin sichtlich der Kunstfreiheitsgarantie keine Verfassungsverletzung feststellen. Auch eine Verletzung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung sei nicht festzu stellen, da eine solche nicht vorliege : "Künstlerische Aussagen bedeuten. auch wenn sie Meinung5äußerungen enthalten. gegenüber diesen Äußerungen ein aliud . "
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Zwei d e r drei Richter d e s Bund esverfassungsgerichts. die f ü r e i n e Freigabe d e s Ro mans stimmten, formulierten ein Sondervotum. Dr. Stein : 1 . Nach Auffassung D r . Steins sind d i e Entscheidungen des Oberlandesgerichts H amburg und des Bundesgerichtshofs verfassungswidrig. Diese Gerichte hätten nicht hinreichend beachtet, daß ein Kunstwerk "Realität . . . vorwiegend auf der ästhetischen Ebene" besitze. Im Kunstwerk werde "eine gegenüber der realen Wirklichkeit verselbständigte 'wirklichere Wirklichkeit' " präsentiert. Auch das künstlerische Anliegen eines Zeitromans habe nicht eine "wirkl ichkeitsgetreue, an der Wahrheit orientierte Schilderung historischer Begebenheiten" zum Ziel, son dern " wesenhafte, anschau liche Gestaltung auf Grund der Einbildungskraft des Schriftstellers" . Die historischen Realien würden "überhöht" , " transzend iert" , "sublimiert", "symbolisiert", weshalb die künstlerische Darstellung nicht "am Maßstab der Welt der Realität. sondern nur an einem kunstspezifischen, ästheti schen Maßstab" gemessen werden dürfe. Die Frage nach der einer Darstellung zugrundeliegenden faktischen Realität möge daher einer Dokumentation oder Biographie angemessen sein, verfehle aber grundsätzlich das Wesen des Kunst werks. I n der " ästhetischen Realität" seien Faktisches und Fiktives kein "lästiges Nebeneinander", sondern eine " unauflösliche Verbindung" - "alles ist freies künstlerisches Spiel". 2 . Im vorliegenden Falle sei evident, daß die Romanfigur Hendrik Höfgen gegen über dem Persönl ichkeitsbild von Gustaf Gründgens verselbständigt sei und im Rahmen der Gesamtkonzeption des Romans als Typ des geistigen Mitläufertums im NS-Staat interpretiert werden müsse. Die typisierten Züge des Höfgen ließen erkennen. daß diese Romanfigur kein Portrait darstelle. Die Figur des Höfgen sei derart "durchsichtig" und während der gesamten Romanhandlung so wenig inne ren Veränderungen ausgesetzt, daß der Gedanke. hier werde H istorie dargestellt, gegenüber dem Bewußtsein von der " zeichenhaften Bedeutung" des Höfgen zu rücktrete. Der Bezug dieser Romanfigur zur individuellen Persönlichkeit Gu staf Gründgens werde durch die " künstlerische Konzeption" und "symbolhafte Ge staltung" weitgehend " überlagert" . l. Freilich könne die Wahrnehmung d ieser rein " ästhetischen Realität" nicht er zwungen werden. Auch die eindeutig künstlerische Qualität eines Werkes könne nicht verhindern, daß es Leser gibt, die das Dargestellte ohne Blick für seine " kunstspezifische Bedeutung" wie eine Dokumentation zur Kenntnis nehmen. Es sei aber verfehlt, daß das Oberlandesgericht Hamburg und der Bundesgerichtshof sich an eben einem solchen Leserpublikum orientiert haben. Im Gegenteil sei damit zu rechnen, daß der Roman heutzutage nur noch das Interesse eines be grenzten, vor allem der Bi ldungsschicht angehörenden Leserkreises finden werde. Solche Leser wüßten aber sehr wohl, daß ein Werk, das sich selbst als "Roman" bezeichnet, keinen Anspruch auf historische Wirkl ichkeitstreue erhebe. Die Be fürchtung. daß das Werk nicht als künstlerische Aussage, sondern als dokumenta-
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rische Darstellung gelesen werde, könne also n u r gering sein. Eine schwere Beein trächtigung des Persön l ichkeitsbereichs des verstorbenen Gustaf Gründgens sei also nicht festzusteHen. Rupp-von Brünneck: I . Rupp-von Brü nneck steHt fest, daß sich das Oberlandesgericht und der Bundes gerichtshof i n ihren Urteilen im Grunde nicht an Art. 5, Abs. 3 GG. sondern an Art. 5, Abs. 1 orientiert hätten. Der wesentliche Ansatzpunkt dieser Begründ un gen sei die Behauptung, daß in dem Roman das Lebensbild von Gustaf Gründ gens schwerwiegend entstellt und damit das Recht der persönlichen Ehre - eine Schrankenbestimmung der Meinungsfreiheit - verletzt worden sei. Gehe man jedoch unmittelbar von Art. 5, Abs. 3 aus und lasse der " vorbehaltlosen, uneinge schränkten Gewährung des Grundrechts der Kunstfreiheit ihr volles Gewicht". so bedeute dies, daß d iesem Recht jedenfalls mehr Raum verbleiben müsse als der Meinungsäußerung und daß in dieses Recht nur in "eng zu begrenzenden Aus nahmefällen" eingegriffen werden dürfe. 2. Im vorliegenden Konflikt sei die entscheidende Frage, ob bei einer Gesamtbe trachtung des Werkes überwiegend das Ziel verfolgt worden sei, bestimmte Per sonen zu beleidigen und zu verleumden, und ob der Autor die Kunstfonn des Romans zu diesem Zweck mißbraucht habe, eindeutig verneinend zu beantwor ten. Eine objektive Würdigung des I nhalts und der Darstellung des Mephisto müsse zum Ergebnis kommen, daß die " innere Korrumpierung der intellektuellen Oberschicht" durch das NS-Regime durchaus im Vordergrund des Werkes stünde. Dieses Gesamtanl iegen sei auch noch für den heutigen Leser ersichtlich. 3 . Hilfsweise sei auch noch das Argument anzuführen, daß - nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - eine starke Polemik gerechtfer tigt sei, wenn sie der Art des gegnerischen Angriffs entspreche und einem berech tigten I nteresse an der Einwirkung auf die öffentliche Meinung diene. 1 m Falle Mephisto handle es sich um weit mehr als um einen Meinungskampf im üblichen Rahmen, nämlich um den Widerstand gegen ein unmenschl iches Herrschaftssy stem. Es müsse konzediert werden, daß das Vorgehen des Autors durch dessen "Notsituation" gerechtfertigt sei, auch wenn er sich bei der Wahl der Mittel im einzelnen vergriffen haben sollte.
III Sämtliche Instanzen sind sich a l s o darin einig, d a ß Klaus Manns Roman Mephisto ein Kunstwerk sei. Zur Stütze dieses Urteils werden - wenn überhaupt - im besten FaHe ästhetische Kategorien idealistischer Provenienz beigezogen (" überhöhung" , " Transzendierung" , " Sublimierung", " Symbolisierung" der historischen Wirklich keit, " freies künstlerisches Spiel"), ohne daß freilich die Frage gestellt wird, ob und inwieweit diese Kategorien für eine politisch engagierte Literatur des 20. Jahrhun-
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dens noch eine uneingeschränkte Bedeutung in Anspruch nehmen d ü rfen. Anson sten werden verblasene Wendungen aus dem Phrasenhaushalt des kunstbeflisscnen Bildungsbürgers eingesetzt ("meisterhafter Sarkasmus", " geistvolle und prägnante Formul ierungen". " spannende Szenen" . · ·Charaktergestaltung'·. " dramatischer Aufbau und menschliche Tragik"). Schließlich wird ku rzerhand - wenn auch nicht ganz korrekt - die Brockhaus-Definition von Kunst zitiert ("ein geistig-seelischer Gehalt wird in einer dem Autor eigenen Fonn gestaltet"), - Entscheidend ist immer hin. daß das vom Verlag in Anspruch genommene Recht auf Berücksichtigung der Kunstfreiheitsgarantie des Grundgesetzes für den vorliegenden Roman von keiner I nstanz bestritten wird. Prüft man nun den Argumentationsweg der vier Urteilsbegründungen einschließ lich der beiden Minderheitsvoten der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung im einzelnen, so stellt sich heraus, daß d ieses Recht für die Urteilsfindung letzten Endes ohne Bedeutung ist. Jene Voten. die eine Freigabe des Romans befürworten. unter nehmen im Grunde den Versuch, eine Kollision zwischen dem Recht auf Freiheit der Kunst und dem Persönlichkeitsrecht wegzudisputieren. Das Landgericht Hamburg bedient sich dabei eines sophistischen Tricks. indem es - zuspitzend zusammenge faßt - feststellt : wer die Identität von Gründgens im Roman erkenne, kenne ihn offenbar so gut. daß er zugleich dessen Nichtidentität erkenne. Nicht ebenso leicht hat es sich der Richter Stein gemacht - und Rupp-von Brü nneck schließt sich ihm d iesbezüglich an -, indem er sich um systematische Gesichtspunkte bemüht. Klaus Mann habe zwar Materialien aus der Zeitgeschichte verwendet. d iese aber in einen Fiktionszusammenhang gestellt. Nun sei die fiktive Wirkl ichkeit von der histori schen Wirklichkeit kategorial u nterschieden. weshalb es un7. u l ässig sei, einen fiktiven Text wie eine Tatsachenbehauptung mit der Frage nach der Wahrheit historischer Details zu traktieren. Es sei also auch unzulässig. den Helden des Romans Mephisto mit einer bestimmten historischen Persönl ichkeit in Verbindung zu bringen. Hen drik Höfgen sei eine aus der Phantasie geborene Figur, Symbol der "Heim suchung des deutschen Geistes i n Gestalt des geistigen Mitläufertu m s " . Wer d iese Figur mit Gustaf G ründgens identifiziere. lasse sich von unangemessenen Lektüreprinzipien leiten. Es müsse jedoch von einem Leser ausgegangen werden, der textgerecht zu lesen verstünde, der also einen Roman als Roman. und das heißt : als einen fiktiven Text zu verstehen imstande sei. Beide Argumentationen kommen somit zu dem Ergebnis, daß es nicht gerechtfer tigt sei. davon auszugehen, daß Gustaf Gründgens d u rch den Roman tatsächl ich betroffen ist. Wenn das aber so ist. dann - so wird man folgern müssen - liegt auch keine Koll ision von Grund rechten vor, dann entfä l l t auch die Notwendigkeit einer Güter- und Interessenabwägung. I n der Tat wird in d iesen U rteilsbegründu ngen genau besehen - nicht deshalb für eine Freigabe des Mephisto plädiert, weil das Grundgesetz die Freiheit der Kunst garantiert, sondern deshalb, weil die Richter nicht bereit sind, eine Verletzung von Persönlichkeitsrechten durch den Roman anzuerkennen.
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Das Oberlandesgericht und der Bundesgerichtshof kommen zu einem anderen Ergebn is. Für diese Gerichte ist der Mephisto eine "Schmähschrift in Romanform". Sie gehen davon aus, daß zumindest ein erheblicher Teil von Lesern die Hauptfigur des Romans mit G ustaf Gründgens identifiziert und auch die erfundenen Passagen auf ihn bezieht. Diese haben dann den Status "unwahrer Behauptungen". Demnach handelt es sich bei diesem Roman um eine negative Entstellung des Lebensbi ldes von G ustaf Gründgens. Da aber auch d iese Entscheidungen davon ausgehen, daß der Roman ein K u nstwerk sei, liegt hier somit tatsächlich eine Kollision von G rundrech ten vor. Nun zeigt sich aber, daß es den Gerichten bei der fälligen I nteressenabwä gung an kunstspezifischen Kriterien fehlt. Das Argument, die Allgemeinheit sei an einer zeitkritischen Darstellung des Theaterlebens der 20er und lOer Jahre aus der Sicht eines E migranten interessiert, - dieses wenigstens vom Bundesgerichtshof (wenn auch nicht als entscheidend) anerkannte A rgument hat mit Kunst unmittelbar nichts zu tun, sondern ist dem Bereich Meinung und I nformation und insofern dem Absatz I des Artikels 5 zugeordnet. Was indessen diese Meinungsäußerung bzw. Information i n Romanform als "aliud", als "Kunst", qualifiziert - und darauf wäre es doch konsequenterweise in diesem Zusammenhang angekommen -, dies ist unbe rücksichtigt gebl ieben. Strenggenommen ist also auch bei diesen I nstanzen der Ku nstart ikel des Gru ndgesetzes für die U rteilsfindung irrelevant. Dieser Befund kann i m Grunde nicht überraschen. "Kunst" ist als " Kunst" nicht justitiabel. Die Beeinträchtigung eines Rechtsgutes durch ein Kunstwerk erfolgt ja nicht durch den U mstand, daß es als ein solches qualifiziert sein mag. Die spezifisch ästhetische Dimension des Kunstwerks kann allenfalls ästhetische Normen verlet zen, und diese sind zumindest i n unserer Gesellschaft dem Zugriff der Justiz entzo gen. Rechtsverletzungen d u rch ein Kunstwerk können nur durch die Botschaft, die Information, die Meinung, die es mitteilt, bewirkt werden. Daß "künstlerische Aus sagen, auch wenn sie Meinungsäußerungen enthalten, gegenüber diesen Äußerungen ein aliud bedeuten", diese Feststellung des Bundesverfassungsgerichts ist - mit Ver laub gesagt - schl ichtweg Unfug. Die Freiheit der Kunst kann als Rechtsgut gegen über der generellen Meinungsfreiheit nicht differenziert werden. Die Konstruktion eines juristischen Sonderstatus für die " Kunst", ein nur ihr eigener Freiheitsraum, läßt sich systematisch nicht begründen.
IV Zur Bestät igung dieser hier nur abbreviativ formulierten These ist gerade der Fall Mephisto besonders gut geeignet. Zu nächst ist den Gerichten darin zu folgen, daß eine präzise Analyse der Konflikt situation di e Beantwortung der Frage voraussetzt, ob und gegebenenfalls in welcher Weise Gustaf Gründgens durch die im Roman dargestellte Wirklichkeit betroffen ist. Da7.u ist festzustel len, daß die Romanwirkl ichkeit in erheblichem Maße mit histori-
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sehen E lementen durchsetzt i s t , die v o m Leser a l s solche auch erkannt werden können. Wenn da vom Diktator, vom dicken Ministerpräsidenten, vom humpelnden Propagandaminister, von Berlin und vom Jahr 1 936 die Rede ist, dann d ürfte sich wohl jedermann. der auch nur minimale Kenntnisse über die Geschichte dieser Zeit besitzt. daran erinnern, daß es seinerzeit in der deutschen Reichshauptstadt nur einen Diktator. nur einen dicken Ministerpräsidenten und nur einen Propagandaminister mit Klumpfuß gegeben hat, und jedermann wird wissen. wer gemeint ist, auch wenn die Namen nicht genannt sind. Nun hat es im Berlin des Jahres 1 936 allerdings auch nur einen Generaltheaterintendanten gegeben: den Staatsrat Gustaf Gründgens. Wenn dies dem einen oder anderen Leser nicht bekannt sein sollte. dann ist doch mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen. daß er sich zu einer näheren diesbezüg lichen Erkundigung herausgeforden fühlt. Die Identifikationsappelle des Textes sind deutlich genug. - sie sind so deutlich. daß auch kaum angenommen werden kann. der Leser gebe sich mit der Auskunft zufrieden, daß es sich im Falle dieses Generalinten danten um eine reine Phantasiegestalt namens Hendrik Höfgen hand le. D ieser Höf gen wird im Roman als brillantester Mephisto-Darsteller seiner Zeit dargestellt, die Mephisto-Rolle wird aber im deutschen Theaterbereich bis zum heutigen Tage mit keinem anderen Schauspieler so spontan assoziiert wie eben mit Gustaf G ründgens. Ist der Leser aber einmal auf dieser Fährte. dann wird er auf Schritt und Tritt einschlägige Indizien entdecken. And ererseits ist zu berücksichtigen. daß der Leser bereits auf der Titelseite darauf hingewiesen wird. daß es sich bei diesem Werk um einen Roman handelt. - und mit diesem Signal wird eine bestimmte Lektüreeinstellung provoziert. Die Ganungsbe zeichnung Roman enthält. auch im populären Sprachgebrauch, keinerlei Anspruch auf historische Richtigkeit, - im Gegenteil : so bezeichnete Texte lassen erwarten, daß hier weitgehend erfundene, und das heißt : eben nicht historisch verifizierbare Wirk lichkeiten erzäh lt werden. Im vorliegenden Roman wird diese Erwartung durch die Textstruktur selbst ständig bestätigt. indem die dargestellte Wirklichkeit durch einen allwissenden Erzähler vermittelt ist. - durch einen Erzähler also. der mit den geheim sten Handlungen. Gedanken und Gefühlen seiner Figuren vertraut ist. und der somit jedenfalls mehr weiß, als ein H istoriker jemals wissen kann. Wenn man nicht gerade von einem nahezu ill iteraten Publikum ausgeht. dann darf angenommen werden. daß in d iesem Falle der romaneske Charakter der erzählten Wirklichkeit bei der Lektüre stets bewußt bleibt. Das Buch Mephisto bietet also hinsichtlich der " Konkretisation der dargestellten Gegenständ lich keiten" (Roman Ingarden) im Bewußtsein des Lesers die typischen Probleme des Schl üsselromans. Zwar ist es unwahrscheinlich. daß es Leser gibt. die das Buch wie eine Biographie zur Kenntnis nehmen. - daß es aber Leser gibt. die das Buch ohne jedes biographische I nteresse lesen. ist nicht weniger unwahrscheinlich. Das heißt : Gustaf Gründgens wird vom Leser mehr oder minder intensiv immer mitvergegenwärtigt werden. A uch wenn man sich während der Lektüre stets darüber im klaren ist. daß man sich im Grunde in einer fiktiven Welt bewegt. bleibt die
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Erwägung, daß es sich in Wirkl ichkeit so oder wenigstens so ähnlich vielleicht doch zugetragen haben könnte, eine ständige Lesebegleitung. Daß damit das von den Gerichten so genannte Lebensbild von Gründgens auf dem Spiele steht, kann schwerlich bestritten werden. G ustaf Gründgens gehörte als Staatsrat und Generalintendant der preußischen Staatstheater zur Kulturprominenz des NS-Regimes. Amt und W ürden scheinen ihm jedoch nach Auskunft seines Biographen Cun Riess wider Willen aufgedrängt wor den zu sein. Es gibt auch eine Reihe durchaus imposanter Dokumente seines Wider standes gegen den Parteiapparat, und zahlreiche Zeugen haben in den diversen Ent nazifizierungsverfahren versichen. daß er unter erheblichem persönlichem Einsatz Juden und Kommunisten gedeckt hat. Im einen oder anderen Falle mag er dabei sogar sein eigenes Leben riskiert haben. Andererseits hat er Kompromisse gesch los sen und ist Verpflichtungen nachgekommen. die ex post in recht bedenklichem Lichte erscheinen. - Man wird also Gustaf G ründgens wohl jener nicht eben kleinen Gruppe von Persönl ichkeiten zuzurechnen haben. die - menschlich gewiß integer und im innersten zumindest emotionell antifasch istisch eingestellt - durch ihre Be rufsposition und ihren gesellschaftlichen Status doch in den nationalsozialistischen Teufelskreis geraten sind. Klaus Mann aber konnte als Emigrant im Jahre 1 936 lediglich von außen den phänomenalen Aufstieg seines ehemaligen Schwagers registrieren. und es ist ver ständlich. daß er aus den ihm seinerzeit zugänglichen Infonnationen jenen Schluß gezogen hat. den er in seinem 1 942 erschienenen Buch The Turning Point wie folgt formul ierte : " I visualize my ex-brother-in-law as the traitor par cxcellence, the macabre embodiment of corruption and cynicism. So intense was the fascination of his shamefu l glory that I decided to portray Meph isto-Gründgens in a satirical nove l . , thought it pertinent, indeed. necessary to expose and analyze t h e abject t y p e of the treolcherous intellectual who prostitutes his talent for the sake of some tawdry farne all J Iransitory weahh. Gustaf was jusl one among others - in reality as weil as in the cun1pOSition of my narrative. He served me as a focus around which I could make gyrJte the pathetic and nauseous crowd of petly climbers and crooks." Daß sich Kla us Mann bei der Niederschrift des Romans Mephisto auch von dem besonderen Hal� der ehemals freundschaft lich-verwandtschaftlichen und dann 7.erbrochenen Bindung hat leiten lassen mögen. mindert nicht die Ernsthaftigkeit seines politischen Anl iegens : Kampf dem Fasch ismus in jedem seiner Repräsentanten. Ob die von ihm verwendeten Mittel gerade im Falle Gründ gens unter den damals gegebenen Voraus setzungen angemessen waren. sei dahingestellt. Man wird aber die Feststellung von Rupp-von Brünneck bestätigen müssen, daß im Kampf gegen ein "unmenschl iches, rechts- und verfassungswidriges Herrschaftssystem", das seine Gegner, wenn immer es ihrer habhaft werden konnte, an Leib und Leben strafte, außerordentliche Minel genere ll durchaus zulässig waren. Nun geht es im vorl iegenden Streitfall allerdings nicht um die Erstausgabe des Romans von 1 936. sondern um eine Neuauflage dreißig Jahre danach. Das ist ein
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wesentlicher Unterschied . Dcr Notstand, der den Emigranten K laus Mann zu dem in seiner Härte und Heftigkeit - cx post - gewiß übertriebenen A ngriff auf G rü ndgens veranlaßt hat. ist heute nicht mehr gegeben. Nach den vorliegenden I nformationen muß anerkannt werden, daß sich auch Gründgens selbst in einem gewissen Notstand befunden und - wie es scheint - im Rahmen seiner Möglichkeiten Unrecht und Unmenschlichkeit zu verhindern versucht hat. Als aktuelle Kampfschrift ist der Mephisto nach 1 945 also schwerlich noch zu rechtfertigen. Als historisches Dokument aber ist d ieser Roman von hoher Bedeutung. Das Buch ist gerade in seiner bitterbösen, auch das Intimste nicht schonenden Aggressivität ein eindrucksvolles Dokument des verzweifelten Bemühens eines exilierten Literaten. sich mit seinen Mitteln Gehör zu verschaffen. Vor allem in dieser I ntention muß der Mephisto ernst genommen werden. Die Feststellung des Oberlandesgerichts Ham burg, "ein falsches Bild über die Theaterverhältnisse nach 1 9 3 3 aus der Sicht eines Emigranten" verdiene kein öffentliches Interesse, ist, wenn nicht schierer Zynismus. dann gewiß doch ein eklatanter Akt der Verdrängung. Die Emigranten gehören so wesentlich zur deutschen Geschichte. daß ihr politisches Handeln zwischen 1 93 3 u n d 1 945 in aller Nachhaltigkeit - selbst d a n n . w e n n es im einzelnen verfehlt gewe sen sein sollte - ins öffentliche Bewußtsein gerufen werden muß. Wenn wir also der Meinung sind. daß der Mephisto hätte freigegeben werden sollen, dann nicht primär deshalb. weil es sich hier um ein Kunstwerk welchen Ranges auch immer handeln mag. sondern u m der historischen Aufklärung willen. I m Sinne dieses Anl iegens sind wir allerdings auch der Meinu ng. daß G ustaf Gründgens bzw. seinen Angehörigen das Recht auf eine G egendarstellung hätte eingeräumt werden müssen. Der vom Oberlandesgericht H amburg und vom Bun desgerichtshof angedeutete Vorschlag, den Roman mit einem extensiven Vorwort zu publizieren, erscheint uns vernünftig, und es ist bedauerlich, daß sich die Parteien darüber nicht haben einigen können. Denn so wäre dem Leser die Möglichkeit geboten worden. in der Konfrontation der fiktiven mit der h istorischen W i rklichkeit die Wahrheit d ieses Romans erst recht zu erkennen und beiden Positionen gerecht zu werden. Auf d iese Weise hätte der Fall Mephisto ein hervorragendes Lehrstück zum Problem Bewältigung der Vergangenheit werden können.
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Wir haben mit dieser Fallstudie den Nachweis zu führen versucht, daß die sogenann ten Kunstprozesse im G runde keine Kunst-Prozesse sind. insofern das K unstpräd ikat ein für die U rteilsfindung letzten Endes blindes Argument bleibt. In aller Regel geht es in d iesen sogenannten Kunstprozessen nicht primär um die Freiheit der Kunst, sondern um die Kommunikationsfreiheit generell. Das hat seinen guten G rund : ein über die Meinungs- und I nfonnationsfreiheit hinausreichender. insbesondere der Kunst vorbehaltener Lizenzraum kann argumentativ nicht mehr reklamiert werden.
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Die Privilegierung der Kunst gegenüber anderen Formen der geistigen Äußerung in unserer Verfassung. ein weitgehend deutsches Spezifikum übrigens. scheint ein später juristischer Reflex der idealistischen Kunstphi losophie zu sein und ist als Rechtsvorschrift historisch überholt. insofern sie dem Kunstbegriff der klassischen Ästhetik verpflichtet ist. einem Begriff von Kunst also. in dem Konflikte mit dem G esetz a priori ausgeschlossen sind. - Mit den verfassungsjuristischen Konsequen zen dieser Einsicht. die. wenn nicht auf eine Liquidierung. so doch auf eine Modifi zierung von An . S. Abs. 3 G G hinauslaufen müßten. haben wir uns. GOtt sei Dank. nicht zu befassen. Das ist ein Kapitel für die Rechtsgelehnen.
K LAUS OETIINGER K U N ST O H N E S C H RAN K E N ? Z U R J U R I STI S C H E N I NTE R P R ETAT I O N D E R K U N STF R E I H E ITSGARANT I E D E S G R U N D G E S ETZES'
I Systematische I nterpretationsvorschläge " D i e Kunst ist frei", heißt es lapidar in Artikel 5, Absatz 3, Satz t des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Die Juristen tun sich schwer mit der Auslegung dieser Rechtsvorschrift l . Zwar scheint der Gesetzestext eindeutig zu sein : die Frei heit der Kunst wi rd - wie die Freiheit von Wissenschaft und Forschung - schranken los garantiert, im Unterschied zur Lehre, für die im Satz 2 von Art. 5, Abs. 3 eigens ein Vorbehalt formuliert ist, der Vorbehalt der Verfassungstreue, - aber gegen diese prima facie plausible, weil unmittelbar am Text orientierte Interpretation2 wird in der Regel das Argument ins Feld geführt. "das unserer Verfassung zugrunde l iegende M enschenbild" schließe "die Annahme irgendeiner Individualfreiheit ohne Bin dung" aus). Auch die individuelle künstlerische Entfaltung habe auf die Rechts- und Freiheitsanspriiche anderer Rücksicht zu nehmen4• Irgendwelchen Schranken ist also auch die Freiheit der Kunst zu unterwerfen. Aber welchen ? Da sie im Text nicht ausdrücklich formuliert sind. müssen sie konstruiert werden. In der grundrechtsdogmatischen Diskussion über diesen Artikel sind dazu bisher zahlreiche in der Zunft allerdings heftig umstrittene Thesen erarbeitet worden. Wir wollen die wesentlichsten Vorschläge und die entsprechenden Einwendungen in aller K ürze zu skizzieren versuchen. wobei wir die oft höchst subtilen Zwischenschritte
.. Diest Abhandlung ist tinc i:tlingfugig urngtarbeitttC' Fassunj; cints Aufunes, der in der Ztiuchrih UFITA - Arehif/fitr Urhtbtr-F.lm-FIl"k- ll"d TM.UrTteht 7 1 ( 1 974), 5. 1 5--40, erschitntn ist. I H . R . Ropcn7, D.o: Frt.ho:rt ,ur KIl"st ".eh do:m Grll"dgtstl2, Neuwi.:d 1 966; G . Erbel, I"hdlt Il"d
A.uu,.rk.",gr" dtr wr/dJSlmgsrrcht!iehe" K,."Jt!rtihritJg4r4"tir, Btrlin/Htidriberj;/Ntw York 1 966; W. Knits, Sehr."kr" drr K""JtfrrihC'lt dis f/tr/.ull"gsrrchtlichts Probltm. München 1967; S. On, K,.nst ,."d St_t - Drr K,.nst!rr zwrseht" Frrihtrt Il"d Zt"s,.r, Münchtn 1968; M . Schick, KIl"stwrrk g.r."tro: 'md Strafrrchl, Jargrsullt .", BriJpirl drr Gotttsliistrr""g ,."d Rrlig.o"Jbtschimpfll"g, Diss. TubinGcn 1968; H . \'on Hanlitb. "Die Freiheil der Kunst und das Sinmgeselz", in UFITA 51 ( 1 968), S. 5-67; F. M u l ler, Frr,hrrt dtr KIl"sl dis Problr", do:r Gr,."drrehtsdog",."k. Berlin 1 969; L . lein, K,.nst .", Konflikt - KIl"st lind Kllnst!rr",. WidrntrC'lt mil drr abrigkC'lt, Berlin und Ne ... York 1 9 7 1 ; P. ltrc:ht, "Schranken der K unsdrrih.:ir - Insbcsondtrt zu offentn Fragtn dtr Mephi5lo- Enuchti dung", in Arch.f/!iir l'rnldtrrcht ( 1 97J). S. 4%-502. � Dit1C InltrprtratlOn W i rd am radikalurn \'rrtrrrtn \'on F. Bautr, "Was in unzuchtig1", in Vorgä"go: 4/S ( 1 962). S. 8; dtrs., " G rundgestlz und 'Schmurz- und Schundgtstl z " ' , in j,.ristr"uit""8 ( 1 965), S. 47; dtn., "Jugtndgtfahrden d ? " , in Irtlo:rd J ( 1 964), S. 10. 1 G . Erbel /nhdll ""d A,.sw.rkll"go:n S. 1 1 5 . 4 E i n t �u�fuhrlichr AuseinandtrstlzunG mir Bautr bei W. Knies Schrdnko:n drr KIl"stfn,hr't S. JO H.
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d e r diversen Argumentationsgänge übergehen. W i r haben h:diglich die Absicht, das Ausmaß der dogmatischen Probleme einer Interpretation von Art. 5, Abs. J , Satz 1 GG andeutungsweise s ichtbar zu machen. These 1 : Die Freiheit der Kunst ist ein Unterfall der Freiheit der Meinungsäußerung und unterliegt damit deren Schranken. A rt. 5, Abs. 3 ist also in direktem Zusammenhang mit Art. 5, Abs. I und 2 GG 7.U behandeln�. Gegen d iese I nterpretation wird u . a. geltend gemacht, daß der Grundge sctzgeber durch die Reihenfolge der Absätze i n Art. 5 hinreichend deutl ich gemacht habe, daß die in Absatz 2 aufgeführten Schranken ausschließlich auf die Meinungs freiheit anzuwenden seien. These 2: Die Freiheit der Kunst unterliegt den Schranken, die dem generellen Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit gezogen sind'. Art. 5, Abs. 3 ist also auf Art. 2, Abs. 1 zu beziehen7• Gegen d iese Interpretation wird eingewandt, daß der Art. 2 nicht als " Generalvorbehah", als "Munergrund recht", für alle G rund rechte angesehen werden dürfe. Er sei als lex generalis prinzi piell nur dort heranzuziehen, wo das Grundgesetz "eine grundrechdiche Spezial norm" nicht zur Verfügung steileS. Die Freiheit der Kunst sei aber im Grundgesetz gesondert garantiert. These 3 : Die Freiheit der Kunst unterliegt zwar nicht direkt der Schrankenbestimmung von A rt. 2, diese ist aber als "Anknüpfungspunkt zur Herausarbeitung allgemeiner Schranken " zu betrachten. Das heißt: die Schrankentrias des Art. 2 wird als "Verfassungsvorbehalt z u r Inter pretation immanenter Grundrechtsschranken" gedeutet'. Dazu hat man jedoch be tont, daß diese These mit dem Strukturprinzip des Grundgesetzes nicht zu vereinba ren sei. Im G ru ndgesetz sei das Verhältnis grundrechtlicher Freiheit und deren Be schränkung durch spezifizierte, je auf das konkrete Grundrecht bezogene EinzeIvor behalte geregelt. Angesichts dieser "Formtypik" des Grundgesetzes sei es nicht
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Zu dieser These vgl. G . Erbtl Inh.Jt "nd A"swi"",,ngrn 5. 1 1 1 , 5 . 1 1 6 1 . ; \1('. Kmrs Schran"r" der K"mtfrelhrit S. 591f. und S. 257H. i F. Müller Freihrit der K",ur S. 1 5 1. Zu dieser These vgl. G. Erbcl /nh,,/, "nd A"swir.... ngen S. 1 1 8 H. i W. Knies Schra""en dr.. K"mtfreihrit
S. "ff. ; F. M;;Urr Freihrit tk.. K"ntl 5. 1 7 f . , A n . 2, Abs. 1 GG lautet : "Jeder hat d a s Recht a u f d i e freie Endaltung semer Personlichkeit, soweit c r nicht d i e Rechte anderer verletzt und nicht gegen d i e verfassungsmäßige Ordnung oder das Sinrngcsc"tZ verSlößI."
I W. Knies, Schr"n"rn drr K""stfrelhrlt S. 89.
, Vgl. Maunz-Dürig, Rd. Nr. 72 zu An. 2 GG.
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gerechtfertigt, darüber hinaus ungeschriebene, "immanente" Generalschranken z u konstruieren'c. These 4: Die Freiheit der Kunst findet dort ihre Schranken, wo "Rechtsgüter, die für den Bestand der Gemeinschaft notwendig sind", gefährdet werden'i. Dieser Vorschlag ist mit dem H inweis kritisien worden, daß damit keine sichere Rechtsgru ndlage geboten werde. "Gemeinschaftsklauseln" dieser A rt seien nahezu beliebig manipul ierbar, da kaum ein öffentliches I nteresse denkbar sei, das nicht zum "gemeinschaftsnotwendigen (und damit grundrechtsbeschränkenden) Rechtsgut" erklärt werden könne 1 2 . These 5: Die Freiheit der Kunst kann sich nur im Rahmen der dem Grundgesetz immanen ten Wertordnung, nur innerhalb der UTotalitiit des verfassungsrechtlichen Wertsy stems", entfalteni). Gegen diese I nterpretation sind Zweifel erhoben worden, ob "der Grundrechtska talog von solch gegenständlicher Geschlossenheit und Vollständigkeit sei", daß er die Bezeichnung "System" überhaupt verdiene. Bisher sei es jedenfalls noch nicht gelungen, die Wertordnung des Grundgesetzes als " Rang- und Verhältnisordnung" der Grundrechte systematisch zu entwickeln'4. Soweit i n aller Kürze die wesentlichsten Thesen und Einwendungen. Die diesbe zügliche Diskussion scheint gegenwärtig von einer Konvergenz der Meinungen weit entfernt 7.U sein.
11 Die historische Interpretation
Angesichts solcher exegetischen Schwierigkeiten wird man sich auf den h istorischen Gehalt dieser Bestimmungen zu besinnen h.aben. Was haben sich die Grund gesetzge ber bei der Formulierung des Satzes von der Kunstfreiheit gedacht? Was war ur sprünglich mit diesem Satz gemeint? Greift man zu den Protokollen der verfassungsgebenden Versamml ung, aus denen in der Regel A ufschlüsse über die Entstehungsgeschichte der einzelnen Grundge, ; Zu diner Th,'sC' vgl. S. 1 9 f. " 11
Zu die'cr Thc-sc- v K; 1 . S. I 9 f . Zu dic-�"r ThC'sC' v g l .
'IX'.
Kn,C's Sd"'Ullt�n d�r KllnJlfr�lhelt S. 1 00 ff. und F. Müllc-r FUlhtll d�r K"nst
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Knin Schr"nktn d�r Kllnslfr�lh�1I S. 9 3 f f . und
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Knirs Sr:hr4nkrn drr KllnJlfr�ihrll
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Müllc-r Frrlh�1I d�r KllnJI
39ff. und F. Müllc-r Frrlh�,t d�r KllnJl
S. 2 0 f . : BVrrfG- Enuchcld u n g zu Mephislo vom 24. Febr. 1 9 7 1 in BVc-rf G E 30 ( 1 973) ( 1 97 1 ) . 5 . 3 2 7 . " "' . . Knlcs Schr"nltrn d�r Kllnslfrr,h�1I S. 3 9 f . , . Fbd . S. 96 .
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setzanikel zu gewinnen s i n d . die wiederum Rückschlüsse a u f die Intentionen des Gesetzgebers erlauben. so finden sich in diesem Falle überraschenderweisc keine Notizen. die wesentliche Interpretationshinweise enthalten ' 5 . Die Notwend igkeit der Garantierung einer umfassenden Freiheit der Kunst war im ' Parlamentarischen Rat' derart selbstverständ lich, 50 scheint es, daß d ieser Teil des Art. 5 einer ernsthaf ten Diskussion gar nicht bedurfte. Man w ird daraus schließen müssen, daß die historische Situation, aus deren Kontext diese Garantieerklärung abgegeben wurde, einen d ifferenzierenden B lick auf die damit implizierte Problematik verstellte. Einige Voraussetzungen lassen sich rekonstruieren. I H itler-Regime
Man hat darauf hingewiesen. daß das Grundgesetz in erster Linie durch die bösen Erfahrungen des totalitären Naziregimes geprägt wurde". I n dieser Erfahrung ist sicherlich ein wesentliches Motiv für diese allgemeine und pauschale Formu lierung der Kunstfreiheitsgarantie zu suchen. Im Dritten Reich war der ganze Bereich der Kunst. nicht nur die Verbreitung und Rezeption von Kunst. sondern auch das künst lerische Schaffen des einzelnen. so unerhört engen und brutalen Grenzen unterwor fen, daß man nun die Freiheitsgarantie der Kunst nicht weit genug fassen zu müssen glaubte. 2 Weimarer Verfassung Ein weiteres Motiv ist sicherlich - auch darauf wurde aufmerksam gemachtl ' - in der Tatsache zu suchen, daß bereits die Weimarer Reichsverfassung einen solchen Passus, wenn auch in anderem Kontext, enthielt. Zwar waren auch in den zwanziger Jahren - vor allem im Zusammenhang mit den Beratungen über ein J ugendschutzge setz - Möglichkeiten eines Konflikts zwischen Kunst und Recht bewußt geworden I ' . Aber diese Probleme mochten, wenn s i e in d e n unter heftigem Zeitdruck arbeitenden A usschüssen des Parlamentarischen Rates überhaupt einläßlich rekapitul iert werden konnten, als zu unerheblich erscheinen, um die im großen und ganzen bewährte Formulierung einer wesentlichen Revision zu unterziehen.
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S.Jf7 1 G G gibt E . Probst. Dir Frrihrit 1I0n K"nst "nd WiJfrnsch.ft. FOrJch"ng "nd Lrhrr .Is Gr""drrchuftJt,mm"ng
Ein e n deu.illienen überblick über die Enutehunl:sgcschichre des A rt . 5 . Abs. ].
,m Gr""dgrJrtz fifr dir S""dcsrrp"bIJt Drlftscht."d, Diss. Kaln 1 9 5 1 . S. 22 ff. - Zun.mmenfassrnd auch G. Erbel /"halt "nd A"fUlirlrlfnge n S . 6]f.
65 ff. - Zur Situation der Künste im D r inen Reic h : H . B re nn er, Die KlfnJtpolitilr dcs Nationalsoz",lismlfs. H am bufl, 1 96]; P . O . Rave. KlfnstdiJttat"r ,,,, Drittcn Rrich. H amb u rg 1 949; F . Roh. Entartcte KIf"st - KIf"srbarbarci im Drittrn Rrich. Gürenloh 196] ; ders . • Litrratlfr ""d Dichtlf"I ,m Drittc" Rrich. GÜl enl oh 1 96]; d rrs . • Thrater Ifnd F,/", ,m Drittcn Rcich. Gür rr si o h 1 964. G. Erbel. I"halt ""d AIfJU',rlrlf"lrn 5. 5 ] . Vg l . A . Hellwig. J"grndJchlftz gcgrn Schlfndlitcrat"r. B er lin 1927 S. 1 24 f t
1 6 Au sf ü h rli ch G . Erbel. Inhalt Ifnd Alfswirlrlfngc" S .
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3 Zurückliegende Fehlentscheidungen d e r Rechtsprechung Ferner ist noch in Rechnung zu stellen, daß die wenigen prominenten Skandalfälle der Vergangenheit, an die man sich allenfalls erinnern mochte - Baudelaires Les Fleurs du MaP', Flaubens Madame BOfJarl°, Die Weber von Hauptmannl1 oder Der Reigen von Schnitzle,..u - im historischen Abstand harmlos geworden waren und die einschlägigen Gerichtsuneile im nachhinein als blamable I rnümer einer mit Scheu klappen versehenen Justiz erscheinen mochten. Keinesfal l s waren diese historischen Prozesse geeignet, eine gründliche Reflexion der prinzipiellen Konfliktmöglichkei ten zwischen Kunst und geltendem Recht anzuregen. 4 Prinzipien des klassischen Idealismus Schließlich ist noch zu berücksichtigen, daß die kunsttheoretischen Prinzipien des klassischen I dealismus beim gebildeten Bürgenum mehr oder weniger reflektien bis weit in unser Jahrhunden hinein präsent geblieben waren. Zu diesen Prinzipien gehört die überzeugung, daß die Kunst volle Autonomie genießen und sich in aller Freiheit von den institutionellen Mächten entfalten solle. I n den Briefen "über die ästhetische Erziehung des Menschen" schreibt Schiller : "Von allem, was positiv ist und was menschliche Konventionen einfühnen, ist die Kunst wie die Wissenschaft losgesprochen, und beide erfreuen sich einer absoluten Immunität von der Willkür der Menschen. Der politische Gesetzgeber kann ihr Gebiet sperren, aber darin herr schen kann er nichtnl1. Der Schluß liegt nahe, daß An. S, Abs. 3 , Satz 1 GG als j uristische Kodifizierung d ieses von Schiller für die idealistische Ästhetik repräsenta tiv formulienen Anspruchs auf Freiheit der Kunst zu interpretieren ist. Diese An nahme kann sich auf die Fassung des Gesetzestextes selbst berufen.
1 1 1 Der idealistische Kunstbegriff
Prüft man den Wortlaut von Art. S, Abs. 3, Satz 1 GG hinsichtlich seines histori schen Gehalts, 50 fällt zunächst auf, daß " Kunst" - wie auch "�'issenschaft" - hier I"
Obe-r de-n Proußve-rlauf Informic:n die- C01l""d.A,uB"n dc:r Wrrkr Bauddairrs. UJ Flr"", d" MIII. 1'22, S. J 1 4 ff. Vgl. duu K. Hri�mann. " Kunn und Moral - Zur Problrmatik de-s Prouurs gegrn dir FIrN'" J" Atllt' in Dt"ucht Vlrrttl,lIh"tJJchn/t /;;" Lllr""tNrwIJ,nuch../t ,,1Id Grutt,·GrJchi.chtr H, ( 1 960), S. 4 6 f f . :: Dir Pro�okolle: de:s Proze:s�s \ l n d In de:r Conrad-Ausgabc: drr We:rke: Flaubc:ru, At"J4",t BtnllI?
:1
! ' J O . S. sn. abgc:druckl. - Vgl. dazu die: Studie: von P . M . W. ThOO)", Fo"" CIIJt, 0/ Litt",,? Ct1lJO"· Jh,p. l.rc:d" 1'68.
H . f I . Houbal, Vtrbotme: uttr.at"" V01l dtr ItLUJuchm Ze:;t bu z " " Gtgnrw"rr, Bd I, Brrlin 1924. S. l l 7 ff. Zusammrnbsse:nd auch L . Le:iss, K"1IJI ,,,, K01lflllt t S . 1 1 8 ft. :: W . HC'inr, Dt" K""'p/ ,,17I Jt1l Rt'Bt1l - Voll"ii1lJiBt7 Srn·cht libr" dir ,rchJtiig;gr Vr"hIl1lJI,,1IB grgr1l D,J'tlw01l ,,1IJ D"l'Jtrllr" JtJ Kltl1lt1l Sch""JI'wlh.."JrJ St"',", Bc:rlin 1922. - Zusamme:nbnrnd a\lch l . . l.riu, K,,"" ,17I K01lflikt S . 290 ff. : 1 Dir hlrr und im folgC'nde:n in K l ammrrn gC'sC'lztrn Sc:ite:nzahlrn brzie:he:n sich auf dir Hansrr-A \lsr;abc: drr S"mtl,chr1l Wt,ltt von Frirdrich Schille:r, M unche:n 1 9 S9,
Bd S , S . S99.
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a l s Singularbegriff erscheint. D e r Text spricht n i c h t vom Schutz der Künste. zumal der schönen Künste, sondern von " Kunst" schlechthin. Diese Generalisierung ist nicht selbstverständlich. Die Rede von der " K unst" als I nbegriff aller schönen Künste hat sich crst seit etwa M itte des 1 8 . J ahrhundens allmählich eingehürgen, als sich die Ästhetik in Beantwortung der Frage. wie die allen schönen Künsten gemeinsame leistung im Verhältnis zu den handwerklichen Künsten einerseits, zu Philosophie, Wissenschaft und Religion andererseits zu be stimmen sei, als selbständige Disziplin etablierte. Ergebnis d ieser Reflexion war die Einsicht, daß sich im Schönen Wahrheit auf spezifische Weise äußen, daß i m Kunst schönen, wie Hegcl sagt, das " A bsolute" - "die tiefsten I nteressen des Men schen, die umfassendsten Wahrheiten des Geistes", das "an und für sich Vernünf tige" - in realer Gestalt erscheint und damit unserer äußeren Anschauung, unserem Gemüt und unserer Vorstellung zugänglich w ird2". Die " Kunst" w ird hier als Me dium begriffen, in dem das " I deal" auf symbolische Weise manifest wird. Schlichter formuliert : Im " Kunstschönen" gelangt eine von den Zwängen der Endlichkeit be freite, von der Mühsal der unversöhnten Realität entlastete, eine heile Welt zur sinnl ichen Evidenz. Auf d iese ganz allgemeine Bestimmung läßt sich i m Grunde die gesamte ästheti sche Reflexion des klassischen Idealismus vereinigen. I m einzelnen deckt d iese Be stimmung indessen recht unterschiedliche Konzepte : Kant, Schelling und HegeI, Schiller, H umboldt und J ean Paul , Wackenroder, Novalis, A ugust Wilhelm und Friedrich Schlegel, Schleiermacher und Sol ger haben jeweils eigene ästhetische Ent würfe geliefert. Zur Stützung unserer These mag es genügen, wenn wir im folgenden einige Aspekte der Ästhetik Schillers - insbesondere im H i nblick auf die Frage der lizenzen von ' Kunst' - in aller Kürze vorstellen. Schiller empfiehlt sich i n d iesem Zusammenhang deshalb, weil er mit seinen theoretischen Schriften die A uffassung von ' K u nst' i n der gebildeten Offentl ichkeit zweifellos am nachhaltigsten geprägt hat. Schiller entwickelt Begriff u nd Aufgabe der "schönen Kunst" aus einer fundamen talen Kultur- und Gesellschaftskritik. Der tech ni sche Fortschritt der Menschheit, behauptet Schiller, ist mit dem Verlust ihrer Natürlichkeit erkauft. Der Trieb zur Sicherung der schieren physischen Existenz hat im Laufe der Geschichte eine einsei tige Ausbildung von Fähigkeiten und Fertigkeiten erzwungen, der die Totalität der menschlichen Möglichkeiten zum Opfer gefallen ist. I n der arbeitsteiligen Welt der Gegenwart ist der Mensch "an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefes selt" und wird dadurch selbst zum B ruchstück verkrüppelt : " Ew i g nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie d ie Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft" (584). Die M isere der beste-
:t G . W . F . Hege!, AJlh�tllt, hg. F . Bassenge, Bulin 1955, Einleitung
s.
54.
KUNST OHN E SCHRANKEN ?
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henden politischen, sozialen, sittlichen Verhältnisse ist eine unvermeidliche Folge dieses tech nischen Progresses. Die Funktion der " Kunst" besteht nun darin, den ursprünglichen Zustand im Gebilde zu vergegenwärtigen, i n Erinnerung zu rufen, was vergessen wurde, als " Ideal" zur anschaulichen Präsenz zu bringen, was durch das Elend der faktischen Realität verdeckt ist : die u nverfälschte, vor allem historischen Anfang liegende "Na tur" des Menschen ( 7 1 2 , 7 1 6). O rgan d ieser Verkünd igung ist das Kunstgenie (704 ) : selbst ein Produkt der " Natur", legt es Zeugnis a b f ü r diese " Natur" ( 7 1 2), "unange tastet von der Verderbnis der G eschlechter und Zeiten" (539), ist es dazu berufen, die Depravation der gegenwärtigen Gesellschaft, den Abfall der Menschheit vom eigenen Ursprung, offenkundig z u machen. I n der Wahrnehmung d ieses Auftrags ist der Künstler davon entbunden, sich an die allemal schlechten, wenn auch notwend i gen Kompromisse der alltäglichen Lebenspraxis zu halten. Ihm als dem Anwalt der natürlichen Sittlichkeit ist das Recht eingeräumt, sich über die gesellschaftlichen Regeln der " Dezenz", über die nur aus dem Verlust der Unschuld geborenen "Ge setze des Anstands" hinwegzusetzen ( 74 1 ). Wo die ganze "Fülle der menschlichen Natur" zum Ausdruck d rängt, da sind die Schranken der Konventionalität hinfäl lig (742). Der " K u nst" kann nicht verboten sein, "was der unschuld igen Natur erlaubt ist" ( 74 1 ). Die "sch lechte Natur" jedoch, die Mißbildungen unserer sozialen Exi stenz, die uns im gemeinen Leben etwa als brutaler " Ausbruch der Leidenschaft" (755), als "blinde Gewalt der Affekte" (784), als "moralische N iederträchtigkeit" (755), als "Schamlosigkeit, Will kür, Rohigkeit, Frivolität" begegnen (596) - kurzum: das unbedingt Negative!' kann niemals zum Anliegen " schöner Kunst" werden25• Das bedeutet nicht, daß dem Künstler grundsätzlich verwehrt ist, die "schlechte Natur" zum Gegenstand seiner Darstellung z u machen (755). I n d iesem Falle muß er jedoch durch die "ästhetische Organisation" (640) dafür sorgen. daß die inhaltliche Anstö ßigkeit liq u idiert, daß "das Gemeine des Stoffes durch die Behandlung veredelt" wird (537). Nur dann wird der K ünstler seiner Berufung ganz gerecht, wenn er sich aller Welthändel entschlägt, wenn er sich auf das "wesenlose Reich der Einbild ungskraft" (658), auf die "Weh des Scheins" (658), beschränkt, wenn er auf jeglichen Bezug zur faktischen Wirklichkeit verzichtet. Wo daher praktische Interessen, materielle Ab s ichten, wo endliche Zwecke im Spiele sind, ist " Kunst" nicht mehr "freie", nicht mehr "schöne Kunst". Werke also, die uns in irgendeiner Weise in eine bestimmte "Tendenz" zu lenken versuchen (640), Werke, die nützliche Lehren erteilen, die tagespolitische Parteinahme erwirken, die zum praktischen Handeln aufrufen wol len, aber auch Werke, die es darauf abgesehen haben, "durch einen heillosen An schlag auf unsere Begierden" (743) uns affektiv zu okkupieren - generell also solche !\
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KLAUS O ETTINGER
Werke, die in direkter Weise auf die im weitesten Sinne materielle Lebenswirklich keit einzuwirken versuchen. haben mit "schöner Kunst" nichts zu tun. Denn deren ureigenste Funktion besteht darin, die Bindung unserer Existenz an die faktische. die schlechte Realität zu lösen und uns damit in jene "Freiheit des Geistes" (659) zu versetzen, in der erst der Mensch i n all seiner ursprünglichen Würde zu sich selber kommt. Schiller ist sich darüber im klaren, daß die ästhetische Erfah rung in der konkreten Begegnung mit " Kunst", das kontemplative Wohlgefallen am "schönen" Gebilde, sich nicht immer und in jedem Falle einstellt. Häufig genug ist der Mensch so ausschließlich auf den Verstand oder auf die Sinn lichkeit reduziert, daß ihm die Einsicht in die "Harmonie des Ganzen" verschlossen bleibt : "Sein Interesse (am Kunstwerk) ist schlechterdings entweder moralisch oder physisch, nur gerade, was es sein soll, ästhetisch ist es nicht. Solche Leser genießen ein ernsthaftes und patheti sches Gedicht wie e i n e Predigt u n d e i n naives oder scherzhaftes wie ein berauschen des Geträn k; und waren sie geschmacklos genug, von einer Tragödie und Epopoe, wenn es auch eine Messiade wäre, Erbauung zu verlangen, so werden sie an einem anakreontischen oder katullischen Liede unfehlbar ein Ärgernis nehmen" (640). Äs thetische Blindheit indiziert somit allemal ein beschädigtes Bewußtsein. Wir können uns hier mit dieser ganz groben Skizze einiger G rundlagen der Ästhe tik Schillers bescheiden. Das für unseren Zusammenhang Wesentliche dürfte deut lich geworden sein : I n der " Kunst" soll eine von allen Schlacken der Geschichtlich keit gereinigte Wirklichkeit präsentiert werden, eine Welt, in der die aus der Not des Alltags erwachsene Entzweiung von Natur und Interesse aufgehoben ist ; indem sich die " Kunst" auf dieses Ziel verpflichtet, gewinnt sie ihre spezifische Freiheit. Daß ein Werk, das einer solchen Definition von " Kunst" entspricht, nicht wahrhaft gegen das Recht verstoßen kann, zumindest gegen ein in der "Natur" begründetes Recht, ist evident. Wer dennoch Anstoß nimmt, denunziert sich selbst : er gibt damit zu erkennen, daß er unfähig ist, ein Kunstwerk ästhetisch zu würdigen.
I V Zur Rezeptionsgeschichte des idealistischen Kunstbegriffs Die bürgerl ichen Anschauungen über ' Kunst' und ' Künstler' sind während der letz ten 1 50 Jahre maßgeblich von dieser idealistischen Ästhetik bestimmt worden. Re flexe finden sich auf Schritt und Tritt, nicht nur im akademischen, sondern auch im populären Bereich, nicht nur in den wissenschaftlichen Literaturgeschichten, nicht nur in der professionellen Kunstkritik, sondern auch in den Satzungen der Kunstver eine, in den einschlägigen Artikeln der Konversationslexika, in den Festreden anläß lich der Einweihung von Theaterhäusern, Museen und Konzertsälen. Die normative Geltung d ieser Ästhetik ist im Grunde erst nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich abgebaut worden. Eine vielleicht letzte imposante Vertretung hat sie in Emil Staigers Rede zur Verleihung des Zürcher Literaturpreises am 1 7. Dezember 1 966 gefunden.
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Fazit dieser Rede ist die Feststellung. daß ' Kunst', die die ewigen Wene der Sittlich keit verletzt, die das Gemeine um seiner selbst willen zur Darstellung bringt, keinen Respekt verdient. Staiger beruft sich dabei namentlich auf Schiller und unterwirft nahezu die gesamte Literatur der Gegenwan einem vernichtenden Verdikt. Der vehemente W iderspruch aus allen l iterarischen Lagern hat freilich auch in aller Deut lichkeit gezeigt. daß die Wirkung d ieser Ästhet ik ihre historischen Grenzen erreicht hatZ'. I n einer universalen Rezeptionsgeschichte dieser Ästhetik - die noch geschrieben werden müßte - wäre auch der Ju risprudenz ein eigenes Kapitel einzuräumen27• Schon bei einem flüchtigen Streifzug durch das ältere Schrifnum. das sich zur Justi tiab i lität von ' Kunst' äußen. erst recht aber durch die einsch lägige Judikatur läßt sich erkennen. wi e selbstverständlich diese idealistische Kunstauffassung auch in d iesem Bereich anerkannt w u rde. Werke. die ausschließlich 'künstlerische Zwecke' verfol gen, so wurde argumentien, geben grundsätzlich keinen Anlaß zur Strafverfolgung. Anders gewendet heißt dies frei lich: nur dann kann einem Werk das Prädikat 'Kunst' zuerkannt werden. wenn es im Rahmen der geltenden Gesetze bleibt. Dazu einige Belegstel len : In dem Lehrbuch des Deutschen SlrtJ/rechlS von Franz von Liszt etwa heißt es: " Ob in künstlerischen Darstellu ngen eine unzüchtige Handlung erblickt werden kann. hängt davon ab, ob die objektiven und subjektiven Merkmale des Begriffs 7.utreffe n ; bei der wahren Kunst ist das niemals der Fall. mag auch Prüderie oder Lüsternheit sie für ihre gemeinen Zwecke mißbrauchen'·lI. Oder bei Robert von H ippe! ist zu lesen : "Die Kunst hat kein Privileg, dem Publikum U nzüchtigkeiten zu bieten; sie hat vor dieser Schranke hahzumachen. Geschlechtliche Schamlosigkeit und Kunst sind Gegensätze. Die Vermischung dieser Gegensätze ist eine unter zahl reichen Krankheitserscheinungen der Gegenwan"!". In einer Strafentscheidung des Reichsgerichts vom 6 . November 1 893 heißt es: " Bei bildlichen Darstellu ngen de s nackten menschlichen Körpers fäl lt d er ästhetische Gesichtspunkt ins Gewicht. Die bildenden Künste haben von jeher den nackten menschlichen Körper nur seiner sinnl ichen Schönheit wegen oder auch Vorgänge geschlechtlichen Charakters um ihrer selbst willen dargestel l t . Daß die Anschauung derart iger B i l d werke die herrschenden Gesetze von Sine, Zucht und Anstand nicht ohne weiteres verletzt, beweist die offenkundige Tatsache der öffentlichen Ausstel lung derselben i n staatlichen Museen und sonstigen jedennann zugänglichen Samm lungen. Man ist allerw ärts der überzeugung, daß die Kunst imstande ist, auch Ge!� Du:
Kunuo"rrsr ist unlrr Jrnl Tud "Dr. Zurchrr lilrr,uurnreil" in Sp""ch� Im '�Ch"'fCh�If Z�i,,,I,�,, ( 1 9&7). S. 8 l U . �nchicncn.
: . Ohrr d:l� Fortwirkrn iJu.listIM:hcr Kunst\'ontellungc'n in der R«hlsp.echung und In dcr Rcchtslehrr Klbl \X'. Kmes Sch"""luIf d�, KN"Jtf"�II,tl' rinigr HinwC'i�r, S. 1 4 8 ff. Vgl. Jon �uch dit fußnolr 427 :luf S. 1 38 .
:. 1'. \ l.i�71. L�h,bNCh d�J DU'Jthtlf S" 4,,tchtJ, Berlm ' I H .. 7 , S . .... R " H l pprl. L�h,bNCh d�J S" 4,,tchtJ, BC'rlin 1 93 2 , S. 232.
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genstände der eben berühnen A rt künstlerisch bis zu dem G rade zu durchgeistigen und zu verklären. daß für das natürliche ästhetische Gefühl die sinnliche Empfin dung durch die interesselose Freude am Schönen zu rückgedrängt wird ' · Jo. In einer Strafentscheidung vom 13. Oktober 1 92 1 gibt ebenfalls das Reichtsgericht zu bedenken, daß "die dichterische Einkleidung ( . . . ) für sich allein noch nicht (ge nügt). um einer Schrift. deren Inhalt unzüchtig ist, das Gepräge des U "züchtigen zu nehmen. Auch Gedichte können unzüchtige Schriften sein. Wesentlich ist vielmehr, ob die künstlerische Form die Schilderung geschlechtlicher Vorgänge derartig ver edelt, durchgeistigt oder verklärt, daß eine Verletzung des Scham· oder Sittlichkeits gefühls vermieden wird" l l . In einer Entscheidung der Prüfstelle München f ü r Schund· u n d Schmutzschriften vom 1 3 . März 1 928 schließlich heißt es: "Die künstlerische ( . . . ) A rbeit wird, welches Thema sie auch immer haben möge, einen Konflikt mit dem Gesetz nicht zu be· fürchten brauchen. Darstellungen aber, die, nicht aus echtem innerem Drang gebo· ren, fragliche Probleme der Menschheit zu immensem sensationellem Lesestoff ver flachen und verfälschen, können als rein geschäftl iche U nternehmungen auf die na türlichen Privilegien ernster geistiger Leistung keinen A nspruch erheben, und es würde eine Verw irrung e lementarer Begriffe bedeuten, wenn man von geistiger Frei· heit des Künstlers und deren polizeilicher Behinderung reden wollte, wo es sich doch nur darum handelt, gefährdete ideelle Interessen der A llgemeinheit gegenüber den materiellen Interessen eines literarischen Geschäftsmanns zu schützen"J2. Selbst in d iesen vergleichsweise grobgeschnitzten Verlautbarungen über das We sen der ' Kunst' - die einzelnen Formulierungen spuken übrigens auch noch d urch die U rteilsbegründungen u nserer Tage - wird der idealistische Ansatz noch voll transparent. Fast das gesamte ästhetische Vokabelmaterial, das hier verwendet wird, ist - wenn auch teilweise verstümmelt - aus den d iversen Schriften der klassischen Kunsttheorie übernommen.
V Die idealistische Konzeption von Artikel 5 GG Wenn wir nun behaupten, daß auch die Kunstfreiheitsgarantie des G rundgesetzes aus diesen idealistischen Voraussetzungen heraus zu verstehen sei. so stützen wir uns dabei auf den Textaufbau von Art. 5 insgesamt. I n d iesem Artikel sind " K u nst" und "Meinung" ausdrücklich getrennt. Die Freiheit der Meinungsäußerung w ird, wie schon dargelegt, in Absatz 1 d ieses Artikels garantiert und unterliegt den in Absatz 2 aufgefühnen Schranken. Die Freiheit der " Kunst" wird h ingegen in Absatz 3 garan· tiert, und zwar ohne Vorbehalt. Was bedeutet diese Trennung? 10 11 11
RGSI 2-4, J&5. RGS1 5&, 1 75 . Zilil:rt nach L . lein KMfJJl lm Konfllltt S. 3&8.
K UNST O H N E S C H R A N K E N ?
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1 Freiheit der Mein ungsäußerung Im Sinnverständnis der A l l tagssprache gilt die Meinungsäußerung als ein auf unge wisse, nicht voll ausgewiesene Tatsachen gestütztes Urteil, als ein Urteil mit be grenztem Gehungsanspruch, weshalb man seine Meinung - im Untersch ied zur Glaubensüberzeugung - auch öfters wechseln kann, ohne sein 'Gesicht' zu verlieren. Von einem Mein ungsurteil w i rd - im Untersch ied zur Gewissensentscheidung nicht erwartet, daß man dafür einsteht. Man nimmt unverbindlich Stellung zu ir gendwelchen Problemen. Wer eine Meinung äußert, verpflichtet sich nicht auf die Wahrheit des Gesagten, er hat - im Unterschied zur wissenschaftlichen A ussage, zur Tatsachenbehauptung - keine vollständige Beweislast zu tragen, weshalb 'der Streit der Meinungen' in der Regel unentschieden ausgeht}). Gleichwohl können Meinungsäußerungen erhebliche Wirkungen auslösen, im po litischen wie im sozialen Bereich, und deshalb gibt es auch Interessen, die Freiheit der Meinungsäußerung einzusch ränken. In einem demokratischen Rechtsstaat sind daher Freiheit und Schranken der Meinungsäußerung gesetzlich geregelt - in unse rem Gru ndgesetz eben durch A rt. 5 Abs. I und Abs. 2. 2 Kunstfreiheit Wenn nun im U nterschied zur Meinungsfreiheit die Freiheit der ' Kunst' im G rundgesetz vorbehaltlos garantiert wird, dann ist dies nur dann erklärbar, wenn entweder vorausgesetzt wird. daß ' Kunst' als summ um bonum zu betrachten sei und ungeachtet aller möglichen Wirku ngen - Verletzungen der persönlichen Ehre, Ge fährdung der J ugend, Verstoß gegen die allgemeinen Gesetze - absolute Freiheits rechte genießen solle. oder aber wenn vorausgesetzt wird. daß ' Kunst' solche Wir ku ngen gar nicht haben könne. I n jenem Falle würde behauptet. daß das Kunstwerk - auch dann, wenn es eine Meinung vertritt - gegenüber der nichtkünstlerischen Meinu ngsäußerung einen grenzenlosen Mehrwert enthielte, in diesem Falle, daß " K unst", wie ein renommierter J u rist einmal bemerkte. gegenüber der Meinungsäu ßerung als ein "aliud" aufzufassen seiH, das heißt : daß ' Kunst' niemals eine juristisch relevante Meinung z u m A usdruck bringe. Jener I nterpretationsvorschlag müßte, wie mit Recht festgestellt wu rde, " z u ganz unmöglichen Konsequenzen führen"H. Die ser Vorschlag wäre h i ngegen plausibel, wenn der Begriff ' Kunst' historisch, als ' schöne Kunst' im Sinne der oben skizzierten idealistischen Ästhetik verstanden wird. I m Horizont der klassischen Kunsnheorie schließen sich ' Kunst' und Mei nu ngsäußerung tatsächlich aus.
))
Vgl. J . H abermas, S r ".. ltr .. ru·."drldr" Olfr1lr/.chltrlt. Neuwied u n d Berlin, 4 1 969, S. 1 02 . - W. Leisnt'r, Brs".ffl.chr G"r1lu1I vrr{"ss,.ngJ"rchrl"·hr,, Mrm"1Igsfrr,hrll. Baden-Baden 1 96J, S. 59ff. • • A nmt'rkungen zum Bt's!.:hluß des Oberverwahungsgcrichu. M u n n t'r vom 18. Nov. 1958", in
). E. SIr· i n , \�
j.. nsrrnuJ, .. 1Ig ( 1 959), S. 722. O bt'rnommt'n von Rupp-von Bn.innt'ck in ihrer "abwt'ichrndrn Mei nung" z u r ' M e p h i no ' - E n uchcid u n g d e s BVerfG vom 2-4. Fcb. 1 9 7 1 (5.0. Anm. 12). H. von M a n goldt, Kommentar zu A n . 5 GG, zilien nach W . K m cs Sch",,1IItr1l dr" K.. nsrfrr.hrIl S. 25.
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KLAUS OETTINGER
V I I Die Unverbindlichkeit des Begriffs ' Kunst' Die ästhetischen Präm issen, die zur Formulierung der Kunstfreiheitsgarantie im Gru ndgesetz geführt haben. sind heute nicht mehr selbstverständlich. Schon der generalisierende Gebrauch des Wortes ' Kunst' ist problematisch geworden. Wir reden zwar noch von ' Kunst'. wenn wir über Serielle Musik. über Min imal Art oder über Konkrete Poesie reden, ohne uns indessen über das, was d iesen K ünsten einer· seits untereinander, andererseits mit den traditionellen K ünsten gemeinsam ist. Re chenschaft gehen zu können. Wir reden zwar noch von ' Kunst', wenn wir uns mit Grieshaher, Beuys oder Schröder-Sonnenstern. mit Orff, Henze oder Stockhausen, mit Hochhuth, Böll oder Celan befassen, ohne jedoch eine Ästhetik anbieten zu können, die die Werke aller dieser K ünstler einzuholen vermöchte. Wenn wir also in generalisierender Weise von ' Kunst' reden, so ist dies in der Regel eine fae;on de parler ohne theoretische Fund ierungl6. Es gibt zwar eine Reihe von Vorschlägen, die aus einer Analyse der neueren Geschichte der K ünste einen allgemeinen Begriff der ' Kunst' der Gegenwart zu gewinnen versuchen. Prominente Vertreter haben seit geraumer Zeit zum Beispiel die These gefunden, daß Kunstprodukte gegenüber anderen Produkten dadurch ausgezeichnet seien, daß sie einen Impuls zur Reflexion auf ihre Darstellungsmodi mitteilten, oder auch die These, daß die ' Kunst' im Unterschied zum Kitsch ' Kon kurrenzwahrnehmungen' anbiete, Alternativen zur alltäglichen Apperzeption. Sol che Versuche setzen jeweils einen bestimmten Kanon von Werken voraus, der frei lich in einer pluralistisch gewordenen Gesellschaft allgemeine Verbindlichkeit nicht beanspruchen kann. Diese Versuche sind, wie alle materiellen Definitionen von ' Kunst', immer nur von partiku lärer Geltung. Wo prinzipiell keine bevorzugten Normen mehr anerkannt werden, ist ' Kunst' nicht mehr inhaltlich zu fassen17• I n Konsequenz dieser Einsicht läßt sich nur noch konstatiere n : ' K unst' ist, was ein j eder dafür zu halten gewillt istJB• Oder um eine aphoristische Wendung von Ludwig Marcuse zu zitieren : " Kunst ist nicht in Biblio theken und M useen - sondern in Reaktionen"l'. Das heißt konkret, daß zahl lose Kunstbegriffe in einer grundsätzlich gleichberechtigten Konkurrenz stehen : Kunst begriffe mit höchst unterschiedlichen ästhetischen Fundierungen, mit höchst unter schiedlichen religiösen, moralischen, politischen Programmen, mit höchst unter schiedlichen Tabus und Lizenzen. Der Kunstbegriff der klassischen Ästhetik ist nur einer unter vielen möglichen. ,. Zu dieser Problematik allgemein vgl. den 111. Band der Forsthungsgruppe ' Poetik und Hermeneuti k ' :
Die nicht ",ehr Jchonen KiinJte, hg. H . R. J a u ß , München 1 968. "'ird auch festgestellt "on W . Leisner, Begn/fllChe Grenzen 5 . SO, von W . Knies, Schranken der Kunst/reIhert 5. 1 70 und von A. Arndt in "Dit' Kunst im Rech t " , in Neue JurutiJche Woche,uchnf, ( 1 966), 5. 26. ). Sinnfallig demonsnien diese Einsicht Ben Vautier mit einer scheinbar absurden GeSte: er da1it'n und siV'iert let're B l äut'r - und vt'rkauh sie ausdrücklich als " K u nst". ). L Marcust', in Die Zell, 1 1 . Nov. 1 966, S. 2 ] . 11
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V I I I D a s juristische Di lemma Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen überlegungen für eine juristisch applikable Interpretation der Kunstfreiheitsgarantie des Grundgesetzes? Zwei Lösungen bieten sich an : 1 . Die J ustiz kanonisiert den historischen Kunstbegriff : ' Kunst' wird als ' schöne Kunst' begriffen. Was mit den mehr oder weniger großzügig auszulegenden Katego rien der klassischen Ästhetik nicht zu fassen ist, kann als "Kunst" - "in des Wortes höchster Bedeutung ....c - nicht anerkannt werden. Dieser Vorschlag hätte den Vor zug, daß sich das Schrankenproblem per definitionem erledigt. Nun hat man aber mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß ein solches Verfahren unzulässig ist, denn die Entscheidung der J u stiz zugunsten eines bestimmten materialen Kunstbe griffs widerspricht der grundgesetz l ichen Rechtsvorschrift des An. S. Der Satz, die Kunst soll frei sein, besagt ganl. gewiß d ies, daß öffentliche Gewalten nicht darüber befinden dü rfen, was als ' K unst' gelten könne und was nicht"l• Diese Lösung ist also juristisch nicht praktikabel. 2 . Die J ustiz bemüht sich um eine Aktualisierung d ieser Rechtsvorschrift, indem sie von einem Kunstbegriff ausgeht, der alles das, was heute unter dem Etiken ' Kunst' präsentiert wird, möglichst vollständ ig erfaßt, einem Kunstbegriff also, der gegebenenfall s auch solche Produkte einschließt. die eindeutig gegen die gehenden Strafgesetze verstoßen. Setzt man aber für Art. S, Abs. 3, Satz 1 in der Tat einen derart weiträumigen Begriff von ' K unst' voraus, so wird man notgedrungen in jene Auslegungsschwierigkeiten geraten. die wir oben dargestellt haben. Man wird sich auf jene krampfhafte Suche nach indirekten Vorbehahsklauseln begeben müssen, die dogmatisch durchweg fragwürdig sind. Auch diese Lösung ist somit juristisch zu mindest u nbefried igend . Das D i l emma des K unstartikels im Grundgesetl. besteht also darin. daß d iese Rechtsvorschrift nur i n ihren historischen Voraussetzungen textgerecht verstanden werden kann. bei nunmehr aber veränderten Voraussetzungen gleichwohl aktuel le Gültigkeit besitzt. Man kommt um die Feststellung nicht herum. daß der Kunstarti kel des Grundgesetzes. so wie er formuliert ist. antiqu iert geworden ist.
IX Vorsch lag einer Streichung des Kunstartikels im Grundgesetz Dieses Dilemma l ieße sich nur durch eine Korrektur des Grundgesetzes beseitigen. Denkbar s i nd dafür viele Vorschläge. Der Vorschlag. der am nächsten l iegt, eine enatzlose Streichung des Kunstartikel5. soll im folgenden diskutiert werden.
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1 92
K I.AUS O ETT I N G E R
Es ist bemerkenswert, daß nahezu alle Staaten, die eine geschriebene Verfassung besitzen, auf einen Passus, der die ' Kunst' ausdrücklich für frei erklärt, \'erzichten41 • Wenn s ich di e ' K u nst' in Ländern wie Frankreich, Holland, Schweden, Dänemark oder den Vereinigten Staaten dennoch einer außerordentlichen Freiheit erfreuen darf, dann ist füglieh die Frage zu stellen, warum gerade in der Bundesrepublik die Freiheit der ' Kunst' du rch eine spezielle Garantie einer zusätzlichen Sicherung be darf. K u nstkonflikte werden i n den genannten Ländern stets im Rahmen der generel len Geistesfreiheit verhandelt. Das ist auch plausibel. Denn eine rechtliche Privilegierung der ' Kunst' - was immer man darunter auch verstehen mag - ist nur dann sinnvoll, wenn es gelingt, deren Leistung durch eine Wahrheit zu definieren, für die die Autorität eines in besonderer Weise legitimienen Ursprungs in Anspruch genommen werden kann. N u n ist aber nach der Abdankung der Genieästhetik für die grundsätzliche Präva lenz der Ä u ßerung eines Künstlers gegenüber der Äußerung eines jeden anderen Bürgers schlechterdings kein A rgument mehr ins Feld zu führen. Wohlgemerkt : wir bestreiten n i c ht , daß die Botschaft dieses Gedichts o d er jenes Bild es eine Wahrheit enthalten mag, die nur so und nicht anders zu vermitteln ist. Wir bestreiten nur, daß dieser Botschaft ein gegenüber anderen Botschaften grundsätzlich ausgezeichneter Wahrheitsgehalt zugeschrieben werden kann. Eine solche Privilegierung ist auch nach der Logik der Schrankenregelung des Grundgesetzes inkonsequent. Wenn es sinnvoll sein sollte, die gewöhnliche Mei n ungsäußerung und Berichterstattung um bestimmter Wirkungen willen bestimmten Schranken z u unterwerfen - ob alle in Art. 5, Abs. 2 aufgeführten Schranken freilich sinnvoll sind, ist eine Frage, die uns noch beschäftigen wird -, dann ist jedenfalls nicht einzusehen, warum Äußerungen einer besonderen Art, Äußerungen der kon ventionellerweise sogenannten ' Kunst', die zumindest die gleichen Wirkungen haben mögen, von diesen Schranken entbunden werden sollen. In der Regel werden Äuße rungen, die ästhetisch gelungen sind, sogar sehr viel effektiver wirken, als solche, die ästhetisch mißglückt sind. Eine mit allen Mitteln rhetorischer ' Kunst' form ulierte Beleidigung mag den Betroffenen allenfalls intensiver verletzen als eine plumpe At tacke. Ein Delikt dü rfte aber wohl kaum mit dem Hinweis auf die Qualität der Waffe und das Raffinement der Verletzung exkulpiert werden können. Ein j u ristischer Sonderstatus der wie auch immer definierten ' Kunst' ist also in ke ine r H i nsicht z u rechtfertigen.
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UntC'r dC'n dC'mokratischC'n LandC'rn wC'stlichC'r Prägung in dir FrrihC'it dC'r ' K unst' allein In haliC'n
yC'rfassungsrC'chtlich garantirn, u n d zwar, wiC' i m BonnC'r GrundgC'�C'I1. • ohne Vorheh a h . A uHallij; ist dabri. d a ß d i e d inbezuglichC' Form u l iC'rung dC'm TC'Xt der Wrimurr Vrrfassung wortwö"hch rnl spricht. Es warC' 1.U prüfC'n, ob d iC'ser Passus i n dC'r Tal aus der deutschrn Vrrfanung von 1 9 1 9 übrrnommen w u rdC'.
K U N ST O H N F. SCHRANK E N ?
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X Befürchtungen um Freiheitsverluste
Der Vorschlag, auf ein durch die Verfassung ausdrücklich verbürgtes Freiheitsrecht ohne Not zu verzichten, provoziert natürlich die Frage nach den konkreten Kosten. Welche tatsächlichen Freiheitsverluste wären zu erwarten, wenn der Kunstartikel im Grundgesetz entfiele? Wäre nicht zu befürchten, daß die ' Kunst' bei einer solchen Regelung allzu leicht i n die beengenden Grenzen einer kleinbürgerl ichen ' Anständigkeit' gezwängt wer den könnte? Wäre nicht zu befürchten, daß damit allzu forschen Verbotsgelüsten bornierter Richter, die in jeder Karikatur eine Beleidigung, in jedem Kunstakademi ker-H appening eine Störung der öffentlichen Ordnung, in jeder erotischen Szene, in jedem Aktbildnis einen Verstoß gegen § 1 84 Strafgesetzbuch wittern, Tür und Tor geöffnet würden? Eine solche Besorgnis ist sicherlich überzogen. Zunächst muß darauf hingewiesen werden, daß sich im Verfassungsrecht zur gene rellen Frage nach dem Verhältnis von grundrechtlichen Freiheiten und deren Be schränkungen das Prinzip der " praktischen Konkordanz" d urchgesetzt hat, welches besagt, daß die Verfassungsauslegung jeweils im Einzelfalle auf eine "verhältnismä ßige Zuordnung" der Grundrechte und der grundrechtsbegrenzenden Rechtsgüter zu achten hat, und zwar so, daß "beide z u optimaler Wirksamkeit gelangen". Diese Verhältnisbestimmung darf niemals in der Weise vorgenommen werden, daß die "grundrechtliche Gewährleistung mehr als notwend ig oder gar gänzlich ihrer Wirk samkeit im Leben des Gemeinwesens" beraubt wirdo. Das ist gewiß eine recht allgemeine und pauschale Maßregel, die in praxi eine erheb l iche Entscheidu ngsdifferenz zuläßt. Das Bundesverfassu ngsgericht hat jedoch in einer bis heute richtungweisenden Entscheidung zur Meinungsfreiheit, in dem sogenannten ' Lüth-Urteil' vom 1 5 . Januar 1 958. deutlich gemacht, wie dieses Prinzip konkret anzuwenden sei. Wir zitieren d ie wesentlichsten Passage n : " Das Grund recht auf freie Meinungsäußerung ist als unm ittelbarster A u sdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesel lschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt ( . . . ). Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechterd ings konst i tuierend, denn e s ermögl icht erst d i e ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist. Es ist in gewissem Sinn die Grundl age jeder Freiheit überhaupt ( . . . ). Aus dieser grundlegenden Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit für den freiheitlich-demokratischen Staat ergibt sich, daß t·s vom Standpunkt dil'"sl'"s Verfassungssystems aus nicht folgerichtig wäre, d i e sach licht, Reichweite gerade d il'"sl'"s G rundrl'"chts jeder Rclativieru n g durch einfaches Ge set? ( . . . ) z u überlassen ( . . . ). Die allgemeinen Gesetze müssen i n ihrer das Grund recht besch ränkenden Wirkung i hrerseits im Lichte der Bedeutung dieses Grund rechts gesehen und so interpretiert werden. daß der besondere Wertgehalt d ieses " Zum A u \ legung�prln:l'lp der " prakllschen Konkordan:r " vKI. K . H uU'. G,..."th;;g� J�J V�rf'",""gl rrchu Ja BII"Jr,r-rp ..bM, DruuchJ.,,,J, K.ubruhc � 1 968, S. 1 2 !1 ff .
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Rechts ( . . . ) auf jeden Fall gewahrt bleibt. Die gegenseitige Beziehung zwischen G rundrecht und allgemeinem Gesetz ist also nicht als e i nseitige Beschränkung der Gdtungskraft des Grundrechts durch die allgemeinen Gesetze aufzufasse n ; es findet vielmehr eine Wechselwirkung i n dem Sinne statt. daß die allgemeinen G esetze zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken set7.en, ihrerseits aber aus der Er kenntnis der wensetzenden Bedeutung dieses Grund rechts im freiheitlichen demo kratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen ( . . . ). Das G rundrecht der Meinungsäu ßerungsfreiheit wird vor allem dort in die Waagschale fallen müssen, wo von dem Grundrecht nicht zum Zwecke privater Auseinandersetzungen Gebrauch gemacht wird, der Redende vielmehr in erster Linie zur B ildung der öffentlichen Meinung beitragen will, so daß die etwaige Wirkung seiner Äußerung auf den privaten Rechts kreis eines anderen zwar eine unvermeidliche Folge, aber nicht das eigentliche Ziel der Äußerung darstellt ( . . . ). Wenn es darum geht, daß sich in einer für das Gemein wohl wichtigen Frage eine öffentliche Meinung bildet, müssen private und nament lich wirtschaftliche I nteressen einzelner grundsätzlich zurücktreten. Diese Interessen sind darum nicht schutzlos ; denn der Wen des Grundrechts zeigt sich gerade auch darin. daß jeder davon Gebrauch machen kann. Wer sich durch die öffentliche Äußerung eines anderen verletzt fühlt, kann ebenfalls vor der Offentlichkeit erwi dern. Erst im Widerstreit der in gleicher Freiheit vorgetragenen A uffassu ngen kommt die öffentliche Meinung zustande ( . . . )"44. Wir haben dieses Urteil deshalb so extensiv im Wortlaut zitiert, weil seine Grund these in eben d iesen Formu lierungen in späteren Entscheidungen immer wieder übernommen worden ist. Die Tendenz dieses Urteils wurde vom Bundesgerichtshof in der Entscheidung des 'Volkacher Madonna'-Prozesses sogar verstärkt, indem hier ausdrücklich festgestellt wurde, daß Art. S, Abs. I GG " nicht nur die Äußerung der richtigen, sondern auch die der falschen und nicht haltbaren Meinung" schützt's. Der Bundesgerichtshof geht davon aus, daß vom münd igen B ü rger einer freiheitli chen Demokratie zu erwarten ist, daß er im Kampf der Meinungen ein selbständiges Urteil sich zu bilden in der Lage ist. Kurzum: diese I nterpretation von A rt. S, Abs. I GG ist von der überzeugung getragen, daß Meinu ngsstreitigkeiten nicht von der Justiz, sondern von der Offentlichkeit selbst zu entscheiden sind4'. Wenn nun aber schon für die direkte Meinu ngsäußerung ein derart weiter Lizenz bereich gewährt wird, dann dürften die Konzessionen für Formen des indirekten Sprechens, die für Werke der ' Kunst' in so vielen Fällen charakteristisch sind, fiJr Formen der indirekten Meinungsäußerung also, gewiß nicht geringer sein.
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BVerf G E 7 , S . 1 9 8 ff . BGH lM Nr. 15 . .. VII. F. Kubler, "Offenlliche Kritik an gewerblichen f. n.e!,lgni�!ien und beruflichen leiuungen". In Archifl/iird,e CltliJIIIIKhe Pr,uu 1 72 ( 1 972), S. 19).
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X l Argumentationstypen der Rechtsprechung
Die oben geäußerten Befürchtungen lassen sich auch nicht - wenn man vorderhand einmal von den J u gendschutzprozessen absieht - mit dem Hinweis auf die Praxis der bisherigen Rechtsprechung in Sachen ' Kunst' begründen. 1 Strafrecht Wir haben die publizierten Gerichtsurteile der letzten 20 Jahre, die Konflikte der ' K u nst' mit den Strafgesetzen zum Gegenstand haben, im H inblick auf die Funktion des Kunstartikels im Argumentationsgefüge untersucht und dabei festgestellt, daß d ieser in keinem einzigen Fall ein Urteil entscheidend getragen hat : 1 . Stellten die Gerichte bei einem Werk eine Rechtsverletzung fest, so wurde es verboten, indem ihm das Prädikat ' K u nst' - "im Sinne des Gesetzes" - verweigert wurde47• 2 . Stellten die Gerichte bei einem Werk eine Rechtsverletzung fest, sahen sich aber entweder unter dem Druck der l iterarischen Offentlichkeit oder auch auf Grund eigener Einsicht veranlaßt, demselben das Prädikat ' Kunst' zuzubilligen, so wurde es dennoch verboten, indem eine jener fragwürdigen Schrankenkonstruktionen geltend gemacht wu rde, über die wir oben referiert haben4B• 3 . Entschieden sich die Gerichte für die Freigabe eines beklagten Werkes, so versuchten sie d ieses U rteil stets m it dem Nachweis zu begründen, daß eine Rechts verletzung nicht vorliege. Merkwürdigerweise ist dabei in der Regel dennoch reich lich von ' Kunst' die Rede, merkwürdigerweise deshalb, weil die diesbezüglichen Ausführungen für den eigentlichen Beweisgang - genau besehen - keinerlei Funktion besitzen. Es handelt sich durchweg um blinde Argumente49• Ein Urte i l , das feststellt, das Streitobjekt erfülle eindeutig einen Straftatbestand, d ieses Objekt sei aber als ein K unstwerk aus welchen G ründen auch immer freizuge ben, ein solches Urteil also, das allein die Effizienz des Kunstartikels dokumentieren könnte, sucht man unter den bisherigen Fällen vergebens. Streicht man den K unstar tikel, so wäre damit also - zumindest auf dem Felde des Strafrechts - nichts ver schenkt. die bestehende Rechtspraxis wäre lediglich bestätigt. 2 J u gendschutz Zu einem anderen Ergebnis kommt allerdings eine Untersuchung jener Fälle, in denen Werke mit den " gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend" in Konflikt geraten sind. 01
Typisch für die Argumenlatiomwei5e solcher Enlscheidungen 15t z . B. da5 U n e i l du LG Mimchen im Fann y · H i l l · [Jro7.eß vom 6. r;ebr. 1 968. S. d n u : F. Schäuble, " Fanny Hili vor einem deuuchen Ge· richt", i n Film l4"d Rechr 10 ( 1 968), S. 2 8 5 ft und das duu ergangene BGH ·Uneil des I . Straf5enats vom 22. J u l i 1 969 in UFITA 56 ( 1 970), S . J l 1 H., J 1 4 . .. Als Beispiel fur diue Argumenlalionsweise sci auf das 'Mephislo'·Uneil des OLG Hamburg vom 1 0 . Mar7. 1 9M verwiesen, s . in UHTA 51 ( 1 968), S. J62ff. ,. Musu:rfall h i r diesen Argumentationstyp ist das Uneil des LG Hamburg im [Jro7.eß um Jean Geneis Norrl! Dame deJ F!el4rJvom J l . J u l i 1 962, s . In UFITA J8 ( 1 962), S. 209ff.
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D a s "Gesetz über d i e Verbreitung jugendgefährdender Schriften"so sieht v o r , daß "Schriften, die geeignet sind. Kinder oder Jugendliche sittlich zu gefährden", einer Reihe von Verbreitungsbeschränkungen unterworfen werden, damit sie der Lektüre Minderjähriger möglichst entzogen bleiben. Betroffen sind "vor allem unsittl iche, verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeit. Verbrechen oder Rassenhaß anreizende, sowie den Krieg verherrlichende Schriften", Von der Beschränkung ausgenommen sind u . a. solche Werke, die "der Kunst oder der W issenschaft, der Forschung oder der Lehre" dienen. Der Wortlaut dieses Vorbehalts legt den Schluß nahe, daß er mit Rücksicht auf Art. S, Ahs. 3 GG in dieses Gesetz aufgenommen worden ist. Die Gerichte umgingen im Falle von Jugendschutzprozessen diesen ' Kunst'-Vor behalt vielfach dadurch, daß sie - wie in den entsprechenden Strafprozessen - dem zu verhandelnden Opus das Prädikat ' Kunst' schlichtweg verweigerten51 • In anderen Fällen brachten die Gerichte jedoch diesen Vorbehalt voll zur Geltung und gaben das je umstrittene Werk frei, obwohl sie keine Zweifel daran ließen, daß sie dasselbe für jugendgefährdend hielten52• Das in diesen Entscheidungen durchaus im Sinne des Gesetzes bestimmende Prin zip, daß der Kunstschutz um jeden Preis dem Jugendschutz vorgezogen werden müsse53, ist indes höchst problematisch, was dann, wenn man von dem Komplex, der übl icherweise die Jugendschützer zu den Waffen ruft, von der Darstellung der Se xualität einmal absieht, kaum bestritten werden kann. Man denke etwa an einen mit hohem ' Kunst'-Verstand geschriebenen Roman, in dem konkrete Einzelheiten über die Herstellung und den Erwerb von Drogen mitgeteilt und alle lüste der E rfahrung einer Bewußtseinserweiterung im Drogenrausch so faszinierend dargestellt werden, daß eine Verführung des minderjährigen lesers zu befürchten ist. Nach dem gelten den Gesetz müssen die negativen Folgen um der ästhetischen Qualitäten des Werkes willen in Kauf genommen werden, was wohl schwerlich vertretbar ist. Unseres Erachtens wäre die in § 1 Abs. 2, Nr. 1 aufgeführte Tendenzklausel, sowie die in Abs. 2, Nr. 3 , 1. Halbsatz des gleichen Paragraphen geforderte Rücksicht auf das öffentli che Interesse als Vorbehalt durchaus hinreichend, zumal dann, wenn man davon ausgeht, daß die Richter, nunmehr von der Anstrengung der ' Kunst'-Reflexion ent lastet, die somit freigesetzten Kräfte auf die Erarbeitung von überzeugenden Argu-
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G . Pouykus, Gesttz ubtr dlt Vtrbrtmmg /"gtndgtliihrdtndtr Schrliltn, Münche-n und Be-rlin 1 963 ff. Ein Muste-rbe-ispid für die-se- Argume-ntation iSI das (e-rSlinstanzliche-) U rte-il de-s VG Koln vom 2 7 . Se-pl. 1 960 ube-r de-n Roman D,e- Re-chn"ng oh"e- de-" Wirt von Jamu M . Cain. H ie-I"%u se-i be-ispids.... e-ise- fur das (�we-itinslamdiche) Urteil du QVe von Nordrhe-in· We-sdale-n "um 3 . Qkt. 1 9 6 1 übc-r de-n Roman Dir Rrch",."g oh"r Je" Wirt von Jamu M . Cain verwie-se-n. Vgl. das Revisionsurteil übc-r den Roman Dir Rech"",,g oh"e de" Wirt von James M . Cain. I m Urte-il des BVerwG vom 12. Jan. 1966 heißt es billigend : " Kunstschulz gehl vor Jugrndschull.. Das iSI de-r Preis fur das Grundrrchl der Kunsdreihe-il", s. in UFITA "8 ( 1 966), S. J2"ff., S. HO. Diese-s Prinzip ISI in�wischen i n einer Enuche-idung de-s BVe-rwG vom 1 6. De-l. 1 9 7 1 in Frage- gendh worde-n, s . i n UFITA 67 ( 1 97J), S. 290 ff.
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menten zum Nachweis jugendgefährdender Wirku ngen v o n Text und Abbildungen konzentrieren würden�4. Zur nachdrücklichen Förderung solcher Bemühungen müßte in das Gesetz ein Passus aufgenommen werden, der die Gerichte zur Anhörung von Gutachtern ver pflichtet. Wo die Prognose über die zu erwanenden Schäden unsicher ist, wo also die Annahme, daß eine Schrift geeignet ist, J u gendliche zu gefährden, mit objektiven Argumenten nicht gestützt werden kann, solhe nach dem Prinzip 'in dubio pro reo' entschieden werden. Auch diesbezüglich müßte ein entsprechender Passus in das Gesetz aufgenommen werden. Schließlich müßte die von vielen Seiten immer wieder vorgebrachte Kritik an den Bestimmungen über die Verbreitungsbeschränkung be rücksichtigt werden. Denn nach dem gehenden Gesetz reduzieren d iese die Ver triebsmöglichkeiten so erheblich, daß eine indiziene Schrift auch die Adresse der Erwachsenen kaum mehr erreicht. Wir sind der Meinung, daß bei einer deran revidienen Fassung des "Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften"�� die in Art. 5, Abs. 2 aufgefühnen Schranken auch für Produkte mit spezifisch ästhetischem Anspruch - für Romane, Spielfilme, Theaterstücke, Bildbände, Karikaturen, Gemälde - zuzumuten wären.
XII Konsequenz für die ludikatur Wir sind uns wohl darüber im klaren, daß der Bundestag in absehbarer Zeit für eine einläßliche Beschäftigung mit der grundrechdichen Kunstproblematik nicht zu ge winnen ist. Und wir wollen gern zugeben, daß das ohnehin stets überlastete Parla ment wah rhaft dringl ichere Aufgaben zu bewältigen hat als eine Revision des Grundgesetzanikels S . Ein diesbezüglicher Vorstoß wäre auch im Hinblick auf den parteipolitischen Effekt viel zu riskant. Um Verständnis dafür in der Öffentlichkeit zu erreichen, um naheliegende Beschwörungen einer unseligen Vergangenheit zu entkräften. wären allzu große Anstrengungen erforderl ich. Kein Politiker in un\erem Lande wird sich ohne Not der Gefahr aussetzen mögen. als ' Faschist' ausgerufen zu werden. Und zugegebenermaßen ist die Not der Richter, die über Konflikte der 'Kunst' mit dem Gesetz zu befinden haben, in der Tat vergleichsweise gering. Da das D i lemma, das wir aufzuzeigen versuchten, in absehbarer Zeit also nicht zu beseitigen sein wird, können wir in Konsequenz unserer obenstehenden Ausführun gen allenfalls den Ratschlag eneilen. in der Praxis der ' Kunst'- Rechtsprechung je weils zu nächst alle Möglichkeiten von An. 5, Abs. I GG im Sinne des Lüth-Uneils auszuschöpfen und dort, wo ein Freispruch in diesem Rahmen zu verantwonen ist, " Kunkr�1 hi�ß� Ji�" daß diC' Richlrt w�mGJI�ß5 di� C'inschlägigC'ß FunchußKC'ß :l U t K�ßßIßI5 ß�hmC'ß wurd�ß. wiC' :l . B.: TrIJJC'rrZC'1J JC'r SC'"".. llor,ch,flJg. hgg. G. Schmidl/V. SigU5Ch/E. Schonch, SlulIgan
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" Zur R�vi,ion d,r�C'5 G�5�1lC'5 vgl. ",C'd�rum "" . K n i�s Schr"lJltrrr Jrr K"IJJtfrrlhrllS. 278 ff.
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a u f e i n e Auseinandersetzung mit d e r Kunstproblematik g a n z zu verzichten. I n jenen Fällen indessen. in denen die extensiv ausgelegte Garantie der allgemeinen Kommu nikationsfreiheit einen Freispruch nicht zu decken vermag. so daß eine Berücksichti gung des Kunstvorbehalts unumgänglich wird. wäre zu empfehlen. eine Schranken konstruktion anzuwenden. d ie im Effekt den Bestimmungen von Art. S . Abs. 2 GG entspräche. Wir halten. um es konkret zu sagen, den Vorschlag von W . Knies grund sätzlich für vernünftiger als den Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts in der Mephisto-Entscheidung. der eine Lösung einschlägiger Konflikte "nach Maßgabe der grundgcsctzlichen Wertordnung und umer Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wensystems" vorsieht, und vernünftiger auch als den Vorschlag der Verfassungsrichterin Rupp-von B rünneck i n ihrem d issenting vote zu eben d ieser Entscheidung, der darauf hinaus läuft, im Falle von ' K unst' der allgemeinen Mei nungsäußerungsfreiheit noch einen besonderen, nicht weiter definienen und auch nicht begründeten Freiheitsbonus zuzuschlagen. Daß freilich auch der Vorschlag von Knies, dem wir uns hier prinzipiell anschließen. weil wir keine plausiblere Alternative sehen, die realisierbar wäre, letzten Endes nur ein Notbehelf ist, wird selbst unter J uristen wohl kaum bestritten werden können. Sich mit Notbehelfen indessen abzufinden, scheiß[ zu jenen Berufstugenden der Jurisprudenz zu gehören. die so vielen Gebildeten unter ihren Verächtern so wenig einzuleuchten vermögen.
ANSELM HAVERKAMP ZUR I NTE R F E R E N Z J U R I STI S C H E R UND LITERAR I S C H E R H E R M E N E UTI K I N SAC H E N ' K U N ST' (Art. 5 A b , . 3 GG)
Die im G rundgesetz garantierte 'Freiheit der Kunst' ist kein beliebiger Applikations gegenstand der j u ristischen Hermeneutik, an dem sich die üblichen method ischen Verfahren der Rechtsauslegung problemlos vorführen lassen. Als Beispiel ist die Auslegung von Art. 5 Abs. 3 G G doppelt problematisch, weil Verfahrensfragen der juristischen Hermeneutik mit Präm issen der literarischen Hermeneutik interferieren. Sofern die A uslegung dessen, was j uristisch als 'Freiheit der Kunst' kod ifiziert ist, von der Lösung der (meta-)hermeneutischen Problematik einer ' übersetzung' der literarischen I nterpretation i n die j uristische I nterpretation abhängt, ist sie paradig matisch für den ' Konflikt der I nterpretationen' einer am Austausch öffentlicher Rede und einer an der Kohärenz von Texten interessierten Hermeneutik. Daß Art. 5 GG einen U nterschied von kommunikativem Handeln und ' Diskurs' macht, indem er ' Kunst und Wissenschaft' (Abs. 3) vom Bereich der ' freien Meinungsäußerung' (Abs. I) unterscheidet und aus den dafür vorgesehenen 'Schranken' ( A bs . 2) aus nimmt. bringt die j u ristische Hermeneutik in eine eigentümliche Verlegenheit, für die der U m gang mit den hergebrachten Gemeinplätzen über ' Kunst' I ndiz ist. Es scheint mir deshalb nicht sinnvoll, Widersprüchlichkeit und Unsinn der ästhetischen Argumente im Fall ' Mephisto' für sich zu nehmen , ohne ihre pragmatische Funktion in der Rechtspraxis einzubeziehen (einer Praxis, an der freilich, was die 'Freiheit der Kunst' angeht, durch solche D iskussionen so schnell nichts zu ändern ist). U nbestritten scheint zunächst, daß Art. 5 Abs. 3 GG eine 'Bereichsausnahme' formuliert, die ' Kunst und Wissenschaft' aus den zuvor Abs. 2 gegebenen 'Schran ken' der Abs. 1 garantierten 'Freiheit der Meinungsäußerung' ausnimmt. Das Bun desverfassungsgericht spricht hierfür von einer " wertentscheidenden Grundsatz norm" (BVerfGE 30, S. 1 73 , 1 88 [605 ff. ] ) . I n der Praxis der Rechtsprechung ist mit d ieser grundsätzlichen Au snahme des Bereichs der Kunst aus den Schranken der Meinungsfreiheit nichts anzufangen. De facto bürdet Art. 5 Abs. 3 den Gerichten nur eine zusätzliche Begründungspflicht auf für solche Fälle, in denen ein ' K unstcha rakter' nicht zu bestreiten ist ( Fall ' Mephisto'). Die qualitative Ausnahme der Kunst aus den Schranken der Meinungsfreiheit wird dadurch bestenfalls als quantitative Erweiterung d ieser Schranken aufgefaßt, dergestalt " daß dann, wenn eine Meinungs äußerung i n die Form eines Kunstwerks gekleidet ist, der Freiheitsspielraum gegen über der Persönlichkeitss phäre eines Betroffenen weiter zu ziehen sein kann als bei solchen Meinungsäußerungen. die nicht den Rang eines Kunstwerkes erreichen" (BGHZ 50, S. 145 [603 ] ) . Aus diesem Zitat wie aus vielen anderen Wendungen der
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einschlägigen Uneilsbegründungen wird deutlich, d a ß d e r juristische Z w e c k der Argumentation über Kunst darin liegt. ;ustitiahel zu machen, was dem im Grundge· setz fcstgehaltenen Begriff von Kunst zufolge als Kunst nicht ;ustitiabel sein kann. Ästhetische Argumente dienen folglich nicht dazu (wie im Sondervotum Stein für den vorliegenden Fall beklagt), die "von der Verfassung geforderte GrundeinsteI lung" der Kunst als Kunst gegenüber auf1.ubringen (BVerfG E 30. 5. 202 [ 6 1 8 ] ) , sondern die Bereichsausnahme Kunst a u f die Bedingungen d e r Meinu ngsäu ßerung zu relativieren. Genetisch besehen ist (nach K . Oettingers Forschungen) der Anikd über die Freiheit der Kunst die juristische Kodifizierung überholter kunsttheoretischer Prin zipien idealistischer Herkunft, die als solche argumentativ nicht mehr zu retten sind . Die Konsequenz, angesichts der tatsächlichen Medienproblematik eine nicht mehr gerechtfenigte Privilegierung der Kunst aufzugeben und An. 5 Abs. 3 ersatzlos zu streichen, käme der Rechtspraxis zweifellos entgegen und würde unangemessene Argumentationen der Gerichte in Sachen ' Kunst' ersparen. Daß damit am tatsächli chen Freiraum der Kunst nichts geänden wäre, scheint mir freilich eine mehr als optimistische Annahme. Nun sprechen allerdings weder die idealistische Herkunft des An. 5 Abs. 3 GG noch in seiner Anwendung die unangemessene Verwendung eines idealistischen Kunstbegriffs (genauer von Gemeinp lätzen der klassischen Ästhetik) gegen den Wortlaut des Verfassungs kontextes. Wollte man nach den idealistischen Quellen des Grundgesetzes gehen. hätte man einiges zu tun und außer Abs. 3 über die Freiheit der Kunst auch den gesamten Art. 5 über die Freiheit der Meinungsäußerung auf seine idealistischen Prämissen hin zu überprüfen; und es steht dahin, ob man sich nicht mit einer Beschränkung der Freiheit der Kunst auf die Grenzen der freien Meinungsäußerung d ieselben Schwierigkeiten (an einer anderen Stelle) einhandelt, die dieses Grundrecht in der nachliberalen Ära problematisch machen. Eine Revision von An. 5 Abs. 3 wäre (sofern momentan nicht ohnehin fiktiv) nur bei einer Revi sion des ganzen Art. 5 sinnvoll, die neben literaturw issenschafdichen Reflexionen medienpol itische Entscheidu ngen nötig machte. Dem Wortlaut nach handelt Art. 5 Abs. 3 sehr allgemein von ' Kunst und Wissen schaft ', lediglich Wissenschaft nach 'Forschung und Lehre' weiterdifferenzierend, um von beiden wiederum nur die Lehre an die 'Treue zur Verfassung' zurückzubin den. Von kunstspezifischen Kriterien, nach denen oder derentwillen Kunst von den Schranken der Meinungsfreiheit ausgenommen sei, kann nicht die Rede sein. Viel mehr werden �unst und Wissenschaft gleicherweise (und wie zu unterstellen w äre : nach den gleichen Kriterien) als Bereiche aus dem Feld kommunikativen Handelns ausgegrenzt. auf das sich das Recht der freien Meinungsäußerung bezieht. Wie die Habermas'sche U nterscheidung von kommunikativem Handeln und ' Diskurs' hat diese Freisetzung der bereichsspezifischen Diskurse von Kunst und Wis sensc haft von den rechtlichen Regelungen der öffentlichen Kommunikation ihre idealistischen Wurzeln, aber auch ihren guten pragmatischen Sinn.
I NTF.R.ERENZ JURISTISCHER U N D LITERARISCHER H E R M EN EUTIK
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Hermeneutisch gesehen reflektiert hier die auf die Pragmatik kommunikativen Handeins eingestellte juristische Hermeneutik die methodischen Grenzen ihrer auf umgangssprach liche Kommunikation spezialisierten sprachanalytischen M ittel. Pragmatisch legt sie sich damit die zusätzliche Legitimationslast auf, im Zweifelsfall die eigene Zuständigkeit zu begründen. Daß in Sachen ' Kunst' der klassische Kunst begriff wenig geeignet ist. die gemeinsamen Diskurseigenschaften von Kunst und Wi ssenschaft für die ' Freiheit der Kunst' in Anschlag zu bringen und für juristische Entscheidungen praktikabel zu machen, l iegt auf der Hand ; daß die klassischen Gemeinplätze über das ' K unstschaffen' nur immer neu auf eine unbegründ bare Pri vilegierung literarischer Produkte hinführen. ist evident. Für die Freiheit der Kunst nach An. 5 Abs. 3 GG spielt die Topik des mit dem klassischen K unstbegriff assoziienen Bereichs künstlerischen 'Schaffens' deshalb eine durchaus ambivalente Rolle. Oe facto dient sie nämlich dazu, die Freiheit des ' Bereichs Kunst' als eines eigenen Regel n unterliegenden kommunikativen Bereichs, der einer speziellen Rege lung seines Verhältnisses zum Staat für fähig erachtet wird (BVerfG E 30. S. 1 73, 1 88 f. [605 ff.]), a u f ein daraus nur abgeleitetes 'individuelles Freiheitsrecht' zu reduzie ren (ib.), das für sich genommen in der Tat mit den Schranken des allgemeinen Rechts auf freie Meinungsäußerung in Konflikt geraten muß: die Freiheit des Künst lers bzw. seines künstlerischen Schaffens. In den Begründungen zum 'Mephisto-Urteil' spielen nur produktions- und werk ästhetische Argumente eine Rolle, von denen sich die produktionspsychologische Rechtfenigung eines künstlerischen Freiraums relativierend für die Freiheit der Kunst auf die Freiheit der Meinung,;äußerung auswirkt. und die werkästhetische Begründung des Kunstcharakters zum rechtsunerhebl ichen Postulat regredien. Das Ergebnis ist zum einen die Mystifi7.ierung der nach Art. 5 Abs. 3 angeblich uneinge sch ränkte Freiheit erfordernden Psychologie des künstlerischen Schaffens, zum an deren die komplementäre Mystifizierung eines uneingeschränkte Freiheit verdienen den M ehrwerts des ästhetischen Werks. Entsprechend erscheint einmal im Konflikt \" on Wirklichkeit und Fiktion die Freiheit der Kunst als Lizenz im 'Hinzuerfinden' ( He H Z SC, S. 1 4 7 [604]) ; wird andererseits (verleitet von der juristischen Hinter grundmetaphorik einer 'Eigengesetzlichkeit der Kunst') die Werkstruktur zum ent scheidenden Kriterium dafür, ob Wirklichkeit hinreichend "verdichtet" bzw. "ver fremdet" sei, um den Konflikt der künstlerischen Tätigkeit mit den Grenzen der freien Meinungsäußerung venneiden zu können ( BVerlG E 30. S . 1 90 f . [6091.]). Die Bereichsausnahme der so verstandenen Kunst zu begründen sieht sich das Verlas sungsgericht zu para theologischen Manövern gezwungen, um im H inweis auf T ext qual itäten der Verfassung. die der biblischen Offenbarung alle Ehre antäten, die Ausnahme des Abs. 3 aus An. 5 als Regel nach An. 1 '1.u erweisen. Daß A n . 5 Abs. 3 eine dem tieferen Sinn des Grundgesetzes in Fonn eines 'grundrechtlichen Wensystems' unm ittelbar 7ugeord neu!' 'lex specialis' sei. die nunnehr aus An. I ableitbar sei, wird so verstanden und begründet, daß "künstlerische Aussagen" werkästhetisch ein 'aliud' hätten. desscntwillen prod u ktionspsychologisch ein Freiraum in Kauf 7.U nehmen sei.
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Von Rezeption dagegen ist immer nur im Nebenh inein und im Nachsatz (wenn überhaupt) die Rede, sofern nämlich "ein Kunstwerk auch auf der sozialen Ebene Wirkungen entfalten" könne ( BverfGE 30, S . 193 [ 6 1 2]). Daß Literatur Wirkungen hat. gehört nicht zum geschützten Bereich der Kunst, W i rk ungen fallen in den "außerkünstlerischen Sozialbereich", der im Fall ' M cphisto' nicht genügend "trans zendiert" sei (ebd. S. 1 98 [ 6 1 4 f.]). Wo Rezeption neben dem 'Werk bereich' als " 'Wirkbereich' künstlerischen Schaffens" in den B l ick kommt. ist sie rechtserheblich nicht als ästhetische Wirkung, sondern für die institutionelle Sicherung der Distribu tion, im Fall ' Mephisto' für die "Rechte des Verlegers", d ie die " i ndividuellen Rechte des Künstlers" ergänzen (ebd. S. 1 89 [609]). Schon ein angemessener Begriff von ästhetischer Wirkung könnte der juristischen A rgumentation über Kunst hier aufhel fen (ohne beim Stand der Dinge frei lich entscheidungsrelevant zu werden). Die bisherige Rechtsprechung liefe dann auf eine Lesart des A rt . S Abs. 3 hinaus, in der analog der don schon vorgenommenen Differenzierung von W issenschaft nach For schung und Lehre wie folgt zu ergänzen wäre : K unst ist frei i n Prod uktion und Rezeption. Die Freiheit der künstlerischen Produktion entbindet nicht von dem Respekt der Persönlichkeitsrechte anderer (nach Art. 2). Genau diese Lesart hat das Verfassungsgericht für unzulässig erklärt und vorgezogen, einen mystifizierten Kunstcharakter i n der 'mystischen Okonomie' der Verfassungswerte nach A rt . I zu begründen.
D n U: F L I EBS Z U M B E G R I F F ' K U NST I M RECHT
Kunst ist justitia bel . Alles ist just itiabel , worüber es Rechtsnormen gibt, was in rechtlichen Vorschriften vorkommt. Ein Rechtssatz, der auf D inge Bezug nähme, die der Beurteilung d urch die J u risten entzogen sein sollen, wäre sinnlos. Denn Rechts normen heben s ich von anderen Texten durch die Eigenheit ab, daß sie für den Fall schwerer, sich auszuweiten d rohender Konfl ikte zwischen Menschen bzw. Men schengruppen einen M aßstab setzen, nach dem die Menschen notfalls handeln sollen, um eine Leib und Leben, Geld und Gut gefährdende Ausweitung des Konflikts zu vermeiden. Dazu ist eine A u torität nötig, die diesen Maßstab im konkreten Kon f1iktsfal l konkretisiert, i n unm ittelbar befolgbare Handlungsgebote umsetzt : der Richter. U m allgemeine Rechtsnormen zu befolgbaren Handlungsanweisungen zu konkretisieren, muß d iese A utorität entscheiden können, ob und wie die allgemeine Rechtsnorm auf den konkreten Fall anwendbar ist. Und das muß sie letztlich aus eigener A u torität, nicht aus der fremden etwa eines Sachverständ igen für den Begriff ' Kunst', mag ein solcher auch h ilfreich sein zur Unterrichtung des Richters über tatsächliche Umstände aus dem Bereich ' Kunst', die bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen sein mögen. Kunst wäre nur dann nicht justitiabel, auf die Frage, was Kunst ist und was nicht, käme es bei einem Richterspruch nur dann nicht an, wenn keine Rechtsnorm darauf abstellte. Die geltende deutsche Rechtsordnung tut das aber allenthalben : in Art . S Abs. 3 S. t d e s Grundgesetzes: " K unst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind fre i"; in § 1 des Urhebergesetzc s : "Die Urheber von Werken der Literatur und Kunst genießen für ihre Werke Schutz nach Maßgabe d ieses Gesetzes " ; in § 304 des Strafgesetzbuch s : "Wer rechtswidrig . . . Gegenstände der Kunst . . . , welche in öf fentlichen Sam m l ungen aufbewahrt werden oder öffent lich aufgestellt sind, beschä d igt oder zerstört, wi rd . . . bestraft " ; in § 429 Abs . 2 des Handelsgesetzbuc h s : " Für den Verlust oder die Beschädigung von Kunstgegenständen . . . haftet der Frachtfüh rer nur, wenn ihm diese Beschaffenheit . . . bei der Obergabe zur Beförderung ange geben worden ist"; in § 1 Abs. 2 Ziff. 2 des Gesetzes über die Verbreitung jugendge fährdender Schriften (sog. Schmutz- und Schundgesetz, SchmuSchuG): " Eine Schrift darf nicht in die Liste aufgenommen werden, wenn sie der Kunst . . . d ient" ; §§ I ff. des Gesetzes zum Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung; § 1 1 8 Abs. 1 Ziff. 1 des Betriebsverfassungsgesetzes, das danach "auf Unternehmen und Betriebe, die unm ittelbar und überwiegend . . . künstlerischen Bestimmungen die nen", nur z . T. anwendbar i st; entsprechend § t Abs . 4 Ziff. t des Mitbestimmungsge setzes ; und nicht zuletzt in den zah lreichen Verwaltungsbestimmungen zur Förde-
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DETLEF LI F.BS
rung der Kunst durch die verschiedenen öffentlichen Hände l . Hier muß tagtägl ich entschieden werden, und zwar am Ende immer von Gerichte n : Vcnraltungs-, Zivi l - , Strafgerichten oder d e m Bundesverfassungsgericht. ob e i n e ganz bestimmte Sache zur Kunst zu rechnen ist oder nicht. nachdem sich die Rechtsgemeinschaft einmal dafür entschieden hat. Kunst staatl ich 1.U fördern ; den Arbeitern der kunstprod ul.ie renden Unternehmen nur ein eingeschränktes M itspracherecht zu gehe n ; der Ab wanderung von Kunst vorzubeugen ; Kunst strafrechtlich besonders zu schützen ; urheberrechtlich zu schützen, während b loße "G eschmacksmuster" ( 5. § I des Ge schmacksmustergesetzcs) einen geringeren, vor allem kürzerfristigen U rheberschutz genießen, andere Erzeugnisse überhaupt keinen; und vor allem staatliche E ingriffe in den Kunstbetrieb einzuschränken, nachdem der nationalsozial istische Staat gegen sog. entartete Kunst mit vernichtendem Erfolg zu Felde gezogen war. Allerdings ist unter ' Kunst' in den angeführten Bestimmungen nicht genau das selbe zu verstehen wie nach dem Selbstverständnis der K ünstler, K unstkritiker und Kunsuheoretiker. Das folgt schon daraus, daß in den genannten Bestimmungen weitere ließen sich hinzufügen - unter ' Kunst' jedes Mal etwas anderes zu verstehen ist, je nach dem mit der einzelnen gesetzlichen Bestimmung verfolgten Zwec k. So liegt es auf der Hand, daß K unstgegenstände, die beliebig reproduzierbar oder von denen auch nur eine große Zahl gleichwertiger Exemplare vorhanden ist, ins A usland abwandern zu lassen nicht nur unbedenklich, sondern sogar erwünscht ist, mitunter gar staatlich gefördert wird. Das Strafgesetzbuch meint nur Kunst, die von der öffentlichen Hand für solche erklärt worden ist. Das Handelsgesetzbuch nur Kunst gegenstände von größerem Marktwert. Wer dafür eintritt, das M itspracherecht der Arbeitnehmer auch in Unternehmen einzuschränken, die sich der leichten Muse hingeben2, könnte unter der Flagge l iberalen K unstverständnisscs die A rbeitnehmer mitbestimmung möglichst wenig Unternehmen zugute kommen zu lassen trachten, d. h. in Wahrheit Arbeitgeberinteressen verfechten. Bei A rt . S Abs. 3 S . I GG und § I SchmuSchuG ist m. E. zwischen guter und böser Kunst zu unterscheiden; m. a. W . : d a s bekannte Dilemma dort i s t m. E . nur z u lösen, w e n n m a n offen 1.ugibt, d a ß die dort gewährten Privilegien uneingeschränkt für böse K u nst nicht gemeint sind. wo bei ich mit böser Kunst etwa Kunstwerke meine, die wirksam z u Kaufhausbrandstif tungen auffordern, zu Grausamkeit und Sadismus, zur Ausbeutung der Schwachen. zur Errichtung einer Tyrannei oder die auch nur diffamieren. Das Recht hat die Aufgabe, den Bürger vor Ausbeutung, M ißhand lung und Lebensgefahr und auch schon vor Diffamierung zu schützen, und diese A ufgabe endet nicht, wenn dies als Kunst betrieben wird. Die Verfassungsväter meinten keinen Freibrief für das Künst lervolk zur Mißhandlung oder gar Ausrottung der Spießer. Daß ein Kapitalverbre chen ein Kunstwerk darstellen kann, war ihnen nicht gegenwärtig. I 2
S. duu z . B . J . Schw;uzC'. " Au5w"hlC'nnchC'idungC'n bC'1 dC'r 5 l u d i c h C' n KunsdordC'rung und deren richterliche Kontrolle" , in Archifl f!ir Prrurrrchr 22 ( 1 974), S . 692 ff. S. M. lowisch, " M usik "Is KunSi im SinnC' dC's TendC'nl.\chuIH\", In Frmchr'ft f"r t: .....Jt 'lI01'II Colemmr· rcr. TübingC'n 1978, S. !;!;9ff.
ZUM B E G R I F F ' K U N ST' IM RECHT
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Das Problem liegt hier bei der Abgrenzung der bösen Kunst. Denn über d iese Ausnahme könnte die verrufene K u nstzensur der J urinen wiedererstehen. Ich würde vorschlagen, pragmatisch auf die Effektivität abzustellen: Bewirkt das betref fende K unstwerk mit hinreichender Wah rscheinlichkeit schweres Unrecht? Stellt es gar selbst ein schweres Delikt dar?
j Ü RGf.N SCHl.ÄGER
H E RM E N E UTI Q U E D A N S LE B O U D O I R
I Wie das Obszöne die Rechtsprechung in Verruf gebracht hat "Not all la'a' is as untidy as the Law of the Obscene" ' . Diese apologetisch gemeinte Schlußfolgerung zweier Rechtsgelehrter, die sich intensiv mit der Geschichte der Zensur literarischer Obszönität befaßt haben, läßt erkennen, wie sehr gerade dieses Feld der Gesetzgebung und Rechtsprechung aus dem Rahmen des üblichen heraus fällt. Und in der Tat, die vergangenen 250 jahre gerichtlicher Befassung mit diesem Problem sind voll von Fällen, an denen sich zeigen läßt, in welch u ngewöhnlich hohem Maße Legislative wie judi kative Widersprüchlichkeit und U nklarheit gedul det haben und vielleicht auch dulden mußten, um überhaupt Rechtsnormen setzen bzw. Urteile fällen zu können. Das Eingeständ nis, daß das Zensu rrecht einen Son derfall in der Rechtsgeschichte darstellt. macht es für die Fragestellung d ieses Kollo quiums interessant, weil in diesem Grenzbereich offenbar die 'normalen' hermeneu tischen Verfahren der Rechtsfindung unbefriedigende Ergebnisse gezeitigt haben, d . h . diese in offenkundiger Weise an ihre Leistungsgrenzen gestoßen sind. Die Geschichtsschreibung der Zensur von pornographischen Prod ukten l iest sich nur allzuoft wie ein Epos über den Kampf gegen staatliche und gesell schaftliche Repression und für die Befreiung der Sinnl ichkeit von den Ketten einer übersteiger ten Selbstzuchtl. Da gibt es Helden. Bösewichte und Märtyrer, Legenden werden in die Welt gesetzt oder ausgesponnen. juristen stellen die Entwicklung meist als Ge schichte eines hart erfochtcnen Durchbruchs der rechtsüblichen Vernunft auch auf d iesem unübersichtlichen Feld dar}, Doch man macht es sich gewiß zu leicht. wenn man die genannten Schwierigkeiten der Rechtsprechung allein auf die U naufgeklärt heit. ditO mangelnde Kompetenz oder gar auf den bÖ$;cn sozialpolitischen Willen vergangener Geseugebungskörperschaften und Richtergenerationen zurückführen wollte. Die beobachtete " untidiness" des " Law of the Obscene" ist sicherlich vor allem in der Natur der Sache selbst begründet. Es sind die mit dem Falltyp literari sche Obszönität zusammenhängenden, spezifisch hermeneutischen Probleme. die
i ]
•
M . l . Ernu. A . U. St-h"'ilrl7, Cr"JorJh,p - Thr Sroirch lor rhr OllJernr. london 1 964. S. 244. VKI. P. Guurn, DoIJ Pr",z,p ObJZö", Hilmburg 1969, Drn., Srx.... JitiJrhrr.lt. Rrlnbrk 1974. l . M;ar,"u5r. ObJzo" - GrJCh"htr r",rr E"tr"mml. Münchrn 1 962. H . M;arcuw, EroJ oInd CWJiZoI"O", London 1 970. H. Rrild. "Thr Problrm of PurnoKraph)''', in To Hrllwith C"/t"rr, london I 96J. G . R . Ta)'lor. /"., G"rtr" Jrr L"Jtr. Frankfun 1 9 70 . S . A n m . I. Frrnr r : 1'. j . Murph)', Cr"Jonh.p - GO\Ir,..,,, r n, .. nd ObJerfl'ry, 8ahimorr .lind Dublin 1 961. U Thomils. A Lonl T,mr 8""''''1 - Thr Hlftory 01 L,trrtl? Cr"JorJh,p In E",J."d. london 1 969.
j Ü RG F. N SCHl.ÄGt: R
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d e r J urisprudenz zu schaffen machten. U n d die fortschreitende Sel bstbeschcid ung der modernen Rechtsprechung in diesem Bereich ist weniger Ausdruck sich d urch setzender Rationalität als vielmehr ein stil les Anerkenntnis unüberw ind licher herme neutischer Probleme. Der Richter. der aufgefordert ist zu entscheiden, ob bestimmte Darstellungen des Sexuellen erlaubt sein sollen oder nicht, muß an einem Fall d rei verschiedene Sachverhaltskategorien erstellen und bewerten: eine moral ische, eine ästhetische und eine psychologische. Das heißt, er muß letztlich d rei sehr verschie dene hermeneutische Operationen du rchführen und deren Ergebnisse m i t den im Gesetz vorgegebenen Normen in Eink lang zu bringen suchen. Angesichts der Komplexität dieser Aufgabe kann es nicht überraschen, daß die Rechtsprechung die Vielfalt der entscheidu ngsrelevanten Gesichtspunkte nur sehr selten überzeugend zu entwirren vermochte und daß eine gew isse Rechtsunsicher heit auf d iesem Gebiet die Regel war und auch heute noch ist. Anhand einer kurzen Darstellung der Genese dieser spezifischen Problematik möchte ich die hier noch sehr allgemein formulienen Aussagen über die aus der I nterferenz unterschiedlicher H ermeneutiken resultierenden Schwierigkeiten konkretisieren.
1 1 Zur Genese eines bürgerlichen Sünden-Falls
Wer von den Schwierigkeiten der Gerichte spricht. in Sachen Obszönität zu juri stisch ' sauberen' Lösung zu kommen, der setzt voraus, daß das Obszöne ein Bereich ist, der selbstverständlich unter die Ju risdiktion fällt. Das ist aber keineswegs immer der Fall gewesen. V ielmehr ist die Verrechtlichung des Obszönen ein Phänomen, dessen Auftreten mit ganz bestimmten historischen Entwicklungen in der Neuzeit zusammenhängt. Nach Gorsen besteht das Obszöne "in der absichtlichen Verletzung der Scham"'. Ludwig Marcuse definiert : "Das Obszöne durchstößt den Sch utzgürtel 'Scham' und Stellt den sinnl ichsten der Sinne ins grelle Licht"�. Ein Schutz gürtel "Scham" im engeren Sinne einer Tabuisierung des Sexuellen kann aber nur dort verletzt werden, wo individuell wie gesellschaftlich eine solche Zensur zu den anerkannten Verhal tensnormen gehört. Sie markiert dann jene internalisierte Scheide linie, die das Tabu ierte, Verdrängte, mit inneren und äußeren Sanktionen Belegte von den gesellschaft l ich anerkannten positiven Norm- und Wertvorstellu ngen trennt. Die G eschichte zeigt, wie außerordentl ich beweglich d iese Linie ist und wie unter schiedlich Gesellschaften und ihre Institutionen auf überschreitungen reagieren können. I n der Antike gab es in den Bacchanalien, den Satu rnalien und - durch die Stiltrennungsregel sanktioniert - i n der Komödie zusätzliche Freiräume für den "sinnlichsten der Sinne" gegenüber einer ohnehin schon sehr großzügigen Sexual, D.J Prinz,p Obszön S. 1 6 . � ObJzdn S.
J92.
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H I:-: R M E N E U T I Q U E DANS LE BOUDOIR
auffassung. Auch unter dem Regimem der Kirche existienen solche moralischen Exk laven, z . B . in den Fastnachtsspielen und im Twelhh-Night-Brauch in England. Die Kirche hielt zwar Obszönitäten für moralisch verwerflich, aber sie konnte sich Nachsicht leisten, weil Gebotsübertretungen in dieser Sache eher das Heil des Ein7.e1nen als den Bestand des G laubenssystems gefährdeten. Deshalb endete der Ero tica-Verfasser Pallavicino z . B . nicht wegen seiner pornographischen La Retorica delle Puttane, sondern wegen seiner Verunglimpfungen kirchlicher Institutionen, besonders des Jesu itenordens, auf dem Scheiterhaufen". Von öffentlich- rechtlichem Interesse wird die Schamverletzung erst in dem Au genblick. wo die K irche ihren Anspruch auf Heilsvennittlung einbüßt und infolge dessen die moralische Verantwortung dem Individuum aufgebürdet wird, eine Ver antwortung, die ihrerseits dann im Prozeß neuer I nstitutionalisierung dem Konsens mündiger Bürger übenragen wird. I n dem Maße nun, in dem die staatlichen I nstitu tionen die Funktion der Durchsetzung dieses Konsenses übernehmen, wird auch das Obszöne als etwas betrachtet, das sich gegen das Gemeinwohl richtet und entspre chend konsequent verlolgt werden muß. Reinhart Koselleck hat diesen gesch ichtli chen Wendepunkt als übergang von einer aristokratisch-absolutistischen zu einer i m K e r n bürgerlichen Herrschahsfonn identifizien: "Die bürgerliche Moral wird zu einer öffentlichen Gewalt, die zwar vorerst nur geistig wirkt, aber in ihrer Auswir kung politisch ist, indem sie den Bürger zwingt, seine Handlungen nicht nur den Geset7.en des Staates, sondern zugleich und vor allem dem Gesetz der öffentlichen . Meinung anzupassen . 7• Im England nach der Glorious Revol ution bewegen sich die Gesetl.e des Staates und die Gesetze der öffentlichen Meinung stetig aufeinander zu, bis der Punkt erreicht ist. an dem die Bürger staatliche Gewalt zur Sicherung und Verteidigung der in der öffentlichen Meinung schon etablierten Verhaltensnormen einsetzen können. Im Zuge d ieser Entwicklung verlagen sich der auffl ammende Kampf gegen das Obszöne von der Kanzel in die Gerichtssäle. Dieser Prozeß der Institutionalisierung bürgerlicher Sexualmoral im R<.ocht ist eine Folge des kominu ierlichen Anhebens der Schamschwelle. Die zunehmende Eigen verantwortlichkeit des bürgerlichen Individ uums erzeugt ein Identitätsbewußtsein, das die G renzen zwischen Selbst und Welt, innen und außen, Öffentlichkeit und famil iärer Intimität sehr viel stärker konturiert wissen will. Es ist, als ob das wac h sende bürgerliche Selbstbewußtsein in d i rekter Relation zur gesteigenen Schamfä higkeit des Einzelnen stand, so wie Adam und Eva. nachdem sie im Durchbrechen paradiesischer Selbstvergessenheit zum ersten Mal Eigeninitiative be"riesen haben, sich plötz lich ihrer Blöße gewahr werden und d iese nicht mehr ertragen konnten. Das ObS7.öne als ein anti -individualistisches Prinzip, als Ausdruck allgemein menschl icher Animal ität wird so zu einer Gefahr für eine individ ualistische. auf dem Ideal der Selbstzucht fußendl' Gesell schaftsordnung. b •
S. I>. h,xun. L,nrtl7le L,ur�t"r,-", E"gt.. "d /t.iJO-/74 J . o. 01"1 Krmlt "nd Kru,-. FnnkfurtJM. 1 9 7 1 , S. 47.
1 964, S. 1 0 .
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J Ü RG EN SCH LÄGI-:R
Philippe Aries hat in seiner Geschichte der Kindheit nachgewiesen, daß der Verlust an groß-fami liärer Sozialität einhergeht mit dem Ansteigen der Bedeutung von Inti mität als jenem Bereich, in dem wichtige Funktionen zwischenmenschlichen Lebens eingeschlossen werden. die sich zuvor in der 'Offemlichkeit' vol lzogen hanen. Zu gleich machen seine Ausführungen deutlich, wie eng die Entstehung eines bürgerli chen Familienideals mit dem Anheben der Schamschwelle verknüpft ist. Das sexuelle Leben wird ins separate Elternschlafgemach verbannt. Die Heimlichkeit. in die es dadurch gebracht wurde, wirkt sich als gesteigerte Scheu vor jeglicher Zurschaustel lung nach außen aus. Und diese gewachsene Scheu setzt sich über die öffentliche Meinung schl ießlich i n gesetzliche Sanktionen des Staates gegen jene um. die das Geschlechtliche aus der I ntimität wieder herausholen wollenB. Die Intimität als gesellschaftlicher Wert von hohem Rang ist damit aber auch für die individualpsychologischen und sozialpsychologischen Bedingungen verantwort lich zu machen. unter denen Obszönes allererst in Funktion treten konnte. Die Entstehung einer heimlichen Lust am Obszönen. in dessen Promisku itätsfetischis mus sich die in der vorbürgerlichen Gesellschaft herrschende Sozialität in pervertier ter Form spiegelt. ist Teil des Preises. den eine auf Selbstzucht und Selbstbehauptung des Einzelnen beruhende Gesellschaftsordnung zahlen mußte. Zwei berühmte Fälle der englischen Rechtsgesch ichte mögen den übergang der moralischen Verantwortung von der Kirche auf die Gerichte illustrieren. Im Jahr 1 707 wurden James Read und Angell Carter wegen der Veröffentl ichung eines Ge dichtzyklus' mit dem Titel The Filteen Plagues 01 Maidenhedd vor dem obersten Gericht (Queen's Beneh) angeklagt und für schuldig befunden. Read protestierte gegen den Schuldspruch mit der Begründ ung, daß "obscene libeI" etwas sei. das außerhalb der Zuständigkeit des Gerichts läge. Lord Ch ief Justice Holt und seine Kollegen gaben ihm recht. Richter Powell begründete diese Entscheidung so : "This is for printing bawdy stuff, that reflects on no person: and a libel must be against some particular person or persons. or against the government. It is stuff not fit tO be mentioned publicly. If there is no remedy in the Spiritual court. it does not follow there must be a remedy here . . . h tends to the corruption of manners but that is not sufficient for us to punish"'. Obwohl sich in dieser Begründung schon der Gesichts punkt des öffentlichen Interesses am Aufrechterhalten der Moral andeutet, wird h ier noch das Problem in den Schoß der Kirche zurückverw iesen. Man war noch nicht der Meinung. daß Fragen allgemeiner Sittlichkeit unter den Kontrollanspruch der profanen öffentlichen Rechtsprechung fielen. Die Queen's Bench folgt hier einer Unterscheidung. wie sie schon J ohn Locke im X V I I I . Kapitel des H . Buches seines An EssdY Concerning Humdn UnJerstdnding formuliert hatte : "The laws that men generally refer their actions to, to judge of their rectitude or obliquity. seem to me to be these th ree : ( I ) The divine law. (2) The ovi/ law. (3) The law of opinion or •
Vgl. Gt"h,chu Jrr K",Jhr,t, Munchen 1978, S. S.f8 ff . 78.
.. Zillen n,u:h D. ThomoiS, A Long T,mr 8""''''g S.
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reputation, i f I mal' so call it"\o. Unter der Ziffer 1 2 dieses Kapitels haue Locke ausdrucklieh auf die eigentüml iche, machtlose Wirkungsweise dieses " 'aw of opinion or reputation" hingewiesen: "If anyone shall imagine that I have forgot my own notion of a law, when 1 make the law whereby men judge of Tlirt"e and viee 1 0 be nothing else but the consent of private men, ",ho have not authority enough 1 0 make a law. especially wanting that whieh is so necessary and essential 1 0 a law, a power 10 enforce it . . . .. 1 1 . Knapp 20 Jahre später bricht diese Unterscheidung, die Locke getroffen hatte. in der Konfrontation mit neuen Fällen von literarischer Obszönität zusammen, und die Ge richte beginnen, im Namen der öffentlichen Moral dem von Locke unter der Ziffer 12 genannten Mangel abzuhelfen. Verletzungen der öffentlichen Moral wer· den erstmals in der englischen Rechtsgeschichte kriminalisiert. Der Verleger Ed mund Curll wird wegen der Publikation zweier pornographischer Schriften (Venus in lhe Cloisler: or, the Nun in her Smock und Treal;se 01 Flogging) zu einer Geld· st rafe und zu einer Stunde Olm Pranger verurteilt. H ier scheinen die Argumente des A n klägers das Gericht überzeugt zu haben : "What I ins ist upon is, that this is an offence at common law, as it tends to corrupt the morals of the king's subjects, and is against 1he peace of the king. Peace includes good order and government, and that peace ma)" be broken in man)" instances without actual force. I. If it be an act against the constitution or civil government. 2 . I f it be against religion. And, 3. If against morality . . . 3. As to moral ity. Destroying the peace of the government ; for govern· ment is no more than public order which is morality. My lord chief justice Holt used to SOl)', Christianity is part of the law : and why not morality too? I do not insist that every immoral act is indictable, such as telling 01 lie, or the like: But if it is destructive of moralit)" in general ; if it does, or may, affect 0111 the king's subjeets, it then is an offence of 01 public na.ture"ll. Für d ieses Gericht steht die Pornographie auf einer Ebene mit Blasphemie und Hochverrat. Sie ist ein subversiver Angriff auf die bestehende Ordnung und muß deshalb als justitiables Vergehen gewertet werden. Voraussetzung für d ie Aufwer tung des Obszönen zur 'Staatsaffäre' ist die Identifi kation von Staat, öffentl icher Ordnung und Mora l : "for government is no more than public order wh ich is mora· lity". Daraus leiten die Gerichte der Zeit denn auch ganz selbstverständlich ihre Rolle als Hüter d ieser Moral ab. Geschützt werden muß der Bü rger vor der zerset· zenden Kraft des Obszönen, damit das Gemeinwesen keinen Schaden leidet. Des· halb werden mögliche Auswi rkungen auf den Bürger zum entscheidenden Kriterium dafür, ob "obscene libel" vorliegt oder nicht. Das Obszöne verletzt im Einzelnen die Gemeinschaft. Die übertragung des Begriffs "libel" auf den Tatbestand des Obszö· nen macht deutlich, daß sich das System selbst und seine Institutionen in der Person I; 11
Ev�r)"man.Au\gabe, London 1961, Bd I, S . 296.
E bd . S . JOO.
, : Ziti�n na,h
D.
Foxon, L,brrt",r L rtr r.. ,,,rr S.
1S.
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J Ü RGEN SCHLÄGER
ihrer Repräsentanten durch es zutiefst in ihrem sittl ichen Empfinden getroffen fühlten. Aus dieser Konstellation ergibt sich aber auch für die Rechtsprechung die Konse quenz, dieses 'sittliche Empfinden' der Allgemeinheit definieren zu müssen. Denn indem die Gerichte die Verteidigung allgemeiner Wenvorstellungen zum Schutze der Interessen des Bürgers übernehmen, auferlegen sie sich selbst die Pflicht der Bestimmung dessen, was im Interesse des Bürgers ist. Dieses Erfordernis bürdet der Rechtsprechung die Notwendigkeit ständiger öffentlicher Selbstlegitimation auf. Sie setzt sich damit einerseits den Schwankungen der Moden und Stimmungen aus, zum anderen aber öffnet das Kriterium eines 'öffentlichen Sittlichkeitsempfindens ', das den Schutz staatlicher Macht braucht und genießt, den Uneilsprozeß für versteckte politische Motivationen und Zielsetzungen. Die englische Rechtsprechung hat diese Möglichkeit auch nie ungenutzt gelassen, sondern immer dann besonders han rea giert, wenn eine moralische Korrumpierung der ohnehin unruhigen Unterschicht zur Debatte stand - wohl aus der überzeugung heraus, daß moralische und politi sche Normdivergenz ähnliche Bewußtseinslagen zur Voraussetzung haben. So geht die im 19. Jahrhundert stetig anwachsende Angst vor der durch A nsprüche der Unterschichten drohenden politischen Anarchie einher mit einer ständigen Ver feinerung des Instrumentariums, mit dem das Obszöne verfolgt wurde. Obwohl die Gerichte schon vorher für gewöhnlich kurzen Prozeß mit sexuell anstößigen Schrif ten und Büchern gemacht hatten, w urde im Jahre 1 857 ein neues Obscene Publica tions Bill verabschiedet, das die Grenzen des Erlaubten der stark nach oben verscho benen Tabumarkierung anpassen sollte. I n d iesem Gesetz wird das bis dahin noch geltende Kriterium einer Gefährdung der Gemeinschaft münd iger Bürger dahinge hend präzisiert, daß es nun diejenigen zu schützen habe, die selbst zu schwach sind, um sich dem zersetzenden Einfluß obszönen Schrifttums zu entziehen. Natürlich waren damit vor allem K inder, Jugendliche und Frauen gemeint. Aber nicht nur. Unter die besonders Anfälligen w urden vor allem auch die weniger Gebildeten, politisch U nterprivi legierten gerechnet. Das kommt schon darin zum Ausdruck, daß das Gesetz ausdrücklich die großen privaten Bibliotheken des Establishments vom polizeilichen Zugriff ausnahm. Eine ähnliche Einstellung Läßt sich auch an der unter schiedlichen Bewertung von teuren Luxusausgaben einerseits und bill igen Taschen buchausgaben in großen Auflagenzahlen andererseits ablesen i ' . D a ß die Furcht v o r d e n Konsequenzen d e r Vermittlung normdivergenten Verhal tens in den U nterschichten noch in unseren Tagen fortlebt, mag die folgende Episode belegen : Während des englischen Lady-Chatterley -Prozesses 1 960 d iskutierte auch das Oberhaus als höchste richterliche Instanz diesen Fal l . In der Debatte fragte einer Il
Vg!. die Analyse des Worthingwn - Falles in M . l . Ernn I A . U . Schwart7.. Ceruo,ship S . 4 0 : Aus der Konkursmasse eines bankronen Verlags wurde eine Luxusau5ga� von Erotica mil der Begründung zum Verkauf freigege�n. daß diejenigen. die dadun:h gefährdet werden könnten, sich solch leure Ausgaben nichl leislen könnlen.
H E R M ENEUTIQUE DANS LE BOUDOIR
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der Lords einen anderen, o b e r denn seiner Tochter das Buch zugänglich machen würde. Der Gefragte antwortete, er hätte nichts dagegen. wenn seine Tochter das Buch lesen würde, aber er würde es für unverantwortlich halten, wenn es seinem Wildhüter i n die Hände fiele14• Eine solche Doppelmoral ist sicherlich auch als ein Indiz für die Rechtsunsicherheit zu werten. mit der alle Fonnen von Zensur in freiheitlichen Gesellschaften behaftet sind. ganz besonders aber die Zensur des "sinnlichsten der Sinne". Im t 9. Jahrhundert hatte die englische Rechtsprechung den Versuch u nternommen, dieser permanenten Rechtsunsicherheit mit einer Radikallö sung zu begegnen. Im Jahre 1 868 beschrieb Sir Alexander Cockburn auf der Basis des neuen Gesetzes von 1 8 5 7 den Test, der für die nächsten 90 Jahre für englische Gerichte maßgebend sein sollte : "The test of obscenity is whether the tendency of the matter charged as obscenity is to deprave and corrupt those whose minds are open tO such immoraJ infl uences and into whose hands a publication of this sort might fall " l s . D i e s e Formulierung Cockburns scheint zu besagen, d a ß e i n e moralisch gefestigte (Männer-) Gesellschaft led iglich diejenigen zu schützen habe, die sie für besonders gefährdet hielt, also Kinder und Frauen. I n Wirklichkeit aber beinhaltet diese For mel, daß die ganze Gesellschaft ihre offiziell sanktionierte Entrüstungsschwelle auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, d. h. auf ein extrem niedrig angesetztes Niveau kindlicher Sensibilität festlegte. Dabei ist dieser Test nur Ausdruck eines einem Verfolgungswahn nicht unähnlichen Zustandes gewesen. in den das Land verfallen war. Die altbekannte Society for the Suppression of Vice erlebte in den 60er Jahren eine neue Blüte und lieferte der Justiz in wenigen J ahren Tausende von Fällen aus. Verleger, Leihbüchereibesitzer, Buchhändler und Autoren übten eine strenge Selbst zensur aus, weil keiner i n den Verdacht geraten wol lte. auch nur andeutungsweise Phantasien zu nähren, die offensichtlich ohnehin schon bedrängend genug waren l6. Die ganze Literatur. vor allem auch die K lassiker, die bis dahin noch mit einem gewissen Maß an Nachsicht hatten rechnen können. wurden auf Andeutungen der gefährlichen Art hin untersucht und für den Familiengebrauch gereinigt. Byron hat sich schon am Anfang des Jahrhunderts im Don Juan über die Absurd i täten e iner solchen Expurgations-Praxis lust ig gemacht : "Juan w a s taught from o u t t h e best edition, Expurgated by learned men, who place, Judiciously, from out thC' schoolboy's vision, ThC' grosser parts ; butt fearful to deface
Too much their modest b:ard by this omission, And pitying sore this mutilated case, ThC'y only add them a l l in an appendix, Which savC's, in fact, thC' trou ble of an indrx"P. 14
V g l . rbd. S . 1 J2 .
1\ lb
Z i t irn n a c h D . Thomas, A LOllg Timt Burnlllg S. 264.
l'
Canto I , Stanzr 4 4 .
Vgl . rbd . S . 2l9 ff.
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] Ü RG E N SCHLÄGER
Es ist gewiß ein Zeichen für die Hyperscnsibilität dieser Zeit, daß es uns in vielen Fällen selbst bei aufmerksamstem Beobachten schwerfällt, genau zu bestimmen, warum bestimmte Passagen damals dem Rotstift zum Opfer fielen. Es regt sich dabei der Verdacht. daß sich hier die I ntensität der Verdrängung i n gesteigerte Empfind l ichkeit gegenüber dem Verdrängten umsetzt. Aber nicht nur das. Die zweite Hälfte des 1 9 . Jahrhunderts sah eine bis dahin nie gekannte Vielzahl und Vielfalt pornographischer Produkte, ein Tatbestand, der die Vermutung zur Gewißheit werden läßt, daß zwischen Verbot und Zuwiderhandlung ein unauflöslicher Zusammenhang besteht.
111 Der Zusammenhang von Repression und Provokation
Die enge Verbind ung zwischen der lntimisierung des Sexuellen in der bürgerlichen Gesellschaft und der konsequenten Kriminalisierung seiner Zurschaustellung be inhaltet nicht nur die mit der Durchsetzung klassenspezifischer Moralvorstellungen und Machtansprüche immer gegebenen U ngerechtigkeiten. Weit problematischer für die präjudizielle Systematik der Rechtsprechung ist es. daß mit dieser Konstellation ein Kreislauf von Normsetzung und Normüberschreitung in Gang gesetzt wird. Die Heimlichkeit. mit der die bürgerliche Gesellschaft das Sexuelle umgibt. schafft einen Markt für Erzeugnisse. die die Aura der Heimlichkeit durchbrechen und den "sinn lichsten der Sinne i ns grelle Licht" stellen. So erzeugt die U nterwerfung der Triebe unter eine strenge Selbstzucht und unter ein öffentliches Tabu im Gegenzug eine Literatur. für die sexuelle Lust zum dominanten Thema wird. D . H . Lawrence hat d iesen Zusammenhang einmal auf die Formel gebrach t : "The whole quest ion of pornography seems to me a question of secrecy. Without secrecy there would be no pornography n 18 • Die Bedeutung d ieser I nterdependenz 1.eigt sich daran. daß zumin dest im 18. und 1 9 . J ahrhund ert die Härte der U n terdrückung in einem d irekten Wi rkungs verhältnis zur Härte und Vielfalt der obszönen Reaktionen stand. Die herrschende Gesellschaft hat mit ihrer Zensur demnach das Obszöne nicht nur nicht in den Griff bekommen, sondern sie hat sogar indirekt und ungewollt Anteil an der Existenz und Gestalt dessen, was sie verfolgte. Wenn Oscar Wildes A lgernon in The Importance 0/ Being Earnest formuliert : " O h ! it is absurd tO have a hard and fast rule about what one should read and what one shouldn't. More than half of modern culture depends on what one shouldn't read n l9, so hat er damit auf unernste Weise etwas getroffen, was für die Situation der vi ktorianischen Welt kennzeichnend ist: die Gleichzeitigkeit von strenger Prüderie und raffinierter Obszönität. Steven M arcus hat i n seinem Buch The Other Victorians die Vorstellung von der heilen Welt der Viktorianer ein für alle Mal als Mythos entlarvt und d ie Dialektik 1_ 1.
"Pornograph)' and Ob�cC'niry", in Phoe"u:. london 1 936. S . 1 77. PlAYJ, Harmon,hworrh 1 964, S. 257.
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von erzw ungener Normkonformität und ersehntem Normbruch, die für diese Zeit so charakteristisch ist, aufgedeckt : "Matters came tO a head during the middle and latter decades of the nineteenth century. During that period, pornographic writings were produced and published in unprecedented volume- it became in fact a minor industry. The view of human sexuality as it was represented in the subculture of pornography and the view of sexuality held by the official culture were reversals, mirror images, negative analogues of one another. For every warning against mastur bation issued by the official voice of culture, another work of pornography was published ; for every cautionary statement against the harmful effecu of sexual excess uttered by medical men, pornography represented copulation in excelsis, endless orgies, infinite daisy chains of inexhaustibility ; for every assertion about the delicacy and frigidity of respectable women made by the official culture, pornography repres ented legions of maenads, u niverses of palpitating female s ; for every effort made by the official culture to minimize the importance of sexuality, pornography cried out or whispered - that it was the only thing in the world of any importance at all. It is essential for us to notice the sim ilarities even more than the differences between these two groups of attitudes or cultures. I n both the same set of anxieties are at work ; in both the same obsessive ideas can be made out; and in both sexuality is conceived of at precisely the same degree of consciousness. It was a situation of unbearable contradiction"lo. Unter d iesem u nerträglichen Widerspruch hatte selbstverständlich auch die J ustiz als starker Arm der offiziellen Sittlichkeit zu leiden, ja !oie vers<.:härfte ihn noch, indem sie durch immer härtere Sanktionen den Teufelskreis z"'ischen erzwungener Normkonformität und dadurch provozierter Normd ivergenz verfe stigte und rad ikalisierte. D ieser Kreislauf von Repression und Auflehnung gegen sie ist nicht etwa eine anthropologische Konstante, ein u nausweichl iches Dilemma menschlicher Existenz . Denn die Ethnologie lehrt uns an vielen Beispielen, daß Kulturen durchaus mora lisch strikt organisiert sein können, ohne daß d ies subkulturelle Gegenreaktionen von erkennbarer Ausw irkung ausgelöst hätte. Es müssen also speziell historische Gründe vorliegen, die für diesen Kreislauf verantwortlich zu machen sind. Ohne mich hier aJlzuweit auf das diffizile Feld der historischen Psychologie vorwagen zu wollen, möchte ich doch zur Klärung dieser Gründe einige Gesichtspunkte ausfüh ren, die ich schon im 1 1 . Abschnitt der vorliegenden Arbeit angesprochen hatte. Die Entstehung bürgerlichen Bewußtseins vollzieht sich in unmittelbarem Zusam menhang mit der Entwicklung eines neuen, umfassenden Erfahrungsbegriffs. Die Sclbstverantwortung des Individuums ist zuallererst einmal Verantwortung gegen über der eigenen Erfahrung 2 1 . Das bürgerliche Individuum muß diese eigenen Erfah rungen ständig auf ihre Normfähigkeit hin überprüfen. Obwohl durch die I nstitutio!:
l.ondon 1 966, S . 2113 f . Vgl. au"h D . Thomas, A Long T,mr B"rning S . 273.
: 1 Don Ans"hwrllt'n \It'r autoblographlscht'n und dlaristischrn litrratur im 1 7. und I 8. Jahrhundrn kann .Ih deutli"ht'� I n d ll für diC'sC' EntwICklung gC'wt'nt't wt'rdt'n.
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nalisierung der public opinion neue Normen fortwährend internalisiert werden, bleibt trotz der damit verbundenen Herausbildung allgemeingültiger und verläß li· cher Verhaltens- und Beurteilungsregeln immer ein Substrat an nicht-verallgemeine rungsfähigem, individuellem Erleben übrig. Betrachtet man d ies im Kontext der gewaltigen physischen und psychischen Mobilisierung, die das bü rgerl iche Zeitalter mit sich brachte, 50 bedeutete dies, daß prinzipiell immer mehr Erfahrung gemacht wird und verarbeitet werden muß, als dann mit dem Prädikat der allgemeinen Ver bindlichkeit versehen werden kann. Diese Mobilisierung erfaßt gewissermaßen den ganzen Menschen und n icht nur jenen Teil, der über den Konsens als Ideal institutio nalisiert werden kann. Es werden durch sie Vorstellungsmöglichkeiten und Bedürf nisse zu bedrängender Realität, die ein ständiges Unterscheiden von Offentlichkeits fähigem und Privatem, sozial Akzeptiertem und gesellschaftlich Tabu iertem erfor derlich machtll• Dies ist die Gru ndsituation, die die Voraussetzung für jenes Wechselspiel von Repression und Provokation ist. von dem oben die Rede war. Auch die Rechtspre chung sieht sich damit einer neuen Situation gegenüber. U m gerecht urteilen zu können, müßte sie eigentlich über die Bewahrung des gerade G ültigen hinausdenken und die Folgew irkungen beachten. die ihre Entscheidungen haben werden ; d . h . sie müßte rechtsprechen in der doppelten H i nsicht einer Wahrung der Normen und einer gleichzeitigen Bewältigung der durch die Normsetzung ausgelösten psychi schen Gegenreaktionen. Ein solches Bewußtsein fehlt jedoch der Rechtsprechung lange Zeit, und es ist unter anderem auch d ieser M angel, der der Rechtsprechung in Sachen Obszönität zu einem so fragwürdigen Ansehen verholfen hat. Zensururteile präjudizieren nämlich durch ihre Umkehrwirkung zukünftige Fälle in ganz anderer Weise, als dies nach der Logik des Rechtsprechens der Fall sein sollte.
I V Rechtsprechung zwischen Scylla und Charybdis Die zentrale Frage lautet deshal b : Mit welchen Methoden und nach welchen G rund sätzen kann man Recht sprechen über einen Tatbestand, der mit den vom Recht geschützten Normen in einem zumindest mittelbaren Veru rsachungsverhältnis steht? Hat das Recht überhaupt eine Chance einzugreifen. ohne die Dialektik zwi schen Repression und Provokation zu verschärfen? D ie Rechtsprechung des 1 8 . und 1 9 . Jahrhunderts hat kein Verständnis für diesen Zusammenhang gezeigt. Sie hat aber, gewissermaßen unbewußt. auf ihn mit einer ständigen Verfeinerung und Aus weitung des U nterdrückungsinstrumentariums reagiert. Diese Ausweitung der Repression führte ihrerseits ganz folgerichtig zur geogra phischen wie psychologischen Emigration der sexuellen Phantasie. aus der sie mit zz
D ", ß di�s k�in� bloß� Sp�kulation in, läßt sich an 7w�i bc:ruhmu:n Tag�bilchrrn. P�PY5' Dwry von
1 660-1 669 und Bos,,'�lI's Lo"do" Jo�,."./von 1 762-6:\ zw�ifc:lsf�i n ... chwrisrn.
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doppelter Schärfe auf das System zurückgeschlagen hat. Paris wurde zum Hauptver lagson engl ischer Pornograph ie. Die Versuche des Foreign Office, auf die französi sche Regierung einzuw irken, um den Strom illegaler Erzeugnisse dieser Art zu stop pen, sind ein ku rioses Kapitel internationaler Beziehungen. Wenn man z . B . liest, daß ein englischer Zoll beamter - der Zoll war der Arm der Zensur pornographi scher Importe - sich bei der Pariser Polizei darüber beschwerte, daß Reproduktionen alter klassischer Aktmalerei von don nach England versandt würden, auf denen einzelne Schamhaare auszumachen seien, so gönnt man dem Verantwortlichen auf englischer Seite auch heute noch die Antwort des französischen Polizeiinspektors, der ihm unm ißverständ l ich zu verstehen gab, daß seine Nation über solche optischen Diffizi lien erhaben sei. Doch dies sollte uns nicht zu der falschen Auffassung verleiten, daß das Frankreich des 1 9 . Jahrhunderts ungewöhnl ich l iberal in dieser Hinsicht gewesen sei. Der Prozeß gegen Madame Bova ry beweist das Gegenteil. War schon die geographische Seite des Problems rechtlich schwer zu fassen, so komplizierte sich das ganze noch u m ein Vielfaches durch die psychischen Unwäg barkeiten, die mit dem Sachverhalt verbunden waren. Der Wachsamkeit der inneren Zensur entsprach eine permanente Präsenz des Zensurierten. Und diejenigen, die Recht in d ieser Sache sprachen, befanden sich in dem unausweichlichen Dilemma, über etwas sprechen zu müssen, worüber man nicht sprach; an etwas denken zu müssen, woran man nicht denken d u rfte; etwas öffentlich verhandeln zu müssen, das das Licht der Offentlichkeit eigentlich gar nicht er blic.ken durfte. Die Gerichte haben sich d iesem Dilemma immer wieder durch Mißachtung eige ner Rechts- und Verfahrensgrundsätze entziehen können. Ein Beispiel dafür ist die Rechtsnorm der Detaillierung der Anklage. A merikanische Richter haben sich d ie sem Erfordernis i n einigen Fällen durch einen eklatanten Bruch des verfaßten Ver fahrensrechts entzogen. I m Prozeß, in dem der Verleger einer illustrierten Fanny Hili-Ausgabe 1 82 1 in Philadelphia veru rteilt wurde, forderte der Angeklagte, daß ihm gemäß dem 6. Zusatz z u r amerikanischen Verfassung sein Vergehen so präzise und detailliert beschrieben würde, daß er in Zukunft unmißverständlich erkennen könne, wo die G renze zw ischen Recht und U nrecht liege. Oberrichter Parker war anderer Meinung: "It can never be req uired that an obscene book and picture should be displayed upon the records of the court : wh ich must be done, if the description in these charges is insufficient. This would be to req uire that the public itself should give permanency and notoriety to indecency, in order to punish it"21. So unterläuft die Natur des zu beurteilenden Sachverhalts gewissermaßen eine zentrale Norm der Rechtsprechung und z wi ngt den Richter, z w ischen zwei ü beln wählen zu müssen. Inzwischen hat dieses eigentlich psychologische und method ische Dilemma eine 1.usätzliche ökonomische Dimension gewonnen. Es kann einem pornograph ischen Werk gar nichts Besseres passieren, als daß sich ein Gericht seiner annimmt, denn eine bill igere und bessere Reklame als der gerichtsnotorische Skandal ist nirgendwo � , Z,lien ruch M . l..
F.rnsl l
A . U. Xhwan7. Cr,uorsh,p S. 16.
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zu haben. I m Zusammenhang mit dem Prozeß um die Freigabe von Lawrence's Lady Chatterley's Lover 1 959 in Amerika merkte daher einer der drei Richter. die die Konfiszierung durch den Generalpostmeister für nicht rechtens hielten, nachdenk lich an : "As to ' prurient interest' one can scarcely he so naive as to believe that the avalanche of sales carne about as a result of a sudden desire on the part of the American public to become acquainted with the problems of a professional game keeper in the management of an English estate"14. Ein weiteres. mindestens ebenso großes Problem für die Rechtsprech ung gegen das Obszöne bestand darin. die Norm zu definieren. anhand derer die Grenze zwi schen obszön und nicht-obszön, pornographisch und nicht-pornographisch rechts sicher bestimmt werden konnte. Da diese Grenze, wie gezeigt wurde, sich auch innerhalb des hier behandelten Zeitraums ständig versch iebt, konstruierten Gesetz geber und Richter Orientierungshilfen wie den ' natural man', den 'homme moren sensueI ', das ' normale Sittl ichkeitsempfinden des durchsch nittlich gebildeten M itte l europäers' usw. - Begriffe, die so vage und so sehr dem geschichtlichen Wandel ausgesetzt waren, daß i n sie mit Leichtigkeit subjektive Vorurteile einfließen konn ten. Die Konstruktion eines ' normalen Sittl ichkeitsempfindens' hatte aber zumindest noch eine andere Konsequenz von größerer Tragweite. Die Verlagerung der U rtei ls kriterien auf eine von der öffentlichen Meinung gedeckte Durchschnittsnorm führte nämlich in England und Amerika dazu, daß die meisten Prozesse gegen Pornogra phie vor Geschworenengerichten durchgeführt wurden, wobei die Geschworenen als repräsentativer Querschnitt durch die Bevölkerung jenes normale Sittlichkeits empfinden verkörpern sollten, auf das die Gerichte sich dann beriefen. Vox populi, vox legis? Dieser Aspekt der Beweispflicht der Gerichte ist auch der Grund dafür gewesen, daß sie sich lange weigerten, Psychologen, Mediziner und Literaturwissenschaftier als Experten i n solchen Prozessen zuzulassen. Expertenmeinungen wurden als nicht repräsentativ betrachtet, ja zum Teil wurden die Experten selbst für moralisch anrü chig angesehen, wie die Beispiele Kinsey und Havelock Ellis beweisen. Selbst der vorsitzende Richter beim berühmten Lady-Chatterley- Prozeß 1 960 in England fühlte sich bemüßigt, nach tagelanger Anhörung von über 30 Experten die Geschwo renen darauf hinzuweisen, daß "our criminal law in this country is based upon the view that a j u ry takes of the facts and not upon the view that experts may have"z5. Und das, obwohl der Obscene Publication Act von 1 959 ausdrücklich künstlerischen Wert und wissenschaftl iche Bedeutung als A usnahmekriterien benannt hatte. Hinter dieser Auffassung steckte die tiefsitzende überzeugung, daß der gesunde Menschen verstand des Normalbürgers noch am ehesten in der Lage ist, zu unterscheiden, was als obszön zu gelten hat und was nicht. Es klingt dabei auch das alte Motiv an, daß es bei solchen Prozessen überhaupt nicht darum geht. was einer Bildungselite zugängH
Ebd. S. 1 J 1 . aus ThC' Tri41 0/ udy Ch,illt,.r/C'y. hg. C . H . Rolph, Hannondsworth 1 96 1 , S . 226.
n ZiliC'rt
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lieh gemacht werden soll, sondern darum, w i e d i e weniger Gebildeten vor den Ausw irkungen dargestellter Obszönität geschützt werden können. Der Durch schn ittsverstand der Geschworenen soll deshalb sicherstellen, daß dieser Teil der Bevölkerung vom Zugang zu dem, was eine Anarchie fleischlicher Lust auslösen könnte, ausgeschlossen bleibt. Quod licet Iovi, non l icet bovi.
V Kunstvorbehalt oder Vorbehalt gegen die Kunst? Mit der Zulassung des Kunstvorbehalts scheint der Gesetzgeber in England und Amerika ebenso wie in Deutschland einer verändenen Einstellung zur Sexualität Rechnung getragen und die Gerichte von der unerträglichen Bürde moralischer Zen sur weitgehend entlastet zu haben. H at es der Ku nstvorbehalt doch immerhin mög lich gemacht, daß der Ulysses, Lady Chatterley's Lover (ungereinigt), The Tropic of Cancer und vieles mehr gerichtliche überprüfungen in diesen Ländern überstanden haben. Der Kunstvorbehalt ist dabei jeweils der entscheidende Hebel gewesen, mit dem die Gerichte die Argumentation weg von einem ohnehin fiktiv gewordenen allgemeinen Sittlichkeitsempfinden des Normalbürgers und hin auf die ästhetische Expertise von Literaten und Literaturwissenschaftlern verschoben haben, also gewis sermaßen von den eigenen Schultern und denen der Geschworenen weg auf diejeni gen, die aufgund ihrer Ausbildung das Beurteilte letztlich zu verantworten hätten. So positiv diese Leistungen an sich auch zu werten sind, so recht haben doch auch diejenigen, Jie Jen Kunstvorbehalt als eine reine "Vennummungsstrategie" durch schaut haben2'. Denn eine nur noch scheinbar intakte Norm der ästhetischen über höhung w ird bezeichnenderweise erst in dem Augenblick beweiswürdig, als die Norm eines natürlichen Sittlichkeitsgefühls mündiger Bü rger nicht mehr aufrecht zu erhalten ist. Die ästhetische Norm rückt also als Legitimationsinstrument an die Stelle der sittlichen. Nun ist dies aber, wie Oettinger gezeigt hat, eine ästhetische Norm, die z . Z. ihrer rechtlichen Anwendung selbst von der Kunst überholt und als klassisch-idealisierend ausgewiesen isr. Es drängt sich deshalb der Verdacht auf, daß die Gerichte dem Druck der eigenen Probleme und dem veränderter Moralauffassungen zwar nachgegeben, d ieses Nach geben aber vor der öffentlichkeit und sich selbst mit dem Rückzug auf eine im Gemeinverstand noch gültige Norm bürgerlicher Anschauung kaschiert haben. Da bei muß die Schaffung eines eigenen Freiraums für die Kunst aus einem idealistischen Kun stverständ nis heraus als versteckte Moralisierung des Ä sthetischen gewertet werden, denn das Künstlerische hat im Urteilsprozeß idealisierende und d. h. letzt lich moralische Funktionen zu erfüllen. Wenn in Urteilsbegründungen immer wie.0, vgl. aUl:h F. . Fuchs, Gesch,chte Jer Erotuchen A"llmt, Bcrlin 1 977 (Nach druck der A u sgabe von 1 908), S. X I V 1 1 . und Gesrhichte Jer Erotuchen K"mt - D"1 I7IJIfJ,J"eJle
l� I.. M:arcusc, ObfZO" S . Proble", / , S . '\ 1 .
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der behauptet wird, in der Kunst erscheine das Sexuelle gereinigt von den n iederen Trieben fleischlicher Lust, "weil . . . im Kunstwerk das Sexuelle nicht unter Ausklam merung aller sonstigen menschlichen Bezüge dargestellt, sondern durch die künstle rische Gestaltung so durchgeistigt und überhöht wird, daß es zum d ienenden Be standteil einer künstlerischen A ussage w ird"27, j a wenn sogar festgestellt wird, daß Pornographie und Kunst einander ausschl ießende Begriffe seien, weil die Pornogra phie im Unterschied zur Kunst "überwiegend auf das lüsterne I nteresse an sexuellen D ingen" abziele, so erscheint das Künstlerische als eine Art cordon sanitaire. der mögliche Unmoral moralisch akzeptabel macht. Es sei einmal dahingestellt, welche Probleme sich eine Kultur aufbürdet, die Se xualität und Lust scharf voneinander zu trennen in der Lage ist. Aber selbst wenn man die angeblich idealisierende Wirkung des Ästhetischen einmal für gegeben hält, so stellt sich für die Rechtsprechung doch die Frage, ob mit dem Kunstvorbehah nicht das Prinzip der G leichheit aller vor dem Recht verletzt wird, weil er doch schließlich einer sublimierungswilligen, geistigen Elite gestattet, was er weniger Ge bildeten vorenthält. Darüber hinaus ist völlig ungeklärt, ob nicht ein geistig wenig differenzierter Leser bei der Lektüre eines künstlerisch hochwertigen Textes mit obszönen Elementen dennoch ein " lüsternes Interesse an sexuellen Dingen" entwik kein kann, indem er sich von vornherein schon auf die Suche nach den sogenannten 'schmutzigen Stel len' macht und die 'erhöhende' ästhetische E inpackung einfach überliest. Aufgrund solcher überlegungen haben Gerichte früher schon öfter scharf zwi schen künstlerischem Wert und pornographischer Wirksamkeit unterschieden. So z. B . R ichter Bushel 1 929 in seiner U rteilsbegründung zum Verbot des Romans The Weil 0/ Loneliness von Radclyffe Hall : "Were the issue before the court the book's value from a literary stand point, the opinions of those mentioned might, of course, carry great weight. However, the book's literary merits are not challenged, and the court may not conjecture as to the loss that its condemnation may entail to our general literature, when it is plainly subversive of public morals and public decency, which the statute is designed to safeguard . Moreover, it has been held that the opinions of experts are inadmissible"28. R ichter Bushel bestreitet hier ganz offen sichtlich die läuternde Funktion des Ästhetischen. Seine Auffassung erscheint uns auf den ersten Blick als illiberal, gibt man jedoch den idealistischen Kunstbegriff auf und setzt demgegenüber ein ästhetisches Verständnis an, wie es in jüngster Zeit Wolfgang Iser, Hans-Robert Jauß und andere entwickelt haben, so erscheint zumin dest Bushels Argumentation, daß obszöne Wirksamkeit von künstlerischem Wert nicht aufgehoben wird, keineswegs mehr so abwegig. Wolfgang Iser entwickelt in seinem Aufsatz "Die Wirkl ichkeit der Fiktion" dieses neue Kunstverständnis folgendermaßen : "Fiktion und Wirklichkeit können daher �1 Schonke/Schröder, Komment.r zu". Str4geJelZbuch. Munchen 1 978, S. 1 2 8 1 . Zilien nach M . L . Ernst / A . U . Schwanz. CerJJorJh.p S. 77.
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nicht mehr als ein Seinsverhähnis. sondern müssen als ein M itteilu ngsverhältnis begriffen werden. Dadurch löst sich zunächst die polare Entgegensetzung von Fik tion und Wirklichkeit auf: Stau deren bloßes Gegenteil zu sein, teilt Fiktion uns etwas über Wirklichkeit mit . . . Als Kommunikationsstruktur schließt die Fiktion Wirklichkeit mit einem Subjekt zusammen, das durch die Fiktion mit einer Realität verminelt wird. Es ist daher auch bezeichnend, daß das Subjekt kaum eine Rolle spielte, in jedem Falle aber nicht mit reflektien wurde, solange man Fiktion über ihre kontrastive Absetzung von Wirklichkeit zu fassen versuchte. Wenn Fiktion nicht Wirkl ichkeit ist, so weniger deshalb. weil ihr die notwendigen Realitätsprädi kate fehlen, sondern eher deshalb. weil sie Wirklichkeit so zu organisieren vermag, daß d iese m ineilbar wird, weshalb sie das von ihr Organisiene selbst nicht sein kann. Versteht man Fiktion als Kommunikationsstruktur. dann muß im Zuge- ihrer Be trachtung die alte an sie gerichtete Frage durch eine andere ersetzt werden : Nicht was sie bedeutet, sondern was sie bewirkt, gilt es nun in den Blick zu rücken. Erst daraus ergibt sich ein Zugang zur Funktion der Fiktion, die sich in der Vermittlung von Subjekt und Wirklichkeit erfüllt"19. Fiktion rückt also das lesende Subjekt nicht in eine realitätsferne Sphäre, sondern sie bietet ihm vielfältige Möglichkeiten. seine WirklichkeitseinsteUungen dadurch zu überprüfen und differenziener zu organisieren. daß durch sie bestimmte Aspekte von Wirklichkeit allererst vorstellbar werden. Auch Hans-Roben Jauß argumentien in dieselbe Richtung: "Die ästhetische Tätigkeit scheint sich nicht geradezu und 'organisch' auf einem autochthonen Feld zu entfalten. sondern ihren Sinnbereich fortschreitend durch Grenzüberschreitungen. konku rrierende Lösungen. Usurpatio nen oder Kompensationen auf Kosten der angrenzenden Realitätserfahrungen zu erweitern und zu behaupten"Jo. Nachvollzug von Fiktion ist also immer schon durch ihren immanenten Wirklich keitsbezug ein Stück Wehhewähigung. Im Lesen wird das Bewußtsein der Realität nicht entzogen, sondern der Lese- und Konkretisationsakt formt es immer wieder neu um, indem er es in der versC"hiedenanigsten Weise mit alternativen Wirklich keitserfahrungen konfrontien. Entscheidend ist dabei, daß ästhetische Strukturen immer nur im Wege der Horizontvrrschmelzung von individuellem Bewußtsein und Textstruktur realisien werden können, also die Wirkung ein irreduzibles Element an individueller Erfahrungsverarbeitung beinhaltet. Deshalb ist Wirkung - zumal unter moralischen Gesichtspunkten - so schwer einzuschätzen. Obszönes im ästhetischen Kontext ist demnach niemals 'reine Fiktion', und der Ku nstcharakter kann die mora lische Problematik, vor die ein obszöner Text die Gesellschaft stellt. gar nicht neutra l isieren. Eher im Gegenteil: es war ja gerade die Offenheit ästhetischer Strukturen, die es in vielen Fällen erst möglich machte, die eingerasteten Bewußtseinshorizonte aufzubrechen und vorstellbar werden zu lassen. was bis dahin unvorstel lbar gewesen !'O I n
R . W .II rmng (Hg.), Rrzrpuo"uJ,hr,Jt, Mun,hC'n 1975, S . 2 7 7 f .: AJthrm,hr Erf.hr",.g " ,. d lirrr.".,hr Hr,-mr"r",ilt. 3d I , Mun.:hm 1 977, S. 1 6 1 .
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wa r. Da s heißt, die K u n s t schirmte die bürgerlichen Leser nich t nur nich t vor dem Sexuellen ab, sondern sie verhalf ihm zu neuer Aktualität. Noch schwieriger wird die Anwendung des idealistisch begründeten Kunstvorbe halts, wenn man sich die Entwicklung der Kunst selbst vor A ugen fühn. Seit mehr als 60 Jahren versteht sich Kunst als bewußt antiklassisch. Sie leht von der Provoka tion, vom Schockieren herkömmlicher Erwanungen, vom überschreiten traditionell sanktionierter Grenzen. vom Zersetzen etabliener Normen. Sie hat sich darin. wenn man so will, auf die Seite der Subkultur und d . h. auch auf die Seite des Obszönen geschlagen. Die moderne Kunst übernimmt damit eine bewußt entsublim ierende Rolle. und sie zerstört damit selbst die Basis. die einen Kunstvorbehalt überhaupt sinnvoll erscheinen ließ. I n ihrer Forderung nach immer wieder neuem Normbruch decken sich die modernen ästhetischen mit den obszönen Intentionen. so daß eine Gerichtsbarkeit. die das Sexuelle durch die Optik der modernen Ästhetik zu sehen bemüht wäre. den ästhetischen Wert obszönen Normbruchs anerkennen und das (Ver-)Uneilen sein lassen müßte. Das wäre die eine Alternative, die andere wäre eine schleunige Rückverwandlung des Kunstvorbehalts in einen Vorbehalt gegen die Kunst. Mit der Freigabe der einfachen Pornographie ist der Gesetzgeber zweifellos einen Schritt in die richtige Richtung gegangen. Diese Freigabe entlastet die Gerichte von Aufgaben. denen sie offenbar nicht gewachsen sind. Mit ihrem Rückzug aus diesem Bereich allgemeiner Sittlichkeit scheint die Jurisprudenz zu einer vor-bürgerlichen Position zurückgekehrt zu sein. Doch dieser Eindruck täuscht. Denn die Rechtspre chung in Sachen literarischer Pornographie ist mitnichten aller Probleme ledig. Der Zirkel von legislativer Grenz ziehung und dadurch ausgelöster Gegenreaktion ist damit offenbar noch nicht zum Halten gebracht worden. Denn die Zurücknahme der Verteidigungs linie offizieller Sittlichkeit hat das Problem lediglich auf die hane Por nographie verschoben. Die Senkung der Schamschwelle zwingt in einem irreversibel erscheinenden Automatismus die Produzenten des Obszönen zu einer ständigen Erweiterung und Radikalisierung ihres Repertoires. I n dem A u genblick, in dem das Kollesche Familienglück und der endlose Strom fideler Leinwandpromisku itäten deutsch-dänischer Produktion nicht mehr unter die Sanktionen des Rechts fallen, stellen Produktionen wie 5a/o, Deep Throat, die Happenings von Nitsch. M uehl und anderen durch immer radikalere Provokationen die Gerichte vor neue Schwierigkei ten. Es ist nicht abzusehen. wie dieser Automatismus zu durchbrechen ist. zumal in einer Zeit. in der der Normbruch zum Prinzip künstlerischer Produktionen aller An geworden ist. Das Recht kann hier wenig ausrichten ; es kann allenfalls in Anerkennt nis dieser Schwierigkeiten die Zugänglichkeit beschränken, um so die Freiheit der Entscheidung des Individuums zu garantieren und Kinder vor möglichen negativen Auswirkungen einer zu frühen Konfrontation mit d iesem Bereich zu bewahren.
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V I Verstehen contra U rteilen? D i e hier vorgetragenen rechtsgeschichtlichen und rechtssoziologischen überlegun gen sollten, zum indest mittelbar, deutlich gemacht haben, wie außerordentlich schwer es Fälle literarischer Obszönität dem Recht gemacht haben, die eigene sy stemimmanente Hermeneutik unbeschadet zur Anwendung zu bringen. Gerichte müssen U rteile fällen, d . h. sie müssen jeden Fall an einer Norm messen, um das Entscheidungsrelevante vom Nicht- Relevanten sondern zu können. Im Fall der Zen sur literarischer Obszönität handelt es sich j edoch um U rteile über Verstehens- und Wirkprozesse. die sich der juristischen Normierbarkeit weitgehend entziehen. Die Komplexität der dabei ablaufenden rezeptionsästhetischen und tiefenpsychologi schen PrOl.esse überschießt bei weitem den Rahmen. der rechtssicheres U rteilen gerade noch zuläßt. I n d iesen beiden Bereichen beinhaltet echtes Verstehen eine rad ikale Absage an die Geltung irgendeiner bestimmten allgemeinverbindlichen Norm. Die beim Lesen von Literatur in Gang gesetzten Verstehensprozesse sind ebenso wie jene Operationen. die durchgeführt werden müssen, wenn man seine eigene Psyche durchdringen will , Prozesse schrittweiser Individualisierung. Sie ver laufen also in eine zur juristischen Henneneutik entgegengesetzte Richtung. Ein l iterarischer Text braucht das Subjekt, um konkretisiert und verstanden werden zu können. Normierte E rwartungen bilden dabei allenfalls die Folie, von der sich der individualisierende Konkretisationsprozeß absetzt. Ähnl iches gilt auch für das tie fenpsychologische Verstehen eines konkreten Falls. Es ist daher nicht von ungefähr, daß sich die Literaturwissenschaft immer weiter vom ästhetischen U rteil zurückzieht und daß der Psychoana lytiker Verstehen und U rteilen sogar für gänzlich inkompati ble Vorgänge hält. Der J urist. dessen raison d'etre das U rteilen ist, gerät mithin in der Konfrontation mit l iterarischer Obszönität in ein spezifisch henneneutisches Dilemma, das ihn auch deshalb nachdenklich stimmen sollte, weil die ständige Aus weitung u n serer Verstehensmöglichkeiten das (Ver-)U rteilen allgemein immer schwerer macht.
KLAUS OEITINOER K U N STVE RSTA N D - SACHV E R STA N D . Z U R F U N KT I O N D E S G E R I C HTS G UTACHTERS I N SAC H E N ' K U NST
Pornographie ist in unserer Republik auch nach den Parlamentsbeschlüssen zur Liberalisierung des diesbezüglichen Strafrechts noch immer nicht gegen Ei ngriffe der J ustiz gefeit. Auch nach dem 1 8 . Jenner 1 975 sind einschlägige Verfahren eröffnet worden. Erinnert sei nur an die spektakulären Filmskandale um Pasolinis Nachlaß werk Sa/o oder die Tage 'Von Sodom und Gomorrha oder um Oshimas Reich der Sinne auf der Berlinale 1 976. Die seriöse Offentlichkeit hat mit entschiedener EinheI l igkeit gegen diese justiziellen Maßnahmen protestien und das grundgesetzlich ga rantierte Recht auf Freiheit der ' Kunst' reklamiert. Insbesondere wurde in diesem Zusammenhang beklagt, daß die Beschlagnahmun gen ohne Beiziehung \'on 'Sachverständigen' vorgenommen worden seien, was of fenbar heißen soll, daß nur Expenen in Sachen ' Kunst' die zuständigen Justizorgane, die das nicht sind, über den ästhetischen Status eines Werkes aufzuklären in der Lage sind, genauer gesagt, daß nur ' Kunst'- Experten befugt sind, im Einzelfalle das Prädi kat ' Kunst' zu vergeben. - Dieses Problem der Berücksichtigung des Experten hat in den sogenannten ' Kunstpro7.essen' seit eh und je eine erheblich umstrittene Rolle gespielt, ohne daß man sich über die Reichweite dieses ästhetischen Sachverstands vor Gericht im klaren gewesen wäre.
Dcfinitionsprobleme Was ' K unst' ist, kann nicht wenneutral bestimmt werden. Im Unterschied zu Wörtern wie 'Tisch', 'Zeitung' oder 'G rundgesetz' gehört ' Kunst' wie etwa auch 'Vernunft', 'G lück' oder 'Gerechtigkeit' zu jener Gruppe von Wörtern, deren Ge brauch immer in einem bestimmten Horizont von Werten und Interessen steht. Mit anderen '«'orte n : wer etwas als ' Kunst' bezeichnet, fällt ein Urteil, das in einem bestimmten Normengefüge begründet ist. Man könnte auch sage n : das Prädikat ' Kunst' für ein bestimmtes Objekt ist stets - i m weitesten Sinne - ideolo gisch, es enthält immer 'weltanschau liche' Implikate. Alle Definitionsansätze, die dieses Nor menproblem zu eskamotieren versuchen, alle Bemühungen um einen in d iesem Sinne ideologiefreien, einen technischen Ku nstbegriff also, verfehlen das wie auch immer inhaltlich beschaffene Vorverständnis von ' Kunst'. In Gesellschaften, die nach gemeinsamen Wenvorstel lungen organisiert sind, stößt die Aufgabe einer Definition von ' Kunst', die einen allgemeinen Konsens erwarten
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kann, a uf ke i n e prinzipiellen Schwierigkeiten. I n einer prinzipiell pluralistischen Gesellschaft hingegen. in der die freie Konku rrenz der ästhetischen Normen durch die Verfassung ausdrücklich garantiert wird. ist eine Definition mit allgemein ver bindl ichem Anspruch unmöglich. Der Satz "Die Kunst soll frei sein" besagt t;3n7: gewiß dies, daß zumindest den öffentlichen Gewalten untersagt ist, eine materiale Qualifizierung im Bereich des Ästhetischen vorzunehmen. Die Entscheidung c.. ines Gerichts zugunsten eines bestimmten Kunsthegriffs wäre also grundgesetzwidrig. Das Di lemma der zur Neutralität in diesem Bereich verpfl ichteten Rechtspre chung ist damit evident: ' Kunst' kann vom Wesen der Sache her nur normativ bestimmt werden, darf aber von Rechts "'egen so eben nicht bestimmt werden. Dieses D ilemma läßt sich gewiß nicht mit jenen Tricks umgehen, mit denen sich die Gerichte in der Not des Entscheidungszwangs bisher so häufig beholfen haben, mit dem Versuch, das ästhetische U rteil an außergerichtl ichen I nstanzen zu orientieren.
Der 'Kunst'- Experte So hat man lange Zeit "die im Leben herrschenden Anschauungen", "das Gefühl des normalen Lesers", des "Du rchschnittsmenschen", des "unbefangenen Drinen", "die Auffassung des künstlerisch aufgeschlossenen oder zumindest um Verständ nis bemühten, wenn auch literarisch nicht besonders vorgebildeten Menschen" zitiert. Erst in den 60er J ahren hat man die fromme Einfalt einer Orientierung an solchen fiktiven Urteilsinstanzen endl ich durchschaut. Nun wurde immer vernehmlicher nach dem "in Kunstdingen kompetenten Dritten", nach dem " Fachmann ", dem " K unstsachverständ igen" gerufen. Die radikalsten Forderungen l iefen darauf hinaus, die Gerichte zu verpflichten, in jedem Falle einen "Sachverständigen" beizu1.iehen und dessen U rteil "ohne richterliche überprüfung" zu übernehmen. Dabei sei es schon hinreichend, "wenn auch nur ein ernst 7.U nehmender Dritter" bereit sei. cin Werk als " K unst" anzuerkennen. Diese vom Prozessual isten vielleicht bedauerte Lösung sei der Preis für die staatliche Neutral ität im Kunstbereich 1 • Dieser Vorschlag ist nicht n u r in prozeßrechtl icher H insicht problematisch. Man hat sich zu fragen, wie es denn tatsächlich mit der 'Sachkompetenz' des 'Ku nstsach verständ igen' bestellt ist, ob er tatsächlich in der Lage ist, verbindliche Urteile zu fällen, ob das Vertrauen etwa des Oberlandesgerichts Hamburg gerech tfertigt ist. das vom " Ku nstexperten" ein "rationalkritisch" fundiertes Urteil erwartet]. ZunächS[ muß festgestellt we rde n . daß die F rage , ob einem Werk das Prädikat ' Kunst' zuzubill igen ist. nicht vom 'Sachverstand' entschieden werden kann. An diesen zu appellieren ist nur dort si nnvol l , wo es prinzipie l l möglich ist. aufgrund methodischer Arbeit, unter Anwendung von Regeln. ein Einzelnes als Fall eines I Vg l . M . Schick, " [)�r v�rfas5ung�r�chtlich� Begriff d�5 Kunslw�rk�", I Uneil vom 26. 1 1 . 1%), in N�.� J.riJlJldu Wochr",chrift M, S . SS9.
in J.riJU"u" ."g 7 0 . S . 64S
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objektiv vorgegebenen Allgemeinen zu erkennen. Nun haben wir oben bereits dar auf hingewiesen, daß ' Kunst' eben nicht ein objektiv zu fix ierender Sachverhalt ist und daß deshalb das einzelne Werk auch nicht mit allgemeinverbindlicher Geltung diesem sogenannten Sachverhalt subsumiert werden kann. 'Ku nstexpertenurteile' sind demnach niemals 'Sachverständigenuneile' im strikten Sinne des Wortes. Eben dies wird in jenen Forderungen nach einem "erprobten und zuverlässigen Vertreter seines Faches", auf dessen "Sachkunde" vertraut werden dürfe, offenbar verkannt. Vom 'K u nstexperten' kann im Idealfall nur erwartet werden, daß sein Urteil für seinesgleichen repräsentativ ist, - mit anderen Worten : es kann erwanet werden, daß er ein Werk an den von seinesgleichen anerkannten Kunstkanon anschließt, daß er sein Urteil also in übereinstimmung mit den Kriterien einer letzten Endes elitären Gruppe fällt. Ob es verfassungsrechtlich vertretbar wäre, die Gerichte auf ein solches Kunsturteil zu verpflichten, sei dahingestellt. Ganz gewiß aber ist dieser Idealfall gegenwärtig nicht gegeben. Im Grunde hat jeder Expene seine eigenen Qualifizie rungsprinzipien und seinen eigenen Kanon. Pani elle übereinstimmungen sind Re sultate von zufäl ligen Kommunikationsvorgängen. Die nicht eben seltene Divergenz im Urteil selbst der ausgewiesensten Ku nstkritiker führt uns diesen Mangel eines \'erbindl ichen Systems oder wenigstens Katalogs von Normen auch unter ' Kunst sachverständigen' deutlich genug vor Augen. Wenn nun aber die Autorität des ' Kunstsachverständigen' nicht in der Sachkom petenz begründet ist und sich auch noch nicht einmal soziologisc.h legitimieren läßl. dann ist der Vorschlag. d iesen Experten im Gerichtsverfahren zu institutionalisieren. schwerlich zu halten. Auch der Weg über den Experten führt die Gerichte nicht zu einem objektiven Kunsturteil. befreit die Gerichte nicht aus dem ohen besch riebenen Dilemma. Den juristischen Konsequenzen dieser Einsicht sei hier nicht weiter nachgegangen, hier geht es lediglich um die möglichen Funktionen des 'Sachverständigen in Sachen Kunst' vor Gericht.
Der Text-Ex perte Unbeschadet der eben vorgetragenen überlegungen sind wir der Meinung. daß die scr 'Sachverständige' vor Gericht durchaus nicht überflüssig ist - im Gegente i l : die Justizpraxis gibt oft genug Anlaß, die Anhörung eines solchen für dringend notwen dig zu erachten. I n den einschlägigen Literaturprozessen z. B. wird nicht nur und mitunter auch gar nicht primär um die Frage gestritten, ob es sich um ' Kunst' handelt oder nicht. sondern vielmehr um die adäquate Auslegung des Textes. um seine Bedeutung und um die Prognose seiner Wirkung. Diese Kontroversen sind im We sen der ' poetischen' Rede begründet. Diese unterscheidet sich von anderen Formen des Redens. etwa der wissenschaftlichen Rede. meist zunächst dadurch. daß Sinn in vcrschlüsselter Weise mitgeteilt wird. Dabei kommt es häufig vor. daß mehrere.
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wenn auch nicht beliebig viele Dekodierungen möglich sind. Vom Sachverstand des Experten kann n u n - i n d iesem Falle mit Recht - erwartet werden, daß er den zulässigen I nterpretationsspielraum umschreibt : zulässig sind solche Interpretatio nen, die widerspruchsfrei, das heißt unter Berücksichtigung sämtlicher Textsignale. einen Sinnzusammenhang herzustellen vermögen. - Ferner unterscheiden sich ' poe tische' Texte von anderen Texten meist d urch eine komp liziertere Appellstruktur. so daß es schwieriger ist, die W i rkungsintentionen solcher Texte deutlich zu erkennen. Vom Experten kann nun - auch in d iesem Falle mit Recht - erwartet werden, daß er jene Strukturen freizulegen weiß, durch die bestimmte Rezeptionseinstellungen des Lesers programmien werden sollen, daß er also deutlich macht, ob und inw ieweit ein Text etwa persuasiv angelegt ist, ob er Identifikationsangebote macht, zur Nachah mung der dargestellten Handlungen auffordert, oder aber ob d ieser Text Impu lse zur kritischen Reflexion gibt, A lternativen offerien, ob und in welchem Maße er M ittel zur Immunisierung bereitstellt. zur Distanzierung provoziert etc. Wir sind uns darüber im klaren. daß damit noch keineswegs die faktische Wirkung eines Textes prognostiziert werden kann. Denn der Prozeß der Realisierung eines Textes im Bewußtsein des Lesers, der Anschluß der im Text dargestellten Vorgänge an die eigene E rfahrung. dies ist i n hohem Maße von Faktoren abhängig, die nur sehr beschränkt kontrollierbar sind. Eine textwissenschaftliche Analyse vermag allenfalls den Horizont adäquater Realisierungen schematisch abzustecken, sie kann, mit an deren Worten, allenfalls den Rahmen der Lektüreerfah rung eines Lesers rekon struieren, der gelernt hat, di e Signale des Textes wahrzunehmen und sich von ihnen leiten zu lassen. - Man d ürfte allerd i ngs. wie wir meinen. legitimerweise erwarten. daß sich die Gerichte an einem solchen Leser orientieren. Wenn die i n unserer Gesellschaft so viel berufene 'Mündigkeit' des B ü rgers kein leeres Schlagwort blei ben soll, sondern mit einer Berufung darauf normative Ansprüche anerkannt wer den. dann wäre es konsequent, daß die Gerichte die oben skizz ierte Lesekompetenz als Richtmaß respektierten. U nter dieser Voraussetzung könnte der Experte - nicht als ' K unst'-Sachverständi ger, sondern als Text-Sachverständiger im weitesten Sinne, als Sachverständ iger für Literatur. Film, Karikatur etc. - dem Richter in dt.'r Tat eine Entscheid ungshilfe leisten. Noch einmal : der FaU ' Fanny Hili' Die konkrete Bedeutung dieser überlegungen sei an einem exemp l arischen Litera turfall demonstiert. Wir greifen den wohl erregendsten ' Kunst'-Prozeß der 60er Jahre heraus. den Fall ' Fanny H i li', dem seinerzeit vielfach Signal wert zugeschrieben worden ist. Zunächst die Daten : 1 963 veröffentlichte der Desch-Verlag eine deutsche übersetzung des erstmals 1 749 in London erschienenen Romans Die Memoiren der Fanny Hili von John Cleland .
1 964 w u rde diese Ausgabe wegen Verstoßes gegen § 1 84 StGB - Verbreitung un züchtiger Schriften - auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt. Im ansc hl ießenden Prozeßverfahren vor dem Landgericht München bestritt der Verlag den Tatbestand der U nzüchtigkeit für diesen Roman und machte darüber hinaus unter Hinweis auf Art. 5, Abs. 3 G rundgesetz die grundrechtlich garantierte Freiheit der Kunst geltend . Dazu legte der Verlag ein G utachten des Literaturprofessors Wilhelm Emrich vor, in dem bestätigt wurde, daß der Roman ein " moralphilosophi sches Kunstwerk" sei. Das Gericht weigerte sich, der A rgumentation des Verlags zu folgen, und ordnete in der Entscheidung vom 6 . 2 . 1 968 an, sämtliche Exemplare des Buches zusammen mit den zu seiner H erstellung bestimmten Platten und Formen unbrauchbar zu machen. Gegen d ieses Urteil legte der Verlag beim B u ndesgerichts hof Revision ein und blieb i n di eser I nstanz erfolgreich : in der Entscheidung vom 22. 7. 1 969 wu rde das Erstinstanzurteil aufgehoben und der Roman freigegeben. Das Landgericht M ünchen argumentierte wie folgt : 1 . Zunächst wird festgestellt, daß in dem Roman in fast ununterbrochener Folge sexuelle Ausschweifungen dargestellt seien. Das Gericht räumt allerdi ngs ein, daß d iese Darstell ungen keine Tendenzen zur Verherrlichung enthalten. Es wird auch zugegeben, daß der Autor i n den überlegungen der Romanheidin "eine wertende Abschichtung der ausschließlich körperlichen Sinnl ichkeit gegenüber der echten personalen Liebesbindung" deutlich werden lasse. Und schließlich wird nicht übersehen, daß die RomanheIdin als ein naives Gemüt dargestellt sei, wodurch die Anstößigkeit der geschilderten sexuellen Handlu ngen abgeschwächt werde. Die Erzählerin verfolge die Vorgänge perverser Gesch lechtlichkeit ohne in nere Beteili gung und lasse somit eine distanzierte Haltung erkennen. Gleichwohl seien d ie häufigen Schilderungen sexueller Erlebnisse und Empfindungen, sowie die Viel uhl von bildkräftigen U mschreibungen der männlichen und weibl ichen Ge sch lechtsorgane geeignet, das Scham- und Sittlichkeitsgefühl des normalen Lesers zu verletzen. 2 . A l lerdings müsse für die Urteilsfindung auch d ie K u nstfreiheitsgarantie des G rundgesetze!io in Betracht gezogen werden. In diesem Zusammenhang sei an die höchstrichterlichc Rechtsprechung des alten Reichsgerichts zu erinnern, wonach für " K unstwerke in des Wortes höchster Bedeutung" der Tatbestand der Unzüch tigkeit ausgeschlossen sei. Dem \'orliegenden Roman könne nun nicht jede künst lerische Qualität abgesprochen werden. Die " sprachliche Gestaltung" und auch der "bei genauerem Stud i u m zu findende Gehalt" erlaube die Feststellung, daß es sich bei den Memoiren der Fanny Hili um ein " Ku n st werk von gewissem Um fange" handle. Jedoch dü rfe der Roman in der vorliegenden Fassung keinesfalls als ein hervorragendes K u n stwerk gewertet werden. Es sei nicht gerechtfertigt, in dem Roman eine "einmal ige literarische Leistung" zu erkennen, die kraft ihrer " d ichterischen Form" das Gesamtwerk vom " Charakter der Unzüchtigkeit" gänzlich zu befreien imstande sei. Beweis dafür sei u . a . der Umstand, daß es dem A utor nicht gelu ngen sei, sich bei seinen Zeitgenossen wie auch in der Nachwelt
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e ine n Namen als " seriöser Literat" zu mache n : er werde weder in d en gängigen Konversationslexika - z . B . i n Herders Volks lexikon - noch in den großen Nach· schlagewerken der Weltliteratur erwähnt. Im übrigen sei bekannt, daß Cleland durchaus nicht willens gewesen sei, "von sich aus" ein Kunstwerk zu schaffen. sondern er habe mit den Memoiren l ediglich einen Ausweg aus seiner finanziellen Misere gesucht. 3 . Der Rang des Romans sei somit nicht hinreichend, um den Kunstschutz des Grundgesetzes gerechtfertigt in Anspruch zu nehmen. Gegen eine strafrechtliche Verfolgung des Werkes bestünden also keine Bedenken. Dem Landgerichtsurteil zufolge fallen also unter ' Kunst' im Sinne des Grundge· setzes nur " Kunstwerke in des Wortes höchster Bedeutung", nicht aber " Kunst werke von (nur) gewissem Umfange". Mit dem Versuch einer solchen Differenzie rung bemüht sich das Gericht offenkundig darum, das Urteil des ' Kunst'-G utachters in der "Sache" bis zu einem " gewissen" Grade zu respektieren, zugleich aber das selbe j uristisch zu erledigen, indem es einen für die Rechtsprechung spezifischen Kunstbegriff postuliert. Was nicht expressis verbis gesagt wird, ist doch implicite gemeint : ' Kunst' im Sinne der Verfassung sind nur solche Werke, die nicht ' unzüch tig' sind - genauer gesagt: nur solche Werke sind wahrhaft ' Kunst', die kraft ihrer Qualität das, was an sich ' unzüchtig' sein mag, ins 'Züchtige' zu verwandeln ver mögen. Was hier vorausgesetzt wird, ist keineswegs selbstverständlich. Gewiß ist eine Ästhetik möglich, in der die übereinstimmung mit dem Sittengesetz als eine wenn auch nicht hinreichende, so doch notwendige Qualifikationskategorie für 'Kunst' behauptet wird, und eine solche Ästhetik könnte sich immerhin auf ehrenwerte Traditionen der idealistischen Kunstphilosophie berufen. Nur darf die Allgemein verbindlichkeit dieser Ästhetik eben nicht behauptet werden. In einer pluralistischen Gesellschaft hat grundsätzlich - das gerade garantiert, wie oben gesagt, das Grundge setz - auch eine Ästhetik Anspruch auf Anerkennung, in der moralische Normen systematisch ausgegrenzt sind. Im Rahmen einer solchen Ästhetik stehen ' Kunst' und 'Züchtigkeit' i n keinem Bedingungsverhähnis, schließen sich ' Kunst' und ' U n züchtigkeit' gegenseitig nicht aus. Das U rteil des Landgerichts wäre also, unabhängig von der Frage, ob das Präd ikat " unzüchtig" für die Memoiren angemessen begründet ist, schon deshalb nicht zu halten, we i l es verfassungswidrig wäre. I n der Tat h at das Bundesverfassungsgericht in der ' Mephisto'-Entscheidung aus dem Jahre 1 97 1 jede normative Einengung des Kunstbegriffs ausdrücklich verworfen. Solchen Schwierigkeiten der ästhetischen Qualifizierung des Romans ist der Bun desgerichtshof aus dem Wege gegangen. Er erklärt die Memoiren für nicht " unzüch tig" im Sinne des Gesetzes, womit sich die Entscheidung darüber, ob diesem Roman als einem Kunstwerk der verfassungsrechtliche Schutz nach Art. 5, Abs. 3 z u gewäh ren sei, erübrigt. Der Beweisgang dieses Urteils verläuft wie folgt:
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1 . D e r Bu ndesgerichtshof leitet sein Urteil m i t einer allgemeinen Interpretation des
§ 1 84 StGB ein : "U nzüchtig" im Sinne dieses Paragraphen sei eine Schrift dann, wenn sie geeignet sei. "das Scham- und Sittlichkeitsgefühl des normalen Menschen in geschlechtlicher H insicht" erheblich zu verletzen. Welche Darstellungen den Tatbestand der " Unzüchtigkeit" erfüllten. sei dogmatisch nicht festzulegen. Die diesbezüglichen Normen seien zeitbedingt. Es sei auch nicht Aufgabe des Strafge setzes, auf geschlechtlichem Gebiet einen moralischen Standard des erwachsenen Bürgers durchzusetzen. Betroffen seien also nur solche Schriften, "die eindeutig den G rund bestand gemeinsamer Anschauungen der Gesellschaft auf geschlechtli chem Gebiet antasten und dadurch zu Störungen und Belästigungen des Gemein schaftslebens führen". Was in d iesem Sinne als gemeinschaftsschäd lich zu beurtei len sei, dürfe weder an den Anschauungen besonders prüder noch ungewöhnlich weitherziger Einzelpersonen orientiert werden, sondern an den Maßstäben der breiten Offentl ichkeit. 2 . Eine strafrechtliche Verfolgung der Memoiren der Fanny Hili sei von dem so gefaßten Gesetzeszweck des § 1 84 nicht gedeckt. Denn obwohl sich die Roman hand lung weitgehend in der Darstellung sexueller Vorgänge erschöpft, handle es sich doch " nicht um eine aufdringliche Darstell ung auf sich selbst reduzierter. aus dem Zusammenhang mit anderen Lebensäußerungen gelöster, übersteigerter Se xualität". Diese werde stets in den " Bereich der allgemeinen Lebensfreude" einbe zogen. Die Darstellung sei weder "anreißerisch" noch " obszön" und vermeide jede "vulgäre Ausdrucksweise". Der Autor verfüge über die Gabe psychologi scher Einfühlung, über das Geschick pointierenden Formulierens und über einen hi ntergründigen H umor, der eine distanzierende Einstellung bewirke. Bei diesem Roman handle es sich zwar um ein "Werk der erotischen Literatur", nicht aber um eine "unzüchtige Schrift". Dieses Urteil des Bundesgerichtshofs hat ob seiner kühnen Liberalität vielseitigen Beifall gefunden und hätte diesen - das möchten wir ausdrücklich betonen - auch verdient. wenn nur die Begri.indung übt"rzeugender ausgefallen wäre. Immerhin ist hervorzuheben. daß hier das Problem einer möglichen Unzüchtig keit des Romans ganz unabhängig von der Frage ' Kunst oder nicht ?' diskutiert wird, mit anderen Worten, daß die Entscheid ung darüber, ob das Prädikat "unzüchtig" für den Roman gerechtfertigt ist oder nicht, ohne Rücksicht auf eine ästhetische Taxie rung desselben erfolgt. Der Bundesgerichtshof stellt sein Urteil also allein auf die erwartbare Reaktion des in moralischer Hinsicht vernünftigen Lesers ab. So ist es durchaus konsequent. wenn im Beweisgang des Urteils die Memoiren unter Abse hung ihrer a l l fäll igen " l iterarischen Schönheiten" nur auf ihre moralischen Wir kungsziele hin untersucht werden. Dem Bundesgerichtshof ging es dabei offenbar um den Nachweis , daß d ieser Roman keinerlei Anweisungen zur Nachfolge der Handlungen der Heidin gab, daß im Gegenteil - d ieser Roman eine Reihe von Textsignalen enthält. die eine d istan zierte Ei nstellung des Lesers zu den dargestellten sexuellen Vorgängen provozieren.
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Da s Gericht ist jedenfalls de r Meinung, d aß es dieser Text nich t auf eine "eindringli che sinnliche Wirkung" abgesehen habe. - D ieser Nachweis ist höchst unzu länglich durchgeführt worden. Es ist nicht gelungen, die Appellstruktur dieses Romantextes dergestalt freizulegen, daß der vom Text selbst zur Verfügung gestellte Spiel raum potentieller Leserreaktionen wenigstens in Umrissen absehbar würde. Daß die Richter mit einer solchen Aufgabe überfordert waren, sei zugestanden. Dieses Problem hätte indessen besser gelöst werden können, wenn sich das Gericht zur Anforderung einer Untersuchung von kompetenter Seite mit genau d iesem Auf trag hätte entschließen können. Erst aufgrund einer literaturwissenschaftlich verläß lichen Analyse, die die Strategien der Rezeptionssteuerung durch den Text aufzu decken und damit dessen Wirkungsziele zu umreißen hätte, wäre das Gericht instand gesetzt gewesen, das Konfliktpotential des Romans einigermaßen abzuschätzen und seine Botschaft mit dem "Grundbestand gemeinsamer Anschauungen der Gesell schaft" zu verrechnen.
Beispiel einer Textanalyse Der Text des Romans Die Memoiren der Fanny Hili gibt sich als Beichtepistel einer wohlsituienen, glücklich verheirateten, im Kreise ihrer Kinder lebenden Frau noch jüngeren A lters, die aus ihrem intimen Vorleben als Freudenmädchen berichtet. Sie will bei ihrem "Bekenntnis", wie es für eine Generalbeichte wohl ziemlich ist, auf jeden Versuch der Selbstverteidigung und Entschuldigung verzichten und in rück haltloser Offenheit, ohne verschleiernde Drapierung, so sehr auch die " Selbstach tung" darunter leiden mag, in voller Wahrhaftigkeit die Geschichte jener Zeit ihres Lebens erzählen, "die nun vorbei ist . . . " - nun, da "a.lle Tyrannei der Leidenschaft" in ihr zu Ende ist, da i n ihren Adern "ein kühles, ruhiges Blut fl ießt". nun, da sie das " Laster" kennt, und da sie weiß, "wie unecht seine Freuden gegen die der Keusch heit sind" , da sie weiß, daß " die Rosen auf dem Pfade des Lasters . . . faul, die auf dem Wege der Tugend unvergänglich" sind. Diese Sentenz steht freilich auf der letzten Seite des Buches. Auf beinahe allen übrigen hat die Erzählerin nichts unterlassen, um das " Laster" von der anziehend sten Seite zu zeigen. Die Vielfalt sexueller Erfahrungen wird nicht in der H altung souveräner Distanz, nicht in der Haltung der gereiften, abgeklärten, einsichtig ge wordenen Frau und Muner, als die sich die Erzählerin wiederholt ausgibt, nicht aus der Haltung der Reue heraus vorgestellt, sondern als nahezu unmittelbar vergegen wärtigtes Genußerlebnis. Ober weite Strecken der Erzäh lung scheint die Heidin ihre so opferreich vollzogene Läuterung vergessen zu haben und verliert sich in der Lust des erinnernden Repetierens, die i n einer Manie der nuancierenden Präsentation von erotischen Gefühlen, in einem imposanten A ufwand des Benennens der d iversen Geschlechtsorgane, in der Unermüdlichkeit detailliertesten Beschreibens der psy chophysischen Vorgänge beim Geschlechtsakt ihren Ausdruck findet. Man wird
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d iesem ungewöhnlich offenherzigen Beichtkind kaum Unrecht tun, wenn man fest stellt, daß die Form dieses ' Bekenntnisses' Zeile für Zeile die unter soviel Versiche rungen der Aufrichtigkeit erkläne Konversion dementien. Dies scheint auch der Erzählerin selbst am Ende aufgegangen zu sei n : sie habe das " Laster in den lachend sten Farben gemalt", schreibt sie, "um es als ein um so feierl icheres, würdigeres Opfer der Tugend zu bringen". Das verführerisch präsentierte Laster als sacrificium auf dem Altar der Tugend : das ist gewiß ein Kabinettstück moralistischer Dialektik! Der Leser wird sich freilich kaum veranlaßt sehen . diese Erklärung ernst zu nehmen . - zumal dann, wenn er eine an anderer Stelle geäußene Bemerkung der Erzählerin, eine Maxime ihrer Lebensführung, im Kopf behalten hat : "Meine höchst natürliche Philosophie", bekennt sie als Begründung dafür, daß sie mit einem Dienstboten ins Ben gegangen ist, "ist nichts als sinnliche Empfindung. Mich regien der I nstinkt, meine Lust am rechten One zu suchen . . . .. - "am rechten One", das heißt : überall dort, wo sich eine Gelegenheit bietet, die Lustgewinn verspricht. Dieser Satz läßt sich nur sch lecht mit der am Ende so gefl issentlich gefeierten Tugend der Keuschheit vereinbaren. Unvereinbar mit diesem moralisierenden Sch luß ist auch die lange Reihe anderer in den Erzähltext eingestreuten Reflex ionen, Kommentare, Selbst in terpretationen sowie die direkten und indirekten Wenurteile der Erzählerin, die im einzelnen zu analysieren hier zu weit führen würde. Daß es der Erzäh lerin auch kaum darum geht, beim Leser die Einsicht in die Verwerflichkeit des " Lasters" zu fördern, daß es ihr vielmehr darum geht, ihm die Lust an dessen Ausübung zu vermitteln, das gibt sie in der Einleitung zum " Zweiten Buch" deutl ich genug zu verstehen, indem sie eine aufschlußreiche Leseanweisung erteilt. Die Sprache, heißt es da, nutze sich durch die Wiederholung der immer gleichen Begebenheiten ab und büße all ihre Eind rucksfähigkeit ein. "Wone wie: Wollust, brennende Leidenschaft, Entzückung, Erregung und der ganze Rest der übrigen damit verwandten pathetischen Vokabeln werden schwach und verl ieren durch den häufigen Gebrauch von ihrer Stärke und ihrem Geiste", der ohneh in nur i n der Praxis sel bst adäquat erfahren werden könne. Und so fordert die Erzählerin ddzu auf, mit Hilfe der " Phantasic" und des "Empfindu ngsvermögens" zu ergänzen und auszufüllen, was verbal so unvollkommen zu vermitteln sei. - Das ist kein Appell zur Distanz, sondern zum imaginativen Nachvollzug. Nun richtet sie allerdings d iese Aufforderung nicht direkt an uns als Leser dieses Buches, sondern an eine fiktive Bricfpannerin, die zwar im Text selbst nicht unmit telb.u I . U Worte kommt, wohl aber in einer Reihe \'on Korrespondenzformeln, von Anrede\\'end ungen, persönliche Konturen gewinnt. Es handelt sich offenbar um eine Frau, die selbst so weitläufig erfahren ist, daß für die Erzählerin keinerlei Anlaß hcstcht, Prüderie befürchten oder auf Anstand achten zu müssen. Diese erzähltech nis(:he Konstruktion ist für die Einstel lung des Lesers zu den dargestellten Vorgän gen ni(:ht ohne Bedeutung. Denn damit werdtn uns Doku mtnte tiner histoire intime glcichsam in die Hände gespielt, wir werden geheime Zeugen von Geständnissen, die \'orgcblich nicht für tout le monde bestimmt sind. Wir werden geradezu in die Rolle
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d e s Voyeurs gedrängt. D a s bedeutet aber, d a ß d e r Leser mit diesen Bekenntn issen nicht als Publikum und damit nicht im Medium der stets neutralisierenden Offent lichkeit konfrontiert wird, sondern in eine Situation der Intimität versetzt ist, in der es in der Regel schwer fällt, die Barrikaden der Reflexion zu errichten und damit Distanz zu bewahren. John Clelands Roman Die Memoiren der Fanny Hili gehärt also zweifellos zu jenen Werken der Weltliteratur, in denen das Programm der Emanzipation des Fleisches mit außerordentlichem Raffinement präsentiert wird, und der Roman ge hön auch zu jenen Werken, in denen dieses Programm Mit außerordentlicher Radi kalität vertreten wird. Dieses Buch ist ein Plädoyer für den unbedingten Genuß aller sinnlichen Lüste, ein Plädoyer insbesondere für die sexuelle Wollust, in dem keine gesellschaftlichen Konventionen als Schranken für deren Befriedigung respektiert werden. - Schranken der Gesch lechtsrolle. Schranken des Standes, Schranken der gesetzlich kod ifizierten Mora l . Dieses Buch ist ein Hohes Lied auf den Orgasmus. in welchen Kommunikationsformen auch immer er erfahren werden kann. Ob diese frohe Botschaft des Fleisches noch zum "G rundbestand gemeinsamer Anschauu ngen der Gesellschaft auf geschlechtlichem Gebiet" gehört, dies festzustel len ist nicht Aufgabe des Gutachters, nicht Aufgabe der Literaturwissenschaft. Der Bundesgerichtshof hat jedenfalls positiv entschieden. Er hat d iese Entschei dung allerdings getroffen, ohne, wie es scheint, die Botschaft des Romans ernsthaft zur Kenntnis genommen zu haben. Anders kann kaum erklärt werden, daß der Bundesgerichtshof die Intentionen der Memoiren der Fanny Hill undifferenziert mit den Absichten des von der ehemaligen Frau Bundesminister Käthc Strobel herausge gebenen Atlas der Sexualkunde (im Volksm und : "Strobelpeter") parallelisiert. Da mit hat man dem Roman, hat man dem Atlas. je nachdem, zuviel der Ehre angetan. Um recht verstanden zu werden, sei hier festgestellt, daß es uns durchaus nicht darum geht, nachträglich wie über die alte Fasnacht über die Freigabe der Memoiren zu lamentieren. Wir sind der Meinung, daß der Roman zu Recht freigegeben worden ist. Wir sind jedoch nicht der Meinung, daß die Begründung des Gerichts d iese Freigabe hinreichend deckt. Der Ruhm dieses Urteils scheint uns ganz und gar nicht gerechtfertigt zu sein. H ier wurde Liberalität ohne eine tragfäh ige Argumentations basis demonstriert. Und daraus ist in der Regel nichts zu lernen. Die soviel I gnoranz verratenden Verlautbarungen der Staatsanwaltschaft zum Filmskandal auf der Berl i nale 1 976 bestätigen d iese Regel einmal mehr.
DIF.TF.R NÖRR TR IVIALES UND A P O R ETI S C H E S Z U R J U R I ST I S C H E N H E R M E N E UTI K
Wer heute einen - wenn auch nur aphoristischen - Diskussionsbeitrag zur juristi schen Hermeneutik l iefern will, sieht sich einer Phalanx von Namen gegenüber, in die ein7.ud ringen viel Mut kostet : E. Beni, G . Husserl, K . Engisch, K . Larenz, F. Wieacker, J . Esser, H . Coing, Arthur Kaufmann, W . Fikentscher, M. Kriele, Fried rich Müller, Th. Mayer-Maly, C. W. Canaris, W . Lüderssen, J. H ruschka, W , Hasse mer und die vielen anderen, die zu nennen nicht ihre Bedeutung, sondern nur man gelnder Raum und überblick verhindern. Für einzelne Nachweise darf auf die letz ten umfangreichen Darstellungen der ju ristischen Methodenlehre von Engisch ' , La renzl und Fikentscher3 verwiesen werden. Es läßt sich kaum leugnen, daß die juristi sche Hermeneutik derzeit noch im Zentrum meta juristischer ü berlegungen steht, Die Angriffe möglicher Konkurrenten um die Gunst des juristischen Publikums haben anscheinend bisher nur die Angreifer selbst beeindruckt4• Das ' G lück' der j u rislischen Hermt:nelltik l iegt wohl nicht nur darin begründet, daß die nachdenkenden Juristen hier bereits ein breites, von Philosophen, Literatur historikern und Theologen bearbeitetes Material vorfanden, das sie sich nach Bedarf aneignen konnten�. Wesentlicher dürfte ein anderes Argument sein. Die juristische Hermeneutik hat einen soliden, handwerklichen nucleus, das Problem der Textausle gung (vor allem der Auslegung des Gesetzes). D iesem Problem - das als solches (wie auch immer theoretisch erlaßt) besteht, solange Gesetze anzuwenden sind - kann sich auch der metajuristischen Reflexionen an sich abgeneigte Jurist gUlen Gewissens überlassen. Doch daneben bietet die Hermeneut ik philosophischen Köpfen die Mög l ichkeit, mit eben demselben gut�n juri5tischen Gew ilosen über Vorverständnisse, Werte, zirkclhaftes Denken und Ganzheitsvorstellungen zu spekulieren. die weit über die juristische Methodenlehre hinaus in die erregenden Bereiche von Philoso phie und Anthropologie führen. L K . Engilich.
Em/ilh .."", i" d.u,,,riJliJche Dr"ken. SlUngan-Bcrlin-Koln-Mainz ' 1 977. K . l..arrnz, Mrthodrnlrh ..r dr.. Rrchuwu.r".chIJ/t, Brrlin-Heidrlbel"ß-New 'lork ' 1 978. W. Fikenn,her. Mrthodrn drJ Rrchu. !; Bde, Tübingen 1975-1977 . • Vgl. nur dic Angabt"n bei D. Simon, D,c U"abhä",;gkr,t dcJ Richu"J. Dannsladl 197!;, S. 68ff. passim; cin��hr.inkend ICI:l'.lhin aber auch (vor allem fur den RcchlShistoriker) F. Wiea,ker, "Zur Mrlhodik drr Rr,hlsgrschichtc", in FrJlJchrift F . Schwi"d, Wirn 1 978, S. ) !; 5 ff . , S . )61 H . , S. n u r J . Wa("h. DaJ Vt!Tstrhm. ) B d c , 1 925 ff. ( Neudruck H i ldeshrim 1 '166) ; H . · G . Gadamcr, Wah..hrll "nd Methode. TLibingcn 1 1 97 2 i zulctzt clwa A. Ollcro. RrchtJ1lll JJrnschaft "nd PhlloJophlr ( G ..""dla. ge"duk"SJlon m Dr"uchl.",dJ. Ebelsba,h 1 978, S. !; ff., S. 29ff. ; H . ·G. Gadamer. " Hrrmrneulik alli IhcorctiKhc und praktische Aufgabe", In Rechurheorir 9 ( 1 978), S. 2 5 7 fl . ; J. Piepcr. WIJJ hr;flr I"re ..· p ..rt.. " on f ( Rhcin .. Wt"�tf. Akad. drr Wissenschaftcn Vonrägc G 2)4). Opladen 1 979. !
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Wenn wir im folgenden von der (juristischen) Texthermeneutik ausgehen, so vor allem deshalb. weil hier die Diskussion - bei aller Strittigkeit im einzelnen (etwa hinsichtlich des Ranges der hermeneutischen canones) - eine einigermaßen sichere Basis hat6, Von einer speziellen (juristischen) Theorie des Verstehens mündlicher Ä ußerungen oder nicht verbaler Handlungen sind allenfalls Umrisse faßbar. Schwe rer wiegt der Einwand, daß das Verhältnis von Gesetzeswortlaut und Norm, das sich vor allem in dem bekannten Phänomen des Normenwandels bei fixiertem G esetzes text zeigt, hier allzu flüchtig übergangen wird. Doch scheint mir dieses Problem, auf das in letzter Zeit vor allem F . Müller hingewiesen hae, noch subtiler - nicht zuletzt auch linguistischer - überlegungen zu bedürfen. die anzustellen anderen überlassen werden muß. Von dieser schmalen Basis aus sollen im folgenden zwei Problembereiche ange sprochen werden : I . Das Wechselverhältnis von spezifischer Hermeneutik und spe zifischer Rechtsordnung, Il. Die Vielfalt möglicher Adressaten und möglicher juri stischer Texte als Ansatz für verschiedene juristische Henneneutiken. Adressaten dieser Zeilen - bei deren Abfassung mir einige kritische Bemerkungen von Th. Honsel l und Th . Mayer-Maly nützlich waren - sind primär nicht juristische Interes senten an der juristischen Hermeneutik, die durch die gängigen juristischen Darstel l ungen zu E inseitigkeiten verführt werden könnten.
Es ist eine häufig nicht genug beachtete Trivialität, daß das spezifische Gewicht und die spezifische Form der juristischen Hermeneutik von der Struktur und dem Ver ständnis der jeweiligen Rechtsordnung abhängen. Indiz dieser Abhängigkeit ist das Auftreten der hermeneutischen Kunst in der heute diskutierten Form in einer be stimmten historischen Situation, die - abgesehen von anderen Merkmalen - durch das Vordringen der Positivierung des Rechts durch Gesetze. des Strebens nach 'Sy stematisierung' der Rechtsnormen und - mit beidem verbunden - der Suche nach Wahrheitskriterien charakterisiert ist. Daraus ergibt es sich. daß es der heutigen juristischen Hermeneutik um das Verständnis von Texten geht, daß dieses Verständ nis 'Kontexte' verschiedenster Art (beispielsweise das Gesetz, die gesamte Rechts oder gar Nonnenordnung, den pragmatischen Kontext) zu berücksichtigen hat, daß das Ergebnis hermeneutischen Bemühens einer (i rgend wie zu präzisierenden) Wahr heitsprüfung standhalten soll. Fehlt eines dieser Merkmale, so kann durchaus konze6
Vgl. 7.um V�rh�ltnis d�r Geset7.esauslegung zur Auslegung der RechtsqueJ]en im Ganzcn schon F. v . Savigny, SyJtrm drJ hr",;grn Römuchr" Rrch". Bd 1. Berlin 1 840. S. 206 ff. ; S. 262 ff. , Vgl. nur stint j",.islIScht MrthoJl". Berlin 1 9 7 1 , S. 1 9 ) : "Der Wonb,ut ist nichl Jas Gt�el l . Er .�t die Form de� GCSCt7.CS." Vgl. au.;h schon G , Husserl. Rrcht ""d Zrit. Frankfun 1955, Ein H i nwei\ auf das Verif.kationsprin7.ip dtr Bedeutung (5. nur E, von Savigny in von Savigny u . a . j..rumchr Do""...."" ""d Wmrmch4tslhrorlr. Munch�n 1 976, S. 1 55 f, ) darf nicht fC'hlen,
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diert werden, daß auch in einer andersartig gestalteten und verstandenen Rechtsord nung Ve rstehensprobleme auftauchen; es wäre zu prüfen, wie weit diese mit dem gängigen hermeneutischen I nstrumentar erfaßt werden können. Versetzt man sich aber in die Lage der ' Rechtsanwender' in einer in d ieser Weise fremdartigen Rechts ordnung. so wird deutlich. daß dieses I nstrumentar allenfalls zur Lösung oder Erhel lung von Teilproblemen tauglich ist. Derartige allgemeine Behauptungen verdienen I nteresse erst dann. wenn sie an historischen (oder wenigstens konstruierten) Wirk lichkeiten gemessen werden. I n diesem Sinne sind folgende kurze Hinweise zu ver stehen. Es liegt auf der Hand. daß in Rechtsordnungen. in denen das ius non scriptum vorherrscht. für eine Hermeneutik wenig Raum bleibt. die sich nicht zu einer allge meinen, auch das Verständnis von Handlungen als Domäne beanspruchenden Dok trin generalisiert hat. Dabei ist es insoweit gleichgültig, ob die jeweilige rechtliche Aussage (respons um, U rteil) in einer so gedachten Rechtsordnung als Anwendung einer gewußten Norm. als 'Findung' einer bisher nicht gewußten Norm, als Norm erzeugung oder schließlich schlicht als Dezision hic et nunc zu verstehen ist. An die Anwendung des hermeneutischen Instrumentars könnte man allenfalls dann denken, sobald die (angewandte, gefundene, erzeugte) Norm 'formuliert' worden wäre wofür wenigstens ein gew isser Grad von Generalisierung und Abstraktion vorauszu setzen ist. Das mag - etwa in d�r Form von Rechtssprichwörtern - bei der ' Anwen dung' ungeschriebener Normen bisweilen der Fall sein. Im übrigen dürften si(:h häufig Schwierigkeiten daraus ergeben, daß die Formul ierung und die Anwendung der Norm uno actu erfolgen, daß somit das hermeneutische Problem zu gleicher Zeit gestellt u nd aufgelöst wird. Deutlicher noch wird d ieses Problem im Falle der 'Normfindung' (in dem oben angedeuteten Sinne) oder der Rechtserzeugung. Zwar wäre es logisch denkbar, daß man den Prozeß der Normsetzung und ihrer Anwendung auf den Fall, für den sie gesetzt wird, begrifflich trennt und die hermeneutische Fragestellung auf den zwei ten Punkt beschränkt. Wie man zu einer solchen Konstruktion auch stehen mag. die Anwendung einer vom Anwender nicht nur selbst, sondern auch für den Fall gefun denen oder gesetzten Norm auf eben diesen Fall wäre allenfalls ein hermeneutischer G renzgänger. Spinnt man die Varianten des ius non scripturn weiter aus, so wären die sich dabei ergebenden hermeneutischen Probleme mit der gängigen juristischen Hermeneutik ebenfalls nur schwer zu fassen. U nterstellt man etwa, daß der Rechts"" eisende und der Anwendende nicht dieselbe Person sind, so könnte man in der Person des A nwendenden danach fragen, mit welchem Instrumentar er zu einem Verständnis der 'Rechtsweisung' kommen soll. Erhebliche hermeneutische Probleme dürften hier nur bei (historisch unplausiblem) hohem Abstraktionsgrad der Weisung auftreten. Interessanter wäre die Fal lgestahung, daß eine einmal ergangene Entscheidung (ir gc nd wie) als Präjudi7. (exemplum) für die Zukunft gelten soll. Lebt das Präjudiz (nur) in der Erinnerung, so bedarf es einer ' Erzählung' ; dabei liegt es nahe, daß es
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bereits in Richtung auf den 'neuen' Fall erzäh lt wird, wodurch das obenerwähnte Grenzprohlem der Gleichzeitigkeit von Normfindung und -anwend ung von neuem erscheint. Sieht man davon ab. so ergeben sich besondere Probleme vor allem dann, wenn das exemplum die Regel, die aus ihm zu ziehen ist, nicht formuliert hat - die Regel also aus dem exemplum erst herauszudestillieren ist. Zwar gibt das exemplum einen gewissen Rahmen für den möglichen Regelinhalt. Doch bedarf es keiner weite ren Begründ ung, daß auch hier die Grenzen z wischen der Formulierung der dem Verstehen ausgesetzten Regel und ihrer Aktualisierung verschwimmen. Man könnte das Problem so formulieren, daß die übliche juristische Hermeneutik d urch eine Hermeneutik der exempla zu ergänzen wäre, in der man vielleicht eine Verwandt schaft zur literarischen Hermeneutik (' narrat iver Texte') entdecken w ürde, die aber vor allem die angloamerikanische Methode des " distinguishing" berücksicht igen müßte. U nterstellt man für das folgende einen angemessenen juristischen Text, so tritt die (zweite) Frage nach der Bedeutung des Kontextes für das Verstehen auf. Sicherlich fließt ein irgendwie zu bestimmender Kontext i n irgendeiner Form in jedes Verste hen eines j uristischen Textes ein. Doch sind der gängigen j uristischen Hermeneutik fremde Besonderheiten denkbar. Dabei ist von einigen modernen hermeneutischen Postulaten anszugehen. So darf eine Norm oder ein Normteil nicht isoliert ausgelegt werden, die (irgendwie zu definierende) Ganzheit des Gesetzes oder gar der gesam ten Rechtsordnung ist zu berücksichtigen. Man darf - zumindest nach der 'subjekti ven' Theorie - bei der Auslegung an den Vorstellungen des Gesetzgebers nicht vorbeigehen. Die konkrete Situation mit den an ihr Beteiligten, den jeweiligen sozia len und w i rtschaftlichen (etc . ) Voraussetzungen ist im Auge zu behalten. Nicht zuletzt ist auch die Vernünftigkeit des Ergebnisses anzustreben. Fällt eines oder mehrere d ieser Postulate weg. so müßte zumindest die Suche nach einer anderen juristischen Hermeneutik beginnen. Es sind Rechtsord nungen denkbar, die den je weils wesentlichen Kontext anders - erweiternd oder restringierend - best immen, als wir es für angemessen halten. Dabei bleibt die eher tiefenpsychologische Frage nach unbewußten Einwirkungen ebenso außer Betracht wie das Problem der d iesen Kon text jeweils fixierenden Regeln (einschließlich der Möglichkeit der Regelverstöße), für das die antike Rhetorik Material liefern könnte. Auch hier nur einige Beispiele. Betrachtet man etwa die Normauslegu ng im römischen Recht, so hat es den An schein, daß die Grenzen des (manifest) zu berücksichtigenden Kontextes überaus eng gezogen waren. G rundsätzlich beschränkt sich das interpretatorische Bemühen auf Wörter und einzelne Sätze. Es besteht die Tendenz zur wörtlichen Auslegung, zur Identifizierung von Normtext und Norm. Für die Berücksichtigung des engeren oder weiteren Systems, in dem der Text steht, finden sich allenfal ls A nsätze ; sie werden überdies wieder eher im Sinne einer ' isolierenden' Betrachtungsweise formu l iert8• Sicherlich wird auch die Frage nach der voluntas legislatoris (Iegis) gesteHt; •
S. u b u s D. ( = Digl"Slcn) 1 . 3 . 1 7 : "Scire lt'Gt'� n o n hoc .... SI �'l'rba l'arun' "'nert', Vgl. auch D . 1 . ) . 2 6 1 .
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doch sucht man di e Antwon primär nicht im Wege einer Erlorschung der für den Gesetzgeber maßgebenden U mstände, sondern letztlich nur vom Ergebnis her - das der aequitas entsprechen soll. N u r insoweit steckt in den Auslegungsbemühungen auch das heute an erster Stelle stehende teleologische Element. Für diese Beschrän kung des Kontextes gibt es Indizien auch in den von den Juristen verwendeten Literaturlorme n ; soweit diese sich mit ei nem autoritativen Text (etwa Gesetz, Edikt) befassen, besteht die Neigung zur Wort - für-Wort- Kommentierung. Man könnte im Bereich des röm ischen Rechts noch nach anderen Momenten suchen, die die möglichen Verschiedenheiten der Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes i n quantitativer und qualitativer Hinsicht deutlich machen würden. Auch soweit Rechtsinhalte gleichsam sprichwortartig in Regeln formuliert werden (regulae iuris), werden sie gern isoliert interpretiert. Dazu ist die dagegen gerichtete Polemik des Paulus i n D . 50. 1 7. 1 aufschlußreich. die zu der (sogleich zu erörternden) Frage führt, ob die juristische Tätigkeit im Bereich des ius (jetzt im Gegensatz zur lex verstanden) nicht z u einer ( relativ) großzügigeren Berücksichtigung des Kontextes kam. Weiterhin ist das römische Recht (wie viele andere Rechte) in dem Sinn kasui stisch angelegt, daß von einer autoritativ gelösten Rechtsfrage 'exemplarische' Wir kung für di e Zukunft ausging. Die hiermit verbundenen hermeneutischen Probleme bed ürlten (wie bereits erwähnt) besonderer Erörterung. Etwas zugespitzt formuliert, nötigt gerade eine auf Präiud izien ( i . w . S . ) beruhende Rechtsordnung zu der (implizi ten) hermeneuti'ichen Regel, dort, wo man das exemplum anwenden will, die Frage nach dem Kontext bald abzuschneiden (da sonst die Vergleichbarkeit der Fälle ins Wanken geriete), dort aber, wo man seine Nichtanwendung anstrebt, durch Kon textberücksichtigung zur D i fferenzierung der Fälle zu kommen. Wenn man letzteres durch das Abstellen auf die 'veränderten Umstände' tut, so wird man zur Frage gefü h rt, welche Bedeutung man dem Zeitfaktor zumißt. ob man sich gegenüber der historischen Situation des exemplum (aber auch generell der Genese einer Rechts norm) distanzierend oder 'identifizierend' verhält und ob und inw ieweit man bei .. einer Befolgung (oder gar Neuaufstellung) die Zukunft ' mitbedenkt'. I n diesem Rahmen könntf"n auch die heute mit dem Begriff des Vorverständnisses verbundenen Probleme d iskutiert werden. Dabei spricht manches dafür. daß zumindest im röm i schen R e c h t der B l ütezeit die Reflexionsansprüche an die Juristen nicht h o c h waren (Problem der Rechtskritik und der Legitimationsbedürltigkeit von Recht und Juri sten). Bei einer genaueren A usarbeitung müßte man allerd ings berücksichtigen. daß ge rade im römischen Recht weite Bereiche von Normen ausgefü llt wurden. die nicht in (.. inem Text fixiert waren. Vereinfacht gesagt, handelt es sich hier um das Problem von ius und lex. U m nur ein Beispiel zu nennen, wäre es denkbar. daß bei der ' Interpretat ion' des ius historische und systematische Argumente oder Trad ition und Autorität eine andere Rolle spielten als bei der Gesetzesinterpretat ion9• Aber auch •
v�J. nochm;r,b D . 50. 1 7. 1 .
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hier wäre zu beachten. daß 'hermeneutische Postulate' wie die der Einheit und Vollständigkeit der Rechtsordnung nicht u nbefangen auf das römische Recht über tragen werden können. Vor allem dürfte auch eine Erweiterung des ' Kontextes' bei der ' i nterpretatio iuris' bald an die zumindest bewußt selten d urchhrochenen Schran ken des Ausschlusses nicht j uristischer. ' untechnischer' Argumente gestoßen sein. Die Frage nach der verschiedenen Kontextahhängigkeit je nach 'Struktur' der jeweiligen Rechtsord nung war verhältnismäßig leicht z u formulieren, da eine Präzi sierung des Kontextbegriffes an diesem O rte u nterbleiben d u rfte. Schwieriger steht es mit dem dritten Moment, das wir als für die gegenwärtige juristische Hermeneutik wesentlich erkannte n : dem Wahrheits- oder Richtigkeitsanspruch'o. Vereinfacht for muliert, ist es Ziel der an einer Gesetzesnorm arbeitenden A uslegungsbemühungen, den wahren oder richtigen Sinn des Gesetzes festzustelle n ; auf den m it d i eser Alter native angedeuteten U nterschied z wischen der subjektiven und der objektiven Theo rie der Auslegung kommt es hier nicht an. Dabei mag häufig auch ein Teilverständnis der Norm genügen. Es sind Rechtsordnungen vorstellbar, die das Wahrheitsproblem ausklammern oder seine Bedeutung redu zieren. Geht man etwa von der Befrie dungsfunktion der Rechtsordnung aus, so ließe sich die Frage, ob es hierzu einer ' richtigen' Auslegung einer (materiellen) Norm bedarf. in verschiedener Weise pro blematisieren. Vorausgesetzt, daß die jeweilige Entscheidung zu ihrem befriedenden Erfolg führt, könnte es gleichgültig sein, ob sie gerade auf der - jetzt nur uneigentlich - als richtig z u bezeichnenden A uslegung der materiellen Norm beruht. Betrachtet man etwa einen Prozeß als Weukampf l l oder sieht man d ie Entschei dung primär als du rch die Befolgung bestimmter Verfahrensregeln legitim iert antl, so reduziert sich das Richtigkeitsproblem auf die ordnungsgemäße Anwendung der Spiel- oder Verfahrensregeln ("fair trial"). Aber auch vom Standpunkt einer nach inhaltlichen Kriterien strebenden Gerechtigkeitsauffassung aus kann der ' Verfah rensgerechtigkeit' ein gewisser Vorrang z u gewiesen werde n i ) . H istorisch besonders bedeutsam ist die Legiti mierung der Entscheidung d u rch A utorität (in einem noch zu präzisierenden Sinne). Ihr könnte es vielleicht entsprechen, daß sich der Urteils spruch in Rom mit der z u rückhaltenden Formel : mihi videtur begnügte. Gegenüber dem Einwand, daß die A utorität des ' Entscheidenden' bei ' u n richtigen' Entschei d ungen zu verschwinden droht. wäre zu bedenken, daß s ich das Richtigkeitskrite rium hier nicht so sehr auf di e Au slegung einer Norm, sondern unm ittelbar auf die soziale Adäquanz der Entscheidung bezieht. Selbst dann aber, wenn man (wie heute die Regel) an dem Richtigkeitskriterium in dem Sinne festhäh, daß es gilt. die 'Wahr heit' der Norm zu finden, so wi rd doch auch die Wahrheitsfindung an dem für die Rechtsanwendung wesentlichen Kontinu itäts- und G leichbehandlungsinteresse 1: Zu drm Vrrh.ahnis dirsrr br-idrn Brgraffr
s . nur K . F.nglsch, W... hrhrrt ,,,, d RI�htlgltrlt I", '"J'mlJ�hrn Dr",ltrn, Munchrn 1 961 ( M u nchrnrr Uni" rniuurC'dC'n N. r. J 5 ) . Vgl. J . Hui7.ing.a, Homo /"drn" H;r.mburr; 1 956. U Vgl. N . luhm;r.nn. Lrgltl""mon J"r�h Vrrf.hrrn. Ncu"" rd 1 969. 1 ) S . zum ProblC'm nur J. R;r. ... ls. E.",r Thronr drr Grrrchrigltrit. Fr;r.nkfun 1 975, S. 1 0 5 ff . plo55im. IL
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nicht vorbeigehen können. U m es vereinfacht auszudrücken : E s spricht nicht n u r eine Vermutung dafür, d a ß di e traditionelle Auslegung auch die ' wahre' i s t . sondern es ist auch ein Postu lat der Gerechtigkeit, Auslegungsdifferenzen i n gleich oder ähnlich liegenden Fällen z u vermeiden. Eliminiert oder reduziert man das Postulat des richtigen Verstehens des Normtex tes. so hat das auch Folgen für die Legitimation zur I n fragestellung einer auf Norm anwend ung beruhenden Entscheidung. Da heute jedermann - und der I ntellektuelle gleichsam professionell - zur Wahrheitssuche legitimiert ist. wird es als Provokation empfunden. wenn man ihn fragt, woher er das Recht zur Anzweiflung einer j u risti schen Entscheidung nehme. Beruht die Legitimation der Entscheidung auf Autorität. so muß sich di e ' K ritik' durch höhere oder gleiche Autorität legitimieren. Um w ieder ein Beispiel aus dem römischen Recht z u nehmen. so hatte don d ie Laienkritik am Recht und am iuris consuhus - von I ntellektuellen (Philosophen u n d Rhetoren) geübt - nur eine marginale Bedeutung ; die Angriffe konzentrienen sich vielmehr auf die (korrupte. amoralische) Person des Richters und Beamten (die mit dem J u risten nicht identifizien werden d ü rfen). Dem entsprach es aber auch. daß d ie J u risten selbst übenriebenen Rationalitätserwanungen an die Rechtsordnung entgegen tratenl4• Bricht man an dieser Stelle die Diskussion der Abhängigkeit der jeweiligen j u risti schen Hermeneutik von der 'Struktur' der jewei ligen Rechtsordnung ab. so sind noch zwei Vorbehalte: am Platze. Generalisien man den Anwendungsbereich der Hermeneutik etwa i n Richtung auf das Verstehen von Handlungen oder gar auf das Seinsverständnis. so mag das Folgen für d ie hier vorgenommene Relativierung ha ben. A m Beispiel formu liert ginge es dann u m eine Henneneutik der " Sache Recht" (H ruschka), die sich etwa auf das Verständnis recht licher I n stitute. rechtlicher Handlungen und rechtlicher Bewußtseinsinhalte beziehen könnte. Allerd i n gs wäre zu überlegen. ob nicht gerade die G renzüberschreitungen der Hermeneutik sie we n igstens innerhalb der j u ristischen Method endiskussion derart zu schwächen dro hen. daß sie gerechtfertigten und ungerechtfenigten A ngriffen keinen ausreichenden Widerstand wird entgegensetzen können. Dabei sei vor allem an d ie - mögl icher weise fundamentale - Fiktion der Hermeneutik erinnert. die sich in dem Postulat spiegelt, ein irgend wie verstandenes ' Ganzes' bei den hermeneutischen A nstrengun gen zu berücksichtigen. Solange diese 'Ganzheitsvorstellung' auf ein bestimmtes 'wrpus' (etwa auf einen Gesl·tzeskodex) beschränkt wird. mag das Postulat noch s innvoll sein. Je weiter aber die hermeneutischen Bemühungen ausgreifen, desto willkürlicher wird notwendigerweise die A uswahl der aus dem ' G anzen' herausge brochenen. für die A u s legung verwandten Fragmente. Es wäre vielleicht nicht nur realistischer. sondern auch aufschlußreicher. wenn man zwar anerkennt. daß bei der Auslegung über den Text h inausgehende Beziehungen hergestellt werden. daß e s 14
V g l . J u l i a n - Nc:raz D . 1 . 3 . 2 0 u n d 2 1 . S. d a z u D. Nörr, Rrchu},rr"}, Munchc:n 1 9 14.
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aber gilt. die A u s wahlregeln zu erkennen, denen man dabei folgt. D a b e i der Aus . wahl die " U rteilskraft . eine wesentliche Rolle spielt, ist es allerdings fraglich, wie weit die Regeln auf einen Begriff gebracht werden können. Damit kommen wir zu dem zweiten Vorbehalt. A usgangspunkt unserer Fragestel lung war ein allerd ings sehr vereinfachtes Bild der traditionellen j u ristischen H erme neutik. Zu erwägen wäre. ob nicht auch d iese mit ihrer Konzentrierung auf das Verstehen yon Rechtstexten (in dem oben skizzierten Sinn) weithin oder wenigstens teilweise auf einer Fiktion beruht. An d ieser Stelle wären d ie zentraJen überlegungen gegenwärtiger j u ristischer Methodologie zu erwähnen. Als willkürlich ausgewählte Beispiele seien erwähnt die Ansätze zur j u ristischen Entscheidungstheoriel5 (für die das Verstehen von Gesetzen nur ein Element im Vorgang der Entscheidungsfindung darstellt - und die als allgemeine Theorie die " O rientierungsfunktion" (H. Schelsky) der Hermeneutik zu übernehmen bereit steht), die Probleme der Suche nach der für den jeweils zu entscheidenden Fall wesentlichen. mit dem Gesetz nur noch in einer lockeren Beziehung stehenden U E ntscheidungsnorm" (F. M ü ller) oder " Fallnorm" (W. Fikentscher), die Ersetzung des Bemühens um das ' richtige' Verstehen der Norm durch di e Suche nach Autorität (Präjudiz) und Konsens (unter den gerichtli chen I nstanzen, der j u ristischen Profession, den Rechtsunterworfenen). Möglicher weise wird sich daraus der Zwang ergeben. die Bedingungen der Möglichkeit einer juristischen Hermeneutik von neuem zu überlegen.
II Die gängige j uristische Hermeneutik konzentriert sich auf das ' normale' Gesetzes verständnis des Richters. Das Verstehen von Rechtsgeschäften (Verträgen, Testa menten u . a.) spielt eine praktisch höchst bedeutsame, theoretisch etwas geringere Rolle. Daß das Gesetz sich auch an andere A d ressaten wendet und daß es auch sonst im Rechtsbereich Texte (hier verallgemeinernd ' Rechtstexte' genannt) gibt, davon wird in der Regel kaum Notiz genommen u, . Mit der Vielzahl von möglichen Rechts texten ergibt sich die Frage nach der Notwendigkeit oder Möglichkeit verschiedener j uristischer Hermeneutiken - eine Frage, deren auch n u r vorläufige Beantwortung hier nicht angestrebt werden kann. Hermeneutische Probleme treten dabei in mehre ren Beziehungen auf. 1. Es wird ein Rechtstext hergestellt, zu seiner Herstellung bedarf es der I nterpre tation anderer Rechtstexte: Der Richter p räpariert aus den Erzählungen der Beteili g ten den Urteilstatbestand mit Blick auf das anzuwendende Geset z ; dabei kann dahin stehen, inw ieweit bereits bei der Erzählung der Beteiligten ein entsprechender SelekI� 11.
S. cn.·a W . K i l i a n , Jllr-utuche Enucht.d"ng "nd elektronische D"unfler-"r-be.t"ng. 1 974 (ohne O n ) . Vgl. i m m e r h i n beispielsweise F . Müller, J"r-iJtischr Mrthod,k S. 17, S. IC8 i . , S. 1 6 8 1 . ; K . Larc:n7. Methodr"/rhr-r S . 3 4 5 ff .
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tionsmechanismus wirkt. Wenn man will, kann man die Erzählungen der Parteien, vielleicht auch den Urteilssachverhalt, als eine Sonderform narrativer Texte bezeich nen. Es wäre zu überlegen, inwieweit zu ihrer Verfertigung üblicherweise der Rheto rik zugeschriebene Instrumente heranzuz iehen sind. Weiterh i n : der Notar interpre tiert zur Herstellung eines Vertragstextes Gesetze, richterliche Entscheid ungen etc. Der Gesetzgeber verfaßt den Gesetzestext unter Vorschaltung hermeneutischer Be mühungen u m di e Verfassung, um verfassungsrechtliche Entscheidungen und Lehr meinungen. 2 . Näher an das Problem besonderer j u ristischer Hermeneutiken fühn eine zweite Relation heran, die sich aus den verschiedenen Funktionen ergibt, die ein Rechtstext i m juristischen Zusammenhang haben kann. Sie läßt sich in angemessener Kürze und Ungenauigkeit am leichtesten hinsichtlich der Rolle des Zeitfaktors bei der I nterpre tation von Gesetzestexten erörtern . Selbstverständ l ich können hier nur Teilaspekte kursorisch erönert werde n ; viele schwierige und viel d iskutierte Probleme (etwa die Entscheidung zwischen einem hi storischen und einem hypothetischen Gesetzgeber, der Verfassungswandel, der Wandel der Wenungen) bleiben außer Betracht. Geht man von dem Richter als dem Idealhermeneuten der j u ristischen Hermeneu tik aus, so ist für ihn der Zeitfaktor vor allem unter den beiden A spekten der Berücksichtigung der Zukunft und des EntsC'heidungszwanges von Bedeutung. Was ersteres betrifft, so geht es einmal um die Zukunft der Beteiligten (Parteien), zum anderen um die Zukunft der Rechtsordnung als solcher - womit die mögliche präju d i z ielle Wirkung von Entscheidungen angesprochen ist. Es ließe sich etwa die Mei nung vertreten, daß eine Rechtsnorm nur dann richtig verstanden ist, wenn sich die A uslegung nicht nur hic et nunc, sondern auch an zukünftigen Fällen bewährt. Die hier notwendigen Reduz ierungen und D ifferenzierungen mögen außer Betracht blei ben; so könnte man etwa die Präj udizwirkung der meisten erstinstanzlichen Urteile weithin als fiktiv bezeichnen oder danach fragen, eine wie weite und wie beschaffene Zukunft der Richter i n Betracht zu ziehen hat. Wichtiger erscheint es mir, daß zwischen präiudizieller Wirkung und Zuku nftsgerichtetheit in d iesem Sinne keine notwendige Korrelation besteht. A ngesichts der Unbestimmtheit der Zukunft mag es nur ein scheinbarer Rational itätsgew inn sein, wenn das Urteil in d iesem Sinne als a l l gemeine Regelung konzipiert wird. G erade wenn sich das Entscheidungs interesse auf den konkreten Fall beschränkt. kann die Entscheidung unter bestimmten. von der jeweiligen 'kasuistischen' Methode zu entwickelnden Auswahlmechanismen und zugleich unbelastet von den Vorurteilen des Entscheidenden über die zu erwanende oder zu e rw ü n sc h en d e Zuku nft p r äj ud i z i e l l e A u t o r i tät gew innen. Zieht man das römische Recht heran, so ist es problematisch. inwieweit die J u risten bei der Abgabe von responsa die präj ud izielle Wirkung im Sinne einer Zukunftsplanung bedachten. An d iese überlegungen könnte man die Frage knüpfen. ob nicht mit dem Blick auf die Zukunft die 'übliche' Hermeneutik überschritten wird. Geht man von dem unter verschiedenen A spekten mit verschiedener Begrifflichkcit d iskutienen Unterschied von norm- und zweckgesteuertem Verhalten aus, so könnte man folgern, daß die
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juristische Hermeneutik ihren Schwerpunkt in dem zuerst genannten Bereich hat, während das Zweckverhahen al lenfalls mit einer allgemeinen Hermeneutik des H an delns zu erfassen wäre. Doch darf hier dahinstehen, ob und inwieweit die mit d iesen Begriffen angesprochene A lternative Realitätsbezug hat. Doch gerade dann, wenn man die ju ristische Hermeneutik unter dem A spekt des gesetzesanwendenden Richters betrachtet, gewinnt der Zeitfaktor auch außerhalb der Zukunhsperspektive Bedeutung. Der Richter steht unter Entscheidungszwang. Der (viel berufene) ' Dialog' muß sich gegebenenfalls mit dem Konsens begnü gen, daß in einem bestimmten Zeitpunkt zu entscheiden ist. Daher sind Richtigkeitserwä gungen häufig und bestenfalls durch Plausibilitätserwägungen zu ersetzen, denen man durch die Charakterisierung als "vernünftige A rgumentation" ( Kr iele) appella tiv ü berzeugung verschaffen kann. Für den konkreten Fall ist die hermeneutische Diskussion durch die Entscheidung abgeschlossen ; sie kann sich allenfalls in der Uneilskritik und der rechtswissenschaftl ichen Problemerörterung fonsetzen. Verall gemeinen ausgedrückt, steht das Postulat der Richtigkeit des Verstehens ju ristischer Texte unter der Präm isse angemessenen Zeitaufwands. Der Unterschied zur literari schen Hermeneutik, bei der der Entscheidungszwang nur in der verdünnten Form des Publizierungszwanges auftritt, w i rd an d ieser Stelle besonders deutlich. Was den R ichter betrifft, so wird die Bedeutung des Zeitfaktors für die j u ristische Hermeneutik im allgemeinen nicht übersehen. Faktisch bekannt, aber zumindest unter dem Aspekt der Gesetzesauslegung weniger theoretisien ist der Zeitfaktor don, wo das Gesetz nicht unter richterlichem Aspekt ' angewandt' wird. Die hier auftretenden neuanigen Anforderungen an die Henneneutik wären wohl am besten an der 'Planung' zu exemplifizieren, soweit diese sich auf einen gesetzlichen Rahmen StütZt. Doch bestehen hier Kompetenz- und Raumschranken. Immerhin sei auf die vom Gesetz möglicherweise selbst produzierten Zielkonflikte hingewiesen. die durch - der ' normalen' Hermeneutik fremde - 'Optimierungsstrategien' zu bewälti ge n o de r schlicht de m Zeitablauf zu überantworten sind, auf Techniken d er Ent scheidungsverzögerung und Entscheidungsfragmentierung, vor allem auch auf den Einbau des Zeitfaktors in dem Sinne, daß der Plan seine eigene Veränderung in die Planung mit aufnimmt. Doch gibt es auch andere - handgreiflichere - Fälle. in denen gleichfalls die Kon f1iktschlichtung gegenüber der Steuerung künftigen Verhaltens zurücktritt. Auch zu ihrer Bewältigung kann eine Orientierung am Normtext notwendig sein, die in ihren Besonderheiten von der ju ristischen Henneneutik regelmäßig nicht ausreichend be dacht wird. A l s Beispiel w ä r e die Herstellung e in es Venragstextes durch den Rechts anwalt oder Notar zu erwähnen. Auch hier bedarf es hermeneutischer Bemühungen, die sich (unter anderem, nicht allein) auf Gesetzestexte richten. Für den R ichter mag die 'hermeneutische Wahrheit' noch ein möglicher Endzweck sein - wenn er sich auch praktisch häufiger eher daran orientieren wird, ob seine Entscheidung (von den oberen Instanzen. von der Fachwelt, vielleicht auch von den Beteil i gten) akzeptiert wird. Wer einen Vertrag entwirft. wird dagegen prinzipiell seine Gesetzesauslegung
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da nn (e x eventu) als r i c hti g bezeichnen dürfen, wenn er die Auslegung trifft, die gegebenenfalls (etwa im Prozeß) als die richtige akzeptiert wird. Modisch gespro chen, stellt die Entscheidung über die Auslegung also eine Entscheidung unter Ri siko dar. Dem entsprechen Möglichkeiten der Risikoverminderung - durch Anpas sung an derzeit gängige oder gar herrschende Mei nungen, durch Vertragsklauseln, die verschiedene Gesetzesinterpretationen berücksichtigen, durch Einbau von An passungsmechanismen (etwa an eine veränderte Rechtsprechung, aber auch schlicht an veränderte Umstände). Zweifellos spielt auch hier der Zeitfaktor w ieder eine and e re Rolle als bei der Gesetzesauslegung durch den Richter. Geht man wiederum von dem ( idealtypischen) Unterschied von norm- und zweckgesteuertem Verhalten aus, so dü rfte es deutlich sein, daß der Schwerpunkt j etzt im letztgenannten Bereich liegt, für den die auszulegende Norm nur gewisse Randbedingungen festlegt. Es wäre zu fragen, ob und inw ieweit die j u ristische Hermeneutik von d ieser Situation Kenntnis nehmen sol l . 3 . Schon im vorhergehenden wurden beiläufig neben d e m Gesetz weitere Rechts texte genannt, die möglicherweise besondere hermeneutische Probleme aufwerfen. Was die Rechtsgeschäfte (Verträge u. a.) betrifft, so hat die juristische Auslegungs lehre von ihren spezifischen Problemen Kenntnis genommen, so daß der bloße Hinweis hier genügen mag. Was die bereits genannten ' narrativen Texte' (wie etwa Polizeiprotokolle, Sachverhaltstexte, Parteivorträge, Zeugenaussagen) betrifft, so werden ihre Probleme zwar vielfach d iskutiert, aber - wenn ich es recht übersehe kaum unter dem Aspekt der j uristischen Hermeneutik. Um nur ein Beispiel zu nehmen, so sind Verhörsprotokolle häufig Produkte der Umsetzung einer einfachen Laiensprache i n die gehobene Umgangssprache oder gar in die Fachsprache; ihr jeweil iges Verständ nis hängt vom Gang des Verfahrens ab, womit das 'Verstehen' eine eigenartige Dynamik erhält, die sich in die sonst übliche Evolution des Verste hens bei literarischen Texten, Gesetzen etc. nicht leicht einordnen läßt. Sie sollen etwa dem Richter Antworten auf Fragen geben, die der das Protokol l Herstel l ende gar nicht gestel l t hatte. Wenn Anpassungsschwierigkeiten auftreten, so müssen diese nicht unbedingt durch neue hermeneutische Anstrengungen, sondern sie können unter Umständen auch du rch Herstel lung eines neuen 'narrativen Textes' gelöst werden, indem etwa das Protokoll durch nochmaliges Verhör ergänzt wird. Dabei sind aber oft durch das bereits existierende Protokoll Festlegungen gegeben, die schwer zu beseitigen sind. Weiterhin treten hermeneutische Interdependenzen auf wenn etwa die Auslegungsentscheidung hinsichtlich eines Protokolls von entspre chenden Entscheidu ngen über die Auslegung eines Gesetzes oder Präjudizes abhängt (oder viceversa). Besond ere hermeneutische Probleme könnten auch bei Urteilen und bei wissen schaitlichen Texten entstehen. Sicherlich läge es nahe, mit der (vereinfachten) Fest stell ung zu beginnen, daß d iese über Normen berichten. nicht aber selbst normative Textl" sind . Doch sdbst wenn man von dem möglichen bindenden Charakter von UueLlen und anJl'n'n j u r i stischen Äußeru ngen (etwa von responsa der römischen
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J u risten) absieht, so werden Uneile und wissenschaftliche Äußerungen doch als Autoritäten und exempla zitien. haben insoweit also normativen Charakter. über dies läßt sich i n v ielen Fällen die einschlägige Rechtsnorm überhaupt nur aus d iesen Texten gew innen. Das kann dazu führen, daß auslegende Texte selbst eine normative Kraft erhalten, die sie wiederum zu Gegenständen der juristischen Auslegung ma chen. Dabei entstehen möglicherweise ganze Ketten, in denen Texte nacheinander als Interpretation und I ntcrpretandum auftreten. H ierfür geben Beispiele ab: das jüdi sche (Thora - M i schna - Gemara ete.) und das römische Recht (ius civile [einschließ lich leges]. Kommentar des Sabinus zum ius civile, Kommentar Ulpians zum Kom mentar des Sabinus, Kommentar [ Glosse] der m ittelalterlichen J u risten zu den Dige sten, in die der Kommentar Ulpians [teilweise} inkorporiert wurde, etc.). Entspre chende Ansätze finden sich auch heute, wenn in j u ristischen Texten etwa auch dann ein Kommentar zitiert wird, wenn er gegenüber dem Gesetzestext keine zusätzlichen Informationen liefen, I m übrigen tritt gerade bei U rteilen und j uristischen Texten ein Phänomen auf, das möglicherweise sowohl der literarischen Hermeneutik als auch der Gesetzesausle gung in dieser Form fremd sein könnte, Während die Auslegung des Gesetzes die Norm in einer (zumindest von den Äußerungsmineln her gesehen) stabilen Form vorfindet, trin sie in U rteilen und w issenschaftlichen Texten in verschiedener sprachlicher Bekleidung auf. Hier treten Identifizierungsprobleme auf, möglicher weise aber auch grundsätzliche Probleme des linguistischen Substrats der Herme neutik. Wenn man sich eines gängigen Vokabulars bedienen will. so könnte man von einer Unterscheidu n g zw ischen 'Sinn' und ' Bedeutung' des j uristischen Textes spre chen. Man könnte noch weitere G ruppen von Rechtstexten aufzählen. die möglicher weise spezielle hermeneutische Probleme aufwerfen (etwa Gesetzespräambeln. Ge setzcsmaterialien, vielleicht auch schlicht berichtende Texte [historischer, ethnologi scher, vergleichender Art] ohne normativen Anspruch). Dabei ist zu konzedieren. daß es wohl überflüssig ist. in allen Fällen besondere Hermeneutiken zu entwickeln, daß sich auch die Besonderheit der jeweiligen hermeneutischen Probleme bisweilen gleichsam eher i n ihrer Quantität als in ihrer Qualität zeigt (etwa i m Falle der Anpassung des hermeneutischen Vorgehens an jeweils sich ändernde Umstände), daß es schließlich bei ' n arrativen Texten ' zweifelhaft ist, ob sie überhaupt taugliche Objekte einer spezifischen j uristischen Hermeneutik sein könnenl7, Immerhin w äre gerade dann, wenn man der juristischen Hermeneutik als Bestandteil der Methoden lehre mehr als eine marginale Rolle zusprechen möchte, das - den Rechtstheoreti kern die Erfüllung überlassende - Postulat aufzustellen. daß sie sich von der Be schrän kung auf Gesetz und Rechtsgeschäft befreien müßte.
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S . nur F . Wie�cker. "Zur I d eologie der römi,,,hen J u nnen". In Festsch"ft \I'. FI"me, Ku)n 1 978. BJ I , S. 2 5 1 .
1 1 1 Z U R LITERA R I SC H E N H E R M E N E UTI K
E I N LE ITU N G
Die W a h l e i n e s poetischen Textes, d e r dazu dienen konnte, a l s Paradigma d e r litera rischen Hermeneutik eine Brücke zur theologischen und zur juristischen Hermeneu tik z u schlagen. war nicht leicht zu nehmen. G alt es doch. ein Demonstrationshei spiel zu finden, das idealerweise so anfänglich und so bedeutungsschwer sein sollte wie Gen. 3 für die Theologie, so intrikat wie der 'Mephisto'-Fall für die Jurispru denz, und das gleichwohl den nicht-philologischen Leser nicht abschrecken durfte. sondern ihn als ein "pu Ichrum oculis aspectuque delectahilc" - wie der von der Schlange gereichte Apfel - verlocken konnte. die ungewohnte Speise ästhetisch zu genießen. Solche Forderungen schienen i n Valerys C;met;ere marin erfüllbar zu sein. Denn dieses Gedicht hat als Grundtext der modernen Lyrik Epoche gemacht : es ist anfänglich durch seine Genese (es ging von der Priorität einer Form aus. der leeren rhythmischen Figur einer bestimmten Zahl von Zehnsilberstrophen, woraus erst das Sujet, der Monolog des lyrischen Ichs, sich ergeben habe) wie d urch seine nicht werkhaft vollendete Struktur (für den Autor fix ierte die publiziene Gestalt nur eine unter anderen u nabgeschlossenen Entwürfen) ; es ist bedeutungsschwer durch eine Fülle von I nterpretationen und hatte eine hermeneutische Debatte zur Folge (ausge löst durch das provokative Diktum Valerys: "mes vers ont le sens q u 'on leur prete"); es ist intrikat. denn sein Autor hat einer nur werkimmanenten I nterpretation von vornherein den Boden ent7.ogen, indem er leugnete, daß solche Poesie durch Ent schlüsselung von Sinn überhaupt angemessen z u verstehen sei. Und es ist dabei vielfältig genießbar und gerade durch seine Vieldeutigkeit verlockend : als Friedhofs poesie. als mediterraner Mythus oder als profane Hymne des 'G roßen M ittags'. aber auch all> puej;e pure, als romed;e ;ntellectuelle uder als hermetische Poesie. und schließlich als Verw irklichung des Ideals einer poietischen Philosophie, als gegenläu fige Erfahrung reflexi v gest eigener Anschauung und als - im Verhältnis zur christli chen Religion - apostatischer Text. Die vorgelegten Interpretationen h�ben diese Mö�lichkeiten des Verstehens ergriffen und damit die konstitutive Vieldeutigkeit des C;nret;ere marin erneut ins Licht gerückt. Sie können darum in der folgenden Prä sen1ation als sukzessive Lektüren betrachtet werden, die zu verschiedener Deutung gelangt sind, ohne sich notwend i g widersprechen zu müssen. Die ju ristische I nterpretation von Detlef Liebs hat sich zu Recht auf eine rechts philosophische Betrachtung von "midi le j uste" nicht eingelassen, die zu einer Alle gorc�'se im berüchtigten Sinne häur führen müssen. Der I nterpret stellt vor Augen, wie unter der Normhypothese einer Friedhofsordnung etwas wie ein Sachverhalt erzih l t werden kann, der einen Fall von 'Ordnungswid rigkeit' nurmehr - wenn
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überhaupt - im Wegfliegenlassen des Buchs erkennen läßt. Das Verfahren ilIustrien das Hin- und Herwandern zwischen Norm und 'Sachverhalt' als einen selektiven Prozeß. der die sprachl iche Fülle des poetischen Vorgangs auf das Faktische rechts relevanter Handlu ngen reduziert. Dabei stellt sich nicht nur das Erwartbare her.lus, nämlich daß gerade der juristisch relevante Sachverhalt poetisch irrele ....ant ist. Son dern es tritt interessanterweise auch zutage. daß die juristische Analyse 7 . U ihrem Sachverhalt gelangt. indem sie die eruienen 'Fakten' selbst wieder fiktionalisien. In der ju ristischen Umerzäh lung finden sich Züge. die im poetischen Kontext nicht verifizierbar. mithin eine Erfindung des juristischen Henneneuten sind : daß sich der Venasser "mit einem Buch in der Hand" zum Friedhof 30m Meer begeben habe, daß er sich "zunächst der Friedhofskapelle ." zuwendet" und daß er 30m Ende die Meereswogen auffordere, "ce toit tranqui lle". "also die Friedhofskapelle . . . zu zer stören". Benötigt die j u ristische Henneneutik auch sonst Minel der narrativen Fik tion. um einen diffusen Sachverhalt auf den Ereigniszusammenhang eines erzählba ren Falls zurückzuführen? Im vorliegenden Fall ist die - ungewollte? - Fiktionalisierung eine Folge des übersehens einer vorrangigen Nonn der ästhetischen Lektüre. Das Verstehen eines lyrischen Textes enorden vom Leser eine ständige Hin- und Herbewegu ng zwi schen Klang ("son") und Sinn ( " sens"), form und Gedanke ' , :r wischen dem nächst aufgenommenen Vers und den zuvor gelesenen Versen. bis hin zu der Rückwendung vom Ende auf den Anfang, d ie bei erneuter Lektüre nicht selten auch einen neuen Sinn erschließen kann, Daß "Ce toit tranqu ille. oia marchent des colombes" im ersten Vers. der zunächst an ein konkretes Dach (der 'Friedhofskapelle') denken läßt. schon eingangs metaphorisch d ie Meeresfläche mit der Bewegung von Segeln meinen kann. wird erst im letzten Vers : ." .. ou picoraient des focs" klar erkennbar. Damit entfäl lt aber nicht einfach eine Bedeutungshypothese. sondern es eröffnet sich für die zweite Lektüre ein reicherer Bedeutungshorizont. Eine neue Aus legung kann bei der Analogie von 'Dach' und ' Meer' einsetzen und von der Anschauung der enül lten Fonn aus versuchen, die unenüllten Bedeutungen, Sinnlücken und Dunkelheiten der ersten Lektüre aufzuhellen. D iese Arbeit eines Verstehens, das auf mehrfache Lek türe angewiesen ist und immer noch einer möglichen anderen Lektüre Raum läßt, scheint der l iterarischen Hermeneutik eigentümlich zu sein. Es bliebe zu klären, wie sich dazu das Umerzählen eines juristischen Sachverhalts unter einer neuen Norm hypothese oder die Applikation einer Perikope der Bibel auf eine immer wieder verschiedene Situation der Gemeinde verhält. Dem Theologen kam der gewählte literarische Text offensichtlich mehr entgegen als dem Juristen. Wo dem letzteren fast nichts juristisch relevant er'ichien. fand der
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VaI�r}"s Poetik ...on "son e-t SC"ns" , "fonnr e-t id«" bßI die- fol�e-nde- De-flnt1lon pr
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erstere fast nichts. w a s i h m theologisch irrelevant ersch ienen wäre. Dabei stellen die beiden Auslegungen von Walter Magaß und Wolfhart Pannenberg - wie mir scheint - zwei Trad itionen theologischer Henneneutik vor Augen: die Möglichkeit. den Gegensatz des ' apostatischen Textes' durch Applikation zu überw inden. und die umgekehrte Möglichkeit. seine Ferne zum christlichen Glauben als eine Herausfor derung zu verstehen, vermeintliche Gewißheiten des eigenen Standorts zu revidie ren. Für die literarische Hermeneutik erbringen die beiden theologischen Auslegun gen den Gewinn, die vermeintlich banale ' Friedhofspoesie' des Cimetiere marin auf eine unerahnte Fülle vorgängiger Bildweiten zu öffnen, die eine säkulare Erfahrung religiöser Meditation hinterließ. Was alles im H intergrund aufgerufen und als autori tative Tradition gleichsam verabsch iedet wird, während im Vordergrund die Topoi des christlichen 'memento mori' zitien und als "couleurs de mensonge" zu rückge w iesen werden. vennag offenbar erst eine Lektüre unter der unangemessenen Verste hensnorm christlicher Theologie ans Licht zu bringen : der topologische Gegensatz von sol salutis und mare amarum , die Merkmale der 'Uisio beatifica in der " Erlö sungslandschaft des Südens", das lyrische Ich als Adam oder "Herr Erde an der Sch lafsteIle der Welt", der Dialog mit den Toten als commercium spirituale . und manches andere mehr. Dabei scheint Waher Magaß zunächst in der Weise jener patristischen Henneneutik zu verfahren, die bemüht war. selbst noch das hetero nome Gedankengut der heidnischen Philosophie mittels A l legorese oder Typologie für die christliche Heilsgeschichte zu vereinnahmen: "Der cimetiere schafft nicht nur Distanz und Verwand lung, Austausch der Schlafenden und Wachenden. ein com mercium dandi et accipiendi für Meer und Sonne ; der cimetiere ist die heutige Weise, mit Memoria würdig Tod und Leben zu überschreiten." Gleichwohl verschweigt Magaß mitnichten. daß seine applikative Deutung durch ostentative Umkehrungen christlichen Lehrguu gewonnen ist. Schon beim Meer. in altchristlicher Tradition stets negativ gedeutet. beginne die kosmologische Umbesetzung der geschöpflichen Welt in eine sel bstgenu�same "Proto logie des Mezzogiorno"; das Kosmologie trei bende Iyrischc.· Ich sei ein neuer Adam, "der den adventlichen Ruf noch nicht gehön haf ' ; wenn der Dichter 30m Ende als Exempel einer "Selbstbehauptung unter den Bedingungen der Gräber" gegen den " falschen Trost" der gewohnten weltfeind li chen Topik christlicher Erbau lichkeit aufgeboten wird, setzt diese topologischr Deutung eine letzte und kühnste thrologi sche Umbesetzung des anagogischen Sinns voraus - das Ansinnen an den christlichen Leser. in dem Dichter des Cimetiere marin einen jener Laien zu erkennen. die wie Peuus und Johannes zum Ärgernis der Schriftgelehrten. alias Theologen, "Parrhesia" haben, das heißt: "die Kraft und Weite des Blicks, ohne Scheu auf den Himmel und das Meer zu schauen". So führt dic Erprobung des poctischen Tc.'xtes an der theologischen Nonn Olm Ende zur Erprobung der Theologie unter der Herausforderung der Poesie! Das gilt um so mehr. wenn eine theologische Deutung wie die von Wolfhart Pannen berg auf allegorische Vereinnahmung verzichtet und die Differenzen des apostatischen Textes noch im scheinbar Analogen aufdeckt. Hier werden �erade die
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Punkte der größten Ferne vom christlichen Gottesverständnis zum Schlüssel der Exegese: das Pindar- Mouo, das zur Abwendung von der Suche nach dem ewigen Leben aufruft. schlägt den anti-religiösen Orgelton an; das Opfer. das im "Temple du temps" dargebracht wird. vollzieht sich in der Gebärde einer souveränen Verach tung der Götter; die Evokation der numinosen Mächte des 'Großen Mittags' ver kehrt die christliche Bedeutung von sol salutis und mare amarum in ihr Gegenteil : "Bei Valery ist die Sonne erstarrt zum Sinnbild der bewegungslosen Ewigkeit, und das Meer gilt ihm nun als Quelle des Lehens und seiner Erneuerung" ; d ie Abwen dung von der zeitlosen. in die Nachbarschaft des Todes gerückten Ewigkei.t des 'G roßen Mittags' trifft sowohl die eleatisch-platonische Auffassung des Göttlichen als auch eine traditione l le Gottesvorstellung der christlichen Theologie, den Gedan ken der zeitlosen Ewigkeit Gottes. An d ieser Stelle setzt die kritische Applikation Pannenbergs mit der Frage ein: " Die Verknüpfung dieser Ewigkeit und ihres Gottes mit dem Tode hat etwas Ungeheuerliches. und dennoch wird christliche Theologie sich selbstkritisch fragen müssen, ob Valery hier nicht recht hat". Pannenbergs Antwort : "Der geschichtlich handelnde GOtt der Bibel ist nicht in jene zei.t1ose Unbeweglichkeit gebannt", geht notwend ig über den primären Kontext hinaus und interpretiert den Cimetiere marin im lichte einer Frage. auf die der Text noch nicht die Antwort war. Auch wenn Valery diese lösung schwerlich gebilligt hätte, braucht Pannenbergs Applikation die hermeneutische Legitimität keineswegs bestritten zu werden; d ie literarische Henneneutik kann daraus zumindest lernen. daß Valery hier antike Philosophie wie christliche Theologie in solcher Fülle nicht einfach in einem müßigen Spiel 'zitiert', sondern einen poetischen Protest gegen den säkularen Ewig keitsgedanken wagt. der die historische Philosophie und theologische Autorität in eins herausfordert. Der philosophischen Hermeneutik bereitet der Cimetiere marin Sch wierigkeiten besonderer Art. Valery hat gerade dieses Gedicht zum Demonstrationsfall seiner antihermeneutischen Position gemacht : wer es apophantisch interpretiere, das heißt als Aussage über etwas verstehe und auf einen latenten Sinn reduziere, verfehle unweigerlich seine poetische I ntention. "Mes vers ont le sens qu 'on leur prete " : Günther Buck h a t sich über diese Provokation nicht i n d e r üblichen Weise h inweg gesetzt, sondern Valery beim Wort genommen und das hermeneutische Paradoxon eines poetischen Textes, der sich philosophischer lnterpretierbarkeit versagte, durch den Nachweis einer spezifisch poietischen Apophansis gelöst. Die gewollte Herme tik des Cimetiere marin sei so wenig ein Selbstzweck wie der "hermeneutische Nihi lismus" seines Autors : auch Valerys Ged ichte würden in verbind licher Weise interpretierbar. wenn man erkenne, daß hier " ästhetische Reflexion, dieses in der Regel nachträgliche und für den Poeten eher hinderliche Moment. umgesetzt (ist) in da s Vermögen ästhetischer Konstruktion." D er Cimetiere marin kann sich der nach träglichen henneneutischen Vereinnahmung durch apophantische I nterpretation versagen, weil das Gedicht an sich selbst schon seine Appl ikation verwirklicht. In dem es "die Möglichkeit philosophischer Wahrheit leugnet zugunsten ästhetischer
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Wirkl ichkeit", ist es Antiphilosophie und deren praktische überw indung zugleich. Es demonstriert, daß der "Verzauberung des Denkens" durch die philosophische Theorie am ehesten die Dichtung als poietische Praxis entgeht. Poesie als I nbegriff der poietischen Tätigkeit des Menschen w idersetzt sich der I llusion einer nur kon temp lativen Erkenntnis des Seienden ; sie hat ihre Wahrheit schon im Vollzug des Hen·orbringens, so daß hier alles Wissen "in und aus sich selbst reines Vermögen der Anwendung" zu sein vermag. Valerys hermeneutischer Nihilismus, dessen Schwä chen Buck eingehend erläutertl, ist nur die Kehrseite seines anti-philosophischen Denkens, der Cimetiere marin ein poetisches Dokument der Abwendung vom kon templativen Wissens ideal der abendländischen Philosophie und Demonstrationsfall für Valerys Grundthese, "daß die ästhetische Produktion letztes Ziel und oberster Rechtfertigungsgrund philosophischer Reflexion sei". Um dem Zirkel der apophantischen Reduktion zu entgehen, hat Buck das Verfah ren des ausgreifenden Kontextes eingeschlage n : der übergreifende Werkzusammen hang von Valerys (Euvre ist die henneneutische Norm für die Interpretation des Cimetiere marin. Damit kommt zu nächst ein Grundthema zutage, das die Gedichte Valerys allesamt abwandel n : die Comedie intelleauelle. Es ist der Prozeß der Poesie selbst, "ihre Genese, ihre Wirkung und ihre Ohnmacht", der in Valerys Gedichte eingeschrieben ist. Der Cimetlere marin gewinnt in d ieser Sicht dadu rch sein beson deres Profil, daß hier die Wendung zur poietischen Antiphilosophie in einem Spiel mit der historischen Phi losophie und Theologie vorbereitet wird. Deren Positionen werden nicht geradezu, sondern in der intentio obliqua zitiert, sie "poetisch zu verbrauchen" : der lukrez ischen I nspiration des Eingangs (str. 1) und der Strophe 1 1 entgegen w ird im weiteren das Todesthema ganz unlukrezisch behandel t ; die Preis gabe der antiken Ataraxie vollendet eine ganz ungriechische Anrufung des Zenon, der "gleichsam schief zu dessen I ntention, näm lich als Urheber von Paradox ien" zitiert und dessen eleatisches Paradox gegen ihn, mit der Entscheidung für die Bewe gung gelöst wird; das Pindar-Motto hingegen ist in der intentio recta zu verstehen, als Hauptgedanke Valerys. mit dem er den christlichen wie den eleatischen Unend l i chkeitsgedanken zurückweist zugunsten der radikalen Endl ichkeit der " tunlichen Kunst" ; Valerys Idee des Absoluten wäre demnach - der philosophischen Reflexion zum Ärgernis - das Paradox eines finiten Seins ( " I ' infini est defini"), "Midi" und "Mer" - gegen die etablierte Deutung G . Cohens - als Momente eines einheitlichen Zusammenhangs neu zu interpretieren, nämlich als Bild und Gegenbild eines "sich selbst genügenden. nicht nur in sich ruhenden, sondern auch in sich zurückkehren den Sei ns " ; der zweite San:: der nach Buck d reiglied rigen Komposition thematisiert �
Dtr Effekt der �choncn Form, in dem dit Miutilu ngsfunktion dtr prosaiKhen Spracht venchwindtt. ist nur '"trmtinllich sinnfrti, weil auch das Moment der Form "seine spezifischt Wirksamkeit tintr Interfe renz mit dem scmantischen Mome-nt der poctischtn Sprache- ,"crdank t " i louch 5ttzt Valerys Polemik noch den cngen Sinnbegriff de-r objektivistischen Philolugic voraus, die- ihn lon die Intention des Autors bindet, und bdj,ßt im unklaren, wclche-r Anteil dtm leser bti der fonschre-itenden Konkrttisation von Sinn 1.ukomml.
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hernach die Kluft zwischen Sein und Wissen, während der Schlußsatz zu der Ein sicht führt, "daß das Ziel des in/in; de/in; - für Valery ebenso ein lebenspraktisches wie poietisches Ziel - erreichbar ist. und nur erreichbar ist durch den Entschluß. sich in die Abfolge endlicher Handlungen einzulassen. " Bucks I nterpretation hinterläßt die Frage an die ph ilosophische Henneneutik, ob hie r Valerys hermeneutischer Nihilismus zwar durch d en Rekurs auf seine antiphilo sophische Grundthcsc behoben und der Cimet;ere marin als poietische Applikation seiner neuen lösung des Theorie-Praxis-Problems verbindlich interpretiert werden konnte, dafür aber der Preis entrichtet werden mußte, jene ästhetische Wirklichkeit wieder zu vereindeutigen, die das Gedicht im Gegenzug zur philosophischen Refle xion erstehen läßt. Wenn überzeugend erwiesen wurde, daß der Cimetiere marin als dichterische Poiesis um der ästhetischen Produktion willen seine eigene, kritisch gegen die bloß noch Theorie erzeugende Philosophie gerichtete Applikation ein schließt, ist d iese Erkenntnis nicht selbst wieder eine apophantische Aussage, da durch gewonnen, daß das Spiel zwischen Form und Sinn vereinseitigt, die ästhetische Wahrnehmung auf die tiefere Bedeutung zurückgeführt, oder anders gesagt : daß das Gedicht als A isthesis seiner Analyse als Poiesis geopfert werden mußte? Wie wäre solche Aisthesis, d. h. die ästhetisch wahrnehmende gegenüber der auslegenden Lek türe wiederzugewinnen? Diese Restitution der Aisthesis und damit auch der mehrfa chen Auslegbarkeit ist das eigentümliche, obschon nicht immer so verstanden gewe sene Geschäft der literarischen Hermeneutik. Uwe Japps Interpretation setzt mit einer Klärung des Verhältnisses von Hermetik und Hermeneutik ein. Die spezifisch moderne Wendung im Cimetiere marin ist darin zu sehen, daß Valerys Gedicht nicht mehr durch die Verschlossenheit, sondern durch die Offenheit seiner Werkstruktur hermetisch ist. Wo die hermetische Tradi tion den Sinn auf eine geheime Schlüsselbedeutung reduzierte, bringt es als "poesie pure" eine Sinnsteigerung hervor, die vom Leser statt eines esoterischen Wissens eine mehrfach auslegende Lektüre erforden. Die Frage nach dem Sinn des Cimet;ere marin kann darum weder durch die inhaltliche Negation seines okkasionellen Ur sprungs (der 'Friedhofs poesie') noch durch die formale Negation von Adornos Um kehrungsschluß diskreditiert werden, daß es als " Resistenz" gegen die Welt, deren " falscher H umanität" es sich verweigere, auf diese bezogen sei. Solcher Sinnreduk tion entgegen muß eine nicht-reduktive Hermeneutik entwickelt werden, die am Weltbezug des hermetischen Werkes selbst die hermetische Sinnsteigerung zu erwei sen sucht. Das geschieht in Japps Interpretation auf drei Ebenen einer pluralen Lektüre, i n der versucht wird, die - method i sch nicht streng gesc hi edene n - Mög lichkeiten eines poetologischen, eines szenischen und eines psychodramatischen Ver stehens zu erproben. Auf der ersten Ebene der Deutung, dem "Spiel der Figuren", folgt die Lektüre einer Doppelbewegung, die von der Konkretion eines mediterranen Friedhofs zur Abstraktion einer "Comedie intellectuelle" hin und w ieder zurück führt. I n d ieser Doppelbewegu ng sieht Japp das Kompositionsprinzip, in dem sich Valerys Vorstellung von "poesie pure" als eine Poetik der ständigen Transformation
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verw i rklicht. Auf einer zweiten Ebene der Deutung betritt der Intellektuelle, alias der Dichter, die philosophische Reflexionsbühne; sein Dialog mit den großen The· men der Metaphysik ist als "comedie intellectuelle" durchaus auch im ironischen Sinn einer Komödie zu verstehen, sofern hier der Intellekt als das Fragwürdige erscheint und ineins damit dem Absoluten und Ernsten der Prozeß gemacht wird : " unterhalb des eindrucksvoll aufgetürmten Gedankengebäudes verläuft die Spur der poetischen Dekomposition". Auf einer dritten Ebene schließlich kommen nach dem D i chter auch der Analytiker und Hermeneutiker ins Spiel, um den Cimetiere marin in den Phasen von Regression (Wunsch, sich ans Absolute zu verlieren), Desillusio nierung und Revolte (Appell zum Leben) als " fiktive Fallgeschichte der modernen Poesie" zu interpretieren. Wie wäre an Valcrys Gedicht die Potentialität der ästhetischen Wahrnehmung w iederzugewinnen, nachdem d ie philosophische Interpretation den Sinn des Cime tiere marin als poietische Konstruktion, die sich selbst zum Thema wird , vereindeu tigt hat? Auf diese Frage, die sich nach Bucks Vorlage stellte, antwonet Anse1m Haverkamps Interpretation, mit der auch er wie schon Japp die Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstands w ieder ansichtig macht, nun aber nicht durch eine plurale Lektüre auf mehreren Bedeutungsebenen, sondern d urch das Verfahren einer suk zessiven Auslegung, bei der jeweils die vorangehende Lektüre zum Horizont der folgenden wird. Zu der ereignishaften Wende des Cimetiere marin führt hier ein erster, historischer Teil, der den a.utobiographi!ichen, litcn.rhistorischen und geistes geschichtlichen Kontext zugleich ermittelt und aktualisiert. Valcrys Rückkehr zur poetischen Porm ( 1 920) läßt sich aus der nachplatonischen Aporie seines Sokrates im Eupalinos ( 1 92 1 ) erhellen : auf den " Mythos vom venanen Potential einer philoso phischen Tradition", auf den Sokrates im Hades nur noch in der Nachträglichkeit hermeneutischer Reflexion reagieren kann, antwortet der Cimetiere marin mit der poetischen Lösung, die "Reflexion (als ästhetische) vom nachträglich·applikativen zum konstruktiven Moment der Poetik macht". Diese Lösung führte Valery auch über die Poetik seines Vorbilds Mal larme hinaus : dessen 'Sprachmagie' und seine ' Sprachskepsis' kommen nur ex negativo überein, weil es für Va lcry mit der Selbst thematisierung der Sprache nicht getan ist; die (im Vergleich zur musikalischen Komposition) thematische Schwäche der Poesie läßt sich nur durch poietische Kon· struktion beheben, durch den Schritt vom vergleichgültigten zum sich selbst schaf· fenden Sujet. Dieser Schritt bringt ein 'poetisches Universum' hervor, in welchem die nicht·mimetische Konstruktion ihre eigene 'mimetische Resonanz' (Ia forme redemandee par reffet) erzeugt und vom Leser ungewohnte Aktivität, eine neue Freiheit der Rezeption erfordert. D iese als 'hermeneutischen Nihil ismus' anzusehen, heißt den Widerstand verkennen, den Valcry der seit Hegels Diagnose vom ' Ende der Kunstperiode' behaupteten Unterordnung der ästhetischen Erfahrung unter phi l osophische Reflexion (oder auch: der Poetik unter Hermeneutik) entgegensetzte. Wenn Gadamers Postu lat : "Die Ästhetik muß in der Hermeneutik aufgehen" das mit dem Cimetiere marin aufgegebene Problem des Verstehens nicht mehr trifft, weil
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hier Reflexion selbst poetisch geworden ist und - "zu einem Element in der An schauung dcpotenziert" ( D . Henrich) - nur in der "mimetischen Resonanz", im poetischen Reflex der Konstruktion gefaßt werden kann. muß auch die thematische Auslegung im Prozeß der Lektüre ihren Vorrang verlieren. Die Umwendung, die eine solche Lektüre erfordert, führt der zweite Teil der Vorlage Haverkamps aus. Der Cimetiere marin ist darauf angelegt, in der ersten Lektüre zu nächst als ein Stück in der Tradition der Reflexionspoesie gelesen zu werden. Diese Tradition läßt erwarten, daß "Reflexion in gleichem Maße einge bracht wie gefordert und ausgelöst" wird, um eine gegen philosophische Klarheit gerichtete kunstvolle D unkelheit durch allegorische Deutung aufzuklären. Den Ci metiere marin unterscheidet davon zunächst nur, daß seine Dunkelheit nicht erst einem Kunsteffekt, sondern schon dem Gegenstand der in Poesie gebrachten Refle xion, dem Dunkel der in unüberbietbarer Fülle aufgerufenen Tradition entspringt. Angesichts des perfekten allegorischen Lokals, das der Friedhof von Sete als ambro sianische Landschaft eröffnet, ist dem Interpreten aufgegeben, das Dunkel der Sym biose antiker und christlicher Trad ition, in die verstrickt das wirkungsgeschichtl iche Bewußtsein sich vorfindet, Zug um Zug im Lichte der pindarischen Mahnung aufzu hellen. Der Prozeß dieser Auslegung ist allegorische Konsistenzbildung; wer ihr folgt, muß mit der letzten Strophe der anti-allegorischen Wendung des G edichts gewahr werden, die zur Dekomposition der allegorischen Einvernahme auffordert. Die zweite, anti-allegorische Lektüre restituiert die ästhetische Wahrnehmung: "was zuvor literale Oberfläche für allegorischen Sinn war, wird zum literalen Sinn auf einer allegorischen Oberfläche". Der letzte Vers gibt mit DU picoraient des /ocs dem ersten Vers den literalen Sinn zurück und leitet eine Lektüre ein, bei der die zuvor von Reflexion erstellte Welt entallegorisiert wird und eben dadurch zu reflexiv ge steigerter Anschauung kommen kann. Selbst noch das Pindar-Zitat, das die erste Lektüre in allegorischer Perspektive leitete, w ird von dieser Umkehrung betroffen : .. Ausschöpfen des Möglichen heißt hier Ausschöpfen des in den unteren Schiffsraum eingedrungenen Kielwassers" . Haverkamp, der auf diese Weise den literalen Sinn des Pindar-Verses ins Spiel zu bringen weiß, hätte seine These nicht schöner bestätigt finden können, daß ästhetische Erfahrung nicht in unmittelbarer Anschauung auf geht, sondern in der Rückwendung auf den Horizont einer auslegenden Lektüre erneut zu einer Anschauung gelangen kann, die um hermeneutische Reflexion be reichert ist und darum gesteigert erscheint. Die sukzessive Lektüre des Cimetiere marin gelangt mit der Vorlage von Karl heinz Stierle in eine neue, intertextuelle Dimension. Gefragt wird nunmehr nach der dialogischen Struktur des Werkes; sie wird erkennbar, wenn es gelingt, den histori schen Kontext zu rekonstruieren, in dem es "als Applikation anderer Werke, als Transformation, Antwort, Oberbietung, Korrektur" verstanden und ausgelegt wer den kann. Stierle zeigt, daß Valerys Cimetiere marin und N ietzsches Großer Mittag nicht allein d urch den thematischen Vorwurf und durch zahlreiche Paral lelen im Bildhaushalt, die d iese Interpretation evident zu machen weiß, motivverwandt sind.
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Vielmehr ruft hier der spätere Text selbst die Gegenwart des früheren herauf. weil Valerys Auseinandersetzung mit Nietzsehe. die ein Brief an G ide vom 1 3 . Januar 1 899 auch biographisch bezeugt. in die eigene. werkimmanente Dialogizität des Cimetiere marin eingegangen ist. Stierle sieht in d ieser impliziten Dialogizität eine spezifische Weise l iterarischer Applikation. die er mit Lhi-Strauss' Begriff des 'bri colage' gleichsetzen möchte. Doch geht der literarische 'bricolage' über die mytho poietische Tätigkeit des 'aus alt mach neu' insofern h inaus. als hier "durch die Aneignung das Angeei gnete in seinem Eigenrecht nicht beeinträchtigt (wird)". Die dialogische Struktur zwischen den beiden poetischen Texten hält nicht allein die Differenz von Aneignung und ursprünglicher Gestalt (est, sondern vermag diese durch den Akt der Aneignung selbst w ieder in ein neues Licht zu rücken. Das angeeignete Thema des ' Großen M ittags' gewinnt in der dialogischen Struktur eine zuvor nicht aktualisierte (in den vorangegangenen Lektüren in der Tat auch nicht beachtete) Bedeutung: "In jenem Augenblick. wo die Sonne in den Scheitelpunkt tritt, scheint für einen unfaßbar kleinen Moment die Welt im Gleichgewicht, die Zeit selbst zum Stil lstand gebracht". Die beiden poetischen Texte konvergieren zunächst in zwei analogen B ildern : als Richtschwert bei Nietzsehe und als midi le juste bei Valery teilt der Mittag " für einen unfaßbaren Augenblick den Tag 'gerecht' in zwei Hälften" und läßt ineins damit den leuchtenden Abgrund des Kosmos als vollkom mene Ordnung erscheinen. Doch von dieser anfänglichen. den beiden Texten ge meinsamen Bedeutung hebt sich sodann ihre Differenz um 30 klarer ab. In einc:r Gegenbewegung, die formal Nietzsches dithyrambische Metaphorik in Momente der wahrgenommenen Weh zu rückversetzt, reinigt Valerys Gedicht im Zerbrechen der forme pensive gleichsam Nietzsches Mythos des Mittags von aller Metaphys ik : "Während de r 'M ittag' in Also sprach Zarathustra als Moment einer Dialektik er scheint, die sich erst im Großen Mittag erfüllt, der zugleich Mitternacht ist, wird bei Valery die Aporie. die Zug um Zug in die Erfahrung des arretierten Augenblicks eindringt, nicht aufgelöst. sondern übersprungen durch die Rückkehr in die körper lich-sin n l iche Existenz . " H ermeneutisch wird m i t Stierles Verfahren zugleich eine Theorie d e r Intertextua l ität korrigiert. die sich derzeit - insbesondere im Gefolge von Julia Kristevas 'Sem analyse' - einer mod ischen Bel iebtheit erfreut. I ntertextualität steht dort unter der Prämisse einer im Fortschreiten der "pratique signifiante" immer nur sich selbst negierenden Sinnproduktion. derzufolge jeder Text nurmehr die Transformation anderer Texte ist, in welcher sich letztlich der 'allgemeine Text' einer Tiefenstruktur : d e r "texte infini" einer K u l t u r manifestiere. Damit w i r d - wie die Aus legungspraxis zu dieser Theorie bestätigt - die Dialektik von Werk und Aneignung auf ein frei schwebendes 'Spiel der Differenzen', die dialogische Kommunikation zw ischen Text, Leser und Autor auf einen vermeintlichen ' Dialog der Texte unter sich' ver kürzt. Demgegenüber bringt Stierle die auch für eine intertextuelle Interpretation unabdingbaren Maximen der literarischen H ermeneutik zur Geltung: einen poeti schen Text in seiner eigentüm l ichen D ialogizität zu erfassen, erfordert zunächst,
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HANS ROBERT JAUSS
seinen Antwortcharakter du rch Rekonstruktion der Fragen zu ermitteln, auf die er in seinem primären historischen Kontext die Antwort war. D ies erfordert in unserem Fall weiterhin, das Spiel der D i fferenzen zwischen Nietzsches und Valerys Version vom Großen Mittag als einen Fall produ ktiver Rezeption zu begreifen, bei dem der spätere Autor als interpretierendes, mithin als fragendes und antwortendes Subjekt den ' Dialog der Texte' allererst ermöglicht. Texte unter sich bleiben so stumm wie Morgensterns Gesang der Fische - um d iesen als einen Gesang der Geister über den Wassern erklingen zu lassen, bedarf es in actu des lesenden und antwonenden Au tors, post festum des fragend verstehenden Lesers.
DFTl.F.F LIEBS R E C HTLI C H E W ü R D I G U N G VON PAU L VAL E R Y S CIMETIt.RE MA R IN
Der Verfasser des Gedichts Le rimeriere marin gibt darin weder sein Alter noch seinen Beruf noch seinen Wohnsitz zu erkennen. A llenfalls könnte man Z. 32 f . : " Aprcs tant d'orgueil, apres tant d'etrange / Oisivete, mais pleine de pouvoir, / J e ( . . . )" entnehmen, d a ß d e r Verfasser z. Zt. keinem Beruf nachgeht, gleichwohl aber ein gutes Auskommen hat. I. Der Verfasser hat sich eines Sommertages zur Mittagszeit (Z. 3: "Midi") auf einen olm Meer gelegenen Friedhof (s. überschrift) begeben mit einem Buch in der Hand (s. Z. 1 40 und 1 42 : " l ivre", "pages"), in dem er aber nicht liest. Er wendet sich zunächst der Friedhofskapelle oder Leichenhalle zu, Z. 1 f. (u. 1 44 ) : "Ce mit tran quille, oia marchent des colombes, / Entre les pins ( . . . ) , entre les tombes . " Von hier aus kann er zugleich den Friedhof und das Meer übersehen, s. Z. 2 (soeben) ; 6: "un long regard sur le calme des dieux", u. 2 1 : "Tout entoure de mon regard marin". Später bewegt er sich an Grabgebäuden entlang, Z. 3 5 : "Sur les maisons des mons mon ombre passe" ; s. a. Z. 63 f . : " Je polis longtemps ( . . . )" / Le blanc troupeau de mes tranq uilles tombes". Im ganzen stellt er Betrachtungen an über seinen augenbl ickl i chen Aufenthaltsort (Strophe 1 -4), s i c h selbst (5-8), seinen T o d (9- 1 2 ) , die hier bestatteten Toten ( 1 3- 1 6 ) und wieder sich selbst in niedergeschlagener ( 1 7-2 1 ) und in unternehmungslustiger Stimmung (22-24). 2 . Da Friedhöfe, wie § 30 Abs. 1 der Friedhofsordnung i . V. m . den olm Eingang 7.um Friedhof angeschlagenen Besuchszeiten im einzelnen ergeben, gewöhnlich den ganzen Tag über Besuchern offenstehen, kann davon ausgegangen werden, daß der Verfasser die Besuchszeiten eingehalten hat und sein Besuch des Friedhofs auch aus keinem anderen Grunde unzulässig war. 3 . Offensichtlich hat er sich auch ruhig und der Würde des Ortes entsprechend verha lten, wie § 31 Abs. 1 FriedhO vorschreibt. Freilich äußert er in den Strophen 1 1 und 1 8 Gedanken, die zumindest als pietätlos z u qualifizieren sind. Indessen gibt es keinerlei Anzeichen, daß er diese Gedanken laut ausgesprochen oder gar ihrer Toten Gedenkende damit belästigt hätte, weshalb auch keine Störung einer Bestattungs feier, § 1 6 7 01 StGB, in Betracht kommt. Die spätere Veröffentlichung d ieser Gedan ken hat mit dem Verhalten auf dem Friedhof nichts mehr zu tun und ist vom G rundrecht der Glaubens -, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) gedeckt. Der Tatbestand der Beschimpfung von Bekenntnissen, § 1 66 StG B, erfor dert, daß die Beschimpfu'ng geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. Man mag als stark empfinden, wenn es in Z. 1 03-108 heißt : "Maigre immortalite noire et
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D ETI.U' L l ns
doree. I Consolatrice affreusement lauree. I Qui de 130 mon fais un sein maternd . " Le beau mensonge et 130 pieus( ruse ! I Qui ne connait, ct qui ne les refuse, I Ce cräne vide ct ce rire eterneI !" . In Anbetracht dessen. was heute auf weltanschau lichem Gebiet alles gedruckt wird. ohne daß die öffentlichkeit daran den geringsten Anstoß nimmt. wird man d iesen Worten jene Eignung indessen absprechen müssen. 4 . Zu prüfen bl iehe aber noch. ob der Verfasser auf dem Friedhof Druckschriften ohne Erlaubnis verteilen wollte, was nach § 33 ZiH. 5 FriedhO verboten ist. Er hatte ein Buch. zweifellos eine Druckschrift. in der Hand. las aber nicht in ihm, sondern ließ es schließlich vom Winde fontragen, Z. 1 42 : " E nvolez-vous. pages ( . . . )". U nter 'verteilen' i . S.v. § 33 Ziff. 5 FriedhO ist jedoch nur die zielgerichtete Oberführung in die Hand eines anderen zu verstehen, insbesondere das Aushändigen. Daran fehlt es hier. Bei Werbematerial, Flugschriften u. dgl. könnte man sich fragen, ob nicht auch das Davonfliegenlassen von dem Verbot des § 33 Ziff. 5 FriedhO erfaßt wird. Das Wegfliegenlassen einer Broschüre, die wie hier zur eigenen Belehrung oder Erbau ung auf den Friedhof mitgenommen worden war, kann einem Vertei len aber keines fal ls gleichgestel lt werden. s . Allerdings ist nach Ziff. 1 0 dersel ben Vorschrift auch verboten, Abfälle an anderen Orten abzulagern als an den hierfür vorgesehenen und gekennzeichneten Plätzen. Unter ' A bfälle' sind in erster linie verwelkte Blumen. Kränze. verbl ichene Kranzschleifen u . ä. zu verstehen, weshalb es zunächst sehr zweifelhaft erscheint. ob auch Broschüren erbaulichen oder belehrenden Inhalts unter ' Abfälle' subsumiert werden können. Eine ontologische Interpretation des Begriffs ' Abfälle' ist jedoch. wie gerade hier deutlich wird, fehl am Platz. Wesentlich im konkreten Regelungszu sammenhang ist, daß keine herumliegenden Sachen. die nicht der Totenehrung die nen, die Würde des Ortes beeinträchtigen. Das täten umherliegende verschmutzte Bücher und Broschüren aber ähnlich wie verwelkte Blumen. Das Wegfliegenlassen des Buches kann nach § 42 FriedhO also als Ordnungswidrigkeit mit Geldbuße bis zu 500.- DM geahndet werden. wobei im konkreten Fall eine Buße von 5,- D M angemessen und genügend erscheint. 6. Gegen den generellen Tatbestand des § 31 Abs. 1 FriedhO, wonach sich jeder Besucher des Friedhofs ruhig und der Würde des Ortes entsprechend zu verhalten hat, hat der Verfasser im übrigen, vom schon gewürdigten vorsätz lichen Sich-seines Buches-Entledigen abgesehen, nicht verstoßen. Ganz gewiß tat er dies nicht. soweit er seinen eigenen Tod und den Tod anderer bedachte (Strophe 9- 1 6) . Aber auch sein in den drei letzten Strophen neu entfachter lebensmut verstößt nicht gegen die Würde des Ortes. mögen des Verfassers Gedan ken dabei auch recht weit gegangen sein, insbesondere sein Wunsch, der Friedhof möge überschwemmt werden. Daß er d ies etwa anderen Besuchern gegenüber in aufdringl icher. die Totenehrung störender Weise geäußert hätte. ist nicht ersichtlich. Bei aller inneren Bewegtheit verhielt er sich ruhig. Z. 1 7 : "0 mon silence! " und 4 6 : "j 'attends I'echo de ma grandeur interne".
RECHTLICHE WÜRDIGUNG VON VALE RYS C I M ETIERE M A R I N
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Il Es bleibt der Friedhof, insbesondere seine Anlage und Ausgestaltung, z u prüfen. 1 . Da der Friedhof am Meer angelegt wurde, erhebt sich zunächst die Frage, ob sein Standort den Vorschriften entspricht. Nach § 2 Abs. 1 5.2 des Gesetzes über das Friedhofs- und Leichenwesen (BestG) müssen Friedhöfe den polizeilichen Erforder nissen, insbesondere denen der Gesundheit, entsprechen. Was dies für einen Stand ort am Meer bedeutet, ist §4 Abs. 2 5. 1 zu entnehmen, wo bestimmt ist, daß Fried höfe nicht in überschwemmungsgebieten angelegt werden dürfen. Wenn der Verfas ser in den beiden letzten Zeilen seines Gedichts die Meereswogen auffordert. "ce toit tranquille", also die Friedhofskapelle oder das Leichenhaus. zu zerstören, und auch schon in Z. 50: "Golfe mangeur de ces maigres grillages" sagte. womit offenbar die Umzäunung gemeint ist, so kommt die Möglichkeit einer überschwemmung. nach dem im ganzen nüchtern prüfenden und nicht zu übertreibungen neigenden Er scheinungsbild, das der Verfasser bietet, zu urteilen. offenbar ernsthaft in Betracht. Der Verfasser wäre dafür, wie nur am Rande zu bemerken ist. nicht verantwortlich : Er hätte lediglich ein Ereignis. das ohne sein Zutun eintreten würde, innerlich bejaht. Auch wegen unterlassener Anzeige einer überschwemmungsgefahr (§ 138 Ziff . 9 i . V . m . 3 1 2 f. StGB) könnte er nicht belangt werden. da d i e überschwemmung vor sätzlich geplant sein muß, abgesehen davon. daß die Gefahr konkret bevorstehen und ilußerd�m Menschenleben oder zumindest Eigentum von gemeiner Gefahr be troffen sein müssen. Der Friedhofsträger - ob es sich um die politische oder die K irchengemeinde handelt, ist nicht ersichtlich - wird also untersuchen müssen. ob tatsächlich überschwemmungsgefahr besteht, und gegebenenfal ls die polizeilich er forderlichen Maßnahmen veranlassen. 2 . Sodann ist zu prüfen, ob § 4 Abs. 1 BestG genügt ist. wonach Friedhöfe nur auf Böden angelegt werden dürfen, die zur Leichenverwesung geeignet und fähig sind, die Verwesungsprodukte ausreichend vom Grundwasser und der Außenwelt fernzu halten. I n dieser Beziehung scheinen die Bedingungt"n auf dem gewählten Gelände besonder!t gut zu sein, wie man den Zeilen 68-70 entnehmen kann, wo es heißt : " L 'insecte net grane la secheresse; / Tout est brule. defait, reft:u dans I'air / A je ne sais quelle severe essence / ( . . . )n; und zusammenfassend noch einmal in Zeile 73 : " Les mons caches sont bien dans cene terre". 3 . Auch dem §2 Abs. l 5. 1 BestG, wonach Friedhöfe würdig anzulegen und zu unterhalten sind. ist im vorliegenden Fall al len Anzeichen nach Genüge geschehen. Die Ruhe des Ones ist in Z. 1 . 64 und 144 hervorgehoben ("tranquille"). außerdem in Z. 6 ("calme des dieux") u . 60: " La mer fidele y don sur mes tombeau x ' ' ' . Geräusche verursacht nur d a s nahe Meer u n d d e r W i n d (s. Z . 4 , 1 2 9 u n d 1 39). w a s d i e Würde d e s Ortes n u r erhöht, s . bes. Z. 2 9 f . , 6 0 , u . 1 30- 1 36. Diese günsti gen Grund bed ingungen wurden durch künstliche Anlagen verstärkt wie Anpflanzungen \"on Pinien (Z. 2) und anderen Bäumen (s. "feuillages" in Z. 49, "arbres sombres" Z. 58 u . "racines d e s arbres" Z. 8 3 ) , b e i denen e s sich um andauernde Gehölze i . S . v. § 1 5
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DETLEF L I EBS
Abs . 3 FriedhO handelt. die, auch wenn sie nicht vom Friedhofsträger angepflanzt worden sein sollten, doch sein Eigentum sind. selbst wenn sie auf einem G rab 5[chcn, Abs . 4 ebd. Daß damit zu rechnen ist. ergeben Z . 8 2 f . , wo von die Verwesung befördernden Kleintieren unter marmornen G rabsteinen und Baumwurzeln die Rede ist. Auf den G räbern sind Blumen angelegt (Z. 87). Abgegrenzt (Z. 55: " ferme") ist der Friedhof, jedenfalls an einer zum Meer gelegenen Seite, d urch einen Drahtzaun, wie Z . SO ergab. Auch wenn eine Steinmauer der Würde des Ortes besser entsprochen hätte. mag ein einfacher Zaun jedenfalls an weniger zugänglichen Stellen wie kleinen Buchten (der Verfasser spricht von "golfe") würdig genug sein. zumal wenn Felsen (Z. 1 4 1 : "des rocs") die Errichtung einer Steinmauer zur eindeutigen Abgrenzung überflüssig oder allzu kostspielig machen würden. 4 . An künstlichen Bauten findet sich anscheinend eine Friedhofskapelle oder Lei chenhalle. da i n der ersten und wieder in der letzten Zeile von einem "toit tranquille" die Rede ist, auf dem Tauben gehen (Z. 1 ), das zwischen den Pinien und zwischen den G räbern 'zuckt' (Z. 2 ) und auf dem die Mittagssonne Lichtscheine wie Feuer aufglänzen läßt (Z. 3). I n Z . 1 3- 1 8 ist von einem Minervatempel die Rede, doch könnte der Verfasser i n d ichterischer Freiheit damit noch einmal jene Friedhofska pelle gemeint haben, so daß beide Gebäude in Wahrheit miteinander zu verselbigen wären ; möglicherweise handelt es sich aber auch u m ein G rabgebäude in der Form eines heidnischen Tempels, das ebenso wie die in Z . 3S genannten " maisons des morts" nach § 13 BestG i . V . m . § 16 Abs. 1 --4 FriedhO nur mit Erlaubnis des Fried hofsträgers errichtet werden d u rfte. Doch kann im konkreten Fall davon ausgegan gen werden, daß d ieselbe vorliegt. S . Außerdem gibt es G rabsteine (Z. S8: "pierre"), insbesondere auch viele aus Marmor, Z. S9 : " tant de marbre" u . 82 : " Iourde de marbres" . Bei beiden A rten von G rabdenkmälern sind die § § 16 Abs. S u . 6 und 1 8 f. FriedhO zu beachten. I nsbeson dere müssen sie dauerhaft gegründet sein, für den betreffenden Grabplatz und zu seiner U m gebung passen und dü rfen den Friedhof nicht verunstalten. Und der G rab benutzungsberechtigte muß das G rabdenkmal in ordnungsgemäßem Zustand er halten. Zusammenfassend ist festzuhahen, daß der Verfasser nach § B Ziff. 10 i . V.m. 42 FriedhO eine Geldbuße von S,- D M wegen Ablegung von Abfällen an anderen als den hierfür vorgesehenen und gekennzeichneten Plätzen verwirkt hat. Außerdem w i rd der Friedhofsträger oder die A ufsichtsbehörde, das zuständige Landkreisamt, überprüfen, ob der Friedhof i n Gefahr ist, überschwemmt z u werden, und notfalls die erforderlichen Maßnahmen veranlassen.
W A lTF.R MAGASS
TH E O LO G I S C H E B E M E R K U N G E N Z U PAU L VA L � RY LE C I M E TI E R E MA R I N
t D e r O r t - D e r B l i c k - D e r Miuag
Für die theologische A uslegu ng d ieses Gedichtes s ind besonders die A nschlüsse von "Sol Salutis" und " Mare amarum" wichtig, wie sie die Kirchenväter für Jesus Chri stuS und die bittere Welt i n die Exegese eingebracht haben. Der Stoff ist dort unterzubringen in einer altkirchlichen Sepulcral -Meditation, es ist eine Reflexion i n der Nähe der E ntschlafenen, mit dem Blick auf das Meer ("Ganz eingehüllt i n meinen M eeresblick", übers. Curtius IV, 3 ) . Daß solche Theorie sich in einem übersichtlichen Bez i rk bewegt, m ach t "Temple d u Tem ps " deutlich. D as begrenzte, befristete Leben wi rd angenommen - das Pi ndar-Motto m ach t das beson ders deutlich : " L iebe Seele, w ü nsch dir kein ewiges Sein" - und der Blick auf das Meer, die Betrachtung des Meeres, sind "mon offrande supreme", Theorie im Mittag der Welt als Gegengabe. Damit diese lokale Einweisung f ü r den Leser aber gelingt, wird am A n fang sofort die Blickgrenze gegeben : zw ischen Pinien und G räbern. Die Ubiqu ität der G räber: " G räber si nd ihre Häuser" (Ps. 49, 1 0). Der Friedhof der Welt in der Nähe des delirierenden Lebens ist dann die Lesart von cimetiere marin. Daß der Blick auf das Meer mehr als bloße Vergebl ichkeit ist, zeigen " recom pense" und "Ie songe est savoir" ( 1 1 , 6). Was einmal geträumt und gehofft wurde, kommt in den Blick, i n den Geschmack ("visible", "savoir" : S . Ps. 3 4 , 9 : "Sehet und schmecket, wi e freu ndlich der Herr ist"). Wir haben hier, umd isponiert, das Prä miensystem der Seligkeit, mediterran gewendet : "Vorrang der Ruh und alles Schau ens Fülle" ( 1 1 1 , 2 , übers. Rilke). Die " Erlösu ngslandschaft" des Südens ( F . Nietz sehe) hat die Merkmale der visio beatifica : die Gemeinschaft der Schlafenden hat eine große Attraktion; sie ziehen al les in den Stillstand des M i ttags. Wie abweichend diese Friedhofskonfiguration auf dem H intergrund der A l tchrist lichen Literatur ist, zeigt " L a mer fidele" (X,6) - wogegen d ie griechischen Epi gramme und die Ki rchenväter das Meer böse, biuer, treulos und dämonisch nann ten l . M i r scheint es, daß w i r i n Strophe X die kosmologische U m besetzung der Verklärung haben : i n Matth. 17 gehörten zur Transfiguration Mose, Elia und Jesus, und Petrus sagt auf d ieser Höhe: d ieser Ort gefällt mir (X,3), wogegen hier Erde, Marmor und Bäume i n Licht gekleidet werden . Zur Abweichung und stilistischen Provokation gehört vor allem auch : d as Meer hat fides-Qualitäten, das Meer hat auch d ie K räfte der Regeneration, Geburt aus Wasser und Geist (siehe Str. X X I I ) . , H . Rahner. Symbole de., K,.,che, Sal7.burg
1 964, S . 272-302.
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WAl.TER M AGASS
Wiedergeburt, Versöhnung sollen stattfinden angesichts der "ewigen Fratze des lee ren Schädels" (XVU I . 6), angesichts von Erde, Wurm und Nager mittels von Wasser und Wind. Diese Wandlung vermag der glückliche Süden herbeizuführen. seine Stille. sein Licht haben erweckende Kraft. Die Sonne ruht selbst über dem Abyss ist das der Tag ohne Ende? Die "causa aeterna" ( 1 1 , 5 ) führt ihre Werke vor - herrlich wie am ersten Tag! Was wir hier vor uns haben, ist die Protologie des Mezzogiorno : der ständige Schatz von Erde, Wasser und Wind. In d iesem M ittag ist alle Bedürftig keit gestillt : der Blick geht nicht mehr von Angesicht zu Angesicht ( 1 . Kor. 1 3 , 1 1 ) , d a s Spiel d e r Figuren von " M i d i le justc" u n d "paix" • v o n "masse de calme" und "Midi la-haut" partizipiert nur noch auf unbestimmte Weise am überkommenen theologischen Sinnvolumen und gibt eine poietische Kombinatorik frei, die gleich zeitig Gabe und souveräne Verachtung ist. H ier gibt es keinen Sabbat, sondern einen vorgeschöpflichen Mittag, " ganz Zeit ohne Ziel" (F. Nietzsche). Der Mensch sollte den Mittags-Mut haben. in dieses heitere Schimmern auch einzutreten, in "scintillation sereine " ; es ist ein A ufstieg: "A ce point pur je monte et m'accoutume" (IV, 2 , S). Auf dieser Höhe hat das Licht die Kraft der entscheidenden Justice, es spricht Recht über ein sprachlos Tiefes, das Züge von Bitternis und Dunkel hat (Vl I I . 5). Licht und Ruhe sind sanative Komponenten der Sonne, sie heilen von der ziellosen Bewegung. So sagt Eryximachos : " Lassen wir die Ruhe wirken, die sie heilen wird von ihrer Bewegung"l. Auf die E lemente von Licht und Meer umgesetzt, haben wir hier das alte agonistische Paradigma, das Gregor der Große so zusammenfaßt : "alle Lehre ist zum Schweigen gebracht worden, seitdem der Herr den Leviathan mit der Angelschnur seiner Menschwerdung aus dem Meer gezogen hat"J. Hier aber ist Minerva anwesend und beschützt D ichter und Handwerker. Im M ittag herrscht die Sonne. "domine de flambeaux" ( X , 3 ) . Sie verwandelt das Widerständ ige in " severe essence" ( X I I , 4). Der Rausch des Nichtseins macht die alte Regel wahr: "perfecta enim vita est mortis imitatio"4. Die begriffene Mimesis ist das Äußerste der Kunst.
2 Die Stille Dem Leser fällt auf, daß i n jeder Strophe ein Referent der Stille/Ruhe genannt wird, manchmal sind es mehrere. Der langsame Blick "sur le calme des dieux" erinnert aber eher an die Züge des Großmütigen, der nur weniges zu besorgen hat, als an die hastenden apostolischen Füße (Nik. Ethik). Friede, Ruhe, Stille - unterstützt immer durch die omnipräsente Lichtmetaphorik - wären aber falsch verstanden als Akzi denzien der geschöpfl ichen Welt. Sie sind Folgen einer doppelten Distanzierung: 1 P. Valrry, Dir Srr/r " n d drr T.II'1Z . Obers. R i l k e . Hamburg 1 962, S. ] 00. I Gregor der Große, MOTldu H, 10 - PL 76,684 . • Gregor der Große, Morldi.J 1 ) , 3 3 - Pl 75, 1 032.
TH I::: O I . O G I S C H F. B E M ERKUNGI::: N ZU L E C I M ET I E R E M A R I N
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einmal ist es der B l ick nach der Differenz von Leben und Tod. Erde, Käfer und Luft sind bis i n den " Rausch des Nichts" ( X I I , 5) ein anderes geworden ; die Verwandlung heißt hier "Bitternis wird süß", und klar ist der Blick des Geistes ( X I I , 6). Diese ('christliche') Lesbarkeit wird religionsgeschichtlich unterstützt durch die "schwei genden Götter", die hinter Licht und Erde verschwinden. Zum anderen ennöglichen die A l l usionen und mythologischen Isolate eine ästhetische Distanzierung, die mit bestimmten Stilmitteln die Kraft der Negativität bezeugen. - Der apophantische Rest bleibt : über aller kreisenden Verwandlung ruht die Sonne über dem Abyss. Das Licht hat hier die Garantiequalitäten für eine Weisung, für einen neuen Tag. Es ist eine magistrale Stille, die den Sterblichen in seine Grenzen weist. Der Geist in seiner Klarheit hat den Ostennorgen hinter sich : er kann beerben und verwandeln. Wenn Ambrosius im Hexaemeron 1 1 1 , 2 3 den B l ick auf das Meer wirft, dann tut er es im aszelischen Sinn mit dem Argument der Psalmen und der Virgil-Exegese: "So ist also das Meer ein stilles Heim der Enthaltsamkeit, eine Schule der Entsagung, ein Asyl des Lebensernstes, ein Port der Sicherheit, eine Stätte der Ruhe im D iesseits, ein Verzicht auf diese Welt". Immer wieder bringen die Väter den Verdacht der Ent grenzung, des Chaos, des Anfänglichen ein und zitieren dann Hiob 3 8, 1 1 : "Bis hierhin und nicht weiter, hier sollen sich legen deine stolzen Wellen", Genutzt wird diese Aussage vor allem zur episkopalen Inspektion und zur Ketzerpolem ik. Exem plarisch ist hier das Wandern des Paradigmas von serein : erst kosmologisch, dann politist:h , dann ästheti�ch, Das ist der Wanderweg der großen politischen Begriffe : Sch ule, Aszese, Ästhetisierung und Kommerzialisierung. Ob es A ufstieg, Auf schwung oder Perfektion ist - wir haben hier ein ideenpolitisches Itinerar im D ienste des Rechtes und des Unrechtsbewußtseins! Isolierung und Devianz ermögl ichen es dem Dichter, die überkommenen semanti schen Anschlüsse in neue Verstehenshorizonte zu bringen : Konstruktionen am Rande des Bewohnbaren, des systeme fiduciaire. wie Valery sagt. Durch die Umbe setzung von paix. calme, aurore und amer wird der aszetische Hintergrund deutl ich : was einmal Hodegetik für Anfänger und Fortgeschrittene war, wird zur Anweisung für den möglichen Leser, die gradus vitae spiritualis von pur. calme. tranquille und savoir auch wahrzunehmen ; aus den monastischen gradus perfectionis sind die Dif ferenzqualitäten des europäischen Symbolismus geworden. Hier also die spezifische Applikation : der Aufschwung mit den Mitteln der mortificatio und des examen conscientiae cotidianum.
3 "Temple du Temps" - die befristete Zeit Nein - Friedhofspoesie ist es wahrhaftig nicht, Edward Young ist fern ! Aber der Theologe. immer bringt er die überl ieferungen zusammen, hört und sieht hier im mer noch den Herrn Erde. Adam, aus der immer bewegten Adama (rn;l1 �). Herr Erde an der alten SchlafSfeIle der Welt, genau ausgemessen : ein " Temple du Temps",
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der noch Kontemplation ermöglicht. Die SchlafsteIle. ein präfiguralcs coemeterium, versammelt alle Laster und Wünsche. die Umsatzgeschwind igkeit der Würmer und Wünsche: "Qucl corps me traine a S3 fin parcsseusc" ( I X , 4). Es ist der nächtliche Adam. der das Toten-Alphabet durchgeht : " Les morts caches sont bien dans cette terre" ( X I I I , I ) . Es ist der Kosmologie treibende Adam. der sich selbst terrestrisch abhanden gekommen ist. der den adventlichen Ruf noch nicht gehärt hat : " Es ist Zeit, aufzustehen vom Schlaf . . . .. (Röm. t 3, 1 1 ). Der Garten von Cassiciacum in Augustins Confessiones (VI I I . X I I , 29) ist die Gegenfigu r : dort ist es der morgend li che Abschied in "amarissima contritionc" vom cimetic"re der alten Welt, der Ab schied von der falschen Aufstiegsfrömmigkeit für einen neuen Tag des Dienstes im Adventus Domi n i : " Descendite. ut ascendatis"�. Die größte versammelnde Kraft haben die G räber und der Altartisch. Valery plü ndert die alten römischen Bestände vom terrestrischen depositum lidei; die cathedra von Sete steht über dem " Stable tresor, temple simple a Minerve, / Masse de calme, et visible reserve" (Str. I I I ) . Es ist eine alte fränkische Memoria, die hier gefeiert wird über den "peres profonds, tetes inhabitees" (Str. XI X). Der Dichter wird zum Geschäftsträger der changierenden . Erde, mit dem Distanzgebaren gegen " maigre immortalite" (Str. X V I I I )'. Der " cräne vide" macht nicht nur lachen, er bringt den Dichter in die Sammlung des Selbstbesit zes. Wie man auf dem cimetiere vernünftig bleibt angesichts jener 'Hydra', wie man in die Tageshelle geht, das zeigen Str. X X I I I und XXIV. Der Dichter wird von den "delires", den alten Geschichten und der Hydra des Meeres provoziert und heimge sucht. So wie Leviathan läßt er sich nicht schrecken : "Er sieht allem ins A uge. was hoch ist ; er ist König über alle stolzen Tiere" ( H iob 4 1 , 26Y. Das ist Selbstbewahrung unter den Bedingungen der Gräber! Der Leser mag es seltsam finden: auf dem cimetiere bedarf man eines Wegweisers, bedarf man des Gedächtnisses. I m Gespräch beginnt der Austausch, denn Vater und Bruder beginnen zu sprechen. Die Gestalt dieses Gesprächs kann dialogisch sein, kann aber auch auslaufen i n einer oratio pro defunctis. Und was den Ägyptern das hermeneutische Totenbuch war. das ist dem Dichter hier der " Iong regard", die . theoretische Aneignung des " Etre ! Universelle oreille! . • . Wer will denn hier noch entscheiden, wer was zu sagen hat : Analogien tun sich auf. Antworten und Fragen gehen hin und her! "Simil itudes amies / Qui briUez parmi les mots ! " . Sonne und Meer mit ihren semantischen Adjuvanten besorgen hier die Orientierung der Nekro polen. Sind wir hier oder dort? Sind wir Hiesige?
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Co,,,. I V . X I I , 1 9. S. auch dic.- Korrc.-klur dc.-, Suchvc.-rhalu:n s : "bulam vilam qu:u:rim In regionc: mur u \ : non c.-sl illic". ( F. bd . I V , 1 8). G . Buck hai �i("h in 'iC'lnc.-m Bcilra� "Ober c.-inigc: Schwic.-rigK,c.-ilc:n . . .... Kap VII, in d,C"Sc.-m Band S. 297ff . • da.r.u gdultc:n. , Auch Tc.-:1I auf Hubbc.-' Buch Lrvw,h ..n ( 1 6 5 1 ) . I Im Gc.-dichl A " r-o ,.,. V I . S. au("h G . v a n d c: r lc:C'uw, PhoinomtnoJoglt Jt, RtJig,on, Tubingen 1 9J 3 . SS 46, 2 ; 47, 1 .
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THEO LOGISCHE BEM ERKUNGEN ZU LE C I M ET I E R E MARIN
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Der G ang zum Grab ist Gespräch und Speisung, Teilnahme und Opfer. Der Sessel für den Toten sollte seine liebste Beschäftigung hier in der Gemeinschaft der Familie fortsetzen. Man sagte : N . N . iB, trink und sei fröhlich ! Der A ustausch der Speisen und Worte festigt das Gedächtnis der Toten und den Reihendienst der gegenwärtig Lebenden'. Das ist Versöhnung im ursprünglichen Sinn. Der Dichter steht in der 'Liturgie' der Tauschfähigen, derer, die den A ustausch aller D i nge auch begreifen und besingen; Erde, Licht, Würmer und Nager tätigen den Tausch bis zu den Blumen (XV,}). 4 Der Rausch des Nichtseins - eine Epiphanie (Str. XII) Viele Interpreten haben versucht, "absence", " ivre d'absence" zu interpretieren. Mir geht es hier um die spekulative Bemühung des D ichters, ad tumbas einen Weg zurück zu finden. über die artifizielle Konstruktion des Dichters 5011 die vorweltli che Rekonstruktion "Gefügt aus Gold, aus Stein und d unklen Bäumen" gelingen. Was bei den Vätern die Vergew isserung durch den commercium spirituale, den Dialogue des Morts, das wird unter dem Dach von Sete nach der kalkulatorischen Poetik zu einer "severe essence" (X I I , 4). Das Leben wird in solchem Blick zur Allgegenwart ; d ieses Leben wird aber nochmals überschritten, trunken zurückgelas sen. Ist es der H immel des spleenhaften anywhere out of the world ? Ist es das " I ch möchte da sein, wo ich nicht bin . . . ?" Der cimetiere schafft nicht nur Distanz und Verwand lung, Austausch der Schla fenden und Wachenden. ein commercium dandi et accipiend i für Sonne und Meer; der cimetiere ist die heutige Weise, mit Memoria würdig, Tod und Leben zu über schreiten. Was die Sc.'" p.r.disi 1 0 für die perfectio spiritualis der griechischen Kir chenväter, mit ihrer fuga saeculi und den gradus perfcctionis war, das ist für Paul C l imacus alias Valery, der Durst nach der "toute-puissance du nCant". H ier ermög l icht der B l ick solche Hesychia; der rad ikalisierten Mystik geht es um die Absage an das Meer der Welt. Was lehren die Tauben auf dem Dach? "So wie ohne Mi lch das Kind nicht ernährt wird, so wird ohne Apatheia das Herz nicht erhöht", 50 Evagrius Pont icus zu den Mönchen (MG. 40, 1 280). Die Okonomie der Affekte fällt im Ge dicht bemerkenswert auf! Zu welchem Zweck ? 5 Mit Pindar Jasagen? Oder besser: mit Valery nein sagen ! Denn Friedhof . m Mur ist mehr als eine Liturgie des Med iterrane n : den Toten und dem Meer gegenüber sich vernünftig, sehend , z u behaupten. ist schon eine Herausforderung! Ich möchte hier kurz die �
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WALTER MAGASS
Voraussetzung offenlegen, daß der Dichter sich dem falschen Trost. der Lüge und dem frommen Betrug, nicht ergibt : "Qui ne connait. C l qui ne les refuge I Ce cräne video Cl ce rire eternel ! " (Str. XVIII). Die sonderliche Erfahrung in der Alten Welt mit der christlichen Predigt war die. daß Peuus und Johannes. daß "idiotai ct illite rati" Parrhcsia haben (Apg. 4 , 1 3). Darüber waren Zuhörer und Zuschauer erstaunt. Das "rire eternd" ist zum Osteriaehen geworden. Weder Polis noch Machwerk der H ände noch Welt können d ieser apostolischen Parrhesia standhalten. Der Vorwurf des Celsus, solcher G laube führe 'eine Welt ohne Nomos' herauf. sei eine Stasis und ohne autoritatives A lter. verkennt den Beweis des Geistes und der Kraft ( 1 . Kor. 2 , 4 ) eben d ieser " idiotai et illiterati", verkennt die verpflichtenden Oberlieferungen der Gemeinde, die Kraft und Weite des Blicks, ohne Scheu auf den Himmel und das Meer z u schauen und den cimetiere mit anderen zu betreten. Der Rat des Octavi u s : "satis e s t p r o ped ibus aspicere . . . " ; " indocti. impoliti. ru d e s et agrestes" verstehen nicht einmal die civilia, noch weniger die himmlischen Dinge! D ieser Rat ist von den Christen manchmal, aber i n aller Weltfremde nicht immer respektiert wordenl 1 • Sol oriens oder sol occasus. sie ist immer gegenwänig und macht den Midi glücklich ; sie ruht herrschaftlich über dem Abgrund. Das Sehen und Wahrnehmen ist auch schon ein Haben, ein Teilhaben.
I L Minucius FeI,J., Ocroll ll '.J, C.1p. 12, Stuug.1n 1 976.
WO LFHART PANNENBERG
DER CIMETI l R E MA R I N A LS R E L I G I O S E D I C HTU NG
Es scheint mehr als gewagt, Valerys Gedicht als eine religiöse Aussage zu deuten. Dagegen spricht nicht nur die antimetaphysische Einstellung seines Autors, sondern auch speziell das Pindar·Motto, das er diesem Gedicht vorangestellt hat und das zur Abwendung von der Suche nach dem ewigen Leben zugunsten der Aufgaben des D iesseits aufruft. Dennoch verbindet sich die Selbstreflexion des Gedichts gleich zu Beginn mit Anspielungen auf Götter und Tempel, und in der fünften bis siebenten Strophe erfährt sich das Ich als das Opfer, das in dem "Temple du Temps" ( 1 9) dargebracht wird, u nd will sich selbst, obschon in der Gebärde eines "dedain sou verain". als Opfer darbringen. Führen die folgenden Strophen sprachlich wie sach· lich über diesen Ausgangspunkt hinaus, so sind sie doch durch ihn bedingt und bleiben auf ihn zurückbezogen. Der zu Beginn angeschlagene Orgelton kl ingt in allen späteren Wendungen der Melodie nach und gibt ihnen eine H intergründ igkeit, die ihnen sonst abgehen w ürde. Es hieße oberflächlich uneilen. wollte man in den religiösen Anspielungen der ersten Strophen des GeJi.:hu, nur dekor,nive Äußerlich· keiten erblicken. Gewiß stehen nicht Götter, Tempel und Opfer im Zentrum des Gedichts, sondern das lyrische Ich. Aber dieses Ich wird erst durch den Bezug auf eine religiös überhöhte Natur der Banal ität enthoben. Dadurch gewinnt sogar die Abwendung von der bewegungslosen Mittagsewigkeit noch einen Tiefgang. der der H i ngabe an den bunten Wechsel des Lebens ja nicht überall und immer schon eigen ist. So scheint es, daß Valery bei aller intendienen Emanzipation von Religion und Metaphy sik durch sein ly risches Pathos beiden nicht weniger verhaftet geblieben ist als Nietzsche. Wie läßt sich der religiöse Bezug des Gedichts genauer bezeichnen? An keiner Stelle ist er irgendwie christlich akzentuiert. wie es bei einer Friedhofsmeditation doch kei neswegs überraschend wäre. Ihr antikisch·med iterranes Kolorit ist gerade durch die Form ihrer religiösen Anspielungen mitbedingt. Die Interpretation wird allerdings auch das vom Autor zweifellos bewußt übergangene - also die christl iche Form des religiösen Themas - als solches mitberücksichtigen müssen. Die Anspie. lungen auf Antikes sind ja nicht Ausdruck einer ungebrochenen Kontinu ität, son· dern greifen zurück hinter den religiösen Kontext, dem der Dichter selbst angehört. Daß dieser Rückgriff mit beschwörender Eindringlichkeit erfolgt, die unm ittelbares Erleben suggerien. ändert daran nichts. Der C;mt't;ert' Marin ist sicherlich kein christliches Gedicht. Seine religiöse Orientierung läßt sich nicht einmal als häretisch. sondern a l lenfal ls nur als apostatisch kennzeichnen. Doch gerade so stel lt das Eintre· ten in die Stimmung antikisierender philosophischer Religion ebenso wie die Ab·
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WOLFHART PAN N E N B ERG
wendung von ihr im Fortgang des Gedichts zugleich eine stillschweigende Auseinan dersetzung mit dem Christentum und seinem Gottcsverständnis dar, die Gegenstand theologischer Reflexion werden kann. I m Gegensatz zum trad itionellen christlichen Gotttesverständnis ermöglicht es das antike, im Erlebnis der Natur unmittelbar der göttlichen Wirklichkeit innezuwer den. Dem mythischen Bewußtsein ist die Natur transparent auf ihre göttlichen Gründe und Abgründe. Solche visionäre Unmittelbarkeit konfrontiert das lyrische Ich Valerys im Erleben der Natur als einer gegenständlichen Welt mit sich selber, indem ihm in der numinosen Ahgründigkeit von Sonne und Meer zugleich die Frage nach Bestimmungsgrund und Leitbild des eigenen Daseins begegnet. Die religiös visionäre Stimmung der M ittagsstunde auf dem Friedhof am Meer läßt die G renzen von Subjekt und Objekt verschwimmen und gerade so das Ganze des eigenen Da seins thematisch werden. Die Gegenwan des Todes in den Gräbern rings umher gibt die Veranlassung dazu, bildet aber nicht mehr als eine Fo lie für die Wahrnehmung der mythischen Sprache von Sonne und Meer. Das Gegenüber von Sonne und Meer als mythischer Potenzen gehön natürlich nicht nur dem momentanen Erleben an, sondern hat seinen H intergrund in mytholo gischer Trad ition. Das Meer ist bei Valery nicht so sehr Symbol des Chaotischen, wie es im altorientalischen Mythos erscheint. Es steht hier vielmehr für das Wechselnde, dabei stets sich Erneuernde (4). Der Tageshimmel erscheint als " Lichtraum" (34) der ewigen Ruhe der Götter. I n ihm ruht die Sonne herrschaftlich über dem Abgrund des Meeres und ihren Werken ( l O t). Es ist nicht der christliche Sol salutis, denn sein Strahlen wird nicht als lebensspendend und heilbringend erlebt, sondern als unnach sichtig verzehrendes Licht (39), dem das Leben preisgegeben ist (37) und dem es sich in souveräner Verachtung der Götter selber als Opfer darbietet (34ff., vgl . 2 2 u . 29). Der Mittag oder auch die Mittagssonne ("Midi la-haut") wird zum Bild der wan dellosen Ewigkeit als Aufhebung der Zeit und der Bewegung (75). Darin, daß dies(" verzehrende Wirkung der Sonne sich auf alles Vergängliche gleichermaßen erstreckt, liegt ihre Gerechtigkeit (3 u . 38). Es ist die eleatische Ewigkeit des wahrhaft Seienden im Unterschied zu der Ewigkeit des ruhelosen Wandels selber in seiner U nendlich keit. Schon die ägyptische Sprache und Mythologie hat diese beiden Grundformen von Ewigkeit unterschieden. Die der Sonne und des M ittags ist die zeitlose Ewigkeit, in der "die Zukunft träge wird" (67). Valery berührt sich hier, wie K. Stierle gezeigt hat (in diesem Band S. 3 1 1 H.), mit Niet7.sches Mittagsphilosophie, aber ähnlich wie Nietzsche bleibt er bei der Mittagsewigkeit nicht stehen. Wird sie bei Nietzsche zu einem momentanen Erleben auf dem Wege Zarathustras herabgesetzt, so tritt ihr bei Valery das erlebende Ich selber entgegen : "Je suis en toi le secret changement" (78). Die dreizehnte Strophe, die mit diesem Satz endet, wird durch ihn zum Wendepu n kt des Gedichts. Die Bewegtheit des Ich selber (79ff.) wirft die Frage nach der Bedeu tung des Vergänglichen angesichts der Ewigkeit auf. Sie läßt sich auch d urch den Blick auf die Toten, die auf die Seite des leblos Unbewegten hinübergegangen s i nd (84), nicht mehr beirren. Im Gegentei l , die Affinität der bewegungslosen Mittags-
D E R C I M ET I E R E MARIN A LS RELICIÖSE DICHTUNC
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ewigkeit m i t dem Tode läßt erst richtig bewußt werden, daß der Lebende einer andern Macht gehört. Der Gedanke an den Tod führt nicht zu Vorstellungen von Unsterb lichkeit und Auferstehung. Solche Bilder werden als Täuschung beiseite geschoben ( 1 03 ff.), und dementsprechend zielt das Gedicht nicht auf eine Einbeziehung des Vergänglichen in das Ewige, sondern auf Parteinahme des Lebenden für das Leben gegen die bewegungslose Ewigkeit der Sonne, die ihm an die Seite des Todes rückt. Die ruhelose Unendlichkeit des Meeres gewinnt die Oberhand in ihm gegenüber der zeitlosen Ew igkeit der Sonne. Vom Meer her kommt der Wind ( 1 30), dem sich die Seele verdankt. Mit alledem erfolgt eine Umwertung der mythischen Potenzen von Sonne und Meer. Das Meer ist nicht mehr die durch die Schöpfung der Welt zu bändigende Chaosmacht (Ps. 89, 1 0 ; 74, 1 3 ff.), aus der nach der Daniclvision (Dan. 7 , 2 ff.) die Weltreiche emporsteigen, und die Sonne stellt nicht mehr die schöpferische göttliche K raft dar, von der Leben und Heil kommen, wie auch die alten Christen glaubten, indem sie Christus als die Sonne des Heils verehrten und das Fest seiner Geburt auf den Tag der Geburt der Sonne, den 25. Dezember, verlegten. Bei Valery ist die Sonne erstarrt z u m Sinnbild der bewegungslosen Ewigkeit, und das Meer gilt ihm nun als Quell des Lebens und seiner Erneuerung. Unbewegte, zeitlose Ew igkeit hatte zwar schon die platonische Tradition dem im Bilde der Sonne dargestellten göttlich Guten zugeschrieben, aber dennoch in seinem Lichte den U rsprung von Leben und Heil gefund en. De� darin liegende eleatische Ewigkeitsgedanke bietet nun die Handhabe der Umwertung, die das Licht der Sonne als verzehrend begreift und ihre Ewigkeit in der Nachbarschaft des Todes erbl ickt. Diese U mwertung richtet sich unmittelbar gegen die parmenideisch-platonische A u ffassung des Göttlichen, aus deren 1.eitloser Ewigkeit das Vergängliche und Wechselnde ausgeschlossen blieb. Sie trifft damit aber auch - und sicherlich nicht unbeabsichtigt - die traditionelle Gonesvorstellung der christlichen Theologie, d ie durch diesen Gedanken der zeitlosen Ewigkeit tief geprägt worden ist. Die Verknüp fung d ieser Ewigkeit u n d ihres Gottes mit d em Tode h at etwas Ungeheuerliches, und dennoch wi rd christliche Theologie sich selbstkritisch fragen können, ob Valery hier nicht recht hat. Sie kann sich dieser Frage stellen, weil sie jenen parmenideisch platonischen Gedanken einer zeitlosen Ewigkeit als überfremdung des bibl ischen Gottesverständnisses erkennen kann. Der gesch ichtlich handelnde Gott der Bibel ist nicht in jene zeitlose Unbeweglichkeit festgebannt. Er kann sich sogar sein eigenes Tun gereuen lassen (Gen. 6 , 6 ; vgl. 8 , 2 1 u. I. Sam. 1 5 , 1 0 f . u . 3 5 ) 1 . Vor allem aber überläßt er nicht die vergängliche Welt ihrem Gegensatz zu seiner Ewigkeit. Der christliche Zentralsatz der Menschwerdung Gottes sagt eine Verbind ung des Ewigen und des Zeitlichen aus. die in Gott selber begründet sein muß.
, Siehe d17.u J. J eremiu, D,e R eue GotteJ - AJpeltu "ltUJtllme",l,cher GotuworJullung, 1 975, wo aber neben solchen Grcnuuu.1gen .InJere hervorgehoben werden (wie I. Sam. t s, 2 9 ; Num. 2 1 , 1 9 ; Ps. 1 1 0 . 4), Jie die " U nbereubarkeit" Jer jetzt giJhigen HeilsseU':ungen J ahwes betonen.
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Daran ist Valery vorübergegangen. Der unversöhnte Gegensatz von Meer und Sonne, des unablässig Wechselnden und des unbewegt mit sich Identischen, bezeich net wohl den Punkt der größten Ferne VaJerys vorn christlichen Gottesverständ nis. Mit der Option für eine der Seiten dieses G egensatzes, nämlich für das Meer und gegen die Sonne, scheint Valerys Gedicht das A usschließende des Gegensatzes selbst z u bestätigen. Vielleicht liegt hier auch der tiefere Grund für seine Abweisung jeder U nsterb lichkeit, die als A uferstehu ng auch das Vergängliche in die E w i gkeit einbrin gen könnte. Oder gibt es doch einen A nsatzpunkt dafür. daß Valery es bei dem Gegensatz von Meer und Sonne nicht bewenden lassen wollte? A m Ende der vor letzten Strophe spricht er von der ruhelosen U nendl ichkeit des Meeres - der " H ydre absoluc" - als einem Tumult. der der Ruhe gleicht ( 1 39). W i rd hier die coincidentia oppositoTum ausgesprochen? Werden Ruhe und Bewegung als in einem letzten Grunde zusammengehörig erkannt? Daß Valery an der christlichen Versöhnung von E w igkeit und Zeit vorüberging, kann christliche Theologie ihm schon deshalb nicht zum Vorwurf machen, weil sie selber die i m I nkarnationsgedanken cnthaltene Versöhnung von Ew igkeit und Zeit in ihre r Gotteslehre zu wenig bedacht h at . zu seh r dem eleatischen Ewigkeitsgedanken verhaftet geblicben ist. Erst die j ü ngste Diskussion u m die Trinitätslehre als zusam menfassende Formel des du rch I nkarnation und Kreuz Christi modifizierten Goues verständnisses versucht. das Verhältnis Gottes zur Geschichte wieder i n den Goues gedanken selber einzubcziehen. Sie würdigt dabei in neuer Weise Hegels Gedanken der U nendlichkeit Gottes, die i n ihrem G egensatz zum Endlichen nicht stehen bleibt. sondern diesen Gegensatz zugleich übergreift. Warum sollte die Theologie nicht auch i n Valerys Protest gegen eine E wigkeit, die Veränderung und damit Leben von sich ausschließt. ein gleichgerichtetes Bemühen erkennen können?
G ÜNTH F. R BUCK O B E R E I N I G E S C H W I E R I G K E IT E N B E I M V E R S U C H , D E N C 1 M E Tl t. R E MA RIN Z U I NTE R P R ETI E R E N
lebe hoch d i e tiefere Deutung. bloß Eukte� iSI vom Obel! Hoch die philosophische Hliutung. Schlilung d ichterischer Z w iebe l ! (Fr. Th. Vischer. Faust. der Tragodie dritter Teil. Nachspiel. Geung der Sinnhubcr. Su. I )
I A nfangsschwierigkeiten A Der Verfasser einer Abhandlung über den Cimetiere Marin sollte redlicherweise beginnen mit einer Vorbemerkung über die Schwierigkeiten, d ie ihn bei seinem Beginnen einschüchtern : Erstens, der C. M. ist nicht gerad ezu repräsentativ für Vale rys poetisches Werk. D iese Feststellung resultien aus der Wahrnehmung der philo logischen Pflicht, ein bestimmtes Werk eines Autors nicht ohne jede Rücksicht auf dessen andere Werke z u verstehen. - zudem aus der Wahrnehmung einer anderen philologischen Pflicht. das Selbstverständnis eines Autors ernst z u nehmen. wenn auch nicht gerade für einen verbindlichen Maßstab der Deutung zu halten. Der C. M. ist indessen, wenn auch nicht repräsentativ. so doch symptomatisch für Valerys Poesie. Au s all dem folgt zweitens. daß im folgenden nicht ei nfach die I nterpretation eines als ebenso schwierig geltenden wie berühmten Ged ichts zu erwarten ist . Text auslegung i m herkömm l ichen Sinn also. sondern eher ein Kommentar über einen Werkzusammenhang. für den der C. M. eine bestimmte symptomatische Funktion besitzt. nieses V('rfahren w i rd zusätzlich bestärkt d urch einige U m ständ e : den Umsund . daß es den C. M., nämlich eine fertige Version d ieses Gedichts eigentlich nur infolge gewisser historischer Zufälligkeiten gibt und infolge einer natürlichen Ermüdung des Autors. seiner Unlust. etwas seinem Wesen nach nicht Vollendbares von Ausgabe zu Ausgabe umzuarbeiten. - ferner durch den U mstand, daß Valery jenen ersten U m stand sehr einleuchtend glossiert hat ; endlich aber durch den U m stand. d a ß d ie Valery -Philologie s c ho n seit langem einige bedeutende I nterpretationen des C. M. kennt. die alsbald von Valery selbst mit prinzipiellen Argumenten z u Exempeln eines unbedachten Beginnens degradien worden sind. Nach den Exegesen von Alain und Gustave Cohen und Valerys darauf antwortenden. teils ergänzenden. teils schaden froh- kritischen Glossen über Komposition und Gehalt des C. M. - spätestens also seit dem Jahr 1 93 3 . i n dem Cohens Exegese mit Valerys Von..ort erschienen istl -
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GÜNTHER BUCK
kann die Valery- Philologie das Verfahren der I nterpretation einzelner Gedichte. und vor allem des C. M., ohne die Rücksicht auf Valerys 'theoretische' Schriften eigent lich nicht mehr unbehelligten Gewissens praktizieren. Sie muß hier auf diesen, wie ('5 scheint, höchsten Triumph phi lologischer Kunst : einen Text hauptsäch lich aus ihm selbst verständlich zu machen, verzichten zugunstcn einer Analyse der Funktion dieses Gedichts im Zusammenhang eines Entwurfs, der sich nur im G esamtwerk Valerys fassen läßt. Die Leistung phi lologischer Kunst besteht hier darin, eine I nter pretation zu liefern, die verständlich macht, inwiefern der C. M. nicht ohne weitere Rücksichten und zutraulich zum Thema einer ' immanenten' I nterpretation gemacht werden kann. Es folgt also eine Interpretation, deren Thema die U nmöglichkeit einer derartigen Interpretation ist. D ieses für die naive wie für die methodische hermeneu tische Einstellung zu nächst unerwartete Verfahren führt eine Applikation mit sich, die nach Art und I nhalt ebenso unerwartet ist.
I I Anfangsschwierigkeiten B Die Schwierigkeit, den C. M. zu interpretieren, ja die Unmöglichkeit, ihn. für sich genommen, in hinlänglicher Weise als Werk des Autors Valery zu interpretieren, hängt damit zusammen, daß Paul Valery ein eminent antihermeneutischer A utor ist, d . h. ein Autor, der konsequent die Möglichkeit, poetische Texte - zumal seine eigenen! - zu 'verstehen', zu leugnen und mit den Argumenten dieser Leugnung die Möglichkeit, poetische Texte als 'Wirksame Texte zu konstru ieren. zu begründen versucht hat. Er hat dabei nicht nur eine Theorie von der Unmöglichkeit geliefert, Poesie als Poesie durch Verstehen von Sinn adäquat zu aktualisieren, sondern sich in auffallender Weise auch praktisch an das gehalten, was er sich da gedacht hat. Er hat nicht nur ästhetische Reflexion, dieses in der Regel nachträgl iche und für den Poeten eher hinderliche Moment, umgesetzt i.n das Vermögen ästhetischer Konstrukti.on, sondern dabei auch darauf geachtet, daß seine sprachlichen Konstrukte seiner Refle xion über die poetische Sprache innerhalb gewisser kontrollierbarer Bedingungen nicht widersprechen. Der C. M. ist dafür Zeugnis, und unter Valerys großen Gedich ten vorzüglich er. Valery selbst hat auf diese Beweisfunktion des C. M. au fmerksam gemacht. Valery, der antihermeneutische Denker par excellence . . . Das bezieht sich auf eine Position, die Gadamer zu Recht als Valerys "hermeneutischen Nihilismus" denun z ien hatl. Wir lesen in der Tat in den Bemerkungen zu A l ains Kommentar zu Charmes; "Mes vers ont le sens q u 'on leur prete"', und das meint : sie sind deshalb bel iebig interpretierbar, weil ihr Autor in ihnen nichts Bestimmtes hat sagen 'Wollen. Z H .• G. GadamC'f, W.hrlnit .. nd Mtthodt. Tübinl];tn 1 960, 5. 90. , U",wrt's I . hg. J . H y f iC'f, Pam 1 957, 5. 1 509 (DiC' bc:idC'n Bändt dC'f a..."rtl wtfdtn im ful gC'ndC'n 1uien m i l Anl];abe v o n B a n d - und SclfC'nzahl, al50 z . B . : I , 1 509, 11, 8l).
SC H W I E R I G KEITEN. DEN C I M ETIERE MARIN ZU INTERPRETI EREN
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Sie enthalten überhaupt keine bestimmte Meinung, kein wohldefinienes Intenturn. Sie sind beliebig interpretierbar, weil sie auf kein derartiges Thema, auf keinen derartigen Gegenstand bezogen sind . Poesie vermittelt keine Botschaft, sie besteht nicht aus eindeutigen Aussagen. Eben d iese Vieldeutigkeit macht sie zum Gegen stand von Interpretationsversuchen! Aber Interpretation ist auch eben deshalb eine Bemühung im U n gefähren, schon als Versuch heillos. Die A rgumentation d ieses hermeneutischen Nihilismus ist jedoch sekundär. Sie steht bei Valery im Zusammenhang eines Entwurfs, der in der Neuzeit singulär und dennoch symptomatisch für die Geschichte des neuzeitlichen Denkens ist. Valerys antihenneneutisches Denken ist Moment eines antiphilosophischen Denkens mit ästhetischer, d . h . i n Valerys Terminologie: pO'i etischer und po'ietologischer Motiva tion\ Die hermeneutische Situation angesichts des C. M. ist deshalb so prekär, weil Valery dieses Gedicht ausdrücklich zum Demonstrationsfall für diesen selbst wie derum ph ilosophischen Entwurf seines antiphi losophischen Denkens gemacht hat und weil es durchaus wahrscheinlich ist, daß der C. M. eigens im H i nblick auf eine solche Demonstrationsfunktion konstruiert worden ist. Für diese Annahme spricht die im trivialen Sinn 'philosophische' Thematik des Gedichts, die es erlaubt, Philoso phiegeschichte (Lukrez, Zenon von Elea) poetisch zu verbrauchen. Freilich : eine Antiphilosophie, die - eine eigenartige Version des Theorie-Praxis Problem s ! - die Möglichkeit philosophischer Wahrheit leugnet zugunsten ästheti scher Wirklichkeit, - eine solche ästhetische oder po'ietologische Reduktion der Philosophie ist notwendigerweise selbst Philosophie. Sie realisiert ihren eigenen Bankrott dadurch, daß sie gegen die Möglichkeit von Philosophie überhaupt argu mentiert. Und ebenso bewegt sich der Versuch, sprachlich - ästhetisch = theoretisch und po'ietisch = produktiv - die Möglichkeit von Interpretation zu widerlegen, im Horizont von Interpretierbarkeit überhaupt. Ich werde im folgenden 7.unächst die soeben genannten drei Aspekte skiZ7.ieren : I ) Valerys i n bezug auf den C. M . entwickelte Antihermeneutik; 2 ) die umfassende, Valery lebenslang beschäftigende Antiphi losophie, die am Ende als "Po'ietique" ( Lehre vom d ichtf'rischen Machen) formul ierte Philosophie der ästhetischen Reduk tion der Philosoph i e : eine tendenziell sich zuletzt in ästhetischer Prax is selbst aufhe bend e Theorie von der ästhetischen Aufhebung aller Theorie ; 3) die poetische (' po'ie tische') Sel bstanwendung dieser Antiphilosophie.
111 Antihermeneutik
Valery hat seine Anti hermeneutik unter anderem in einem Text begründet, der sich auf G ustave Cohens Exegese des C. M. bezieht� und die Legitimität von Cohens •
Zli 'puiCli�ch' ( " puietiqllC''') \'gl. I . du C""etim Man,,".
\ " A ll ' lI J C' l
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G ÜNTHER BUCK
Interpretation ebenso wie jeder anderen mit einem simplen semantischen Argument negiert. Dieses Argument opcrien mit einem Begriff von sprachlicher Kommunika· tion, der darauf hinzielt, die Kategorie des sprachlichen Sinnes aus der Definition der poetischen Sprache völlig auszuschließen. Es läßt sich folgendermaßen resümieren : Es ist das Wesen der Prosa, etwas zu bedeuten (signifier) "seIon la convention du langage" ', 'Bedeuten' heißt: etwas Bestimmtes meinen, angesichts dessen das Bedeu tende verschwindet. I m Akt des Verstehens löscht sich der sprachliche A usdruck angesichts des von ihm Gemeinten seihst aus, bis zum Vergessenwerden. Wer das Gesagte verstanden hat, der läßt den Wortlaut als M ittel fallen, sobald er bei der gemeinten Sache angekommen ist oder zumindest den Punkt erreicht hat, wo die sprachlichen Operationen übergehen in den Vollzug realer Operationen. Indem ich mich auf den Gebrauch der Mittel der Prosa verstehe, verstehe ich die Weh der Erfahrungen und der Operationen immer mit. Deren Gebrauch ist das wahre Ziel sprachlicher Verständ igung. Der umgangssprachliche oder w issenschaftssprachliche Zugriff ist ein gekonnter Griff in einer unzweideutigen Welt der Pragmata, d . h. der Dinge, die wir primär im Zu-tun-Haben verstehen. Die Sprachnatur d ieses Zugriffs hat kcinen Eigenwert. "L'univcrs pratique se reduit a un ensemblc de buts. Tel but aucint, la parole expirc"7, Wissenschaftliche Präz isionssprachcn s ind Icgitimicrt durch d iese aller Prosa eigene Qualität, dadurch verständ lich zu sein, daß sie vor dem Gemeintcn bzw. dem indizierten Handlungsschema ihren Sprachcharakter ver schwindcn lassen, Daß man dasselbe auf verschiedene Weise sagen kann, zeugt nicht davon, daß sich die Sprache i n ihrem Eigenwert geltend macht, sondern davon, daß die einzelnen Ausdrücke als Funktion in ihrem Effekt verschwinden8• übrigens kann Sprache nur dann als auf diesc Weise rein funktionierend verstanden werden, wenn 'Bedeutung' und 'Sinn' als gänzlich definit, als gegensti.indlicher Sinn behandelt wer den, der semantisches U ngefähr und Zweideutigkeit ausschließt, Prosa ist im Nor malfall eine Rede, die etwas Bestimmtes sagt, weil sie es sagen w i l l . Diese semantische I ntention i s t j edoch nicht konstitutiv für einen poetischen Text, Er geht nicht i n der Funktion auf, einen bestimmten gegenständ lichen I nhalt zu aktualisieren, So gehört die Kategorie des gegenständ lichen Sinnes nicht zu den Charakteristiken poetischer Texte, und man kann deshalb von d iesen sage n : "il n'y a pas de vrai sens d'un texte. Pas d'autorite de I'auteur"", A u torität kann er näm lich nur beanspruchen, wenn cr etwas Bestimmtes mitteilen 'U,'iII, - Dafür macht sich die poetische Sprache als Sprache i n ihrer jeweiligen Besonderheit geltend . Hier ein WOrt durch ein anderes ersetzen, heißt nicht etwa, dasselbe anders sagen, sondern etwas ganz anderes tun! Die Sprache macht hier ihre physische Eigennatur als solche, als Wortlaut und ' Form' geltend, Charakterisiert man die Mitteilungsfunktion der Prosa durch das Verschwindcn des Sprachlichen in dessen ' Effekt', dann läßt sich analog " "Cu 1.1 pro\c §()u \ ·cntenJ wUJuurs I · u nl\· ... u J(' I'cxprri('ncc t ' ( J ... , , U: IC , ' � , " ( I . 1 5 0 1 ) 1 Ebd. ' VBI. ; "
' 1 , 1 507,
..
s'rvanouir dans son rff('( " ( I , 1 502 ),
SCH W I E R I G K E ITEN, DEN C I M t:TI F. R E MARIN
ZU
INTERPRETIEREN
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dazu sagen, daß die poetische Sprache in ihrem Effekt - der kein gegenständliches Verständnis, sondern eine Gestimmtheit, ein 'Existenzmodus'lo ist - nicht ver schwindet. Diese 'extreme Differen z ' l I erweist sich an einem Phänomen. das für die Poesie konstitutiv ist, für die Prosa dagegen Indiz des Mangels. Es ist das Phänomen der Repetition. I n der mitteilenden, 'Sinn' transportierenden Sprache ist die Repeti tion des Wortlauts meist die Folge eines Nichtverstehens. Sie zeigt an, daß der sprach liche Vollzug sein Ziel nicht erreicht hatll. H ier machen sich Rhythmus, Klang, physische Beziehungen der Wortlaute usw. gehend, stan sich in der Ober mittlung eines definiten Sinnes zu verbrauchen. I n der Prosa dominiert im Regelfall der inhaltliche Sinn über die sprachliche Form ; in der Poesie ist im Gegenteil das Sichgeltendmachen der Form. ihre Reproduktion als einziges und notwendiges Kor relat des induzierten Existenzmodus das Entscheidende. Sofern man sagen kann, daß die poetische Sprache dem Leser zu 'denken' gebe, gilt : das notwendigerweise inde finite ' Verstehen ' des poetischen Worts bewirkt die Reproduktion der sprach lichen Form, und insofern ist die Wirkung der Poesie eine Art Selbstinduktion : "Un beau vers renait indefiniment de ses cendres, il redevient - comme I'effet de son effet cause harmonique de soi-meme"u. Mit Hilfe der Fesdegung sprachlichen Sinnes auf definite I nhalte, wie sie z . B . wissenschaftliche Prä7 isionssprachen auszeichnen. kann Valery a u s d e r Bestimmung der poetischen Sprache jeden Rekurs auf das Konstitutionsmoment der sprachlichen Bedeutung fernhalten und die poetische Sprache nur noch von deren nach Abzug aller semantischen Funktion übrigbleibenden Körperlichkeit her fassen. An die Stelle der Bedeutungsfunktion trin i n der Poesie der angeblich sinneutrale 'Effekt' der schönen Form l4• - Valerys gelegentliche H inweise auf die Analogie zur Musik - die aus der poetologischen Tradition geläufig ist - verleiht diesem Argument zunächst einen Anschein von Plausibilität. Aber sehen wir davon ab. daß möglicherweise auch die musikalische Wirkung, dieses so gern bemühte Beispiel eines rein auf der Fonn beruhenden Effekts, vielleicht nicht ohne alle semantische Funktion denkbar ist, dann bleibt doch das auch Valery nicht \'erborgene Faktum. daß poetische Sprache eben Sprache ist, d . h. prinzipiell von semantischer Funktion nicht abstrahieren kann und unter anderem auch etwas sagt. Poesie ist auch Apophansis (Aussage über . . . ) . le "" . . moJt d'txuu."Ct - tout humIlOlquC'·· ( I . I SO)). 1 1 1. I S02.
V.:I d n u d i C' BC'mC'rkungrn 1 U A I .. m� Ch"..-o71tJ-Kommtntar. hitr: I . I S l e . I l EbJ 1 0 Sil I\[ t\ nun �C'hr C'lnlach. ,rdt ....trJl.IIJ'g"."gJ/"."lwo." . drr POC"llt und damll Ihrt Inttrprttitrbarktit I:
und InlC'rpfC'tatinn��lhirftlgktit 1 U Irugntn zugunstrn rlntr pouulirrtrn W.rkungdunkuon. Ein GrdlCht von dC'f ��chricbrnrn Struktur auf rinrn Sinn hin. also als AunagC' ubrr . . . zu �handtln. d . h . zu intC'rprC'lirrC'n. C'uchrinl nun als rbrnso abl1rus .... ir drr VrfSuch. C'in Grdicht in Prou .... itdtr1ugrbr n : · ' C ·C'SI unC' C'rrC'ur (untrairr ,i la naturC' dr la poeslC'. rt qui lui sC'rait mc-mr monrllr. qur dC' pretC'ndrr qu·,i IOUt pocmC' corrnpond un �C'm veritabir, uniquC'. rt conformC' ou idC'nllqur .i. quC'iqUt pconser dr I ·aultur. UnC' consequrn(t dr o;ruC' C'fTC'ur C'II l 'mvC'nuon dr 1·C':urci(C' scolairr ablurdC' qUI conSistr .i fairr mC'ttrC' dC's '·ru rn pro'r . . C'C'SI (foirr qur la poesir ru un "caJt'U dr la ,,,hJl,,.,, (t pro\C' " " ( I . 1 SC9).
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GÜNTH E R BUCK
Da das nicht ganz geleugnet werden kann. ist wenigstens die Vermutung zu lässig, daß jenes Moment der Form. das Valery für allein maßgeblich hält. seine speziel l e Wirksamkeit einer I nterferenz mit d e m semantischen Moment d e r poetischen Spra che verdankt 1 5• Valery hat jedoch von Anfang an ein mehr als nur theoretisches Interesse daran. solchen Bedenken keinen Raum zu geben. Sein Kommentar zum C. M. enthält den für ihn höchst wichtigen po'i etologischcn Grundsatz : "Si donc )'on m'interroge ; si I'on s'inquiete ( . . . ) de ce que i'ai 'voulu dire' dans (cl poeme . je reponds que je n'ai pas voulu Jire, mais voulu faire, Cl que ce fut I ' intention de faire qui a voulu ce que j'ai dir . . . .. 1 6. Die Idee einer poetischen Apophansis wird. zumin dest für das eigene Werk. verworfen zugunsten der Idee der Po·i esis . der Idee der ' Komposition'I' mit dem Mittel der primär nicht als Sinnträger fungierend en Spra che. Es gibt nach Valery einen (poetischen) Gebrauch der Wörter. der ihre semanti sche Dimension nicht oder nicht primär berücksichtigt. In solchem Fall ist im Nach vollzug der Rekurs auf das. was ein Wort für gewöhnlich 'sagt' oder was es auf Grund des gewöhnlichen Gebrauchs noch sagen kann. unangebracht. Wenn ein Wort oder eine Wortsequenz nur in materialer Supposition als Konstruktionsele ment eines Ensembles genommen wird, das der Erzeugung bestimmter Reaktionen der Sensualität dient, dann verändert d ieser ' formale' Aspekt der Konstruktion und der in ihr geschehenden Fixierung die übliche semantische Funktion des Wortes entscheidend. Möglicherweise schafft das sogar wiederum eine neue Bedeutung: die Bedeutung innerhalb eines bestimmten. privaten. in seiner Gewolltheit hermetischen Wortgebrauchs. So kann man bei Valery da und dort hermetischen Wortgebrauch dieser Art beobachtenIR. Sprache, die auf solche Weise nur noch als Mittel zum 'schönen' Zweck gebraucht wird, provoziert in der Tat den hauptsäch lich an Gehal ten interessierten Leser zu immer neuen Hereinfäl len. Daß sich indessen beim Geschäft der formalen Konstruktion aus materialen Sprachelementen am Ende immer Apophansis ergibt, die auch der zur Kompli:r.en schaft bereite Leser nicht mehr überspielen kann, sondern faktisch vollzieht, - d iese unvermeidl iche Stiftung von inhaltlichem Sinn erscheint unter dem Gesichtspunkt der Po'iesis als ein Epiphänomen. mit dem man rechnen, d . h . aber im besonderen Fall I'
V.llrry srlbsl formulirn du inl Kommrnl.lr zum C. M ,,, : " I >.Ins I 'uni\"l;'u I y riqur. ch;aqul' moment doil consommrr unr .Il1i.lncr inddiniu.lblr du sc:nsiblr rl d u �ignlfIC.lllf" (I. 1 505). - Noch drulhchrr IU folgrndr Drfinilion drs . . ... rril.lblr potir": "un homn1C: pour qui Irs sons du I.&ni:.IgC' onl unC' impon;ancr rgale (igdlr. VOIU m'r"'r"Jrz "ir"l) .i. crUr du 'en� . . . " ( I . 1 079). I . 1 . 1 50l , . 1 , 1 50". I . A m .IufbliigslC'n in drr SchlußstrophC' \'on A"rorr, 1110 da� \X ' ort "ugur" In dC'r Brdrulung \'on 'Wugr' und 'unhC"Slimml' als Elrmenl rinrr "mr pUle" fungirrl. diC' 1umindrst drn Eindruck ,rgr"Jr",r� (uudh.lhe-n) 8rdrulung rruugl. Vgl . : "Son col COUpl' Il' Irmps uguc ! E I souleve- crllC' �'.Igur I QuC' f.lil un cul uns p.lrC'il " ( I , 1 1 1) . Im C. M . konnle- d u WOrt "ahse-ncC' ' ' .Inalogr Funktion h.lbrn : StrophC' 5: "CommC' C'n drlicr il ch.lngC' sun absC'ncc" , . , Strophr 1 2 : "1..1 ... ic rSI ....Islr. rtanl i ...rr ..i '.ah�rnce- " , Strophe- 1 5 : " l Is o n l fondu d a n s une- absrncr epaiuC' . . . . l > C' r E i ndruck d r r Be-de-ul�amkC'it d ie-�er VokaMI wird durch kuntrastiC'rC'ndr Wunkonflgurallonrn. In StrophC' 12 durch dC'n rMnf.llh kontr;a, �1IC're-ndrn RC'im mit "C'ssC'ncr" rr;r.C'UJ;I.
SCH'4 n E R I G KEITEN. DEN C I M ET l f. R E MARIN ZU INTERPRET I E REN
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des C. M.: das man ironisch behandeln muß, um jeder Versuchung zu inhaltlichem Pathos zuvorzukommen. Das ist der Grund für die wohlkalkulierte und erstaunliche poetische Wirksamkeit und i nhaltliche Gemeinplätzigkeit jenes 'ebenso persönlichen wie allgemeingültigen Monologs ''', der nach Valerys Zeugnis den Inhalt des C. M. bildeI.
I V Antiphilosophie Der zitierte Grundsatz der Prävalenz der Poiesis über die poetische Apophansis ist nicht nur praktisch interessant und neu. Er resümiert auch eine I ntention, die Valery seit seinen ersten größeren Publikationen verfolgt hat : die Absicht nämlich, Philoso phie wie alle Arten geistiger Produktion - z. B. die Wissenschaften - po'ietologisch zu reduzieren auf einen sich selbst mißleitenden elementaren Konstruktionstrieb des Menschengeistes. Diese Idee ist Valerys ständige Präokkupation von der früheren Skizze einer universalen 'Methode' geistiger Produktion in der Introduction a J. methode de Leonard de Vinci ( 1 894) und der darauf bezüglichen Note et digression ( 1 9 1 9)20 an über die Philosophiekritik der Etudes philosophiquer' und der großen D ialoge (Eupalinos, L 'Ame et J. Dame) bis hin zum Spätwerk des Cours de poeti qUt?2. D ieses von Anfang an wirksame po'ietisch-ästhetische Motiv der Antiphiloso phie ist der Angelpunkt, um den sich Valerys Denken im ganzen bewegt ; es ist der wahre: Grund jener valerianischen Skepsis, der die etablierte Philosophie bislang beeindruckt, aber wenig betroffen gegenübersteht und die. lebens philosophisch ge wendet, die Meditation des C. M. durchherrscht. Die po'ietische Antiphilosophie ist, relativ spät. in der Schrift Leonard et les philosophes ( 1 928) kohärent formu l iert wordrn. Ich skizziere im folgenden nach diesem Essai. Die po'ietologische Antiphilosophie geht nicht aus von einem theoretischen. d. h. auf Grund bestimmter I nstanzen als wahr oder wahrscheinlich angenommenen, ei nen Sachverha lt darstellenden Grundsatz, sondern von einem praktischen Postulat, vom Entwurf eines geistigen Status oder Vollzugs, dessen Realisierung Valery für seine private poetische, aber auch für die allgemeine geschichtliche Aufgabe der Zeit hält. I n bestimmter Weise antizipiert erscheint d ieser Entwurf in der Gestalt des Lionardo da Vinci. Lionardo ist für Valery der historische Beweis für die Möglich keit eines Wissens. das den traditionellen Grundzug der kontemplati\'en, an der Sache hängenden Vergegenwärtigung der Sache überwunden hat und sich d ifferenz los in modifizierende Tätigkeit am gegenständlichen Substrat oder sogar in 'schöpfe rische' Er7.C'ugung neuer gegenständlicher Substrate umsetzt. Für Lionardo gilt: "SaI�
• . . . . j(' m'ori('nuls v('rs un monolngu(' aussi p(,fSonnd . mai� aU5si univ('rsd qu(' j(' pourrais 1(' con· �lrulr(''' ( I . 1 504).
:� I . 1 1 S) : 1 I . 787ff.
:: 1 . 1 J. 4 0 1l .
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floir ne suffit point a cene nature nombreuse ct volontaire ; e'es! le pON'Voir qui lui importe. 1 1 ne separe point le comprendre du creer. 1 1 ne d istingue pas volontiers la theorie de la pratiquc; la spekulation de J'accroissement de puissance exterieure ; ni 1(' vrai du verifiable, n i de cene variation du verifiable que sont les constructions d'ou , vrage ct de machines m, Lionardo ist der I nbegriff eines intellektuellen Verfahrens, das general isierbar erscheint und in dem Erkenntnis ihre Applikation total impliziert: Erkennen ist hier immer ein bestimmtes Können; Verstehen von etw.:as ist Sich Verstehen auf ein Verhalten oder Verfahren in bezug auf das Verstandene. oder es ist. wie die Arbeit des K ünstlers, neuerzeugendes Herstellen von etwas. Mit diesem speziellen Entwurf der Einheit von 'Theorie und Praxis' bereichert Valery jene am Ende des kontemplativen W issensideals aufbrechende Diskussion um die lebenspraktische Legitimierung der Philosophie wie überhaupt aller .:ästhetisch distanzierten Behand lung der geschichtlichen Praxis um eine überraschende Va riante. Die ethische und lebensphilosophische Kritik der bloß kontemplativen Wis senshahung kommt von Kierkegaard über Dihhey bis zur Gegenwan im Grunde darin überein, daß die bloß ästhetisch-betrachtende und sich d istanzierende Einstel lung die Sünde wider den Geist geschichtlicher Praxis sei. Was Kierkegaard nicht anders als Marx gegen HegeIs Philosophie vorbringt, ist eben diese Kritik an der Uneigentlichkeit und Tatenlosigkeit der alles verstehenden Betrachtung. Valery er gänzt die Topik der Theorie-Praxis-Diskussion u m eine eigenartige Umkehrung jenes Arguments : Philosophie, so Valery, und überhaupt jede über das erfah rungs wissenschaftliche Herrschaftswissen hinausgehende Theorie lassen sich nur ästhe tisch legitimieren. Sie lassen sich, genauer gesagt, nur legitimieren d urch jene Spielart des ästhetischen Arguments, das Valery am Ende das 'po'ietische' nennt. Al lein seine Eigenart, herstellemies Vennägen (lto(llOlt;) zu sein, kann irgendein Erkennen legiti mieren, und so wird die erkennende Aktivität für Valery vorzüglich unter diesem Gesichtspunkt analysierbar. übrigens ist d ieser Grundsatz partiell h istorisch beleg bar durch eine Analyse dessen, was in der modernen Naturwissenschaft geschieht. Deren Erkenntnisleistung läßt sich nur operativistisch deute n : . . . . . 1a science est I'ensemble des recettes et procedes qui reussissent toujours"H. Das I ntelligible ist hier bestimmt durch Verifizierbarkeit. Die Sätze der Wissenschaft lassen sich in zunehmendem Maß w iedergeben durch eine 'Tafel der Entsprechungen zwischen unseren Operationen und irgend welchen Phänomenen·2�. I nsofern hat die neuzeitli che Wissenschaft den poietischen Entwurf paradigmatisch realisiert, und Lionardo erweist sich nachträglich als "ancetre authentique et immediat de la science toute moderne"z6. Gerade die neuzeitliche Wissenschaft mit ihren Verfahren der ' Prod uk tion von Tatsachen'z7 macht klar, daß 'die Arbeit des Geistes also nicht mehr auf eine 11 1 . 1 2 5 2 f . 1t l . 1 2 5J .
n Ebd. Ebd. l' V g l . I .
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1 2 5 .. .
SC H ,n F. R I G K t-: ITEN, D t-: N C I M t-:n E R E MARIN
ZU
INTERPRETIEREN
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finale Kontemplation (" contemplation finale") hinausläuft. deren Idee selbst sinnlos geworden ist oder sich immer mehr einer theologischen Konzeption nähert . . . '28 . In d iesem Zusammenhang ist di e Bemerkung wichtig, daß Valerys u rsprünglicher Entwurf einer umfassenden und den Inbegriff menschlichen Leistungsvermögens danteIlenden ltO(1)Ol; zunächst kei neswegs auf den poetischen, d. h. mit dem Mate rial der Sprache operierenden Künstler zielt, sondern auf die Beherrschung objektiv fundierter Prozesse, wi e sie i n allem wirkl ichen technischen Herstellen vorkommt. lionardo ist für Valery der G roßtechniker. Er, Monsieur Teste, die Gestalt des im Eupalinos beschworenen Schiffsbaumeisters Tridon von Sidon variieren dieses Leit thema des " pouvoir red" , der Beherrschung gegenständlicher, nicht bloß verbaler Prozesse. Valerys Faszination d u rch die Verfahren der modernen Wissenschaft, sein erklärter Positivismus, sind so zu verstehen. Die kalkulierte Herstellung eines Werks aus sprach lichem Material ist dagegen für Valery seit dem Erscheinen seiner großen Poesien zwar Gegenstand zahlreicher und unter der Leitidee der 'Poietik' stehender Analysen und Reflexionen ; aber es scheint doch, als hätte Valery die Konstruktion von Poesie angesichts seines ersten und höchsten Ideals stets eher als ein von Resi gnation besti mmtes G eschäft angesehen. Kurz nach dem Erscheinen des C. M., im Sommer 1 920, schreibt er im H inblick auf dieses Gedicht an einen Freund : "D is que j 'ai fait ce que j'ai pu. Que j'a; elf loi dans le scepticisme. ma devise etant Faire sam croire ou Analyse d 'abord . Se refuser tous les mensonges intellectuels, et ne jamais se satisfaire de mettre u n mot a la place d'un pou'lIoir reeJ. Ma nature a ho"elfr au tlague"l9. Der vom Paradigma der erfahrungswissenschaftl ichen Aktivität gestützte po·i eto logische Grundsatz erlaubt es Valery. eine rivalisierende Position dadurch auszu schalten. daß er sie als von seiner eigenen Voraussetzung her deutbar danlellt. Das ist die Position der klassischen philosophischen Epistemologie. die dem Modell der kontemplativen Vergegenwärtigung des Seienden und ihrer sel bst anhängt. Die klas sische Epistemologie macht nämlich, so Valery. angesichts der Diskretheit der Welt erfahrung wie angesichts der Heterogenität dt"r verschiedenen Versuche, die eine Weh im Denken darzustellen, Gebrauch von einer bestimmten vereinfachenden und ordnenden. Kontinu ität herstellenden Operationsmöglichkeit. die 'einerseits unab hängig von der Intelligenz scheint, - deren verborgenes Prinzip und Leitfaden sie dennoch vielleicht ist')c. Das dem Anschein nach Einheit und Wahrheit stiftende Moment der traditionellen Philosophie und ihres 'theoretischen' Ideals der Darstel lung des Seienden wie der Erkenntnis selbst ist in Wahrheit iisthetischer Natur. Es ist, \'ermutet Valery. ein Moment der Famr ' . das den Grund des systematüchen Bedürf11
EW .
.... Zitiert nil,h der " I nt roduo;tlnn b.ogrilphique·· von A. Rouiln·Villery lU Bd 1 der a.wrl'. ( I , 4 3 ) . ,� V!:I. I . I.B!i I! •• A m o n "\." . h,Ule Ph, lll'l'ph.e e \ l une ilff .. i r e de forme" ( I . 1 2 38). H i e r !;i ß 1 s i c h sicherlio;h ein Einfluß der \l-' luenso;hilfts1heorLe Henri POlno;iIreS ilnnehmen, der spt'lidl fur die Millhemiluk ulhetische KrllerLc:n .. 1\ ob.:rs1e F. nlScheldu ngspnnl.lplen ilngenommen und die �h1hematlk .. Is eine frc:ie Schop. funl: dc:s GeUle� interpreller( h .. l.
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nisses bildet : Bedürfnis nach Symmetrie, Kohärenz der Erfahrungen usw. Der Ver dacht ist um 50 plausibler, als die wahrnehmbare Aktivität des Phi losophen sprachli cher An ist)2. Philosophie unterscheidet sich von positiver Wissenschaft u. a. da durch, daß in ihr die Sprache ein Eigenleben zu führen beginnt. das ihr vom operati vistischen Prinzip der Wissenschaft untersagt wird. Nicht als ob dabei ein Sinnüber schuß gegenüber wissenschaftlichen Aussagen herauskäme: der philosophische Sprachgebrauch weist vielmehr, operativistisch gesehen, ein Sinndefizit auf. Diese Vagheit, d. h. dieser Mangel an realem gegenständlichen Können, der die sprachliche Aktivität auf die Ebene des bloßen "discours"l .' beschränkt, beförden die grenzen lose Prokreation der philosophischen Sprache, d . h. bestimmter philosophischer Ausdrücke, denen kein reales, durch operative Definitionen gesichenes Können des Sprechers korrespondiert. Beispiel ist u.a. "ce verbe nul et mysterieux, ce verbe t.TRE, qui a fait une si grande carriere dans le vide ( . . . ). Oe tres subtils anistes ont tire de ces syllabes humbles, dont I'cvanouissement ou I 'usure de leurs premiers sens ont permis I'etrange fortune, un infini de questions et de reponses"l4. Die das Funk tionieren der Wissenschaftssprache sichernden operativen Definitionen werden hier ersetzt durch 'verbale Kombinationen'H, die nach ästhetischen Prinzipien gesteuert werden. Ein umgangssprachlich funktionierender, weil nicht eigens thematisierter Sprachgebrauch wird erweitert durch eine Sprache, die nicht mehr greift, weil in ihr das situationsbezogene Alhagsverständnis verlassen ist, wo jeder sehr wohl weiß, was gemeint ist. Valery demonstriert das an der Vokabel " temps":l6. Solcher Verzauberung des Oenkens durch den philosophischen Sprachgebrauch entkommt man nach Valery nur durch eine po'i etologische Analyse dieses Sprachge brauchs. Lassen wir die po'ietologische Voraussetzung gehen, "que la philosophie, definie par son a:uvre qui est aUf/re ecrite, est objectivement un genre lineraire particulier, caracterise par certains sujets et par l a frequence de certains termes et de cenaines formes"l', dann ist die universale Po'ietik die wahre Philosophie, die uns durch eine einfache Reflexion von den Mißhelligkeiten des philosophischen Sprach gebrauchs befreit und die vollständige Applikation des Wissens wiederherstel lt : " [ La Philosophie] se repond par des combinaisons verbales. 11 me paraissait donc plus . . . philosophiquc de s'interesser sans facron et sans autre detour a ces com binaisons elles-memes. Le faire remplace alors un pretendu safJo;r, et le Vra; se hausse au rang d 'une convention bien appliquee"ll. Allein die po'ietologisch-ästhetische Begrün dung der Philosophie kann, indem sie vom wahrheitstheoretischen Standpunkt ab rückt, Philosophie als mögliche Tätigkeit künftig noch legitimieren. Für vergangene Gestalten der Philosophie, wie die Metaphysik, gilt : " Seule, une interpretation esthe11 1l )4 J�
1, 1, I, 1,
1 23&. 1 2 SS. 125S. I.uS.
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SCH"' I E R I G K EITEN. DEN C I M ET I E R E MARIN ZU INTERPRETIEREN
tique peut soustraire a la ruine de leurs postulats plus ou moins caches, aux effets destructeurs de I'analyse du langage et de I'esprit, les venerables monuments de la metaphysique"lll&. Die Aktualität eines durch den Zeitenabstand und durch Kritik ferngerückten Werks, wie etwa desjenigen des Platon oder des Spinoza, ist allenfalls ästhetischer Art : " 11 n ' e n reste absolument rien, s'il n 'en reste Jes czuvres J'art"l9• (Valery hat seine These von der notwendigen po'ietologischen Auflösung des trad i tionellen Anspruchs der Phi losophie durch einen ironischen Darstellungskniff zu sätzlich plausibel zu machen versucht. Im Eupalinos, d iesem platonisierenden Toten gespräch, ist es Sokrates, der philosophische Gesprächsführer selbst, der Valerys Argument vorträgt und so die philosophische l l lusion der Lebenden aus der überle genen Perspektive des Schattenreiches zerstört. Er entwirft eine sokratische Alterna tive zum Philosophen Sokrates, der er gewesen ist, einen ' Anti-Sokrates', der der Illusion kontemplativer Betrachtung des Seienden entsagt hat. Es ist Sokrates " Ie constructeur", der mit der Einsicht ernst macht, daß der Gott der Philosophie nur ein hypostasierter I nbegriff menschlicher Akte ist und daß folglich reale Po'iesis an die Stelle spekulativer Vorstellungen übermenschlicher Akte zu treten hat\9&). Die Phi losophie im herkömmlichen Verstand ist also ein keineswegs ausgezeich neter Sonderfall sprachl icher Po·iesis. Sie ist eine bedenkliche, weil ihre eigene Natur verbergende und mit ungerechtfertigtem Anspruch auftretende Sonderform von Po'iesis, die entlarvt werden muß. Besonders deutlich erscheint Valery die philoso phische Verirrung, diese kontemplative Sdbstentfremdung des po"i etischen Motivs, am speziellen Fall der philosophischen Theorie des Schönen. Die philosophischen Ästhetiker, die Theoretiker des Schönen ... . . sont des createurs qui s'ignorent, et qui croient q u ' i l s ne font que substituer une idee plus exacte ou plus complete du red a une idee grossiere ou superficielle. quand, au contraire, ils inventent" 4C. Aber durch diese Reduktion finden sich Phi losophen und Dichter nicht, ihren alten Streit verges send. am Ende in schöner Eintracht beieinander. Daß sie sich mißverstehende Po"i esis ist, das unterscheidet die Philosophie und ihren Herrschaftsanspruch im negativen Sinn von der reflektierten Po'iesis und po'ietischen Reflexion des Künstlers oder Dichters. der die Wahrheit und überlegenheit seiner Reflexion dadurch erweist, daß er diese Reflexion bewußt wieder umsetzt in po'i etische Aktivität, von der die Refle xion ausgegangen ist: "Ce qui separe le plus manifestement I 'esthetique philosophi que de la reflexion de I 'aniste, c'est qu'elle procede d'um: pensee qui se croit etran gere aux arts et qui se sent d'une autre essence qu'une pensee de poete ou de musicien. - en quoi je dirai tout a I'heure qu 'elle se meconna;t' .. l .
'·' 1 , 1 2 " 7 . '· 1 , 1 2 50.
,., 1 1 . I .. ! . • ; 1 . 1 H6 . I. I H J ( Hc:r"orhc:bung nil.:hl lm Original). Analog da7 u ; " l'ulc:nt P0lnl l"cuc:"" ( I , 1 2 56).
" Mai\ ,;c:s anl�IC:\ (
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G Ü NTH E R BUCK
Selbstverkennung und Sclhsthcirrung des po"i etischen Urmotivs d u rch das Ideal der philosophischen 'Theoria'. d . h . d urch d en Willen, das. was ist, in Form einer ' wahren' Vorstellung und einer ebenso wahren Sprache vergegenwärtigend zu repro duzieren ohne Zutat, ist nicht die einzige G efahr, die von der Philosophie. d . h . vom traditionellen europäischen Ideal der wahren Vorstellung des Seienden. der Praxis und des Schönen ausgeht. Philosophie bleibt ja auch so immer noch Po"i esis, wenn auch sich selbst verkennende. Die andere, möglicherweise größere Gefahr ist d i ese : Philosophie, besonders philosophische Ästhetik. beschneidet und lähmt den aus drücklichen po"ietischen Willen, indem sie vorgibt, das 'Wesen' der Künste zu verste hen. Sie verfährt dabei nicht anders als die nachträgliche philosophische Rekonstruk tion der Geschichte. Indem sie das. was als K u nst allein ein empirisch-geschichtlicher Vollzug ist. als vorstellbaren Wesensbestand ausgibt, läßt sie den praktisch-tech ni schen Charakter aller ästhetischen Reflexion vergessen. Diese fatale Konsequenz ergibt sich. wenn man einsieht. daß die herkömmliche Idee des philosophischen Wissens als der Vergegenwärtigung eines gegebenen Wesens- Bestandes die w irkli chen Tätigkeiten, die z u jenem Bestand geführt haben. notwendigerweise unter schlägt. Vorgebliche Erkenntnis des 'Wesens' entwertet die es produzierenden Tätig keiten. So läßt sich das Paradox formulieren. daß die Philosophie des Schönen als Erkenntnis des Wesens der K ü nste das. was sie zu erkennen beansprucht. nämlich die K ü nste als praktische Vollzüge. negi e rt ; das wiederum läßt sich als Argument gegen die Wesenserkenntnis des Schönen verwenden: "Si l'Esthetique pouvait etre, les arts s'evanouiraient necessairement devant elle. c'est-a-dire devant leur essence"4l. Die Wahrheit der Kunst ist. wie di e Wahrheit alles Geschichtlichen, nur im Vollzug der Kunst selbst. Die philosophische Verstellung der ästhetisch-po·ietischen Wahrheit w i rd zusätz l ich kompliziert durch ein mit dem traditionellen Begriff der Erkenntnis zusammen hängendes Problem . Der philosophische Sprachgebrauch bringt nämlich d ie Schwie rigkeit mit sich, daß er Interpretation verlangt. Das rührt her von seinem Anspruch auf sachliche Verbindlichkeit sprachlichen S innes. Diesen Anspruch kann d ie philo sophische Sprache, weil sie keine über Operationalisierung präzisierte Sprache ist, nach Valery nicht erfüllen. D a sie gleichwohl an ihm fest hält. partizipiert sie nicht an der Freiheit, die dem ebenfalls nicht präzisierten poetischen Sprachgebrauch offen steht. "d'abuser de la resonance et des sympathies occuhes des mots"4). D iese pre käre Stel lung zwischen der "I iberte de poesie abstraite"44 einerseits und dem A n spruch auf E indeutigkeit ihres sprachlichen S innes andererseits45 schafft für d e n , der eine philosophische Sprache verstehen will. d ie Nötigung, K larheit inm itten eine5 vieldeutigen Wortgebrauchs zu schaffen. Es ist die Nötigung, bloß impl icite. d u rch den Gebrauch definierte Ausdrücke explicite z u formul ieren, d . h. zu interpretieren: .� I , 1 240 . • , 1 , 1 2 S6 . ... 1 . 1 247 . • � 1 , 1 256.
S C H W I E R I G K EITEN. DEN C I M ET I E R E M A R I N
ZU
INTERPRETIEREN
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" 1 1 f a u t avouer que le propre d e s p l u s grands philosophes est d 'ajouter d e s problemes
d'i nterpretation aux problemes immediats que peut poser l'observation"46. Aber Interpretation löst die Verstrickung nicht auf. in der die Philosophie als sprachliche Aktivität befangen ist. Die po'i etologische Kritik der Philosophie - epistemologisch eine radikale Skeps i s ! - macht nun auch e i n e n Vorschlag hinsichtlich der Praxis einer neuen. ihr po'i etisches Motiv ernst nehmenden ' wahren' Philosophie. Diese neue. redlichere, 'mensch lichere und reizvollere' Philosophie'" wäre eine Art " poesie abstraite" . Aber Valerys Vorschlag bleibt ironischerweise Andeutung ohne paradigmatische Konkretisierung. Es ist die Rede von einer Kunst der "compositions d 'idees et des constructions abstraites sans illusions. sans recours a la faculte d ·hypostase . ... •• mit einem H i nweis auf das selbstbewußte Verfahren der Mathematik"'. VaIery gibt aber zu, w i e schwie rig es zunächst erscheint, "de penser en tant qu ·artistes . certains problemes qu'on avait jusqu'ici penses en tant que chercheurs de verites, de changer en beaux menson ges, - en fictions-en-soi ces productions de la sincerite 130 plus intime . . . " 50 . Freilich, eine Kunst der 'schönen Lügen', der 'Fiktionen an sich' kann kommen den Philosophen nur ironischerweise zugemutet werden. In Wirklichkeit ist sie schon realisiert im Typus jener Poesie. i n der nach Valerys Meinung die Kunst der Sprache zum ersten Mal zu sich gekommen ist und damit auch die verborgene Wahrheit der Phi losophie ans Licht gebracht hat: im Typus von Valerys eigener Poesie. Die Kritik der Philo.'ii o phie verfolgt die Absicht, die überlegene Wahrheit und Aufrichtigkeit der Poesie dadurch darzutun, daß sie die Unwahrheit der Philosophie aufdeckt. Diese U nwahrheit gründet i m verhängnisvollen Sclbstmißverständ nis des tradierten euro päischen Denkens. Sie erweist sich am Ende als der konstitutive Nihilismus der traditionellen europäischen Philosophie. Die überlegene Wahrheit der Poesie besteht darin, daß di ese mit dem latenten Nihilismus der europäischen Philosophie endlich Ernst macht. Sie beweist ihre Wahrheit nicht, wie d ie Philosophie, d urch Theorie, sondern durch die Tat, indem sie sich einfach an die Stelle der Philosophie setzt und allenfalls nacht rägl ich einen Kommentar zu dieser - sehr reflektierten ! - Praxis lie fen. Denn auch die AntiphiJosophie schwebt i n der Gefahr, die alle Philosophie bedroht. Sie setzt die Möglichkeit apophantischer, nicht nur operational funktionie render Sprachleistung voraus und damit die Selbstvergessenheit und U ngereimtheit allen philosophischen Sprechens, die Valery mit diesem sprachkritischen Argument zu schlagen meint: "Mais la nature d u langage est toute contraire a I 'heureux succes dc ce grand effort a quoi tous les philosophes se sont essayes. Les plus pu issants se sOnt consumes dans la tentative de faire parler leur pensee. e'est en vain qu'ils ont crec ou transfiguri: cenains mots C . . . ) . Qu'il s'agissc des Idees, de 130 Dunamis, de "' 1 , 1 2 5 7 .
" V gl . : ·· . . ce genre dc: phil(lwphic: ( .. ) plu� humain ':l plus sc:duisanc . . . " (I, 1 2<48). '. Ebd .
• � I. 12<49. "= 1 . 1 2<4 7
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GÜNTHER BUCK
I ' t tre, du Noumene, du Cogito D U du Mai, ce sont d es eh'l/res, uniq uement dchcrmi nes par un contexte. et e'est done enfin par une sorte de creation personnelle que leur lecteur. camme il arrive du lecteur de poetcs. donne force de vie a des a:uvres " S I Auch für die Antiphilosophie gilt : Was der Autor sagen will, seine apophantische I ntention. aktual isiert sich nur mittels des Notbehelfs einer - subjektiv beliebigen Interpretation. Auch die Antiphilosophie durchbricht, als Philosophie sprachlich argumentierend, nirgends die Verstrickung in den Sprachtrug, in dem sie von Anfang an befangen istS2• Auch sie lebt von der ganz und gar subjektiven Aktualisierung ihres Sinnes durch den Leser, auch sie ist angesiedelt in einem Bereich, 'wo die gewöhnliche Rede dazu gebracht wird, Dinge auszudrücken, die die Menschen un tereinander nicht austauschen können und die da, wo das gesprochene Wort erklingt, , sonst nicht existieren n. Diese Schwierigkeit verschw indet für die Antiphilosophie, wenn sie ihrer eigenen Wahrheit folgt und sich als Poesie aktualisiert. Denn die Poesie gew innt ihre überle gene Wahrheit dadurch, daß sie sich nicht wider bessere E i nsicht in den Sprachtrug verstrickt, sondern sich von A nfang an in ihm heimisch macht und sich ausdrücklich ihm und seinen Möglichkeiten überläjJt! Die überlegene Wahrheit der Poesie besteht darin, die 'Fiktion-an-sich' statt der prätendierten 'Sache selbst' zum Thema der Kommunikation zu machen. I n der Formulierung der Petite Lettre sur les Mythes, eines frühen Textes, der die sprachliche Verstrickung der Erkenntnis zum ersten Mal mit großer Konsequenz behandelt: die Wahrheit der Poesie besteht darin, die 'My then', die die sprachgebundene I ntelligenz, wider ihre Absicht, produziert, als My then zu vollziehen und so zu legitimieren. Die Poesie ist inmitten des Trugs, in den die Sprachlichkeit den I ntellekt verstrickt hat, der einzige Modus der Redlichkeit, der dem I ntellekt gebl ieben ist. Diese Redlichkeit erschöpft sich nicht einfach darin, den Sprachtrug bloß zur Kenntnis zu nehmen. I h re eigentliche Leistung ist die praktische Anwendung der Einsicht, d . h . der Vollzug der poetischen Sprache. In der Poesie und als Poesie wird jene Einsicht 'wahr', d. h . sie stellt sich dar, Die Logik d ieser poetischen Selbstanwendung der rad ikalen Sprach kritik unter scheidet sich ein wenig von der Logik des Selbstkommentars zum C. M. Sie operiert nämlich mit einem erweiterten Sinnbegriff. 'Sinn' ist hier nicht lediglich gegenständ licher Sinn, d . h. definit festgelegter I nhalt. Sprache überhaupt - auch poetische Sprache! - ist ausnahmslos sinnbefrachtet, so indefinit und schwankend der jeweilige Sinn auch sein mag: . . Mythe est le nom de tout ce qui n'existe et ne subsiste qu 'ayant la parole pour cause. 1 1 n'est de discours si obscur, de racontar si bizarre, de propos si incoherent a quoi nous ne puissions donner un sens. 1 1 y a toujours une supposition qui donne un sens au langage le plus etrange"S4. Sprache w ird eben wohl oder übel �I U u �
1, 12Mf.
V g l . C . M. Strophr 1 7 : "EI vou§. grandr .imr. rsp':rr7.-\·ou§ un songr / Qui n'aura p l u s c r s couleur� J e men§onge . .
1 , 1 265. 1 , 96 3 f .
SCH W I E R I G K E I T E N , D E N C I M ET I E R E MARIN ZU INTERPRETIEREN
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verstanden, nicht nur als Lautgebilde wahrgenommen, und d er Aufnehmende (Hö re r, Leser) verhält sich da be i i n der Regel, wenn ihn nich t präzise Vorschriften des Verstehens leiten, sinnschöpferisch. Sinnschöpferisch heißt: nicht lediglich sinner gänzend, sondern Sinn erzeugend. Man kann diese Sinnerzeugung unter dem Aspekt der in ihr funktionierenden Einbildungskraft eine Erzeugung ex nihilo nennen. Ge wöhnliches ebenso wie poetisches Sprechen ist kontinuierliche Kreation von Sinn aus nichts und damit K reation von nichtigem Sinn: " La parole est ce moyen de se multiplier dans le neant"��. So ist das Verfahren, wie wir Welt, verständliche Welt und geschichtliche Praxis, beständig erzeugen: "Que serions-nous donc sans le se cours de ce qui n'existe pas? ( . . . ) Les mythes som les ämes de nos actions et de nos amours"56. Da nun Poesie die Wahrheit der Sprache, die Wahrheit von deren U nwahrheit, nämlich die Wahrheit des ' Mythos' vollzieht, geschieht es in diesem Vollzug biswei len, daß jene - theoretisch nur mit I ronie zu sagende - Wahrheit über den 'Mythos' ausgesprochen und so vom Sprachmodus her durch Selbstanwendung erst vollends wahr gemacht wird. Die i n Valerys Denken sich mit großer Konstanz haltende These von der i n der Sprachlichkeit des Menschen sich durchsetzenden konstitutiven Macht des Nichts tritt so als Mythos, den seine poetische Sprachform 'wahr' macht, in der Ode lbauche J'un Serpent auf, wo sie den Schluß eines kosmogonischen Mythos und des Mythos vom Sündenfall bildet : . . - Cette soif qui te fit geant, IJusqu'3, l' E tre e-xalte I'etra nge- I Toute-Puissance du Neant !"�7 So zischt die Paradie sesschlange. Der Adressat ihres erstaunlichen Dictums ist nicht recht klar. Es kann ihr Sitz, der Baum, eines von Valerys Lieblingssymbolen für den Poi'eter8, gemeint sein, aber auch der nach dem Sündenfall seine geschichtliche Leistungsmöglichkeit durch den " i m mense espoir de fruits amers"S9 erst realisierende Mensch überhaupt.
V Die Wahrheit der Phi losophie in der Poesie Man sieht : die geschm ähten philosophischen Vokabeln " t TRE" , " N J:. ANT'''o, und anderswo "TEMPS" oder " LANGAGE" (La Pythie) ! Das Verblüffende in den Schlußversen der lbauche ist der Satz-Charakter, der aus den Versen eine Art von �,
1 , 96] . .... 1 , 966 1. \1 1 , 1 46 . \1
I n e i n c r T:lfel der großen Symbole V:llCrys figurie-rcn: 1:1 Mer: S�' mbol des A l l u m fauenden, de-r "Ewigen WLe-de-rke-hr" ( 1 1 , 1 ]] 5 ) , des ruhenden BCL·sich · SCLns, S)'mbol dcs Absolulen. le Serpent : Symbol des esprit, d . h . des Pnnlips der Ncg:luon . de� Wandels. l'Arbre-: Sy mbol dc-r men�chlichen Moglichkeil 'poi"eli�chC'r' Arbeit , u.a. de-s DichlC'rs : EhAMChc-.
'0
1 , 1 4 6.
PAlmc-.
... Zum 'Te-rminus' "NrA"''' gibl es c-ine-n ebenso reil.volle-n wie- vidsagendc-n BriC'f Vali-rys an Heidsieck vom H. NO\'C'mbC'r 1 9 4 ] . Valc-I')' , de-r hier seinen Sprachge-brauch aus sc-inC'r Rolle :lls "anli.philoso.
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philosophischem Slogan macht. den der orientierte Leser sofort mit der Hauptthese von Sartres L 'ltre et le Neant in eine - zweifelhafte - Beziehung setzt. Also Restitu ierung der Metaphysik über di e Poesie? Da und dort ja . . . D ie Wahrheit des Mythos läßt es in der Tat z u , theologisch-metaphysische Mythen auszusprechen. E i n sehr naheliegendes Beispiel ist die Schlußstrophe von La Pythie mit der Apotheose der Sprach e : " H onneur des H ommes, S a i n t L A N G A G E , / Discours prophetique et pare, / Beiles chaines e n q u i s'cngage / Le dieu dans la chair egare, / IlIumination, largessc! / Voici parler une Sagessc / Et sonner cenc auguste Voix / Q u i se connait quand elle sonne / N'etre plus la voix de personne / Tant que des ondes et des b o i s ! " Sprache a l s Offenbarung e i n e s Gottes, der sich in der N a c h t d e s S e i n s verlaufen hat und daraus i n der D ichtung zurückfindet6 1 , das ist Valerys moderne Version der Spekulation über das "verbum caro factum". Metaphysische und theologische Selbst rech tfertigung der Poesie auf den Trümmern von Philosophie und Theologie! Man muß sich klar machen, was für ein gewaltiges Umschlagen i n den soeben zitierten Versen geschieht : einer Sprachkritik und Skepsis, die ihresgleichen kaum hat, ent spricht am Ende massive Sprachmystik, und es ist die Sprachkritik, die den Obergang hergestellt hat! Eben deshalb darf man den voreiligen Triumph nicht teilen, den metaphysische und theologische Rechthaberei angesichts solcher Rückkehr zur Sprache der Meta physik anstimmen. Valerys Antwort könnte lauten : Weshalb sollte ich nicht solche Sprache sprechen ? Poesie ist absolute Ironie. So wie sie den falschen E rnst der Philosophie erled igt, erledigt sie durch ihr bloßes Faktum immer schon auch jeden falschen Ernst ihrer selbst. Deshalb ist die Wahrheit jedoch nicht reduziert auf die Prod uktion des " beau vers", auf den formalen und konstruktivistischen Aspekt einer Struktur aus sinnfreiem Sprachmaterial. Ihre Wahrheit realisiert sich möglicherweise in metaphysischer Supposition, - möglicherweise aber auch anders. Das wäre freilich eine plausiblere Variante jener Formel des " hermeneutischen Nihilismus" (Gada mer): "Mes vers ont le sens qu'on leur prete", aber auch eine listige und vorbehalt voIle. - Doch sind solche Verse mit metaphysischem Gehalt und merklicher apo phantischer Funktion bei Valery gar nicht häufig; sie fallen gerade wegen ihrer Seltenheit auf. Dennoch gilt : die Gedichte sind Orte, wo der ' Mythos' wahr wird , und sie s i n d d a s nicht nur stellenweise, sondern im ganzen. D e r Mythos wird in ihnen wahr nicht nur im allgemeinen und wegen der formalen Struktur ihrer Spra che. sondern j e konkret, weil die Gedichte in der Tat ein d urchgehendes Thema
••
pht" rtchtftnigl. schrtibt u . a. : " 1 1 mt stmblt qUt vous avtz trOUV� dans mts vC'rs un ptU plus de Nr.. "r quC' jt n'ai ptnsc C'n mC'ttrC', pC'ut-ctrC' a i . j C' C'mploy� CC' mot comme un pC'intrC' C'mploit une cC'nainC' coulC'u r : il a bC'soin d ' u n noir. il mtl un noir . . . J 'ajoulC' que d a m ma pC'ns�C', ou SI vous voulel dans mon langagC'. IC' Nr.. "r ou lC' Riel1 eSI un lerme rorPIplrrPIC'",.. ,rC' u niveud. de meme que le z�ro des malh�matiqucs �'oppose et s'�ale idC'ntiquemenl a IOUI spleme eomplet d t' grandC'un, tout peUI s'«-rire: A = 0 . " ( L C'rtrC'J .i QllrlqllrJ.U"" Paris 1 952, 5 . 242) . Vgl. dazu d i e Strophe aus dem GC'dichl mit dem programmatischen Tilel PoiJlr: "Dieu perdu dan� �"n essence, / EI d�licieusel1lC'nt / DocilC' a I.a connaissancC' / Du suprenle apai5emcnl." ( I , 1 1 9).
S C H W I E R I G KEITEN, DEN C I M ETI E RE M A R I N ZU I NTERPRETIEREN
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haben, das sie geradezu behandeln. Es ist das Thema. das wir auf diesen Seiten kennengelernt haben. Valery hat es i n seiner zweiten Lionardo-Schrift (Note et Digression, 1 9 1 9) mit dem Titel " Comedie Intellectuelle" versehe n : • • . . . cette Come die Intellectuelle qui n'a pas jusqu'ici rencontre son poete, et qui serait pour mon goüt bien plus precieuse encore que La Comedie Humaine. et meme que La Di'Vine Comedie"f>2. Die Phasen oder Topoi dieser Comedie I ntellectuelle lassen sich, i n genetischer Entwicklung, i n K ü rze so charakterisiere n : 1 . Methode: A m Anfang steht die Idee eines allgemeinen kontrollierten Verfahrens für alles künstlerische Produzieren, die Idee einer u niversalen ars in'Veniendi. deren histori sche Paradigmen bei Lionardo. Descartes. Leibniz und in der modernen Mathematik und Physik zu suchen sind. Valerys frühe Cahiers spiegeln die ebenso esoterischen wie scharfsinnigen Spekulationen d ieses grundlegenden Entwurfs. der alle Motive der späteren Arbeit enthält oder begründetf>2a. 2 . Moi pur (Acte pur): Hauptthema des Entwurfs und der aus ihm folgenden Reflexionen ist die Analyse der Struktur des zu gew innenden Vermögens der u niversalen ars in'Veniendi. Valerys Reflexionen kreisen hier, unvermeidlicherweise im Bann der einschlägigen Fragestel lungen der traditionellen Philosophie. u m das zentrale Thema der neuzeitlichen ' Erkenntnistheorie' : das Problem der übergreifenden Struktureinheit der verschiede nen Leistungen des Erkenntnis- und Kreationsvermögens. Es ist das Problem der Macht (pouvoir) ebenso wie der Ohnmacht des Moi. insbesond ere des von aller empirischen Zufälligkeit und Bedingtheit hypothetisch losgelösten Moi pur. H ierher gehören die Reflexionen über die reine A ktuosität des Ich : das Moi pur ist acte pur. Oberflächlichem H insehen scheinen hier Einflüsse der klassischen philosophischen Theologie oder aber des Deutschen Idealismus (Fichte) vorzuliegen. Valerys Ge brauch de� Ausdrucks "acte pu r " (im C. M. auch : "evenement pur" [Strophe 8]) ist aber po'i etologisch motiviert und zielt auf die rein kreative Operation, sei es in der Mathematik") , sei es in der Kunstf>4. ��
I , 1 20 I . "1, Dil' t;eislreiche Pb.uJcorci L '/Jü F,x� bchanJeh dieses leinhema i n Anlchnung a n den Begriff der logischen Implikation als Jas Problem des realen Vermögens ("capa.:ilc") beliebiger Leistungen in der Theorie des " I mplell:e" (Vgl. da1-u 1 1 , 234 ff.). ", Da� Wesen der mathematischen Absuaktion und Formalisierung wird beschrieben als einc Reduklion des mathematischen Denkens auf seine "actcs pUfS" im EllpalmoJ ( I I , 1 1 1 ) . ... Vgl. : " M n al:les PUfS I Vont .l.sservir .i j'Q:uvre sans ell:emplc I Lcs ruines des monlS, . . . .. (Amphron. I , 1 77) . ..A .: t e p u r " meint hier d i e unbedingte. Ordnung und Schönheit hemdlende Handlung des Pu'lelen Amphion. Jer die Maucom Thebens .l.lIein d u rch den Kbng seiner LClcor erb.l.ut. - " F:. vcnement pur" im C. M . . Strophe 8, schelnl m i r bedcutungsgleich. Gemeint ist d i e Entstehung (l-.rschaffung) Jes Gel'i,chlS, - .l.US dem Nichts (vide). so wie der reine Akt des Ziehens einer Linie, eines figu.rli.:hen U mrissc� ,·in.· - kreativc - " n t �l
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3 . Poesie: " Acte pur" meint, wie die Stelle aus Amphion zeigt und Strophe 8 aus dem C. M. wahrscheinlich macht. auch und sogar vorzüglich den poetischen Akt : den Akt der poetischen Schöpfu ng ebenso wi e denjenigen der poetischen Wirkung. Die reine H a ndlung, das reine Ereignis der Poes ie, sind relativ häufig Thema der Gedichtcj,s. U nter d iesem Aspekt kann man geradezu sagen, das w ichtigste Thema von Valerys Poesie sei sie selbst, ihre Genese. ihre W i rkung und ihre Ohnmacht. Valerys Ge dichte haben als thematisches Substrat den Prozeß der Poesie selbst; sie sind ihr permanenter Selbstkommentar! Ein Endstadium der Poesie: Die Inhaltlichkeit von Poesie kann nur noch dadurch legitimiert werden, daß alles wehhaltige Erkennen, H a ndeln und Sprechen als im Wesen poetisches Geschehen ausgegeben wird. 4. Esprit, consnence (animus - anima): Das Gelingen des acte pur ist ein vergleichsweise seltenes Ereignis. Häufiger ist die Erfahrung des M ißlingens ("echec"") im Geschehen der "Comedie Intellectuelle" . Nicht die Macht des M a i , sondern seine Oh nmacht ist die elementare Erfahrung. So dominiert der Aspekt der Zufälligkeit und Irrationalität des psychischen Geschehens und seiner Produktionen. denen die Kontrollinstanz des Moi allenfalls auffassend und auswählend gegenübersteht. Der 'k reative' Prozeß wird so zum eher rezeptiven Vorgang des Ordnens der Produkte eines autonomen und dunklen psychischen G rundes. Die Ode A u rore faßt das unter dem Bild des dichterischen Ich. das im 'Wald seiner Sinne di e Orakel seines Gesangs' sucht6? Das antagonistische, aber eben deshalb für beide Seiten konstitutive Verhältnis der Gestalten von Monsieur und Madame Teste ist so z u verstehen. Vom Verhältnis "Animus - Anima" hat der Abbe Bremond, ein B ild Paul Claudels übernehmend. hier gesprochen6!, Valerys Psycho logie des Schöpferischen bewegt sich hauptsächlich um diesen Topos. der auch für eine A nzahl 'schöner Verse' i n der Sammlung Charmes gesorgt hat", I n den U mkreis der Psychologie Valery s gehört auch das ebenso triviale wie ergiebige Thema ' Bewußtsein als Störung und Abfall von der unproblematischen DC'n VC'rsC'n " A upre-s d ' u n ,C%ur, aux sour,C'\ d u poe-mc, I F.nlrc Il' \'iJ" l't 1'C\-rnC'm.'nt pur" ( C. M, Strophe 8) cntspricht diC' Strophe aus OJC' SC'CTttC': "Ö qud Taureau, qud Chien, quelle Our\e, Quel� objcts de vicloirc enorme, / Q uand ellc entn' aux tcmps �ans ressource " L ',1m., impose .1 1"'�pa,C' infurm C' ! " Das I maginierC'n der Sternbilder i n der Leere Jer Zell unJ d;t� Cha(1� Je� RJ.um., � .. i�d hier bezeichnel als ")es grands actC's q u i sont aUII C i eu ,, " ( 1 , 1 52 ) , "Ac;te pur" he iß t I m OUJ[oguC' d,' I',irbu die TätigkC'it, mit der de'r H irte TilYTOS sC'inC'r FlölC' Musik C'ntlot'kt ( " J e sC'ntirai \'C'nir l'a'tC' pur .ir mcs IhrC's" ; I I , I 77), hS I n C'inC'r C'rslC'n, unvollsländ igC'n Aubählung sind z u nC'nncn: PotJlC', L a Pyth,C', PalmC', Aurorc, er.dlich dC'r C. M, " 66 DiC' ParadiC'sC'uchlangC' in lb"uchC' J'un SC'rpC'nt, S y m bo l des refl ui vC'n Mal, nennt sich u vieil amalcu r d 'c-chC'cs" ( I , 1 45 ) , h7 .. " , C'I vais cherchanl / Dans m a foret sensuelle / L C 5 orades dC' m o n ,hant" ( I , 1 1 2 ). M Brc-mond, H., u PotJiC' PurC', Paris 1 926, und " PrierC' C'1 poc-sic" in C"hiC'r, vC'rt5 ( 1 926) . .. Zum Beispid noch in PalmC', abC'r au,h im C. M. CO A upres d'un ,�ur, aUII sourcC's du poe-mc", SI'ophc
').
SCH ..· I E R I G K E I T E N .
DEN
C I M ET I E RE
M A R I N ZU INTERPRETII�REN
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Einheit des Seins'. Der kosmogonische Mythos von Ebauche d'un Serpent gewinnt daraus ein metaphysisches Argument (Strophe 7), und der C M. formu liert in Stro phe 14 in der Anrufung des i n sich selbst ruhenden Midi: " Mes repentirs, mes doutes, mes contraintes / SOnt le defaut de ton grand d iamant . . . . . Der Sündenfall des Bewußtseins ist jedoch der Grund der Erzeugung des Schönen, und allein das Schöne versöhnt die Entzweiung, die durch das Bewußtsein entstanden ist : " . . . ET POUR TA PUNITION, TU FERAS DE TR � S BELLES CHOSES. Voil. ce qu'un Dieu, qui n'est pas du tout Jehovah, dit veritablement a I'homme, apres la faute"'o. 5. Mon corps: Monsieur Teste ist nicht nur mit Madame verheiratet ; er 'hat' auch einen Körper, er ist Körper, und das ist u. a. der Grund, weshalb er mit Madame verheiratet ist. Valery hat lebenslang eine etwas altertümliche (cartesianische) Version des psycho-physio logischen Problems kultiviert. Herrschaft und Knechtschaft des leibgebundenen Moi gehören ebenso in den Umkreis der Selbsterfahrung des po·i etischen Subjekts wie die im eigent l ichen Sinne psychologischen Beobachtungen. b. Temps:
Das Subjekt erfährt seine Körperhaftigkeit als Endlichkeit. Die Zeit ist eines jener Probleme geworden, angesichts deren der Philosoph 'sich gegen die Gefahr zu versi chern versucht, als verfolgte er ein rll!in verbales Zid'71 . Denn Zeit ist zunächst ein praktisches Proble m : endliche Dauer des Subjekts und seiner Taten; Wandel von Erscheinungsweise zu Erscheinungsweise, wo doch bleibendes Sein das Erstrebte ist. ( C M. Strophe b : " Beau cid. regarde-moi qui changc ! "71, deshalb Sorge, dem Wan del Bleibendes abzugewinnen ; vor allem aber das eigene Ende, das mit der Leiblich keit gesetzt ist, vgl. C M. Strophe 9 : "Sais-tu . . . quel corps me traine a sa fin paresseuse . . . ?"). Meine Leiblichkeit hat aber nicht nur diesen relati v trivialen Aspekt der Vergängl ichkeit und der sich daran knüpfenden melancholischen Gedan ken. Sie begründet die Struktur eines Verhaltens, die Valery da und dort in anthropo logischer Absicht formul iert, besonders im Essai La Politique de I'Esprit ( 1 932). Die Leiblichkeit impliziert eine Bedürfnis-Struktur; sie ist Mangel-Haben. Mange l - H a ben. Bedürftig-Sein s t e l l t s i c h b e i e i n e m d u rch "esprit", d . h. Reflexivität, bestimm ten Wesen dar als H eraustreten aus der U n m i ttelbarkeit reaktiven Verhaltens, die das bloß Biotische charakterisiert. Das Geistwesen Mensch transzendiert die U nm i ttel1'0 1 1 , 6 7 1. . 'I
V!:I I , I 1.68. 'l Oder: · 'Tet(' euntpletl· et parfait d u,drme, I J (' suis ('n tui le seer('t eh"nG('m('nt " (Strophe ll). Der \\·"ndel in nicht nur .:rliuener W"ndel. Er ist ('in(' pmitive Ch"r"kt('ristik des Men�ch('ngeiste5. Der "r�prit", d.JS Men�chliche im Mc:n�chen, durchbricht di(' Monotonie des bloß Viulen : " . . . son .Jffaire c�l .Je prU'·oqUl·r l e chlngc:m('nt" ( 1 , 1027). Als di(' den Wandel m4(hendt' euentiell(' Unruh(' Stellt sich du MOl i m C M denn luch d�r GtGenl.ibn d('r ruhend('n I dentiüt des Kosmischtn (Strophe I } : .. . . Mill I '1.n\ mUlln·ml'nt: En soi St pt'nst ct con,·iem .i soi-meme . . . J Je �uis en toi 1(' ucr('t ch�nge· rn.'nt : · )
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GÜNTH E R B U C K
barkeit d e r Lebensvollzügeö "i/ ne vit q u e fort p e ll dans l'instant meme"n. I m Hin blick auf die reine Unmittelbarkeit des bloß funktionalen Lebens kann man sagen, daß er daraus herausragt. Er lebt ek-statisch : "L'homme est animal enferme - a I'exterieur de sa cage. 11 s'agite hors de 501' , , 74, Sein ekstatisches Freikommen vom bloß funktionierenden Leben führt ihn in eine neue Bedingtheit : in die Bedingtheit und Endlichkeit der zeitlichen Existenz. Er erschafft durch das Transzendieren des U nmittelbaren die Zeit'4�. und damit etabliert er sich in der H auptsache in der Nicht-Gegenwart, im Vergangenen und im Zukünftigen. Faßt man das Mangel Haben mit Rücksicht auf diese heiden Modi der Nicht-G egenwart, dann kann man vom Menschen sagen . . . . . qu 'il lui manque indefiniment ce qui n 'existe pas. C'est la une condition qui n'est point animale, qui est toute artificielle, ( . . . ). U n observateur exterieur a I 'humanite verrait donc I'homme agir le plus souvent sans objet visible de son action commc si un autre monde lui etait present, comme s'il obcissait aux actions de choses invisibles ou a des etres caches. Demain est une puissance ca chee"'s. Der Zeitaspekt der Zukunft macht deutlich, wie sehr das die Zeit konstitu ierende 'Nicht' jeder momentanen Mangel -Abhilfe voraus ist. Das Transz.endieren des Augenblicks hat alle künftigen Abhilfen immer schon überholt. Das für die Zeit, zumal die Zukunft, und das Selbstbewußtsein (Moi)'" konstitutive Nicht ist allen künftigen Möglichkeiten immer schon voraus ; erfüllte Zukunftserwartung produ ziert neue Erwartung unerfüllter Zukunft. - Ich schlage vor, dies als Hilfe für die Interpretation des "creux toujours futur" in Strophe 8 des C. M. sowie von Strophe 12 Vers 5 COLa vie est vaste, etant ivre d 'absence") zu benutzen. Da Valerys anthropologische Skizze auch die Struktur allen 'artifiziellen' Verhal te ns, aller Kuhur- u n d Kunstschöpfung aufzeigt, dürfen wir mit ihrer H ilfe vielleicht auch den Baum-Mythos aus dem Schluß von lbauche d'un Serpent deuten, wo die Rede ist von der "etrange Toute-Pu issance du Neant " ; Das die Zeit und z.umal die Zukunft 'schaffende' Nichts - ein anderer Ausdruck für das konstitutive Mangel Haben der menschlichen Transzendenz ! - ist der Grund des immer schon künftigen Mangels C'creux" ), dem alle menschlichen Werke ihre Existenz verdanken. Ich beschließe die Topik, die sich für die Interpretation vor allem von Charmes aus der Analyse von Valerys Prosasch riften ergibt, nicht ohne zu bemerken. daß eine analoge Topik im H inblick auf Valcrys Metaphern möglich und wünschenswert wäre. Für das Verständnis des C. M. fällt ihr Fehlen jedoch nicht besonders ins Gewicht. Die Metaphorik ist in der Regel aus dem anschaulichen Substrat, das die dem Leser i . a. geläufige Situation der Meditation auf dem Friedhof von Sete liefert, verständlich, bis auf ein paar Ausnahmen, die dem gelehrten Fundus entstammen. 7J
1 , 1 0 2 4. 74 1 1 . 525. Nur e:in We:se:n, das auf 'lolch fau.le: Wc:isc 'außer sich' Ist, kann d i e: Scinsform th's Slch - m l t sich-Ve:rmiudn5 u n d de:'1 M i t - sich - O bt're:inkommc:m so h u c h �ehat1cn (ygl. C. M . , Strophe 1 3 : " . Midi . . .JEn s o i sc: pc:nsc: et convic:nt ;.; soi- mrmC" . . . . . . ). 74° 1 , 1 02 4 . 7� 1 , 1025. 7to VSI. Ebd.
S C H W I E R I G K E IT E N , DEN C I M ET I E R E MARIN ZU INTERPRETIEREN
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der jenem Leser erklärt werden muß. der die Bedingung klassischer Bildung. die Valery hier voraussetzt. nicht erfüllt (hierher gehört z . B. das Bild des vom Kampfge tümmel durchlöcherten griechischen Soldatenmantels. Chlamys. für das lichtüber säte Meer).
VI Zusammenfassung auf halbem Weg Der Katalog gelehrter Anspielungen auf die Bestände klassischer Bildung wird uns sogleich beschäftigen. sofern er für das Verständnis des angeblich so 'philosophi schen' C. M. wichtig ist. Zuvor jedoch möchte ich die Voraussetzungen einer mögli chen I nterpretation resüm ieren. I . Entgegen der These des 'hermeneutischen Nihilismus', der mit dem einzigen Argument der Vieldeutigkeit des poetischen Worts operiert. sind Valerys Gedichte, wie jeder Text, in verbindlicher Weise interpretierbar. Sie sind interpret ierbar, weil die Verwendung von Sprache als ' Material' poetischer Konstruktion nicht 7.ugleich von der Gegebenheit von Sprache, d . h. von deren tradierter und eingeübter Bedeu tungsfunktion absehen kann. Die Verwendung von Sprache als ' Material' macht eo ipso Gebrauch von deren Bedeutungen. Jene "Similitudes amies/qui brillez parmi les mots" ( A urare, Strophe 2), d. h. jene 'ästhetischen' Beziehungen. die den " beau vers" machen, sind auch und sogar zumeist Beziehungen des Wortsinns, so vieldeutig d ieser auch sein mag! Die auf Vieldeutigkeit beruhende Dunkelheit des poetischen WortS dient Valery als Argument gegen jede, besonders aber gegen die 'philosophi sche' Art der Interpretation. Gegen Alain führt er den Vers des Hohenliedes an: "Je suis noire , mais je suis belle "n. Das poetische Wort ist schön. weil es dunkel ist! Gewollte Hermetik wird so zum poetischen Prinzip. Aber Hermetik anerkennt die Sinnhahigkeit. also Deutungsfähigkeit und Deutungsbedürftigkeit des d ichterischen Worls.
2. Dennoch muß sich jede Interpretation daran halten. daß hier gewollte Hermetik herrscht. Valery hat sich die These von der po'ietischen Konstruktion nicht nur in theoretischer Absicht ausgedacht; er hat sie angewandt. und seine Gedichte. vor allem der C. M., müssen deshalb auch unter dem po'i etischen Aspekt verstanden werden. Denn die po'ietische Verwendung eines Wortes kann seinen gebräuch lichen Sinn modifiz ieren, ein gesuchter Reim kann einem Wort eine quasi anonnale seman tische R ichtung geben. Welche - gegenseitige - semantische ' I nfektion' findet z. B. zwischen den Reimwörtern stau in diesen Versen der Strophe 1 7 : "Chanterez-vous quand screz vaporeu se? I Al lel.! Tout fuit ! Ma presence est poreuse• . . . " ? Po'ietische - übrigens größte Bedeutsamkeit stiftende - Konstruktion l iegt auch vor in der
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berühmten Onomatopoesie a u s Strophe 1 2 : " L ' i nsecte n e t grane la 5ckheressc". (Dieser beau vers ist übrigens schon zu Lebzeiten Valcrys das Opfer eines sehr gelehnen. aber eben deshalb nur allzumenschlichen Erklärungs- und Applikationsei fcrs geworden. Die Episode darf nicht verschwiegen werden. Schon früh nämlich ist am Rande der Valery- Exegese die nicht illegitime, aber doch ein bißehen yon priva tem Fürwitz getriebene Frage aufgetaucht, was für ein Insekt denn da 'gemeint' sei, Grille oder Ameise? Ein Professor an der Medizinischen Fakultät von Montpellier entschied nach Beobachtungen vor Ort den Streit zugunsten einer Grabwespe [Am mophila hirsuta], womit er sicherlich manchem Freund des C. M. eine veritable Grille oder gar einen ganzen Chor zuständ iger Zikaden verscheucht hat. - Aber sowohl der enttäuschte Freund als auch der Professor aus Montpellier haben den schönen Wortlaut des Verses unzulässig weit überschritten. Denn der Vers 'meint' in der Tat kein bestimmtes I nsekt und hat, wie der hermeneutische Nihilismus Valerys will, insofern keinen 'Sinn', Valerys ironische Antwort an seinen übereifrigen Erklä rer: "J'adopte Ammophi/A hirsuta que vous avez observee sur place, et de I'oeil aigu de J 'entomologiste, tandis que je n'ai fait que voir entendTe I'insecte net gratter le sol grille, mais imaginaire, car mon poeme fut entierement compose a Paris, trente-six ans apres Cene quinee". - Die Einfalt der entomologischen ' I nterpretation' erhellt übrigens daraus, daß eine der früheren Versionen des Verses lautet : " . . . chante la . secheresse . . Aber da wäre das Insekt sprach l ich nicht so präsent gewesen11 !) 3 . Sehr beim Wort muß man, glaube ich, Valerys These von der Priorität der 'Form' gerade im H inblick auf den C. M. nehmen. Valery versichen hier, er sei zunächst nur von einer 'leeren rhythmischen Figur' besessen gewesen, einem Zehnsilber. " Le demon de la generalisation suggerait de tenter de porter ce Dix a la puissance du Douu [d. h. des klassischen Alexandriners]. 11 me proposa une cenaine strophe de six vers Ct I'idee d'une composüion fondee sur le nombre d e ces strophes, et assuree par une diversite de tons et de fonctions a leur assigner. Entre les strophes, des contrastes ou des correspondances devaient etre institucs"79. Das Werk habe sich so von rein formalen Bedingungen aus realisiert, die in der Regel bis zu einem Punkt präzisiert würden, "qu 'eHes proposem ou imposent presque .. , un sujet, - ou du moins une familie de sujeu"lo. " Cene derniere condition exigea biemöt que le poeme possible füt u n monologue de 'moi', dans lequel les themes les plus simples et les plus constants de ma vie affective et intellectuelle, tels qu'ils s'etaient imposes a mon adolescence et associes i la mer et i la lumiere d'un certain lieu des bords de la Mediterranee, fussent appeIes, trames, opposcs . . . Tout ceci menait i 130 mort et touchait i 130 pensee pure"" . Auch diese inhaltl iche Konkretisierung sei ' konstanten 11
Uir F.pisodr ist rntnommrn rinrr Anmrrkung drs V;ll�rr - H rr;lusgrb('n J. Hytirr in I , 1 68 7 .
,. I , J SOl . I, J S04 . 1 1 l . l S0 l f . .c
SCH'\I' I E RIGKEITEN, DEN C I M ET I E R E MARIN ZU INTERPRETIEREN
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musi kalischen Bedingungen' unterworfen gebliebe n : " , ,. je me suis efforce de sou mettre a chaque instant le contenu significatif a la volonte ou a I'i ntention de satis faire le sens auditif. Le rythme, les accents et les timbres doivent, a mon avis, etre des facteurs a u moins aussi importants que I'element abstrait du langage poetique"sl. In einem Brief an Andre Gide von 1 922 heißt es: "Le Cimetiere marin serait donc le type de ma ' poesie' vraie et surtout les parties plus abstraites de ce poeme. C'est une espece de ' Iyrisme' ( . . . ) net et abstrait mais d'une abstraction motrice, bien plus que phi losophique"n. Valery hat diesen formalen Aspekt des C. M. aus prinzipiellem (theoretischem) und aus paradigmatischem Grund stets für den entscheidenden ge halten. Man wird das zu beachten haben. Die Faszination, die in der Tat von der Form des Werks ausgeht, wird diese Rücksicht erleichtern. 4 . Nun scheint aber die Eingängigkeit des C. M. bei einem gewissen - gebildeten Publikum eher vom Inhalt auszugehen, zu dem sich Valery nach eigenem Zeugnis erst in zweiter I nstanz entschlossen hat. "Quant au contenu du poeme, i I est fait de souvenirs de ma ville natale. C'est a peu pres le seul de mes poemes Oll j'aie mis qudque chose de ma propre vie. Ce cimetiere existe. 11 domine la mer sur laquelle on voit les colombes, c'est-a-dire les barques des pecheurs, errer, picorer . . . "14. Ein geradezu rührendes Bemühen, sich auch den Banausen verständlich zu machen ! Vielleicht spiegelt diese exegetische Rücksicht auf vernagelte Seelen eine ursprüngli <.:he Bemühung, den Text des C. M. frei von Auffassungsschwierigkeiten zu halten. Vielleicht daher die Wahl der pittoresken Lokalität und des in b iographischer Kon kretheit seine Situation mitteilenden Ich, das einen 'ebenso persön lichen wie allge mein gültigen Monolog' sprichtSs• Die Eingängigkeit und Verständ lichkeit des C. M. scheint auf den ersten Blick d iejenige einer erprobten lyrischen Spezies mit einem reichen Fundus von Gemeinplätzen zu sein, nämlich der Spezies der Friedhofspoesie! Was erscheint trivialer und allgemein verständlicher als jenes "Tout va sous terre et rentre dans le jeu" aus Strophe 1 6 ! Auch wenn das Leitthema des C. M. die "Come die Intellectuelle" ist : was jemanden unseresgleichen auf einem Friedhof bewegt, ja gcr..dezu bewegen muß, ist das nicht ausgemacht ? Aber das Motiv, der reale cime tiere marin, liegt in Sete, und der " regard marin" des ly rischen Moi streift über das Mitte/meer und die Zeugnisse jener mittelmeerischen Kultur, deren Lob Valery zeitlebens verkündet hat. Man muß sich klar machen, daß Valery durch den C. M. zum Exponenten einer I dee geworden ist, die zur Gründung des "Centre Universi-
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D,e: �rge:nsritige: A u s ioll u schbuke:it de:r Phue:n dirse:s Monologs. die: den C. M. mit e:inrm tiberoll u s reio;he:n Volirioll n tCnappuoll l ve:fSe:hen h oll � , !SI übrige:ns Indiz d d ü r . doll ß Voliiery d e: n e:im�c:lne:n Phase:n d e: s M.,)nolog) eine: jr e:igrne und gle:ichum sdbslge:nügume: Eingängigke:il zuge:schrie:ben h a i ! - Zu d e: n e:r ....olI .. h n t e n Vuioll n �e:n v g l . die Untersuchung v o n M'lFJ"", In Mrrclfrr Jr Fra"cr 1 076/ 1 07 7 ( 1 95 3 ) .
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A u u i n , " Poll u l VolIler)' compose: Ir
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taire Mediterraneen" geführt hat, dessen Administrator Valery seit der Gründung im Jahr 1 933 gewesen ist. Man muß wissen. wie hoch Valery immer die ' Fu nktion' veranschlagt hat. die " notre mer" (mare nostrum) erfüllt hat "dans la constitution de ('esprit europeen. ou de )'Europe historique cn tant qu'elle a mod ifie le monde humain tout entier"86. Die 'U niversalität' des Monologs des C. M. bezieht sich wo möglich nicht primär auf die allgemeine Verständlichkeit des hier Verhandelten. sondern auf dessen allgemeine Bedeutung! Abgesehen von diesen kulturphilosophi sehen Erwägungen ist das Minelmeer für Valery Gegenstand einer höchst persön l i chen philosophie marine gewesen, oder genauer: eines mythe marin, d e r g a r nicht s o trivial i s t . D a s Mittelmeer und s e i n H immel s i n d d a s Thema zahlreicher Prosastücke Valerys, die im beginnenden Zeitalter des Mittelmeertourismus sicherlich das Ver ständ nis und Einverständnis vieler Zeitgenossen haben voraussetzen können, wenn sie, wie z . B . die Inspirations Mediterraneennes, formulieren: "Certainement, rien ne m'a plus forme, ( . . . ), mieux instruit - ou consuuit - que ccs heures vouees dans le fond au culte inconscient de trois ou quatre deites incontestables : la Mer, le eie I, le Soleil. Je retrouvais, sans le savoir, je ne sais quels etonnements et quelles exaltations de primitif. Je ne vois pas quel livre peut valoir, quel auteur peut edifier en nous ces etats de stupeur feconde, de contemplation et de communion que j'ai connus dans mes premieres annees. Mieux que toute lecture, mieux que les poetes, mieux que les philosophes, certains regards, sans pcnsee definie ni definissable, certains arrets sur les purs elements du jour, sur les objets les plus vastcs, les plus simples, le plus puissamment simples et sensibles de nOUe sphere d'existence, l'habitude qu'ils nous imposent de rapporter inconsciemment tout evenement, tout etre, toute expression, tout detail, - aux plus grandes choses visibles et aux plus stables, - nous fac;:onnent, nous accoutument, nous induisent ä ressentir sans effort et sans reflexion la veritable proportion de noue nature, ä trouver en nous, sans difficu lte, le passage ä notre degre le plus eleve, qui est aussi le plus 'humain'. Nous possedons, en quelque sortc, une mesure de toutes choses et de nous-memes. La parole de Protagoras, que I'homme est Ja meSHre des choses, est une parole caracteristique, essentiellement mediterra neenneul7• Die Annahme, der C. M. lasse sich nach dem Paradigma der Friedhofs poesie verstehen, wird hier, wie man sieht, sehr leicht der Einfalt überführt. Zudem enttäuscht Valerys ' Friedhofsphilosophic', dic in jenem Sol iloquium zur Sprache kommt, auf doppelt überraschende Weise. Sie widerspricht erstens dem Skopus herkömmlicher, innerhalb des christlichen Todes- und Heilsverständnisses angesie delter Friedhofsmeditationen, und sie arbeitet zweitens mit einem Apparat humani stischer Bildu ng, z. B . mit antiken Phi losophemen, die man gerade auch dann kennen muß, wenn der Text des Gedichts nur anspielend Gebrauch von ihnen macht. Denn der C. M., d ieses auf den ersten B l ick so ' philosophisch' anmutende Ge dicht, spielt i . a. auf Philosophie - auf 'mediterrane' Philosophie - nur an; in ihm '" Lr Crntry Unl1lrnltalrr MjJltrrranirn ( 1 1 . 1 1 )4 ) . �� J , 1 09 2 .
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bricht Phi losophie - Valerys po'i etische Antiphilosophie oder deren Gegenstück, Valery s metaphysischer Mythos - nicht im sei ben Maß durch wie in den anderen großen Gedichten. Der C. M, spielt auf historische Philosoph ie an, und er spielt mit ihr. so das Ideal einer po'ietischen Phi losophie verwirklichend. das erst später formu· l iert w ird. Modernes christlich geprägtes Bewußtsein, das in der Verfremdung durch eine An von antiker Staffage erscheint, braucht, um verstanden zu werden, einige Hinweise, die die Verfremdung erst niitzlich werden lassen, Indessen, selbstverständ lich und von der Sache prinzipiell gefordert scheint das nicht zu sein. Es ist ja möglich. daß der Autor als poeta doctus einen lector doctus vorausgesetzt hat, der das Spiel ohne weiteres m itspielt. sofern er nur eine Kenntnis aktiviert, die ihm der gymnasiale Philosoph iekurs schon vermittelt hat, und es ist sogar wahrscheinlich. Ein literatursoziologisch interessanter Fall von Esoterik, die von der Bedingung abhängt, daß der Großteil der Leute hinter einer Bildu ngsbar· riere verwahrt ist!
V I I Antiker Apparat Ist es nötig, alle Anspielungen auf antike Philosopheme kenntlich zu machen? Man kann darüber streiten. ob der "Iong regard sur le calme des dieux" (Strophe 1) nur von Lu krez und der epikureischen Voraussetzung der Funktionslosigkeit der Götter her recht verstanden werden kann, Die Notwendigkeit. Zitate aus der Antike zu erklären. beginnt jedoch schon bei der Pindar·Stelle. die als Epigraph dient : "Nicht, liebe Seele, Leben unsterbliches / Suche ; die tunliche erschöpfe, die Kunst" Bl, Mehr .115 alle Kommentare über lukrezische Spuren im C. M.R9 verdeutlicht dieser Epigraph die G rundintention des Gedichts. Er allein ergibt eine hi nreichende Direktive für den sonst unberatenen Leser. Er könnte übrigens über Valerys ganzem poetischen und denkerischen Werk stehen, Finites Sein und mit diesem Sein identisches, es ausfül lendes, finites Vermögen beliebiger Po'ies i s ; folglich Redu7 ierung alle(j unend lich E rscheinenden auf beherrschbare Endlichkeit: das ist Valcrys Hauptgedanke von Anfang an, Die Gestalt des Monsieur Teste, d ieses 'Mystikers ohne Gott'90, der den christlichen Unendlichkeits-, d . h. Gottesgedanken zurückweist zugunsten der radikalen Endl ichkeit der "tunlichen Kunst" (Pindar·Hölderlin), ist ihm entsprun gen, u nd noch im großen Faust-Monolog des Teils "Lust" von Mon Faust wird die Vollendung des großen "art de vivre" in eben d ieser Sprache gefeiert : "Serais·je au "' So HoldC'rlins Obrrsrtzung ( Klrinr Stuuj;artrr Ausg" 8J S, S. 8R), o. D r r Großr Broclth",.. nC'nnt i n Bd 12 ( 1 �5 7 ) J r n C M, \chlu:ht "Jn von lukrC'7i\chC'm Hauch rrfulltC' Sym bulgC'dlcht ... inl.'r gl.'iuigrn K m r " ! '0; So M m C' Trur u b r r i h r C' n G r m a h l ("mY$1iquC' uns Di ...u " , 11. H), D a s ü n r n d l,c hr ah ProiC'kllO n J C'\ C'nJI.chC'n Puu\'oir I n Thrma im Baum - M ythos am Endr von tb""chr J'"" Srrpl.'1Il, D o rt ];aUIC't das L.ob d ...s Poi... lrn Baum : "Tu pcUll rC'poul5C'r ]'inf'nI I Qu. n'tu fau quC' dr la croiuancC''' (I, 1 4 5), Dir Vorndlung 9o'itdrrhoh �ich im Dw/oR"r Jr I'Arbrr ( I �") ' 90'0 !i1C' ubrigC'n!i L"ltra auupricht : " , . , la P];antC' ( . , , ) auaquC' It v.dC'; dir luut pnur taUt c h a n gr r C'n dlC'-mc-mt, tl ... ·C'S! b $on (der ! " ( 1 1 , 1 92 ) ,
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comble de m o n art ? Je vis. Et je ne fais que vivre. V o i l a u n e I.ruvre (" ,) L 'in/ini est de/ini ( . . . ) J e suis cclui que je suis, Je suis au comble de mon art, a Ja periode c1assique de J'art de vivre, Voila mon cruvre: vivre"'" , Das Leitthema des Gesamt· werks ist also das Leinhema des C. M, und der Gesichtspunkt. der die Auswahl der großen Symbole des finiten Seins leitet : Mer ("Hydre absolue", Strophe 23); Midi (" En soi sc pense et convient a soi·meme", Strophe 1 3 )92, Der Epigraph muß im Licht einer Anspielung auf Lukrez gesehen werden. die in Strophe 1 1 beginnt: ("" , ecarte I'idolätre !") und Strophe 18 ganz ausfüllt ( " Maigre immortalite noire et doree " . "), Diese Anspielung scheint die lukrezische Religions· kritik aus De rerurn natura ( I . 62 ff.) mit deutlicher Wendung gegen den in der christlichen Todessymbolik eines mittelmeerischen campo santo präsenten Unsterb· lichkeitsgedanken aufzunehmen, Es ist möglich, daß " J ' idolatre" und die "maigre immortalite noire et doree" eine Replik sind auf das lukrezische Schreckbild der Religion, "q uae caput a caeli regionibus ostendebat/horribili super aspectu monali· bus instans" (De rerurn natura, I , 64 f,), Es ist jedoch nicht wahrscheinlich, daß Valery hier eine Kritik am Christentum vorträgt. Er stellt allenfalls dessen Ende fest". Man wird das lukrezische Moment nicht überall im C. M, sehen dürfen. G , Cohen hat ausdrücklich nur der Strophe 11 eine " inspiration lucretienne" zugesprochen'" ! Das im zweiten Teil allgegenwärtige Thema des Todes - des fremden wie des eigenen - und des 'jeu', des Kreislaufs der Materie, enthält, wenn überhaupt. nur eine ganz unspezifische Anspielung auf Lukrez. Das Todesthema wird in recht unlukrezischer Weise behandelt, Keine Spur von Lukrez' 'Nichts geht also der Tod uns an . , . " s , Das Moi des C. M, kümmert sich um seinen Tod, furchtlos auch es, aber das A rgument des Lukrez der Anfechtung durch die Gewißheit des eigenen Todes preisgebendW" 91
11, }21 f. (Ht"rvurlll�bunK nichl im OriKinal !). Auch G . Cuht"n bt"mt"rkl hlt"r: "on longt" � l'Univt"rs fini J'un Einslt"m" ("bu.1 J·t":l.phcauon " , In NO"lJrUr RM,I"r Fr""f/."r }2. 1 929, S . 2 1 4 ). Coht"n drulrl drnnoch drn " M idi" ,�h "rlrrn ilr" ("Non· tlft" rlrrnrl rl incon�cirnl") und als "absolu" (S. 2 06 f . ) ; dagrgrn ist ihm das Mrt"r S�'mboJ dn Mrn· scht"n. drr "mobililr dr I'tur rphrmc'ft rl conscit"nl" (S. 209) iSI, - nichl ohnt" SCh .... it"rigkt"il für dir Drulung von Suophr ) ! 91 Dirsr Vt"rmulung ....i r d bnl:llig1 durch t" i n Grdichl. du 1 9 4 1 unlrr dt"m Tiltl Si"mrr in d t" r Sammlung Miw"gr t"fSlmaJs rrschit"nC'n iSI. SmlJlrr su.mml . .... it" sich aus Valrrys Vorwon t"rschliC'6C'n ):161, aus drr bil um 1 890. also drr bil drr C'fSirn Iyrischrn Produklion, aus dt"rt"n Umkft"is t"s IhC'malisch jrdoch wt"grn S("int"f KalaSlrophmnimmung hC'rausfalll. Das Gt"dichl iSI schon ganl. brslimml vom MOliv dt"s t"rslC'n Lionardo· Auhal7.C's "on 1 894, n ist rinC' An lyrischC' Vrrsion von M01lJ.r", Trfu. F.s iSI aber auch t'in UnlC'rsangsgrdichl. t"in marint"s Snick "oll dÜSlC'rrr FarMn. Es rndt'1 mil drr Siro p ht": "Jr "ois JC' Chri51 amarrr sur La vrrgut"! . . . / 11 danst" .i. mon, sombranl avt"C It"s sirns; / Son ..:r i l sanglanl m'«lairt" CC'I ("X("fgut": / U N GRAND N A V I R E A pERl CORPS F.T B I E N S ! . . . . . Das Gt"dichl C'nlhah ubrigt"ns C'int" frühr Vt"nion dt"s Bildn von Suopht" 10, Vrrs ft ( " La mrr v don sur mt"s lomMau x " ) : " L a mt"r rl�vt" rI rt""C'uW" dt'� lOmbt"s . . . . . (Suopht" 7, I, )01 f . ) .. G . Coht"n, " E ssai d'C'lIplicalion" S. 2 1 3 . 9S "Nihil igilur mon t"SI a d nos . . . . . ( D� ,.r,."", "",,.,,, 1 1 1 , UD). '" Vgl. SlrophC' 19: " L C' "rai rongt"ur, IC' vt"r irrrfulablt" / N'C'sl poinl pour vous qui donnt"7. sous 1.1 lable", I 11 vii dt" vit". il nC' mt" qUillt" pu!" '«'rr i�1 dC'r ""ni rongC'ur"? DC'f Tod, dt"n ich in mlf uagd Odt"r I,h stlbsl (MOl. Espril)? Krint" Anlwon ; Jrnn " . . . IOUS Ie"s noms lui pc-uvt"nl convmir!" (SuophC' 20).
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S C H Y I E R I G KEITF. N . Df.N C I M ETI E R E MARIN ZU I NTERP RETI EREN
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Das ist eine für Valery gar nicht übl iche Haltung; denn : " . . . Mourir, non moins que naitre, I Echappe .3. la pensee. I Amour ni mort ne sont point pour l 'esprit"97. Die Preisgabe der antiken Ataraxie ist durch die - ganz ungriechische - Anrufung des Zenon markiert. Diese Stelle (Strophe 2 1 ) verlangt eine grundsätzliche Bemerkung. Es könnte so scheinen, als konkurriere im C. M. eine eleatische mit einer lukrezisch epikureischen Antike. Eleatisch muten ja einige der großen Verse des C. M. an, die das ruhende Sein feiern. Was läge also näher, als auch jene eleatischen Argumente anzuführen, die als die unonischen Paradoxien bekannt sind ? - Indessen konkur riert der Eleatismus nicht eigentlich mit der Philosophie des Lukrez ; aus der histori schen D istanz sehen wir sie vielmehr in einer Einheit des antiken Denkens beieinan der. Vor allem aber: Zenon wird in Strophe 2 1 nicht in eleatischer Supposition zitiert. nämlich als der Leugner der Bewegung. Valery hat sich nicht bei ihm in die Lehre begeben. um einen Lehrsatz ins Spiel zu bringen. Er zitiert Zenon gleichsam schief zu dessen Intention. nämlich als Urheber von Paradoxien, einer logischen Foher also. die Leiden verursacht in der Absicht. Leiden - das Leiden an der Bewe gung - zu beheben. Das Leiden an der Paradoxie ist ein moderner Affekt. I n der Betroffenheit durch die zenonischen ' Paradoxien' setzt sich die Betroffenheit der Paradoxie von Strophe 20 fort. der Paradoxie nämlich, daß ich lebend den Feind des Lebens nähre, sei es nun den Tod oder den Leben für seine Schöpfungen aufbrau chenden "esprit". Insofern paraphrasiert das Zenon-Zitat freilich eine antilukrezi sche Haltung. Zugleich erfülit es noch eine zweite Funktion : es bringt kompositions tech nisch die meditative und melodische Bewegung ins Stocken, so daß die folgen den drei Strophen die neue Bewegung des Finale aufnehmen und den in den Stro phen 19 und 20 vorbereiteten Entschluß des "11 faut tenter de vivre ! " artikul ieren können. Nur durch den Entschlufl solcher Art kann die Lähmung, die die Paradoxie erzeugt. überwunden werden. So löst, obwohl nicht argumentierend , Valery die Paradoxie auf, nur in ganz anderer, dem zenonischen Argument widersprechender H insicht, nämlich für die Bewegung (Strophe 2 2 : " . . . Dans I'ere successive !" ). Das gewollte Antikisieren, das in der kalkulierten Verwendung dt'r zenoni
•.
A u s ,Jtm GC'd.t'h, Pw"",r Jn,'."r w bir(' ( I , ]!l7). - Ahnlieh in L 'ldie' Fuc(' ( I I . 2]0 1 . ) . Coh('n. " F.U.1' d 'C'xp!IC.1"on" S. 227. eohtn .. ('isl u . a . .1uf "almudC''' in Snopht 4 hin, du .1ul d,t BC'Jtul u n g du laltlni"h('n ".1hiludo" (Tic-It) anspidl, ftrnc-r .1uf "idolts" In Snoph(' 22. d .1 s dtn Sinn
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G ÜNTH E R BUCK
300 VIII Das Schema der "Comedic Intcllectuellc" im Cimetiere Marin
Im Jahre 1 9 1 9 hat Valcry sein poetologisches und poetisches Programm als dasjen ige der "Comedie lntellectuellc" bezeichnet, 'die bis heute nicht ihren Dichter gefunden hat'99, Diese programmatische Äußerung stammt aus einer Zeit, in welcher der C. M. 'komponiert' worden ist1OC• Der C. M. ist also sehr wahrscheinlich neben der feune Parque ( 1 9 1 7) cin von Valery selbst als solcher intendierter beispielhafter Teil der "Comedie I ntcllectuellc". Der Begriff der "Comedic" schließt ein, daß hier ein Geschehen dargestellt wird . dessen inhaltliche Aspekte mit den Mitteln der poeti schen Topik Valerys ertaßbar sind. Er schließt hier auch, entsprechend seinem mit telalterlichen Gebrauch, ein, daß es sich um ein Geschehen mit gutem Ausgang handelt. Vom Beispiel der Jeune Parque her bietet sich ferner die Erwanung an, daß es sich hier um eine dramatische Entwicklungs-Struktur handelt. Nimmt man end lich Valerys H inweis auf das musikalische Kompositionsschema der Sonate oder Symphonielol ernst, das dem C. M. zugrunde l iege, dann hat man alle möglichen Gesichtspunkte für die Analyse des Kompositions- oder inhaltlichen Entwicklungs Schemas des Gedichts beisammen, an die sich alle bis jetzt vorgelegten I nterpretatio nen gehalten haben. So hat zum Beispiel die lange Zeit maßgebliche Exegese aus der Feder von Gustave Cohen den C. M. als 'eine Art Symphonie'102 mit vier Sätzen (mouvements) behan delt, - ein Schema, das Cohen, der dramatischen Struktur des Gedichts zuliebe, dann allerdings aufgegeben hat zugunsten des anderen Schemas 'einer klassischen Tragö die in vier statt fünf Akten, mit einer Exposition, einem dramatischen Knoten und einer Auflösung . . . ' \ O l . • Aber man kann auch an den zugleich lyrischen und dramati schen Dialog der griechischen Tragödie ( . . . ) mit seinen drei Akteuren, dem Protago nisten, dem Deuteragonisten und dem Tritagonisten denken ' l04 . Die drei Akteure spielen ein im ganzen vierteil iges Stück, dessen Entwicklung sich aus der wechseln den Vorherrschaft der einzelnen Akteure ergibt. Diese Artikul ierung der Entwick lung, diese inhaltliche Gestaltung des Gedichts folgt also der inhaltlichen Festlegung auf die drei Akteure, die Cohen so vornimmt : 1. Protagonist: " Le protagoniste serait ici le Non- � tre ou le Neant, dont I'immobilite est si admirablement symbolisee par Midi, Midi le juste . . . ". 2 . Deuteragonist: " Le deuteragoniste, c'est la conscience, eelle du poete sans doute, eelle de I'homme aussi, tente de s'abandonner a I'extase immobile qui I'identifierait au neant eternd, mais eapable de passer, eomme la Mer, symbole de eene conseienee, d'une immobilite frissonnante a la mobilite tumuhu-
.. 1 , 1 20 1 . " la composilion du Cimrtrtr-t M�n" s'elend d t 1 9 1 7 .i 1 920" c,mrtrtrt M�n,,", in MtrcMr-t Jr Fr�"rt 1 0 7 3 ( 1 9 5 J ), S 580). , : , 1 . 1 505. ' � l "une sorte dt �)'mphonit" ( " E ssai d'txplicalion" S. 204). '01 Ebd. S. 2 0 ·4 1 . , 04 F.bd. S. 2 0 5 . 1 00
(l.J.
A u m n , " Paul Valery
C:OßlPUW k
S C H W I I-:: R IG K E ITEN, DEN C I M ETI E RE M A R I N ZU INTERPRETIEREN
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euse et creatrice". 3 . Tritagonist: "Et le tritagoniste, c'est I'auteur a la fois et specta teur de ce drame q u ' i l contemple avec passion et selon le denouement duquel i l se resoudra" ':ls. Zusammenfassend charakterisiert Cohen die Konstellation, aus der sich die Dynamik des Geschehens im C. M. ergibt, so: " . . . le soleil de Midi (est) I' � ternite inexorable, qui tente I'homme a se soumettre a elle par la fusion mystique, la Mer representant la conscience aux sourdes profondeurs et aux possibilites i l limitees, capable d'immobile contemplation et aussi de creations ou integrations successives et indefinies"I06. Daraus ergibt sich das dank solcher entschiedenen Fixierungen recht übersichtliche I nterpretationsschema des C. M. als einer vier-sätzigen Geschehens abfolge o 1 . Satz (Akt) : Immobilität des Nicht-Seins (Nichts), das ewig und unbewußt ist (Strophen 1 --4 ) . 2 . Satz ( A k t ) : Mobi lität d e s Seins, d a s endlich u n d bewußt i s t (Strophen 5-8). 3 . Satz (Akt) : Tod oder Unsterblichkeit? (Strophe 9- 1 8). 4 . Satz ( Akt): Triumph des Augenblicks und des Sukzessiven, des Wandels und der poetischen Schöpfung (Strophe 1 9-24 ) 1 07. Wie man leicht sieht, gewinnt Cohen diese Einteilung mit H i lfe einer vom Text nicht in jeder H insicht favorisierten Festlegung, die im Hinblick auf die beiden ersten 'Sätze' vorgenommen ist und von dort aus die exegetische Artikulation des ganzen Gedichts beherrscht. Es ist die Festlegung, der gemäß "Midi" (soleil, cie!, lu miere) Symbol des wandelloser., übe.menschlichen Unendlicher. ( � ternite inexora ble) ist in strenger Opposition zur symbolischen Funktion von "Mer", das aus schließlich als wandelbares, end l iches Sein, als Werden gegenüber dem Absoluten erscheint. Sel bst die in Strophe 1 beschriebene Stille und Unbewegtheit des Meeres, die der Immobil ität des Midi ganz zu entsprechen scheint und die Erinnerung an die Ataraxie der Götter Epikurs weckt, - selbst dieses Bild des unbegrenzten Seins enthält nach Cohen 'einige mögliche Elemente der Instabil ität und Mobilität ', 08 : "ce toit palpite, la mer inquiete est touiours recommencce"I09. Cohen meint auch, daß in Strophe 2 , Vers 3 der Friede nur etwas ist, das so scheint ("Et quelle paix semble se concevoi r! " ; " Cette paix ne serait-elle que provisoire ?")"c. Das Meer ist nicht das Symbol des Absoluten, es korrespondiert dem Unendlichen nur auf endliche, an Menschliches erinnernde Weise. So kommt es auch , daß Cohen die Strophe 3 nur psychologisch interpretiert. Den Vers, wo vom ' Flammenschleier' ( = Lichtreflexen) die Rede ist, der den vielen Schlaf im Meerauge bedeckt, bezieht er direkt auf das mensc h l iche Auge " l und versäumt so die schöne Analogie zu,·ischen dem Meer und I : ' .1 I 1 I." Z u.lIc : l."bd. S . 2 0 !:l . I :� F b d . s . 2 0 5 f .
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der Seele des Dichters, mit der Valery die am Beginn des C. M. stehende Evokation des ruhenden Meeres abschließt. Cohens unvermittelte Opposition von "Midi" als Symbol der Immobilität des "Neant eternel" einerseits und "Mer" als Symbol des wandelbaren Seins (Werdens) unterstellt Valery eine wahrhaft metaphy sische. näml ich i m Sinne der klassischen Metaphysik metaphysische Vorstellungsweise. " M i d i " (soleil, ciel) gilt ihm als Sym bol des Abso luten, und dieses als unendliches, bewegungs- und werdens loses Sein. das. wie i n der negativen Theologie, nur via negationis zu bestimmen ist, als " ncant divin", wie in Leconte de Lisles Gedicht Midi. das Cohen als eine der - unbewußten - 'Quellen' des C. M. betrachtet I 12 • Da kann das Meer in seiner bequem anschauba ren Positivität freilich nicht mithalten. Es scheint nur unbewegt und werdenslos ; ohne sichtbare Bewegung der Gezeiten, bietet es doch eine Wahrnehmung, deren aufdringliches Moment der Wandel ist. So formuliert die Strophe S, an deren Ende das Bild des Meeres verschwindet, um dem Bild des G räberfe ldes Platz zu machen, die vorherrschende I mpression des "changement des rives en rumeur", und wie die Strophe 6 dann sehr deutlich macht, ist "changement" in der Tat das Signum der endlichen Seele. Ich möchte vorschlagen, Cohens mit viel gelehrten h i storischen Rem iniszenzen belastete Festlegung aufzugeben und zunächst nur die H ypothese als plausibel anzu erkennen, daß der C. M. i m ersten Teil beherrscht ist vom Bild oder von Bildern des sich selbst genügenden. nicht nur in sich ruhenden, sondern auch i n sich zurückkeh renden Seins. Nicht nur die Immobil ität, das Statische, ist für Valery w ichtig, wenn er das Bild des "Midi" und des Meeres evoziert, sondern, wie sich am Bild des Meeres zeigt, ebenso dies, daß der Wandel ("changement" ) i n die Einheit eines Seins einbehalten ist. das im Werden stetig in sich zurückläuft. Dabei m u ß man beachten, daß "Midi" und "Mer" nicht nebeneinander bestehen u nd auf diese Weise differente oder gar gegensätzliche Wesenheiten sind. Sie sind heide Momente eines einheit l ichen Zusammenhangs, eines Kosmos, der in Wahrheit das sich selbst genügende Sein ist, dessen Idee den ersten Teil des C. M. beherrscht und das d u rch das ganze Gedicht hindurch den ausdrücklichen und unausdrücklichen Zielpunkt der Aktivitä ten des lyrischen Ich bildet. Das Meer ist also keineswegs erst in zweiter H insicht gegenwärtig. als Mittel, in dem sich das Absolute (der Midi) darstellt und das deshalb nur der Widerschein und die unzulängliche Darstellung des Absoluten ist. Das Meer beherrscht vielmehr den ersten Teil des Gedichts, es ist der eigentliche Protagonist. Austins Untersuchung der Genesis des Gedichts steuert da7.u eine glückliche Ent deckung bei : die U rzelle des C. M., der "Zustand A" ( Austin), ein Gedicht von präsent gehabi hat. Frilhe Varianten von Vers llauten: .. Enln." le\ pans,
hll'r ,ja� R ahmen"lllo'erk der Pinien (Vgl. Cimrtlrr-r "","In" S. S97). Der übergang 7ur S.·e!e, dem In der Strophe und durch §je volb.ogen. ,,·;"hrend Cohen Ihn lwischen
"Panm les pin§ . . . ". Als die 'Braue' des Meeraugn er�chelnt l.J. Auslin, "Paul ValeI")' compose le Analogen des Meeres, wird erst II!
Strophe 2 und Strophe liegt. Vgl. C"bd . S.20S.
S CH'«'I E R I G K E I TEN. DEN C IM ETIERE M A R I N ZlllNTERPRETIEREN
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sieben Strophen trägt den bezeichnenden Titel Mare N05truml13• Das Meer be herrscht den C. M., wie es, nach Valerys eigenem Zeugnis, die Epoche seiner frühen B i l d u ng in Sete beherrscht hat. Die Aufzählung der 'Gottheiten', deren Kult jene Epoche gew idmet gewesen sei, beginnt mit dem Meer: ... . . rien ne m'a plus forme, plus impregne, mieux instruit - o u construit - que ces heures ( . . . ) vouees dans le fond au cu lte inconscient de trois ou q uatre deites incontestables: la Mer, le Ciel, le Soleil " 1I4. ' Gottheit', sich selbst genügende unbedürftige Wesenheit, ist das Meer für Valery im selben Maß, ja sogar noch eher als die Sonne des Midi. Nicht zufällig vergleicht Strophe I den Blick auf das Meer mit dem Anblick der 'absolut', unbe d ü rftig und ohne Verstrickung i n weltliches Sein ruhenden Götter Epikurs. ' Abso lut' ist das Meer aber nicht nur, sofern es, unter dem Midi ruhend, unbewegtes Sein ist ; es i st gerade als bewegtes Sein, als "grande mer de delires douec" (Strophe 23) Symbol des Absoluten. Es ist als bewegtes, in Wandel begriffenes Sein ein Symbol des Absoluten, weil d i eses ja kaum als statisch bei sich verharrendes, dagegen viel plausibler als z u sich z urückkehrendes Sein vorgestellt werden kann. Der Wandel, das Werden, ist hier eine Rückkehr-i n-Sich, wie die Reflexion, die Bewegung der sich auf sich zu rückbeugenden Seele. Die Absolutheit des Meeres wird deshalb treffend du rch die Metapher der sich in den Schwanz beißenden Hydra ("Hydre ab501ue") ausgesagt. D i e Absolutheit des Meeres ist ein Sein, das nichts ist als das in sich 1.urückl aufende Werden. Die in sich zurücklaufende Bewegtheit begründet das eigentliche, u n bezüglich ruhende und unbedürftige Sein des Meeres, das i nsofern seine Absolutheit herstellt "dans un tumulte au silence pareil" (Strophe 23, Vers 6) 1 1 \ . Cohens Deutung der Symbolik des Absoluten leidet daran, daß hier Bestim m ungsmomente des Absoluten eingeführt werden, die aus einer für Valery nicht w i rk.samen Tradition stammen. Irreführend scheint mir hier vor al lem das Moment der Unend l ichkeit (I' infini) und i n d iesem Zusammenhang das Moment der Ewig keit. d. h. des stehenden Augenblicks (nune stans). Unter diesen Voraussetzungen ist nun fre i l ich das in einem endlichen Horizont eingeschlossene Meer von geringer Tauglichkeit, das Unendliche 1.U symbolisieren, wenn auch der Aspekt seiner Immo b i liljt das nunc stans der E w igkeit darstellen mag. Ein derartiges Absol utes symboli siert das Meer für Valery nicht. Denn seine Idee des Absoluten ist nicht diejenige des infiniten, sondern diejenige des fin iten Seins. Diese für den reflexions-philosoph iIII
I J . Au
V .. lcry ,"ompme le C,met,jr� "'
1.1
mer q u e le cimelicre."· F ü r Austins eigene Intt"rprc'lati"n bleibt diesc
F(§mdlung ohnc Folgen. A ustin hält sich im allgemcincn an C"hC'ns cinfachc\ Opp"�iti,,mschema 110 11\
('"ImmobilHC� dl·I ' Absnlu" 1 , 1092.
n.
"mo b i l i te du Rc1auf"). Vgl. S. 583.
Dlt Mt"uphcr der sich in den Schw.. nl beißendC'n " H )"dre" findcl sich schon in t"incm Isolient"n Slfophcnfragmenl au. dem fruhen Zustl.nd 8 1 dC's C.M.; es hai seintn endgultigcn Plal ... im lelzlen
'SJIl' der Gt'dichlparmur C - dt"r deflnitivtn Fassung - s"ht"rlich crsl aus dtm BcdiJrfnis erhahcn. den S�hluß dt"� GC"di("hl� - d i e Entscheidung fur das Wtrdtn - vorzubertittn. Vgl. zu dtr Fragt" L.J. Aumn. "P.. ul Valer)" cumpmc lc Gm�tlir�m,,"I'1". in M�rc,.rt dC'Fr
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sehen Gesichtspunkt befremdliche und abstruse Idee - ein finites Absolutes wäre ein Endl iches in bezug auf anderes Endliche und deshalb nicht abso l u t ! - ist, wie w!r wissen, praktischer Natur und spiegelt nur Valerys großen. vom frühen Lionardo Aufsatz bis zu Mon Faust sich durchhaltenden Entwurf eines sich in totaler Herr schaft seihst durchdringenden Bewußtseins und Könnens w ider. Nicht Anerken nung des Infiniten. sondern dessen Beherrschung und Eliminierung ist das Ziel jenes Entwurfs, den noch Valerys Faust als den des " infini defini" charakterisiert l l 6 . Die ser Entwurf beherrscht auch den ersten Teil des C. M., er gibt dem Symbol des Meeres seine besondere Bedeutung: das Meer erscheint hier als " infini dcHini". Es ist damit nicht Symbol von etwas, das ist, und insofern erfahren und gedacht wird, sondern Darstellung eines elementaren menschlichen Wollens. Valery selbst hat im Vorwort zu Cohens Exegese in dieser Hinsicht einen w ichtigen Hinweis gegeben: " L'äme na"ivement veut epuiser I 'infini de 1 ' � leate" 1I7. Erst auf Grund dieses Wollens ergeben sich Erfahrungen negativer An. Valery nennt sie an derselben Stelle des Vorwones die 'grausame' Erfahrung der ' Kluft zwischen dem Sein und dem Wissen', den das potenzierte Bewußtsein erzeuge l l l • Diese Erfahrung ist das Thema des zwei ten Satzes des C. M., der konsequent in der Anrufung des Zenon endet. Der Schluß satz endlich, der die entscheidenden Verse enthält, die uns bei der Analyse des Meer Motivs behilflich gewesen sind, formuliert die Einsicht, daß das Ziel des " infini defini" - für Valery ebenso ein lebenspraktisches wie po"ietisches Ziel ! - erreichbar ist, und nur erreichbar ist durch den Entschluß, sich in die Abfolge endlicher Hand lungen einzulassen ( ... . . Dans I'ere successive ! " , Strophe 22), in der sich, geschicht lich wie poetisch, die durch Reflexion nicht einholbare Unendlichkeit und das vor ihr sich einstellende Pascalsehe Entsetzen der mensch lichen Macht fügen. Das Gedicht glieden sich so, anders als Cohen es vorschlägt, in drei Sätze : I. Satz (Strophe 1 4): Evokation der Symbole des Absoluten : Mer und Midi, mit deutlichem übergewicht des Meer-Themas. (Alle Zustände des Gedichts beginnen übrigens mit einer Dreizah l von Meeres-Strophen""). - Analogie zw ischen Meer und dichterischem Ich. Dieser Satz endet mit einer überleitung, die vom Symbol des Midi beherrscht ist und die unzulängliche Endlichkeit des Menschen vor Jem Absoluten (unter dem Aspekt der Unendlichkeit) ins Spiel bringt, aber auch d i e Möglichkeit, das Gedicht, diese dem Menschen zugängliche Weise e i n e s " i:1fini defini", zu schaffen (Strophe 5-8) . 2 . S a t z (Strophe 9-2 1 ): U m d i e in allen Zuständen zentralen Strophen 1 3 un.! 1 4 herum1 2 0 gruppiert s i c h die Meditation ü b e r d e n Frieden d e s Nichtseins und den
m Es i � 1 das Zid, d a s d c r Pascal-Gcgncr Valer)' i m m e r I::e�en PaKa] gchend gemachi h a t , unler L!] LII LL�
110
auf Leibnil':, der d.u I nfin itcloim.lle mathnnatiM:h beherr ... ,hb.lr );lOnu.dll hat. 1 , 1 506. .. , •• J'aeuitc." d'unC' meditation qui fait sC'ntir trOp cruC'lIcment I'eean entrC' I·itr(" dc:vdoppC' 1.1 eonKienec de 1.1 eonseienec" (ebd.). V gl . L.J. A unin , "Paul Valcry comp05e l e Cimrllir(" m.m,,·' S. 5 8 8 . V gl . Ebd.
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U nfrieden des wandelbaren menschl ichen Seins. die in der Paradoxie des Be· w ußtseins als der Leben zehrenden höchsten Form des Lebens (Strophe 20) und m it der Anrufung des Eleaten endet. 3. Satz (Strophe 22-24): Revo lte des Lebens oder Rechtfertigung des Wandels aus der Einsicht in den Sinn von Absolutsein als "infini dcHini". Diese neue Einteilung hat den Vorteil. durch den aus ganz andersartigen Erwägun. gen entsprungenen Einteilungs-Vorschlag von Austin gestützt zu werden. Austin hat in seiner für jede künftige Exegese des C. M. maßgeblichen Untersuchung nachge. wies en, daß das Gedicht in allen Stadien seiner Entstehung einem dreisätzigen the· mati schen Schema gehorcht. Er hat an dieser Erkenntnis festgehalten, obwohl Co hens Festlegungen auf ihn. wie auf andere zeitgenössische Interpreten, immer noch mit der Gewalt von Dogmen wirken.
I X Applikation Die Applikation ist da, wo sie als lur I nterpretation gehörendes Moment u rsprüng lich auftritt. ein Akt sui generis, auch der Sprach form nach unterschieden. Die theologische Hermeneutik kennt die erbauliche Anwendung des Schriftsinnes. z. B. i n der Pred igt, als einen eigens und kunstmäßig praktizienen hermeneutischen Schrill, etwa in der Form der ' Nutzanwendung'. Der phi lQlogischen und ganz allge· mein der historischen Hermeneutik mutet niemand mehr ein solches Verfahren als Regel1. u . Besonders bei der Intcrpn:t.ttion von Gedichten wird keiner. der sich nicht als Schulmeister lächerlich machen will, die Applikation als eigenen Akt vorausset zen. Die literarische I nterpretation kennt die Applikation nicht als faktisch isolienen Voq�ang; Applikation vollzieht sich hier implicite, gleichsam als Tönung der Inter prct.uion selbst. Die Emphase. mit der die Theorie der Hermeneutik (etwa bei GaJamer) neuerdings auf das Problem der Applikation hingewiesen hat, darf nicht vergessen lassen. daß hier offen oder versteckt ein Auslegungstypus vorschwebt, dessen Struktur man nicht ohne weiteres verallgemeinern kann. Es in der Typus der I nterpretation von Texten apophantischer Art, d . h . von Texten mit dem Anspruch. über eine bestimmte Sache 'wahre' Aussagen zu machen. Eine solche I nterpretation w i rd, entsprechend dem Text, den sie interpretiert, in der Regel eine Applikation mit sich führen, die sich am Ende der Auslegung als Lehre ergibt. Eine solche Lehre ergiht sich auch hier, nach der Interpretation des ausgreifenden Kontextes, in den der
C. M. notwendigerweise hat gestellt werden müssen. Die Lehre muß für sich formu l iert werden. sie ist nicht einfach etwas, das stillschweigend als Anwendung vollzo· ge n wird . Denn sie betrifft das Wesen der Applikation selbst! t. Applikation im weitesten Verstand ist Valerys G rundproblem. nämlich die Ab sichl, kein Wissen zuzulassen, das nicht in und aus sich selbst reines Vermögen der A nwend ung ("pouvoir") ist. Die moderne Wissenschaft formulien die A ufgabe ana-
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log: kein Wissen zuzulassen, das nicht operativer Art ist. Sie offenban dadurch ihren technischen Grundzug. Auch Valerys Entwurf erscheint zunächst als Entwurf eines neue" und u nerhönen Seinkönnens. für das sich die Fragen aller Lebenspraxis : Tod, G lück, Selbstsein. aufdringlich wie je. nur in anderer Wend u n g stellen. Das Spätwerk Mon Fallst ist davon ein Eingeständ nis.
2 . Das Applikationsproblem wird aber zunächst polC'tologisch. d . h . u nter dem Aspekt der künstlerischen u nd speziell der dichterischen K onkretisierung und An wendung der Reflexion formulien. J. Diese ästhetische Version des Applikationsproblems ist h i storisch die letzte Weise, in der das Theorie-Praxis- Problem sich darstellt. wie es die 1 1 . Feuerbach These von Man: in philosophiekritischer Absicht drastisch formulien hat. Für Va Jery läuft die Formulierung dieses G rundproblems der neueren Philosophie auf den Vorschlag eines paretischen "mariage de la pratique avcc l a theorie"l1: ' hinaus. Daß die ästhetische Produktion letztes Ziel und oberster Rechtfertigungsgrund philoso phischer Reflexion sei, ist freilich eine These, die schon Nietzsche vorbereitet und geäußen hat. VaJery besticht gegenüber Nietzsche durch die Konsequen7. der An wendung dieser These.
4 . Die im Namen der ' Praxis' vorgetragene Kritik an der bloß noch 'Theorie' erzeu genden Philosophie ist insofern im Recht. als die Neuzeit in der Tat einen Begriff von ph ilosophischer Theorie ausbildet. in der die Erkenntnis dessen. was ist. nun nicht mehr wie stets zuvor wegen der durchgehenden Teleologie des Seienden ihre Applikation auf das Handeln zwanglos mit sich fühn. Kontemp latives Verhalten wird nun etwas von der entschlußbereiten und sich entschließenden Einsicht Unter schiedenes. ein freies Schweben ohne Engagement. Für kurze Zeit wird die aufbre chende Diskrepanz, auf mißverständliche Weise zwar, noch d u rch die neue Idee der 'Bildung' vermittelt, die zunächst die alte Lehre der theologischen Hermeneutik aufgreift, daß die Auslegung das für wahr Erkannte auch auf seinen Sitz im Leben hin befragen müsse. S. Fehlende Applikation und Selbstvermittlung mit der geschichtlichen Praxis , das wird nun im Namen der Bildungsidee auch ein kritisches A rgument gegen die sich im 19. Jahrhunden weiterentfaltenden h istorischen Wissenschaften, deren große Sorge zunächst die Ausbildung einer vergegenständlichenden Methode, eines kon templativen Verhältnisses zu den Sachen ist. Die Kritik trifft gerade d ieses Verhältnis als eine Haltung. die a priori die eigene Geschichtlichkeit des Erkennens von Ge schichtlichem überspielt und in der Unverbindl ichkeit bloß ästhetischen Genießens verharrt. Dilthey, der das Postulat des Praktisch-Werdens aller Philosophie u nd allen UI So an enucheidender Slelle de§ E"p./",ol (I. 1 35).
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h i storischen Verstehens wiederholt ausgesprochen hat, ist in seiner eigenen gelehnen Praxis Beispiel für jene Haltung und wird so z u Recht von der Kritik des ästheti schen Bildungsbetriebs getroffen, die die neuere phi losophische Hermeneutik vom Applikationspostulat her in Fortführung der älteren praxisorientierten Philosophie kritik vorträgt. 6 . Nun hat, wie gezeigt, Valery die Idee eines bloß kontemplativen Wissens wie kaum ein moderner Denker verworfen zugunsten der Idee eines durchaus applika bien und in seiner Appl ikation sich vollendenden Wissens, und sein po'ietisches Postu lat ebenso wie seine diesem Postulat entsprechende Arbeitshaltung scheinen ihn fürs erste vor dem Vorwurf bloß ästhetischen Unernsts z u sichern. I ndessen ist der Künstler und Literat als Arbeiter ja im allgemeinen auch weniger in der Einstel lung des unbeteiligten Genießens befangen als derjenige, der das Werk rezipien. Der eigentliche Ästhet ist heutzutage der Leser. Valery hat daher neben der Po· i etik auch eine Theorie des poetischen Effektsl2l vertreten. in der sich die von der POletik verworfene Voraussetzung der kontemplativen Einstellung als diejenige des rezipie renden Subjekts erhalten hat. Der Dichter arbeitet also unter der Direktive der Einstellung des Lesers, der der wahre Ästhet ist. Dieser Rezipient ist das ästhetische Normalsubjekt. ja das Normalsubjekt überhaupt. an dem der Wahrheitsanspruch der Philosophie und jeder sich nicht auf schöne Po· i esis red uzierenden geistigen Leistung scheitert. Valerys hermeneutischer und philosophischer Nihilismus läßt keine höhere intellektuelle Leistung zu als die Identifizierung von Schönem. So einzigartig und so hoffnungslos ist der Mensch daran. Am Ende bleibt ihm nur die Resignationsform einer gänzlich ästhetischen Existenz, die weiß, daß sie nichtig ist, aber die grenzenlose Mögl ichkeit ästhetischer A uffassung einsetzt, um auch noch damit fertigzuwerden. 7. Die Beschäftigung mit Valery. auch die gegenwärtige. scheint mir zwingend auf dies!.'n Punkt zu führen. der die äußerste Möglichkeit des ästhetischen Bev.-ußtseins mark.iert und zugleich dessen Kritik provoziert. leh nenne jene Möglichkeit vorläu fig die ästhetische Reflexion. Es handelt sich da um ein Phänomen. das noch wenig analysiert ist. aber das Problem philosophischer ebenso wie 'geisteswissenschaft licher' Erkenntnis eng berührt. leh spreche von der ästhetischen Reflexion, um anzu zeigen, daß das ästhetische Phänomen dabei nicht primär unter dem Gesichtspunkt der Sensualität und Rezeptivität (Aisthesis) betrachtet wird. sondern unter dem Ge sichtspunkt der Selbstdarstellung des Subjekts und erst von da aus u nter dem Ge sichtspunkt des Eingenommenseins (Aisthesis) durch die Darstellung. Die Frage ist dabei nicht, inwiefern das Ästhetische überhaupt Darste l l ung sei ; denn Darstellung ist eine Charakteristik, die aller M itteilung und Verständigung sprachlicher Art zu kommt. Die Frage gilt der besonderen Art von Darstellung. die dem Ästhetischen 1:1
[)olI1U J. Hytirr, LA Poetll/Ht fit Vil/by, Paris 1 953, S. 232 ff.
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eigen ist und möglicherweise auch den Grund dafür enthält, daß Dichtung für philo sophischer als die Philosophie gehalten werden kann, das Schöne für offenbarere Wahrheit als die Wahrheit des Begriffs, und daß zumindest der Satz plausibel er scheint, das Schöne vermittle uns eine Erfahrung menschl icher Freiheit. die derjeni gen des reflexiven Wissens überlegen sei. Aber die ästhetische Reflexion ist gegenüber der Erkenntnisreflexion, die prinzi piell einen thematischen Progreß und ein gesteigertes Sclbstverhältnis des Erkennen den einschließt, auch eigentümlich leerlaufend. Sie greift gegenständlich nicht mehr; sie fördert kein neues Erkenntnisthema mehr zutage. Sie beläßt alles beim alten thematischen Status und exponiert das Ganze nur noch einmal : sie stellt dar. Aber sie stellt in einer Weise dar, die hinter der in jeder Erkenntnis geschehenden Darstellung im Anspruch und in der Leistung z.urückbleibt. Das erkennende Subjekt, das sich etwas zur Darstellung bringt und auch davon spricht, stellt immer eine Sache dar, auch dann, wenn es das Subjekt darstellt. Die ästhetische Reflexion stellt immer nur das Subjekt dar, auch dann, wenn dieses von der Sache spricht. Er stellt sein Aben teuer mit der Sache dar, wozu ihm jede Sache wird. Die Differenz liegt dabei nicht in der Grundoperation der Reflexion. Denn beide Reflexionsarten tun zunächst dasselb e : sie klammern ein Tun, in dem das Subjekt begriffen gewesen ist, einen Vollz.ug also, aus. I n beiden Fällen mache ich einen Vollzug nicht mehr mit, übe htoXtl gegenüber der Situation und ihrem Ernst und stelle mich gleichsam quer zur ursprünglichen Aktivität, die ich eben dadurch :t.ur Darstellung bringe. Der Ausdruck " Epoche", wie ihn Husserl zur Bezeich nung der phänomenologischen Grundoperation eingeführt hat, ist nicht zufällig gewäh l t . In der Tat läßt sich an der von Husserl beschriebenen Operation der Epoche das Wesen aller Reflexion, gerade auch der ästhetischen, aufzeigen. Nur ist die phänomenologi sche Epoche als methodisches Verfahren ein relativ blasses Beispiel für diejenige Evasion aus der Situation, die im Phänomen der ästhetischen Reflexion geschehen kann und zumeist geschieht. Beispiele aus der Lebenspraxis sind hier informativer. Denn wie kommt Reflexion zustande ? Sie setzt ein, wenn man in einer zunächst und in der Regel unproblematischen und erprobten Praxis nicht mehr weiter kommt. Reflexion ist dann ein I nnehalten, in dem man sich die Schwierigkeit vergegenwär tigt, in die man sich im vorreflexiven Vollzug und seiner vergleichsweisen Naivität verrannt hat. Reflexion geschieht in der Absicht, den Vollzug als unproblematischen wieder zu ermöglichen. Die Episode der Reflexion schließt eine Entlastung vom Ernst der Situation, vom Befangensein in die Praxis mit ihrer Handlungsnötigung ein. Man kommt frei aus dieser Nötigung, um für einen Moment entlastet sich auf die Schwierigkeiten, ihre Gründe und auf das eigene Vorhaben zu besinnen und dann den Handlungszusammenhang mit Besonnenheit fortzuführen. Reflexion ist hier in der Tat Episode entlasteter Existenz innerhalb eines durchaus herrschenden und sich durch die Episode wieder herstellenden Kontextes des lebenspraktischen Ernstes ; sie ist Müßiggang mit dem Ziel, mit den Dingen wieder handgemein zu werden. Wer also in einer praktischen Aporie steckt, der hat prinzipie l l folgende
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Verhaltensal ternative : Erstens, er realisiert den Ernst der Situation und sinnt auf eine Lösung der Schwierigkeit durch Änderung der Situation. Die schwierige Situation w ird reflektiert und, falls sich ihr überhaupt noch eine Möglichkeit abgewinnen läßt, durch d iesen überstieg gewandelt. Zweitens kann ich vor der Aporie kapitul ieren, weil ich keinen Ausweg sehe. Aber ich kann mich meiner Situation dennoch in einer neuen Reflexion vergegenwärtigend zuwenden : von Ohnmacht oder Selbstmitleid ergriffen. mein Schicksal getrost akzeptierend oder aber in eitlem Selbstgenuß be trachtend. Nero, der im Augenblick seines Todes ausruh : "Qualis artifex pereo ! " ist ein Beispiel für die ästhetische Reflexion in der praktischen Epoche ; viel sch lagender aber und in der Anwendung typischer ist Goethe s : " U nd wenn der Mensch in seiner Qual verstummt/Gab mir ein Gon zu sagen, wie ich leide" (Torquato Tasso V, 5) . Möglicherweise i s t sogar die Katharsis. wie sie AristoteIes bestimmt, e i n e Erschei nungsform oder ein Resultat der ästhetischen Reflexion. Man muß diesen positiven A spekt der ästhetischen Reflexion und überhaupt den ungeheuren Umfang der äs thetischen Darstellung in lebenspraktisch erhellender und helfender Funktion wür d igen, um kritisch auf den Aspekt des lebenspraktischen Unernstes, des kurzschlüs sigen Selbstgenusses. der ganzen Dubiosität der ästhetischen Existenzform. von der wir seit Kierkegaard wissen. h inweisen zu können. Die neue Würdigung und Legiti mierung von Kunst und Literatur in lebens praktischer Hinsicht, die wir der Theorie der literarischen Hermeneutik der letzten Jahre verdanken. darf jedoch nicht verges sen lassen, daß das ästhetische Phänomen auch die Möglichkeit einer Sackgasse für Erfahrung und Verhalten impliziert, in der sich der intelligente und 'gebildete' Mensch deshalb so leicht verfängt. weil die ästhetische Reflexion - die man in der Neuzeit schon in der Schule lernt! - mit ihrer beliebigen und nichtssagenden herier barkeit jedes Versagen. sogar das Versagen in aestheticis, noch einmal erfassen und bere,h kommentieren oder exkulpieren kann, das ohne sie im Schweigen des Ernstes oder der Scham verarbeitet worden wäre. Valerys Vorschlag einer poetischen Reduktion der Philosophie. die den ästheti schen Reiz drr phiIClsophi'ichf"n Sprache kultiviert. setzt d ie ästhetische Reflexion voraus . Durch sie wird die sachgerichtete I ntention abgebrochen und durch die vergleichsweise quer zur Erkenntnissituation verlaufende, deren Bewegung arretie rende I ntention der Darstellung ersetzt. ' Darstellung' heißt hier: der noetische Modus der Aktivität (" Denken über . . . ") wird abgelöst durch den poetuchen Modus ("Sprechen über ' Denken über . . . ... ). ohne daß dabei die Förderung des " Denkens über . . . . . als Ziel vorschwebte, wie das in der philosophischen Kommunikation und in der eimamen Selbstverständigung des Denkens sonst der Fall ist. Diese Differenz ist wichtig. Auch in der philosophischen Reflexion werden Vollzüge noetischer Art durch querlaufende I ntentionen suspendiert und vergegenwärtigt. So verfährt zum Beispiel die phänomeno logische Reflexion. um über den thematisierten Vollzug Re chenschaft zu geben. Aber daß man heraustrin aus dem Ernst und der Verbissenheit der Vol l z üge und etwas nicht mehr mitmacht. dient hier gerade der Fortführung des ursprünglichen Themas. Die philosophische Reflexion bleibt am ersten Voll1.ug fest-
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gemacht, wenn sie ihn transzendien; sie übernimmt seine Intention in neuer Weise. Besonders deutlich w i rd das am Wesen der ethischen Reflexion : die Rückwendung auf die Praxis, z u der die problematische Situation nötigt, ist eine Vergewisserung über den u rsprünglichen Handlungssinn. den d i e Reflexion für die w eitere Praxis freilegt. Jede philosophische Reflexion ist eine Inventur zwecks Weiterführung des Geschäfts. Die bloß ästhetische Reflexion kann stattfinden zwecks Geschäftsaufgabe oder G eschäftsübergabe. So verwendet Valery die philosophischen Sätze und Parad igmen, bei gleichsam konservienem Sinn, als Material, und es hängt von der ästhetischen E rgiebigkeit ihrer sprachlichen Form oder von der ih rem Inhalt eigenen anschau l ichen Figur ab, ob sie verwendet werden. Ein Beispiel dafür ist im C. M. die Anrufung des Zenon von Elea und die Verwendung zweier unter seinem Namen tradierter A rgumenta tionsbeispiele, deren u rsprünglich beweisende Funktion in zwei 'schöne' B i lder um gebogen w i rd , die d u rch das Paradox bestechen ("La fleche me tue, et le san m'en fante " ; "Achille immobile a grands pas")I 2l . Sollte V a l e lj' s e i n e Philosophiekritik auf die beliebig einsetzbare Möglichkeit ge gründet haben, sich über jede sachliche (theoretische und praktische) Schwierigkeit dadurch h i nwegsetzen. daß man d iese Schwierigkeit ästhetisch TJerwenJer? Aber vielleicht behebt die ästhetische Verwendung von Schwierigkeiten am Ende nicht einmal die Schwierigkeit, die sie selbst erzeugt.
lZl
Fur C'lnc'ß EIII \'on :&sthC'tisch C'ffC'kt\'ollC'r V C',..· C'ndung C'inC'r phllosuphl�chC'n odC'r philosuph.�ch k lingC'ndC'n Formd haltC' ich auch dC'n VC'n " Ou\'ragu pun d·unC' rtC'rndlC' CO!USC'·' dC'r StrophC' 2 A"II:h hiC'r wird diC' AufmC'rksamkC'it dC's lC'SC'fS - dC's irgC'ndwiC' ·gC'bildC'tC'n' lC'SC'fS - durch C'lnC'n sC'muui· schC'n KodC'r gC'fC'ssclt und zu uthC'tisc:hC'm VC'rwC'ilC'n ubC'rrC'dC't. �ur faulnaC'n hlC'r nicht dC'r St�htl dC'r ParadoxlC', 50ndC'rn dC'r RC'il, dC'n das WiC'dC'rC'rkC'nnC'n einer hC'rkömmhchC'n C'rbaulichC'n Trl'lal \'orstellung ausübt. DiC' A"sp,.,.ch,/oflgJtrit dieser und C'iniKer �ndC'rer ·phllusllphi�cher' IdC'en macht siC' für diC' ästhC'tische Wirkung geeignC't!
KARl.tlUNZ STIERLE
VAL I'. RYS LE C I M E TI t. R E MA R I N U N D N I ETZ S C H E S ' G RO S S E R M ITTAG ' ( AP P L I KATI O N ALS ' B R I C O LA G E ' )
D i e t;I'"Oßen philosophischen u n d poetischen Texte. denen eine W i rkungs- u n d Aus legungsgeschichte zuteil wird. stehen zumeist in reichen und vielfältigen d ialogischen Bezügen. ihr Anspruch auf Gegenwänigkeit ist nicht onlos, sondern SIeht vor einem H inlergrund ins Spiel gebrachlcr Werke. vor denen und gegen die das neue Werk sich behauplel. Bedingung insbesondere des poetischen Werks aber ist es, daß d ieses dialogische Vermögen, die Kraft zur fruchtbaren, prägnanlen Bezugsetzung, nicht partikular bleibt. sondern Moment w i rd des Werkzusammenhangs selbst, eingehl in dessen eigene, werkimmanente Dialogizität. N u r wenn das dialogische Vermögen des Textes im Hinblick auf andere Texte z u einem d ialogischen Vermögen der Mo mente des Textes untereinander wird, kann es 7 . U ästhelischer Evidenz kommen. So kann die philologische Rekonstruktion des Dialogs, den der Text mit anderen Texten führt, zugleich tiefer und voller in die Dialogizität des Textes selbst hineinführen. Die Lektüre eines Textes vor dem Horizont der Texte, deren G egenwarl er selbst heraufruh, ist eine jener Formen des komplexen Lesens, deren methodische Refle xion eine der Aufgaben philologischer Arbeit und Selbst besinnung bleiben muß. In der Perspektive einer solchen Lektüre erscheint das Werk a l s Applikation anderer Werke. a l s Transformation, Antwort, Uberbietung, Korrektur. Es reicht nicht aus, die sogenannte 'I ntertextualität' als eine gleichsam objektive Qualität des Werkes festzustel l e n . Sie bedarf der Lektüre, d u rch die sich die Applikationsbeziehung erst inhaltl ich erfül len und nuancieren kann. Applikation als implizite Dialogizil:il bedeutet, daß ein Werkzusammenhang in einen neuen Werk7 usammcnhang cingeht, ,ron d iesem dominiert und in seinem Bedeutungspotential u m besetzt wird. C. Levi-Strauss hat für solche ' Anwendung' den suggeSliven Begriff des ' bricolage' gefunden. E i n ursprünglicher Bedeutungs und Werkzusammenhang w i rd i n einen neuen Werkzusammenhang ü berführt und damit z u gleich einem neuen Bedeutungszusammenhang unterworfen. Es l iegt in d ieser Aneignung ein Moment des Gewalttätigen, doch bleibt dieses bei der nur symbolischen, nicht faktischen Aneignung im Medium der Sprache re laliv. Denn d u rch d i e Aneignung w i rd das Angeeignete in seinem E i genrecht nicht beeinträch tigt. In der D ifferenz von Aneignung und ursprünglicher Gestalt wird d iese selbst präsent gehalten. Auch wenn diese Differenz, mit der das Werk selbst sich einen eigenen Horizont erschafh. für die konkrete Rezeplionsgeschichte häufig genug ohne Bedeulung bleibt, so ist die Freilegung d ieses Horizonts der Rezeption doch
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aufgegeben. Die dialogische Struktur des Werks gehört zu jenem im Werk seihst angelegten Rezeptionspotential, das zwar im Rezeptionsprozeß immer nur partiell und partial ergriffen wird, ohne das aber der Prozeß der Rezeption selbst zum Stillstand kommen müßte. Diese Vorbemerkung soll der Betrachtung einer bisher \"crnach lässigten Bezie hung zwischen Paul Valerys phi losophischem Gedicht LI: Cimet;ere MlJrin und F. Nietzsches poetisch-philosophischem Werk Also sprach Zarathustra dienen. Daß Valerys Gedicht mit dem Kapitel "Mittags" im vierten Teil des Zarathustra mehr als nur zufällige Berührungspunkte hat, soll im folgenden zum Ansatzpunkt einer in tenextuellen Auslegung gemacht werden. Valery hat den Zarathustra schon früh kennengelernt. Dies bezeugt ein Brief an seinen Freund Andre Gide vom 1 3 . J anuar 1 899, nachdem kurz zuvor gerade die französische Obersetzung von H e n ry A l bert erschienen war'. Gide nahm das Erscheinen der französischen Obersetzung von Also sprach Zarathustra und Jenseits 'Von Cut una Böse zum Anlaß, sich in einer seiner Lettres a Angele mit Nietzsche auseinanderzusetzen. Gides enthusiastischer, in der Argumentation wenig klarer Brief bezeugt, wie tief er von Nietzsche in diesem A ugenblick beeindruckt war. Er steht damit keinesfalls allein, vielmehr ist das I nter esse eines intellektuellen Publikums an Nietzsche außerordentlich. Daß freilich auch Gides Bewunderung nicht ungebrochen war, bezeugt seine ironische Spiegelung des Zarathustra-Mythos in dem übermütig-tiefsinnigen Mythenbricolagc des Promethee mal enchaine1• Der Brief an Gide zeigt Valery als einen zugleich bewundernden und kritisch-distanzierten Leser des Zardthustra, der seinen widersprüchlichen Lektüre eindruck zu analysieren sucht. Zugleich setzt Valery sich mit G ides Niet7.sche Deutung in dessen Lettre a Angile auseinandcr. Auch Gidcs Promethee, von dem der Freund ihm bereits Stücke mitgeteilt hatte, findet kurze Erwähnung. Als Zeugnis von Valerys Zugang zu Nietzsche, das zugleich die Voraussetzungen kenntl ich ma chen kann. unter denen Valerys Wiederaufnahme von Nietzsches Mythos des Mit tags steht, ist Valerys Brief vom Januar 1 899 von besond erem I nteresse. Für die Deutung von Valery s 'Applikation' werden sich ihm einige wichtige H i n w eisc.' ent nehmen lassen. Das Kapitel "M ittags" in Nietzsches Also sprach Zdrdthustra) und Valcrys Gt' dicht Le Cimetiire Marin· haben ein gemeinsames Thema : den Augenblick des Mittags und die Erfahrung d ieses Augenblicks. I n jenem unfaßbar kleinen Augen b l ick, wo die Sonne in den Scheitelpunkt tritt, scheint die Welt im G leichgewicht, die Zeit selbst zum Stillstand gebracht. Die Balance zwischen den beiden Hälften des • Andn:· Gidc: - P ;IIu l V;IIlery, CO"�Jpo.,Jd"C� 1190-1942, P;IIr is 1 955, S. 342-304 4 . : Vgl. Vc: n. • " " M Y lhos ;!I l s 'Bricol;llg �' u n d ". .c:i Endsluf�n d e:' Prom e:l h e:u \ - M Ylhu�"", in M . Fuhrm.ann
(Hg.). T�r-ror .. .,J Sp,�/-P,ob/�,.,� J�r My,h�II"UP"OII. Munche:n 1 9 7 1 , S . 4 5 5 --472 ( Poe:tik und Herme
neutik Bd IV). \ F. Nictuche, ""AI�o spuch ZU;IIl hU\lr;ll", In 4
WnA!I',II Jrl" Bd.,J�." hl!. K. Schlc,hu, Bd 2 , Muno;hcn :I'J60, S. 5 1 2 -51 5 . P a u l V;IIIc-ry,a.. vrrs, Bd I, hg. J . H Y l icr, P;IIr is 1 957, S. 1 4 7 - 1 5 1 (Biblimh i:quc d l' b Ple,;IId c).
V A L E RYS LI: C I M ETIERE MARIN UND N I ETZSCHES 'GROSSER M ITTAG'
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Tages w i rd z u r E rfahrung der Außerzeitlichkeit i m kleinsten Augenblick. I n d iesem erscheint der leuchtende Abgrund des Kosmos als vollkommene Ordnung. "Sti l l ! Still ! Ward d i e W e l t nicht eben vol lkommen ? " , spricht im Einschlafen Zarathustra 7.U sich selbst (S. 5 1 3). "Tete complete et parfait diademe" wird die Mittagssonne, "Mi di la-haut, Midi sans mouvement" (Str. 1 3 ), in Valerys Gedicht genannt. Auch hier ist d ieser ideale Augenblick entrückt in einen Zustand zwischen Traum u nd Wach e n : " L e Temps scintille et le Songe est savoir" (Str. 2). Der M ittag, der für einen u nfaßbaren Augenblick den Tag 'gerecht' in zwei Hälften teilt, wird in seiner mythischen Steigerung als 'großer Mittag' schon an früherer Stelle des Zarathustra im Bild des " R ichtschwerts" erfaßt (5. 439). Ebenso steht bei Valery der Stillstand der Zeit im Zeichen von "Midi 11.' juste" (Str. 1). Im Zarathustra wie im Cimetiere Marin ist die E rfahrung d ieses Augenblicks eine Erfahrung der Entlastung, der H ingabe nach übergroßer Anstrengung, eine Befreiung vom "Geist der Schwere" ( Zarathustra, S. 439). "- Was geschah mir: Horch ! Flog die Zeit wohl davon ? Falle ich nicht ? Fiel ich nicht - horc h ! in den Brunnen der Ewigkeit ?" (5. 5 1 4). I m Cime tiere Marin wird die Hingabe an die mediterrane Welt zur " recompense apres une pensee" : o recompense apres une pensee Qu'un long regard sur 11.' calme des dieux! (Str. 1) Noch einmal wird an anderer Stelle diese gleichsam willenlose H ingabe ausdrück lich : Aprcs tant d 'orgueil, apres tant d 'etrange Ois ivetc, mais pleine de pouvoir, J e m 'abandonne a ce brillant espa,.. e. (Str. 6) Niet2.sche hatte dieses Leichtwerden in der Hell igkeit des Mittags, diese H ingabe .\0 den A ugenblick der Vollkommenheit in Bildern beschworen, in denen eine Wahr nehmungssituation noch gegenwärtig ist, aber nicht als diese selbst, sondern als metaphorische Umset7ung, in der sich eine subjekti"'e Erfahrung spiege lt. I n Valerys Gedicht werden d iese Bilder gleichsam w ieder in die ursprüngliche Wahrnehmungs situation l.urückverset1.t. "Wie ein zierlicher Wind, ungesehn, auf getäfeltem Meere tanzt, leicht, fed erleich t : so - tanzt der Schlaf auf mir", heißt es im Mittags-Kapitel des Zarathustra (5. 513 ) . Aus d iesem Bild des sich selbst reflektierenden Ich wird bei Valer)' ein Bild, das der Erfassung einer Wahrnehmung dient. I m Augenblick des hohen M ittags scheint im Blick des vom Friedhof auf das Meer herabschauenden Betrachters das Meer 7.um bewegunglolosen Dach arretiert. Das "mit tranq uille, oia marchent des colombes" (Str. 1 ), das im Gedicht eingangs vor Augen gerufen wird, erweist sich erst im Fortgang als metaphorische Set7.ung für das getäfelte Meer im Augenblick des Stillstands der Zeit. Zuerst noch erscheinen die Lichtbrechungen der leichtesten Bewegung des Meeres im Bild des Diamante n : Quel p u r tra"'ail d e fins eclairs consume Maint diamant d 'imperceptible ecume, Et quelle paix semble sc concevoi r !
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KARLHEINZ STI ERLE
Quand s u r J'abime un soleil s C' reposC', Ouvrages purs d 'une eternelle causc, Le Temps scintille Cl le Songe est savoir. (Str. 2) Dann aber w i rd das leuchtende Meer zum mit tausend goldenen Ziegeln bedeckten Dach : Stahle treSOr, temple simple iMinerve, Masse de calme, cl visible reserve, Eau sourcilleuse, <Eil qui gardes cn toi Ta"t d e sommeil sous un voile de flamme, o mon silence! . . . J!d ifice dans I'äme, Mais comble d 'or aux mille tuiles, Toi t ! (Str. J) Zarathustra redet seine Seele mit dem alten Bild des Dichters, der singenden Zikade. an: "Singe nicht. d u G ras-Geflügel, 0 meine Seele!" (5. 5 1 4). Erneut w i rd d iese metaphorische Setzung Moment der wahrgenommenen Welt. In Valerys Gedicht erscheint die Zikade als Teil eines meridionalen Tableaus der Mittagshitz e : l c i venu, l'avenir e s t paresse. L 'insecte net gratte la secheresse; Tout est brüle, defait, re�u dans I 'air A je ne sais quelle severe essence . . . La vie est vaste, etam ivre d'absence, Et J'amertume est douce, et I'esprit clair. (Str. 1 2 ) I n d iesem Augenblick der höchsten I ntensität d e s Lichts wird d e r H immel z u m Abgrund : " B runnen der Ewigkeit! du heiterer schauerlicher Mittags-Abgrund!" redet Zarathustra den Mittag an (5. 5 1 5). Im Ci meti ere Marin ist der Abgrund zu gleich der Abgrund des H immels und der seines leuchtenden Gegenbildes, des Mee res, unter dessen Oberfläche eine dunkle Tiefe verborgen l iegt : "Quand sur I 'abime un solei I se repose" (Str. 2) faßt den Abgrund des Meeres und den Abgrund des Himmels in einer Wendung zusammen. Die reine H ingabe an den Augenblick des Mittags, die der Gegenstand des Zara th ustra- Kapitels wie des Valeryschen Gedichts ist, scheint jenem erfüllten Augen blick in Rousseaus Riveries dupro mene ur so litaire vergleichbar, wo den Erzähler die fraglose, in sich selbst ruhende E rfahrung des " sentiment de mon existence" über kommt. Wenn für Rousseau dem Genuß (plaisir) jener crfül l te Augenbl ick verwei gert ist, von dem sich sagen ließe: "Je voudrais q u e cet instam durät toujours", so ist für ihn das einfache " sentiment de mon existence", das ihn bei seinem Aufenthalt auf der l I e Saint-Pierre wie eine profane Offenbarung überkommt, ein Zustand des vollkommenen G lücks : Tant que cet etat d u re , celui q u i s'y trouve peut s'appeler hcurcux, non d'un bonheu r imparfait. pauvre ct rclatif, tel que celui q u 'on trouve dans les plaisirs de la vie, mai!> d'un bonheur suffisam. parfait Cl plcin, qui ne laisse dans l'äme aucun ..·ide q u 'clle seme le besoin d e remplir. s
VAtF.RYS LE CIMETIE RE MARIN
UND
N I ETZSCHES 'GROSSER M ITTAG'
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Von Rousseaus erfülltem Augenblick unterscheidet sich d i e Erfahrung des aus der Serie der Augenblicke herausgelösten, zum absoluten Augenblick werdenden Zeit moments bei Nietzsche und Valery grundlegend. I n Nietzsches poetisch-ph i losophi scher Rhapsodie wie in Valerys Gedicht gibt es eine Dramatik, die den A ugenblick der Außerzeitlichkeit und Vollkommenheit bewegt und schließlich zerbricht. Das Aussichheraustreten Zarathustras, die reine Hingabe an die Vollkommenheit des Augenblicks mißlingt, das Ich kann sich nicht aus löschen, um ganz in seiner E rfah rung aufzugehen. So b l eibt eine Spannung zwischen der Selbstbeschwörung zur H ingabe an den Augenblick und einer Widerständigkeit und Selbst bewahrung, die das Ich an sich selbst bindet. Zarathustra löst sich schließlich vom Bann des Augen blicks und besinnt sich auf seine Bestimmung. Diese aber liegt nicht, wie bei Rous seau, in der absoluten H ingabe an den in sich ruhenden Augenblick und damit zugleich an das eigene fraglose "sentiment de mon existence", sondern in einer aufgegebenen d ialektischen Erfahrung, die Mittag und M itternacht zusammenbin det. I n dem Kapitel "Das trunkene Lied", fast schon am Ende des Zarathustra, kommen E rfahrung des M ittags und Erfahrung der Mitternacht z usammen (S. 55 1 -558). Diese dialektische Vereinigung zweier E rfahrungen vollzieht sich zu gleich als tin Verschränken zweier Texte. Textfragmente aus dem Kapitel " Mittags" werden eingeblendet in das Mitternachtskapitel. "Mitternacht ist auch Mittag" ist die letzte Botschaft Zarathustras, die erst die Erfahrung des ' G roßen Mittags' ankündigt (5. 556). I n jenem äußersten Moment, wo Zarathustra aus seinem Aussichsein gleichsam in sich selbst wieder zurückkehrt und er sich zum Aufbruch anschicken will, erschei nen das Wah rgenommene, der lichterfüllte Himmel und das wahrnehmende Ich selbst und dessen "wunderl iche Seele" als ein Gegensatz, dessen Aufhebung der Zukunft anheim gegeben ist, nachdem sie in der Gegenwart mißlang: "0 H immel über mir", sprach er seufzend und setzte sich aufrecht, "du schaust m i r z u ? Du horchst meiner wunderlichen Seele zu? Wann trinkst du diesen Tropfen Taus, der auf alle Erden-Dinge niederfid - wann trinkst du diese wunderliche Seele - wann, Brunnen der Ewigkeit! d u heiterer sl.:hauerlicher M ittags-Abgrund ! wann trinkst du meine Seele in d ich zurück ?" (5. 5 1 5) . Auch bei Valery gipfelt die E rfahrung der Entgcgemetzung im Augenblick sdbst in einer Anrede an den H immel, dem, wie bei Nietzsche, die Fähigkeit des Blicks zugesprochen wird : " Beau ciel, vrai cid, regarde moi qui change !" (Str. 6). Diese Entgegensetzung wird in den Strophen 13 und 14 dramatisch gesteigert : Midi la-haut, Midi sans mouvement En soi se pense ct convient a soi-mcme . . . Tete complc'te et parfait diademe, Je suis en toi le secret changement. (Str. 1 3 ) \
J . . J . RUllueau. I.rl rM'rrrrl d u pro",r"rur Jul,t.. ,rr, Cinquii'mr promf'n.adf', I'.arl� 1 9 5 8 , S . 7 J (Club..tu nlt'iII�'ur livre).
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KARLH EINZ STIERLF.
und weiter in Strophe 1 4 : T u n'as q u c moi pour contenir tes craintcs ! Mcs repentirs. mcs doutes. mes contraintcs Sont le defaut de wo grand d iamant . . . A uch bei Valer)' ist die Außerzeitlichkeit des Augenblicks, in dem der Mittag sich ereignet. in eine innere Dynamik gebracht. die endet mit dem Zerbrechen des stillste henden Augenblicks und so mit der Rückkehr in d i e "ere successivc" der Zeitmo mentc. Wenn Valerys Gedicht dem Mittagskapitel des Zarathustra vergleichbar ist durch den Mythos des vollendeten und zeitlosen Augenbl icks des M ittags, so zu gleich durch die Dynamik. die diesen A ugenblick selbst in der D ifferenz von E rfah rendem und Erfah rung bewegt. Seide Male ist diese Dynamik das Bewegungsprinzip des Textes. Es ließ sich zeigen, wie vielfältig Valerys Gedicht nicht nur in der Konzeption, sondern auch im Bildhaushalt auf das Mittagskapitel des Zarathustra rekurriert. Vor diesem Hintergrund erst w i rd die ' neue Version' von Nietzsches Mythos des ' G roßen Mittags' in Valerys Gedicht greifbar. Nietzsches Text ist in seinem W iderspruch von Stille des Mittags und Unruhe dessen, der sich ihr anheim geben will und dennoch an sich selbst gebunden bleibt, bezogen auf eine Gegener fahrung, die Erfahrung der " M itternacht", und erst in der Dialektik d ieser Erfah run gen erfüllt sich die Bestimmung des Zarathustra, damit z ugleich auch d ie narrative Form, die d iese Bestimmung zur Darstellung bringt. Valerys Gedicht hingegen ist nicht Moment einer Dialektik, sondern steht für sich selbst. Seine Dynamik l i egt i n ihm vollkommen beschlossen. Doch ist d i e s e D y n a m i k s e l b s t v o n anderer Art. D e r Hingabe an die sinnliche Wahrnehmung entspringt in Valerys G e d i c h t e i n e Refl e x i o n . die in e i n e Aporie hineinführt, aus der nur n o c h der S p r u n g in d i e Körperlich keit, die Unmittelbarkeit des elan vital retten kann. Dieser Augenblick des Zerbre chens der "forme pensive" ("Brisez, mon corps, cette forme pensive ! " , Str. 22), dem das Zerbrechen des ' Dachs' entspricht (" Rompe7., vagues ! Rompez d 'eaux rejouiesl Ce toit tranquille OU picoraient des focs ! " , Str. 24), ist der Zielpunkt der Dynamik des Gedichts, zugleich aber auch dessen Ende. Mit der H i nwendung z u r Unmittel barkeit des lebens ist der Raum der Dichtung überschritten. Die Vollkommenheit des Mittags wird in Valerys Gedicht sinnfällig i n einer Meta phorik des nunc stans. Das Bewegte, Momenthafte, erscheint in der M etapho rik des Festen und Dauernden. So wird das Meer zum Dach, dann zum "Stable tresor, temple simple a Minerve" (Str. 3), die innehaltende Zeit selbst w i rd zum "Temple du Temps" (Str. 4), über dem der "Midi sans mouvement" (Str. 13) steht. Das Meta phernfeld des stil l stehenden Augenblicks aber mit seinen architektonischen Bildern wird überlagert durch ein zweites Metaphernfel d , das einer infinitesimalen Bewe gung im A ugenblick der Ruhe, einer Bewegung, die nicht zur Fortbe\\regung wird, sondern in sich selbst z u rückläuft. Die Ruhe ist Schein, der hervorgeht aus einer unend l ichen Unruhe: " E t q u e l l e paix semble se concevo i r ! " (Str. 2 ) . Das leuchten des Meeres ist ein "pur travail de fins eclairs" (Str. 2), bewirkt d u rch die leichteste Unruhe in der Ruhe. So ist auch der Augenblick des vollkommenen Mittags i n sich
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selbst noch bewegt : " Le Temps scintille e t l e Songe est savoir." (Str. 2). Der "Temple d u Temps", d i e Ruhe des arretierten Augenblicks, ist erbaut aus Unruhe, "scintilla tion", so wie das ' Dach aus tausend Ziegeln' des Meeres, das " getäfelte Meer", ersteht aus der feinen Bewegung d es Wassers, d u rch die das G litzern des Lichts hervorgerufen w ir d . Die "scinti llation sereine" (Str. 4) ist zugleich "scintillation" der zum Tempel arretierten Zeit wie des zum Dach arretierten Meeres. Schon eingangs bezeichnet die infinitesimale Bewegung des "palpiter" das Dach, das hier scheinbar noch als wirkliches Dach gegeben ist, das in der Mittagsh itze zu zittern scheint. Wenn so Bewegung und Bewegungslosigkeit schon in der angeschauten Meerland schaft im Augenblick der Voll kommenheit des Mittags sich zu einer paradoxen E inheit verbi nden, so findet die Erfahrung d ieses Augenblicks ihr Echo im Wahr nehmenden selbst. Mehr und mehr strebt die E rfahrung des A ugenblicks in d iesem selbst zu unaufhebbaren Widersprüchlichkeiten auseinander. Bewegungslosigkeit des Himmels, " m i d i lä-haut, midi sans mouvement" hat als Bedingung seiner Wahr nehmung das dem Wandel und der Zeitlichkeit ausgesetzte Leben des Wahrnehmen den: " Beau ciel, vrai ciel, regarde-moi qui change !" (Sn. 6) und noch einmal Tete complete et parfait diademe. Je suis en toi le secret changement. (Str. 1 3 ) D i e Aporie v o n Bewegung u n d Bewegungslosigkeit findet i h r B i l d im Paradox des Zenon. Dieses aber spiegelt zugleich eine V ielfalt aporetischer Entgegensetzungen, die da!'; Gedicht i n der Einheit des Augenblicks in immer größerer Vielfalt entbindet. Entgegensetzung von Ich und All, Leben und Tod, Dauer und Vergänglichkeit, die Topoi der philosophischen Reflexion, werden so gleichsam in die Konkretheit einer bed rängenden E rfahrung gebracht. In diesem Zusammenhang wird erneut Nietz sches Zarathustra gegenwärtig in den Bildern der ' H interwelt', d i e eine t rügerische Auflösung der Widersprüche .... erspricht: Maigre immortalitc noire et dorce, Consolat rice affreuscment laurce. Qui d e la mort fais un sein materneI, Le beau mensongc et l a pieuse ruse! Qui ne connait, et qui ne les refuse, Ce cräne vide et ce rire eterne l ! (Str. 1 8) Valcry hat die Situation, aus der die E rfahrung des aporetischen Denkens hervor ge h t , mit der Präzision eines Ingenieurs konstruiert. Bedingung der aporetischen
Erfahrung der "forme pensive", die ihrerseits umschlägt in die neue leibliche Erfah rung der Weltzuwendung, ist eine Zwischenlage, aus der die Aporien des Denkens gleichsam als Erfahrung hervorgehen. Die Präposition "entre" hat in d iesem Zusam menhang den Wen eines Sch lüssels. Ce toit tranq u i l l e , OU marchent des colombes, Entre les pins palpite, entre les tombes ; (Str. 1 )
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KARlH E I N Z STiE R L E
Hier schon s i n d Licht und G räber entgegengesetzt a l s z w e i B i l d - und Erfahrungsfel der. die deshalb d ramatisch als Aporie entfaltet werden können, weil der Standort des Betrachters zwischen beiden Seinshereichen l iegt. Schon hier bel.eichnet "palpi ter" zugleich jene infinitesimale Bewegung zwischen Bewegung und Bewegungslo sigkeit, die den aus der Serie der Augenblicke herausgehobenen absoluten Augen blick des Mittags bestimmt. Auch in der folgenden Strophe setzt diese Bewegung zwischen Bewegung und Bewegungslosigkeit sich fort im Bild des " scintiller" der Zeit. Die Oberfläche des Meeres scheidet erneut die Bereiche, sie liegt seihst zwi schen den Bereichen des Lichts, das sie spiegelt, und des Dunkels, das sie verbirgt und das doch das Licht der Oberfläche erst möglich macht. Das Ich selbst e rscheint jetzt in einer neuen Zwischenlage zwischen der " ahitude" des Himmels und der Tiefe des Meeres. Die Landschaft ist in diesem Gedicht gleichsam schon angeschaute Reflexion, die bereitliegt, ausdrückliche Reflexion des Schauenden zu werden, der sich selbst als "Entre le vide et l'evenement pur" stehend begreift (Str. 8). Gerade i n dieser Zuordnung v o n Situation und Reflexion aber erweist sich b e i aller Sinnfällig keit der Details und Sinnlichkeit der Sprache die Dominanz des Konstruktiven in d iesem Gedicht. Der arretiene Augenblick, der nichts als reine H i ngabe an die Vollkommenheit des Mittags schien, verdichtet sich im reflektierenden Betrachter 7.u r bedrängenden Aporie als "forme pensive". Während der "M ittag" in Also spTach ZaTathustTa als Moment einer Dialektik erscheint, die sich erst im ' G roßen Mittag' erfüllt, der zugleich Mitternacht ist, wird bei Valery die Aporie, die Zug um Zug in die E rfah rung des arretierten Augenblicks eindringt, nicht aufgelöst, sondern übersprungen durch die Rückkehr aus der Reflexion in die körperlich-sinnliche Existenz. Die Aporie, auf die das betrachtende Schauen im herausgehobenen Augenblick selbst stieß, wird überspielt, übersprungen von einem neuen elan vital, dessen Dynamik die Abgründe überbrückt, die sich der Reflexion geöffnet hatten. So zerbricht der Au genblick und kehrt in die Serie der Augenblicke zurück, das Leben wird in dionysi scher Gegenwänigkeit neu erfahren. Waren in dem Anruf an Zenon die Aporien der Erfahrung in einer Folge von Exklamationen zu d ramatischer Gegenwärtigkeit gekommen, so schlägt nun die innere Dramatik der "forme yensive" in die Dramatik einer neuen Zuwendung z u r sinnlich-körperlichen Welt um. Non, non! . . . Debout! Dans I 'ere successive ! Brisez, mon corps, cette forme pensive! Buvez, mon sein, la naissance du vent! Une fraicheur, de la mer exhalee, Me rend mon ame . . . 0 pu issance salee! Courans ä l'onde en rejaillir vivant ! (Str. 22) Der Dramatik der Zuwendung z u r Körperlichkeit entspricht ereignishaft eine dra matische Veränderung der äußeren Welt. Die Folge von Exklamationen endet im Bild des aufkommenden Windes, der die Wogen in Bewegung setzt und das Dach
VALE RYS LE CIMETIERE MARIN UND N I ETZSCHES 'GROSSER M ITTAG'
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d e s Meeres zerbricht, so w i e d e r Körper d i e "forme pensive" zerbrach. Erneut i s t i n d e m Selbstbefehl : " Non, n o n ! . . . Debo u t ! " eine Nietzsche-Reminiszenz erkennbar. " A uf ! " sprach er zu sich selber, "du Schläfer! Du Mittagsschläfer! Wohlan, wohlauf, ihr alten Beine! Zeit ist's und überzdt, manch gut Stücks Wegs blieb euch noch zu rück - " (S. 5 1 4). I m Zarathustra steht die Befreiung aus der Obsession des arre tierten Augenblicks in der Metaphorik des Wegs. Zarathustra ist ein philosophischer Wanderer. Dagegen ist in Valerys Gedicht die Weltzuwendung in der Körperlichkeit einfach. Sie steht im Zeichen einer gleichsam naiven, 'antikischen' Sinnlichkeit. Diese Einfachheit, Reduktion von Nietzsches Gedanken, mag bedingt sein durch die an dere Stilisation des in sich gesch lossenen Gedichts, das nicht einen Weg darstellt, sondern als Anwachsen einer Spannung und dramatische Lösung organisien ist, es hat aber auch zu tun mit der Wirkungsgeschichte Nietzsches in Frankreich und mit einer neuen ' romanischen' Konzeption jener H inwendung zur Sinnlichkeit und zum ' Leben' , die bei Nietzsche sich gleichfalls, aber don immer in dialektischer B rechung findet. " Redlicher redet und reiner der gesunde Leib, der vollkommene und recht winklige : und er redet vom Sinn der Erde." (S. 300). Bei Nietzsehe aber steht diese antimetaphysisch intendierte Wiederentdeckung des Leibes im Kontext eines zer q uälten Pathos der Selbstüberwindung und Selbstübersteigung, das VaJery selbst metaphysikverdächtig bleiben mußte. Sein Gedicht ist gleichsam die von Metaphysik gereinigte Version von Nietzsches Mythos des Mittags. Sie entspricht damit sehr genau der Kritik an Nietzsehe, die sein Brief vom 1 3 . Januar 1 899 an Gide enthält'. Dieser Brief hat für die Motivation von Valerys neuer Version des Mythos vom ' G roßen Mittag' den Wen eines Schlüssels. I n seinen Gedanken liegt zutage, was Valer-y an Nietzsche fesselte und was ihn von ihm trennt. Er bezeichnet so einen möglichen U rsprung von Valerys eigener Version des Mythos vom M ittag, deren Ausarbeitung ihn noch zwei weitere Jahrzehnte beschäftigen sollte. "Mais Nietz sehe, qui est beaucoup plus metaphysicien que moi, - car je crois I 'etre aussi peu que • Zu V ollery§ Au�ein�ndeneI7.ung mil Nietnche. �iehe bc-s. E r.�cde. N.rtzuhe et Valb)' - Enai ' l f r Lt (o",id.e Je rrspm, Paris 1 962. G�edes Ess�i in ein groß angelegier Vergleich zweier in vielem komple. mentärer Denkbemühungen. Dabei trelen aber die spezifischen Bezugnahmen Valerys auf Niel7.Sche in den H m lergrund. Zu Valery� Brief \'gl. S. 449-4 5 1 . G�(o(le unlerstreichl besonders d i e von V�lrry stlb�t angedeulele Affinität n" i�chen N iet7.Sche� " Ober men�(h" und der "on Valc-ry geschaffenen Gestalt de� M . Tesle, allerdings ohne die grundlegende Differem. z" isc:hen die§en beiden Gestallen einer neuen Mythologie her�uszu�rbtilen. Nlelzsches übermensch ist dialektisc:her N�tur. Dagegen in Valc-rys M . Teste de7.idien undialeklisch konzipien, gleichum als eine Penonifik�lion der canesianischen res cogiuns. Die reine Inltlleklualiläl des M . Teste und die reine Smnlichkeit, mil der der Cimetiire Mllrin endel. sind Gegenpole, die �ich nichl dialektisch aufheben lauen. 1m Hinblick �uf diese bneichnel der C,mctlirc Mdrm stlbsl die Sphäre eines Ober iOangs. Das Ich dts C,mctlirc M.rm iSI gleichsam M . Te)le, der seine Sphäre verlaßt ('"( . . . ) I Apres unt d'orgueil. aprcs lanl d'cnangeIOi�ivelC. maIs pleine de pouvoir", Sn. 6). A ber er ,'ird dadurch nicht dl�lekti�ch, �onJern �turZI in die Sinnlichkeit. Zwar kennt �uch V�lery die Möglichkeit der Vermittlung von reiner Intellektualität und reiner Sinnlichkeit. aber ohne daß dabei melaphYSISche Momente ins Spu:1 kamen. Seide Spharen �ind fur Valery vermittelt einersein in der Praxis de� conslruire, .andererseits im Raum der Dichtung, wu die Verschmtlzung \'on Sinnlichkeit und Intelleklualil�1 sich gerade ah eine fikli\'e " o1lzieht (Näher('� hi('rzu in Ven . . "Philosophische Reflexiun und poelische Praxis", s . Anm. 8).
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KARLHEINZ
STI E R tE
cela eSI decent, - a refait 50n Dieu. sa Causc, 5a Force. sa Vie, etc . , ct il a pris le bon chemin traditionne l : la contradiction , " (Correspondance. S. 344). Valery. der Anti metaphysiker, sucht die Widersprüche nicht dialektisch aufzuheben. sondern setzt ihnen eine andere Erfahrung, die des unm ittel baren sinnl ichen Lebens entgegen. VaJery sieht sehr scharf, daß Nietzsches Verherrlichung einer elitären A moral ität. verbunden mit einem beständigen Appell zur Selbstüberw indung. etwas mit einer noch nicht konsequent genug vollzogenen Loslösung von Metaphysik 7.U tun hat. Nietzsches Befangenheit in der Metaphysik gipfelt für Valery i n einer Philosophie der Gewalt. von der er sich klar d i stanzien. "Son grand IOn a mes yeux est de vouloir faire une philosophie de la violence." (5. 343). Valery ist die Dialektik N ietz sches verdächtig. Er sucht sie zu bannen i n einfachen Alternativen. für d i e bei ihm Stendhal und Descartes einstehen. " Donc. dans son ensemble. i l y a des choses admirables o u na'i ves ou inutiles ; donc. i l faut choisir ce qui convient et revenir soit a Stendhal soit a Descartes. car il n'y a guere de milieu possible." (S. 343).Was Valcry aber an N ietzsehe fesselt. ist seine leidenschaftliche A nstrengung. das Leben selbst. unabhängig von falschen moralischen Kategorien. z u Bewußtsein z u bringen. Er u nterscheidet sich damit zugleich scharf von Gide. der i n Nietzsehe den Phi losophen des inconscient begrüßt hatte7• " M aintenant. je lui pardonne beaucoup car i l est pour 'un peu plus de conscience'. marotte ancienne de moi." (5. 343). Trotz aller Kritik bleibt Nietzsehe für Valery ein " auteur tres suggestif ' . Davon zeugt Valerys Cime tiere Marin. in dem d i e Auseinandersetzung mit diesem ' s u ggestiven A utor' ihre endgü ltige Gestalt erhält. So wie Nietzsches Zarathustra aus der Gegenwart versetzt ist i n den mythischen Horizont einer imaginären Vergangenheit, i n der philosophische Erfahrung noch unmittelbar ursprünglicher Welterfahrung entspringt und sich i n ihren B i ldern kon kretisiert. so ist auch Valerys Gedicht i n eine ideale Vergangenheit versetzt, wo gleichsam die Gemeinplätze phi losophischen N achdenkens z u ursprünglicher Erfah rung z urückgeführt sind·. Während Nietzsches Zarathustra-Welt auf einen mythi schen Orient z u verweisen scheint, ist der U m raum von Valerys Gedicht eine imagi näre Antike, i n der ursprüngliche sinnliche Erfah rung einer mediterranen Welt sich mit ursprünglicher philosophischer Ei nsicht z u verbinden scheinen. Die antikisie renden Konnotationen. die zugleich sprachlich i m klassizistischen Gestus des Ge dichts gegenwärtig sind. schaffen die atmosphärische Gegenwart einer imaginären Antike, i n der reine Sinnlichkeit. H ingebung an die wirkl iche Weh, noch die Alter native z u r reinen philosophischen Betrachtung sein kann. Beide Versionen des My thos von der Erfahrung des M ittags stehen i n sentimentalischem Licht. Sie lassen eine Erfahrungsmöglichkeit als imaginäre Gegenwärtigkeit aufscheinen. die einem Be d ü rfnis nach U rsprünglichkeit entspringt. das i n der gegenwärtigen Welt keine Er, A . GIIJe:. " leines ;" A ngCle: XII", i n CElfvr"J compliw, hg. l . Marlin· Chauffier. B d 1 1 1 . Pari\ 1 9 H , S . 2 2 8-24 1 . Sie:he: a.uch Ve:rl . , "Philosoph i,che: Ref1nion und poemche Pruis bei P. Va.ler-,.· ... I n Rom"J1IJch" f(lr· ICbNI'II"n 90 ( 1 9 78), S. 1 2 ff .
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füllung mehr finden kann. Das bedingt das Suggestive wie das Unwirkl iche d ieses Augenblicks, in dem poetische und philosophische Erfahrung sich durchdringen - in einer Vollkommenheit. die freilich ihren Preis hat i m imaginären Charakter der Erfahrungssituation selbst.
U \t'E J A P P
S I N N K R I S E U N D S I N N V E R STE H E N H E R M E N E UT I S C H E P R O B L E M E M I T VAL � RYS
CIMETI E R E MA R I N
1 Hermeneutik und Hermetik
Die Mythologie kennt zwei Götter mit dem Namen Hermes, Beide spielen nicht nur in der Mythologie. sondern auch in der Literaturwissenschaft eine bedeutende Rolle. Die Beziehung zw ischen beiden ist eine solche des Gegensatzes ; und zwar so. daß sie don, wo sie sich auszuschließen scheinen, sich zur Herausforderung werden. Hermes, der Götterbote, bringt die Botschaft der Götter zu den Menschen. Seine vermittelnde und übersetzende Leistung ist erforderlich, weil die Sprache der Götter (und der Dichter) den Menschen nicht unmittelbar verständ lich ist. Hermes bringt nicht nur den Sinn, sondern erschließt ihn, indem er ihn dem Verständnis auf� schließt. I nsofern ist Hermes der Gott der Hermeneutik L . Hermes Trismegistos dagegen leitet seine (mythologische) Bedeutung a u s der be� sonderen Befähigung her, wertvolle Schätze unzugänglich machen :w können. sie zu verschließen - um su ihren Wert durch Exklusivität noch 7 . U erhöhen. Ins Sprachli� ehe und Literarische gewandt wird Hermes Trismegistos insofern der Gott der Hermetik2• Während also die beiden Gottheiten die noch mythologisch verstandenen Leistlln� �en des Aufschliegens und Verschließens von Sinn zueinander in Gegensatz bringen, w ird deutlich, daß ihre methodologische Bedeutung und Berührung don eklatant wird, wo in der Hermetik als On eines systematisch unzugänglichen oder erschwer� ten Sinnes die Herolusforderung erkannt werden kann, die eine si nnersch l ießend<.' Hermeneutik systematisch notwendig macht. Die in der Geschichte der Hermeneu� tik erstmals von Schleiermacher erhobene Forderung, die Hermeneutik dürfe nicht nur don angewandt werden, wo ein Text Lücken oder Schw ierigkeiten zeige (darauf beschränkte sich die sogenannte 'Stellenhermeneutik'), sondern immer, wo das Miß� \'erstehen sich von selbst ergibt, folgt notwend ig aus der hermetischen Problematik. weil der hermetische Text - so scheint es - fast nur aus Schwierigkeiten besteht. Das �ih besonders deshalb. weil dem scheinbar parad oxen Anspruch hermetischer Dich� tung 7. ufolge die ihr eigentümliche 'Schwierigkeit' nicht einer Si nn\'erm inderung, sondern einer Sinnsteigerung gleichkommen sol l . Sinnsteigerung kann hier a l l erdings nicht die a l l gemeine Erweiterung rezeptiver Möglichkeiten meinen. Diese werden \ F. K . Mayr, . . Der Gon Herml's um! die Hermeneutik" . in Tlldschrlft voor FilaJophlt' ( 1 %8), S . 53511. : VI.. " Da� Bu,;h Im Bu,;h - Eine Figur de� l ilernischcn Hcrmelismu�", In N " " " R""dJChol" " ( 1 975). 5.651 .
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vielmehr gerade eingeschränkt. um so die spezielle Erweiterung produktiver Mög lichkeiten der Sprache zu erreichen : als poesie pure. Solche Poesie, meint Valcry, unterscheide sich von der Prosa wie das Tanzen vom GehenJ• Die hermetische Poesie beabsichtigt also nicht. U nterhaltung für viele zu sein, sondern eine Art höherer Kommunikation für weni �t·. die viel verstehen wollen und können. Die spezielle Sinnstci�l'rung des hermetischen Gedichts aus dem Gedicht z u cr mitteln, wird so zur Aufgabe ei ner sinnverstehenden Hermeneutik. Daß diese Auf gaben- u nd Problemstellung nicht selbstverständlich ist, zeigt ein Vergleich mit der Valerydeutung Adornos, der es sich zur Aufgabe macht, die gegen Kommunikation abgedichtete Esoterik Valerys zu rechtfertigen. Dieser Rechtfertigungsversuch gleicht frei l ich bereits einem Rettungsversuch. denn es ist verständl ich, daß sich ein literatursoziologischer Ansatz mit der Tenden7. ins Elitäre, die der Hermetik offen sichtlich eignet. schwerer tut als die Hermeneutik. da es dieser zunächst ganz all ge mein darauf ankommt. den Sinn zu verstehen, nicht aber darauf. sogleich einen sozialen Sinn zu finden. Adornos Ziel ist der Nachweis. daß der scheinbar so welt fernen Dichtung Valerys doch soziale Elemente inhärent seien. Das Argument hat den Charakter eines formalen Umkehrungsschlusses : Indem Valcrys Kunst sich ei nem direkten Weltbezug verweigere. sei sie als "Resistenz" gegen die Welt auf d iese bezogen · . Der s07.iale Sinn der Hermetik enthülle sich als Verweigerung. als ein Nich t - M itmachen. Diese Deutung bejaht - möglicherweise gegen die eigene Absicht - die These von der Sin nverminderung. da sie betont, was die Hermetik nicht macht, nicht aber. was sie wirklich aussagt. geschweige denn. was sil" mehr aussagt. Diese Fatalität kommt zustande. indem Adorno die Hermetik und besonders d i e poesie pure Valcrys insgesamt als poetische Attitüde gegenüber der Weh und der Gesell schaft darstellt. nicht aber d e n Weltbezug d e s hermetischen Werkes selbst analysiert. Hierin wäre nun aber gerade die radikalere Aufgabe einer Hermeneutik zu sehen. die im Nachweis der These von der hermetischen Sinnsteigerung i hre eigene Produktivi tät unter Beweis stellt. Adornos externe Deutung reduziert diesen Sinn. Ich werde im folgenden den Versuch unternehmen. diesen Sinn zu entfalten. Meine allgemeine These wird dabei sein, daß die Hermetik zwar das Sinn verstehen (und also die Hermeneutik) zunächst ab7.uwehren scheint, daß sie es aber auf kom plexerer Ebene herausfordert und schließlich (wenn auch nie abschließend) auch befriedigt. Meine spezielle These wird dabei sein, daß die Si nnsteigerung, die im ) P. V.1Iler)·, CENt/rrs, Bd I , hg. j . HyliC'r, P.am 1 957, S. 1 370 1 . ; \',:;1 . .luch a:Nvm, BJ 11. h g , 1 . Hytier, Puis 1 960. S. 6 3 7 : " LC' poc-mC' - celle hc-siullon prolongce entrC' le 50n el le M,'n,," Ponit· und PruS.JI. dC'ren Unlt'uchied Valc-ry immer wieder betont. untenchC'iJen �Ich abt'r nu:hl J u rch ('in untC'rschied· liche� Materi.1ll. m rtwa. daß Jer PoC'sie eine eigrne, autonome Spr.1chr 7,ukame, 8eide b('Jienrn �u:h vielmehr der .1Ils ImtrumC'nt aufgrf.:aßu.·n Spr.1lche (wie 'Nir :luch beim Gehen und T'lß1.l·n unserr Beinr bC'nulzC'n). Der UnleuchiC'd liC'gl also im Verf.:ahren . • " Aber sie verkörperl die Resislrnz gegen den uns:iglichen Dru ... k. d('n Ja� bloß Sriende ubcr� Mensch l i c h e .1Iusubt _ . . S i c h nicht verdummen. s i c h n i c h t einlullen 1:I\5('n. nlChl mitl.1ufC'n: d . u s i n d d i e \071.11 l cn Verh.1lltens'NeisC'n. die im Werk V.JIlc-rys sich niedergC'schl:lgen haben . , , " Th. W Adorno, " Der Arll\1 als St.JIuhaher". i n Noten ZNr Litr,."t,.d, Frankfurt 1 %9, S. 1 9 ] ,
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CimetieJ'e marin durch den Einsatz hennetischer Mittel erreicht wird. sich als die zugleich poetische und meta-poetische (also reflexive) Darstellung einer Sinnkrise verstehen läßt. Das erste und al lgemeinste hermeneutische Problem mit Valcry s CimetieJ'e marin ist also darin begründet, daß es sich hierbei um ein Werk der Hermetik handelt�.
2 Zur Genealogie des Werkes
Eine weitere Schwierigkeit allerdings beginnt schon dort, wo wir von der Gegeben heit e;neJ Werkes ausgehen zu können glauben. Bekanntlich ist gerade die Entste hungsgeschichte des CimetieJ'e marin ebenso bizarr wie poetologisch aufschl ußreich. Diese Geschichte hat nicht nur antiquarisches I nteresse. Sie wirft erstens ein Licht auf die Valerysche Theorie der dichterischen Produktion. Valcry kritisien den My thos der Inspiration, indem er diesem die häufig umschriebene Idee einer Poetik des Handwerks entgegensetz t ; eine Idee, derzufolge " Gedichte auch Meisterwerke des Fleißes sind. Monumente der Intelligenz und einer beharrlichen Arbeit, Erzeugnisse des W i l lens und der Anal)'se . , . "". Zweitens aber betrifft die Genealogie des Werkes den Werkbegriff selbst. Sie erlaubt es. die (irrige) Vorstellung von der Geschlossenheit des hermetischen Kunst werkes in die der Offenheit und einer prinzipieilen UnabschliefSbarkeit zu verkeh ren, Dies ist zumindest die Ansicht, die Valery nahegelegt hat, wenn er die endgül tige Fassung des CimetieJ'c marin nicht als das Resultat seiner Absicht, die aus dem Eindruck der Vollkommenheit hätte herrühren können. erklän, sondern lediglich d ie Intervention des Freundes Riviere, der auf eine Veröffentlichung drängte, dafür verantwortlich machte ; eine Intervention, die er als "section d'un travail interieur par un cvenement fonuit" bezeichnet : "So wurde dNJ'ch ZN/all die Gestalt des Werkes (figure de cet ouvrage) fixiert"'. I)aß Valery tatsächlich die endgültige Fa!ii s ung nicht al!ii notwendigen oder ' natürli chen' Ab50chluß des poetischen Prozesses ansah, geht auch aus seiner untersch ied lichen E inschätzung der einzelnen Strophen hervor. Seine Zustimmung fanden nach träglich lediglich die folgenden 15 von 24 Strophen : I. 11, IV, X . X I I , X I I I . XIV, XV, , G . C o h r n � p n c h t v o n drr "ob�curll': loc':ldC'ntelle t l U " o u l u e dC' CC'I loUleur", dC'r in dC'r "tradition dr l ' h C'rm ':mmr m;all;anncrn" nehe, fJw' d'upllC".'Uln d. Ctm,.II;'r,. M""n, P;aris 1 946, S. 3 7 u . 39. Ich
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li:rflole loi irrdIngs mil mrinrr DC'ulung der hrnnrtischen SinnuC'lgerung. dir sich dem Sinnvenlrhen lol� Sinnkri�r l. U rrkrnnrn grbt. In Konflikl zu solchen DrulungC'n, dir - Im Anschluß .In Vlolir)' Ilrulungrn dr' C,,,, rr.;'rr """ 1'1" fur prC'kar. nloiv odrr Sinnlos hlolten; vgl. duu die BC'itrage von G . Ruck u . A . Hloverklomp I n diesem Blond. I c h kommr dlorloul zuruck . I. S 1 3 76 ; die duch. Ubrrsellung 1. 1 1 . nlo<:h K . l.eonhard, P�"I V�/rry - Z", ThroflC' drr D'chrlt"nsr Altlsiiru Itnd Vortragt', Frlonkfun 1 96 2 , S . 2". Beinlohr glrlchlautc:nd krui!iiC'n N i rnschr in "Mrn�f,;hl" .:hC'!i, A l b umrnschliches" dC'n " G lloubr an Insplflolion", in \"C'rrltr, hj;. K. Schlrchtlo. Münchrn '1971,
'i. �4". ' I , S 1 5OQ ; duch . S. 1 8Q.
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XVI, X V I I , XV I I I , X I X , X X I I , X X I I I , XXIV8• Die Poetik des Handw erks erlaubt also zwei vorläufige Schlüsse: I . das Gedicht ist nicht Resultat einer unkonu-ol l i crba ren I nspiration - die den Autor zum Zuhörer degradienc -, sondern das Ergebnis der dichterischen A rbeit; 2 . diese A rbeit ist a l s offener Prozeß ohne definiten A b sch luß anzusehen. D a s fertige Gedicht muß deshalb a u c h als die m e h r o d e r weniger willkürliche Unterbrechung der A nnäherung an ein u nerreichbares Ideal (" ideal inaccessible") angesehen werden. Die Rede von der endgültigen Fassung eines Wer kes besagt nicht mehr, als daß die A rbeit an dem Werk an einem bestimmten. vom Zufall diktierten Punkt abgebrochen w u rde. Diese Arbeit, die bis zur letzten Fassung führt, ist von L . J . Austin rekonstru iert worden. Demnach arbeitete Valery von 1 9 1 7 bis 1 920 am Cimetiert> marin. Seiner eigenen Aussage zufolge ging Valery dabei zunächst von der Vorstellung einer be stimmten rhythmischen Form ("figure rythmique vide") aus, die sich m i t der Erin nerung an den Friedhof am Meer seines Heimatortes Sete verband". Die letzte Fas sung besteht aus 1 44 Versen u nd 2 4 Strophen ("sixains decasyllabiques"). Dieser gingen hauptsächlich drei Fassungen (A, B, C) voraus, zu denen sich aber zusätzlich noch Varianten finden. Fassung A , die noch den Titel Mare Nostrum trug, bestand aus 7, Fassung B aus 10 und Fassung C aus 2 3 Strophen. I m Laufe dieser Transfor mationen sind einzelne Strophen unverändert geblieben und haben in den folgenden Fassungen nur einen jeweils anderen Platz erhalten, andere w u rden aufgelöst und z u mehreren umgeformt. Dadurch verschieben s i c h zweifellos die Konfigurationen t h e matischer A kzentuierungen - soweit s i c h solche isolieren l a s s e n . Zwar verändert s i c h a l s o das Werk, a b e r n i c h t s o , daß gänzlich Heterogenes Einlaß fände. V i e l m e h r g i l t h i e r besonders, was Valcry an anderer Ste l l e forderte, daß die Partien e i n e s Werkes untereinander durch mehr als einen Faden miteinander verbunden sind oder sein sollen1o• Austin legt in seinem Kommentar großen Wert darauf, die Veränderungen von Fassung zu Fassung als einen Prozeß der Perfektionierung z u deuten, aus dem grundsätz lich die Willkür ausgeschlossen sei. Immer w i eder wird versichert, daß die letzte Fassung zwar die gelu ngenere sei, daß sie aber von der ursprünglichen nicht entscheidend abweiche. Hier wird die Genea logie des Werkes zum Rechtfertigungs denken des Ursprünglichen. Das ist schon in sich nicht sch lüssig, da es i m Falle des Cimetiere marin nicht eine u rsprüngl ichere und eine endgültige Fassung gibt, son dern mehrere vorläufige und schließlich eine letzte. Zudem wird damit jene Idee, die Valery als die poetischste der Ideen erachtete, in ihrer Wichtigkeit und Freiheit ei ngeschränkt: die Idee der Komposition l I . E s läßt sich dagegen d i e Ansicht vertreten, daß sich d a s Werk - nach u n d bei Valery - nach Maßgabe eincr Okonomie der relativcn Freiheit konstituiert. Das sol l �
l.J. Ausun, "Polul Voliery (Om pOSl'
q 1 , 5. 1 50 3 ; du,h. 5. 1 84 . 1 : 1 1 , 5. 554. 1 1 1 , 5. 1 504.
l.c- Cimt·tierc M;arm", L n
Mercure
de f'rance I V ( 1 95 3 ) , 5.
58 1 .
S I N N K R I S F. U N D S I N NVERSTEHEN
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an einem weniger komplizierten Beispiel kurz erläutert werden. Der 6. Vers der V . Strophe lautet in d e r endgültigen Fassung: " Le changement d e s rives en rumeur." In der vorhergehenden Variante steht ein durchgestrichenes " reves" , darüber "rives", darunter "heures", also : rives " Le changement des�en rumeur" ' 2 heures Nun handelt es sich h ierbei zwar offensichtlich um Alternativen, nicht aber um Synonyme. I m G egenteil : die drei Wörter gehören zu sehr untersch iedlichen Berei chen : dem psychischen (reves), dem zeitl ichen (heures) und dem räumlichen (rives). Zwischen ihnen z u wählen, könnte deshalb ein Akt der Freiheit oder gar Willkür geheißen werden. Andererseits ist diese Heterogenität begrenzt, da alle drei Wörter zum ausmach baren Bereich der Bewegtheit (changement) gehören. Es kann also zwischen diesen d rei Wörtern (und noch anderen) ausgewählt werden, nicht aber stünde etwa eines aus dem bildlichen Bereich der Unbewegtheit zur Disposition. Unter diesem A spekt sind reves, rives und heures nicht heterogen, sondern sympa thetisch . Sie sind durch eine Verwandtschahsbeziehung verbunden. Zwischen ihnen zu wählen muß deshalb als ein Akt relativer Freiheit angesehen werden. Diese Einschränkungen betreffen den Sinn (sens), andere den Klang (son). Beide sind aber für Valcry gleich w ichtig. Deshalb waren .tuch von vornherein längere oder kürzere Wörter ausgeschlossen. Und wenn nun schon - in einem Vorgang der Objektivie rung des Bildes - die innerpsychische Qualität der Träume durch eine äu ßere der Zeit oder des Raumes ersetzt werden sollte, so boten sich - abgesehen von anderen überlegungen - unter dem A spekt des Klanges die Ufer eher an als die Stunden, weil rives zu reves und vor allem z u rumeur eine homophone Affinität hat.
3 Signifikanz des A u tors
Bei den h ier angestellten E rörteru ngen habe ich mich wiederholt auf den Autor des Cimetiere marin be70gen - und habe damit scheinbar der I nstanz einer selbstver ständ lichen A u torität beigepflichtet. Diese Selbstverständ lichkeit allerdings ist seit langem obsolet geworden. Schleiermachers - und nicht nur Schleiermachers - Frage, was denn der A utor eigent l ich gcmeint habe, gehört heute eher zu den hermeneuti schen Problemen, die die Hermeneutik mit sich selbst hat, als zu ihren positivcn Voraussetzungen. Das w i rd besonders deutl ich in der Konfrontation der HermeneuI:
1..J. AU�lin. " Pau! Val':ry " S. 600. Ri!kl;' übt'neln: "\"On den Gt'r;auschen beim " enauschlen land . "
E . R . C u r t ' U � : " nen �n .. d e r WalUH u n g . d i e J e n Strand lC!rmürbl . " H . Köhler nennl d,e�e Obeuel' lun!:en ",·erwtlrren " . E r �chlOlgl " u r : " W i e da§ GeuOIde �ich in To�en wOlndeh". oder: "Den �'andel Jer Ge�IOIde i n Gelus . . • . H . Krihler. Pa,,1 Va/�ry - D.cht/ll ng /lind F.r/'C'I1ntnrs - Das lyrische W",k .m L.cl"e der Tageblicher, Bonn 1 9 71) . S . J73, Anm. J.
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U W IO J A P P
tik mit d e n Extremfällen d e s französischen U ltrastrukturalismus, d e r z w a r nicht d i e Wirklichkeit d e s A utors bestreitet, w o h l aber die Relevanz seines Mcincnsu. Die Komplexität des ValCryschen Werkes setzt uns nun in die Lage, die hermeneu tische Legitimität einer Berufung auf den A u tor Valery mit Valcry selbst zu bezwei feln. Inwieweit dies nicht einer illegitimen Verdoppelung des in Rede stehenden Problems gleichkommt. wird daraus mit hervorgehen. Gegen Ende seiner A usführungen zum Cimetiere marin bemerkt Valery : "Es gibt keinen wirklichen Sinn eines Textes. Der A u to r hat hier keine A u torität. Was immer er hat sagen wollen: er hat gesch rieben. was er geschrieben hat . . . Wenn cr im übrigen schr wohl weiß, was er machen wollte, so trübt doch gerade diese Kenntnis in ihm die Wahrnehmung dessen, was er wirk lich geschaffen hat " u . Diese strenge Unterscheidung zwischen der Intention des A u tors und dem realisierten Werk stellt n icht in Abrede, daß es den Autor vor dem Werk gibt und geben muß, sie bezweifelt lediglich eine daraus abzuleitende souveräne interpretatorische Kompetenz. Die her meneutische Argumentation kann sich ihre Selbstverantwort lichkeit nicht mit dem Autor teilen, da dem Autor im Konflikt der Interpretationen keine privilegierte Stimme zukommt. Es ist allerdings nicht 7.U übersehen, daß Valerys Skepsis noch einen Schritt weitergeht. Er bestreitet nicht nur eine besondere Deutungs- Kompe tenz des Autors, er bezweifelt den Sinn von Deutungen überhaupt, da es, wie gesagt, keinen wirklichen Sinn eines Textes gebe. Nun ist aber die Frage nach der Wirklich keit des Imaginären ganz ungeeignet, die Frage nach dem Sinn zu diskreditieren. Gerade weil es keinen "wirklichen" Sinn (was immer das heißen mag) gibt, gibt es die legitime Frage nach dem Sinn, gibt es Deutungen. Es geht aus diesem Sinnlosigkeitsverdacht gegen alle I nterpretationen noch nicht einmal hervor, daß der Autor nicht auch einmal i n eigener Sache recht haben kann. Wenn nämlich dem Autor zwar keine privil egierte Stimme bei der Deutung seiner Werke zugestanden werden muß, so kann er doch immerhin eine gleich berechtigte Stimme haben. Freil ich ist d iese nicht durch seine A utorsch aft legitimiert, sondern durch seinen Beitrag zum hermeneutischen Diskurs. Eben weil die autoritative Signi fikanz des Autors für die Interpretation seines Werkes zu be7.weifeln ist, ist auch der umgekehrte Schluß zu kritisieren, der nun d i e Bedeutung des A utors überhaupt negieren möchte: um ihn in einem subjektlosen Diskursuniversum versch winden zu lassen, Dazu l iegt kein Grund vor, Im Gegenteil, der Autor kann durchaus - wie i m Falle Valerys - ein kompetenter Interpret seines Werkes und s e i n e r poetischen Praxis sei n ; nur ist er dies nicht als Autor, sondern als I nterpret.
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V � l . VI., HrmJrrlrutilt - Drr throrrtiJchr Dulturs, d,r L,urAtur umi dir KomtrulttlOrI ibu. ZUf"mmrrl'
h"rlgr. ", Jr" ph.lologUl:hrrl W'lJJrmch4url, Mun.:h("n 1 977, S . 8 5 f f . ,. I , S . 1 50 7 : J t s o; h . S . I R R f . : ebenso 1 1 , S. 5 5 7 : " Q u a n d l'ouvr.lJ;(" a paN, mn inu'rprc'Ia(iun par I'au("ur n'a pa, plu� de " all'ur qu(" (OU(" auu(" par q U I qu(" o;e �(lLt . . . Mun intcmiun n 't's( qUl' mon intcntiun L"t I'n�u\"te CS( I"�uvrc": jhnlio;h T I , S. 629.
S I N N K R I S F.
U N D S I N NVF.RSTF. H F N
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4 Das Spiel der Figu ren - Deutung I
Ein weiteres hermeneutisches Pl""O b lem in der Begegnung mit dem Cimeliere marin ist allerdings gerade d al"" i n begründet. daß sich hier poetische und theoretische Fakul täten nicht als vorgängige Dichtung und nachtl""ä gliche Bezugnahme uennen lassen. denn die Dichtung und der Dichter sind selbst Themen des Gedichts. Das ist keine Artistenpoesie. Der Dichter wird vielmehr als I nterpret - und Konstrukteur - der Welt vorgestellt. so daß die symbolistische Suuktur des hermetischen Gedichts mit dem hermeneutischen Diskun eine Verbindung eingeht. Mit anderen Worten : Poe sie und Meta-Poesie bringen sich als · Po·iesis· hervo r ' � . D a s h a t eine kompositorische Doppelbewegung z u r Folge. die einmal v o n d e r Konkretion e i n e s mediternnen Friedhofs zur A bsuaktion e i n e r Comcdie intellectu elle lind umgekehrt von der schemenhaften Signatur des poetischen u nd menschli chen Bewußtseins z u r Bildlichkeit der maritimen Situation gleitet. Die Komposition des Gedichts kann wesentlich als eine DanteIlung u nd Begründung d ieses Gleitens (scint i l l ation) aufgefaßt werden : "Ie Temps scintille et l e Songe est savoir" (Str. 11. V. 6). Die Schwierigkeit des Valeryschen Gedichts ist deshalb nicht allein in der symbolistischen - E rlesenheit der Bilder begründet. sondem darin. daß diese Bildcr mit andcren B i ldem und Begriffen konespondieren. in d iesen Korrespondenzen ihren Sinn beständig steigem und so schließlich die K orrespondenzen wichtiger werden lassen als die zur I l lusion gewordene Singulal"" i tät der Bedeutungen. Von hier aus läßt sich nun klären. was Valery unter poesie pure verstand ; und damit ließe sich möglicherweise auch ein Beiuag zur hermeneutischen Enträtselung der Hermetik gew innen. Das Ideal der poesie pure hat näml ich seine Erfüllung nicht in einer formalen Negation. "" ie sie Adomo als "Resistenz" oder Verweigerung begründen wolhe. sondem i n dem Inhalt und Form zugleich venninelnden und überschreitenden Sp,el der Figuren. I n diesem Spid der Figuren. das die Realität des Sujets als permanente Transformation beinhalten würde. sah Valery die sinnstei gemde Potenz der poesie pure gegenüber der Pl""O s a oder jeder Sprache. die auf einsinnige Verwendung abgestellt ist. Zugleich wird deutlich. daß es in der poesie pure nicht u m eine A usgrenzung der Realität geh t : vielmehr soll Realität uansfor mien werd e n : aus einem Reservoir \'on D ingen in die kommunizierende Bewegtheit der Figuren. Das Spiel der Figu ren ist Valcrys immanente und explizite Poet ik. zugleich seine poetische Prax i s : seine poesie pure. "Wenn d ieses pandoxe Pmblem sich vollständig lilsen ließe. das heißt. wenn der Dichter imstande w ä re. Werke zu konstruieren. wo nichts mehr \'on allem. was Prosa ist. i n E rscheinung uäte. Gedichte. in denen die musikalische Kontinuität niemals u nterbmchen wäre. in dL'nen sogal"" die Verhältnisse der Bedeutungen fort1\
t'LIII �" So.:hwit·ri gkC"iu·n hC"im Vt·r�u .. h , d C" n Ci",r,jjrr ,"" n " I.U di"§C"m R and S 2 7 l 1 f . ; don h C'iß t l"\: "\" ..Ii.,., GnJrehle' h.bm .J, ,hC'mlfIUChC'1 5"bu,..., J�" Prolr{l .Irr PorJlr Ir/bIt; 111' 1",.1 Ihr prnrw."rntrr .'irlb"ltro",,,,_ ,.,.r· - Vgl . .luo.:h Ru .. k� :\ u . f u h runt;cn l u r " Cul1n:dil" I nldlrltudlC''' hc.-i Val�r)". S. J oo f f . [ ) � l U �U\fuhrli&:h: G . H u o.: k . " U ht'r
intC"rp n11l·rC'n". I n
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während harmonischen Verhältnissen gleich wären. Gedichte, in denen die Um
u:andJung eines Gedankens in einen anderen wichtiger erschiene als jeder einzdne Gedanke, Gedichte in denen das Spiel der Bi lder (jeu des figures) die Wirklichkeit des Themas enthielte. - dann könnte man von reiner Poesie sprechen wie von etwas, das es gibt. So ist es aber nicht . . . Die Konzeption einer reinen Poesie ist die eines unerreichbaren Typus, eines idealen Grenzwcrkcs der Wünsche, Bemühungen und Fähigkeiten des Dichters . . . " I l- . Das absolute Buch, von dem Mallarme und auch Valery zu Zeiten träumten, gibt es nicht. Wohl aber gibt es einen präzisen Sinn der poesie pure. der sich i n einer Poetik der Transformation rcformu l iercn läßt. Diese Poetik hat in sich und i n der historischen Konsequenz ihres Erscheinens einen kontrahermetischen Effekt. indem das Spiel der Figuren in jenes "jeu combinatoire" übergeht. das unübersehbar einen großen Teil der Literatur der Moderne definiert : modern. weil sie der Konzeption des offenen Werkes verpflichtet istI'. Der Cimetiere marin ein offenes Werk? Auf dem H intergrund der immanenten und expliziten Poetik der Transformation kann es nicht anders sein. A l lerdings wird man Offenheit hier nicht im Sinne des eklatanten Fragmentarismus der modernen Prosa verstehen dürfen. vielmehr als Leseanwei sung. die eine lineare Lektüre als naiv erscheinen läßt. die dagegen eine plurale Lektüre forden. eine Lektüre also. die sich selbst in das Spiel der Figuren verstrickt. Aus der Perspektive dieser poetologischen Deutung und Selbstdeutung wirken die Schematisierungen. denen der Cimetiere marin seit seinem Erscheinen unterworfen wurde. schwerfällig und manchmal lächerlich. In der Regel wird der Cimetiere marin in vier Bereiche unterteilt (I-IV : U nbewegtheit; V-VI I I : Wandel ; IX-XV I I I : Tod ; X I X-X X I V : Leben)lH. Ein erster Einwand gegen solche U nteneilungen wird schon der sein. daß die so isol ierten Themen tatsäc hlich nicht nur in den ihnen zugespro chenen Strophenzusammenhängen vorkommen. Zudem ließe sich fragen. ob bei einer derartigen Rad ikalität der Generalisierung nicht zusätzlich zur Vernachlässi gung einzelner Teile gerade auch der Charakter der I nteraktion d ieser Teile unter d rückt werde. Was macht überhaupt die Att raktivität solcher Schematisicrungen aus? Wird das schwierige Gedicht einfacher. wenn man seine 24 Strophen auf vier oder drei thematische Bereiche reduziert? Wird es deutlicher? Oder handelt es sich lediglich um das kleine Spiel der Deutung im großen Spiel der Dichtung? Zweifellos gibt es diese Themen im Gedicht : Ll'ben und Tod. Endlichkeit und Ih
I , S , H 6 J ; dtsch. S . 8 S f G . Gt'nC"ue, " l a liucr,u ...r C" u.mme tdlC"". In F.g,.,r, I, Pari. 1 96ft, S. 2 6 2 . lnterC'�,anter ....C" i . e hC"merkl das auC'h, 7.umindest dC"r Struktur nao:h, diC' G:in ... li�h unmodC'rne ellpliulion CohC'n" S. 11 1 : "CC"pcn dant, il n')" a pas ici un mYlhC" unlquC', m;lIs un 5)"'lcmc- dC' (OrT" po"d.."cr, ( . . . )", Abtr die AhnlichkC'ilC'n fuhrC"n nlf.:hl wC"i l : .... ahrC'nd GC'nC'lIe V.lI�r)' " u m poeti.dwn Struklurali.ten ,1\'anl la lC"urC" slilisiC'n. vC'rC'infao:ht CohC'ns ontologl�C'he DC'ulung Jen C.mrtl�n.· m..,,,, ' u m ParadtfdJ C"incr poC'lischC"n Meuphysik. , " L.J. AUMin, "Paul Valcry" S . S90 ; G . Cohen. fu... S . • 7f. Au,"n rC"chnC"t al lC'rdinj;\ Strophe XIX no.. h 7um IhemalischC.n BC.rC.ich .. Tud .. . Vgl. a ... .. h G. Buo;k. In d lC",C"m RanJ, JC"r nunmC"hr C"inC' JrC"ileillj;C" GhntC'rung dC"s C.m('t.�'t ", .. ,,,, \·unchlaj;l. I'
S I !'II N K R I S F. U N D S I N N V E RSTF.HEN
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U nl!'ndl ichkeit, Freiheit und Notwendigkeit usw. Ebenso zweife l los gibt es d iesen "Friedhof am Meer", auf dem häufig die I nterpreten anzutreffen sind : wie sie aufs Meer blicken und über Leben und Tod, Endlichkeit und Unendlichkeit, Freiheit und Notwl!'ndigkeit usw. nachdenken. Währenddessen saß Valery in seiner Pariser Woh· nung und inszenierte diese intellektuelle Komödie, in der ihre Deuter bereits vor· kommen. 5 Ml!'er und Sonne - Deutung 11 Es gehört zum Sinn einer Komödie, daß in ihr das Ernste nicht allzu ernst genom· men wird. Das Ernste wird \'idmehr in der Regel (der Komödie) ironisiert; am Ernst, soweit er vorkommt, ist das Lächerliche und Fragwürdige interessant. In einer Comedie intellectuelle nun, dies versteht sich, erscheint der I ntel lekt als das Frag· w ü rdige schlechth in. Neuerlich tritt damit der Leser in die Lieblingsfigur der Valery· sehen Skepsis ein : in die Spirale des Denkens. In der Comedie humaine geraten die menschlichen Schwachheiten zur Darste l lung. Ästhetische Erfahrung und inte l l ektu· d i e Kritik bemächtigen sich des Menschl ichen, ironisieren es und versöhnen mit ihm. In der Comed ie ;ntelleauelle bemächtigen sich ästhetische Erfahrung und intel· lektuelle Kritik ihrer selbst. Zumindest versuchen sie es, Aus einsichtigen G ründen aber, für die schon die Figur der unendlichen Spirale steht, gelingt d ieses nicht, Es l angt nur zu einer - ironis�hcl1 - Sclbst.Thematisierung, die notwendig nicht an ein Ende kommen kann und damit ebenso notwend ig unversöhnt bleibt. Der Cimet;erc marin ist trotz seines emphatischen Schlusses ein gänzl ich unversöhntes Gedicht. Der Protagonist der Comed ie intdlectuellc ist der Intellektuel l e . Im C;met;ere marin ist es der imaginäre Autor, der sich im Laufe der von ihm aufgeworfenen Fragen und gegebenen Antworten immer deutlicher exponiert, frl!' i l ich damit nicht auch schon sich sdbst unbedingt deutlicher wird ; z . B . : " 0 pour moi seul, a moi seu l , en moi·memc" (Str. V I I I , V. I ). Der intellektuelle Protagon ist präsentiert sich nun ei nerseits auf ciner phi losophi· sehen Rcflexiom;·Bühne, wo d i e großen Themen der Metaphysik (Sein, Nichts, E n d l ichke it, Unend lichkeit usw.) seine fiktiven Gesprächspartner sind, andererseits befindet er sich auf dem scheinbar eindeutigeren Terrain eines med iterranen Fried · hofs, wo ihn (es kann nicht andcrs sei n : cr ist Intellektueller) die lokalen Gegeben heiten (G räber, Mcer, Sonne) z u einem metaphysischen Diskurs inspirieren. Nimmt mJn l.· inmal die von hier aus sich (im Gedicht und in den Interpretationen) entfal · tende Disku ssion ü b e r die Vorteile u n d Nachteile d e s s o g . Absoluten ernst, so w i rd sil' h daraus letztlich lediglich die Einsicht in die Fragwürdigkeit dieser Diskussion ergebl·n. Diese Einsicht wird nun 7war von Valery auch argumentierend herbeige führt, sil' wird aber auch als poet ischer Prozeß, der dem Abso l u ten und dem Ernst gemacht wird, vorgeführt. Mit anderen Worten, unterhalb des eind rucksvoll aufge. türmll'n p h i losophischen Gedankengebäudes verläuft die Spur der poetischen De komposition.
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Der imaginäre Autor erscheint in der ersten Strophe nur durch die allgemeine Attrihuicrung eines denkenden Wesens (" pensee'" V. 5), als Mensch also, der nach c r-lebten Mühen die Begegnung mit den zeitlosen Gewalten des Meeres und der Sonne als Lohn empfindet. Später allerdings w i rd deutlich oder immerhin denkbar. daß die Mühen des Denkens auch poetischer Natu r gewesen seien ( 1. . B . : "aux sour ces d u poeme", Str. V I I I , V. 2; "mon l ivre", Sn. X X 1 V , V . 2). Meer und Sonne figurieren als das dem denkenden und dichtenden Menschen überlegene Absolute, der sich so der eigenen Relativität bewußt w i rd (SIr. V). Das Ich, das sich wandelt ("mai qui change", Sn. V I , V. 1 ). schwankt zwischen dem regressiven Wunsch, sich der statuarischen Ruhe des Absoluten hinzugeben ("Je m'abandonne a ce brillant espace" , Str. VI, V. 4), und der Haltung selbstbewußter Eigenverantwortlichkeit, die sich gegen das ihr nurmehr noch scheinbar überlegene ("Maigre immortalite") auf lehnt. Der intellektuelle Protagonist ist in einer Krise. Soll er sich dem Absoluten hingeben und also das Schreiben aufgeben? Oder soll er sich zur Eigenverantwon lichkeit bekennen und also weiterschreiben ? Bis hierher haben wir es noch mit einem konventionellen Topos der Comcdie intellectuelle zu tun. I n d iesem Prozeß, den das Gedicht zur Darstellung und später auch z u einer scheinbaren Entscheidung bringt, kommen dem Meer und der Sonne unterschied liche Bedeutungen zu. Bewundert und ersehnt wird an ihnen nämlich einerseits die dem Wandel entzogene Ruhe ("La mer fidele", Str. X , V . 6 ; "Midi sans mouve ment", Str. X I I I , V . 3). Andererseits w i rd aber besonders die Sonne angesichts der sich entfaltenden Bewegtheit menschlicher Existenz als ebenso bewundernswene wie gnadenlose Gerechtigkeit (Str. V I I , V. 2 , 3) in eine Sphäre entrückt, die mensch lichen Möglichkeiten nicht nur unzugänglich, sondern auch konträr ist: ins Nichts. Anders verhält es sich mit dem Meer. Auch dies gehört zum Bereich des Absolu ten und U nbewegten : gleichermaßen des Seins und des Nichts. Andererseits aber repräsentiert es auch das dem Dasein inhärente Prinzip des Wand e l s; vom stil len Anfang : " La mer, la mer, toujours recommcncce ! " (Str. I, V . 4) bis .... ur rauschhaften Apotheose : " O u i ! G rande mer de delires doucc" (Str. X X I I ' , V. 1 ) . I nsofern kann das menschliche Bewußtsein in seiner cnd l ich entschiedenen Entschlossenheit zum Handeln - und Dichten - sich auf einem metaphorischen Niveau mit der Bewegtheit des Meeres verbinden woll e n : "Rompez, vague s ! " (Str. X X I V, V. 5). Es lassen sich so drei Ebenen unterscheiden - aber nicht trennen -, auf denen Sonne und Meer eine Rolle spielen. Die erste Ebene markiert den poet ischen Raum: auf dem Friedhof (von Sete) befindlich sieht der imaginäre Poet unter sich das Meer und über sich die Sonne. Auf der zweiten Ebene verbinden sich nun beide, Meer und Sonne, zum dem Menschen entgegenstehenden und ihn anziehenden Absoluten. Au' der d rinen Ebene verfällt einerseits der symbolische Umkreis der Sonne der Kritik und verdoppelt sich so in ein strahlendes Hnd ein vernichtendes Scheinen, anderer seits erscheint nun auch das Meer doppe l t : gleichermaßen der Unbewegl ichkeit des Absoluten Hnd der Relativität des menschlichen Bewußtseins zugehörig. Meer und Sonne fungieren deshalb im Valeryschen Gedicht nicht einfach als B i l -
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der, d i e ein Abstraktum veranschaul ichen sollen. Beide werden vielmehr ihrerseits wiederholt durch einen bildl ichen Ausdruck ersetzt. Diese Bi lder oder Tropen lassen sich genauer als Metonymien und Metaphern identifizieren, wenn wir mit Jakobson Metonymie als Tropus der Kontiguität und Metapher als Tropus der Ähnlichkeit auffassenl9• So w i rd i m Cimetiere marin die Sonne durch Fackeln oder du rch Gold substitu iert. Die Sonne erscheint und scheint an diesen Stel len nicht selbst, ihr Scheinen wird vielmehr durch die metonymischen Ausdrücke 'Fackeln' und 'Gold' evoziert : "Ce l i eu me plait, domine de f1ambeaux,lCompose d'or" (Str. X, V. 3 , 4). Die Verhält nisse komplizieren sich hier allerdings, weil "flambeaux" auch als Metapher aufge faßt werden kann, wenn nämlich angenommen w i rd, daß die Sonne hier mit einer Fackel verglichen werde. Da aber von Fackeln (also Plural ; ebenso : "torches du solstice", Str. VII, V. t) die Rede ist, liegt es näher, i n den Fackeln die metaphorische Vertretung der Sonnenstrahlen zu sehen. Erst diese Strahlen fungieren als Metony mie. Wir haben es also hinsichtlich der Fackeln mit einer Metapher in einer Metony mie zu tun. Die Kontiguitätsbeziehung dieser komplexen Metonymie zielt auf die dem semantischen Feld der Sonne zugehörigen Elemente der H itze (da flambeau auch Flamme und also Feuer impliziert), des Lichts, des Strahlens. Einfacher ist es mit dem Gold, da hier die Kontiguitätsbeziehung auf das Element der Farbe ver weist. Die Elemente der H itze, des Lichts, des Strahlens und der Farbe, die sonst erst zusammen mit anderen Elementen die Wahtnehmung 'Sonne' ht:rvorrufen, sind vom poetischen Bewußtsein veranstaltete singularisierte Perspektwen. Das ist zwar auch ein geläufiges poetisches Verfahren, kann aber hier zugleich als Hinführung zur Spur der Dekomposition gelten. Dies w i rd noch deutlicher am Beispiel des Meeres, weil hier die Perspektiven nicht komplementär, sondern konträr sind. Denn offensichtlich ist die metaphorische Vorstellung des Pantherfells (" Peau de panthere", Str. X X I I I , V. 2), mit dem das Meer hil' r verglichen wird, nicht ohne weiteres mit der Vorstel l u ng von einem stillen Dach ( " Ce toit tranq uille", Str. XXIV, V. 6) vereinbar, weil im ersten Fall die Ahnlichkeitsbeziehung auf kraftvolle animalische Anspannullg, i m 7.weiten aber auf häusliche Ruhe zieh. Im tropischen Ausdruck werden also die ganzheitlichen Vorstellungen des Meeres und der Sonne dekomponiert, indem sie in tei ls komplementäre, teils aber auch konträre Perspektiven aufgelöst werden. Diesen Akt der Auflösung bringt das vor stellende Bewußtsein hervor, nachdem es insgesamt von einem Mißverständnis zwi schen den Möglichkeiten menschlicher E rkenntnis und der Erkennbarkcit der Dinge ausgehen zu müssen glaubt : "Et vous, grande äme, espcrc7. vous un sange Qui n'aura plus ces cou leurs de mensongc Qu'aux ycux de chair I 'onde et I'or fant ici ?" (Str. X V I I , V. 1 -3) 1� R . Jakobson.
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1 9 6 ] , S. 6 1 .
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Meer und Sonne ("" onde el " or") sind also - zumindest in den Augen der Men schen - an der Verstell ung der Wahrheit beteiligt. Deshalb können sie auch selbst nicht als ganzheitliche Wahrheiten erkannt werden, sondern nur als dekomponierte Perspektiven. Mit dieser Dekomposition des Absoluten bahnt sich ein erster Höhe punt der Comedie intellectuclle an. Das Absolute zerfällt in seine Teile. Der intel lek tuelle Protagonist dieser Komöd ie verliert die Orientierung. " Allez ! Tout fu i t ! Ma presencc est poreusc" (Str. X V I I , V . 5). Er gerät in eine Identitäts- und Sinnkrisc. E r w i rd zum Fall.
6 Der Cimet;ere marin als Fallgeschichte - Deutung 111
Wenn jemand sagt : ' Alles flicht! M e i n Dasein i s t porös', dann w i r d m a n , nimmt man ihn ernst und wörtlich, die krisenhafte Signatur dieser Aussage nicht übersehen können. Es konnte nun bereits am Beispiel der komplexen thematischen und sprach l ichen Verhältnisse. d ie im Cimetiere marin das Meer und die Sonne betreffen, gezeigt werden, daß diese weder einsinnig den poetischen Raum denotieren noch als kon ventionelle Konnotationen fungieren, sondern im strengen Sinne des Wortes zum bewegten Spiel der Figuren gehören. Nun war dies kein leeres Spiel einer ausschließ lich selbstbezüglichen Kunst für die Kunst. Die Bewegtheit von Meer und Sonne betraf vielmehr das mit ihnen kommunizierende Subjekt des Gedichts. Sie betraf zugleich die Möglichkeit des Dichtens und dieses Gedichts. Sie betraf darüber hinaus die Möglichkeit der Deutung des Gedichts. Wenn deshalb im folgenden in Anleh nung an die Terminologie der psychoanal ytischen Deutungsarbeit von einer Fal lge schichte gesprochen wird, so ist dabei zu bedenken, daß es nicht allein um eine Deutung von Sätzen, sondern immer auch um die Deutung von Deutu ngen geht. Wenn es also überhaupt sinnvoll ist, den Cimetiere marin als eine Fall geschichte zu verstehen, dann nur deshalb, weil die in ihm möglicherweise zu diagnostizierende Identitätskrise eines fiktiven Subjektes in eine allgemeine Sinnkrise der poetischen Kreation und I nterpretation übergeht. Die Fallgeschichte des Cimetiere marin ist erst komplett, wenn nach dem Dichter auch der Analytiker und der Hermeneutiker die Bühne dieser Comed i c intellectuelle betreten haben. Das fiktive Subjekt, das wahlweise auch als imaginärer Autor oder intellektueller Protagonist bezeichnet werden kann, erfährt seine Wandelbarkeit und damit letztlich die virtuelle Gefährdung seiner Identität, i ndem es sich zu einem ihm vermei ntlich äußerl ichen Absoluten in Beziehung setz t : "Beau cie!, vrai cie!, regarde-moi qui change ! " (Str. V I , V. 1). Dies Verhältnis des Subjekts zu einem identifiz ierbaren Gegenüber markiert allerdings nur eine Position des Subjekts. Diese Position ist genau genommen das Resultat eines Wunsches. Gemessen an der Schwierigkeit und Vergänglichkeit der eigenen Arbeit erscheinen dem imaginären Autor die "Ouvragcs purs d'une eternelle cause" (Str. 11, V. 5) als das unerreichbare Ideal, das doch zu
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erreichen nur um d e n Preis d e r Sclbuaufgabe möglich wäre : " J e m'abandonne a c e brillant espace" (Str. V I , V. 4 ) . I n diesem Sichverlieren scheint d i e Möglichkeit einer Erfüllung des Wunsches nach Teilhabe an den positiven Attributen des Absoluten (juste, pur, beau, vrai) auf. Dieser Wunsch bestimmt die ersten Strophen des Ge dichts. Das Absolute allerdings erscheint nun, läßt man einmal die von Valery insi nuierte (und von seinen frühen Interpreten und Explikatoren allzu freudig übernom mene) metaphysische Diktion fallen, als Instanz einer Kritik, von der sich K riterien für das gewinnen lassen, was als richtig, rein, schön und wahr anzusehen sei - oder aber als Instanz einer Kritik, die lediglich meint, über solche Kriterien z u verfügen. Zwar ist das Subjekt dieser Fallgeschichte unsicher und will sich sogar einmal gänz lich selbst aufgeben, um an dem Kanon der Wene teilzuhaben, aber, wie man so gleich sehen wird, geht es zur Revo lte über, und nun verfallen die Vertreter der Werte u nd die Wene selbst ihrerseits dem Verdacht. I m metaphysischen Rahmen des Gedichts wird dieser Verdacht zunächst noch du rch die Präsenz des Todes begründet. Der Tod oder das Tote (sprich : die überleb ten Kriterien) bringen eine neue Position des imaginären A utors hervor. Es erscheint nun nämlich so, daß es die Toten sind, die zur Panei des Absoluten gehören. Das A bsolute wird hiermit zu einem negat iv anribuienen Bereich des Leblosen. Dagegen ist nun der menschliche Bereich des Wandels, der Relativität und des möglichen Ich verlusts einer neuerlichen Positivierung zugänglich : als Bereich des Lebens und de, Lebendigen (S". XIV, V. 5, 6). Eine weitere Radikalisierung d ieser Position verändert das Verhältnis zwischen dem Menschen und dem Absoluten. Dieses ist nun nicht mehr das dem Menschen Unzugängl iche und überlegene. sondern gerät in seine Abhängigkeit. indem das A bsolute nicht anders z u r Wirklichkeit werden kann als durch den Menschen, der deshalb 7.um Absoluten sagen kann : "Tu n 'as que moi pour contenir tes c raintes ' " (Str. X I V . V. I ). Das heißt aber. d a s Absolute erfährt sich überhaupt nicht selbst ; e s bedarf vielmehr, um zu d e r i h m ein1: ig möglichen Real ität z u gelangen, eines vorstel Il.'nden Bewußtseins; es bedarf der Poesie. Damit erweist sich aber der zuvor ausgesprochene Wunsch des Sichverlierens als abhängi� von einem ihm vorhergehenden Wunsch. dem nämlich, daß es das in sich ruhende Absolute (den Kanon ew iger Werte). an das sich das relative menschliche Selbst 7.U \'erlieren wünschte. überhaupt gebe. Gerade dieser Wunsch erweist sich nun als I l l usion. Damit w i rd aber die Identitätskrise des sein Sel bst verl ieren wollenden Su bjekts nicht einfach rückgängig gemacht. Denn die Relativierung des Absoluten beendet noch nil.·ht die Probleme d ieser Selbstsuche. Sie schneidet vielmehr einen bis dahin für möglich gehaltenen Lösungsweg ab und bringt so erst die Sinnkrise in aller Schärfe hervor. Die Identitätskrise des Subjekts äußerte sich. wie es in solchen Fallgeschichten gewöhnlich geschieht. als Desintegration der Personalität. Dieses doppelte Gefühl der Flül.· htigkeit der Welt ("Tout fuit!") und der Ichauflösung ("Ma presence est
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poreuse") war aber noch m i t projektiven W iderständen ausgestattet, die e i n e mögli che Rettung und Restabil isicrung in der Instanz einer absoluten Identität imaginier ten. I n der Desintegration war der - doppelte - Wunsch nach Reintegration wirk sam. Erst indem die Instanz. auf die der Wunsch sich bezieht. s ich als i l lusionär erweist, ergibt sich die E i nsicht in die Hoffnungslosigkeit einer Rettung von außer halb. I m Rahmen der Fallgeschichte folgt auf eine Phase der Regression (Wunsch des Sichverlierens) eine Phase der Revolte und der Desillusionierung (Kritik des Absolu ten). Aus der Perspektive der Psychoanalyse wäre in d ieser Befreiung von einer Illusion zweifellos ein erster Schritt z u r Heilung z u sehen, und es ließe sich sicherlich diese Position des imaginären Autors mit der eines " bewußten Bewußtseins" verglei chen20• Diese partielle Heilung verdankt sich zwar auch einer intellektuellen Einsicht. Aber d iese E i nsicht bleibt mit dem prinzi piellen erkenntniskritischen Zwe ifel ver bunden, wie er besonders deutlich in den drei ersten Versen von Strophe X V I I ausgesagt ist. Es ergibt sich hieraus d i e möglicherweise paradoxe Konstellation. daß eine Verschärfung der allgemeinen Sinnkrise die personale Identitätskrise einzu sch ränken vermag : weil nämlich nun das Subjekt seine Wunsch-Projektionen mit in die allgemeine Sinnkrise einbezieht. Diese Krise erfährt das Subjekt zudem nicht länger als äußerliche Zumutung. sondern als konstitutive Bedingung und Bedingtheit seines Menschseins. seiner Dichtung und der Deutung der Dichtung. Es kann sich deshalb z u dieser Krise auch nicht länger qua (Selbst-)Delegation, vielmehr n u r auf dem Wege der Selbstverantwortlichkeit verhalten. Aber diese Position ist noch nicht erreicht. Die Position, die die allgemeine Sinnkrise motiviert und formuliert, ist die einer radikalen Skeps is, worauf insbesondere das zitierte Paradox des Zenon im Gedicht verweist (Str. XXI). Diese Position hat freilich vorläufig den Charakter einer Nega tion : die Bühne der Comcdie intellectuelle ist bodenlos. Gegen d iese Negation oppo nieren in einem sich steigernden Dreischritt die drei letzten Strophen. als Negation der Negation, als Bejahung u nd schl ießl ich als Appell, der dem Leben gil t : "Non, non !" (Str. X X I I , V. 1 ), " O u i ! " (5tr. X X I l l , V. I ), " l i faut tenter de vivre ' " (Str. X X I V , V. I ). Wenn w i r nun auch sagen können, daß d ieser Appell in der Position des bewußten Bewußtseins vorbereitet war. insofern es den Schritt von der Selbsterkenntnis z u r Selbstverantwortlichkeit bereits voll zog o d e r d o c h zu voll ziehen nahelegte, so ist doch die Plötzlichkeit und selbst das Dezisionistische dieses Appells nicht z u überse hen. E r gleicht in dieser Hinsicht den therapeutischen Ratschlägen, die eine Fallge schichte nicht wi rklich beenden, sondern lediglich zu einem vorzeitigen A b b ruch der Analyse führen. Besonders deshalb, weil dieser Appel l : " 11 faut tenter de vivre ! " :0
So bezeichnct Valcl"Y d a s Subjckt u n d t.l a § Sujcl '·on L � je""e Parqur; Petcrs, Wiesbaden 1 95., S. 1 2 7 .
\.
P. Valel)·. Bri,f,. t.l t . 'IX ' . A .
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nicht eigens mehr begründet wird und nicht eigentlich deutlich wird, ob der Appell zum Leben der schärfsten Ausprägung der Skepsislage. dem Paradox des Zenon, kontrastieren oder aber - kontrafaktisch - aus ihr folgen soll , I n beiden Fällen aber bleibt die Position der Skepsis dem Appell zum Leben inhärent ; nicht so. daß sie sich gegenseitig aufheben, sondern so, daß die kollidierenden Ansprüche eine Steigerung des Sinns hervorbringen, Zur Besonderheit des CimetieTe marin gehört es, daß die Wechselbeziehungen von Sinnkrise, Sinnsteigerung und Sinnverstehen z ugleich Funktionen und - zum indest ein - Thema des Gedichts sind, Das Gedicht endet nicht mit der eklatanten Banalität einer Lebensmaxime. die selbst als reines Spiel mit Konventionen aufzufassen wäre2 1 , es greift vielmehr erneut die problematische Frage nach der Möglichkeit des Dichtens in einer krisenhahen Situation auf - und legt einen optimistischen Schluß nahe. Was am Ende dieseT fiktiven Fallgeschichte deT modemen Poesie immerhin möglich scheint. ist die nun mehr für aussichtsreich erachtete Konkurrenz der poesie pure mit den "Ouvrages purs d'une eternelle cause" : "Envolez-vous. pages tout eblou ies ! " (Str, X X I V , V , 4), Valery stellt damit die poesie pure in den Zusammenhang einer sich vom Vorbild des Alten emanzipierenden Literatur der modernite22• 7 A pplikation : ' L'art pour I'art' oder 'Part pour nou s ' ?
Beziehen wir uns jetzt nochmals a u f die alte Vorstellung v o n Hermetik, derzufolge es deren A uszeichnung sei, sich abzuschließen, so folgte daraus, daß jene hermeneu tische A ktivität, die wir Applikation nennen, besondere Schwierigkeiten mit der Hermetik haben müßte, Denn d ie poesie pure, so ließe sich sagen. sei ihrem An spruch nach eben I 'art pour I'art und nicht I'art pour nous. Und wenn sich nun auch das Programm einer absoluten poetischen Selbstbezüglichkeit als sprachliche Un möglichkeit erwiesen hat 23. so l ieße sich doch immerhin noch fragen, weiche Bedeu tung denn ausgerechnet uns in der Beziehung des Textes zur Welt zukommen sol l , Es i s t dagegen hekanntl ich Gadamer gewesen, der die Applikation b z w . die subti l i tas applicandi als immer schon zum Verstehen gehörig und damit zugleich als das zentrale Problem der Hermeneutik erklärt hat. Gadamer übersetzt " A pplikation" mit " Anwendung" und meint damit. "daß im Verstehen immer so etwas wie eine Anwend ung des z u verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpre ten stattfindet" 24. Die solchermaßen definierte Anwendung erfährt allerdings in Ga11
M oglu:hen"'eise handeh es sich bei dieser Maximr auch um rine ( i rOnische) Kon1.ession an den F. rwollr · lungshori7onl der AnalYli ker und Hermeneulikrr. \'gl. H . R. J au ß . " Lilerarischr Tradilion und ger,;enwlirtiges BrwußlSein drr Moderniüll" , in Litu"t"r grJChichtr "IJ Prf11lolr.t/on, Frankfurt J 1 970. S. SOff. H r. Ric<'.C'ur bemerkl dnu: " F. i n Diskurs r,;ehl immer um elwas. Mil dieser FeslS1e1lunr,; dislanziere ich mich bewußI von jeder Ideologie des absolulen Tnles." P . Ric<'.C'ur, "Der Texl als Modelt hermeneuli· ,.:hr� Vcrsl"hcn " , in VaurhrnJr Soz/ol0B,r. hg. W. Buhl, Mimehen 1 972. S. 2 S 8 . 14 H . . G . Gadamer, W""hrht'" ,md Mcthodr _ Gr",,,JZI'gt tmtr phl/ofophudun Hrrmrnrlltllr, Tubingcn : 1 96 5 , S. 29 1 ; s. Insgesaml S. 290- 3 2 ] . 1:
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damers Theorie eine Ausprägung. die nicht in jeder Hinsicht zusammenstimmt. Der Begriff der Anwendung ist in modaler und temporaler H insicht doppeldeutig. Gadamer bestimmt nämlich das Verstehen allgemein und die Anwendung insbe sondere als Dienst/armen, die dem Sinnanspruch des Textes über den trennenden Zeitenabstand hinweg Geltung verschaffen. Ich vermeide hier eine weitergehende Problematisierung der Formulierung " A nspruch des Textes", weil z u vermuten ist, daß Gadamer damit gerade in einem Bereich der Unumerscheidbarkeit hat belassen wollen. was sonst in die historische A ussage des Textes und das gegenwärtige I nter esse des I nterpreten auseinanderfallen müßte, womit freilich die Annahme einer h istorischen Kontinuität im Vollzug der Horizontverschmelzung porös würde. Applikation jedenfalls, so heißt es, leiste eine Vermittlung von damals und heute. Als solche Vermittlungsleistung sei sie fundamental für alle h istorischen Wissenschaften. Wenn es so schien, als neige sich in d ieser allgemeinen Bedeutung die Anwendung eher der Vergangenheit und dem Text zu, so läßt sich da eine Umkehrung feststellen, wo Gadamer die parad ig� atische Bedeutung der juristischen und theologischen Hermeneutik betont: auch in ihnen gehe es nicht um ein historisches Verstehen der Texte, sondern um die Konkretisierung der Rechtsgeltung bzw. die Ausübung einer Heilswirkung. Hier nun scheint die Bedeutung der Anwendung sehr deutlich auf die Gegenwart und den I nterpreten z u zielen. Freilich kommt es Gadamer gerade auf diese I ndifferenzierung an, um so die methodischen und kognitiven Aspekte der Anwendung zugunsten der von ihm hypostasierten Geschehensmetaphysik zu mini malisieren. Greift man dennoch die zuletzt genannte Verwendung von Anwendung auf, so ergeben sich für eine phi lologische Hermeneutik schwerwiegende Probleme. Was kann es heißen. den Anspruch des Cimetiere marin auf die gegenwärtige Situa tion des I nterpreten anwenden zu wollen? Müßte dazu nicht schon der Anspruch des Cimetiere marin (und nicht der Paul Valerys) feststehen oder verstanden se i n? U nd worin s o ll d ieser Anspruch bestehen? D e nn sicherl ich ist d e r Anspruch - w e nn überhaupt v o n e in e m solchen die R e d e sein k a nn - e i ne s poetischen TextC's nicht vergleichbar mit den von Gadamer zitierten Paradigmata juristischer oder theologi scher Texte, da die hier möglichC'rweise prinzipiell und per definitionem geforderte dogmatische Anwendung keine Parallele in der Pluralität der literatu rwissenschaftl i chen Methoden und erst recht nicht in der Offenheit moderner poetischer T extc hat. J u ristische und theologische Anwendungen sind ihrem Anspruch nach handlungs relevant : sie zielen auf Folgen im Handeln der Angeredeten und BetroffC'nen, des Angeklagten und des Gläubigen. Sie sind mittels zu verhängender Sanktionen zwin gend . Folgt dagegen der Leser eines poetischen TextC's dessen Anspruch nicht, ent weder weil er diesen Anspruch überhaupt nicht hat erschließen können oder weil er ihn, soweit er ihn verstanden hat, ablehnt, so hat er led iglich den Ausfall möglichen G enusses oder Erkenntnisgewinns z u beklagen. Auch das sind freilich A nwendun gen ; aber sie sind es nicht in jenem naiven Sinne, der sich etwa den Appell des "11 faut tenter de vivre !" als von der Literatur gestiftete Lebenshilfe zu Herzen nehmen wollte. Er hätte damit sich eines zur Maxime stilisierten Satzes bemächtigt - dessen
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optimistische Akkomodation er zudem aus zahlreichen anderen Disku rsen hätte gewinnen können -, dessen Sinn im Zusammenhang des Gedichts sich aber erst in der Konfrontation mit und der Genese aus den konträren Positionen der Skepsis und dem Spiel der Figuren erschlösse. Mit anderen Worten, solche Bemächtigung mag ihre lebenspraktische Legitimation haben, eine generalisierbare hermeneutische Pra xis, die ihrerseits einen methodisch begründeten Wahrheitsanspruch erheben könnte, ist sie sicherlich nicht. U m nun den Begriff der Applikation neuerlich in den Zusammenhang methodolo gischer Reflexion zu stellen, erscheint es angebracht, die I ndifferenzierung in der Verwendung von Anwendung rückgängig zu machen. Auch hier hilft die Reflexion auf die Differenz weiter als das Sinnen auf Verschmelzung. Damit soll allerdings nicht die Entdeckung und rehabilitierende Absicht Gadamers unterschlagen werden. I m Gegenteil bleibt der subjekttheoretische Befund, der die Applikation als unhin tergehbare Vermittlung in allem h istorischen Verstehen erklärt, unbestritten. Aber was solchermaßen für eine Ontologie des Verstehens plausibel ist, ist nicht notwen dig auch fruchtbar für die Praxis der historischen Wissenschaften, denn die Aus kunft, daß solche vennittelnde Anwendung " immer schon" geschehe. entrückt sol ches G eschehen ebensosehr szientifischer Zurechenbarkeit, wie andererseits eine an den j u ristischen und theologischen Paradigmata orientierte dogmatische Auffassung von Anwendung in die Gefah r einer überdeterminierenden und überakkomodieren den " Anpassung des Fremdanigen"H gerät. Dagegen lassen sich zwei Funktionen der Applikation unterscheiden, deren systematische Rolle im Verstehensprozeß nun unter den Titeln der Verweisung und der Bezugnahme erläutert werden soll. Verweisung. Wir haben bereits mehrfach das Problem des absoluten Textes be rührt u nd begründet, weshalb die Vorstellung eines solchen Textes eine Illusion darstellt, eine sprachl iche Unmöglichkeit. Wir haben daran anschl ießend festgestellt, mit den Worten Ricccurs, daß es in jedem Text um etwas gehe, und können nun sagen : Jeder Text verweist. E r verweist allgemein gesprochen auf die Welt, das heißt aber, auf anderes. I ndem der Text sich selbst überschreitet und als Verweisung konstituiert, konstituiert er sich als sinnvolles und damit versteh bares Gefüge. Nun schien aber eine der Hauptschwierigkeiten im Falle des Cimetiere marin darin zu bestehen, daß dieser vornehmlich auf sich selbst verweise. Wenn das auch zu großen Teilen zutrifft, so ist darin doch weniger eine G renze als eine Herausforderung der Deutung zu sehen. Die Deutung hat sich in solchen Fällen zu intensivieren oder zu pluralisieren. Insgesamt repräsentiert die Idee reiner Selbstbezüglichkeit eher einen Mythos der Autoren. Mallarmes Diktum, die Welt sei dazu da. um in einem Buch zu enden, erscheint den Interpreten in der Regel als Höhepunkt der Hermetik, des Ästhetizismus, der poesie pure usw. Die Literatu r trete hiennit in das Stad ium reiner
�, F.. Ho lenSlC"in. " Dill' Slruktur de� VernehC'ns - Strukturali�mu5 ver5US Hrrmll'nll'ulik". in L"'BMUIlIt, Srm/ot;lt. Hen1leneMt/1t - P/IiJo]erJ flire;ne JtrMlttMr./e PhiiJ1omenolog;e, Frankfurt 1 976. S. 1 9 2 .
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Selbstbespiegelung ein. sie entfalte sich als weltferne Leere. als verweisu ngslose "Fol genlosigkeit"26. Eine solche Deutung folgt allerdings zu erheblichen A nteilen dem Selbstmißver ständnis der Autoren. Dagegen gibt letztlich jeder Text (auch der verschlossenste und ' reinste') die Einsicht frei, daß die Welt zwar nicht dazu da ist, u m i n einem Buch zu enden. daß aber jedes Buch schließlich in der Welt und ihren Themen endet. H ierauf verweist unter anderem die Comedie intellectuelle, die Valery im Cimetiere marin inszeniert hat. Mit der U ntersuchung der Verweisung nimmt der I n terpret also die Perspektive des Textes ein; er geht von ihm aus, u m die überschreitungen auf die realen oder imaginären Realitäten zu verfolgen. Weil aber auch der gegenwär tige Leser oder I nterpret des Cimetiere marin noch zur krisenhaften Geschichte dieser Comedie der Dichter und Denker gehört, handelt es sich nicht u m Kunst für die Kunst, sondern u m Kunst für uns. Bezugnahme. Dagegen tritt in der Bezugnahme der umgekehrte Vorgang hervor: daß nämlich der I nterpret die Perspektive des Textes einnehme, ist erstens eine Hypothese, die erst im D u rchgang der I nterpretation bewährt werden m u ß . Zwei tens ist damit noch nicht gesagt, wie er diese Perspektive einnimmt. Hier n u n bringt tatsächlich der I nterpret sich in den Vorgang des Verstehens ein ; aber nicht als den Menschen, der er ist, sondern die von ihm gewählte Methode, deren A nwendung er allein für angemessen hält (bzw. deren Nichtanwendung, wenn er nämlich davon ausgeht, daß ein methodischer Zugang z u Kunstwerken per se u nangemessen sei). I n diesem Sinne w i rd nun auch deutlich, inwiefern das Verstehen a l s e i n e A n w end u ng des zu verstehenden Textes auf die Gegenwart des I nterpreten aufgefaßt werden kan n : weil der Interpret in der Regel nicht der dem Text zeitgenössische Leser ist, sondern sich mit einem anderen Wissen auf den Text beziehen kann - und dies regelmäßig auch tut. Man kann sich etwa auf den Cimetiere marin beziehen, indem man von der modernen Poetik, Sprachw i ssenschaft oder Psychoanalyse ( h i e r : Deu tung 1-1 1 1 ) ausgeht. Auch hierbei handelt es sich u m Applikation u nd überschrei tung, weil das Verstehen, im Willen. den fremden Sinn z u erreichen. diesen mit einer ihm fremden (Methoden-)Sprache überzieht. Auch die Appl ikation ist deshalb keine Kunst für die Kunst. sondern ' K unst' von uns und für uns. Ob es frei l ich w i rklich Kunst war, darüber entscheiden dann die Interpreten der I nterpreten.
Ho
So C'twOl P. BürgC'r. Throrir drr Afl4ntg4rdr. Funkfun 1 9 7 4 . S . 29.
A N S E LM HAvERKA M P V A L I': RY I N ZWE ITE R L E KTO R E - P O ETI S C H E K O N STR U K T I O N U N D H E R M E N E UT I S C H E TRA D I T I O N I M CIMETl l R E MA R I N
Q VI E , P l u s jc pcnsc .i lOi, V I E , Moins tu tc rcnds .i l a pcnsCoc . (" Parabolcs" , CElfvrr. I, S. 2 0 1 ) I Szcnc; 1 1 Thnni c ; 1 1 1 Lektinc; I V Zwcitc Lcktürc; V lokal.
Valerys Sokrates ( 1 92 1 ), in die nachplatonische Aporie eines Di4logue des morts mit Phaidros geraten, erzählt die Geschichte vom 'objet ambigu', das er als Kind an den Strand geschwemmt fand , in Händen hielt und zurückwarf ins Meer (11, S. 1 1 6 ff . ) : Mythos vom vertanen Potential e i n e r phi losophischen Tradition, die a u f d e n "fakti schen G egensatz zwischen ph ilosophischer I ntention und poetischer Fonn" in der Nachträgl ichkeit hermeneutischer Reflexionen reagie n ' . Valery selbst ( 1 920), auf der Höhe des Lebens zur poetischen Form zurückgekehn, schreibt auf den 'cimer irrr marin' seines Geburtsorts Sete ";' peu pres le seul de mes poemes OU j'aie mis quelque chose de ma propre vie" (I, Notes S. 1 686) : sein Friedhof am Meer ist der autobio graphisch bestimmte O n jener hermeneutischen Reflexion, die den platonischen Sokrates in der Endgült igkeit des Hades erst erreicht, weil sie Valery erst im Rück blick über den Prozeß der philosophischen Tradition gewinnt. Die autobiographi sche Reflexion auf d i e Krisenmomente und Wendepunkte des eigenen Lebenszusam menhangs, die Valery seinem Sokrates in der Geschichte vom ' objet ambigu' zumu tet ("Ce n'est pas un re..-e . . . " ), kann als Modell der hermeneutischen Reflexion des wirkungsgesch ichtlichen Zusam menhangs von Trad ition nur dienen. weil sie die Reflexion des im eigenen Lebensverlauf erfahrenen faktischen Gegensatz von philo sophischer I ntention und poetischer Form voraussctz.tl. In La }eune Parque ( 1 9 1 7) nimmt Valery nach zwanzigjährigem Schweigen das philosophische Moti,' der " Konstitution eines Sel bstbew ußtseins" auf, " des ' bewußten Bewußtseins', welches das Erwachen und Zu sich kommen aus dem Schlaf, d iesem lebendigen Tod , 7.ur •
Paul Valcr")'. a"lIrr. I - I I , hg. J. H ytlcr, Paris 1 9S7-60 (Bibliotht-que de 120 Plriade); C.h,r" 1 -29. Paris 19S7-61 (Ccntrc National dc la Rcchcr.:hc Scicntifiquc). H . Blumcnbcl"ß' "Sokratcs und das 'obiCi ambigu' - Paul Valerys AU5Cinandcnct7ung mit dcr Tradi tion dcr Ontologic dcs asthrtischcn Gcgenstandes", in Ep""r/rw (I:cstschrift H . Kuhn), Munchcn 1 964, S . 2 H S - J J 2 , S. JO). : H Blumenbcrg, "Sokratc' unJ das 'objct ambigu ' ' ' S . ) 1 ) ; vgl. dazu W . Dilthey, " E ntwurfe 7.ur Kritik de' hntun'ichen Vernunft", Ln G,.."" ",rltr Schr'/ttn VI I ( 1 927), Stungan/Gouingrn \ 1 91.8, 5. 198 und L
5. ,2 1 4 f .
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Bedingung hat " ) ; ungefähr gleichzeitig, teilt er an Lefevre mit, seien die ersten Stro phen des Cimetiere marin entstanden (I, S. 1 685)4.
11 "Ce cimctiere existc", räumt VaJery auf gelegentliche Fragen hin ein, bemerkt ge nauer auch im Briefwechsel mit Gide: . . Le Cimet;ere marin serait done le type dc ma poesie vraie el surtout les parties plus abstraites de ce poeme" (I, S. 1 686). Für die Lektüre des Gedichts freilich sei sein autobiographischer Anlaß zufällig und sein Autor unmaßgeblich : " Pas d 'autorite de )'autcur", wehrt er die Beglaubigung be stimmter Interpretationen ab . in d iesem Fall der akademischen 'cxpl ication' des Textes durch Cohcn ( 1 933) : "il n'y a pas de vrai sens d'un texte" (I, S. 1 507). Die: Weigerung des A utors Valery , die Verantwortung für die Lektüre seiner Leser :r.U übernehmen, ist nicht der ' hermeneutische Nihilismus', den Gadamer meint, Der inkriminierte Satz aus den Commenta;res Je Charmes zu Alains kommentierter Ausgabe ( 1 929): " Mes vers Oßt Je sens q u 'on leur prete" , hat einen guten polemi schen Sinn ( I , S, 1 509). Er richtet sich gegen "I'invention de J 'exe:rcice scolaire ab su rde q u i consiste a faire meure des vers en prose" , die auch Gadamer nicht als Methode im Sinn hat, wenn er davon spricht, die Hermeneutik müsse "der Erfah rung der Kunst gerecht" werden�, Was aber wird aus dem Postulat Gadamers : " D i e Ästhetik muß in der Hermeneutik aufgehen", w e n n d a s d a r i n generalisierte Verhält nis von ästhetischer Erfahrung und hermeneutischer Reflexion das Verhältnis von Poetik und Hermeneutik nicht mehr trifft - mit Valery zu reden: "Si I'auteur se connait un peu trop, si le lecteur se fait actif, que devient le plaisir, que devic:nt la Lineratu re?" (I, S, 1 50 1 ) Daß ästhetische Erfahrung auf hermeneutische Reflexion angew iesen, gegenüber hermeneutischer Reflexion schließlich in ein irreversibles Verhältnis der Abhängigkeit geraten sei, war die allgemeinste D iagnose HegeIs, die Valery der Sache nach nicht fern lag", Daß sich folglich hermeneutische: Reflexion ästhetischer Erfahrung ganz und gar gewachsen zeigen müsse, konnte dagegen Vale· rys Konsequenz nicht sei n : gegen die hermeneutische Totalverminlung von ästheti scher Erfahrung sperrt sich die 'poetische Konstruktion', Sie setzt wohl Reflexion , K . lowilh. Pul V.Ury - Gr"ndz;,g� J�m�J phi/oJophlJch�n D�"It�nJ. Göuingen 1 9 7 1 . $. 7; vgl. J . lacan. Di� "i�r Gr"ndb�griff� d�r PJy(hoan.IYJ� (Das Seminar von Jacques laun X I , 1 9(4). Oltenl Freiburg 1978. S. 74 und S . 86 (zu LaJ�"n� P.rq"�), 4 Zur E.nuu:hung siehe G. Cohen. Eu., d·�xpli(.tlOn d" Crm�tiir� marin, prürdr d'"" ."."t-propOJ d� P."I V.lboy ." J"i�t d" Crm�tiir� mari", Paris 1911. S. S l f f . ; J. Hylier, La Poit,q,,� d� VAlb,. ( 1 951), Paris ! 1 970, S. 7ff. � H.-G. Gadamer, W.hrhm ""d M�thod�, Tübingen 1 960, S. 90 und im folgenden S. 1 57. � D, Henrich. " Kunst und K unslphi lo50phie der Gegenwan" , in Imm."ent� Auhetilt - A'Jth�tlJchr R�flexio", hg. W. her, Milnchen 1 966 (Poetik und Hermeneulik 1 1 ) , S. 1 1 -12, hier S. 15 ff. : vgl. Th . \1r. Adorno, " Valir)"5 Abweichungen" ( 1 960). in Noten z"r Litrr.t"r 1 1 , Frankfun 1 96 1 , S. 049; im folgen den auch P. S7.ondi. " H egds lehre von der Dichtung", in Po�tiit ""d Grschichuph,loJoph,r I (Studic:n· ausgabe der Vorlesungen 2), Frankfun 1 974, S. 481 f.
VALERY IN ZWEITER LEKTÜRE
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voraus, um z ustande zu kommen, ist aber umgekehrt nicht darauf angewiesen, sich ' verständ lich' zu mache n ; in der Wirkung bleibt Hermeneutik ihr äußerlich. Das hat für Valery in erster Linie die bekannten sprachtheoretischen Implikationen, aber auch (nicht mit Hege! assoziierte) historische. Ober die sprachtheoretischen hat er sich ausführlich geäußert, die historischen bleiben diesen Äußerungen weitgehend implizit, werden aber beispielsweise thematisch i m Cimetiere marin und im Eupali nos; über die einen läßt sich deshalb weniger Neues sagen als über die anderen, besonders beider Zusammenhang. "Observons que des conditions de forme prckises ne sont autre chose que I'expres sion de I'intelligence et de la conscience que nous avons des moyens dont nous pouvons disposer, et de leur portee, comme de leurs l i mites et de leurs defauts", lautet der einschlägige Satz 'au sujet du Cimetiere marin', mit dem Valery "la plus poetique des idees, l'idee de composition" erläutert ( I , S. 1 504). Poetische Form ist in erster Linie Komposition, weil sie konstruktiv zustandekommt aus der Beherr sch ung von M itteln, die ihrerseits den Vorrang der Konstruktion vor der Inspiration des Autors verdeutlichen7• I n der rhetorischen Emphase des konstruktiven Charak ters der Poetik sind die beiden Reflexionsstufen des bewußten Bewußtseins aufein ander bezogen : im Prozeß der poetischen Komposition setzt die bewußte Handha bung der M ittel das Bewußtsein ihrer Reichweite voraus, die Reflektienheit des Verfahrens wird zur Reflexion hermeneutischer Rahmenbedingungen der Komposi tion. Die Reflexion der poetischen Form (als Form) sprengt den ' harmlosen Trad i tionalismus' hegelscher Prägung, den auch Gadamers H ermeneutik noch favorisiert ; sie ändert den hermeneutischen Charakter der Dichtung und verläßt den Bezugsrah men der hermeneutischen Reflexion, indem sie (als 'ästhetische') vom nachträgl ich app l i kativen zum konstruktiven Moment der Poetik wird. Adorno spricht von ' z weiter Reflexion', die i m Widerspruch zur ersten, hermeneutischen entstehe und sie 'potenziere' auf Kosten ihres hermeneutischen Enrags : "Zweite Reflexion er greift die Verfahrensweise, die Sprache des Kunstwerks im weitesten Verstand. aber sie zielt auf Blindheit ( . . . ): mit dem Ansteigen der Reflexion, und durch ihre gestei gerte Kraft, verdunkelt sich der Gehalt an sich"s. A nders als in trad itioneller Refle xionspoesie (abträglich 'Gedankenlyrik'), die vom Leser die ins Gedicht eingegan gene Reflexion in gleicher Münze zu rückfordert, bleibt die konstruktiv ins Gedicht umgesetzte Reflexion nur im Reflex der poetischen Komposition erhalten : "zu ei nem Element in der Anschauung depotenziert"'1. Auch dieser Reflex löst Reflexionen aus : set1.t sie eher frei, als sie sie forden ; doch durch das Nadelöhr des Gedichts fühn kein Weg zurück zur Reflexion des Autors, dessen Meinung einholen mag, wer mit der Freiheit der Lektüre nichts anfangen kann oder (von Berufs wegen zur Vennitt1ung von Forschung in Lehre verpfl ichtet) der eigenen Anschauung nicht trauen will,
. V g l . H . R . J�uß, AJlhrtuchr Er{tJhrxng x n d J,urtJnJchr Hr""lrnrxtilt I , M il n,hen 1 977, S. 84 u n d S. 9O f .
• Th. W'. Adorno. tflthrtuchr Throrir (Gr§�mmrile Schrihrn 7), Frankfun 1 970, S. 4 7 . � D. Hrnrich, " K u nst u n d Kunstph ilo50phie d e r Gegenw�n" S. 2 9 .
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wenn sie die anderer i n Gang setzen soll. Valery seinerseits hat die eigentümlich ambivalenten Gefühle gegenüber Cohens Interpretation nicht yon ungefähr auf die befremdende Erfahrung zurückgeführt. ein mit der eigenen Reflexion u ntrennbar verbundenes Gedicht 'ex cathedra' behandelt zu sehen (I, S. 1 498). Wenn es richtig ist, daß die spezifisch ' ästhetische' Reflexion der Poesie (als Poe sie) Reflexion der ihr eigenen hermeneutischen Rahmenbedingungen ist. dann setzt poetische Konstruktion mehr voraus als linguistische Reflektiertheit im U mgang mit Sprache. Reduziert man Valerys sprachtheoretische Einsichten auf die Vorahnung linguistischer U nterscheidungen. erhält man nur das linguistische ' Positiv' des zitier ten hermeneutischen ' Negativs'. das als Gemeinplatz der modernen Lyrik seit Mal larme dient ; Differenzen zwischen M allanne und Valery sind so nur hermeneutisch naiv. nämlich thematisch z u fassen: als thematische Strenge oder thematische Flexibi lität1o• Der Lektüre M allannes verdanke er, schreibt Valery rückblickend ( 1 93 1 ) , "'a possession consciente de la fonction d u langage et le sentiment d'une liberte supe rieure de I'expression au regard de laquelle toute pensee n'est qu'un incident, u n evenement paniculier" ( I , S. 660). M i t d e m bewußten Besitz d e r Sprachfunktion i s t d a s Gefühl einer höheren Freiheit d e s Ausdrucks verbunden: d a s "schlechthin un überschreitbare H intergrundphänomen" Sprache kommt als Möglichkeitshorizont allen Denkens z u Bewußtsein und wird zum poetisch verfügbaren Spielraum, "la condition verbale de la linerature " l I . Zum Problem wird damit, was gemessen am Ideal der musikalischen Komposition als die thematische Schwäche von Literatur erscheinen muß. unter der die poetische Konstruktion leidet. Während das Modell der mathematischen Konstruktion in der Musik unverkürzt zum Zuge kommen kann, macht der analogen poetischen Konstruktion das thematische Substrat zu schaffen, auf das Sprache festgelegt bleibt, sei es auch in der thematisch minimalen und deshalb strenger fixienen 'Verdinglichung' des sprachlichen Materials ' 2 . Mit der bewußten Loslösung von den zufällig überkommenen Konventionen des Ausdrucks und der sprachlichen Selbstthematisierung der Sprachc (als Sprache) ist es deshalb nicht getan ; nur ex negativo kommen VaJerys 'Sprachskepis' und Mallarmes 'Sprach magie' übereinu. Thematische Konzentration (streng oder flexibel) kann erst Ergeb nis der Komposition sein, nicht der 'Gehalt', dem d iese sich fügt : "Je reve donc que je trouve progressivement mon ouvrage a panir dc pures conditions de forme, de plus en plus reflechies. - precisees jusqu'au point q u 'clles proposent ou imposent presq ue . . . u n sujet - ou d u moins, une familie de sujets" (I. S. 1 504). Dem wider spricht nicht, wie aus späteren Notizen z u ergänzen ist, daß es einen thematischen '0 11 11
1)
H . Weinrich, " Linguiuische Bemerkungen zur modernen Lyrik". in A"'ulII U' 15 ( 1 968), S . 2 8...... 7. hier S. l 7 f f . ; vgl. H . Friedrich, Di�Str"lrt"rJ�r ""od�rJI�" Lyrl"' ( 1 9S6). H .. mburg 1 967, S. 1 8 7 . H . Blumenberg, "Sprachsilu"lion u n d i m m..nenle Poelik" , in Im""","�ntr Auhrt;'" - Allh�tlJchr Rrfl�· xio", hg. W . lser, München 1 966 (Poetik und Hcnncnculik 1 1 ) , S. 1 4 S - I S S , S. 146 und Mono. Vgl. W. Prcisend .. nz, " Auflösung und Vcrdinglichung in den Gedichlcn Georg Tr.. kls'·, In t""""", ,,r,,u Allh�tilt - Auh�tuch� Rr!kx;o", hg. W. Iser, München 1 966 (Poelik und Henncneulik 1 1 ), S . 2 2 7-26 1 , S . 227, Anm. I , und S. 2 S 4 . Vgl. K . L ö w i l h , P",,,l V",liry S. lOff.; dagegen H . Friedrich, Die Str"lt'"r d�r mod�rJlt" LYrllr S. 1 2 1 .
V ALERY IN ZWEITER L EKTÜ R E
J4S
Anlaß geben kann : " Fabrication d 'un poeme - se place dans les mots - autour d'un mot-su jet ou d'une impression l aisser venir le!; mots appeIes a divers titres . . . " ( Cdhiers 26. S. 669). Paraphrasen ebenso wie die von Valery auf Distanz gehaltenen Kommentare treffen möglicherweise die thematischen Elemente des Gedichts, ver fehlen aber seine spezifisch poetische Verfassung; sie gehen davon aus, daß er etwas 'sagen' wollte, wo er etwas 'machen' wolhe: "Si donc I'on m ' i nterroge; si I'on s ' i n q uiete (comme iI arrive, et parfois assez vivement) de ce que j'ai 'voulu dire' dans tel poeme, je reponds que je n'ai pas 'Voulu dire, mais 'Voulu fdire, et que ce fut I'intention de fdire qui d 'Voulu ce que j'ai dit . . . " (I, S. 1 503). Das im strengen Sinne 'poietische' Moment der Konstruktion setzt als konstrukti ves Moment der Poetik die gegen die Sprachsituation der Zeit entwickelte Opposi tion der immanenten Poetik notwendig voraus, geht aber nicht darin auf14• Gegen eine weitgehend auf Eindeutigkeit festgelegte Semantik zweckorientiener Verständ i gung stellt sie die pragmatisch uneingeschränkte Vieldeutigkeit des sprachlich Mögli chen : "univers de relations rcciproques, analogue a I'univers des sons, dans lequel nait et se meut la pensee musicale. Dans cet uni vers poetique, 101 resonance I 'emporte sur 1 01 causalite, et 101 'forme'. loin de s 'cvanouir dans son effet, est comme redemdn dü par l u i " ( I , S. 1 502). Was im traditionellen M imesis-Begriff ungeschieden als Nachahmung der Natur gefaßt war, tritt auseinander i n die Momente der nichtmi metischen Konstruktion und der mimetischen ' Resonanz·n. Die Musikmetaphorik vün Komposition und Re�onanl. bringt Jie ' Dialektik' von M i mesis und Rationalität i n ein Orientierungsschema, das die komplementären Anteile von poetischer Kon struktion und poetischer Sprache an der poetischen Form verdeutlich t : Die Meta pher der Komposition impl iziert das nicht-mimetische Verhältnis der poetischen Konstruktion 7.u r Natur, die Metapher der Resonanz das mimetische Verhältnis der poetischen Sprache zur Natur, wobei die konstruktiv erstellte Fonn als künstlicher Resonanzboden die poetischen Qual itäten der Sprache zum Tragen bringt. Das ' Re sonanzphänomen' Sprache ist dabei als eine A n 'bio-feed-back' zu denken, das 7.unächst mimetisch zur natürlichen Umwelt funktion iert und die sprach liche Ver fassung des Bewußtseins als das ' E i genkonstitutionelle des Menschen' bestätigt l6• Valery verdankt Mallarme die bewußte Wahrnehmung des Resonanzphänomens Sprache. Poetische Konstruktion setzt aber darüber hinaus ein bewußtes Bewußtsein \'oraus. das den ' M echanismus' d urchschaut, wie es gelegentlich heißt, dem das Resonanzphänomen Sprache i n der henneneutischen Reflexion unterliegt. Die kunsttheoretisch antiplatonische. erkenntnistheoretisch anticanesische Wend ung Valerys gegen die trad itionellen Oppositionen von Natur und Kunst. Sein und Be, . VKI. H. 81umtnbtrg, "Spr�ch5I1u;mon und imm�ntnlt POtlik" S . I S1 f. Zum Vtfh:ihnis von Nuh;ahmung und Konslruküon H . Blumtnbtrg, " N achahmung dtf N�lUf", In S, .. J"fW' Gt"rr..lr 1 0 ( 1 9!i7), S . 266-281, S. 2 8 2 ; ubtr ' M imt'ii, und R;a,ionali,a,' s. Th . \l'. A.Jornu, A.,htl/Jchr Thtont S. 8 6 f . ; vgl. W . 8tn,;amin, " Übtf du mimtü'Cht Vtrmogtn" und "Paul Valtr)'" ( 1 9 1 1 ) , in A"Btl.. , NOf.fMJ ( A usgt1l/;ahht Sc hrif u n 2 ) , Fnnkfun 1966, S. 96ff. und S. 226. \. A Gthlrn, D,t Sttlt "" ,rchPIIlChtrr Zrl,..lltr, Hamburg 19S7, 5. 1 6 . ,I
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A NSELM HAVERKA M P
wußtsein. i s t die Konsequenz eines Bewußtseins, d a s d e n Widerspruch y o n Rationa l ität und mimetischer Resonanz in der Nachträgl ichkeit hermeneutischer Reflexio nen festgefahren sieht ; daher der antihistorische Affekt der Konstruktion gegen alle traditionellen Fixierungenl1. Soll poetische Konstruktion der mimetischen Resonanz der Sprache zur Wirkung verhelfen, muß sie die störenden Interferenzen abbauen, den Leser aus den eingeschl iffenen hermeneutischen Einstell ungen befreien, i n denen die thematische Rezeption der Poesie auf die Vorstellung poetischer Bilder fixien ist. Denn die thematische Schwäche der Poesie ist die Schwäche ihrer I nterpreten für ' B i lder'. Die i n der Lektüre erzeugte Vorstellung poetischer Bilder wird als semanti sches Substrat aufgefaßt. das in Gedichten thematisch sei wie die Gegenstände der Wahrnehmung in alltäglicher Kommunikation. Nun ist das Bild wohl ein Modus. durch den in der Lektüre Vorstellung zustande kommt. nicht aber ein Gegenstand . der in ihr wahrgenommen wird : Wahrnehmung wird im Bild fingien. die Vorstel lung ihrer Gegenstände nachträglich als Wahrnehmung interpretien. I m Eindruck unvermittelter Wahrnehmung vermittelt das Bild die momentane Präsenz von Ge genständen, deren tatsächl iche Absenz es vorausset:7.. t IM• Streng genommen kommt es also zur Vorstellung poetischer Bilder nur. weil das i n ihnen Vorgestellte nicht (mehr) Gegenstand der Wahrnehmung ist, in deren Horizont es vorgestellt wird. Das henneneutische Vorurteil lautet deshalb, die in Poesie transportierten Bilder hätten metaphorische Bedeutung, die auf einen imaginären Gegenstand referiere wie die Bedeutung alltäglicher Ausdrücke auf die Gegenstände der sinnlichen Wahrneh mung. Es wird gestützt durch eine optische H i ntergrundmetaphorik der ästhetischen Wirku ng, derzufolge die kognitive Leistung der Poesie analog der Wahrnehmung äußerer Gegenstände i n der quasi-sinnl ichen Vennittlung innerer Bilder bestehe''9. Entscheidend ist dabei nicht. daß ein abbildl iches Verhältnis von Dichtung u nd Wirkl ichkeit unterstellt. sondern ein beiden gemeinsamer semantischer Horizont postulien wird , in dem die ästhetische Erfahrung hermeneutisch zu reflektieren und kommunikativ aufzulösen sei. I m Unterschied dazu hat der 'Sinneffekt' der mimetischen Resonanz nichts zu tun mit der hermeneutischen Relation, i n der poetische Bi lder ausgelegt werden20• Mime tische Resonanz kommt nicht aufgrund poetischer Bilder zustande, sondern aufP
An,ipl,Jtonisch n .J c h H . Blum�nb�rg. "Sokru�s und du 'objC:1 .Jmbigu·" S. 2 9 8 u n d s. J 1 04 • .Jnuc.Jnc:· ,isch n.JCh K . Lowi,h, P""I V.I"',. S. 1 6 und S. 2!1. \·gl. H. R. J.Juß, "" Go(',h�s und V.Jlirp F.Juu". In Co",p.'.'I1I(, L,,,,,.,,, ,,, 28 ( 1 976), S. 2 0 1 -2)2. L . ZU Vorudlung und Bild ,ic:hc: 'IX'. Ise:r, D", Ak, J"J L" ....,... Munchc:n 1 976. S. 2 2 1 f . ; �o .. ·ie: d.J\ don zitic:nc: Rcf. von J.P. S.Jnr�, ""Oberdi� flnbildungskr.Jh " ( 1 9J6) und D.u 1",." ".,,(' ( 1 9040), H .Jmburg 1 9 7 1 , S. 66 und S. 2 8 1 . Ober d.J� Vc:rh.:iltnis von V.Jlrrp ·.Jb�e:nc�· und ·n.J' d� rison.Jnc�· H . l.Jlle:nbe:r· ge:r, D", S"gnflJ", ·Ab,,,,.u · �, P4,,1 V.I;".. Wie:sb.Jde:n 1 960, S. 48f. 1 9 Vgl. die: Krilik von E . Tug�ndh.Jt, " " Phänom�nologie: und Spr.Jch.Jn.Jlyse:·', i n H"rm('n"""k ",.J D",/('k· ,ik 11 (F�5uchrih H.Jns·Gtorg G.Jd.Jm�r), Tübinge:n 1970, S. J-23, be:5. S. 22, Anm. J ) . sowie: 5�ine: Vo,/(',,,,.g(',. z ,, ' Ei,.fiih,,,ng i,. J,(' ,p,.ch.".,lytuch(' Ph,IOIoph,(', Fr.Jnkfun 1 976. Je 'Sinndf�kt' n.lch P. Ric�ur, " " Le: problt-m� du double:'5e:n\ enmme: problt-mc he:nnrne:utiqu� �t comm� problt-me: srm.Jn,ique:" ( 1 96ft). In L(' co,.flu J(', m,t'Fp";'." OII', P.lris 1969, S. 6!1 ff. ; vg'- M . P.lre:nt, Coh;l'('''c(' ('I ";so".,,.u J.,., 1(' lIy/(' J(' ·Ch.rm(',' J(' P4,,1 \/41;".. P.lris 1970. S. IJ.
V AtERY IN Z .... EITER L EKTÜ R f
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grund e i n e r poetischen Form. die v o r a l l e n visuellen Effekten aus d e n phonetischen Qual itäten des sprachlichen Materials entwickelt ist. nicht aus den semantischen. die sie interpretierbar machen ; sie wird durch Konstruktion vermitte lt. nicht durch die I nterpretation im Nachh inein entstandener Bilder. Resonanz zum Tragen bringen erfordert eine Tragfäh igkeit der poetischen Form. die Si nneffekte wie die i n Bildern fingierte zeichenfreie Bezugnahme auf Gegenstände sprachlich motiviert durch das. was Valery "Ie sens d u son" nennt : "une correspondance mysterieusemem exactc: entre les caus�s sensibles. qui constituent la forme et les effets intelligibles. qui som le fond" (11, S. 1 3 1 7) 2 1 . Valcrys eigene Ä ußerungen zur Poesie pure ( 1 928) haben aller dings die substantialistischen M ißverständnisse gefördert. Poesie transportiere ein besonders kostbares Substrat : "substance noble et vivante". die in der poetischen Form unvermischt zur Geltung gebracht werde (I. S. 1 4S6ff.)22. Die visuelle Orien tierung der Poesie wäre so nur ersetzt (oder verallgemeinen) d urch eine akustische. An die Stelle der metaphorischen Schlüssigkeit poetischer Bilder träte die metaphori sche Verschlossenheit poetischer K länge. deren Dunkelheit nicht mehr der emotiven Verdunkelung oder rhetorischen Verstärkung einer kognitiven Leistung d iente, son dern z u r eigenen poetischen ' Substanz' würden. I n der strukturalen Vergegenständ lichung poetischer Dunkelheit wird m imetische Resonanz zum getreuen Negativ ehemals mimetischer Evidenz ; gesteigene hermeneutische Reflexionen, nicht ihr Ab bau . sind die Folge. wie man aus der Rezeption der sogenannten 'Symbolisten' weiß. Valerys theoretischer A nsatz reicht weit�r als diese I nkonseq UEnz, aber es ist die Frage. w ie seine poetische Praxis damit zurecht kommt. Theoretisch macht es keine U mstände, die substantialistische Verdeutlichung dessen, was 'poesie pure' sei, z u rückzunehmen a u f e i n e funktionale Bestimmung i h r e r semantischen Vieldeut igkeit. Daß mimetische Resonanz die ursprüngliche Eigenschaft poetischer Sprache sei. wäre dann nur die ins Myth ische gewandte Version der anthropologischen Hypo these. d erzufolge sie eine Funktion der sprachl ichen Disposition des Menschen zur Welt ist. Als semantisches Korrelat der in der poetischen Form zur Resonanz ge brachten Affinität von innerer und äußerer Natur ist Vieldeutigkeit nicht Zweck. sondern Oberflächenreflex der in der poetischen Komposition geleisteten "ästheti schen Rückverwand lung des Wirklichen in den Horizont seiner Möglichkeiten" : "vermittelt (sie) ein Bewußtsein der ästhetischen Freiheit selbst"24. Daß e s sich dabei um mehr als die Freiheit des konstruktiv tätigen Poeten handle, einen konstruktiv eröffnetL'n Freiraum der Rezl'ption, in dem die Applikation dL's l . C'<;L'ro; mit der
: 1 Vgl. J . S,hmldl· Radrfddl, PoIlli V.Jlr? 1"" IlIfU dd",. /�f ·C.h,�rf'. Pam 1970, S. 120ff.; P. Wum!rrll, Voll..". WIlUllr't"", Frankfurl/B("rn 1 977, S. 5 1 ff. und S. l 2 1 ff. :: N�(h H. BlumC'nhf:rg. ·'Spra,h�ilu.lIIl1n und immanC'nlc PlIC'lik" S. 1 49 f f . ; ,.gl. duu M . B. H("nC'r. TI,r Mt"d"''''l o{ Portie Mt"t.phor. llu' Hagur/Pari� 1967, S. 89f. (l.U Val�ry ). : , So G . GC'nrur, "' langagr porliqur. ro�liquC' d u langagr", in F'I"rrJ 11. Pari\ 1 969, S . 1 46 ff . (an rinC'm Vru dC's C,,,, rt'''rr mlln,,j . ... H . 81umrnbrrg. "Sprachsilu.luon und imman�nlr PO�lIk" S. 1 5 3 .
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ANSELM
HAVERKAMP
Konstruktion des Autors in Konkurrenz tritt. ist durch bloße Vieldeutigkeit noch nicht garantiert, sondern hängt ab vom Modus der durch sie i m Text provozierten Lektüre.
111 Auf d e n ersten B l i c k l i e s t s i c h Le Cimet;ere marin w i e ein Stück Reflexionspoesie traditioneller An: Auch diese hatte sich selektiv zu Tradition verhalten. zum einen zitien. zum andern verworfen. und dabei Reflexion im gleichen Maße eingebracht wie gefordert und ausgelöst. Oft genug (und jedenfalls in ihren besten Stücken) haue sie auf eine von philosophischer Klarheit distanzierte, gegen die Ordnung themati scher Konsistenz gerichtete kunstvolle Dunkelheit gesetzt, 'beau desordre' . Dunkel heit resultierte schon aus der reflexiven Vergegenwärtigung des wirkungsgesch ichtli chen Moments von Tradition, Reflexion selbst wirkte verdunkelnd auf das. was den Gemeinplätzen umgangssprachl icher Verständ igung zufolge auf der Hand lag und aus der metaphorischen Sprache der Dichter leicht in Paraphrasen zurückzuholen war. In Poesie gebrachte Reflexion widersetzte sich dem rhetorischen Modell von Metapher und Paraphrase, rechnete staudessen mit dem hermeneutischen Modell einer Allegorese. die poetische und hermeneutische Reflexion im Horizont einer gemeinsamen Trad ition auch über die Abgründe historischer Brüche hinweg zu verschmelzen erlaubte. Das Dunkel der Trad ition verlangte nach allegorischer Auf hellung und exemplarischer Veral lgemeineru ng. Es bot dafür als abgeleiteten Effekt dem durch die hermeneutische Askese hindu rchgegangenen Interpreten das stille Vergnügen immer neuer Glasperlenspiele. Als irreduzibler Rest widersteht der alle gorischen Lektüre bei aller Appli kation auf neue Kontexte nicht der Gehalt, sondern der erinnene Klang alter Texte. der vor jeder reflexiven Vergegenwänigung als eine An 'präverbaler Melodie' die individuelle Aneignung und Umsetzung von Trad ition ins Gedicht leitet. so daß die postuliene Substanz der Trad ition zur rhetorischen Funktion des lyrisch artikulienen Bewußtseins wirdH• Wieviel in dieser Hinsicht Valery von Petrarca trennt. ist problematisch ; deutli cher, was den Cimet;�re marin von der allegorischen Lektüre trad itioneller Refle xionspoesie unterscheidet. " 1 1 n'y a pas un temps pour le 'fond' ct un temps de la 'fonne' : et la composition en ce genre ne s'op pose pas seulement au desordre ou a la disproportion, mais a la decomposition", hält Valer)' seine Intentionen fest ( I , S. 1 505). Daß Le Cimetiere marin in der ersten Lektüre darauf angelegt scheint, i m traditionellen Verstand allegorisch gelesen und a u f einen tieferen S i n n h i n ausgelegt zu werden, ist durch das Dementi derer, die in der ersten Lektüre verharren, nicht :, Von ' pravt'rbalt'r Mdodit" 1prich, H . Frit'drich. Eporhr,. J r r .,./,r,.urhr.. L y rJt , Frankfun 1 9M , S. 1 76 ff . (zu Pcuuu u n d Ta1SO anh.1lnd Poc-s Ph,/oJophy 0 / Comp,mt.o.. u n d Valrrys A ll JII,rt .ill Cimrt,jrr JrMn,,). Zur allc-goriS6:ht'n Tr.1ldiuon v g ! . 7 \1 1 t" '" P. Zum,hor, Lr I'fWlqllr rt l.. /"m,jrr, Pan� 1978, S. 7'H.
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m itdementiert. Das in 24 Strophen ausgebreitete Repenoire traditioneller Anspie l ungen und Zitate kann reicher und komplexer nicht gedacht. der A ufforderungscha rakter traditioneller Reflexionspoesie ausgeprägter nicht zur Geltung gebracht wer den. Die im Motto vorangestellte vorsokratische Maxime eröffnet einen Horizont hermeneutischer Trad ition. dessen pindarische Signatur i n rätselhafter Ferne hält. was die moderne Paraphrase in triviale Nähe rückt : "O mon äme, n'aspire pas a la vie eternel le mais epuise le possibl e ! " (siehe Varianten CahieTs 13, S. 727). I n der Spra che der frühsten lyrischen Anfänge bringt d ieser Satz auf den Nenner. was es mit dem Gedicht auf sich hat, die beabsichtigte Wirkung im griechischen Zitat eher verdunkdnd als aufklärend. Literal der Friedhof von Sete, erscheint der Cimeri�Te m4rin im Lichte der Mahnung. im Endlichen zu leben. statt nach Ewigkeit zu trachten. als das perfekte allegorische Lokal. das die Trad ition für solche Reflexionen vorsich t : "that 'sea cemetery ' reminiscent of the Ambrosian landscape which be comes succcssivcly a roof covered with w h ite pigeons, a tempie of Time, a nock of sheep with a shepherd dog. a multicolored hydra ; all this is based on the same Christian poetics of kaleidoscopic transformation of symbols"16. Valerys Titel erhält in Pindars Motto also einen hermeneutischen Kommentar zur Logik der I nterpreta tion, der die Lektüre des Gedichts unterliegt. I m Verhältnis von allegorischer Land schaft und henneneutischer Applikation wird Land schaft zum flexiblen Vehikel einer Reflexion, deren henneneutisches I nteresse der allegorischen Tiefenstruktur einer thematischf:n Ober fl:iche gilt. C" loil uan q u i l l t' , Oll mucht'nl dt'5 colomb"s, Enut' 1,,5 pins p"lpn". "nu" I"s hlnlb�s; Midi J" justt' r comptlSt' d" ft'ux 1..11 mt'r. l" m"r, lOuJour' r"co mm"ncc-t'! o r«omp"nst' "prrs un" p"nsc-"
Qu'un l o ng r"pr d 'ur I " ulm" dt's dit'ux!
Der Pro7.cß der Auslegung folgt im Text der I nteraktionsstruktur von thematischen 'Vehikel' und reflexivem 'Tenor' : paradigmatisch folgen in Strophe 1 auf 4 Zeilen Thema 2 Zeilen Kommentar (in Rilkes übersetzung auf die glatte Entsprechung von Geben und Nehmen gebracht). Die metaphorischen Qual itäten der thematischen Felder von Friedhof und Meer markieren den hermeneutischen Rahmen, beider ' Fokus', die Grenzzone von Meer und Jenseits, lenkt die al legorische Perspektive der LektüreP. Im Zuge der allegorischen Konsistenzbildung werden die metaphorischen Möglichkeiten des Gedichts in eine du rchgängige Bildlichkeit umgesetzt, wird die tenden7.iellc Vieldeutigkeit der sprach lichen Metaphorik, die nichts anderes ist als die rc:lative Flexibilität der thematischen Felder. auf bestimmte Bilder fixien. Dies mit I.. Spil/t'r . e14mcal a n d Chrut"'" IJt.J 0/ Wor-/J Htll rmo"y, B.II l limort' 1 96), S. 24. : ' Z u r TtrmlnoltlGiC" " o n " 1 C" n o r " u n d . ..." h i e l t'.. .. gi. I . A . Richuds, Tht Ph./oJophy 0 / RhC"to"c, Oxford I�
1 9)6, V-VI ;
7U
"focus" und "fumt''' t'nuprC"chC"nd M . Bl.IIc k, "MC"I.II p hor"
.tlt't�phorl. hh.IC.II 1 962, 1 1 1 .
( 1 9304),
in
ModtlJ .nJ
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H ilfe des Tenors der ins Gedicht gebrachten Reflexion: "Lc röle d u vrai poete ph ilosophe", erläutert Cohen, " n'est pas d e CI'"I!cr des systemes ( . . • ) , mais d 'eprouver et de naus faire eprouver, a propos des nations metaphysiques les plus abstraites. des sensiltions pl'"Ofondes et vivantes, trad uites en i mages neuves et fortes. " Seine Version der allegorischen Lektüre macht i m Cimet;ere marin ein ideengesch ichtliches Drama aus, i n das "Non- � tre o u Neant" ("symbolisee par M i d i " ) und "conscience" ("edle d u poete sans daute. edle de I'homme aussi") m i t dem A utor ("acteur a la fais et spectateur de ce drame") verwickelt si nd , und zwar i n den folgenden " Akten : " I m m obilitc", " Mobilitc", " Mort ou I m mortalite ? " , "Triomphe du momentane" (und natürlich "de la creation poetique")21. Die derart abgearbeitete (bzw. mit Ma ßen tolerierte) D unkelheit des Gedichts gehö rt zur Si nnstruktur des Textes (so w i rd u nterstellt) . Sie tritt für d i e I nterpretation als ' E i genschaft' seiner allegorischen Ver arbeitung auf, genauer als Eigenschaft der i n den thematischen Feldern des Textes transportierten Bilder, deren reflexiver Tenor auf zugrundel iegende ' Ideen' leitet. Es liegt auf der Hand, daß es sich bei der Dunkelheit, m i t der sich d i e allegorische Lektüre des C;met;ere marin z u schaffen macht, u m jene konstitutive Vieldeutigkeit der hermeneutischen Tradition handelt, i n d i e sich das w i rkungsgeschichtliche Be w u ßtsein unweigerlich verstrickt. Auch d i e H i nweise Valcrys auf den zufälligen Abschluß des Gedichts und die vergle ichsweise Beliebigkeit in der Reihenfolge ein zelner Strophen kann man so verstehen, einschließlich des Schlusses : "il n'y a pas de vrai sens d ' u n texte", der diese Vieldeutigkeit des Textes der Lektüre seiner Leser anheimstelh. Als Oberllächenreflex der i n die poetische Komposition eingegangenen Reflexion steht sie für eine hermeneutische Tradition, die nicht mehr ' Gehalt' des Textes, sondern nurmehr 'pretext' der allegorischen Lektüre ist2'. Auf d iese Weise w i rd Vieldeutigkeit z u m Prüfstein der hermeneutischen E i n stell ung, i n der man die Lektüre aufn i m m t : i n der Absicht allegorischer E i nvernahme von Trad ition oder in der Absicht kritischer Ablösung von ihr, hermeneutisch verallgemeinernd oder kri tisch d istanzierend. H i storisch gewendet w i rd die poetische Konstrukt ion Kritik, die sich nicht mehr selektiv zur Tradition verhält, sondern destruktiv, dabei i m Prozeß der Ablösung verharrt und den Konfl i kt schürt, der sich zwischen der alten u nd neuen Lektüre abspielt und d i e Struktur der modernen Lyrik prägt. In der Opposi tion der immanenten Poetik gegen d i e pragmatischen Fixierungen der zeitgenössi schen Sprachsituation schafft sich die Kritik der d iese historisch vermittelnden her meneutischen Tradition Raum, ' Dekonstl"uktion' (wenn man so w ill) der tradierten Lektürelo. Deren M ittel waren - von der gnostischen ' Pseudomorphose' bis zur hermeneutischen ' H o rizontverschmelzung' - d i e allegorischen Verfah ren der I n ter pretation ; i h re antikritische Funktion, Wahrheit mit Methode zu propagiere n . bl ieb lR � }Q
G. Cohcn. E.n•• d 'upllt:.tto" d" Cimet;rre m.r;" S. 8 1 -82 und S. 48-50. Vgl. P. de Man, " lyric and Modernity " , in BI",d"eJu"d I"ught, New York 1972, S. 1 8 2 . V g l . J . Derrida. " Q u a l Quelle - Ies sources de Valery", in M.rgcs d c !. ph.loJoph.c. Paris 1 9 7 2 . S. 3 2 7 1f . ( ü b e r F r e u d und N i c l z s c h e ) i s o w i e in psychologiuischer V e r k ü rz u n g die F i g u r der ' Kenosis' bei H. B l o o m . The AmClctyol 1"II"e"ee, New Y o r k 1973, S. n ff .
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s e i t der gnostischen Verallgemeinerung des platonischen Horizonts der Spätantike manifest l I . Anti-allegorisch l iest s i c h der Cimetiere marin auf den ersten B l ick nicht, w e i l e r die erste Lektüre auf den vieldeut igen Pretext d e r Tradition leitet. I n der Variations breite der Tradition bleibt der A u snutzung der I nteraktion von thematischem Vehi kel und reflexivem Tenor ein unz ulänglicher Rest, der zum kritischen Moment der Lektüre wird. I ndem er i n der Vieldeutigkeit des Gedichts den Obersch u ß der Trad i t i o n bestätigt, dessen Exemplar es allegorisch ist, irritiert er den allegorischen Voll zug der Lektüre. E r läßt die Vieldeutigkeit des Texts . i n die Vieldeutigkeit des Pre texts übergehen. lenkt die allegorische I nterpretation also vom Text selbst ab und läßt die Lektüre nicht z u r Ruhe kommen. Das anti-allegorische Moment dieser Mobilisierung der Lektüre läßt sich leicht am d i a logischen Orientierungsschema von Frage und Antwort nachprüfen, das die I nteraktionsstruktur von Vehikel u n d Tenor auf i h ren hermeneutischen Nenner bringt. Die hermeneutische Reflexion der Zeilen 5-6 setzt als Antwort auf die Erfahrung der Zeilen 1 -4 eine Frage voraus, d i e aus der allegorischen I nterpretat ion dieser Zeilen nicht folgt, sondern ihr widersprechen muß, denn Allegorie ist immer Antwort. Deutlich w i rd das i m Nachhinein am Verhältnis von Titel und Motto: indem das lyrische Zitat das allegorische Lokal a llegorisch lokalisieren h i lft, dementiert es den allegorischen Zweck und das herme neutische I nteresse a n ihm. Versteht man die ' Logik' von Frage und Antwort als das rhetorische Postulat der i m Verhältnis von Vehikel und Tenor allegorisch realisierten Interaktionen, w i rd die latente W i derständigkeit artikulierbar, in der sich die anti allegorische Wendung des Gedichts anbahnt. Sie w i rd freilich nicht vor der letzten Strophe und dem Reim von ' l ivre' auf 'vivre' manifest und faßbar. Der Vers " L e vent se leve ! . . . 11 faut tenter de vivre ! " repetiert das Schema noch einmal u n d löst es auf. I n dieser Strophe ist das Verhältnis von Vehikel und Tenor nicht mehr entscheidbar. Von diesem Ende her liest sich das Gedicht in der zweiten Lektüre anders : was zuvor literale Oberfläche für allegorischen Sinn war, w i rd zum literalen Sinn auf einer allegorischen Oberfläche. "Ce toit tranq u i l l e , OU marchent des colombes" ist nicht mehr A usschnitt einer ambrosianischen Landschaft : "stilles Dach, auf dem sich Tauben finden" (Rilke). Den ersten Vers i m letzten aufgreifend, heißt e s : " Ce toit tranq uille ou picoraient des focs ! " Das dunkelste · Wort stell t sich als das l iteralste heraus, nicht das allegorisch tiefste, sondern das kontingent ans Lokal gebundene. "Ce cimetiere existe", erläutert Valery : "n domine la mer sur laquelle on voit les colombes, c'est-a-dire les barq ues des pecheurs, errer, picorer . . . Ce mot a scandalise. Les marins d isent d'un navire q u i plonge de " avant dans la lame. qu'il pique du nez. L'image est analogue. Elle s ' impose a q u i a vu la chose" ( I , Notes S . 1 686). Keine allegorische Landschaft mit Tauben und zugehöriger Reflexion unter griech ischem Mono, sondern Friedhof von Sete? Ober die möglicherweise irreführende Wirkung 'I H. jona.\, Gnom und ,p.'4nuJur G�;sr I , Goning,·n 1 934, S. 2 1 7 ; J�rN�uUlt, Frankfurt 1 966, S. 78.
\. g l .
H . Blumcnb,·rg,
D;� L�g;t;m" ;;t
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d e s Pindar-Zitats scheint s i c h Valery zu Zeiten im Zweifel gewesen z u sein, d e n n i n den frühen Ausgaben des Gedichts ist es ein übers andere Mal weggelassen. A l l e r dings verstärkt es im griechischen Original, w a s die französische übersetzung (wie die deutsche übersetzung der "colombes") in falscher Vereindeutigung unter sch lägt : die sprachl iche Bindung an die mediterrane Szene. A usschöpfen des Mögli chen heißt hier A usschöpfen des i n den untersten Schiffsraum eingedrungenen Kiel wassers. Einem seit Vico einflußreichen Gemeinplatz zufolge setzt Valery auf die 'ursprüngliche Metaphorik' der Sprache, die er i n seinen Äußerungen zur ' poesie pure' als deren poetische Substanz auffaßt. Es bleibt widersprüchlich. wie die archa ische Pragmatik der Sprache der Entpragmatisierung der modernen Sprachsituation d ienen soll. Für die Lektüre des C;met;ere marin sind solche Unklarheiten der Theorie nicht erheblich. Was die Sprache Pindars mit der Sprache der Fischer in Sete verbindet. ist die konstante Praxis. in der sie zur ursprünglichen Naturbeherrsch ung im Verhältnis der ungetrübten Resonanz steht. Demgegenüber sind alle lebensweltli chen Fixierungen der modernen Sprachsituation sekundär, werden hermeneutische Reflexionen irrelevant, ist die hermeneutische Tradition in einem langandauernden Prozeß der Entfremdung begriffen. I n der Relation von thematischem Vehikel u nd reflexivem Tenor unterliegt henne neutische Reflexion dem Mechanismus der allegorischen I nterpretation - das lehrt die erste Lektüre. Valerys ' bewußtes Bewußtsein' setzt demgegenüber i n den Stand einer zweiten Reflexion, die das allegorisch ins Bild Gebrachte auf die Regel zurück führt, nach der es als Bild sprachlich zllstandekam}2. Die im ' bewußten Besitz der Sprachfunktion' vollzogene zweite Reflexion macht die hermeneutischen Bedingun gen thematisch, u nter denen die allegorische Lektüre steht. Ihr Thema ist die i n der poetischen Konstruktion angelegte I nteraktionsstruktur von Vehikel und Teno r ; ihr Reflex die i n der poetischen Komposition erzeugte Vieldeutigkeit. Die Zeilen 1� liefern deshalb keine 'unmittelbare Anschauung', die jeder hermeneutischen Refle xion vorausläge, sondern ein Vorstellungsbild, das sich der hermeneutisch geschulten Lektüre als allegorisches Resultat einstellt. den gestaltpsychologischen ' K ippfiguren' vergleichbar, auf die man das Auge trainieren kann. "Ce toit tranq u i l le" : Meeresho rizont mit Fischerbooten, deren eigentümliche Bewegung die vertraute Anschauung ins Bild mit Tauben kippen läßt : " E l l e s'impose a q u i a vu la chose". Eingespannt in die Perspektive zwischen Pinien und Gräbern wird du allegorische Bild zum Bild der eigenen allegorischen Verfassung, in dem die Flexibil ität der allegorischen I nter pretation zum thematischen Vehikel für die Potentialität der ästhetischen Erfahrung wird. Die Einsicht i n die hermeneutische Vorstrukturierung der Wahrnehmung ist ihrem reflexiven Tenor zufolge " recompense apres une pensee", Resultat reflexiver Anstrengung, i n dem das reflektierende Bewußtsein z u reflexiv gesteigerter An schauung komm t : "Qu'un long regard sur le calme des dieux ! " U
Z u r UmkC'hrung dC's platonischC'n Verhältnisses von Bild und Regd � . H . Bl umcnbcrg. "Sokratcs und das 'ObjCI ambigu " · S . 290. Vgl. "a poetic� of rC'vC'rsibi l i t r · · bei G . H . Hanmann, "Valer)"·s Labi,· uf the BcC's", i n The F.tt 0/ ReiJd"" , Chicago 1975, S. 2]5 f.
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IV " J u st as the eyes reduce all things to visibility, so the mind returns them to possibi lity", lautet die Relation von thematischem Vehikel Landschaft und reflexivem Te nor der Konstruktion in der zweiten Lektüre: "On the height of the cemetery, looking down on the blinding sea, situated between the immense vacu um of death and the unbearable vacuum of burning space, Valery, deploring the impurity of life to thought and of thought to itself, conceives a symbol denoting pure possibility, and transcend ing all his other images of the monotonous cirde or of the snake biting its own tai ! . h is the view of the southern sun motionless at noo n : 'Midi la-haut, Midi sans mouvement / En soi se pense et convient a soi-mcme .. . ' ( X I I I ) " " . Das im Kippeffekt vorgeführte ' Phänomen ', wie Valery an anderer Stelle sagt, w i rd zu einem kantischen 'Symbol für die Reflexion', das den Modus veranschaulicht, nach dem in der Vieldeutigkeit der poetischen Komposition mimetische Resonanz zum Tragen kommt}4. I n Analogie zur semantischen Vieldeutigkeit der Sprache wird Sichtbarkeit 7.um Symbol für die i n zweiter Reflexion begriffene Wahrnehmung der zweiten Lektüre. Der Eindruck unmittelbarer Anschauung ist dabei das Resu ltat der durch den al legorischen Modus hind urchgegangenen ersten Lektüre, nicht unvermittelte Evidenz, sondern momentanes 'Nach bild' der allegorischen Lektüre, das den sym bolischen Zusammenfall von sinnl icher Erscheinung und übersinnlicher Bedeutung für die Reflexion festhäl t. Das Nachbild der ersten Lektüre bestätigt, daß diese Reflexion im " Rückgang auf das U nreflektierte" besteht: auf das, was in der ersten Lektüre " unreflektierter U ntergrund " ist und i n der traditionalen Wiederholung des allegorischen Modus " eine ursprüngliche Vergangenheit konstituiert" , wie Merleau hinzusetzt, "die niemals Gegenwart war"��. Die im Kippeffekt enttäuschte erste Lektüre kommt im erneuten Anlauf nicht zum defini tiven Resultat, sondern w i rd zum Horizont einer zweiten Lektüre, in der Reflexion zum Moment ästhetischer E rfahrung wird. "Je garde quelque temps dans le regard la presence restante de ce mouvement pTOdigieux", bes\.':hreibt Valcry deu Augenblick nach einem Sonnenuntergang. "Je rl'ssens fortement I ' impression de necessite, de rigueur, d 'horaire inflexible, de puis sance inerte precise" (11, S. 664). Das Erlebnis erhellt die Differenz z u r Dichtung. Dit' zweite Lek.türe zieh nicht auf eine 'Wahrnehmungsidentität', i n der die Wieder holung einer ursprünglichen Wahrnehmung quasi halluzi natorisch fingiert und sym bol isch fix iert wärel6• Das Nachbild der Tradition, das die erste Lektüre hervor" C, H
H .l Tl mJ n . Th� U"ml'dlatrd VII/Ol'l ( [ 9 5 4 ) , N.·w York 1 966. S. [ .... . " A'ntlk J" r Unl'llskraft § 5 9 , n�(h H. Blum.'nhl"rg. · ' P.tr�JiGm.·n J: U .· i n l" r M.·,J.phnrnlngi.· . . . in Arc-hwliir Begrilf.g..s(},;':htl" 6 ( 1 960), S. 1 0 1 . : "gI. H . G . G�d�ml"r. Wahrheit und Methode S . 7 1 f.; 511wi.' hier 1 1 . L�lh·nhl'rg.'r, Der Begr'flder 'AbmlCl" br, P.. ul V"ler,.. S. 2 5 ff. '\ �I. Mc:rlc:.t u - Ponty, Ph.i,mmt'nologlt' dt'r W'"hrnt'IJmu1lg ( 1 94 5 ) , Bc:rlin 1 966. S. 28) (\"gl. ,.·in VJ.I.'rr
Z l t � t S. !Ol).
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" , · W � h rn.' hmung�iJentltat' n;Kh S. h e u J .
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bringt, ist nicht mehr ' natürliches Symbol', sondern nur noch 'erinnerndes Zeichen', an dem die zweite Reflexion i h ren Anhalt findet)7. Die autobiographische Lokalisie rung des Cimetiere marin führt deshalb nicht zurück z u r 'Quelle' der ins Gedicht eingegangenen Erfahrung, sondern nur an den Ort i h rer zu bewußtem Bewußtsein gckommenen Reflex ion. Sie markiert die Stelle, an die das Gedicht als ihr Ä q u ivalent getreten ist und bekräftigt derart die Unzugänglichkeit der in ihm versch lossenen Erfah rungJB• Indem so die hermeneutische Reflexion am Gedicht scheitert, wird ihr Scheitern der zweiten Reflexion 7.ugänglich und in ihr zur ästhetischen Erfahrung. Dies freilich nicht umstandslos und im Nu. "Das Buchstäblichwerden des zuvor Symbolischen (als eines allegorisch vermittelten) verleiht dem in zweiter Reflexion verselbständ igten geistigen Moment schockhaft jene Selbständigkeit, wie sie". schreibt Adorno, "produktiv w ird im Bruch mit jeglicher Abbildlichkeit"l9. Jene Selbständigkeit bl iebe bloßes Postulat, gäbe es nicht die zweite Lektüre, i n der sie produktiv werden könnte. Die zweite Lektüre verhindert, daß es in der zweiten Reflexion bei einer rhetorischen Synkrisis hermeneutischer Anstrengungen bleibt, i n der Reflexion es im F e l d der ästhetischen E rfah rung erneut zu nichts als 'geistigen Momenten' brächte. I n der zweiten Lektüre vollzieht zweite Reflexion den B ruch mit der Abbildlichkeit dessen, was ihr nach der ersten Lektüre als Nachbild der Tradition gewärtig geworden ist. Nicht in der Reproduktion dessen, was derart abbiIdiich in der Struktur des Textes ' repräsentiert' ist, sondern im Akt des Lesens selbst w ird zweite Reflexion ästhetisch . Denn die zweite Lektüre reproduziert nicht die erste Lektüre, sie w iederholt sie, indem sie Reflexion an ihr hervorbringt und z u ihr i n s Verhältnis setzt. " E i n e nicht unwesentliche Bedingung f ü r die v o m Lesen hervorgebrachte I nnovation besteht darin, daß sich i n der Zweitlektüre der Ablauf modus nicht w iederholt, durch den die Sinngestah ursprünglich real isiert worden ist"4c. Daß im Nachbild der Tradition momentane Evidenz aufscheint. zeigt aJso vor allem, daß das: Tradierte hier "eben nur das Momentane ist". Wie das von Valery beschriebene Nachbild der Sonne nicht nur den Eindruck i h rer überwältigenden Präsenz vertieft, der den Cimet;ere marin beherrscht, sondern anzeigt, daß sie unauf haltsam ihren Lauf genommen hat und untergegangen ist. Diese Absenz des Trad ier ten im Nachbild der Trad ition provoziert die zweite Lektüre zur reflex iv gesteiger ten Anschauung. I n dem Maße, in dem dabei zweite Reflexion auf den Vollzug der zweiten Lektüre angewiesen und durch sie bestimmt ist, bleibt die Lektüre ih rerseits unlösbar mit Reflexion verbunden. Sowie die zweite Lektüre " noch die Reflex ion zu
11
)1 J� 4C
So die I;ormd yon H . R . J"uß, "Litcrnischc TrOldition und gcgenwntigu Bewußtsein der Modcrniul" ( 1 965), " N"chlug" (zu W"lter Benj"mins B"udd"ire· Fr"gmenten), in L,trr"turgeJCh,chtc ,,11 Provolt,,· t,Orl. Fr"nkfun 1 970, S. 65. VGI. H . Blumenberg, "Sokr"tcs und d", 'objel "mblgu'" S. 1 1 7 f . ; "uch J . Dcrrid", "Qu"l Quclle" S. 112 ff. Th. W. Adorno, Asthetuchr Throne S . 147 (Erg"n7.ung in KI"mmrrn von mir). W . Iser, "Der Leseyorg"ng" ( 1 972), in Rezept,oluii,thrtilt, hg. R . Wunmg, Munchrn 1975, S . 251-276, 5. 2 6 0 ; im folgenden Der Altt Jel Lesrn,. S. 2 1 6 (zum . K ippeffekt' S. 2 1 2 ff . ) .
VALF.RY IN ZWEITER LEKTÜ RF.
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ei nem Element in der Anschauung depotenziert". kann sie sie nicht mehr hinter sich lassen. " u m eine von Reflexion erstel lte Weh unreflektiert zur Anschauung zu brin gen " , die wieder allegorische "Vergegenwärtigung eines Gesamtzustandes" wäre" l . Denn d u rch zweite Reflexion w i rd d i e Lektüre nicht auf e i n außerhalb ihrer selbst Liegendes bezogen, sondern als zweite zur ersten in ein Verhältnis gesetzt, das nicht mehr ' Gegenstand ' , sondern ' Form' der Lektüre im Akt des Lesens ist. Die Lektüre mündet n icht in Reflexion, sondern Reflexion in Lektüre. Die Voraussetzung dafür. daß nun zweite Reflexion zum Moment ästhetischer E rfahrung werden kann. liegt im Nach bild der ersten Lektüre, das den Beginn der z weiten markiert. Indem der Kippeffekt allegorischen Sinn, sowie er sich einstellt. vom A usgang der ersten Lektüre her dementiert. produziert er im Nachbild ein Orientierungsschema, das der zweiten Lektüre zur reflexiven 'Sichtlenkung' dient. I n den ersten Strophen des Cimetiere mArin fungiert auf diese Weise die architekto nische ' H intergrund metaphorik' von Dach und Tempel (I-IV), deren konstruktive Funktion im Eupalinos weiter ausgeführt ist"z. Sie leitet Reflexion an. ohne sie im Fortgang der Lektüre zum Erfolg einer abschließenden Deutung zu führen. Der Kippeffekt hält die metaphoris.:he Flexibilität des Textes in der zweiten Lektüre frei von allegorischer Konsistenzbildung, indem er sie zurückführt auf die thematische Konsistenz der zugrundeliegenden Felder"'. Dabei werden deren metaphorische Qualitäten n icht etwa zurückgenommen. sondern freigesetzt von den E i nschränkun gen. denen die pal aJigmatische A ssoziation im Verlauf der ersten Leknire unterwor fen war. Der Kippeffekt liquidiert Bedeutung, indem er sie auflöst in die Möglichkei ten des Meinens, die durch mimetische Resonanz ausge7.Cichnet sind. Die Sichtlen kung der Nachbilder .. tützt diese von der sekundären rhetorischen zur primären ästhetischen Funktion avancierte Motivation des ' sens du son'. so daß nun zweite Reflexion als ästhetische von der primären hermeneutischen zur sekundären rhetori 'ichen F unktion wirJ. Dem w idmet Valery in der Strophe an Zenon eine eigene sophistische Pointe. AllerJings verleitet der metaphorische Zusammenhang der Nachbi lder, der nichts anderes ist. als das in rhetorischen ornatus zu rück verwandelte Negativ a llegorischer Konsistenz, :lur ImpressiOnistischen Interpretation von Sym bolen, d i e im Mikrobereich von Vers und Metapher aufzufinden sind. Bei derart befreienden Ergebnissen kann die zweite Lektüre sich nicht aufhalten. Ihr ly risches 'Subjekt' hatte bereits am Ende der ersten Lektüre den Text verlassen und den Leser auf sich selbst gestelh. Das ....· ird freilich erst in der Wiederholung der letzten Strophe bewußt, wenn die Wirkung der Nach bilder verblaßt ist. Sie wird dort auf die tradi
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U. Hc:nn .. h . " Kun§t und Kunstphil,,�uphic: dc:r Gc:,c:n1l.. �rt·· S . 28 und 29 ( 1I0"I r 7itirn); vgl. A. Grhlc:n, Zrlt-B,IJrr ( I 9bO), h"nkfun und 80nn 1 1 96 !1 , S . 62 1f. Obc:r · S i .. htlrnkunj;· und ' H mlL'rgru ndmcuphorik' vgl. H. Blumc:nbC:rj�, " Par�digmrn 7.U rinrr MC:I�' phornlo!:u�'" s. 6 9 ff . ; 7um mCI�pllOri�.. hc:n ZU.'lammc:nh�ng drs Grdichu Slc:hc: B . Wc:mbrrg, " V�lrr�·, ' I.C' C , mrlil."rl· marm'" ( 1 904 7 ) . I n Thr L,mllJ ofSymbo/lJm, ehicago 1 966, S. 12S ff. und l S O f f . Vgl. dlC' A n�lpC' .irr rr�trn ZC'IIC' M I A Hrnry. MrtOl'ymlr rt mrt"phorC', Puis 1 9 7 1 , S. 9 8 1 . : wWlr d", hut"plC'kuntc:pl ,·on A . J . G rC'lmu. Str.JwmJr Sr",.,,,uJr ( I 966l, 8r�un'll: h wC'lg 1 9 7 1 . S . 1 2 1 .
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tionclle Buchmetapher als ihr ironisches (nicht allegorisches) Vehikel zurückgdüh rt. das in der hermeneutischen Differenz von Leben und Lesen zum selbstreflexiven Tenor wird. LC' v e n t �(' I",' c ! . . . 1 1 bUI tentcf d c ,-j'-fC'! L'.:air immen�t' OUVfC ... 1 rdcrmc mon livtl"
L .. '-.:aguC' cn pout.!rC' ose j .:a i l l i r dt'S nl<: � ! En\·o ln · vous. pag"'� lout eblouics!
RompC'l. vaguC's! Rompc1. d'uux fej u ulC'\ Ce lait nanquillC' Ull pu::o raienl des fuc�! ( X X I V )
W i n d kommt a u f , Wahrnehmungsstimulans der Bewegung; Natur greift ein i n s B u c h d e r 'zweiten Natu r', der Tradition : W a s im Lichte d e s mediterranen L o k a l s zur :ästhetischen I rritation der hermeneutischen Reflexion werden konnte, red u z iert sich wieder auf den vertrauten Anblick leicht bewegter Fischerboote am Horizont. Das Gedicht fingiert ein lyrisches Rollen-Ich, das die zur zweiten Natur gewordenen hermeneutischen Einstellungen, die zu Nachbildern der Tradition fixiert sind, ab schüttelt wie einen Spuk. Das Buch der Natur stellt sich in der zweiten Lektüre heraus als Buch der zweiten Natur, in dem durch ein Anhalten des Laufs der Trad i t i o n ästhetische Erfahrung zustandekommt wie die ' Phänomene' im B u c h der Natur d u rch ein Anhalten des Laufs der Sonne. Was unter dem klaren H immel des Mittd meers als Moral übrig bleibt, ist das Motto Pindan, von dem man im Nachhinein das Gedicht abziehen kann ohne Rest. War das Motto Anleitung zur Lektüre, erscheint das Gedicht nun als Kommentar dieser Anleitung. Das aber zeigt, daß in der Lektüre etwas zum Gedicht hinzugl'wonnen worden ist, das im Text nicht enthalten ","ar. Die Anleitung zum Lesen gewinnt in der Erfahrung der wiederholten Lektüre die Quaii tät einer Anleitung zum Leben z u rück, besser einer Oberleitung zum Leben hinzu_ Ihrem a l legorischen Modus zufolge war Lektüre aufs ew ige Leben gerichtet ; im Modus der Wiederholung wird die anagogische Perspektive in ihrer Vergeblichkeit reflektiert und zurückgeholt ins hiesige Leben, in dem es mit hermeneutischer Refle xion nicht getan ist: " Plus je pense a toi, VIE, I Moins tu te rends a la pensee . . . " Die zweite Natur, "deren Allgewalt nur das Innerste der Seele entzogen ist; die in unübersichtlicher Mannigfaltigkeit überall gegenwärtig ist ; deren strenge Gesetl.1ich keit, sowohl im Werden wie im Sein, für das erkennende Subjekt notwendig evident wird, die aber bei all dieser Gesetzmäßigkeit sich weder als Sinn für das zielsuchende Subjekt noch in sinnlicher Unm ittel barkeit als Stoff für das handelnde darbietet" , su befand gleichzeitig mit dem C;met;ere marin Lu kics' Theorie des Romans, habe "keine lyrische Substantialität"". Den Sachverhalt aus der umgekehrten Perspektive des modernen Gedichts bestätigend, schrieb Valer)' : "11 ne faut donc jamais conc l u re de I'auvre a un homme - mais de I'o:uvre a un masque - et du masque ä la machine" (11, S. 5 8 1 ) . I n der Maske des lyrischen Ich treibt Valery ein hermeneutisches M i m i . . Ci. l.ukK\,
D,� Thffln� J�1 Romclru ( I '9 1 6 u n t.l I 920) .
Nruwlrd l Brrlin ' 1 963. S . 6� 1 .
V A L E RY
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ZWEITER LEKTÜRE
kry im Buch der zweiten Natur, "erschafft er der Lektüre mimetische Resonanz nicht zur ersten Natur, sondern zur zweiten der Tradition, Dabei wird nicht nur die Naturw üchsigkeit der Trad ition thematisch und der allegorische Mechanismus der Lektüre, d u rch den sie fortwirkt, sondern die Rolle des lyrischen Bewußtseins darin als cartesischer 'ghost in the machine'
Tht CO"CI'pt 0/ ,",mJ, l.ondon
1 �4�, S. 1 5 ff .
... Zum \l'lrkl,chkc:usbc-griff dc:r 'mnmenl.Jnc:n F" idenl' H. Blumenbc:r�, " \Y,',rkho;hkc:ilsbc-griff und Mog lio;hkeil ,Je\ Rom.Jns", in N.. ,h..hmlfrrl. IfrrJ /I/IfJlO", hg. H R . J.Jull, Munchc:n 1�f0.4 ( Poc:uk und
Hc:rmc:nc:utik I), S. 9-27, S. 1 0 f . , l u r Ab�p,ltuni: dc:r ' mdi" lduc:llen' ,'on dc:r 'kmmiso;hc:n F.sch,wlogle' IJu' l.ell't,mrt..t Jtr Ntlfu,t S . )) ; lur Reh.Jbiliuerung uc:r ' .J n �o;h,u"o;hen BC'''''' c:gung' im fnlgC'ndtn W'. \'t('itl.Jnd, 0", ",iJlou/u,ht PhYJ/lt, (Joulngc:n 1 %2 , S. 2 8 8 ff. ( S . 2�2 ube:r Ztnon) . • ' Vt:l. " L 'illu�ion tie:� Elc.Jte:\" be:, H. ßergson, EfJ4' Jlfr It. JOrl"Ü' ,mmtJwu. Je t.. co".ntrr(t ( 1II8�), P,ri, 1 92 7 , S. 1I 4 f . ; G . Dl'lC'Ull', Lt Ht'KJrIrlUmC', P.Jns I �&6, S. 4 2 .
"
Z u dl'n Moglil'hktil('n d ... r C'xpt'nnlC'nulp§)"chologiso;hen \l'iderlegun" dC'r " rrtro�peCli"c o;onstruo;tion Ihn,ry fnr .app.Jrcnl motion" "1l.J. N . Guodm.Jn, W..y. 0/ l%'or/Jm..lu"I., Thr Han.·rstrr Pr('\s 1 � 7 8 ,
S. 1I2. E i n n u t t. h chrs Rrfcrat ti e r l>i�ku�!illIn S t , t Bcr�sons L 'tvo/'dlorr CTt" t r,(t und WhitC'hC'.Jd� PrOCtJJ ,mJ Re"Jrty ( 1 90 7 und 1 92�) bei A . UshC'nko. " Zeno's P.Jr.Jdoxr''', I n MmJ NS 5 5 , ( 1 946), S. 1 5 1 - l fo 5 ;
, gi d.an.ad � bc- \ . G . R�'IC', D,ltmm"., C,mbridgC' 1 � 5 4 , S. 5 0 f f .
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auch die temporale Struktur der allegorischen Lektüre getroffen. die in hermeneuti· scher Nachträglichkeit ein Kontinuum rekonstruiert zwischen erinnerter Vergan genheit und erwarteter Zukunft. "Daß der bewegte Pfeil ruht", wie Aristoteles Zenon referiert ( Phys. VI 9, 239 b 29ff.), bringt das Resultat der allegorischen Lek t ü re auf den paradoxen Nenner des im Kippeffekt erzeugten Nachbild s , in dem hermeneutische Reflexion dem individuellen Schicksal ein illusionäres E x i l bietet im Schatten der Schildkröte. Im Lehen steht außer Frage. daß Ach i l l in wenigen Schrit ten die Schild kröte eingeholt hat ; 50 auch. daß im Lehen das Lesen bereits überholt ist, wie es i n der allegorischen Lektüre i m Leben nicht einzuholen war. Indem Valery Zenon z itiert, beschreibt er in der Wiederholung des Paradoxes die paradoxe Wie derholung der zweiten Lektüre, die im Akt des Lesens über den Text h i nausschießt. So simuliert die w iederholte Anrufung Zenons die Kontinu ität der Tradition als die scheinbare Bewegung, die Zenon widerlegt hatte : "Zeno n ! " , allegorisch " Cruel Ze non ' ' ' , akademisch "Zenon d' J:. lee ' " Wie aber Zenon in der Wiederholung kontinu ierliche Bewegung w iderlegt sah, so ist i n der Lektüre lebendige Bewegung aufge schoben49• Auf dem Gemeinplatz zeitgenössischer Diskurse karrikiert das Gedicht so die Vergeblichkeit der i n antiker Anamnese und christlicher Anagogie w iederhol ten Reflexionen - selbst reflexive Coda vor dem entschiedenen Schritt ins Leben, um den der A utor dem Leser am Ende voraus ist.
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Der Autor verläßt die Szene und überläßt dem Leser das Lokal . Damit ist die U mkehrung der allegorischen Lektüre perfekt, die das Lokal in Erinnerung einer vergangenen Szene für zukünftige E rwartungen perspektiviert hatte. Voraussetzung dafür ist die Reversibilität der Al legorese : die strukturelle Analogie, in der der her meneutische Prozeß der Tradition im Cim�tiir� marin als Prozeß des wirku ngsge schichtlichen Bewußtseins aus der lebensgeschichtlichen E rfahrung des z u 'bewuß tem Bewußtsein' gekommenen Autors entschlüsselt wird. Die gleiche H omologie von individueller und kollektiver Eschatologie, die derart als al legorischer Rest die poetische Konstruktion bestimmt, hat Valery als Schema der fiktiven Biographie des Sokrates im EupalinoJ benutzt : dort " w i rd versucht, die U mwendung der Tradition der ästhetischen Grundbegriffe nicht mehr als Faktum hinz unehmen, sondern sie verständlich zu machen durch die Projektion in die Geschichte einer identischen über den Tod hinaus identischen - Person, des Sokrates, der das Fazit der ganzen, als ihm entspringend gedachten, Tradition im eigenen Leben zusammengedrängt sieht" 50. Auch die sokratische Präfiguration der Valeryschen E rfüllu ngsgestalten des ,�
Vgl. G . H . H�nm�n. "VolIlc-ry's FolIbl(" ul Ihr Bus" S. 232; so""j(" J . M("hlm�n, "On T("u-Work : L u - d(" VolIlc-r}· . . . in Yalr Frr"ch Sr"d.rJ 52 ( 1 9 75), S. 1 52- 1 73, S. 1 6 5 1. BlumenbfOrj;. "Sokroll l f05 und dn 'objfOl �mbIKu"' S . 3 1 3 .
� H.
V "LI: RY IN Z'\I'Eln: R L EKTÜRE
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wirkungsgesch ichtlichen Bewußtseins verdankt sich der umgekehrten Allegorese. Die wechsel seitige Erhel lung von Leben und Lesen unterstellt. daß im Leben zu Bewußtsein kommt. was im Lesen eri nnert w i rd. ohne in der Erinnerung seine Erfü l l ung zu finden und in der Lektüre schon aufzugehen. A nders wäre der Leser des Cimetiere marin nicht imstande. das Angebot der durch poetische Konstruktion vermittelten hermeneutischen Einstellungen quasi rollenflexibel z u nutzen und die überl iefene Maske ly rischer Subjektivität für die Dauer der Lektüre zu ak7.eptieren. Hauptsächlicher Außenhalt dieses Angebots ist die ins Lokal gesch rumpfte A nago gie. die an der Stelle einer paradigmatisch erinnerten Szene konstanten Augenschein bietet : 'absence de tcmps' mystifizien das Lokal. wie die Lektüre Zeit abso rbien�' . Das geht bei Valery nicht ohne ideologische Verzerrungen ab. durch die auch die verschwi ndende Wirkung seiner Lyrik z u erkJären ist. Landschaft wird erneut zum Vehikel. anhand dessen Valer)' "den penetranten Sinn" eines Mythos nachträgt, der die leere Schale seiner Pseudomorphosen hinter sich gelassen hat. als läge nun offen zutage, worum es aller Lektürearbeit am Text der Trad ition immer schon dunkel gegangen war�2. Die lebensphilosophische Distanznahme zur übermacht des ' ü ber l ieferungsgeschehens' kommt ohne m ythisches Analogon nicht aus, das an der Stel le des wirku ngsgesch ichtlichen Zusammenhangs pure Evidenz vorspiegelt. Es ent springt dem Dilemma Valerys. nicht seines Gedichts. der Verlegenheit des Autors, an die sich sein Leser nicht ohne Verlegenheit erinnert sieht. Durch die Lektüre. die sich selbst erledigt. indem sie den Horizont frei macht für ein leben. das weitergeht. ist der Leser unabhängig geworden vom Erlebnis des Dichters. Für den Dichter folgt daraus andererseits, daß die individuelle Erfahrung des Erlebten u nkenntlich gewor den ist im Horizont des Gelesenen. Das Werk sei zur toten Hülle der Erfah rungen geworden, die sein Anlaß waren. die Bibl iothek, in dit, es Eingang fanti, zum Fried hof. auf dem der Leser seine E rfahrungen mache auf Kosten ttes Autors wie der Lebende anstelle der Toten. schreibt S.artre anstelle Valerys. "qui publiait depuis vingt-cinq ans des livres posthumes"�l. Der zu Lebzeiten posthume Autor \'erschafft sich einen ebenso minimalen wie esoteri�chen Rückhalt in dt'r thematischen Fixie rung auf einen "je gegenwärtigen Wahrnehmungsraum". der einer übersichtlichen, n icht zum komplexen Publikum denaturienen G ru ppe hermeneutischer Interessen Ic.'n vor A u gen führt. was Valery selbst "meine mediterrane Erfahrung" nennt S4 • Man le5L', was den 7.ur Norm erhobenen ' regard marin' .lngeht. ausführlicher i n den
Inspirations meditrrraneennes: \\ V�I. G. Poulet, Lt' pu"" Jr djp,," ( r tud !!'� sur le tempi humain 1 1 1 ) , Paris 1 964, S. U f! . \� V g l . lC't7.t H . 8I u m e nbC'r t::. A,hm .. m Mythol. Frankfun 1 979, S. 680f. (anhand G i d e s
P,o",jthjr ",.. 1 .. "rh ..i"r ) ; su"·,!!, 7ur mooC'rnC'n Funktion der ' A i !ithr!ii§' H. R. Jauß. Alth""rhr frf"h"mg ,mJ I,tC',.. ·
rurhr Hrrmr"rllt,. 1 S. 1 ]6 . .. J I'. Sanre, "Qu'rn . .:r qur Ia linc'r.ll t urr�" In 51111"'10"1 1 1 , Pan� 1 9·48. S. 78 f ; "gl. lU V alr l)' h'rr au.;h "Qurs!lon .Ir mcthuJr" ( 1 958), in e'",q"r Jt' t.. 1"""0" J,.. It'r1"1Ilt' I . Paris 1 %0. S. Hf. (bC'\'or IC'r l u r l'f\tl."n Flaubl."n · A nafpr ubrrgrht ) . " Vg,1. K Luhmann. " F.infa.. hr SoliahystC'mC''' ( 1 972), in 50Z1oJogurhr AIl!.t.'1l"8 1 1 , OpladC'n/Koln 1 �75, S. 2 6 ; J. Riurr, " l.ands.. haft" ( 1 %]), in 5llhjr.titJit4t, h ankfun 1 974, S. 1 R] f.
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ANSELM HAVERKAMP
Frag�n wir u n s e i n wmig, wie e i n philosophischer Gedanke 7ustandc kommi ? W a s mich betrifft, wenn i c h mir d i c s c Frage sielle, so f ü h l e ich m i c h . k a u m daß ich e i n e A n l w o n versuche. 50fon an den Sirand irgcndC'in� wunderbar bdcuchu::lcn Meeres versetz t . Dun finden �ich die wahrnehmbaren Ingrcdicn7.iC'n. die' Elemente (oder A limenu:) des SeelenzuSlands vereinigt. in wclchm'i der allgemeinste' Gl-dankc. die umbsscndslC' Fragt' loufkcimcn kann: Licht und Weite, Muße: und Rhythmus. Durchsichtigkeit und Tidc . . . C . . . ) Was COf siC'hl. nellt ihm vor Augen. was cr seincm WC'scn nach bcsitun odcr wünschcn klonn. Un\'crschcns C'r7.cugl der Anblick deos Mccrcs in ihm ('Incn viel �.. C'ilC'r �ichcndC'n Wunsch als C'incn solchcn. den die Erlangußg C'inC'r be-sondC'rC'n SachC' be-friC'digC'n könntC'. E r ist Wlt vtrfühn. wiC' C'ingC'WC'iht in dC'n univC'rsalC'n GC'dankC'n . . . Es ist be-kannt. daß hintC'r all unsC'rn AbstraktionC'n solchC' pC'rsönlichC'n und C'inziganigtn ErfahrungC'n stC'hC'n; allC' AusdrückC' des hochst absuaktC'n DtnkC'ns summen aus dC'm ganz einfacheon. vulgarC'n Sprachgtbrauch. sind ihm von uns abspenslig gC'macht. um damit zu philaso phiereon. ( . . . ) Solcheo Schöpfung von Absuaktioneon. dieo wir au� dC'r SprachgC'schichtC' kC'nneon. findeot sich auch in unseorn peorsönlicheon Erfahrungeon ; und eos iS1 dtr gltiche Vorgang. durch dC'n diC'seor H immd. dieoseos MC'C'r. dieoSC' Sonneo - alleos. was ich sOC'be-n dit reoineon EIC'meontt deos Tageos gtnannt habe- - konteomplativC'n GC'istC'rn dit VorstC'lIungC'n von UneondlichkC'it. Ticofeo. Erktnn1nis und vom Umvtrsum eoingtgtbtn . . habe-n. diC' immtr schon Gcoseonstand deor mtuphysischC'n odC'r phpikalischC'n Sptkulation wareon ( . . . ) AIIC' dieo wtsC'ntlicheon FaktorC'n dC'r turopäischcon Zivilisation sind dcomnach Produk1co dicoseor Gcogcobc-n hC'iten. d . h . daß lokalco Gegcobe-nhcoi1con trkC'nnbuco Wirkungeon von univC'rsdlcom Intercosst und Wen gcohabt habc:n. InsMsondcorco abcor stammt von dico5con Gcostadeon al� Entwurf oder Verwirklichung dC'r Aufbau dtr mconschlichcon Pcouönlichkcoit. dit Er'lC'ugung dcos Ideals dC'r volls1ändigsteon und '·ollkommconsten Entwick lung dcos Mconschcon. Dtf MC'nsch. das Maß dcof Dingco; dcor Mconsch als politischcos Eleomcon1. ab IkwohnC'r dtr Stadt; dtr MC'nsch als rtchufähigcos Wcoscon; dC'r Mcons(h. dC'r vor Gott und sub spC'Cico ae1ernitatilo. dtm Mconschcon glcoich ist. all diC's sind fast ganz lich mC'ditCOfranC' Schopfungcon. ( I . S. 1 00J ff.)��
.� Nach K . Lowith. P."I V"lrry. S. 1 09. 1 1 0. 1 1 2 ( K ur:t.ungtn in Klammtrn '·on mir); vgl. khan Jico Einwandt von I�. R. Curtius. f"ropäuche L"er.'"' .. nd L.'emucheJ Milleul'er. Beorn 1 94 8 . S. 2 7 1 .
G Ü NTHER BlJCK
L E CIMETI E R E MA RIN D E UTSCH (Zu den übertragungen von Rilke und C u rtius)
übert ragungen - man sagt mit Emphase ' übertragung', nicht ' übersetzung' eines Gedichts, als ob damit eine besonders respektvolle und sorgsame Art des Transports gemeint wäre, so wie man einst etwa Rel iquien aus einer Kirche in eine andere übertragen hat - übertragungen also scheinen besonders tugend - und verdienstvolle übersetzungen zu sein. Was eine übersetzung ohnehin zu sein hat, nämlich getreue Wiedergabe eines sprachlichen Sinnes in einem anderen Medium, das scheint man von einer übertragung nicht nur im selben, sondern im gesteigerten Maß zu erwar ten. Zumindest w i rd man zugeben, die übertragung müsse, wie weit sie die Sprach gestalt auch verändere, wenigstens sinngetreu sein. Gerade sie, die ' schöpferisch ' so vieles anders machen und anders sagen muß, darf den Sinn d u rch den Transport nicht verändern, so wenig wie das etwa die übersetzung eines internationalen Ver trags darf. Sie darf nicht, aber tut sie es auch nicht? Faktisch geschieht diese Verände rung doc.:h, wie jeder Zeitungsleser weiß, schall bti dtn übersttzungen von interna tionalen Vert rägen, so daß die existierenden Versionen alle schon Interpretationen sind , - I nterpretationen ohne einen überlegenen und verbind lichen G rundtext. Warum sollte das im Fall der übertragung von Gedichten nicht auch so sein? Indes !lii e n, e!lii ist nicht so ! I n der Literatur gibt es nämlich immer einen verbind lichen G rundtext, und insofern ist das Vertragsbeispiel schlecht gewählt. Es trifft die Sache nur insofern. als es zeigt, daß verschiedene sprachliche Bedeutungs-'Systeme' in der Tat verschiedene Ebenen der I nterpretation 'desselben Sinnes' sind, gesetzt. ein sol cher identischer Sinn sei überhaupt intendiert. Er ist intendiert, wenn man sich über die Sprachgrenzen hinweg über ein gemeinsames gegenständliches Drittes verständi gen w i l l . Aber wollen Gedichte derartige!lii ? Und will es eine übertragu ng? übertra gungen reklamieren doch in der Regel das Recht 'schöpferischer' Nachdichtung, d. h. einer sprachlichen Verbesonderung, eines Absehens von allgemeinem gegen ständlichem Sinn! - für sich. Sie sagen nicht nur 'dasselbe' in einer anderen Ausle gung ent sprechend der in der anderen Sprache w i rksamen "Weltansicht" ( H u m buldt), sondern sie p roduzieren cin anderes sprachliches Ding! U n d d a s i s t , wie m a n w e i ß . nicht nur e i n e Frage d e s fleißigen Gebrauchs v o n Wörterbüchern. Dennoch. es ist auch eine Frage des Gebrauchs von Wörterbüchern, will sage n : d e r möglichst getreuen Wiedergabe. U n d es i s t in d e m h i e r interessierenden besonde ren Fall einer übertragung aus dem Französischen ein Problem der Wiedergabe des durch die Eigenart des Französischen bedingten und dort vorherrschenden ' gegen ständ lichen' Sinnes. Nachschöpfung hin oder her: Valery-übertragungen müssen,
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GÜNT H E R. B U C K
w i e sich zeigen wird. primär übersetzungen sein. Transport gegenständlichen Sinnes in eine andere sprachliche Unterkunft. Auch der Nachschöpfer, gerade er, muß den Buchstaben stehen lassen. auch dann . wenn cr ihn in die Musik seiner eigenen Sprache setzen w i l l . Beginnen w i r gleich m i t einem Beleg für diese These ! I c h exemplifiziere a" Strophe I : Rilkes übertragung arbeitet hier ohne Wörterbuch und ohne Rücksicht auf syntakti sche Zusammenhänge. Aus dem Dach . wo sich "Tauben" zu Fuß fortbewegen "marcher" meint keine bestimmte Fortbewegungsart, sondern ganz neutral irgend eine Weise von Fortbewegung auf einer Unterlage - wird eines, wo sich Tauben "finden". Nehmen wir an, das meine nicht "befinden" - was eine preziöse Böhma kdei wäre -, sondern sich treffen im Sichkreuzen der Bewegunge n ! Rilkes Version wirkt dann geradezu schulmeisterlich ausmalend und präzisierend, wo es Valery ausdrücklich bei dem unbestimmten "marcher" hat bewenden lassen. Pedantisch ausmalend ist auch die Wiedergabe von Vers 2 . Unerklärlich, wie aus dem "palpi ter", dem glitzernden Wabern der Meeresfläche "schwingend verbinden" wird ! Rilke ist hier auf eine subjektive Vorstellung hereingefallen : links das Grab, rechts die Pinie, und dazwischen der Schwung der Meeresfläche. Dan das Verbinden nur so "scheint", verrät die Absicht, die überdeutlichkeit zu mildern ; aber es ist in Wahr heit eine zusätzliche Festlegung, die uns über die Ängstlichkeit des übersetzers informiert. Der gerechte M ittag, der aus Feuern das Meer immer neu komponiert (Valery), tut bei Rilke sprachlich etwas ganz anderes : er bescheint das Dach. Vers 4 , der das Objekt zur Tätigkeit d e s "composer" aussagt, wird isoliert als A u s ruf ge nommen. Dafür - schlimmer Verdacht ! - übersetzt Rilke den Halbsatz von Vers 3 so, als stünde hier: " . . . compose des feux". Midi beim Zündel n ! Und die unaufhörli che " Komposition" des Meeres wird ein "immer neues Schenken". Wie wahr, aber wie wenig wörtlich ! Der Zwang, zu "Denken" ein Reimwort zu setzen, hat uns hier etwas gan7. und gar Rilkesches beschert. Daß es auch relativ wörtlich geht, zeigt Curtius. Er hat die Verse 3 und 4 als syntaktische Einheit behandelt. Und doc h : bei Cunius " schreitet" die Taube, und bei ihm ist, ganz wie bei Rilke, das "Dach" des von hier oben als Schräge wahrge· nommenen Meeres in einer räumlich ausholenden Bewegung gesehen, während es bei Valery als zuckende Oberfläche erscheint. Warum " schreitet" die Taube? Das tut so ein Tier doch normalerweise nicht! Meine durch Morgenstern bestärkte Verm u t u n g : d a s raffinierte Tier tut's um d e s Reimes willen. Treuer scheint beim ersten Hinsehen Curtius auch an folgenden Stellen im Ver· gleich z u Rilke z u übertrage n : Vers 30: H ier ist Valerys Lieblingsmotiv d e s "changeme m " am Rand des in sich ruhenden Meeres als die "Wandlung, die den Strand zennürbt " glücklich getroffen im Vergleich zu dem, was Rilke da phantastisch 7.usammenstoppelt. Vers 4 4 : "aux sources du poeme" heißt in der Tat "an der Dichtung Quellen", nämlich am U rsprung des Dicht-Werks. I m Hinblick auf Valcrys Po'i etik ganz will kürlich und ausschweifend ist Rilkes "an einem Herzen, das mich doch gedichtet" .
LF. C I M ETIERE MARIN DEUTSCH Ganz abgesehen vom Schwulst dieses Bildes : was 5011 das "doch" ? Da ich mich an diese w i rklich schwierige Strophe gemacht habe, muß ich indessen auch sagen, daß R i l kes übertragung von Vers 45 im Vergleich zu derjenigen von Curtius meisterhaft und höchst präzis Valerys po'ietologische Idee trifft. Curtius' "des Werdens Drang" ist vermutlich gelehrte Anleihe aus Cohens Kommentar. Aber "evenement pur" ist, bezogen auf " poeme" vermutlich ein Synonym von "acte pur". übrigens ist Rilke auch i n Vers 46 mit " innre Größe" näher an Valerys Buchstaben geblieben als Curtius mit den " inneren Prächten", die mit dem Echo nicht auszuloten sind . Vers 71 ("La vie est vaste, etant ivre d'absence " ) : Das ekstatisch von Nicht Gegenwart trunkene Leben ist nicht, wie Rilkes Version nahelegt, enthusiastischer E x istenzüberdruß, sondern die sich in ihre eigene Zeitlichkeit verlierende Existenz, deren radikale Endlichkeit hier zur Sprache kommt. - Ganz in der Nähe w ieder ein Plus für Rilke: Vers 74 spricht wirklich, wie Rilke wiedergibt, vom Trocknen des Geheimnisses (des feuchten Lebens), nicht aber einer Wunde, wie Curtius w i l l . Vers 93 ("Le s e in charmant qui j o u e avec le feu " ) : Curtius ist a u c h i n galanten Sachen ein bißchen genauer als Rilke. Zwar bleibt auch hier ein Rest von U nsicher heit bezüglich des Busens, "der gern die Glut ertrug" . Aber das ist doch näher am Spiel mit dem Feuer als Ri lkes "süße Brust, die glüht und sich erfrischt". Vers 101 ("MOl presence est poreuse" ) : Ist Rilkes "Mein Dasein ist voll Poren" dem Text Valerys adäquater als Curtius' "Mein Dasein bröckelt" oder ist diese Wörtli(.hkcit nur pl u m p ? Daß die heilige U nged uld '·ein�ehl'· . finde ich sehr polS send gesagt u nd besser als Curtius' pathetische Rhetorik. Vers 1 2 1 : Ri lke hat vielleicht gewußt. daß unon aus Elea gewesen ist; wenn nicht, hätte er es bei Valery erfahren. Warum läßt er das Attribut weg? Professor Curtius hat es h ingesetzt und einen Reim darauf gemacht, der gar nicht schlecht ist. Welchen Vorzug hat das Wort " E l ea" ( " E l eate") außerdem noch? Vielleicht hat bei Valery "Zcnon d' Elee" nur eine musikal ische Funktion. Wer den Ausdruck übersetzt. der muf�. da " E Ica" im Deutschen ein schlechtes Reimwort ist. sich sehr anstrengen, etwas Musikalisches aus " Eleate" 7. U machen. Curtius hat's geschafft. Und Rilke hat sich durch Weglassen des ganzen Umstands auch ganz gut aus der Affäre gezogen. Noch eine Frage : Curtius hat seine übertragung zeitlich nach Rilkes übertragung geschrieben. ganz offensichtl ich auch unter dem Eindruck. den Rilkes Leistung ge macht hat. Weshalb hat er Ri lke eine eigene Version gegenübergestellt und publi .... iert? Um den großen Nachschöpfer. dem unter der Hand so viele 'seinige' Töne entschlüpft waren, zu korrigieren ? I ndessen ist Curtius von Ri lkes Sprache ganz deutlich beeind ruckt und fügt sich ihrer Autorität an manchen Stellen ohne Um stände. Beispie l : Rilke überträgt den Vers 68 mit seiner berühmten Onomatopoesie eigenwillig mittels der Assonanz von " Käfer" und "Säge " ; ebenso. mit nur leicht veränd e rter Wortstellu ng. löst Curtius die Aufgabe. er behält auch das Reimwort "träge " bei. Und ganz ebenso. nämlich sich anhängend an Ri lkes recht un-wörtl iche O bertragung, gibt er Vers 76 wieder (Rilke: "denkt in sich selbst und ist sich selbst zum Lohne " ; Curtius : "denkt sich in sich und wird sich selbst zum Lohne"). Ist es
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G Ü N TH E R
BUCK
d e r Zwang durch d a s Reimwort " Krone" ( f ü r "diademe"), der Curtius h i e r v,m Ri lkes Lösung überzeugt hat ? - Auffallend ist auch die bis in die Reimworte rei chende Parallelität der heiden übertragungen in den Versen t 1 2 - 1 1 4 ! Endlich : Weshalb wird ' L e ' Cimet;ere Marin, dieser bestimmte. topographi.s.:h identifizierhare Friedhof ü ber dem Meer, zuerst bei R i l ke, dann bei Curtius z u eintm beliebigen " Friedhof am Meer" ? Vielleicht deshalb, weil in Rilkes Text, der uns vorliegt, Valerys originaler Titel schon ohne den bestimmten A rtikel abgedruckt ist? Cuniu5 ist Philologe gewesen. Hat er das nicht gemerkt? Und warum hat er, 'ilric Rilke, zusammen mit dem bestimmten A rtikel auch gleich noch das Pindar-Motto u nterschlagen? " Die Ruthe her! Die Ruthe her ! " hat Lessing aus ähnlichem Anlaß in seinem " Vademecum" für den Pastor Lange, einen Horaz-Obersetzer, geschrieberl.
IV Z U M P R O B L E M D E S N O R M AT I V E N U N D D E R A P P L I KAT I O N
R F .l N H A R T H f. RZOG
VERG L E I C H E N D E B E M E R K U N G E N ZUR TH E O L O G I S C H E N U N D J U R I ST I S C H E N A P P L I KAT I O N ( a m Beispiel zweier Auslegungen v o n 2 . Sam. 1 1 )
(I 1 2. Sam. 1 1 - 2 Theologische Au,lei:ung - J Juristische Au�lei:uns - 11 Vorbemerkungen - 1 1 1 I fall Peri kope- - 2 Narrni\'e Suuktur - J Umfanj;; Re-alitat - -4 'X'ahrhe-ilSkriterien - 5 Telltkonstitution _ IV 1 0.1\ Apph kauunsohjekt des Urteils; Reduktion von Narr;ui\'it�t - .2 Du Applikationsobiekt der Pred igt ; Transform.anon \'on Narrativit.it - V 1 Der henneneutische Pro;leß "on Fall zum Uneil - .2 Der henne· ne-um.:he PruHß \'on der Perikope lur Pre-digt - VI I Erg:lnl.ende Thew:n - .2 Die Ablosung der .applikati. ven dur.:h die hinorisch·kritische Hermenc:utik)
1 Da sandte David Joab und seine Knechte mit ihm und das ganze Israel. daß sie die Kinder Ammon verderbten und Rabba belagerten. David aber blieb zu Jerusalem. U nd es begab sich. daß David um den Abend aufstand von seinem Lager und ging auf dem Dach des Königshauses und sah vom Dach ein \'<'eib sich wasche n ; und das Weib war sehr schöner Gestalt. Und David sandte hin und ließ nach dem Weibe fragen. und man sagte : Ist das nicht Bath-Seba. die Tochter Eliams, das Weib Urias. des Heth iters ? Und David sandte Boten hin und ließ sie holen. Und da sie zu ihm h i neinkam, schlief er bei ihr. Sie aber reinigte sich von ihrer Unreinigkeit und kehrte wieder zu ihrem Hause. Und das Weib ward schwanger und sandte hin und ließ David verkünd igen und sage n : Ich bin schwanger geworden, David aber sandte zu Joab: Sende zu mir Uria, den Hethiter. Und Joab sandte Uria zu David. Und da Uria z u ihm kam, fragte David, ob es mit Joab und mit dem Volk und mit dem Streit wohl stünde? Und David sprach zu Uria: Gehe hinab in dein Haus und wasche deine Füße. Und da Uria z u des Königs Haus hinausging, folgte ihm nach des Königs Geschenk. Aber Uria legte sich schlafen vor der Tür des Königshauses. da alle Knechte seines Herrn lagen. und �ing nicht hinab in sein Haus. Da. man aber David ansagte : Uria ist nicht hinab in sein Haus gegangen. sprach David zu ihm : Bist du nicht über Feld hergekommen? Warum bist du nicht hinab in dein Haus gegangen? U ria aber sprach zu David : Die Lade und Israel und Juda bleiben in Zelten, und J oab. mein Herr, und meines Herrn Knechte l iegen zu Felde. und ich sollte in mein Haus gehen, daß ich äße und tränke und bei meinem Weibe läge? So wahr du lebst und deine Seele lebt, ich tue solches nicht. David sprach zu Uria: So bleibe auch heute hier; morgen will ich dich lassen gehen. So blieb Uria zu Jerusalem des Tages und des andern dazu. Und David lud ihn. daß er vor ihm aß und trank. und machte ihn trunken. Aber des Abends ging er aus, daß er sich schlafen legte auf sein Lager mit seines H errn Knechten, und ging nicht hinab in sein Haus. Des Morgens schrieb David einen Brief an Joab und sandte ihn durch Uria. Er schrieb aber also in den Brid : Stel let Uria an den Streit. da er 30m härtesten ist. und wendet euch hinter ihm ab, daß er ersch lagen werde und sterbe. A l s nun Joab um die Stadt lag, stellte er Uria an den On. wo er wußte. daß streitbare Männer waren. Und da die Männer der Stadt herausfielen und stritten wider Joab. fielen etliche des Volks von den Knechten
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REIN HART H ERZOG
Davids, und Uria. der Hethiter. starb auch. Da sandte Joah hin und ließ David ansagen allen Handel des Streits. Und der Bote sprach zu David : Die Männer nah men üherhand wider uns und fielen z u uns heraus aufs Feld ; wir aber waren an ihnen bis vor die Tür des Tors ; und die Schützen schossen von der Mauer auf deine Knechte und töteten etliche von des Königs Knechten ; dazu ist Uria, dein Knecht, der Hethiter. auch tOt. David sprach zum Boten : So sollst d u zu Joab sage n : Laß dir das nicht übel gefall e n ; denn das Schwert frißt jetzt diesen, j etzt j enen. Fahre fon mit dem Streit wider die Stadt, daß d u sie zerbrechest. und seid getrost. Und da U rias Weib hörte, daß ihr Mann, Uria. tOt war, trug sie Leid um ihren Eheherrn. Da sie aber ausgetrauen hatte, sandte David hin und ließ sie in sein Haus holen, und sie ward sein Weib und gebar ihm einen Sohn. Aber die Tat gefiel dem Herrn übel, die David tat.
( I ) Die Ereignisfolge dieser Geschichte hat schon vielen Anstoß gegeben, und so hatte ich mir eine Auslegung in drei Teilen vorgesetzt. Zunächst für die Heiden : die all z u menschliche Verfehlung w i rd nicht bestritten ; betont wird die Buße für die Verirrung. Für die Juden: der heilige David ist gestrauchelt, auf daß die Juden ihn nicht mehr für den Sohn Gottes halten. Für die Christe n : man kann hier das G e h e i m n i s der wachsenden K i r c h e erkennen. Demnach - gestern habe ich den J uden genugsam Bescheid erteilt - jetzt zu Euch, geliebte Brüder. Welcher Sinn m u ß für die prophetische Geschichte angegeben werde n ? (2) Wiederholen wir n o c h einmal die Textfolge d e s Geschehens: David verfiel , als er Bathseba, die Frau des Uria, sich waschen sah, in Liebe zu ihr, dann ließ er sie zu sich befehlen, während ihr Ehemann abwesend war. Bald darauf ist ihr Mann 7.ur Berichterstattung über den Kricg zu rückgekehrt, ein Mann der frommen und skru pulösen Pflichterfüllung - hielt er es doch im Kriege nicht für recht, scin Haus zu betreten, während seine Kameraden, in den Kampf verwickelt, nicht in ihren vier Wänden wohnten, sondern im Felde biwakierten. Später hat ihn Da"\'id wiedc:r ins Feld gesch ickt, versehen mit der Anweisung, ihn den feindl ichen Kriegern aus:t.u!>l."t zen; d u rch den Tod des Mannes wollte der König sich freie Hand schaffen, das Weib zu besitzen. So starb U ria vor dem Feind ; die ihn aber getötet hauen, wurden später, nach E i nnahme ihrer Stadt, auf Befeh l Davids umgebracht. Soweit der Ablauf des Geschehens. Und in ihm kann man tiefgründ ige Geheimnisse ausmachen. (3) Wenn ich mich nicht irre, kann man unter dem Propheten (sc. David) den Heil igen Geist verstehen, unter der Ehebrecherin aber die häufige Un7.ucht der Synagoge. (4) Erkennt ein anderes Geheimnis, wenn Ihr Euch erinnert, daß Bathseba z u nächst, im Ehebruch, ein Kind empfing, d a s starb ; daß d a n n aber, in legaler F. h e , Salomon geboren w u rde. D a v i d , der Prophet, i s t das prophetische V o l k . Dies zeugt mit der Synagoge ein K ind - das jüdische Volk, das, in Schanden empfangen, bald entartete und nicht das Mannesalter, das Alter der Auferstehung, erreichte ; es stirbt in der Kindheit der U ntugend . I n legaler Ehe aber wurde der friedfertige Salomon. die Christengemeinde, empfangen. (5) Ein d rittes Geheimn i s : David bedeutet hebräisch : der Gedemütigtc - Jcsus (vgl. Ph;1. 2 , 6 11.), (6) David also spaziertc in seinem H aus. Was kann dieses Haus Christi sein, wc:nn
T H E O LOGISCHE U N D J U R I STISC H E ApPLI KATI O N
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nicht jenes, in dem viele Wohnungen sind (Joh. 1 4 , 2 ) ? Aus d iesem Palast sah er die menschl iche Natur nackt und erbarmte sich ihrer voll Liebe. Entblößt von allen Tu genden war sie, seit die Schlange sie des Kleides ihrer ursprünglichen Natur beraubt hatte. (6a) Denn das hat doch keine Wahrscheinlichkeit, daß sich vor dem Haus des Königs ein Weib gewaschen haben sollte - als hätte es keine geeignetere Waschgele genheit gegeben. Das paßt doch nicht ; da stimmt etwas nicht ; es stimmt auch nicht mit dem G l auben überein; es ist nicht die Wahrheit und widerspricht der Vernunft. Ein so lockeres und freches Weib hätte der König verabscheut, nicht geliebt. Ja, konnte sie denn nicht wenigstens, wenn schon nicht die Blicke der Männer, so doch die des Königs scheuen ? Mußten denn nicht die Diener des Königs sie verscheuchen, bevor er sie bemerkte ? Wenn also die Geschichte nicht glaubwürdig ist, m ü ssen w i r fragen, w a s jene 'Nacktheit' bedeutet. (6) (Fortsetzung) Sie bedeutet die Nacktheit der menschlichen Natur, entkleidet der H ü lle der Unsterblichkeit, beraubt des Schleiers der U nschuld. Denn auch unser U rvater hat ja vor der Sünde nichts von seiner Nacktheit gew u ß t ; erst danach be merkte er sie und glaubte sie mit Laub bedecken z u müssen. I n d i eser Weise nackt sieht Christus sie - und er l iebt sie. So l iebte er auch Lazarus und Maria, so liebt er seine K i rche, obgleich sie nackt ist, noch nicht bedeckt mit dem Schmuck der Tu genden. (7) Jetzt sehen wir, daß dem Aufbau unserer A uslegu n g auch die Geschehensfolge in der Schrift entsprich t : die Kirche, nackt und bedürftig, eilte hin und w u sch sich vor dem Hause Christi, als Johannes im Jordan taufte und auf Christus h i n w ies. Bei der B ußtaufe sucht das Volk Christus - die Nähe seines H auses. Die Ankünd igung Christi fordert die K i rche \o'on Johannes (Zitat von Cant. 1 , 1 7) und spricht " d u nkel bin ich und schön" (Cant. 1 , 5). Da hast du den G rund für die Wasch u n g : wir sind dunkel, wenn Christus uns nicht sieht; sieht er uns, werden w i r weiß. So sah er sie denn u n d l iebte sie. (8) Von den skandalösen Umständen eines Ehebruchs ist hier nicht die Rede, sondern von den Geheimnissen der Keuschheit. A u s dem gleichen Buch (sc. Cant.) erfahren wir, daß sie sich nicht nur wusch, sondern ihn sogar anrief (Cant. 7, 1 1 H.). Sie reizt ihn, lockt ihn an und spricht: "Ich reiche d i r meine Brüste" (Cant. 7 , 2 2 ) . S i e h , w i e sie g l ü h t und s i c h sehnt; sie fleht ihn an, i n ihr Haus z u k o m m e n (Cant. 8 , 2 ) . D i e Kirche nämlich ist ein verschlossener Garten, eine unbefleckte J ungfräu l ichkeit. (9) So begehrte Christus seine Kirche und dachte darauf, sie zur Frau z u nehmen. Weil sie aber noch unter dem Gesetz stand, mußte er u n s erst von den Fesseln des fleischlichen Gehorsams lösen. Zwar ist das Gesetz skrupulös und gerecht - w i e U r i a . A l s Uria aber erfuhr, d a ß David, der s i c h Demüt igende, mit der K i r c h e vereint war, ließ er von der Vereinigung mit der Synagoge ab und ermöglichte so die künf tige Ehe. So trägt auch Johannes den Typ des Gesetze s : er verkündet " Bereitet dem Herrn seine Wege" (Mt. 3 , 3), prophezeit die Ehe der K i rche - und auch er findet einen gewaltsamen Tod . Denn das Gesetz und die Propheten reichen bis auf Johan nes. Als Typ des Gesetzes wird also Uria getötet. A l lerdings hat Christus nicht die Gesetzesverbindlichkeit abgeschafft. Deshalb hat nicht David den U ria getötet, son dern seinen Tod im Felde geschehen lassen. Das bedeute t : er läßt es zu, daß der auf Gesetzesglaube ruhende Kuh durch die Zerstreuung der Juden entheiligt werde. So bedeutet U ria auch 'mein l.icht'. Was aber ist Christi Licht anderes als Gesetz und Evangel i u m ? Das Licht verminderte sich bei den Juden seit der Zeit des Evangeliums bis zur Blindheit.
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R EIN HART H ERZOG
( 1 0 ) Ein letztes Geheimnis bleibt noch. Ich bitte um konzentriene Aufmerksam keit. Achtet jetzt nicht auf meine WortWahl, sondern den Sinn ! Natürlich : ein Ehe bruch und ein Totschlag liegen vor. Aber damit ist es doch so wie mit dem WOrt an den Propheten : " E i n Zweig vom Mandelbau m " (jer. 1 , 1 1 ). Die Mandel ist zuerst bitter, dann han, innen weich und fruchtig. So hört Ihr in der Geschichte Biueres, im Typ ist Hanes z u bewältige n ; aber im Geheimnis (mysterium) könnt Ihr Fruchtba res erwarten. Ich sage also: Der Ehebruch ist ein Heilstyp. Nicht jeder Ehebruch ist Sünde (Zit. Hos. 1 , 2). Allerdings, von Gott selbst wage ich kaum den A usdruck 'heiliger Ehebruch' z u gebrauchen ; vielleicht kann man es vorsichtig - freilich nicht klarer - durch "frommes Bei lager' umschreiben : die Tatsache nämlich, daß das Wort Fleisch ward. Dies Geschehen umschreibt auch jene Hochzeit des Hohenliedes zwi schen Christus und der Kirche. Zu Bathseba hat Christus sich gesellt, sich mit der Fleischwerdung auf ihrem Lager buhlerisch ei ngefunden - um den wahren Ehebruch z u bestrafen . Da sie noch unter dem Gesetz stand, mußte gestorben werden : um s i e v o m Gesetz z u befreien, um a l s o d urch j e n e n T o d gleichsam e i n e E h e d e s Gesetzes mit dem Fleisch z u scheiden. Und so starb durch den Tod des Uria Christus dem Fleische ab. ( 1 1 ) So ist das Geheimnis figural, die Sünde historisch. Wir sind es, die, vom Gesetz des Todes geschieden - gleichsam eine neue Kebse Christi -, i n der Ehe des Geistes auferstehen werden. Aber verlaß Du dich nicht nachlässig auf d iese Verhei ßung; sie hängt an einer Bedingung. Scheue dich nicht, deine Sünden z u bekennen . Auch David hat s i e bekannt. Wenn D u d ies Wort d e s Herren beachtest, w i rd auch Dir ein Sitz i n der Ewigkeit frei bleiben. Ambrosius, Apol. David altera, 3 1 -68 u . I n Lue. 3 8 f . (gekürzt)
A . Das Betrachten der Bathseba im Bade. Eine Strafbarkeit ist nicht gegeben. B . Der Beischlaf I . Ehebruch ist tatbestandsmäßig erlüllt, doch ist diese Nonn (§ 1 72 StG B ) durch Art. 50 Nr. l des I. StRG vom 25. 6. 1 969 (BGBI. 1 645) aufgehoben worden. - 1 1 . Dadurch, daß D m i t B d i e E h e gebrochen hat, könnte e r d e n U beleidigt haben, gern. § 185. Angriffsobjekt der Beleidigung ist die Ehre. Ein Ehebruch - auch wenn d ieser nicht mehr strafbar ist - bedeutet eine Beleidigung des anderen Eheganen d u rch den Ehebrecher l • Für den subjektiven Tatbestand reicht bedingter Vorsatz aus. Eine besondere Beleidigungsabsicht ist nicht erlorderlich. D konnte damit rechnen, daß U s ich durch den Ehebruch beleidigt fühlen wird. Er hat somit zumindest bedingt vorsätzlich gehandelt. Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe sind nicht ersichtlich. Beleidigung gern. § 1 85 w ird nach § 1 94 I nur auf Antrag verlolgt, wobei nach Abs. I , 5. 2 das Antragsrecht auch auf die Angehörigen eines Verstorbenen übergeht. C. U in D's Haus I . Dadurch, daß D den U dazu bewegen wol lte, sich zu B zu legen. könnte er sich einer Personenstandsfälschung gern. § 1 69 strafbar gemacht haben. wenn U dahingeL
H . A . Pauli. "Zur Strafbarkeit ehebrecherischer Handlungen", In /lmJt;Jchr R."dsch•• 7 1 . 5. 194.
THEOLOGISCHE UND J U RISTISCH E ApPLIKATION
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hend getäuscht werden sollte, daß das zu erwartende Kind von ihm gezeugt sei. Tathandlung ist, daß der Täter ein Kind unterschiebt. Im vorliegenden Falle ist aber noch kein Kind geboren, so daß die Haupttat nicht erfüllt ist. Es könnte somit Versuch gegeben sein. Zwar ist d ieser gern. § 1 69 I I strafbar, doch hat das RG2 entschieden, daß ein totgeborenes Kind keinen Personenstand hat. Daran anschlie ßend stellt sich die Frage, ob ein Nasciturus einen solchen Stand begründet hat. Das ist nach hM der Fall, da ein Personenstand schon durch Zeugung begründet wird. Die Tatbegehung des § 1 69 verlangt aber, daß ein Kind einem anderen so zugespielt w i rd, daß der andere es fälschlich für sein eigenes hält. Diese Tatmerkmale sind zum Zeitpunkt der Tat noch nicht gegeben, da U noch keine Kenntnis von der Schwänge rung der B hat. - Eine Strafbarkeit nach § 1 69 ist nicht gegeben. - 1 1 . Dadurch, daß D den U betrunken gemacht hat, könnte er eine Körperverletzung nach § 223 begangen haben. Objektive Tatbestandsvoraussetzung ist es, daß jemand körperlich mißhan delt oder an seiner Gesundheit beschädigt worden ist. Eine körperliche Mißhandlung ist hier nicht ersichtlich. Fraglich ist, ob eine Gesundheitsbeschädigung vorliegt. Als solche w i rd jedes Hervorrufen oder Steigern eines - wenn auch nur vorübergehen den - pathologischen Zustandes definiert3• Das Trunkenmachen des U muß a150 ein körperliches Unwohlsein bewirkt haben. Das RG (DR 42, 333) hat bejaht, daß die Erregung von Trunkenheit Gesundheitsbeschädigung ist. Auch hat D zumindest vorsätzlich gehandelt. Die Tatbestandsmäßigkeit indiziert die Rechtswidrigkeit. Schuldausschließungsgründe sind nicht ersichtl ich. - Du rch das Trunkenmachen des U hat D eine Körperverletzung gern. § 223 begangen. D . Der Tod U's l. Dadurch, daß D den U an die Stelle in der Schlacht stellen ließ, "wo sie am härtesten ist, daß er erschlagen werde und sterbe" , könnte er einen Totschlag in mittelbarer Täterschaft begangen haben, §§ 2 1 2 , 25. Der objektive Tatbestand setzt den Tod eines Menschen voraus. U ist i n der Schlacht gefallen. Kausalität ist zu bejahen, denn hätte D den U nicht an diesen Platz stellen lassen, könnte U noch leben. Nun hat D den U aber nicht selber getötet ; es stellt sich daher die Frage nach seiner TätersteIlung. Hier könnte mittelbare Täter schaft i . S. d . § 25 gegeben sein. Kennzeichnend für die mittelbare Täterschaft sind fol gende Kriterien : a) das Zwischenschaltu ngselement; d . h . die Herbeiführung des unmittelbaren Taterfolges muß von einem anderen Menschen geschehen sein. Hier hat ein feindlicher Soldat den U getötet. Dieses Element ist somit erfüllt ; b) das Steueru ngselement ; d . h . der unmittelbar Handelnde muß Werkzeug sein. - ba) Letz teres ist hier problematisch. Würde man eine objektive überlegenheit des H i nter mannes (D) über den Vordermann verlangen, so kann mittelbarer Täter nur sein, wer das Verhalten seines Werkzeugs tatsächlich beherrscht"'. Für diesen Fall müßte der gegnerische Soldat, der den U tötete, von D abhängig gewesen sein. Das ist zu verneinen. Der Soldat war nicht von D , sondern von seinem eigenen Feldherrn abhängig. Wenn eine Beherrschungsmöglichkeit durch den Hintermann nicht gege ben ist, so scheidet nach dieser Meinung die mittelbare Täterschaft des D aus. Diese Verneinung führt konsequenterweise zur Prüfung der Anstiftung des Vordermannes durch D . Für die Anstiftung muß die Haupttat tatbestand s-rechtswidrig und vor sätzlich begangen worden sein. Der Soldat hat rechtmäßig gehandelt. Des weiteren RGSt 43. 5. 404. , F. Dreher. 51GB. Mun,hen '�1 97S. § 223 Rdn 6 . H . · H . Je�,h("k. Lthrb",m Jes 5tr4r«hrs - AUgtmt",tr TtlJ. Berlin : P J72. § 6 1 V h. § 62 1 2 .
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muß das Bestimmungselement gegeben sein, d . h., der Entschluß des Täters muß durch den Anstifter hervorgerufen worden sein. Auch dieses ist zu verneinen, da der Soldat nicht den Entschluß hatte. U umzubringen, sondern seine Stadt zu verteidi gen. Somit ist D auch kein Anstifter. - bb) Stellt man nur auf das Ingangsetzen fremden Handelns ab5• so wird die rechtliche Qualität des Handelns des Vorderman nes unerhebl ich. D hätte hiernach als mittelbarer Täter gehandelt. - bc) Demgegen über ist darauf abzustellen, ob der H intermann subjektiven Steuerungswillen gehabt hat', Wenn D glaubt, den Soldaten voll in der Hand zu haben, so bleibt er mittelbarer Täter selbst dann, wenn der Vordermann nicht von D gesteuert worden ist. Es kommt also nicht auf den Beteil i gungsstatus noch auf die rechtliche Qualität des Handeins des Soldaten an. Entscheidend ist allein der subjektive Steuerungswille des D, und der ging dahin. daß U ums Leben kommen sollte. - D hat den objektiven Tatbestand des § 2 1 2 in mittelbarer Täterschaft erfü llt. Der subjektive Tatbestand verlangt Vorsatz. D hat den U an diese Stelle setzen lassen. damit er sterbe. Er hat somit vorsätzlich gehandelt. Rechtfertigungsgründe sind nicht ersichtlich. Ein Schuldausschließungsgrund könnte sich daraus ergeben, daß D als oberster Kriegs herr weisungsberechtigt ist und seine Soldaten dort in die Schlacht schicken kann. wo es nötig ist. Ein Soldat hat damit zu rechnen. in einer Schlacht zu fallen. Das wußte auch U . Nun geht aber aus der Weisung des D an Joab hervor. daß sich die anderen Soldaten von U abwenden sollten, so daß dieser allein auf sich gestellt war. Das Einsetzen des U an dieser Stelle ist aber kein militärisch-taktisches Manöver, das zum siegreichen Ausgang der Schlacht nötig gewesen wäre. Dieser Entschuld igungs grund kann also somit nicht eingreifen. - D hat einen Totschlag in m ittelbarer Täterschaft gern . §§ 2 1 2, 25 begangen. 11. Hier stellt sich die Frage, ob D mit seiner Tat auch eines der besonderen Mord merkmale des § 2 1 1 erfüllt hat, so daß er ein Mörder sein könnte. - Mord ist eine besonders verwerfliche vorsätzliche Tötung7• Diese ist dann gegeben, wenn eine der Tatmodalitäten des § 2 1 1 11 vorliegt. Als Mordmerkmale könnten Handeln aus nied rigem Beweggrund. in der Begehungsform der Heimtücke oder mit dem Ziel. eine andere Straftat zu verdecken. in Betracht kommen. Niedrige Beweggründe sind dann gegeben, wenn sie als Motiv einer Tötung nach allgemein sittlicher Anschauung verachtenswert sind und auf tiefster Stufe stehen'. Nach BGH NJW 55, 1 72 7 sind sie auch dann gegeben, wenn die Tötung eines Ehegatten zur Gewinnung eines anderen Partners geschieht. Tatfrage ist also: wollte D durch die Tötung des U die B gewin nen, wollte er das Kind legitimieren, oder wollte er den Ehebruch verdecken? Wenn D die B gewinnen wollte, so wäre ein n iedriger Beweggrund gegeben. Es ist aber zu beachten, daß angesichts der Stellung des D und der in den beteiligten Kreisen herrschenden Anschauungen ein Mord zur Gewinnung einer (weiteren) Ehefrau nicht erforderlich war; das gleiche gilt für den Aspekt der Legitimation des zu erwartenden Kindes. - Fragl ich ist, ob die Ausfüh rungsweise heimtückisch war. Heimtückisch handelt, wer die Arg- und Wehrlosigkeit eines Opfers zur Tat aus nützt9• U stand im Felde und mußte damit rechnen zu sterben. Er war sich seiner Lage bewußt. und es ergeben sich keine Anzeichen auf eine Einschränkung seiner natürlichen Abwehrfähigkeit und -bereitschaft . Auch die Tatsache, daß U in der �
E . Schmidhäuser, Stra/rtchr - AlIgrmrmrr Tri/, Tilbingen : 1 975, S. 1 4 , S. 4 7 ff.
� A . Eser, Strafrechr II -jllnstlSchrr Srlldirl1JutrJ, Miinchen : 1 976, S. 1 2 5 /
1 D rrh rr , StGB § 2 1 1 Rd n l . I BGHSr 2 , S. 6l, l, S. l ll. � BGHSr 2 , S. 2 5 1 .
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Schlacht allein gelassen werden sollte. spricht nicht dagegen. Wie sich aus dem Sachverhalt ergibt. " fielen etliche des Volks von den Knechten Davids" . Das läßt auf einen A usfall des Gegners schließen. so daß U nicht - wie geplant - gänzlich allein gelassen wurde. Die Tatbegehung war also nicht heimtückisch. - Es muß davon ausgegangen werden. daß D den Tod zur Verdeckung des Ehebruchs veranlaßt hat, bevor dessen Folgen nicht mehr verheimlicht werden konnten. Der Irrtum über die Strafbarkeit der zu verdeckenden Tat (Ehebruch) ist nach BGHSt 1 1 , 226 für § 2 1 1 unerheblich. - D hat einen Mord in minelbarer Täterschah begangen. E. D hat sich des Mordes in mittelbarer Täterschaft an U gem. §§ 2 1 1 , 2 1 2 ; 2S und einer Körperverletzung gem. § 223 in Realkonkurrenz nach § S3 strafbar gemacht. § 2 1 1 bestimmt in Absatz I S. 1 für den Mörder die lebenslange Freiheitsstrafe. Da keine zeitlich begrenzte Freiheitsstrafe gegeben ist, kann nicht auf eine Gesamtstrafe erkannt werden. Deshalb w ird neben der Strafe aus § 2 1 1 auf eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen für die Körperverletzung erkannt.
11 Die beiden vorstehenden Texte wirken, besonders in ihrer Zusammenstellung. auf den heutigen Leser der Bibel in hohem Maße befremdend. Man hat den Eindruck, hier w i rd mit einer alten Geschichte gänzlich unsachgemäß. ja närrisch umgegangen. Das beruht ",oh l auf dem U mstand. daß keiner der kompetenten Fachleute, weder der J u rist. noch der Theologe, heute diesen Text in dieser Weise ernsth3h aus legt der Literatur"' issenschahler, ex officio interdisziplinärer Narr. hat diese Auslegun gen teils selbst erstellt (1 3)1'. teils nach älterem M3terial formul iert ( 1 2), nachdem er auf die eng verwandte hermeneutische Struktur juristischer und theologischer Text applikation aufmerksam geworden "'ar. Das Faktum ...·erdiente nähere Betrachtung: es gibt eine Art hermeneutischen Rück:r.ugs beider Fachdisziplinen aus der Applikation historisch ferner Texte. und es hat seine GrÜndl'. Die Rechtspraxis hat es mit einer I nterpretation der jüngsten. noch nicht verjährten Vergangenheit zu tun; das Objekt der Re..:htsanwendung steht im Perfekt und überläßt das Verstehen der dogmen- und institutionsgeschichtl ichen vollendenten Vergangenheit der Rechtsgeschichte. Die Grenzlinie der beiden herme neutischen Bezirke l 1 aber hat sich mit dem übergang von gemeinrechtlicher Pandek tistik z u den Kodifikationen auf die Gegenwart hin verlagert; h iervon zeugt das umstrittene Erbstück der Digestenexegese ll, generel l das Abdrängen ' l i terarisch -hi storischer' Fäl le in die Didaktik. - Der ' praktische' (d. h. die Schrift seelsorgerisch
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applizierende) Theologe - und zwar der evangelische wie der katholischeu - vermei det seit Jahrhunderten ein breites Texthand heilsgeschichtlich und damit homiletisch ' toter' Panien des AT - zu ihnen gchön auch 2 . Sam. 1 1 -, die er entweder der historisch-kritischen Exegese (der Literaturwissenschaft und A rchäologieH), oder unter 'theologischem' Gesichtspunkt allenfalls einer " Geschichte des Glaubens unter Gottes Erziehen . . . auf das Evangelium hi n" l s überläßt - also einer der Rechtsge schichte analogen vollendeten "Glaubcnsgeschichtc". G. von Rad, der diese "ver hängnisvolle Reduktion" thematisicn hat I', sicht in ihr "den Verlust des Bezugs weiter Teile des AT auf die im NT bezeugten Fakten" beginnen ' 7 , Der (Literar-}H istoriker, dem so das E rbe früher in die Applikation eingebunde ner Texte zugefallen ist. könnte daran erinnern. daß einmal beide Fachdisziplinen gerade 2 , Sam, 1 1 auf höchst aktuelle. und zwar politisch-verfassungsrechdiche Pro bleme angewendet haben, Die Frage nach der rechtl ichen Verantwonlichkeit des absoluten H errschers w u rde z u Beginn des 1 5 , jh . in Frankreich auch mit einer A uslegung der David-Uria-Episode und deren Ahndung d u rch den Propheten Na than (2. Sam. 1 2 ) verbunden I ' . U nd die A uslegung des Ambrosius selbst ist - was man dem Text u nvorbereitet nicht ansieht - ein w ichtiges E lement in der überw i n dung des konstantinischen Absolutismus im weströmischen Reich gewese n : wie jüngst gezeigt w u rde19, stammt sie aus einer Predigt des Mailänder Bischofs gegen Theodosius, der sich nach dem Massaker von Thessalonike 390 auf David berufen hane20• Ambrosius, der schon Herodias und j ezebel auf die arianische Kaiserin J ustina appliziert hane. spiritualisien - in dem 1 2 wiedergegebenen Text - den bibl ischen König, nachdem er seine Sünde und Buße zuvor auf den anwesenden (noch unbußfenigen) Kaiser angewendet hane21 ; die öffentliche Applikation. vom Kaiser erkannt C'de me praed icatus es" 22), zwang zur Kirchenbuße. "Oe me praedicatus es" - das Getroffensein d u rch die Schriftanwendung - wie das " D u bist dieser Mann" Nathans (2, Sam. 1 2 . 7) - das Getroffensein durch die RechtsU
Zu dem - der Siluation der Digesteneaegese vergleichbaren - E rbstuck der kathol ischen �en§u§ ' plenior-Debal1e v g l . E . Biser, Thro/oguchr SprtJchthrorie ""d He,.",r"eNtilt, Munchen 1 970. I h r gehön die theologische Exegese z u 2 . Sam 11 in den lelzlen J ahren ausnahmslos a n : L Rmt. Die Oberliefer""g vo" drr Thro"".chfolge D.lVid" Slul1gan 1926; R. N . W h ybray, The S"ccrnlO" NtJ,.,.. r;ur, London 1 96 8 ; T. Veijola, Dw ru/'ge Dy_me, Hdsinki 1975 ( u m n u r die Monographien lU nennen). n G. v . Rad, GeJ.""",r/u S,Nd,e" ZN", Alu.. Tr".""r"r, Bd 2. München 1 9 7 1 , S . 2 79. 11> Ebd. S . 272 ff. in dem A u fsatz "Typologische A uslegung Im Alten Tutamen t " ; die Zilate S . 278 und
I.
S. 279. I' Ebd. S . 276.
11
Vgl. M . P. G ilmore. ArgN""MrJ from Ro,"" " u.u' ", Pol.r,c.1 Tho"ghr 1100- 1600, Cambridgel Mau. 1 94 1 . S. 2 2 f .
I . F . Claus, " L a datalion de L'Apologia David" , i n A",bronNJ Epucop"J 2. M ai l and 1 976, S . 161ft. 10 Paulinus Mediolanensis ( Paolino d i M i lano), VII. Ambrou; - Vir. di S. A",brogio, ht;. M . Pdlegrinu, U U
Rom 1 96 1 . S . 2 4 . U nd z w a r in d e m 'an die Heiden' seflchteten Teil der Predigl (vIL o. Kap. 1 2. daution" S . 1 77 . V g l . Ambrosius, Ep,.,,,Ltr 4 1 . 2-26.
I ) ; h i e r z u F . Claus, " L a
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anwend ung - indizieren allerdings, was jenseits aller h istorischen Wandl u n gen u nd Anwendungsreduktionen in beiden Disziplinen der vielleicht gleiche, jedenfalls ver gleichenswerte Kern aller Praxis geblieben ist : die Applikation eines textlich formu l ierten Sachverhalts. Der Hinweis auf die verwandte hermeneutische Struktur beider Applikationsverfahren stammt nicht erst von Gadamer) ; er w u rde in der Rechtswis senschaft schon seit längerem angedeutet24• Wenn im folgenden, soweit ich sehe, zum ersten Mal der Versuch unternommen wird, ein j u ristisches und ein theologisches Applikationsverfahren an einem gemeinsamen A usgangstext z u vergleichen, so wird sich zeigen, welche traditionellen Fixierungen diesem Vergleich bisher im Wege standen. Ein solcher systematischer Vergleich wird sich in d iesem Rahmen oft der gedrängten Versicherung von Thesen. formal der alten Gattung der Parallele nähern. Er wird nach folgenden Aspekten unternommen : I) Auszulegender Text (lU), 2 ) Anwend u n gsobjekt (IV), 3 ) hermeneutischer Prozeß (Verwandlungsphasen vom ausgelegten Text zum auslegenden Text) (V).
III 1. Ausgangsort der theologischen wie der j u ristischen Applikation ist ein gleicherma ßen strukturierter Text - eine Schriftperikope oder ein Fall. hier als gemeinsame Basis 2 . Sam. 1 1 . Diese Feststellu n g unterscheidet sich bereits von allen Andeutun gen. die vor und nach Gadamers Hinweis über die Verwandtschaft von theologischer und juristischer Hermeneutik gemacht w u rden : d u rchweg w u rden Schrift und Ge setzestext als die selbstverständlichen Vergleichsgrößen vorgeschlage n ; d i e Herr schaft der historisch-kritischen Hermeneutik ließ es als selbstverständlich erschei nen. daß von ' A uslegung' nur gegenüber den normativ vorgegebenen U rkunden gesprochen werden konntels. I n dieser Tradition aber lag offenbar das Hemmnis, die Hinweise auf die Gemeinsamkeit der Applikation in einer vergleichenden U ntersu chung des A pplikationsprozesses z u konkretisiert n ; e i n e !'lolche i s t sogar f ü r unmög lich erklärt worden21o• 2 . Am Beginn des Applikationsprozesses steht ein gleichermaßen strukturierter Text - in der Regel nämlich ein narrativer Text. Die A u snahme ist sogleich z u nennen : die Schrihexegese vermag a u c h auf syntaktischen Einheiten eine Applika tion aufz ubauen, die unterhalb des narrativen Minimums (etwa im Sinne A . C. Dan tosP) liegen. Im übrigen stellt die Textbasis auf der theologischen Seite in diesem :J �'..h,ht"" 'md Mt"lhoJ�, TublnKen 1 1 96S, S. 292. VKI. F. . J:ornhoff, Rt"ch, ,,,,d Sp,.cht", Ndr. Darmsu.dl 1 964 ( 1 940/4 1 ) und die H i nweise auf ähere Liltr,uur bei H. H u z , R�chlJJp,.cht" ,md j"nstischt"f 8t"'"", SIUUP" 1 963, S. 39.
l' !'
l' :-
Dem entsprichl, daß dit hislarisch - kritischen A uslf1l;ung51hf"Orien beider Fachhermeneuliken ('sub Itkuvt', 'obiektivt' und 'Vereinigungstheorie'; Diskussion um I nspiruionlmodi seil der ' U rkunden h y pothe�e') a m ehulen konvergieren. So H . Hat:r., Rt"omsp,.m t" S . 39. 1 ,00".. IY" '0I1 PhJoJophy o{ Hutory, Cambndge 1 968, S. 216.
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Stad ium noch kein Problem dar. Anders der juristische ' Fall ' : h inter d iesem vieldeu tigen Begriff verbirgt sich - für das Stadium der Appl ikationsbasis - die im allgemei nen durch ' Lebenssachverhah' bezeichnete Realitätsw iedergabe unmittelbar vorB jeder Prägung durch juristische Relevanz. Daß es sich hierbei stets um eine 'Ge schichte', eine Erzählung handelt, ist von der Rechtswissenschaft - im U nterschied zur antiken Rhetorik19 - bisher eher beiläufig10 und durch die fehlende Kenntnis der Narrativitätsforschung methodisch u ngleichmäßig)! berührt worden. Erst K . Stierle hat auf das ungeheure pragmatische Textkorpus d ieser formulierten Sachverhalte u nter dem Aspekt der Narrativität aufmerksam gemacht'2, 3 , Umfang und Abgrenzung der Perikope wie des Falles sind variabel; auch unter d iesem Aspekt erfüllt der Fall stärker die narrativen Erfordernisse der Begrenztheit, der Individuation und der prinzipiellen UnwiederholbarkeitH, Unter dem Horizont der Applikation wird auch der U nterschied z wischen ' Realität' u nd 'Buch' i n beiden Disziplinen vordergründig: das Theologoumenon vom "Wort Gones" d rückt eben den Wirklichkeitsaspekt des in der Schrift Offenbarten aus : die Bibel "ist nicht als Buch Gones Won"'4 i und andererseits hat sich die gleiche Textslru ktur i n Sachver halt wie Literatur immer wieder daran erwiesen. daß literarische Texte j uristischer Applikation unterworfen wurdenH• 4 . Eine überraschende Nähe zeigen die Basistexte i n beiden Disziplinen u nter dem Aspekt des Wahrheits- und Beweiskriteriums. Die komplexe, in den einzelnen Rechtsgebieten unterschiedliche Balance des Verfahrensrechts zwischen erkenntnis fördernden und erkenntnisbegrenzenden Regulativen für den richterlichen Zugang zur Wahrheit des Sachverhalts - auf der einen Seite die Untersuchungsmaxime im ZR
Z u r Problrmatik dir�r� 'unmindbar \'or' sowir drr Ablfrnnbarkrll r i n n 'yorrC'Chdichrn' Faktrnkllm, plrXC'� �. u . Kap. 1 1 1 5 . ,. Vrrwirsc-n s r i a u f dir Disku",on innrrhalb drr Statuslrhrr ( r i n.. chlagig in d r r rntr Stat US, d r r ntox,uo, �;) und vor allrm auf dir lrhrr drs Hrnnagoru von drr VoraUSSrtlung rinrr causa, drr :l:EQimnOl;, au� drrrn sirbc-n Trilrn in drr Prog)'mnumatik dir nrbc-n drr ariSiotdischrn ßrgrifflich krit rln ... !:r 'narrat.yr Throrir' in drr Anlikr au�grbildrt wurdr. 50 Hirrl.U W . A . Schrurrlr, " BrilräKr 7.um Problrm drr Trrnnung von Tat· und Rrchnfragr", In A rch IV !/ir dir c11JlliuiJe/n Pr.u,J 1 5 7 ( 1 958/59), S. 20 und R. Damm, " Norm und Faktum in der hisltJrischen F.ntwicklung drr jurislischrn MrthodrnJrhrr", in Rrchwhror,r 7 ( 1 976), S. 2 1 9. 11 Srit Savignys "Stoff" und "that .. ächlichrr Bnirhung in sich" bis zu drn " kalrgorial grordnrlen Umständrn" ( K . larrnz, MrthoJr"/rhrr Jrr RrrhuUJIJJr"Jeh4', Brrlin 1 1 969, S. 215; hirr wird u n br wuSt dir JlfQlmoOl; wonlich wirdrrholt) und zur FormalisirrunK als "UP - Unlyrl'"\r of Proprrul'i" bei C. F. . A lchourröniE . BulYl;in, Norm.11TH SYJtrrru, Nrw Y urk 1 97 1 , S . 22 H. I: "Grschichtr .als Exrmplum - F. x r m p l u m ,als Grschichte. Zur Pr,agm,allk und Poetik n,arr,atiYrr Tntc", in CrJeb,chtr - Errl'''u ""d Erz;;h l" "" hgg. R. KosdlrcklW . · D . Slempd, Munchrn 1 9 7} (Porl l k und Hrnneneutik V), S. l 5 l f . Dir iuriSlisch interrssirne LingUistik hat den FaJhnt berrlls als Problem gekenn7.eichnet; ygl. H. Brinckmann/H . Riesrr, "Paraphrasen juristischer Texte - Bericht ubrr und Bemerkungen l U einem interd isziplinären Rundgespräch", in Rrchwhrorrr 1 ( 1 972), S. a l . ' I Hervorgehoben v o n H . Lipps, Dir Vrrh",dlichltrit Jr r Spr.ebr, Frankfun 1 9 4 4 , S. 4 7 .... 9 . .� R. Hennann, B,h r/ .. "J Hrrmr"r,.,ilt (Gesammelte und nachgelassene Werkr Bd 3), Goltingen 1 9 7 1 . S. I I I . 1 \ A m ausfuhrlichstrn m . W . i n drr Sune fur Slenr iudizirrrnden Applikation von hu,t I und 1 1 N-I F . Müller, D.I Rrch, ,,, Cort/nJ F."lt. Brrlin 1 9 1 1 .
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Strafrecht. § 1 3 1 ZPO, überhaupt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO ; § 286 ZPO), auf der anderen die Verhandlungsmaxime, Zeugnisverweige rungsrecht von Nächstbeteiligten, Beschränkung von Erforschungsmitteln. Instan zenzug16 - führt den applizierenden Richter bei einer Vielzahl von Fällen in eine Situation, in der Zweifel an der Wahrheit des Vorgebrachten irrelevant bleiben müs sen, z u Rechtsanwendungen. bei denen, nach einem WOrt A, Wachs)', die Feststel lung der Wahrheit nicht das Prozeßziel ist, Dies aber ist auch die Situation des appl i zierenden Theologen : in der Schrift "fallen Tatsachenzeuge und Wahrheits zeuge zusammen " )I; die Schrift, i n langer hermeneutischer Trad ition als 'Zeugen' und ' D okumente' verstanden. stellt damit die Frage nach ihrer 'Maßgeblichkeit'19 und führt so vor einen 'hermeneutischen Zirkel'40, Die Lösung bietet, wie im Recht, die I nstitution : wo das Zeugnis anerkannt wird. "da ist christliche Kirche" (K. Banh); u nd die Kirche hat über die vorliegenden 'Zeugnisse' hinaus keine Er m ittlu ngsmöglichkeit - non datur nova revelatio i n ecclesia4 1 , Wo Ambrosius Einzel heiten der historia von Bathseba unwahrscheinlich. unvernünftig erscheinen. wirkt dies eher als hermeneutischer Impuls (vgl. o. I 2, 6 a). Der kirchliche Exeget geht gleichsam nach der Verhandlungsmaxime vor. 5 , U nterschiede zeigen sich unter dem Aspekt der Fixierung der Textgestalt, der Textkonstitution, Endgültig und unnachgiebig formuliert ist die biblische Perikope vorgegeben; "Die U nveränderlichkeit der Bibel und ihre Nöte" lautet der bezeich n�nde Titel einer theologischen U ntersuchung41, Wo aber ist die Textgestah des Sachverhalts definitiv fixiert? Gibt es hier überhaupt im Normalfall eine faßbare Textgestal t ? I n der Tat ist die narrative Oberfläche des formulierten Sachverhalts offen und nur als Momentaufnahme aus einem Selektions- und Rekombinationsfluß darzu!ll t ellen, der erst unmittelbar vor der Verarbeitung durch rechtliches Vorver ständnis und durch Projektion auf Normbegriffe zu einem - ersten - Stil lstand gelangt. Diese Beweglichkeit ist der Jurispruden7 - vornehmlich unter dem Thema 'Trenn barkeitstheorie'4} - wohlvertrau t. Schon im vorrechtlichen Ereigniskonstrukt �ibt es eine beständige - und parteiliche - Zuordnung zu " sozialen Begriffen"44 und ,�
Vgl. K . l.arenz. Mtthodt"lt:ll rt S. 240n., K. Engisch, f",/ifhrltng ", d,1t IltriJlIJc-ht Dtnlttn, Stuugarl � 1 97 1 , S . 5 2 1 . , K. Michadi�, "Du:, F.nlscheidung" , in Ft.uc-h r'/t l:.'. R. Hltbtr. Gouingtn 1 97 J , S . J 1 4 ff . Gbt-r neucre Tenden/.tn zur Bc\chrmkung \'on richlerl..:her Tah�hcnc:rfonchung s . R . Damm, " Norm und FaklUm" S . 2J6ff. Zur rhetofl\chen Tradlllon der zi\'ilrechtlichcn Be"'cisla\tregulauvt vgl. G. Ouc, "Zwanzig Jahrt T(lpik-DiskuS!ilOn". in Rtc-hWhtor.t 1 ( 1 970), S. 1 9 1 . ,. Zit. n:u:h K . Lare:n 7 . MtlhoJtnlthrt S. H 2 f . " H . D i e m , " D i c Schnfu.uslegung .1 1 \ du IhC.'Ologl5
•�
Vgl. vur allem. i n Ause:l n.ande:rscl7.ung mit K . Banh, F. . Fuch\, Htrmtntlttllt, Tübingtn 1 9 7 0 , S . J If . E l ngeht'nd hierzu H. D,t'm, "Die Schriftausltgung" 5 . 5 9 f f .
' 1 Vgl. L . d e Grandmai5(1n, Lt dogmt chrilltn, Paris 1 92 8 . 5 . 262 . • : R. H e: rm.ann. Blbtl 'mJ IItrmtntltlllt S . 1 1 0 ff
" Vg!. d i e: Ihemati\<:he UntcfSuchung "'. A . Scheutries (O. A n m . 10). Par.ad�bcisp,d 1'1 dcr ' H undthiß f a l l ' ; \·j;,I. K . Luen l , Mtthodtnlthrt S . 2 1 5 . .. G . Radhru.:h. " R�,huid('e: und Re:.:hl�SIOff"', in Ftmelmlt J('J Arch,t'J IMr RI',hllphlloJoph.t ( 1 924), S 1 M9
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" Benennungswahrheiten" über die Operation " begrifflicher AssimiliC'rungen" 4�; es handeh sich hier um Vorgänge der Textkonstitution. die dem Literaturwissenschaft Ier yenraut sind. Was sie für die Textarchäologie von 2 . Sam. 1 1 bedeuten können, in denn auch durch eine Vorgeschichte der Konstitution dieses Textes in Romanform bei Stcfan Heyrn ( König David Bericht, 1 970) unübenrefflich demonstriert worden : hinter der Textoberfläche von 2 . Sam. 1 1 wird ein Geschiebe von Untcr5uchungspro tokollen. versteckten Keilschrifnafeln. zum Schweigen gebrachten Zeugen und kon troversen überlieferungen vorgefühn, das nur innerhalb einer zufälligen I nteressen konstellation zum abschließenden Bericht an Salomon erstarn. Eine die Faktendar stellung zunächn abschließende Textfonn vor dem Ansetzen rechtlicher Maßstäbe ist in der Tat bei jeder Fallapplikation anzunehmen. Voreilig allerdings wäre es. sie als definitiv (weitere Fakten diskriminierend ; die Textoberfläche fixierend) zu dekla rieren... . ebenso voreilig andererseits. eine narrative Konnitution vor jedem Nor menvorverständnis überhaupt zu leugnen - hierzu besteht in der sich noch immer mit dem Subsumtionsideal auseinandersetzenden Jurisprudenz starke Neigung47• In nerhalb der Zuordnungsprozesse bei der rechtlichen Würdigung kann es stets zu einer erneuten Offnung des Textes für Faktisches kommen4'. Man hat daher die abschließend fixierte Schriftperikope vergleichsweise als möglichst nahe an die recht liche Interpretation herangerückte Abbildung des Sachverhalts anzusehen.
IV A m Ende des Applikationsvorgangs steht die Einwirkung auf sein Objekt. den Betroffenen. Die Geschichte des Ausgangstextes muß irgendwann einmal ' z u E nde erzählt' sein und in Handlungszwang münden: ein pragmatischer Sprachverlauf, den wir eben mit ' A nwendung' bezeichnen. Unter diesem Aspekt treten erhebliche Dif ferenzen zwischen I 2 und I 3 zutage. 1. Der Rechtsfall ist bereits Erzählung vom Handeln des Betroffenen; im Fall wird über das Applikationsobjekt eine Geschichte erzählt. Im Prozeßverfahren w i rd diese Geschichte, durch begriffliche Transpositionen und semantische Besetzungen49 zu nehmend eindeutiger in die Sprache (rechtlicher) Wertungen transformien und da mit auf Handlungsfolgen zugespitzt, immer weiter - und zwar öffentlich - erzählt, bis sie sich i m reinen Konstrukt von Rechtsbegriffen bewegt (' Beischlaf', ' B eleidi gung', ' Mord') und aus dieser letzten narrativen Hülle - den " u ngesättigten H älften .\ W . A . Sch�u�rl�. "B�ilr;ig�" S. 21 ff. ; R. Damm. "Nonn und Faktum" S. 129 . .. So W . A . Sch�u�rl�. "B�itr;a,�" S. 29 . Vgl. di� Diskussion b�i W. A. Sch�u�rl�. " B�itr;a,�" S. !; I ; Th. H�II�r, Logilt ,."d AJtlologie der .".tlo· ge" RerhtJlf"wemJ""g. B�rlin 1 96 1 . S. 6 7 ; Th. S�ib�n. " Von Sprachg�g�n5t;and�n zur Sprachr von iuri5li5rh�n Grgrn5t2.nd�n". in Arrh,,,, litr RerhlJ· "M Sozwlphl/oJoph,e 58 ( 1 952), S. 5C; R . Damm, "Nonn und Faktum" S. 2)) . .. Hirnu U . Kap. V I . •• Hirrzu u . Kap. V I .
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von Geschichten" im gesetzlichen TatbestandSO - in d4s reine Pr4gm4 der vom Rechtssetzer und ·beherrscher gewollten Rechts/olgen (Snafe, Anspruch, Klagerecht usw.) umschlägt. Also eine Reduktion von Narrativität, die aus der anfänglichen Entlastung des Besprochen·Werdens mit der Zuspitzung auf den pragmatischen U m schlag das Fall subjekt immer stärker 'belastet', bis es durch den Imperativ des Soltenss, zum A nwend ungsobjekt wird : 'die Geschichte' endet lange vor den letzten Ermessensentscheidungen (wie Konkretisierung des Strafrahmens)s2. Der gesamte sehr ziclgerichteteH - Vorgang setzt die U nterwerfung der Beteiligten unter die Rechtsordnung vorausS4; die Applikation kann deshalb durchaus als auf das " eigene" Handeln gerichtet verstanden werdenss. Auch der sich absolutistisch gerierende David beugt sich dem Recht, nachdem ihm Nathan seine 'Geschichte' in das rechtserhebliche Konstrukt vom 'Diebstahl' am ' V ieh' des 'annen Mannes' (die Rechtsfabel 2 . Sam. 1 2 ) nansfonnien hat. 2 . I n der Schriftperikope der Predigt handelt noch nicht der Betroffene; in der Schri/tfJerltiindigung wird dem Applilrationsobjeltt eine Geschichte erzählt. Sie wird ebenfalls öffentlich - u nter semantischen Transfonnationen!tft so lange erzählt, bis sie die Bedingung nennt, unter der sie ""om Applik4tionsobjeltt h4ndelt. Diese eigentüm . liche Differenz zur Fallanwendung verdient nähere Untersuchung. Sie nifft noch nicht das Gesamtphänomen ; auch ist noch nicht die Verschiedenheit der Ad ressaten berücksichtigt (v gl. I 2 , 1 ) . Wenn Theodo!tius sich - v o r I 2 - a u f David beruft u n d d e r Prediger diese Beru fung gegen den Kaiser kehn, wenn Ambrosius, wie viele vor und nach ihm, die Schrift auf die Gegenwan anwendet, etwa J ustina als die ' wahre' Jezebcl anprangen, so liegt hier eine - sich zwischen Exemplum und Typologie bewegende - geschichtli che Identität zwischen Schrifnext und Anwendungsobjekt vor, die sehr wohl der rechtl ichen (logischen) Identität von Fallsubiekt u nd Anwendungsobiekt entspricht : in der Schrift wird über den Benoffenen eine Geschichte erzählt. Zugrunde liegt die ' Hermeneutik Jesu' und die ihr folgende neutestamentliche Fonnulierung p leromati. scher und typologischer Geschichtsidentifikationen. I n Jesus Christus kommen die Geschichten der Schrift an ihr Ende, ein Ende der Heils.Deutung - diese Geschich ten geschehen daher alle 'jetzt' in der Verkünd igungsgemeinde des eschatologischen
�: K. Stu:r!t. ""GC's .. hi .. hu: al5 F.xC'mplum·' S . .\51 1 . �I Oll: Tunsformalion m§ PUj;m;l wird in d r r J U fllprudrnz v o r ,dlrm u n t C' r d r m rrt"hIlJogilchC'n As�kl drr · l m pruli\·lhrnnr' rrortrn (,·gl dir Obrn",hl bei K . f.ngisch, fi"f"hr""g S . H " ) . Daruber hin ;lusgrhrnd ; H . lny. Ruh,."onn ""J f""ch�IJ""g. Bulm 1 929, S. 1 6 ft. und F. . B�ni. AUg�",�i,,� A ",l�g""gll�hr� ,,11 M�rhoJJt J�, G�lfr�JwiJl�1Ifch4r�", Tiibing�n 1%7, S. 6 1 1 . ': E n l diC'1 i u . w i t Th. H t l ltr. LogJt S. 1 0 1 ;lusfuhn. das EndC' dtr 'sprachlichtn' RtchllanwC'ndung. " A u...h 'ur drn Rtchu;anwtnd C' r : hirrhu gthllrtn dol5 JustizvtrwC'igtrungsgC'bol und Si looff. ZPO. ,. Hic"f1u d i e: DlSkunionC'n d n . Anrrktnnunguhtorie:'; vgl. dit BrmC'rkungC'n E . Btuis, AJlgr",r",� A"Jl�g""gJl�hrt S. 601. " Vgl F . Wluckrr, p,.nlltrrtchrsg�Jchlchu Jrr Nr"ztu, Golllngtn 1 1 967. S. 1 5 Anm. 7 . .... \"r",·lnC'n 'ie:l llne:de:rum ;au' K;lp. V 2.
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Äon, d� ofI� 'ta 'tt>.." l'00v aloovW'V xa'ti)vnptEV ( I . Cor. t O , 1 I )!>7. Wer i n diesem Horizont das AT verkündet, wendet es auf Gegenwart und Zukunft an - so z uerst in breitem geschichtlichem Umfang Paulus i n seiner Exodusdeutung. so später vor allem i n der extraskripturalen Typologie der christlichen, insbesondere chiliastischen Geschichtsspekulation�l. I n dieser Applikation wird Narrativität nicht reduziert. sondern als Handlungsrnaßstab und vor allem Handlungsprognose auf die Realität projiziert. Der pragmatische Zwang ist bei dieser Verkündigung nicht weniger stark als beim Rechtsurteil: 'Jezchel' ...·ird (und soll) umkommen!>'). Auch auf David-Theodosius könnte dieser typologische Zwang (etwa als Projek· tion des Fluches 2 . Sam. 1 2 , 1 1 - 1 4 ) angewandt werden. Doch dies ist nicht die Applikation des Ambrosius - und es ist, wie man sagen muß, nur eine (in der Neuzeit weitgehend verschwundene) Randform der Schrihanwendung. Die durch Christus gestihete Schrihhermeneutik setzt, schon i n synoptischen Typologien er· kennbar, die Identität mit den Geschichten des AT nicht in einer kongruenten Super· position (Wiederholung) von Ereigniszusammenhängen an, sondern in dem meta phorischen ('geistigen') Ereigniszusammenhang der Heilstatsachen, der ' Heilsge. schichte' - erst in ihr wird nun von dem Ad ressaten der Verkündigung erzäh l t ; i n ihr erst ist er durch die sakramentale Teilhabe auch im AT anwesend. Es ist oft darauf h ingewiesen worden, daß diese hermeneutische Wandlung mit dem Erlebnis der 'Parousieverzögerung' zusammenhänge. Jedenfalls ist sie dadurch ausgelöst worden, daß die alttestamentlichen Geschichtstypen eben nicht mit Chri· stus zu Ende kamen in dem Sinne, daß ein definitiver Handlungseinbruch Gones i n die W e l t sie abschloß. S i e konnten - und m u ßten - weitererzählt werden - transfor· miert in Elemente einer Heilsgeschichte. Der übergang von der eschatologischen zur sakramentalen Hermeneutik bezeichnet auch den Wechsel vom unwiderruflich an· brechenden pragmatischen Abschluß der alten Geschichten60 zum Fonerzählen . Hei lsgeschichtlich transformiertes Erzählen d e r Schrift aber ergibt jene Form, wie s i e auch die Auslegung v o n I 2 i n w iederholten Ansätzen formuliert u n d wie sie s i c h seit den ersten narrativen Kernformen des NT, den ersten doxologischen Trad itionen bis zum 'apostolischen' Credo'" und den späteren - sämtlich erzählenden - dogmati. v
Nach wi .. vor 7.U yrrglrichrn : R. Bu hmann, " Ur\prung und Sinn ..Irr Typologir ah h .. rmenruti\o: ht·r Methode", in Th�o/a'lSC'h� L,ur.J,,,rult,,,,, 75 ( 1 950). S. 205ft. L Goppc-h. Typo., Ndr. Dann\I.adc 1969 ( 1 9)9) und jet1t J . O.anlrlou, tt"d�. d '�"j,r.� J"dja-C'hrjti�,,,,� , P.ari, 1 966 . ... Vor;r.uglio:he- Analyse- der leu:le-ren bei E . Meuthen, "Oe-r Ge-schichluymbolismu, Grrhoh .. von R e- . · chersbe-rg", in W . lammers (Hg.). G�"h,C'h,.d�lIlt�1I ""d G�fC'h,C'h,.b,ld '''' M",�L.lu", Dannsl.ldl 1965, S. 200 ft " Dem enlSprio:hl der hoo:hpolitische- und d.aher 7.U uberw.ao:he-ndc ChuH.ler diesrr Exrgcse bis lum Mindalter; \'gl. Genon, Prapo,i'lOlI�' dr '0'''''' li,..".I" prop. 7 : mil 'ge-bhrlichen' F.xttielCn "nun oponel age-re- curiosis r.l1Iocinalionibus. sed SI.lIUIIS punilionibus uti" (1.it. bc-i J.G. Rose-nmulle-r,
HutonA Jllt�rp�t.t'OIlIJ IIb"o""", UlC'I'or"", irr f(C'/�JI. C'hnJtU.IW, ",Jr .b I1po"% ,,,,,, .rt.,.., ",q"r
60 ••
.J Or',�"r"" Lrip7. • g 1 795- 1 8 1 4 . 8d 5 , S. 330f.). So noch in de-n synoptischen Typen 'Sodom' und ' N iniv(" . Nicht 7ufällig fä1lt de-r e-rue, auf dir Apostel proji7.icne. umf.angrciche-r rrnhhe dogmati�che Text mn der Ab�chlußphase- in de-r bibh�he-n K.anonbildung 1 us.ammrn; vgl. 7U diesem Zus.ammenh.ang O. Cullm.ann. 0,0' T,.dltlo" .1, r,,�g�tllC'hr., huto"lJr;hr, ""d thr% glfC'h�, Prablr"" Zunch 1 95 4 .
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schen G esamtformul ierungen entwickelt. Diese dogmatische Narrativität - auf ihre Transformationsvoraussetzungen von einer Schrifterzählung her ist noch einzugehen - erzählt von dem Adressaten, der der Gemeinde angehört; wie i n der U nterwerfung u nter die Rechtsordnung gilt auch hier ein Anerkennungsprinzip, das Verkünder wie Applikationsobjekt umgreift62 - übrigens auch dort. wo sich das Mitenthaltensein im narrativen Konstrukt des Dogmas auf eine 'existentiale Betroffenheit' red uz iert hat6l• Sehr charakteristisch ist jedoch in 1 2. 9 der U nterschied zum Zwang der Rechtsfolge bei der Destruktion von Narrativität im Urteil zu beobachten : dem Applikationsob jekt in der Gemeinde wird eine Bedingung gesetzt, die seinen Einschluß in die weitergeschehende und weitererzählende Heilsgeschichte sichert. Die Buße. i n der David - ganz unabhängig vom Tenor der vorausgehenden spiritualisierenden Ausle gung - ' w iederholt' werden muß, setzt noch einen Abschein der alten typologisch w iederholenden Geschichtsidentität ; für die außergemeindlichen Adressaten w ird sie aufs Exemplum reduziert . Die narrative Entlastung der biblischen Applikation endet in der Homiletik denn auch zumeist i n einer Identitätsverheißung vom Typ "wir sind die Kebse Christ i " ; das Korollarium von pragmatischen, die Auslegung aber nicht berührenden Bedingu ngen hängt zumeist von einem nicht zu übersehenden zeitgenössischen Kontext (Massaker in Thessalonike) ab. Eine Beschreibung der hermeneutischen Transformationen zwischen der Basisge schichte und der letzten narrativen Phase der ApplikationM mag d iese eher versi chernden Gegenüberstellungen erläutern.
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1 . Die abschließende rechtliche Umformung von 2. Sam. 1 1 lautet : "D. hat eine Beleidigung begangen; D . hat eine Körperverletzung begangen; D . hat einen Tot schlag begangen; D. ist Mörder"u. Abschließend insofern. als das Reden vom Fall hier zu Ende ist. Es begann mit der breiten vorrechtlichen, jedoch deutlich (wie der Kontext uigt66) auf das rechtliche Vorverständnis des Lesers hin formulierten Er�2
Vgl. E . Bt·ni, Al/gemtlllt A 'HlegN"gJiehre 5. 603 und T. B. Ommen, ·'The H,·rmtntUlic of Dogm;l", in Theologie.l Sr"dieJ 3 5 ( 1 974), 5 . 6 1 3 , 5 . 6 1 5 . Vgl. F. . Fuch�. HermtJ'leHtik 5. 6 1 : m;ln dürft· und musse predigen, "weil d;ls ubtr uns Enucheidtnde 'geschrieben' SIcht. Wir wären ;llso diC' WeSl:n, die in dtr Bibel, in Jesus Christus, zur 5prKht gtbucht wC'rden konnu:n, wtil Wir f;lktisch und ztntul durch die Fugt nKh Gott bcwrgt sind, wo immer die W;lhrhrit unserer Existenz ;luf dtm Spitl steh t · ' . M Als linguistisches rroblem fur die Sp;lnnung lw.schen n u u l i o des Tatherg;lngs u n d senlentia d e s U rtC'ils bC'reiu umrissrn v o n H . Weinrich, " " Nurative Strukturen in dC'r Geschichtsschreibung'·, i n GtJchichre - freigniJ lI n d frziihlHng S . 52 1 . � � lrl7tert FormuliC'rung n;lch drm ErfordC'rnis '·on § 2 1 1 I n. F. (stit 1 9 4 1 ) , dtr dit Rtchlsfolge ;ln drn �1C'"hrgriff "dC'r MordC'r" knürh - nicht rinC' "gtkilnndtC' Formulierung ohnC' s;lchlicht BC'deulung'· (H. Blti, Str4recht - BeJo"dertr Tell, MunchC'n 1 � 1 976, S. 20" sondC'rn eine ;lußtnlt Rc-d u7.itrung dC'r Nurui,·it;u 7.um norm;llivtn Resl, dessen Wr"ung unminclbn in die ( H öchsl-)Stufr umschlägt . .... Vgl. 2. 5;1m. 1 1 , 2 7 ("dit T;lt ") und bc:sondrrs 2 . S;lm 1 2 . �J
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zählung67, Der Reduktionsprozcß scheint nun in einer scharf umrissenen Fraktionie rung und Kontextdestruktion einzusetzen ; man könnte genaucr von einer Sektion sprechen, die aus fünf TextsteIJen Präparate aushebt, auf denen die weitere Transfor mation z unächst ausschließlich beruht"i1 : a) "sah vom Dach ein Weib sich waschen" (2) ; (b) "schlief cr bei ihr" (4) ; c) "geh hinab i n dein Haus usw," (8); d) "daß er vor ihm aß und trank" ( 1 3 ) ; e) "schrieb einen B rief an Joab U S W , " (mit Inhaltsangabe : 1 4 f.). - V o n diesen Textpräparaten a u s läuft b e i d e r Appl ikation I 3 jeweils ein Reduktionsstrang bis z u versuchsweise supponierten 'Tatbeständen', deren normati ver Nucleus lautet : a) Voyeurismus?, b) Ehebruch ? , ba) Beleidigung?, c) Personen standsfälschung?, d) Körperverletzung?, e) Totschlag? Mord ? - Versuchsweise sup ponien: denn nicht alle 'gelingen' - und dieses Mißlingen gestattet einen Einblick in den Reduktionsverlauf. Bei a) wird einem Textpräparat z unächst eine Relevanz marke angeheftet, die sich, je nach der Deutung des Lesersf09, als faktisch zutreffen der, jedenfalls aber bloß moralischer, nicht rechtlicher Begriff herausstellt - es ent spricht ihr kein Tatbestand im Gesetz. Solche 'Mittelbegriffe', die zunächst nur das Faktum ordnen, sind generell anzunehmen70 : bei b) führen sie auf der Linie - Koitus - Beisch laf (meist schon der j uristischen Fachsprache angehörend) - Ehebruch zu einem rechtlichen Tatbestand, der indessen nicht mehr 'gilt' - das Mißlingen ruht also auf dem A ussetzen der rechtlichen Wertung und damit des pragmatischen Ge staltungswillens der Rechtsfolge (sehr anschaulich durch den Magerdruck abrogier ter Tatbestände in den Gesetzestexten - sie sind damit gleichsam als historische und literarische Erzählkerne freigesetzt ; und manche abrogierten Passagen im EBG B , auch d i e Idyllen in d e n Obenretungen a m E n d e des 5tGB a. F. nähern sich durch ihre atmosphärische Dichte in der Tat der K urzprosa W . Benjamins). Dem Präparat d) folgt schon im Falltext der H inweis auf den gehörigen Begriff "Trunkenmachen" die Transformation zur 'Körperverletzung' gel ingt hier nur - wie noch im einzelnen z u zeigen sein wird - über metaphorischen Transfer. Bei d) und e) gelingt die Reduktion über den faktenord nenden Begriff der Tötung; sie muß jedoch für die Tatbestandsqualifikation des Mordes wieder in den Ereigniszusammenhang des Falls zurückkehren. �r
Zur Frage der Vorprägung jeder Sachverhahsformulierung vom rechtlichen Aspekt ne�n J. hs.cr. Voror,.,tiü,dllu ,,,,d MrthodrllVJahl i1l drr Rrcht!i1ld''''g , Frankfun 1 970; Th. Heller, Log,/t i. 66. W. Hasserner, Tarbrsta1ld ,,"d Typ"s, Berlin 1 968. M. Kramm, RrchtJ1lorm ,,"d srma1lruchr E,u/�,, rigltrir, München 1 970 und vor allem H . Zimmermann. Ruhrsa1lwr1ld,,1Ig als Rechts!orrb,li",.,g, Frankfun 1 977. S. 2 5 H . 1>& Man vergleiche als Erzählelemente. d i e d e r Rechtsanwendcr mchr aushebt, d i e jedoch f u r d e n Erzlhler der Geschichte wichtig ware n : die Reinigung Bathsebas nach dem Beischlaf (4): die Tauache. d a ß U ria zur Zeit des Ehebruchs im Felde stand . .. Ambrosius ( s . o . Kap. I 2, 6 ,1. ) und der moderne leser sind geneigt. diese Begegnung (angesicht; der architektonischen Verhältnisse) von seiten Davids f ü r zufalliger zu halten als die alte I konographl�, die tauächlich einen Voyeur darstellt (vgl. E. Kunoth-leifels. Ober Darstell,,1Igm der Barhsrba im JaJr. Essen 1 962). 1C Zu dieser 'iaktenordnenden', 'vorrechtlichen', aber berrits auf Wrrrungsbestimmung zielendei 5c griffsbildung M . Kramm, RechrS1lorm S. 1 6 ff. und allgrmrin E . Topiuch. "Sprachlogischr Prolienne der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung", in Logj}, der Sozl4lwuJr1l"ha/tr1l, Köln 1 965, S. l �if.
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Was hier u nter narrativem Aspekt als Reduktion beschrieben wurde, ist i n der J urisprudenz seit langem und ausgiebig als Phänomen des "Hin- und Herwanderns des Blicks zwischen Faktum und Nonn" - nach der klassischen Fonnulierung En gischs - untersucht worden ; in d iesen U ntersuchungen vornehmlich hat sich die A blösung vom Subsumtionsmodell der Begriffsjurisprudenz seit der Freirechtsbe wegung bis z u den Adepten einer j uristischen Topik und zur j uristischen Gadamer rezeptiJ?n vollzogen71 • Allerdings wurde dabei trotz der Rückbesinnung auf die Rhe torik seit der Topik-Debatte nicht zur Kenntnis genommen, daß bereits die antike Theorie des genus iud iciale eben den wechselnden Blick zwischen Faktum u nd Tat bestand in der Statuslehre untersucht hat: hiervon handelt der zweite Status, die atclOU; 6puc.1l. (status finitionis), wobei bereits der Formel Engischs analoge Feststel lungen getroffen12 und der b ipolare Aspekt der Transformation in der (intensiv erörterten) Scheidung des genus rationale und legale thematisiert wurden. Die j uristischen Modelle d ieser Wechselbeziehung74 laufen seit einiger Zeit darauf h i naus, das Problem von der logischen Ebene auf jene der semantischen Umformun gen vom Fall zur Norm h i n z u verlagern7s• Ihnen folgend mag im folgenden die Reduktion des Narrativen an den Beispielen der Fallösung von 2 . Sam. 1 1 beschrie ben werden. Auf dem Weg von "schlief mit ihr" bis zur " Beleidigung" hat man zunächst ein semantisches Feld anzusetzen, das (als Auswahl) folgende Topologie aufwiese : Ko itus - Affaire - Unzucht - Beischlaf - Buh lerei - Ehebruch - Hörneraufsetzen Beleid igung - Seitensprung. Ein sehr weit gefaßtes Assoziationsfeld, dessen Einzei p unkte bereits sämtlich eine faktenordnende Begriffsbildung, die eine Mehrzahl von Fällen vergleicht, hinter sich haben. Das Feld umfaßt unterschiedliche Wertungsin tensitäten und Sprachschichten, ist jedoch - das ist entscheidend - sowohl in der Abstraktionsebene vergleichbar wie insgesamt der natürlichen Sprache6 zugehörig. E s ist nun möglich, innerhalb dieses semantischen Hofes einen beliebigen Kern z u 'I
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A l Igrmrine Bemrrkungrn zu dinrr Enlwicklung b r i G . Radbrueh, VorJch"lr drr Rrchtsphi/oJoph,r, Gc,ninRrn � 1 959, 5. 78 und F. Wirackrr. "Zur praklischen Lristung dC'r Rechlsdogmatik", in Hr.,.".r m·lIr.1t "nd Dra/C'Juilt - FrJtn:hri!1 H. G. Gad"mtr, TiJbingrn 1 970, S. 324 ff. ; lur Krilik drr Gadamrr· rr/rption jrlZt H . Zimmermann, RC'chtJ4nwC'nd"ng S. Bsff. Vgl. Quintilian, Inll,t"t'o or"ton. 7 , 3 , 4 ; "rrs rst manifrna, sed dr nomme nun conHal - eS! cenum de nomine, sed quarrilur quar rrs ri subicienda sit" , konkrel in der GegenübC'rndlung der Behauptun
gen "sustuli sed non funum feci" ( 3 , 6, 49) - "non !:St hoc funum" (7, 3, I ). 'J Im Au fbau drr Staluslrhre kommen auch die rC'Chtsdogmatischrn Regdbegriffe und Prin7.ipirn fur die
Applikation (also Rechuwidrigkrit, Schuld, Vrrsuch, Täterschaftsformen) zum rrsten Mal in drn Bli.: k : die virr maon; \'rrsuchen, nach einC'm vertahrenstaktischrn Ruckzugsschema die AspeklC' der T.1lrrschafl ( I ), drr Talfragr �amt 'Subsumtionsproblemen' (2), drr Rrchdrrligungs- und Schuldaus �chl irßungsgninde (3), �chließlich dC'r grrichtlichen Zuständigkeit (4) zu ordnrn. '4 Vg1. die detalilienen Enlwürfr bei W . Sauer, J"ristischr Mrthodrnlrhrr. Stungarl 1 940, S. 289ff. und M. Kride, ThronC' der RC'chugC'WIn"'''' 8 ' Brrlin : 1 976, S. 1 9 7 f f . : thematisch; H . Schöpf, D,r Wrchsr/ brl,-rh"n8 zwischrn Sachflt ..h"lt ,md Rrrhultormtn In Jrr Rtchtutnwrnd"ng, Erlangen 1 9 7 1 . ,� Be
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wählen77 ; dieser bestimmt dann die Distanzen im Feld, also die proprietas der Be griffe. Normbegriffe haben einen geringen Kern. jedoch einen sehr weiten Begriffs hof; umgekehrt beginnt bei faktenordnenden Begriffen die proprietas schon sehr naher Begriffe zweifelhaft zu werden und gerät in Metapher-Verdache8• Eine solche Wahl ergibt eine Bedeutungsfestsetzung; ein Radius wird um die herausgehobene Bezeichnung geschlagen und konstitutiert mit der G renze des Hofs die G renze der proprietas. Diese Bedeutungsfestsetzung aber resultiert nicht aus einer Erkenntnis der Wirklichkeit und ihrer Strukturen - sie ist gewolhe Wertsetzung". Und so verfährt die rechtliche Normsct7.ung: sie greift den (weiten) Begriffshof der beiden Notionen ' Ehebruch' und 'Beleidigung' ab - diese normierten 'Tatbestands '-Be zeichnungen werden nun, nach dem treffenden Wort der antiken Rhetorik, "gefähr lich"IIO - die Parteien haben alles I nteresse daran. ihre Geschichte unter Vermeidung des 'einschlägigen' Begriffs und z u nahe am Zentrum seines Hofes gelegener Be zeichnungen vorbringen zu können : "si uno verbo sit erratum, tota causa cecidisse ,, videamur 8 1 . Nichts bezeichnet treffender den Punkt, an dem sich die j u ristische Applikation aus der Sphäre des Narrativen löst. Nicht mehr um die unausschöpfbare Kontingenz, unausschöpfbar auch durch die unendliche Variation der proprietas verborum und der metaphorischen überblendungen, geht es, sondern u m das fol genreiche Festnageln des besprochenen Handelns auf das Begriffskreuz der werten den Sprache. Der Angeklagte i n Camus' Etranger erkennt schließlich die I dentität seiner Geschichte mit d iesem Prozeß nicht mehr w ieder. Der Tatbestandsbegriff gewinnt nun innerhalb seiner semantischen Feldgenossen eine logische"2 Vorrangigkeit; die antimetaphorische Abgrenzung des Begriffshofes konstituiert die Distanz zu den nächsten Synonymen innerhalb des Hofes als logi sche Implikation: ' Beischlaf' w i rd innerhalb einer Deduktionspyramide unter ' Belei digung' subsumierbar. Diese Operation wird dadurch mögl ich, daß jedem als Norm konstituierten Begriff durch den ständigen Schliff der Rechtsprechung eine Defini tion gegeben wird" , die ihn unter Angabe des genu s proximum und der differentia specifica so abstrakt periphrasiert B4 , daß die Begriffssynonyme - einsch ließ lich des
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f e n d e r Prä1.isic-rung ( v g l . d i e Kritik b e i P. Oerimann, Imerene li n d Begriff I n der Rtchu'U/inensch4t. leipzig 1 9 J I , S . 4 8 und G. Rothfuß, Logik "nd Wert"ng bel der S"bJllmtlon. Di�s. Tübingen 1 97J. S. 54); was sie in diesem Zusammenhang bel'eichnen, ""ird die Parallde der Iheolugischen Au�legung (u. Kap. V 2) zeigen. Zur Re7.rplion der KonluuhLoorie in der J urispruden7. G . ROlhfuß, Log.k S. 20ff. Vgl. ebd. S. 59. Hien.u ausführlich H . Zimmrrmann, RechtJ4nulend"ng S. 2off. Quinlilian. lnJtitllti0 7, J , 1 7. Ebd. Vgl. lum 5(,lbsuet1.enden Charakter dieser Subsumlionslogik E . - J . lampe, j"rutIJche Sem/mtlk, Bad Homburg 1 970, S. 2 1 H., G . Rothfuß. logik S. -I6ff.; eingehende l>.tor�tellung der Subsumtion unter diesem Aspekt bei K . laren7., Methodenlehre S. 119ff. Vgl. l.U ihrer Charakteristik Th. Hrller, Logik S. 98 ff. ; R. Schreibcr, Die Geltllllg von Rtchunormtn, Berlin 1 966, S. 1 70 ff . und H. Frank, Kybernetik lind PhlloJoph,e. Serlin 1 966, S. 9J. Die Notwendigkeil für die Paneien, den Talbestandsbegriff in cine moglichn delaillieri periphrasie rende Definilion l. U hüllen, belonl die antike Rhctorik; ,·gl. Cicero. de 0'4tore 2, 1 09.
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Tatbestand sbegriffs - als species i n ihm enthalten sind's. An den Beispielen der Applikation : ' Beleidigung' steht nackt im gesetzlichen Tatbestand ; die ständige Defi nition lautet ' A ngriff auf die Ehre'; u nter sie 'fällt' auch der Beischlaf mit der frem den Ehefrau. Die 'Körperverletzung' in der Form der Gesundheitsschädigung ist nach ständiger Rechtsprechung als ' Hervorrufen eines pathologischen Zustandes' definiert ; unter diesen 'fällt' auch Trunkenheit. Die rechtliche Trad ition kann durch aus auch einen Unterfall als eigenen Tatbestand separiere n ; so bi ldete der Ehebruch bis 1 969 ein eigenes Delikt, das jedoch nach der Definition von ' Beleidigung' eben falls 7 . U dessen Begriffshof zählte; es stand daher i n ' Idealkonkurrenz' zur Beleid i gung. E rst die Abrogation der Norm wandelte es zum Untenall u m . U mgekehrt kann das Pönalisierungsbedürfnis eines 'qualifizierten' Tatbestandes einen U ntenall so präzise umschreiben wie den Mord (§ 2 1 1 ) u nd dessen genus, den Totschlag (§ 2 12) als Derivat. linguistisch gesprochen als Denotat16 ("wer einen Menschen tötet. ohne Mörder zu sein") einführen. Daß aber die definitorische Spitze der Pyramide, wie es die u nverdrossenen Planer eines axiomatisierbaren Normensystems fordern müssen, in der Norm erscheint (als Legaldefinition) bleibt die Ausnahme. Der Tatbestandsbegriff verrät trotz seiner Macht (der deontologischen Ableitungen) und seiner Diktatur (der Rechtsfolgen) noch stets den Parvenü aus dem Kreis der narrat iven U nbest immtheit. Logik ist metaphernfeindlich. So scheint das Fazit der hermeneutischen Transfor mation bei der juristischen Applikation i n e;ner Destruktion des [rL.ählens Z LI litgen. die sich, durch die Vertreibung der Metapher, auf die Pragmatik hin zuspitzt. Und doch kann gerade die Reduktion auf den Tatbestand die Metapher nicht entbehren ; und d iese erlebt eine seltsame Metamorphose zum Bünel der Eindeutigkeit . Zwar stiftet die Definition der Tatbestandsbegriffe logische Dependenzen, aber innerhalb d ieser Dependenzen - und zu ihnen gehört, wie dargetan. oft genug auch der Tatbe sundsbegriff selbst " - besteht das Verhält nis der Analogie" : ' Mord' verhält sich zum Oberbegriff Tötung analog wie der ' Befehl zum Umbringen' - ' Mord' kann u nter diesem Aspekt als Metapherll9 für den ' Befehl zum Umbringen' eingesetzt werden, ähnl ich ' Körperverletzung' für 'Trunkenmachen' und 'Beleidigung' für I' Vgl. IU ..!IC\er Jeontologi�ch('n 5nuktur H . AI�". "Prublemc der WI�senschahsJehre i n der Su7.ialfor· �chung" , In H.ndbu�h drr rmpirurhrn Sond/or,mu"g, hg. R . KonaK, Bd I, Stuupn l l 967, S. SO . ... \'gl. l.um �griffhch('n Kontt:ll t (Theorie der Extension und Inten510n) G. Rothfuß, LogJr S. 46ff . • • Hlerau\ re\uhien dir sog. PorOJllat der Tat�uand5�griffe: vgl. W . A . Scheuerle5 '''Beitrage '' S . 4 3 ) ' RmkohlfaU ' ; I s t � i einem Normte:II t , d e r e\ verbietet. 'rote' Fahnen mitlUführen, .luch d a s M itfilhren " o n 'Iodwh lfarbc:nen' Fahnen verboten? - Vgl auch die Analrse du Palanduchen Kummental\ 7 U S lIlJ B G B b e l G . Rothfuß. LogiIt S. 4 3 ff . .. Vgl. lum Prublem des AnaJogiebegllfh außer A. Kaufmann, A"./ogle und N.'ur drr S.rhr. Karhruhe I 96S A. Barana, " Juristische Analogie und Natur der Sache", in Frlllrh,i/, E. Wolf, S. 1 J 7 ff . ; d.1l.u den Imttlfl�chen überblick A . Slein"·enten ''' Prolegumena z u einer Geschichte der Analogie", in Fr" !thrl/l F. Srh.. lz, S. J
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' Beischlaf', Die Benennung im Tatbestand ist also häufig ' gefährliche Metapher" für die von der Paneien- narratio gebrauchten Bezeichnungen. Nicht genug damit: meta phorische Periphrasen. also katachrestische Formen. sind es, die in der Rechtsanalo gie im eigendichen Sinn - zumeist diskutiert am Problem der Lücken im Gesetz - d i e Anwendung ermöglichen. D e n n die semantische Normfestsetzung muß z w a r d i e Grenze ihres Hofes (zw�chen der proprietas und d e r immutatio verborum ) stets a l s solche d e r logischen Subsumierbarkeit konstituieren ; an dieser Grenze endet prinzi piell das Verhältnis der logisch zu lässigen Analogie unter den inbegriffenen Unter klassen. Doch die Unerschöpflichkeit der Fälle ergibt hinreichend Nötigungen zur Extension der Grenzen. auch dort. wo die ontologische Begründung einer analogen Struktur sehr schwerfällt. Läßt sich der herrenlose Leichnam stehlen? Oder Elektri zität? Gibt es geistiges Eigentum. immateriellen Schaden? Das Strafrecht hat sich bekanntlich - abgesehen vom Dritten Reich - dem auch grundgesetzlich gesichenen • Analogieverbot' unterstellt; die Lösung mußte daher charakteristischerweise in rechtspolitisch wichtigen Fällen die Aufstellung eines neuen Tatbestandes sein (vgl. § 248 c). Noch in unserem Fall ergibt erst die - historisch spätere - Auffüllung des Tatbestandes der Körperverletzung durch die ursprünglich analoge Gesundheitsschä digung die Basis zur metaphorischen Kommunikation mit der Trunkenheit. Aber das geistige Eigentum, der immaterielle Schaden des Zivilrechts - sie sind vollends Katachresen wie das Beilager der Inkarnation oder das Kleid der Unschuld in der theologischen Applikation. Der fehlende, aber analog nötige Tatbestand für einen anderen ontologischen Bereich wird transferiert. Metaphorik beschleunigt die Re duktion des Falles. 2 , Die abschließende Umformung von 2 , Sam. 11 in der Predigt des Ambrosius wird ebenfalls in einer Reihe von Einzelauslegungen, die jeweils auf einem Tcxtprä parat basieren, erreicht. I nsgesamt konstituieren sie eine sekundäre Erziihlung: " Die menschliche Gemeinschaft sünd igte vor Gott; sie \'erlor ihre Unschuld und konnte den Bund mit Gott nur u nter Gesetz und Gesetzesbruch. in Gestalt der Sy nagoge. vollziehen ; Manifestation dessen ist die Geschichte des jüd ischen Volkes. Christus sah d iesen Zustand an und erbarmte sich der Menschheit; die Menschheit spürte seine Nähe u nd kam verlangend zur Taufe des Johannes. Christus vereinigte sich mit ihr; er wandelte den Bund zur Ecclesia, i ndem er sie vom Gesetz befreite ; Manifesta tion d ieser Befreiung ist das Ende des Täufers und die jüdische Diaspora. An Chri stus manifestien sich Vereinigung u nd Wand lung als Menschwerdung und Kreuzes tod ; der neue Bund wird sich in der Auferstehung vollenden; seine Frucht ist bereits die Gemeinde". Geht man die Einzelauslegungen durch, so fällt auf, daß diese Ge samterzählung nicht erst nachträglich synthetisiert werden muß; vielmehr soll der Gang der Auslegung selbst die narrative Folge herstd len90 (programmatisch hierz u : I .c
Man beachtr, daß die lemmaliu;hC' Zusammrnfassung drr Prrlkupe ( � . (). Kap. 1 2 , 2), wie sie sich h:iufig auch .Im Beginn von Fallösungen findC'I, aus diesem Grundr aus ihrrr die Abfolj1;r der Auslegung ordnenden Funklion freigC'sC'lli wordC'n iSl: sie dienl nunmehr .11\ F.rbauungsbild ' U ria al� Mann dC'r pieus', das von der sp:ileren Applikalion ganz absiehl.
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2 , 7). I n (3) - (5) wird zunächst mit der Personendeutung experimentiert : David wandelt sich vom Heil igen Geist über das Gottesvolk zu Jesus Christu s ; ebenso wird Bathseba in (3) noch, quer zur Geschichte, vom Bruch der ' Ehe' mit Gott, also von den fornicationes im prophetischen Sinne her gedeutet, in (4) dann endgültig vom Verhältnis zum ' Ehebrecher' her. übrigens greift diese 'Orientieru ngsphase' der Applikation - ihr entspricht das erste ' Anprüfen' eines j u ristischen Falles - noch keine Textensembles aus der Perikope auf; sie rekurriert auf Namensetymologie und den Kontext der Schrift. I n (5) - (7) erst werden aus der Perikope zwei Texte abgehoben ; und sie setzen die 'neue Erzählu ng' eigentlich in Gang. übrigens sind beide - das 'Spazieren im Hause' und die 'Waschungen' (v. 2) - für den J u risten gänzlich irrelevant. Ambrosius gelingt mit ihnen die I ntegration des heilsgeschichtlichen Horizonts vom Sündenfall zur Johannestaufe; hinzu kommt der Transfer auf andere Schriftperikopen (Canticum) in (7)-(8). (9) und ( 1 0) setzen dann konsequent die Geschichtsphase von der Zeit des Evangeliums bis zur Auferstehung fort ; die - auch juristisch relevanten - Hand lu ngselemente des Ehebruchs, des Tötungsbefehls und der Tötung werden nun in äu ßerst kühner Umformung des primären Geschehens (bis zur Personenspaltung: Uria ist zugleich das Gesetz und Christus) auf die zentralen Heilstatsachen der I nkarnation, der Kreuzigung und der Auferstehung bezogen. D iese Umformung hat also ähnliche Distanzen zu überbrücken wie die Reduktion des Falles auf den Tatbestand. Mehrere Aspekte verdienen eine Untersuchung: Tre ten metaphorische Prozesse auf, die der ju ristischen Applikation analog sind? Welche Prozesse garantieren, im Gegensatz zur Fallred uktion, die überführung der Basisgeschichte in eine sekundäre En.ählung, in eine Narrativität zweiter Ordnung? - Offensichtlich ist diese erzählende Endphase der theologischen Anwendung als normatives Konstrukt nicht genau mit dem ju ristisch-dogmatischen Tatbestandstext identisc h : eine Identität bestünde erst mit einem textlich konstanten und von Ausle gung z u Auslegung unveränderten 'Dogma'. Zweifellos l iegt ein dogmatischer Text vor, der sich unschwer in eine historisch beliebig zu wählende orthodoxe Fixierung transfonnierell ließe91 - wo aber liegt die Ursache dieses narrat iven Spielraums? Tatsächlich lassen sich der ju ristischen Heuristik ähnliche Verfahren beobachten. Die Bathseba-Geschichte wird in (3) auf den Begriff 'Unzucht' gebracht - eine der Synonymen aus dem rechtlichen Begriffsfeld. Der Terminus wird gewählt, weil er den bei Hosea 1 - vgJ . ( 1 0) - festgelegten theologischen 'Tatbestand' trifft. Ähnlich wird in (7) eine semantische Extension von der 'Nähe Christi' auf die 'Nähe seines Hauses' vorgenommen; sie garantiert die Subsumtion unter den theologischen 'Tat bestand' 'Haus' ( = H immelreich ; vgl. [6]). Aber nach diesem vergleichbaren Weg stück beider hrrmeneutischcn Prozesse wird sofort die grundlegende Diffrrrnz �I
AmbroSlU§ �pplilitn, """ it �uch §onst ubtrwitgtnd. d i t Schrill .tuf tin tkk lc�iologist.:h forrnuht.:rtes Srrrmr F.ccle"olm. hgg. J . D.tniclo u / H . Vurgrimlcr. F rt ib u r g 1 % 1 , S. l .1 4 ff. und L . Kobi· Uillc. " L ' F.glisc �;pl>u�e d u Christ" , in ufltAI thioJogiqlle er phJo,ophiqlle 26 ( 1970), S. 1 6 7 ff. , S. 2 79 ff .
Dogm J. ; ... gl.
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sichtbar : mit der semantischen Fixierung auf 'Haus' oder ' U nzucht' ist eben nicht ein 'alles sagender' - nämlich eine Geschichte z u Ende bringender - Tatbestand erreicht, sondern die Anschlußstelle für eine durchgehende 'geistige' Transformation. Den UmschlagsteIlen in die Pragmatik stehen parallel die Anschlußstellen für eine Meta phorik zweiter Ordnung. der gegenüber eine der j uristischen vergleichbare metapho rische Heuristik nur das Vorspiel darstellt. I n den genannten Beispielen : auf 'Un zucht' u nd nicht etwa 'Beischlaf' wird transform iert, weil die allegierte Stelle aus Hosea deren spirituellen Sinn nennt : den Abfall von Gott. ' H aus' und nicht etwa ' Palast' wird zum semantischen Kern, weil diescr Term inus in Joh. 1 4 , 2 spirituali siert wird (6)92. Der Ausdruck ' zweitcr Ordnung' für die sckundäre Metaphorik und Erzäh l u ng umschreibt den ontologischen H intergrund der Differen z : der J u rist hat es mit einer einheitlich real vorgestellten Fall-Welt zu tun, die er auf den Begriff bringt - wenn nicht auf 'ihren' (also z. B . den der beschreibenden Naturwissenschaft), so doch auf den gewollten der normativen Logik. Der Zwang z u metaphorischen Verfahren, z u 'cchten Analogien', w i r d deutlich größer, u n d man ist zu katachrestischem Reden genötigt, sowie sich Seinsbereiche unübersehbar gegenüberstehen, sowie das ' I mma terielle', 'Geistige' in die Welt dcs E igentums und des Schadens einbezogen z u werden verlangt. D e r Theologe h ingegen bringt n i c h t die in die Realität der G e schichte ausgefahete Offenbarungserzählung d e s AT auf ' i h ren' Begriff - sie hat keinen ; nicht den der Erkenntnis, nicht den der Norm -, sondern transformiert sie in die Endphase dieser Geschichte, die ihn selbst und die Gemeinde u mgreift. Und, wie erörtert, bedeutet seit der neutestamentlichen Typologie diese Transformation eine Entlastung von der Verkündigung, diese Geschichte sei 'schon' in Jesus Christus zu Ende gekommen oder komme alsbald, "wie der Dieb i n der Nacht", zu Ende. Nun kann weitererzählt werden: das AT enthebt sich beschleunigt seiner Einmal igkeit in der Geschichte und erhält seinen ' schaneon'-haften, fiktiven Charakter: die bunte Unzahl seiner narrativen Konfigurationen treibt nur mehr, bis ans ' Ende der Zeiten', wenn Gon nach einern Wort des Rupert von Deutz die A u slegung d u rch die Men schen erst ganz entfaltet haben wird91, den Göpel der immer gleichen sakramental typologischen Heilsgeschichtc. Die historische Tatsächlichkeit diescr Konfiguratio nen ist jetzt hermeneutisch belanglos geworden - Ambrosius negiert sie, wie hier (I 2 , 6 a), nach origenistischer Tradition geradezu. Das hermeneutische Regelsystem der alten Kirche94 baut denn auch scine Vcrfahrensdogmatik9"> - durchaus vergleichbar 92
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jel7.1 wird der Grund für die Differenz in dC'n möglichC'n 8�sistC'xten bC'idC'r VrrfahrC'n sichlba r : der j urisl brauchi einC'n abgeschlo5sC'nC'n narrativC'n KomplC'X für C'inC' abschließC'nde RC'duktion ; der Theo logC' kommt zur Bildung von NarralivitätsdC'mmtC'n zweilC'r Ordnung notfalls mil einC'm WOri aus, das C'inen umfangrC'ichC'n narrativen Komplex melaphorisiert. Zil. bei E. MeuthC'n, " Der GC'schichtssymbolismus" S. 203. Vgl. z u ihm - außer den brkanntC'n Darstellungen de Lubacs, Danidous und H�n50ns - die ältere Abhandlung von W.j. Burghardt, "On C'arly Chrislian F.xegC'sis " , in Theologicill Srl4diel 11 ( 1 950). S. 7 8 f f . ; spC'zieli zu Ambrosius ist A . Vrcchi, " Appunli sulla terminologi� esegeliu d i S. Ambrogio" . in SrNdi e m.rerill ii di Irorill delie r-r/" ,oru 3 8 ( 1 967), S. 6ssff. hervor7.uhebc-n. Eine der wenigen
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den dogmatischen Regeln der Rechtsanwendung96 - lediglich auf der h istoria auf, insofern sie die Textpräparate der mehrfachen Schriftsinne liefert. - Die theologische Applikation reduziert nicht die A usgangserzäh lung. Sie zersetzt sie, saugt sie durch ein M i n i m u m metaphorischer Selegate auf und erzählt sie als andere Geschichte. Es sind nur das ' H aus' Davids und die 'Waschungen' der Bathseba, die diesen Prozeß bis (9) stützen. Wie gelingt es, aus ihnen die Kontingenz einer neuen Erzäh lung zu formieren? Das Formationsinstrument ist die spirituelle Rückwirkung der Erstmetapher i n den Kontext der Perikope ; sie separiert aus ihr einen spirituellen Hof - mit einer eigenen Zeitstruktur wird er zum Kern der künftigen narrativen Form. Am Beispiel : ist i n (6) der Palast Davids das Haus Gottes, i n dem viele Wohnungen sind (joh. 1 4 , 2), so kann das betrachtete Weib nicht mehr Bathseba sei n ; die spirituelle Rückstrah lung verwandelt sie in die 'menschliche Natur' der Genesis - sozusagen die erste Metastase des spirituellen Karzinoms aus der Perikope in andere Partien der Schrift hinein. Mit dem h istorischen Horizont der Genesis ist die Zeitstruktur der H eilsgesch ichte gewonnen (vgl. (6) : "seit") ; die zweite meta phorische Anschlußstelle, das 'Waschen', dehnt sie in die Zeit des Evangel iums aus. Bedeutet das Waschen Bathsebas die Taufe, dann wäscht sie sich, "als" der Täufer auftritt, dann ist sie selbst die werdende Ecclesia. Mit dieser rudimentären tempora len Struktur ist die Möglichkeit der sekundären Narrativität erreicht ; und zugleich sind die beiden Hauptpersonen der Perikope bereits überblendet. Es herrscht in d iesem Prozeß etwas, das man d i e Okonomie der Metapher nennen möchte : kein Zug der neuen Erzäh l u ng tritt autonom, eigenen Rechtes, auf - ein scheinbarer Uberfluß kann alsbald d u rch die U nerschöpflichkeit der A usgangserzählung abge bunden, funktionalisiert werden. Johannes der Täufer erscheint zunächst als ein solcher Uberfl u ß , w i rd aber alsbald (9) zur Aufzehrung des Uria typologisch ver wendet. Indiz der Beschleunigung dieses Prozesses ist die sprunghafte Häufung katachre stischer Rede. Sie kann man als globale und stenographische Einbeziehung nicht mehr ausdrücklich 7.itierter und transformierter Kontextpartikeln ansehen : vom ' K leid der ursprünglichen Natur' (6) über 'ohne den Schmuck der Tugenden ', die ' Kebse Christi', die ' Ehe des Gesetzes' bis zu der wegen ihrer katachrestischen Kühnheit ihrerseits ausdrücklich ( t O) periphrasierten Figur eines ' Ehebruchs der Inkarnation' wächst die Spiritualisierung ins prinzipiell Unbegrenzte - jedes einzelne Schriftwort des AT ist nach dieser Hermeneutik der Transformation fähig97• Jedes Deutungen dieser hermeneuti�chen Entwicklung ;lUS der Situation des Nruen Testaments bei G . Ebr Iing, E'hJngditthe EtI."ge/len""sleg,mg, Dannnadt l 962, S. 1 2 o ff. E . Rothacker, Die riogm.lltthe De"lt/orm in Jen GrutrswusrrJJch"/u,, ""J dAs Prob/em rirs HmorU m"" Main?: 1 954 (A bhandlungrn der A kademie der Wissenschaflen und drr Liternur ; geistes- und �o:t.ial .. i5Se-ns,hdtliche Klaur, J a h rgang 1 954, Nr. 6), S. 1 1 . "" Die- hennene-utische- Strategie de-r vier Sc hrihsinne wurde einen verfahrrnslC"Chnischen Ve-rgleich mit Je-n ,·,er m(UJEI; lohne-n. Volle-nds das begriffliche System des Tyconius ist de-n dogmatische-n Be-grif fe-n im Suafrrcht se-hr mnlich. � . Vgl. VI., D,e ,,//egorruhr D,chtlt."st ries Pr"rir",i." München 1 966, S. J . �s
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Schriftwort - denn die u rsprüngliche Perikope ist schon i n früher Phase für längere Zeit erschöpft, und die Energie der Auslegung hat ihr andere Perikopen substituiert. Der gleitende übergang läßt sich in (7) beobachten. Die Projektion eines alttesta· mentlichen Textes, Cant. 1 , 1 7, auf Mt. 3.5 wird w iederum durch metaphorische Heuristik. die Rückführung der 'Waschung' auf den 'Schmutz' von Cant. 1 , 5 beglei tet. Nun kann auch i n die reichen Konfigurationen des Hohenl iedes die eine ekkle siologische Geschichte gestanzt werden9B. Die neue historia ist längst konstituiert; sie hat auch auf eindeutige Fakten der Ausgangsgcschichte nicht mehr Rücksicht zu nehmen. Hier liegt wohl der krasseste U nterschied gegenüber der j uristischen Anwendung und ihrer Tatbestandsbindung an den Sachverhalt. Uria überläßt nun, aus G ründen des spirituellen Ereigniszusam menhangs, Bathseba dem David, als er vom Vorgefallenen erfährt (9) - Ambrosius trifft sich hier präzise mit einer Vermutung in Stefan Heyms " König David Bericht". Und David hat, wieder aus Gründen der Deutung, "nicht den Uria getötet, sondern seinen Tod im Felde geschehen lassen" (9); während doch der folgende Absatz sogar von Totschlag spricht. Auch so kann erst wieder der Roman mit einer biblischen h istoria schalten : man vergleiche bei Heym die 'offizielle Lesart' und die Version des vorsorglich von David angeordneten Schusses aus dem H interhalt. Die überwin dung der A usgangsgeschichte vermag diese schon in Auslegungen der Spätant ike in die Nähe des Fiktionalen zu treiben99• Während in der Rechtswissenschaft die I dentität von Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung kein Problem darstellt, die Normtexte des Gesetzes von ihr also als elastischer und ständig sich wandelnder Niederschlag einer Unzahl von Applika tionen begriffen werden, liegen die Dinge für das dogmatische Endprodukt der Bibelanwendung komplizierter. Das zeigt bereits der heute vorherrschende Begriff des ' Dogma', der noch weitgehend am ' Denzinger', der voluminösen katholischen Sammlung von Lehramtsentscheidungen, orientiert ist - er ist für die evangelische Kirche noch überwiegend ein tabuisierter Begriff. Dieser Inbegriff des dogmatischen 'Tatbestandes' mitsamt seiner ' Rechtsfolge' des anathema sit scheint der j u ristischen Reduktion näher zu stehen als narrative Formen. I n der Tat setzt die Differenzierung zwischen dem Formenkreis des erzäh lenden, heilsgeschichtlichen Credo als eines verbum abbreviatum (Augustin) und dem zwischen Kirchenrecht und antihäreti scher Apologetik stehenden, die Exegese als Schriftbeweis spezialisierendenloo Sym bolum schon früh e i n l o l • Der organisierte Ausbau der Kirche hat dieser iudizialen ... Zur Tr;jdition diC'sC'r C;jnticum-Auslc:gung: E . LC'rch, "Zur Geschichte drr Auslegung drs HohC'n LiC'drs", in ZC'imhrif, fiir ThC'O!0lIi� ""d Kirch� 54 ( 1 9S7), S. 2 5 7 f f. und F. Ohl\·, . Hoh�li�d-S'lIdi�n, Wic:sb;jdrn 19508. 99 Vgl. Vf., " Mrt;jphC'r - ExC'gese - Mythos. Interpreutionen 1.ur Entstehung C'ines biblischen M y thos in dC'r Liter;jtur der Späuntike", in T�rror 'md Sp,�/ - Pl'Ob/�",� der Mythenreupt,on, hg. M . Fuhrm;jnn, München 1971 (Poetik und Hermeneulik IV), S. 181 f. L I)C Vt:;l. 1. U dieser Form K . RC'inh;jrdt, D�r dOllmdtuche Schr'ftllebrd,uh, München 1 970. LeL ßrquemc: Obc:rsicht über diC' Liter;jlu r zu dc:m ßesund und der Entwicklung der erstC'n dogm;jtischen Formen bei O. Kuss, "Zur Hrrmrnrutik TC'rt u l li;jns". in Nutestdmen,liche Allfu.ue - FesISch"ft 1- Schm,dt, Rrgrnsburg 1 963. S. 1 4 5 , A nm. 32.
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Lehramtsdogmatik bald solche Energien gewidmet, d a ß s i e d e r applikativen Exegese der Verkündigung grundsätzlich das Feld der spirituellen, nicht innovativenlOl, er baulichen Formen überließ und lediglich auf der Transformierbarkeit ihrer Ergeb nisse i n die Lehramtdogmatik bestand 'Ol - h ieraus erklärt sich auch der Spielraum der 'persönlichen' ekklesiologischen Dogmatik des Ambrosius. Die Polarität von Schrift und Dogma (auch : 'Tradition')'DoI entspricht also der von Fall und Gesetz. Die Erkenntnis, daß auch hier die anhaltende Schriftanwendung das Dogma modifiziert, hat allerdings - besonders in der katholischen Kirche - zu erheblichen Problemen geführt. Denn die auf die Schrift beschränkte Offenbarung konnte, wenn sie dogmatisch nacherzählt wurde, nur eine im G runde identische, geschichtlich nicht wandelbare und nicht abrogierbare Form hervorbringen. Dieses auf den metaphorischen Transformationsmöglichkeiten beruhende - Dilemma ließe sich nur lösen, wenn man den Begriff der revelatio erweiterte oder im Sinne des protestantischen Theologoumenon vom 'Wort Goues' I OS dynamisierte. Die kathol i s c h e Dogmengeschichte mußte so bis heute zu denkwürd igen Distinktionen Z u flucht nehmenlO6• um prinzipielle I nnovationen zu leugnen, akzidentielle zuzugeste henlO7• Sehr deutlich verweist dies Problem auf den erörterten U nterschied zwischen der j uristischen Reduktion sich wandelnder Fallwirklichkeiten und der narrativen Transformation der unnachgiebigen Schrift.
VI I . Die hermeneutisch parallelen Rahmenbegriffe in der theologischen u nd juristi schen Applikation sind Schrift - Fall ; Predigt - U rte i l ; Dogma - Gesetz. Nur die gegenläufigen Prozesse. die i'ii i ch zwischen diesen Kategorien in beiden Formen ab spielen, standen hier zur Untersuchung. Ihr Ziel wäre erreicht, wenn sie die nach langer Vorherrschaft der hiSlorii'ii c h-kritischen Hermeneutik emphatisch neu ent deckte ' Nähe' beider Applikationsformen umschrieben und i n Frage gestel l t hätte . • 01 I:' 1:l4
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Vgl. Terlulli.1n, praelCT. h4rr. 9: "nec rrquirendum cum in\·C'nC'ris". Vgl. T . \X' . (j u 1 iC', " P.lIIrisIlC HrrmC'neul ic''' . in Thrololical S'lId,rs l2 ( 1 9 7 1 ) , S. 64 7 ff. und O. Kun, "Zur Hermeneutik TC'nulli:ans" S. l - u ff Seil Terl ulli:an al� Prioriul der Tradilllln gegenuber der Schrill auft;daßt - untrr drm ,urlstlSchrn A rgument der praC'�criptln - ; "1:1 1Un! )'roblem de Grandmaisnn, Le do,,,, r chritlr,, S. 2 1 8 ff. und die Brmrrku ngen G . F.bding� S. J19. 'Zu dC'n Pr .. blC'mC'n, dIe �lCh hIermit 'ur d,C' protC'stanlische Hermeneutik ergebtn. insbC")ondere 1ur Nut ..... end lgkC'lI. dem Begnff ' J)oj;m:a' ...·,eder Heim:atrC'cht 1.U geben, noch lesen�wen dC'r 19041 le \chriebrnC' Aufsatz R. Herm:ann� "Zur rümlsch -kathnllschen l.ehre "on der Bibel", in B.brl ,.,.d
Hr",.,r"rIlIlIt S. l n lf . l :lfo G r u ntl hche historis,hC' Obenicht b C' 1 W . s..: h ulz. Dog",r"r"rv.-,cJ,",,,g 4/J Probir". drr GrJCh.ch,l.ch J,rll Jrr W'.. hrhrIlJrrJ,r,,,,tmJ, Rom 191.9 ( A nalecta grC'loriana 1 7J).
1:-
Die kl:a�sischen losungen s i n d die MudC'lIC' der Implikation u n d der .... :achsendC'n f.rkenntm\ und Formu llerungsfahigkeit der MC'n�chhC'1I (v81. de Grandmallon, Lr dog",r chritir" S. 22'il ff.)i da� letztere i�t ubrigC"ns ursprirnglich \"on der Akti'Oitat des Teufd� her dedu1ien .... orden: !:e!:enuber de\�cn beunruhigendem intellektuellen Progreß musse eine waehw-nde Abwcbrkraft :angenonlmen
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REINHART HERZOG
Doch könnten weitere Untersuchungen jene Gegenläufigkeit an den Rahmenbegrif fcn selbst zeigen. H inweise möchten die ersten vier der folgenden Thesen gehen ; d i e restlichen v i e r veranschaulichen n o c h einmal die Inkongruenz d e r bisher einander z ugeordneten Rahmenbegriffe Schrift - Gesetz. t) Die Schrift ist begrenzt. - Die Anzahl der möglichen Fälle ist unbegrenzt. 2 ) Die Einzdpcrikopc erzählt das gesamte Dogma. - Der Einzelfall erzählt einen Einzcltathcstand . 3} Die ideelle Dogmengesamtheit enthält nicht die theologisch vollständ ig ausge legte Schrift. Diese "ist nur in Gott vorhanden" ( H icronymus). - Die ideelle Normengesamtheit enthält die juristisch vollständig ausgelegte Wclt l�'. Diese " ist alles. was der Fall ist" (Wingenstein). 4) Die ideelle Dogmengesamtheit ist begrenzt. - Die ideelle Normengesamtheit ist begrenzt. 5) Entdeckung neuer Wirklichkeiten forden die Ergänzung des Gesetzes ; sie forden der Schrift eine neue Auslegung ablO9• 6) Die E inzelnorm ist abrogierbar; die Schrift ist unveränderlich. 7) Das Gesetz hat Lücken ; die Schrift ist unnachgiebig. 8 ) Auslegungsverbote fördern die Kasuistik des Gesetzes; sie fördern die H istorisierung und Literarisierung der Schrift. 2 . Die letzte These führt z u den einleitenden Bemerkungen zurück: die parallele Statik der beiden dogmatisch gesichenen Applikationen gehön der Vergangenheit a n ; ihre gemeinsame Demonstration muß befremden - den J uristen. der Applikation immer üben wird. mehr noch den Theologen. für den sich - besonders in protestanti scher Sicht - die Exegese in einem langdauernden Prozeß zwischen Reformation und Aufklärung von der Dogmatik "befreit" hat. für den sich profane und nicht-profane Hermeneutik "eingeebnet" haben l lc. Dieser Vorgang ist wohl das am eindringlich5ten untersuchte Kapitel aus der Geschichte der Hermeneutik l l l . Doch sollten seine w�,d�n (T�nulli�n. "'rg. "r/. 1 . 5 1.). Es folgt�n t�51�nd� V�rsuch�. Abrogi�rb�,krlt z u kOn5tatirr�n; v�r�lI�t� Dogm�n könn�n �m Kril�rium d�r 'Onhopr�xi�' g�mn��n w�rd�n ( l . W�n7Irr). Di� Arbri· t�n K . Rahnrn ( U . iI . EJCrgr.r �"J Dog"u",k, hg. H . Vorgriml�r, Mainz 1 962) und P. Schoont"nb�rgs ( U . iI . Dir Intr-rprrl.tlO" Jr. Dogm.J, Düssddorf 1 969) fuhnt"n ,.ur l.t"hr� d�s V�lic�num 11 von d�r Hit"rareh,t" dt"r dogmatischen Wahrht"ilt"n; h it" fZ U U . Villt"skt", H�r.rrh;' wril.t.m, Munth�n 1 968. Dit" D i s kussion v�rdi�nt B�ilchtung, w�il in ihr Naht" und Difft"rt"nz d� Dogm�s zum r�chdich�n TatMstand zur Ot"billtt" stt"ht. ICI EX("fI'IplariKh von H . M . Enzt"nsbt"rgt"r in 5t"int"m Gt"dlCht Vor.rhLag z.r StrtA/rrrhtJrrlorm vorg�fuhn: dit" sinnvt"rwilTt"ndt" Rt"ihung von Tiltbt"ständt"n konslitult"M t"in Abbild dt"r Wdt. 1:70 V,1. zur bibel�J:l"Gt"tiKht"n Inlt"griltion dt"r Entdrckun, Am�rikal Johilnn Bissds Argon•• llcon Amrn r.nor. m ( I641) IO. I � 1 6 . 1 1 0 So, di� tr.adillon�l1� W�nun, rdrJl�r�nd, E . Olto, " D I � Apphk'Ulon als Problt"m d t" r politischt"n H�rm�n�utik". in ZrilJchnlt IMr Thrologw .nJ K"mr 1 1 ( 1 914), 5. 1 4 1 : zuriie khaltt"nd und krilisch G. Ebeling. "Won GOIt�s und Ht"rmen�utik", in Zr;lJChnlt ';,r ThroJogie .nJ K"mr 56 ( 1 959). 5 . )22 und G. v. Rad, Grum,mrl" SI.J,rn. 1 I I V,1. J . Coppt"ns, Dr Gr.chIC"JII�nJ'gr ontwwllrl,ngsg.ng """n Jr O.Jtr.14mr",iJmr rxrgrJr ".""1 Jr Rr""iJ,.,,« 101 rn mrt Jr A.fltLir�ng, Anlw�rpen I OH l (Mt"dt"drdingt"n van dt" Koninklijkt" VIaam seht" Andcmit" voor Wt"trnsch.appe-n, l�lt�rt"n �n Schoon� Kunsl�n v.an Bdgic, Klust" dt"r L�Ilt"rt"n, jurl. 5 , no 4); H . Bornkamm, L. ,h rr .nJ J.s A T. Tubinr,:�n 1 948 , 5 . 69H.; H . -J . Kraus. GrKhKhtr
T H E O I .OGISCHE UND J U R ISTI SCHE A p P L I KATION
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Wurzeln seit der spätantiken Exegese nicht übersehen werden. Die Ausgrenzung der historia, d i e - trotz aller Kautelen - hermeneutische Belanglosigkeit der gesch ichtli chen Real ität des AT schuf dessen Text schon früh, als Resonanz der sich ohne Unterlaß überlagernden Schriftsinne, die Dignität einer 'poetischen', ja fiktionalen Tiefenstruktur. " Facta Christi sunt genera locutionum"l Il - d iese Gewinnung eines nicht-antiken Textkorpus für das literarische Bewußtsein, verbunden schon bei A u gustin mit d e r ersten Ästhetik d e r Dunkelheit, eröffnete e i n e Trad ition ü b e r Boccac cio 1 u bis zur Theorie der ' hebräischen Poesie' des 1 8 . jh . Und sie trug bei zur theologischen Freisetzung dieser Texte aus der applikativen Hermeneutik, aus der " nichtsnutzigen Kunst" der Allegorie (Dilthey). Vollendet wird die Bewegung durch d ie antispirituellen Reduktionen der Aufklärung. Der 'David'-Anikel i n Bay les Dictionnaire, ein im 1 8 . jh . berühmtes specimen verh üllter Demontage "4, setzt das vi rtuelle Ende der ambrosianischen Transformation von 2 . Sam. 1 1 . Was seitdem "der Dogmatiker bekennt, erzähl t der H istoriker"" �. Die Bibel des AT 'hat recht' i n d iesen Erzählungen, a b e r v o n Anspruch und Verheißung des N T entlasten sie uns nicht mehr, nicht mehr jedenfalls, als andere literarische Texte, die nur der Don Quijote des Puppentheaters auf sich appliziert. Auf uns applizien nur mehr der j urist, i n metaphernloser Sachlichkeit, was wir selber an 'Geschichten machen'.
dtf" hlStof"m:h-ltr·jwtht" Erfonchlil"g dtJ Alu" T�JI.m�"tJ. Neukirchen 1 956; E . G . Kraeling, Tht DM TtJI.m�1ft u " u I h t R�/orm.llo", London 1955; K . Scholder, UrJpr,mg� Iil"d Prob/�m� d�r B,b�/Jtr;IIJt Im 17 J�hrh'lIfdt"". Mimchrn 1966. 1 1 1 A Uj;usunus, I" Joh. Ir. 25, 5. ll1 V gl. Vif. d, D.lftt, B. H. , . . VKI. Jen A rtikel ··Philosoph .:"" In Voltaires D;ct;o"".'f"� PhJoJophiqMt. 1 1 ' E . ROlhack�r, D,t dogm.,isch� Dtl"lltform S . 2 1 .
D I F.TER NÖRR DAS V E R H Ä LT N I S VON FA LL UND NORM ALS P R O B L E M D E R R E F LE KTI E R E N D E N U RTE I LS K RA FT
D i e ju ristische Tätigkeit besteht bekanntlich weithin a u s Reduktionsvorgängen. Da bei ist hier nicht so sehr an die - möglicherweise triviale - Feststellung gedacht, daß die juristische Tätigkeit als sprachliche Tätigkeit generell an den mit der sprachlichen Umsetzung verbundenen Deformations- und Selektionsvorgängen teilhat. Vielmehr geht es um die spezifisch juristische Aufgabe der ' Annäherung' von Sachverhalt und Norm. Auf der Faktenseite besteht die Reduktion in der U marbeitung des diffusen Lebenssachverhalts in den juristischen Sachverhalt, auf der rechtlichen Seite in der Transformation einer (soweit überhaupt vorhanden) .a l l gemeinen Norm in die 'Ent scheidungsnorm' oder 'Fallnorm'. Eine schärfere Präzisierung dessen, was u nter 'Entscheidungs norm' zu verstehen ist, darf hier unterbleiben. Wir verstehen sie recht vage - als eine in der Rechtsordnung vorgefundene oder aus ihr ' konkretisiene' Regel, die aber auch im letztgenannten Fall noch ausreichend generell ist, um mögl i , h e künftige Fälle l: U erfassen. Insoweit unter�cheidel s i e s i c h v o n einer - nur f ü r den konkreten Fall formulienen - Individ ualnorm ' . D i e I nterdependenz der beiden Reduktionsvorgänge, d i e auch in der bekannten Formel Fngischs vom Hin- und Herwandern des Blicks zum Ausdruck kommt, gehön sicherlich zu den zentralen Fragen methodischen I nteresses. So wird sie auch nicht nur von den Repräsentanten der juristischen Hermeneutik gestellt. Es wäre recht schwierig, die Bedingungen anzugeben, die erfüllt sein müßten, damit man dieses Problem als gelöst bezeichnen könnte. Das spricht dafür, daß es sich hierbei nicht um ein Problem handelt. das einer Lösung nach dem Modell technischer Pro bleme zugänglich wäre, sondern eher um ein Dauerproblem, das allenfalls durch Verschiebung der I nteressen oder durch andersanige Form u l ierung der Fragen 'erle digt' werden könnte. U nter diesen Umständen dürfte es erlaubt sein, Form u l ierungs varianten für das Problem zu überlegen, von denen dann allerd ings konsequenter weise nicht behauptet werden kann, daß sie bessere Lösungsmöglichkeiten bieten. Wenn man nicht allzu tief in die Sem.antik einsteigt, so w i rd zumi ndest unter Juristen sehr schnell darüber Einigkeit erz ielt werden, daß die richtige Zuordnung von Fall und Norm ein Problem des (richterlichen) Judizes ist, also der Eigenschaft, die den Richter als guten Richter charakterisiert. Mit diesem Wort wird man auf die Kantsche Kritik der Urteilskraft (iudizium) geführt, deren Denkfiguren zur BeI
Vgl. h.rr7U vor .lllrm K . F.nguch,
Zr" .
Dir IJrr Jr' Konk".,lJIr""'B In Rrrbt ,md Rrrhuu·lJlrrurh,,!, ""Jr'r, II ff . . I 78ff. Zu pn.ifrn w.irr .luch rinr Hrr'Ißz.rhung drr rhrlori·
Abh. Ak. HriddbrrG : 1 968, S
sI:hrn Thnis - H y pothrSl� - Doktrin.
396
DinER NÖRR
schreibung d e s in Frage stehenden Problems verwendct werden sollen l . Dabei i s t auf ihr Verhältnis zur aristotelischen Phronesis- Lehre cbcnsowenig einzugehenJ wie auf das Thema : Rhetorik als Technik der Uneilskraft ; auch hier handelt es sich um I nstrumente. die zu einer gewissen Rationalisierung des Entscheidungsproblems bei tragen könnten. Aber auch im übrigen sind einige apologetische Vorbemerkungen notwendig. Die historische Frage, wie Kant selbst die (j uristische) Zuordnung von Fall und Norm in seinem System formulien hätte, bleibt im wesentlichen außer Betracht. H ier darf auf die ausgezeichneten Darlegungen von Hans Kiefner verwiesen werden. der - anläßlich der Interpretation der Reflexion Nr. 3357 (Akademieausgabe Bd 1 6 . S. 797) - w o h l erstmals den Versuch gemacht h a t , die Gedanken Kanu z u r richterli chen Methode an einem praktischen Beispiel zu demonstrieren4• Was unsere überle gungen betrifft, so darf von zwei Fixpunkten ausgegangen werden: Zum einen ge hön das Problem für Kant zur Erönerung der Urteilskraft, zum anderen - im Bereich der Uneilskraft selbst - zur bestimmenden, nicht zur reflektierenden U r teilskraft. Was das erstere betrifft, so darf auch hier die häufiger zitiene Stelle aus der Kritik Jer reinen Vernunft (K. J. r. V.) nicht fehlen : "Ein Arzt daher, ein Richter oder ein Staatskundiger kann viele schöne pathologische. juristische oder politische Regeln im Kopfe haben i n dem Grade, daß er selbst darin gründlicher Lehrer werden kann, und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht verstoßen, entweder, weil es ihm an natürlicher Urteilskraft (obgleich nicht am Verstande) mangelt und er zwar das Allgemeine in abstraeto einsehen, aber ob ein Fal l in conCTeto darunter gehöre. nicht entscheiden kann, oder auch darum. weil er nicht genug durch Beispiele und wirkli che Geschäfte zu diesem Urteile abgerichtet worden··�. Weniger bekannt ist demgegenüber ein Text aus der Anthropologie in pragmati scher Hinsicht, der auch das notwendige Zusammenspiel von Verstand. U rteilskraft u nd Vernunft wenigstens andeutet : " Was 'II:i/l ich? (frägt der Verstand) Worauf kommt es an? (frägt die Urteilskraft) Was kommt heraus? (frägt die Vernunft). Die Köpfe sind i n der Fähigkeit der Beantwortung aller dieser drei Fragen sehr verschie den. - Die erste erfordert nur einen klaren Kopf. sich selbst zu verstehen ; u nd diese Naturgabe ist bei einiger Kultur ziemlich gemei n ; vornehmlich wenn man darauf 1
Ziu.le und Seilenuhlen nach K.anu Siimtl,o,r" Wr,.40e" In 6 Bandcn im Inlcl"crlag, ed. F . Gron, Leipzig Bd l o . J . , dic übrigcn Bandc 1 922 ff. - Zur Rechulehrr Kann (und ihrcr Bcdeulung für dir Jurilpn.ldenz) vgl. in IClzler Zcil Cl ... a Chr. Rillcr, Dr,. Rrcht'8rd",,40r K"",. _eh dr"f,.,.he" Q ..rllrl'l, frankfun 1 9 7 1 (mil reichcm Schrifllumsverzeichnis). so ... ie rlne Relhc von Bcltragcn in den Bändcn PhJoJophir .. "d RrchtlVluJr",ch"ft und Rrcht .. "d Ethik des Fonchungsunlcmchmcns ' N cunzchnlcs Jahrhunden' der Frilz Th)'uen Sliflung, Frankfun 1969. 1 970. ) Vgl. nur Ni},. Eth;}, V I 1 1 4 0 a 2Sff. 4 "Ius praetenlum", in Rrcht .. "d Ge,elllCh"ft - Frmchrrft fii,. H. Schr/,40y, Bcrlin 1 978, S. 2 8 7 ff. , " A nalYlik dcr Gn.lndSällC", Einleilung, Bd 3 , S. 1 50 f . - Vgl. hierzu nur R . Slammlcr, Thrrmr dt'f Reo,tlVlu".,urhaft, Hallc 1 9 1 1 , S. 655; K . Engisch, Loguchr St..d,r" z .. ,. Gr,rrzr,."we"d..ng. S8 A k Heidelberg 1 1 960, S. 30, s o... i c d i e ausfi.lhrliche Erönen.lng durch W . A . Scheuerle, " Kanu Auffauunli von dcr Uncilskrah dei Richten", i n Zrir,chrifrf,.,. dIr gr,.mlt StIWtJwlJJerJJch"ft 109 ( 1 953), S . 6 9 1 ff
DAS V ERHÄLTNIS VON FALL UND N ORM
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aufmerksam macht. - Die zweite treffend zu beantworten, ist weit seltener; denn es bieten sich vielerlei A rten der Bestimmung des vorliegenden Begriffs und der schein baren Auflösung der Aufgabe dar: Welche ist nun die einzige, die dieser genau angemessen ist (z. B . in Prozessen oder im Beginnen gew isser Handlungsplane zu demselben Zweck)? Hierzu gibt es ein Talent der Auswahl des in einem gewissen Falle gerade Zutreffenden (iudiaum disCTetivum), welches sehr erwünscht, aber auch sehr selten ist. Der Advokat, der mit viel Gründen angezogen kommt, die seine Behauptung bewähren sollen, erschwert dem Richter sehr seine Sentenz, weil er selbst nur herumtappt ; weiß er aber auch nach der Erklärung dessen, was er w i ll, den Punkt zu treffen (denn der ist nur ein einziger), worauf es ankommt, so ist es kurz abgemacht, und der Spruch der Vernunft folgt von sclbst"6. Daß Kant dabei in erster Linie an die "bestimmende U rteilskraft" denkt, ergibt sich vor allem aus den Stellen, wo er den Richter auf die strikte Gesetzesanwendung verweise. Dem steht nicht entgegen, daß sich auch bei ihm "die Subsumtion insge samt als ein recht vielschichtiger, alles andere als 'automatischer' Vorgang (er weist)"'. Denn die Komplexität liegt nicht so sehr auf der Norm- als auf der Fakten seite : "Bey Ausminelung der circumstantiarum in facto ist es, um die momenta in facto z u finden, schon nöthig, auf das Gesetz Rücksicht zu nehmen, da, wenngleich hier das Gesetz noch nicht imputirt wird, es doch zur völligeren Bestimmung des facti selbst bey trägt . . . "'. Entgegen dem (zu vermutenden) A nsatz Kants soll hier der - in einem recht präzisen Sinne h.lusbackene und überdies skizzenhafte - Versuch gemacht werden, das Fall-Norm-Problem primär (wenn auch nicht allein) unter dem Aspekt der reflektierenden Urteilskraft zu betrachten. Damit w ird man vor allem zu den Erörterungen über die Kritik der ästhetischen U rteilskraft geführt. Das U nter nehmen kann in gewisser Weise durch die (von sprachphi losophischen Bedenken nicht getrübte) Prämisse legitimiert werden, daß es gleich schwer ist 'Schönheit' und ' Gerechtigkeit' auf den Begriff zu bringen 10. Eine genauere Ausführung des Ansatzes bedürfte philosophischer Spezialkenntnisse. Zur Entlastung darf auf die Vorrede zur Kritik der Urteilskraft verwiesen werden, wo Kant von der " Dunkelheit"" spricht, von der das Problem der (ästhetischen) Urteilskraft umgeben ist. Nach Kants - auch für das juristische Judiz im Bereich der Zuordnung von Fall und Norm treffender - Definition ist " U rteilskraft . . . . das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken . . . . Ist das Al lgemeine (die Regel, • 1
,
1; 11
I . Teil , c . 59, Bt.l I , S. " 1 5. Vgl. nur Z.. m �v";g�" Fri�dr", 2. Z U S.1 I 7. , Bu 5. S. 689 f . : Anh.:lng I, Bd 5. S. 695 ; M�t.phyIlJt d�" Sittm, Einleitung in dir Rechtslehre, Anh.:lng, Bd 5, S. l39 ff. ; reiches M.:Iteri.:l1 Mi ehr. Riller, R��htJg�d."Jt� X."" S . 254 ff., l I 2 ff. H . K i rfncr, " l us puetensum" S. 1 1 7. Vigil.:lmius, B�me"It""ge" ...J d�m VOFf".ge deJ H�rT?I X.nt "bel' Met.phync drr SItt�", Ak.:ldeminus gabe 27. 2 . I, S. 562 f . ; 7.itum n.:lch Kitfner, S. 1 1 1 Anm. Vgl. .:luch Kam, K. d. r. V. • Tuns�tndent.:lle Methodenlehre I , I, Bd 1 , S. 55", zur Undrfinierbarkeit (stall dt"s�en ' E ltposition ') Vlm ' Recht' und ' B i l l igkeit'. Kant, K. d. V., B d 6 , S. 12.
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D I ETER N Ö R R
d a s Prinzip, d a s Gesetz) gegeben. so ist die U rteilskraft, welche d a s Besondere subsumiert • . . . bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben. wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflektierend"1 2, Als Schlußarten der (reflektierenden) U rteilskraft nennt Kant Induktion und Analogie13, Wir haben gesehen, daß Kant dem J u risten die bestimmende Urteilskraft zuweist. Soweit ich es übersehe, erörtert er nicht (wenigstens nicht unmittelbar) die Frage, was zu geschehen hat, wenn eine Norm fehlt. In dem von Kiefner geschilderten konkreten Rechtsfall spricht Kant - der preußischen Rechtslage seiner Zeit entspre chend - von dem möglichen Eingreifen der "Gesetzgebungscommission" (richtig: Gesetzcommission) zur Lösung von Zweifelsfragen bei der Feststellung des Rechts. Kiefner denkt überdies an den (natu rrechtlichen) Maßstab der iustitia distributiva. für dessen Bedeutung in der Rechtslehre Kants er auf künftige Arbeiten verweistl�. Nach einer Andeutung in der K. J. U. (§ 90) ist es nicht ausgeschlossen. daß Kant hier auch mit der reflektierenden U rteilskraft operiert hätte. die sich zur Auffindung der dafür notwendigen Prinzipien der Vernunft zu bedienen hätteu. Wie dem auch sei. so wollen wir im folgenden an die von ihm für den moralischen Bereich formulierte .. " Regel der U neilskraft unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft anknüp fenl', Entsprechend dem kategorischen Imperativ lautet sie: "Frage dich selbst. ob die Handlung. die du vorhast. wenn sie nach einem Gesetz der Natur. von der d u selbst ein T e i l wärest. geschehen sollte. sie du w o h l a l s durch deinen W i l l e n möglich ansehen könntest". Die Regel der praktischen U rteilskraft kann zwar möglicherweise zur Subsumtion des Besonderen unter ein Allgemeines verhelfen. Keinesfalls ist sie als solche selbst subsumtionsfähig wie ein 'Gesetz ' . Wäre das der Fall. so würde sich sofort die Frage nach derjenigen Regel der U neilskraft erheben. welche die Subsumtion unter die Regel der praktischen U rteilskraft zu leiten hätte (und so ad infinitum). Selbstver ständlich hat auch Kant dieses Problem erörten l 7 ; da unter die Regel der U nei lskraft nicht subsumiert werden könne. müsse man diese durch Beispiele und übung schu len. Ob sich der regressus ad infinitum durch diese Anweisung. deren angemessene Erfüllung w ieder nach gewissen Kriterien z u beuneilen wäre. vermeiden ließe, darf hier dahinstehen. So wie die Regel der praktischen Urteilskraft (in Konseq uenz der ethischen Autonomie) von Kant formuliert ist. kann sie aber nicht nur dazu dienen, die angemessene Subsumtion unter ein vorhandenes Gesetz, sondern - gleichsam a 11 K. d. u.. Einleitung, 8d6. S. 2 3 f . ; dazu ruht an5C:haulieh - ",enn auch mil etwas am.lt'rt'r Terminologil· - Kanu Anthropologie I. c. 40 ff., 8d I . S. 379ff. U Logik _ Ein H�nJbMm ZM VOru-tMngen. §§ 8 1 ff., nach R. Eisler, K�nl-Le1l:ikon, Nachdruck H i ldesheim U IS I� Ir
1 96 1 , S. 566. H . Kiefner. " I u s puetensum" S. 3 1 6 f . Vgl. außer den genannten Texten au� der Anthropologie noch den 8rid Kanu an den Fürstt'n von 8c:1osc:lsky ( 1 792 ) ; zitien bei R. Eisler. K�nt-I.�1I:llron. Krlllit der pr�ltti$mc:" VemMnft (K. J.p. V.), Vlln d ... r Typik der reinen praklischt'n Un ... ilskraft, Bd 5 . S. 1 8 8 f . . 1 9 0 . Vgl. K. d. R . V., Analytik der Grunds;at1.... . 8d 3 . S. 1 49 ff.
DAS V E R HÄl.TN I S VON FALL U N D NORM
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fortiori - auch das Auffinden des in concreto angemessenen Gesetzes ermöglichen. Demgemäß darf sie als eine Regel der reflektierenden (juristischen) U rteilskraft ver standen werden. Sie ist insoweit vergleichbar mit der (als regulatives Prinzip formu lierten) Zweckmäßigkeitsregel der ästhetischen und der teleologischen Urteilskraft I ' . Auch d i ese dient dazu, für ein gegebenes Besonderes das Allgemeine zu finden, das im Bereich der teleologischen Urteilskraft auf Begriffe zu bringen ist, während es bei der ästhetischen Urteilskraft begriffslos bleibt. Geht man mit der heute wohl einhelligen Meinung davon aus, daß das Subsum tionsmodell nur beschränkt tauglich ist. die juristische Tätigkeit angemessen zu be schreiben, daß es vor allem nicht fähig ist, das hier interessierende Problem der Zuordnung von Fal l und Norm richtig zu formu lieren, so w ird man - wenigstens im Rahmen des Kantschen Begriffsmodells - generell auf die reflektierende Uneilskraft als Topos der Problemlösung verwiesen. Wie sich die ästhetische und teleologische Urteilskraft der Zweckmäßigkeitsregel bedient, so könnte sich die j u ristische Ur teilskraft (u nter anderem oder allein) der oben z itienen Regel der praktischen Ver nunft - als I nstrument zur Auffindung der Entscheidu ngsnorm - bedienen. I nsoweit entspricht sie der berühmten Anweisung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Art. 1 A bs . 2 und 3 ) über das Verfahren bei Gesetzeslücken : " Kann dem Gesetz keine Vorsch rift entnommen werden, so soll der Richter nach dem Gewohnheits recht und, wo ein solches fehlt. nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde:. Er folgt dabei be:währter Lehre und überlieferung" . Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß diese Vorschrift vom Subsumtionsmodell ausgeht und nur für den Ausnahmefall der Regelungslücke gedacht ist. Nimmt man dagegen an, daß die Identität "'on Gesetzesnorm und Entscheid ungsnorm eher ein G renzfall ist, so kehrt sich das Rege l - Ausnahmeverhälmis uml'. Die Kantsche Regel der praktischen Urteilskraft ist - so verstanden - vergleichbar mit genuin juristischen I nstrumenten der Normsuche wie Generalklauseln (Treu und Glauben), allgemeinen Grundsätzen (etwa Güterabwägung) und sonstigen Leitlinien (Gerechtigkeit, Bill igkeit. Zweckmäßigkeit, Rechtssicherheit - oder gar ' G l ück') d eren Präzi!oierung und Grenzziehung hier unterbleiben kann. Dergleichen Formeln kann man nur dann als ' Leerformeln' bezeichnen, wenn man verlangt. daß sie sub s umtionsfähig sein müßten - womit man zugleich ihre Funktion (als Regeln der juristischen Urteilskraft bei der Suche nach der Norm) m ißverstünde (so im Ergebnis auch Stammler. Esser, Fikentscher und manch anderer). Wenn man hier überhaupt von Subsumtion sprechen darf, so a l lenfalls im Verhältnis der gefundenen Entschei d ungsnorm zur Regel der j uristischen U rteilskraft. Vielleicht kann man dC'n Vergleich mit der erwähnten Regel der teleologischen Urteilskraft noch ein Stück weitertreiben. Wie es für Kant (K. d. U., aaO.) die Auf gabe der Zweckmäßigkeitsregel ist. die - von dem reinen Verstandesgesetz z u unterI' K. d. u.. Einlt·itung. Bd 6 . S. 1 3 ff . • 42. 45. 1" S. auch F. \l'it·ackcr. " N utzen und Nachu.·ll des Szienlismus", i n Recht .md GeJelJsrh4t S. 753.
400
DIETER NÖRR
scheidenden - empirischen Naturgesetze 7.U finden, so ist für uns die Regel der praktischen Vernunft ein I nstrument zur Suche nach konkreten Rechtsnormen. Das durch die Reflexion (im Sinne der - erfolgreichen oder vergeblichen - Suche nach dem expliziten Begriff, dem Allgemeinen)lO gefundene empirische Gesetz könnte man dann mit der gefundenen Norm vergleichen. die dann ihrerseits wieder mögli ches Objekt - jetzt nicht der reflektierenden, sondern - der subsumierenden U rteils kraft wäre. I n gew isser Vereinfachung ließe sich das Problem (oder die Aporie) der Suche nach der Entscheidungsnorm als die Frage nach dem Verhältnis der bestim menden zur reflektierenden U neilskraft im Rahmen der juristischen Tätigkeit for mulieren. ] m einzelnen könnte man sich fol genden Argumentationsweg vorstellen2 1 • I s t eine Norm vorhanden, so wäre e s an sich A ufgabe der bestimmenden U rteils kraft - im Gegenfall der reflektierenden U rteilskraft - für die Lösung des Falles Sorge zu tragen. I m ersten Fall w ürde das ' Allgemeine' angewandt, im zweiten Fall dasjenige ' Allgemeine' gesucht, was im Besonderen anzuwenden ist. Man könnte idealtypische Extreme konstru ieren : Liegt eine Gesetzesnorm als Entscheidungs norm parat, so kann sofort subsumiert werden. ist schlechthin keine. auch keine n u r entfernt in Betracht kommende N o r m vorhanden. so muß die Entscheidungsnorm nach den erwähnten Kriterien frei geschaffen werden. ]n praxi wird es meist so liegen. daß ein aus Gesetzen. Dogmen, Präjudizien (etc.) bestehendes Normenmate rial zur Verfügung steht, aus dem (reflektierend) die passende subsumtionsfähige Norm zusammengesetzt werden kann. So ist die Reflexion n icht bodenlos. Man könnte hier w ieder eine Analogie zur ästhetischen U rteilskraft ziehen (s. etwa K. d. U. §§ 3 1 , 3 7 passim). Das einzelne ästhetische U rteil kann nicht aus einem ' A llgemeinen' deduziert werden ; trotzdem beansprucht es - aus hier nicht weiter zu erörternden G ründen - A llgemeingültigkeit. Dabei wird die ästhetische Urteilskraft du rch (klassische) Beispiele geschult, die - je nach Situation - zur ( inhaltlichen) "Nachahmung" oder nur zur " Nachfolge" (Beispiel als ' K anon') bestimmt sind22• Ebenso bewegt sich die ju ristische U rteilskraft mit dem Anspruch der Al lgemeingül tigkeit im Rahmen der Gesetze, Präjudizien. w issenschaftl ichen Meinungen, d i e als mögliche 'Beispiele' d ienen können - wobei dieser Begriff in seiner j uristischen Anwendung präzisiert werden müßteB. An dieser Stelle wäre dann zugleich die Einbruchsmöglichkeit für die alten fundamentalen Streitpaare : Naturrecht und Posi tivismus. Freirecht und Gesetzestreue vorhanden. Nach den hier gebrauchten Be� S. auth K. d. r. v., AnalYlik der Grundsaue. Anhang. Bd J. S. 247. 11 Zum hier nichl lU erorlernden logischen Aspekl der Suthe nach der Enutheidungsnorm "gi. "or allem K . Engisch, Logische St",die" S. I B ff. S. auch J . H ruschka. Die Ko"stit",tio" des Rerhtl/.lles, Ber· lin-München 1 965; W . Hardwig, "Die methodologische Bedeutung von R«ht�fällen". in J",ristische Sch",/",,,g 1 964. S. 49ff. l! K. d. U., S 4 9 ; "gi. auch s n ; 7.um Subsumlionsproblem beim Geschmacksuneil s. auch S JS und S JB 21
Anm. S. dazu etwa H . lsay, RechtS1loml ",,,d E"tscheld"'''g. Berlin 1 929, S. l 7 7 ff . ; J . Esser, Vo",erst."d"is ",,,d Methode"u.·.hI, Frankfun 1 972, S. 74 ff. pauim; K. Engisch. Die Idee der Ko"ltretiner"'''R S. 1 78 ff . ; W . Fikentscher, MethoJe" des Rechu, Tübingen 1 975ff., Bd 4 , S. 2 1 7 ("8esläligungshilfen").
DAS V I::. RHÄl.TNIS VON FAl.l. UND N O R M
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griffen gi nge es dabei um die A rt der ' Verbindlichkeit' der jeweil igen 'Beispiele'. So könnte etwa der Gesetzespositivist der reflektierenden Uneilskraft folgende Regel vorschreiben : Für die in Gesetzen niedergelegten Beisp iele spricht die (eventuell unwiderlegliche) Vermutung, daß sie den Regeln der reflektierenden juristischen Urteilskraft ( s . o . ) entsprechen, so daß keine (oder nur eine beschränkte) Befugnis besteht, darüber z u entscheiden, ob sie ihr entsprechen; ihnen ist deshalb nachzufol gen. - Auch das Problem der Normenhierarchie könnte an dieser Stelle diskutiert werden. Aus dem Gesagten wird bereits deutlich sein, daß die Kantschen Kategorien die Probleme nicht lösen, sondern nur anders (bestenfalls klarer) form ulieren. So wird es verständlich, welche Funktion die reflektierende U rteilskraft bei der Suche nach der Entscheid ungsnorm hat, welcher Kriterien sie s ich bedient. I nteressanter noch könnte es sein, daß sich v ielleicht mit H i lfe einer A nalogie zur ästhetischen Urteils kraft das Problem neu formulieren l ieße, wie und daß ein Fall angemessen entschie den wird, ohne daß die Entscheidungsnorm überhaupt oder in angemessener Weise expliziert wird. Das Geschmacksurteil ist ( u . a . ) durch folgende U mstände charakte risiert : es ist ein einzelnes U rteil, das nach einer Regel vorgeht, die nicht in Begriffe zu fassen ist; es ist allgemein (mitteil bar) ; es begreift sich als ' notwendig' - in dem Sinne, daß jedermann dem U rteil zustimmen müsse, obwohl es nur 'exemplarisch' Wird ein Rechtsfall entschieden (oder als 'gerecht' entschieden beurteilt), so gilt (häufig) Ähnliches. Auch hier bezieht sich das U rteil auf einen Einzelf;I.II, die Expli kation der Regel unterbleibt entweder völlig oder sie ist unangemessen (etwa zu weit oder zu eng formuliert), doch werden Allgemeinheit und Notwendigkeit postuliert, obwohl keine Ded uktion aus Begriffen stattfinden kann2�. Im übrigen ist auch das ästhetische U rteil in dem Sinne logisch generalisierbar, daß mehrere gleichartige Objekte als 'schön' bezeichnet werden können (§ 33). Obgleich die Gleichanigkeit bei j uristischen Sachverhalten ungleich problematischer sein könnte, wäre doch auch hier die logische Ded uktion denkbar, daß wenn der erste Fall 'gerecht' entschieden ist. d ieses Attribut .luch der gleichen Entscheidung des zweiten gleichartigen Falles zukommt. Oie A nalogie darf aber nicht überzogen werden. Denn einmal kann bei dem juristischen U rteil möglicherweise doch verlangt werden, daß es auf einen Begriff gebracht wird - nicht nur in dem Sinne, daß es den Regeln der Anwendung der (juristischen) Urteilskraft folgt, sondern daß die materielle Norm selbst ausdrücklich formuliert wird (oder wenigstens formulierbar ist) und daß sie zugleich in ein System gebracht wird (Problem der j uristischen Dogmat ik). Dem ließe sich aber wieder entgegenhalten, daß es hierbei sprachliche und sachliche Grenzen gibt, die das juri stische U rteil in die Nähe des ästhetischen U rteils rücken. ]. S. K. ti. l/ . . S I ll : " Notwendigkeit der Belstimmung ,,/Irr 7U einem UrlC"il. W.lIS .lIls 8eispid elnC"r .lIlIge· n1cinC"n R ... �d, dit, m.ll n nicht .lIngeben k.ll n n • .lIn gesehen wird," S. im ilbrigC"n .lIuch S S 6 ff. KomC"n �p robl C" m ; \'gl. d.ll 7 U die- Rolle- dC"5 Je-nulJ co",n"",iJ beim ;j5theli�chC'n UnC"il. K. d. U • S 40 .
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DIf..TF.R N Ö R R
Ein weiterer Unterschied l iegt im folgend e n : W e n n m a n a u c h n i c h t leugnen kann, daß auch ästhetische Urteile - als Beispiele (vg l . das Problem des Klassizismus) - in die Zukunft wirken können, so l iegt doch darin nicht ihr primärer Zweck. Anders bei den ju ristischen ' U rteilen' (i. w . S. ) - vor allem dann, wenn man zur Ebene der generellen, nicht fallbezogenen Urteile aufsteigt. Vorbehaltlich genauerer Differen zierung würden zu ihnen etwa Gesetzesnormen, Dogmen, Präjudizien rech nen. Für sie ist der Anspruch charakteristisch. daß sich auch die Zukunft nach ihnen zu richten hat. Damit bekommt das Problem der ' M itteilbarkeit', das auch dem ästheti schen U rtcil nicht fremd ist ( K. d. U. § 39), ein besonderes Gewicht - und die juristi sche Dogmatik eine ihrer spezifischen Aufgaben. Besondere Probleme ergeben sich hier wiederum dann, wenn eine Einzelfallentscheidung (einsch ließl ich autoritativer Gutachten) präjudiziell wirken soll. Wie erwähnt, kann diese Entscheidung als rich tig beurteilt werden, ohne daß die Entscheidu ngsnorm selbst auf den (richtigen) Begriff gebracht wurde. I n einer künftigen Entscheidungssituation wird die " reflek tierende U rteilskraft" bei der Suche nach der zuständigen Norm vor der Aufgabe stehen, die nicht oder nicht richtig explizierte Norm zu explizieren und über ihre Anwendung zu entscheiden ; dabei hat sie die Chance, in dem ' richtigen' Präjudi7. besser verstehend oder m ißverstehend - eine latente oder überhaupt neue Norm sichtbar zu machen. Doch geht es dabei nicht allein um die 'Nachahmung' des i m Präjudiz liegenden Beispieles. Vielmehr k a n n es auch a l s Kanon u n d Mittel d e r Schulung für die j u ristische Urteilskraft dienen (Nachahmung u n d Nachfolge i m S i n n e Kants). Am historischen Beispiel l ieße s i c h dieser Vorgang an d e r ' I n terpreta tion' der römischen Rechtsquellen bis in die Gegenwart verfolgen. Ein wesentlicher Teil der eu ropäischen Rechtsgesch ichte besteht aus der Norm- und Kanonsuche in dem hier angedeuteten Sinne. Wie bereits erwähnt, ist die Urteilskraft weder als bestimmende noch als reflektie rende unm ittelbar erlernbar"'. Sicher kann man Leitlinien für die Subsumtion u nd Reflexion aufstellen; ihr angemessener Gebrauch bedarf aber wiederum der Urteils kraft. Insofern ist die Urteilskraft " angeboren", "ein besonderes Talent, welches gar nicht gelehrt. sondern nur geübt sein will ( . . . ). Dies ist auch der einzige und große Nutzen der Beispiele: daß sie die Urteilskraft schärfen" ( K. d. r. V. , ebd . ) . So kann der Verstand zwar Gesetze. Regeln. Dogmen. Präj udizien lerne n ; ihre Anwendung im Einzelfall ist nicht unmittelbar erlernbar. Es ist sicher kein Zufall, daß nicht nur für den Ph ilologen A . Boeckh27, sondern auch für den J u risten F. v. Savigny2H die Auslegung eine ' Kunst' ist, die nicht durch Regeln mitteilbar und erwerbbar. sondern die durch Muster zu schulen ist. Dabei kann dahinstehen. ob Boeckh und Savigny hier Gedankengänge Kants aufgegriffen Vgl. K. J. r. V. , An�I)'lik der Grunds:i17e. Einleitung, B d 3 . S. 1 049 ff . ; K. J. u.. § 32 und § 60 . Die be�on· deren Probleme der tr�nszendentalen Uneilskr�ft bnuchen hier nicht ernrtert zu werden. EnzyltlopaJlt unJ MerhoJen/ehre Jer phllologuchen WUJeJ'lJchafren, Leipzig : 1 1186. S. 504 f . • 75 f . :, SYJfem Jel heurigen RomlJchen Rech,., Bd I , 8 e r l i n 1 8040, S. 2 1 1 , 2 1 , ff . , etw�s .mders S. 222 f f . ; d o r t a u c h S. 260ff. 1.ur S u c h e n � e h der ' E mscheid ungsnorm' b e i Resknplen.
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haben. Zu überlegen wäre aber. ob nicht diese - recht alte - Erkenntnis auch dazu verhelfen könnte, von weiteren (vergeblichen) Bemühungen um eine ' H ierarchisie rung' der A uslegungsregeln abzuhalten. Der Versuch wäre verlockend, die überlegungen Kants zur Urteilskraft am kon kreten (historischen oder modernen) juristischen Fall zu erproben oder entsprechend weiterzuentwickeln. So könnte man etwa daran denken, der begrifflich schwer faßli chen ' Eleganz' eines j uristischen U rteils ( i . w . S.) mit dem Modell des ästhetischen U rteils näherzukommen. Sie wird als ausdrückliche Qualität von den römischen J u risten gewissen Sentenzen und Argumentationsweisen zuerkannt, spielt als wer tende Kategorie aber auch heute noch eine gewisse Rolle. Dabei ist es nicht unbe d i ngt die Qualität des sprach lichen Ausdruckes, die als Grundlage des ' E leganz U rteiles' dient. Eine gewisse Affinität von Eleganz und Schönheit ist unverkennbar; nicht umsonst benutzen die römischen J uristen bisweilen (in wohl identischem Sinne) das Adverb "belle" (definire u . a.). Nach Kant beruht das positive ästhetische U rteil ( u . a . ) auf der Lust prod u zierenden Harmonie des Anschauungsvermögens mit dem Begriffsvermögen, die als zweckmäßig beurteilt wird, ohne daß dieses Urteil sich auf einen Begriff StÜtZt noch einen solchen verschafft ( K. d. U., Ei nleitung, Bd. 6, S. 32 ff, S. 361.). Die 'Eleganz' ist - nach dem Sprachgebrauch Kants - darüber hinaus d u rch eine Verbindung der Einbildungskraft mit der Präzision der Vernunft charak terisiert ( K. d. U. § 62) : " Eher würde man eine Demonstration solcher (sc. formal, nicht material und empiri5ch zweckmäßiger) Eigenschaften, weil durch d iese der Verstand als Vermögen der Begriffe und die Einbildungskraft als Vermögen der Darstellung derselben a priori sich gestärkt fühlen (welches mit der Präzision, die die Vernunft hineinbringt, zusammen die Eleganz derselben genannt wird), schön nen nen können: indem hier doch wenigstens das Wohlgefallen, obgleich der Grund d esselben in Begriffen liegt, subjektiv ist, da die Vollkommenheit ein objektives Wohlgefallen bei sich führt". Nun mag das elegante juristische Urteil oder Argument wenigstens tei lweise nicht nur das " Vermögen" der Begriffe ansprechen, sondern auch selbst auf einen Begriff gebracht werden können. Doch i!tt nicht zu verkennen, daß die Beurte i l ung als elegant häufig der exakten begrifflichen Analyse vorausgeht, vor allem aber, daß sich die elegante Entscheidung von der ' richtigen' Entscheidung durch einen ästhetischen überschuß unterscheidet, der sich jeder Begrifflichkeit verschließt. Besonders erwägenswerte Ansätze scheinen m i r die Gedanken Kants für überle gu ngen zur ' Kasuistik' oder - vom römischen Recht aus gesehen - für das Verständ nis einer Normenordnung zu sein. die weithin auf exemp la beruht19. Ei nige ungeord nete Bemerku ngen zu diesem auch in den vorhergehenden Zeilen ( s . o . S. 400) immer w ieder angesprochenen Ansatz müssen genügen - wobei über die Rolle der reflektie renden U rtei lskraft nicht nur bei der Aufstellung des 'ersten' Exempe ls, sondern �� Z u m Problt'm ,·gl. 1ulet11
M . K,,�er, "D.l5 Uneil ,,15 Rechuquelle i m romischrn Rech!" . i n Femchrlfr
F. Schv.'mJ. Wirn 1978, S. 1 1 5 ff . ( m i l
Lil.).
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DIETER NÖRR
auch bei seiner weiteren Anwendung nicht nochmals z u sprechen ist. Dafür soll kurz auf die häufig fehlende oder latente Begriffl ichkeit der im Exempel 'ausgedrückten' Norm eingegangen werden; eine gewisse 'Idealtypisierung' läßt sich nicht ver meiden. I n der bejahenden oder resignierenden Erkenntnis. daß sich ' richtige' juristische Beurteilungen nicht oder nicht restlos auf begriffliche A rgumentationen z urückfüh ren lassen. w ird bis heute die richtige ' I ntuition' (Anschauung) als eine der wesent lichen juristischen Qualitäten angesprochen. Nur beiläufig sei bemerkt. daß d ieser Begriff - bei aller seiner Unschärfe - angemessener ist als der des ' Rechtsgefühls', da d i e Emotionen selbst im Bereich der juristischen Wertungen allenfalls eine lückenfül lende Rolle spielen d ü rften)o. Die Parallele zum Verhältnis zwischen Sprachgefühl und sprachlichem Judiz (bei der Anwendung von Sprachregeln i . w . S. ) liegt auf der Hand. M i t dem Begriff der Anschauung kommt man z u einer der zentralen Katego rien vor allem auch der idealistischen Philosophie nach Kant und z ugleich z u einem Zentralbegriff der Hermeneutik" und juristischen Method ik (Savigny). Kant selbst hätte es wohl vermieden. die j uristische A rgumentation mit dem intui tiven Denken zu verbinden. das im Gegensatz zum diskursiven Denken steht und grundsätzlich nur als schematisches (wie etwa bei der geometrischen Konstruktion) oder symbol i sches erlaubt ist (s. K. d. U. § S9). Immerhin ist auch für ihn der intui tive Verstand - der nicht analytisch-allgemein (begrifflich). sondern synthetisch allgemein ist und vom Ganzen zu den Teilen geht - eine mögliche Leitlinie der reflektierenden Urteilskraft ( K. d. U. § 77) . Doch würde er wohl nicht nur d i e Lehre Savignys von der " lebendigen Anschauung der Rechtsinstitute")2. sondern auch ent sprechende moderne Vorstellungen als Versuche einer " intellektuellen" und sich " vornehm " dünkenden Anschauung abgelehnt und verspottet habenD. Im folgenden gehen w i r von der Notwendigkeit einer - wie auch immer z u präzisierenden j u ristischen Intuition aus. Dabei können (abusiv gebrauchte) Kantschc Begriffsfigu ren vielleicht dazu verhelfen, die Tätigkeit der Intuition bei einer exempla-orientier ten Rechtsordnung zu veranschaulichen. Die I n t u ition steht in einem gewissen Komplementaritätsverhähnis - um nicht zu sagen Kompensationsverhältnis - zur Begrifflichkeit und hat deshalb in einem 'ex emplarisch' vorgehenden Rechtsdenken ein besonderes Gewicht, wird dort auch wohl besonders geübt. Um es etwas abstrakt und dementsprechend ungenau auszu drücken, so ist eine intuitiv richtige Entscheidung eine solche. bei der sich zwar das ' B egriffsvermögen' demonstriert. die Begriffe selbst aber (noch) fehlen. Da die Regel (der Begriff), nach der entschieden worden ist. nicht angegeben werden kann. darf die Entscheidung an sich allenfalls Gültigkeit für den einzelnen Fall und für den '0 11 11 1
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Vj;1. a b e r neuerdings M . Bihler. Rrchugr/"hl. SyJtrm ""tI Wrrt""g. Münchcn 1 9 7 9 . s. nur Boeckh. Enzyltlop.tllrS. 7 S f . , 86. SyJtrm. Bd I, S. 6 ff . • 1 6 . Von "111 "'" n"""rtlinB' "rhob"""" tlo,..,."hm"n Ton 111 tI"r Ph./osoph,r. Bd 4 . S. 8 1 9 (1 . ; y g l . aber a u c h d a s Zltal aus d c m Nachlaß (4)]6) b e l R. E!Slcr, K.nt.L"xwon, s. I B .
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jeweils Entscheidenden beanspruchen ; sie ist nicht als richtig beweisbar und muß deshalb ihre A utorität aus anderen Quellen nehmen. Da sie aber inhaltlich einer Regel entspricht, ist sie doch allgemein u nd darf die Zustimmung der Beteiligten (i. w . S.) postulieren. Auch die besondere A rt der Verbindlichkeit der (römischen) exempla könnte m i t ihrem besonderen Verhältnis zur Begriffl ichkeit zusammenhängen. Vereinfacht könnte man jene so u m schreiben. daß sie zwar ihre Befolgung ansinnen, aber anders als in einem strengen Präj udizienrecht, das wiederum gesonderte Erörterung verlangte - nicht erzwingen. Dabei müßte man an s ich zwei Aspekte u nterscheiden, die aber i n der praktischen Handhabung ineinandergehen. E i nmal sind die exempla 'Normenmaterial' i n dem oben umschriebenen Sinne, innerhalb dessen die reflektie rende U rteilskraft nach einer passenden Regel sucht. Zum anderen stellen sie den Maßstab (Kanon) dar, an dem sich die reflektierende Urteilskraft schult und der ihr Vorbilder der Nachfolge (nicht der Nachahmung; s. nur K. d. U. § 46) liefert. Beide A spekte vereinigen sich auf G rund der bekannten Tatsache, daß zwei zu versch iede nen Zeiten auftretende Lebensverhältnisse bei aller Parallelität niemals identisch sind und daß dort, wo sie für identisch erklärt werden, dies ein Produkt der entsprechend geschulten U rteilskraft ist. Geht man davon aus, daß das Arbeiten mit exempla zugleich einen Verzicht auf Ausschöpfung der Begrifflichkeit und damit auch der Beweisbarkeit impliziert, so leuchtet - abgesehen von allen politischen und soziologischen Erwägungen - eine gewisse Beschränkung ihrer Verbindlichkeit ohne weiteres ein. Je stärker die dem exemp l u m zugrundeliegende Norm individualisierend bestimmt wird, desto be schränkter wäre seine Anwendungsmögl ichkeit. Je zurückhaltender wiederum die Individualisierung ist, desto größer auch die Gefahr, daß man nicht die richtige ' Entscheidungsnonn' trifft - wobei allerd ing!: 7.U kon7edieren ist, daß es gerade das 'Genie' der römischen J u risten ausmacht, dieser Gefahr nur relativ selten zu erliegen. Weiterh i n : wenn (mit Kant formu liert) das Exempel einer Regel folgt, die man nicht angeben kann, so braucht man i n einem späteren Fall, in dem man dem exemplum nicht folgen will, nicht unbedingt die Geltung der Regel an sich zu bestreiten, die Fallentscheidung als Ergebnis einer falschen Reflexion anzugreifen, sondern man kann sich damit begnügen, das exemplum nur noch als Kanon der "Nachfo lge" z u verwenden, den F a l l a b e r selbst nach e i n e r anderen, anhand d ieses Kanons gefunde nen Regel - die möglicherweise wieder nicht angegeben werden kann - zu ent scheiden. Trotz d ieser argumentativen Schwäche garantiert die Argumentationsform exem plum doch (wie auch die historische Realität zeigt) eine große Stabi l ität ; dabei w i rd selbstverständ lich vorausgesetzt, daß sie als legitime Argumentationsform grund sätzlich akzeptiert wird. Wer für einen vorl iegenden Streitfall ein mögliches exem plum auffindet, hat grundsätzlich bereits die bessere Position. Wegen des Fehlens h i storischer Kritik wird seine H i storizität selbst dann selten bestritten werden kön nen, wenn sie zweifelhaft ist. Ein d iskursives Bestreiten der Adäquatheit für den neu
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zu entscheidenden Fall w ü rde zu Induktion und Deduktion zwingen, zu Argumen tationsweisen also, d i e dem A rbeiten mit Exempeln zwar nicht d i rekt w idersprechen, ihm aber als wenig 'anschaulich' doch eher fremd sind. Wie bereits gesagt, w i rd es selten möglich sein, die Gültigkeit des Exemplums, dessen Autorität häufig noch d u rch das Gefühl (etwa der Trad ition) verstärkt w i rd , zu leugnen. Wer seine An wendbarkeit i n concreto leugnen will, muß also eine auch von ihm grundsätzlich anerkannte A u torität bekämpfen. Die überwindung eines Exempels bedarf - ebenso wie die erstmalige AufS[cllung eines solchen - einer irgendwie begründeten besonde ren Autorität. Damit mag es zusammenhängen. daß das Arbeiten mit exempla einer Normen-(und Sozial-)ordnung eigentümlich ist, i n der Autorität anderen möglich.:n Legitimationsweisen vorgeht. Die Risiken des exemplarischen Vorgehens sind nicht zu übersehen. Sie sind (wenn auch in einem anderen Zusammenhange) weithin in einem bereits angespro chenen Text aus der Kritik der reinen Vernunfc4 (im Anschluß an das Zitat oben [So 402]) formulien : " Dieses ist auch der einzige und große Nut7.en der Beispicl e : daß sie die U rteilskraft schärfen. Denn was die Richtigkeit und Präzision der Verstandes einsicht betrifft, so tun sie derselben vielmehr gemeiniglich einigen Abbruch, weil sie nur selten die Bedingung der Regel adäq uat erf ü llen (als caSHS in terminis) und überdem d iejenige A nstrengung des Verstandes oftmals schwächen, Regeln im A l l gemeinen und unabhängig von den besonderen U mständen d e r Erfahrung nach ihrer Zulänglichkeit einzusehen, und sie daher zuletzt mehr wie Formeln als G rundsätze zu gebrauchen angewöh nen. So sind Beispiele der Gängelwagen der Urteilskraft, welchen derjenige. dem es am natürlichen Talent derselben mangelt. niemals entbeh ren kann." Es wird nicht nötig sein. d iese Ausführungen Kants für den Gebrauch der exempla im j u ristischen Bereich im ein7.elnen zu erläutern. Sie lassen erkennen, daß ein exem plum - wie eine vorhandene Norm - (wenigstens scheinbar) vom Zwang befreit. z w ischen Alternativen z u wählen. Das Risiko für den Entscheidenden (oder auch seine Verantwortung) m i nden sich ; dafür kann vielleicht schneller und leichter (nicht aber unbedingt richtiger) entschieden werden. Abschließend darf noch auf ein wesentliches Merkmal der exempla hi ngewiesen werden. A n sich enthält ein exemplum nur die Entscheidung eines einzelnen Falles. Doch w ird d ieser Fall gleichsam als Ausdruck einer ' Idee' aufgefaßt - nicht nur in dem allgemeinen Sinne des Prinzips der Gerechtigkeit. sondern auch konkreter als Vorstellung vom 'Wesen' eines Rechtsinstituts. Metaphorisch formuliert. symboli siert das exemplum die Rechtsnorm oder gar die Rechtsidee i m allgemeinen ; weiter.: Epiphanien sind möglich. I nhalt und G renzen der ' Idee' sind nicht deutlich um schrieben. So bringt auch derjenige. der ein neues (oder anderes) exemplum aufstellt. eine solche Idee zur Erscheinung. Damit wird es auch verständ l ich. daß das exempla rische Denken zwar einerseits als konkretes Denken bezeichnet werden, andererseits ,. Kant. K. J. r. V., A n a l y t i k dl'r G rundSat1c, Einleitung. B d l , S . 1 5 1 .
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aber a u c h a l s I n strument der Diskussion v o n ( i m Ergebnis) h o c h abstrakten geistigen Phänomenen d ienen kann. Mit diesen Bemerku ngen mag man viel leicht glauben, ein wenig das Geheimnis der römischen J u risprudenz z u l üften, i n der sich punktuelle Kasuistik mit der (weithin nicht expl i ziten) Realisierung hochabstrakter und d iffe renzierter juristischer Figuren vereint. Den hier vorgelegten Bemerkungen zur juristischen U rteilskraft fehlt z u einer Theorie nicht n u r die Durcharbeitung ; vielmehr würden sie sich auch als A n sätze zu einer Theorie m i ßverstanden fühlen. Es geht allein darum, Aspekte (Ansichtsmög l ichkeiten) i n einem Problemfeld z u zeigen, dem man nicht einmal durch U m k reisen beikommen kann. Ob sie nützlich sind. läßt sich n u r dann beurteilen, wenn man mit ihnen an das konkrete juristische u nd h i storische Material herangeht.
MARTIN KRI E l E
B E S O N D E R H E ITEN J U R I STI S C H E R H E R M E N E UTI K
Juristische H ermeneutik unterscheidet sich von der literarischen und theologischen in mehrerer H i nsicht. I. Einen Gesetzestext auslegen heißt zunächst, ihn zu einem (wirklichen oder erdachten) Lebenssachverhalt in Beziehung setzen und frage n : ist er auf ihn anwend bar oder nicht? Was ausgelegt wird, ist das Geserz und nicht der LebenuachveTha/r, im Beispiel des CimeliiTe marin also die Ordnu ngsvorschrift, und nicht etwa das Gedicht oder der in ihm erzählte Vorgang. Die witzige Verfremdung im Beitrag von Liebs besteht darin, daß er das Gedicht gewissermaßen als ein Polizeiprotokoll liest. Für den Juristen sind aus der unendli chen Vielfalt des Lebens und auch aus dem Zusammenhang eines Gedichts nur diejenigen Elemente relevant, die als Tatbestandsmerkmale eines Gesetzes in Frage kommen können. Die Hervorhebung von Elementen eines Lebenssachverhalts be sagt, es könnte eine Norm geben, die regelt, daß 'so etwas' rechtswidrig ist (oder eine anderweitig begründete Rechtswidrigkeit ausschließt). I n der Hervorhebung solcher Elemente wird eine Normhyporhese aufgestellt. die dem J uristen ermöglicht. die einschlägigen Rechtsnormen zu suchen und zu fragen. ob sich die Normhypothese i n Normen bestätigt findet und ob d iese auf den Sachverhalt anwendbar sind. Das ' H i n - und Herwandern des Blicks' zw ischen Nonn und Sachverhalt wird stets durch d iese Normhypothesen. die die relevanten Fragen aufwerfen, venniuelt. I n dem Bericht eines Lebensvorgangs können allerdings Elemente fehlen, die der Aufklärung bedürfen, weil sie normative Relevanz haben könnten. Die einseitige Sachverhaltsdarstellung bedarf deshalb der Ergänzung durch die Gegenseite im ge riclltllchen VerfiIhre n : audiatur et .litera p .. rs. Zu der Frage von Jauß auf S. 250: Die " narrativen Fiktionen" im Bericht von L iC'bs habC'n nur Ausschmücku ngscharakter; in eine juristische Sachverhaltsbeschrei bung gehören sie eigentlich nicht hinein. Der Sachverhalt wird vom J u risten nicht umerzählt, sondern es werden die Elemente hervorgehoben, die möglicherweise unter irgend welchen Normen relevant sein können ; alles andere wird ausgeschaltet, soweit es nicht zum Verständniszusammenhang unerläßlich ist. 2. Die Auslegung eines Gesetzestextes (in unserem Beispiel - der ' Mephisto' Entscheidung - des An. 5 III GG) ist 'applikativ' nicht nur in dem Sinne, daß sie auf die Fra�e antwortet : Wie ist der Text auf den Lebenssachverhalt anzuwenden? Sie ist auch im Sinne der Terminologie Odo Marqu ards (0. S. 53 ff.) insofern applikar", "nd nitmals n"T Tekonsrrukri'V. als sie eine Frage beantwortet. auf die das Gesetz noch nicht die Antwon geben konnte, da es den Fall noch nicht gab. Dem Gesetzgeber
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mögen gleiche oder ähnl iche Fälle "'or Augen ge�tanden haben. Ob aber cin Fall gleich oder ähnl ich einem anderen ist, hängt da"'on ab. welche Elemente des Lebens sachverhalts als ju ristisch relevant gelten. Die Frage. ob ein Fall einem anderen gleicht oder ob er nicht gerade in einem wesent lichen Element versch ieden ist. ist d ie typisch juristische Frage. die immer erst zu entscheiden ist. Das technische Instrumentarium der juristischen Aus legung erlaubt stets sowohl die eine als auch die entgegengesetzte Entscheidung, z . B. Feststellung oder Abwei sung eines Anspruchs. Wir können d i e Begriffe des Gesetzestextes ausdehnend oder einschränkend auslegen ( z . B. den Begriff " K unst" in Art. 5 III GG formal oder inhaltlich verstehen). Wir können uns auf den Wortlaut eines Gesetzes berufen oder d iesen d u rch die ratio legis oder den systematischen Zusammenhang relativiere n ; wir können den Text durch Analogie auf ähnliche Sachverhalte anwendbar machen oder den "Umkehrschluß" ziehen, daß er auf d iese gerade nicht anwendbar sein sol l ; wir können in den Text Ausnahmen ('es sei denn, . . .') hineininterpretieren oder darauf verzichten ; wir können uns 30m Willen des Gesetzgebers (entstehungszeitlich - sog. 'subjektive Auslegung') oder am sog. 'objektivierten Willen des Gesetzes' (geltungs· zeitlich - sog. 'objektive Auslegung') orientieren. oder wir können im Falle der Spannung zwischen zwei Rechtsprinzipien ( 1. . B. Kunstfreiheit in An. 5 III und Persönlichkeitsrccht in An. t und 2 I GG) das eine oder das andere überwiegen lassen. Auch wenn wir feststellen: Der Text sei eindeutig und erlaube kein Deuteln. 50 haben wir entsch ieden, daß wir davon absehen. von Auslegungsmöglichkeite n . die den Text relativieren, Gebrauch zu machen. Deshalb ist die Feststellung erlaubt : juristische Hermeneutik ist immer (und nicht nur häufig oder meistens) 'applikativ' . 3. Juristische Hermeneutik ist eine praktische und nicht nur theoretische Aufgabe. sie gehön im aristotelischen Sinn 7.u r phronesis, nicht zur episteme, zur prudentia. nicht zur scientia. Ihre Grund frage lautet : Wie sollten wir einen praktischen Rechts· fall angesichts der Rechtsnormen entscheiden? und nicht nur: wie sind die Rechts· normen zu verstehen. was haben ihre U rheber gemeint. in welchem Kontext. mit welchen Absichten haben sie sie form u l iert ? Die Frage ist. m . a. W . : Was ist z u tun? und nicht nur: Wie hat der U rheber den Gesetzestext verstanden? Es geht u m eine praktische Entscheidu ngsfrage und nicht nur um eine Wahrheitsfrage. Die Frage : Wie ist der Gesetzestext zu verstehen? geht aus von der Unterstellung, daß das Gesetz die Problemsituation gerecht und vernünftig regeln will. Wenn der Gesetzestext eine offenbar unvernünftige Problemlösung nahelegt, so sagt der J u rist : "Das kann 50 nicht gemeint sein" (Beispiele bei M. Kriele. Recht und praktische Vernunft. Göttingen 1 979, § t 7). Das Recht kann nur verstanden werden, indem man seine Fundierung in der praktischen Vernunft unterstellt und ernstnimmt. Deshalb erschöpft sich das Ethos des Juristen nicht in Gesetzestreue und methodischer Sorg. falt. Die Forderung nach Vernunft und Gerechtigkeit ist nicht nur an den Gesetzge· ber. sondern auch an den Rechtsanwender gerichtet. Einen Gesetzestext interpretieren heißt nicht nur, historische Forschungen anzu· stel len (die Entstehungsgeschichte zieht man meist nur heran, um eine anderweitig
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gewonnene Aus legung z u 'bestätigen' - BVerfG E 1 , 3 1 2 ; 6, 75). Den Gesetzestext aus legen heißt \·ielmehr, aus dem technischen I nstrumentarium der juristischen Aus Ic:t;ung d iejenige zu wählen, die die Vernunft der getroffenen Regelung heute und mit W i rkung für die Zukunft zur Geltung bringt. 4 . Alle j uristische Henneneutik ist auf gerichtliche Entscheidungen hin o rientiert. Rechtsw issenschaftliche Henneneutik hat den Charakter von Entscheidungskritik und Enl!tcheidungsvorschlägen. In der Rechtswissenschaft gibt es - anders als in Theologie und Literaturwissenschaft - nicht eine Plural ität von gleichberechtigten Meinungen, sondern es gibt Meinungen, die noch die Chance auf 'Durchsctzung' in der Rechtsprechung besitzen und solche. die sie endgültig verloren haben. Auf den letzteren zu insistieren. wäre abwegig und u nfruchtbar. Entscheiden heißt, Verbindlichkeit herstellen, u nabhängig von Konsens und Ge wißheit (M. Kriele, Recht und praktische Vernunft § 8 ). Im gerichtlichen Verfahren wird d u rch mehrere Instanzen hindurch kontrovers diskutiert. Schließlich muß ent schieden werden, auch wenn die Probleme weder zw ischen den Prozeßparteien noch in der Rechtswissenschaft ausdiskutiert sind. Es handelt sich nicht nur um das Pro blem des Zeitdrucks: unter diesem steht auch der Prediger, der sonntags fertig sein muß, oder der Habilitand, dessen Stipendium ausläuft. Das rechtskräftige Urteil schafft vielmehr staatliche Verbind lichkeit und Du rchsetzbarkeit mit Zwangsgewalt. Auf den Schultern des Richters lastet die Verantwortung für u . U . erhebliche soziale Folgen. I!o.t aber die l el.:htswissemchaftlit.h.: I-:I�rmelleutik entscheidu ngsorientiC'rt, so muß also auch !iic d iese Verantwortung auf sich nehmen. 5 . Das rechtskräftige Urteil schafft nicht nur endgültige Verbind lichkeit für die rrozc... ßbc., teiligten, sondern entfaltet darüber hinaus eine pr3judizie l l e Wirkung. Das Präjudiz weist dem, dc.'r in künftigen Fällen von ihm abweichen w i l l , die Begrün tlungspflicht fiir die Abu·eichung 7.U : die sog. "Präjudizienvermutung" (M. Kriele, Rec.·ht und praktische Vernunft Kap. 4). Der Richter muß d iese präjudi7.ielle Wirkung bedenken, d. h. er muß so entscheiden, daß er wollen kann, daß die Maxime seiner E ntscheidung zur allgemeinen Maxime werde. Er entscheidet also nicht nur den konkretl·n Rechbfal l , !o.ondern er entscheidet mit Wirkung für die Zuku nft über die Auslc�ung des GeSc.'t7.e!itextes, also übc.'r den genauen Inhalt des geltenden Rechts. I nsofern ist er ,In der Normbildung bet('iligt. J u ristische Henneneutik ist - anders als literarische und theologische - verantwortliche Mitgestaltung der staatlich verbindli chen Rechtsnormc.' n. Was zu verantworten ist. sind die praktischen Folgen in der politi!ochcn, sozialc.' n, ökonomischen Lehenswirklichkeit, und zwar nicht etwa nur die.' konkreten Folgen für die Pro7eßheteil igten, sondern die präjudiziellen Folgen der ,tbstrakt-generellcn Inhaltsbestimmung des Geset7.C s . 6 . Dem Vorau!ibl ick a u f d i e künftige präjudizielle Wirkung entspricht d e r Rück hlick auf die schon t'orgepriigtc A uslegung des Gesetzes in den Pri':judizien, von denen Jer J u rist seinen Ausgang nimmt u nd an denen er sich ohne weiteres orien tiat. wenn ihn nicht Gründe zur Abweichung bestimmen. Auf diese Weise kommt es nicht nur zu einer ' ständigen Rechtsprech ung'. sondern auch zur Bildung ganz
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MARTIN K R I ELE
neuer Rechtsinstitutionen (Beispiele i n M . Kriele, Recht .. nd praktische Vernunft
§§ 1 9 1.). Während der Theologe den B ibeltext und der Literaturw issenschafder den poeti schen Text interpretiert, i nterpretiert der J u rist nicht bloß das Gesetz. Vielmehr schieben sich die Prä;udizien zw ischen Gesetzestext und Gesetz.esanwender: Dcr J u rist geht nicht aus vom blanken Gesetzestext. z. . B . vom BGB, sondern vom Gesetz i n der Auslegung, die es durch die Präjudizien schon erlangt hat. Da die Abweichung von den Präjudizien begrundungsbedürftig ist, haben diese eine gewisse 'präsump tive' (d. h . d u rch Gegenargumente ausräumbare) Verbindlichkeit. anders als wissen schaftliche Meinungen. mit denen sich der J u rist auseinandersetz.en kann, aber nicht muß. W issenschaftliche Meinungen kann der J urist ebenso wie der Literaturwissen schaftler und Theologe unbeachtet lassen. wenn sie ihn nicht überzeugen und sich die A u seinandersetzung aus seiner Sicht nicht lohnt. Die Meinungen hingegen, die sich i n Präjudizien n iedergeschlagen haben, bilden für den Richter den Ausgangs punkt seiner Argumentation. Er fügt den bisherigen Auslegungen nicht eine neue hinzu, sondern er stellt sich i n die Reihe der präjudiziellen A uslegung und schafft selbst ein Präjudiz, das seinerseits zum A usgangspunkt künftiger juristischer Inter pretation wird. Auch der Rechtswissenschaft/er arbeitet niemals 'bloß wissenschaft lich', sondern übernimmt eine i n die öffent liche praktische Lebensgestaltung hinein w i rksame Verantwonung, da rechtswissenschaftliche Hermeneutik stets auf Vor· schläge für künftige gerichtliche Entscheidungen h i nausläuft.
W O L f HART PANNENBERG F RA G E U N D A NTW O RT DAS N O R MATIVE I N C H R I STLI C H E R ü B E R L I E F E R U N G U N D TH E O L O G I E
Fragen können ein offenes Orientierungsbedürfnis artikulieren. In den Wissenschaf ten ist das allerdings selten. und zwar sowohl i m Forschungsprozeß als auch in der w issenschaftlichen Diskussion. A llenfalls werden Fragen gestellt, u m möglichst er giebiges Material für weitere U ntersuchungen z u gewinnen. Vorwiegend aber hat das Befragen der Natur oder anderer M aterialien i n der Forschung den Zweck, H y po thesen ü b e r Sachverhalte z u bestätigen o d e r z u modifizieren. I m w issenschaftlichen Gespräch scheint es vornehm lich der Kritik z u d ienen, und die Philosophie hat eine ganze Kultur des Fraglichmachens venneintlicher Gewißheiten entwickelt. vorgeb lich zu dem Zweck. auf diese Weise das w ahrhaft Gewisse und U nbezweifelbare freizulegen. tatsächlich jedoch nicht sehen mit dem E rgebnis, daß das skeptische Fragen selber sich als das einzig Gewisse erwies. Es ist nicht immer leicht, solche skeptischen Tendenzen vom maieutischen ,",,' esen philosophischen Fragens z u unter scheiden, das dem Befragten ein verschüttetes Wissen und die ihm verborgenen Bedingungen seines Denkens und Seins zum Bewußtsein bringt. Die christliche Theologie hat sich früh als amwortgebende Rede verstanden. Der erste Petrusbrief forderte die Christen auf. jedermann " Rede und Antwort z u ste hen" (hOlt'Ol llfl 1t'QOt; lmo�OYla'V) h i nsichtlich ihrer Hoffnung ( 1 . Petr. 3 , 1 5), und das 7.weite Jahrhundert ist als das Zeitalter der Apologeten in die G eschichte dC'r christlichen Theologie eingegangen . Die Fonn des Dialoges gab in der Folgezeit den christl ichen Theologen Gelegenheit, die christliche Lehre als alle Fragen voll befrie d igende Antwort vorzutragen. U m gekehrt entwickC'he das M ittelalter die quaestio, u m den überl iefenen Lehren auf den G rund z u gehen. In der gegC'nwärtigen Theolo gie aber hat die Frage eine besondere, nicht nur die Methode. sondern auch den Gegenstand der Theologie - das Verhäl tnis von Gott u nd Mensch - strukturierende Bedeutung gewonnen. Den Ausgangspunkt dafür bildC'te wohl der Marburger Neukantian ism u s ' . Wilhe1m Herrmann hat ihn in seiner Beschreibung des "Weges 7.ur Religion" dahin modifizien. daß er von der " Verpflichtung" des einzelnen zu der " Frage" nach dem eigenen Leben sprach2• Karl Banh hat diesen Gedanken i n der I '!l.he K . Z i l luher, · ' F rage··. I n Hut(J"'Cb�1 Wärtrrb",b ihr Ph;lolopbi�. hg. J. Riner, Ud 2 , ßa.\el I972. "'p. I OfoO. : \tr. H e r rmann, Etbl'. Tubmgen ' I ' U l. S . 92 ff. V g l . die po u h u m publi7.iene /Jog""''', G o t h a 1 9 2 5 , s. I S f . , so .... i e w. GrC'ive. D � r Gr",.J JC'I GLt"�,,, - DI� Cb"'IoIog,� WJhc-l", Hrrrm. ,.,.• . GottingC'n 1 '176. S S9ff . . 1 I 2 ff.
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zweiten Bearbeitung seines Römerbriefs 1 922 dahin weitergeführt, daß im Fragen nach Gott bereits die göttl iche Antwort gegeben sei. so daß es gelte. in der Frage nach Gott zu bleiben}. Diese Frage stellt sich der Mensch nicht bloß, "er ist sie"�. Vor allem aber ist das Fragen des Menschen nach Gon schon durch die Antwort bedingt, die Gott selber ist: "Gon hat geantwortet, ehe sie riefen, und eben darum, einzig darum rufen sic"\ Damit kehrte Barth den Ansatz Herrmanns beim Fragen des Menschen um zu seiner These von der Priorität der Offenbarung Gones vor allem menschlichen Fragen: Die Frage des Menschen nach dem eigenen Seihst grün det bereits darin, daß er von Gon her in Frage gestellt ist". Schon 1 920 hatte Barth diesen Gedanken formuliert : "Es gibt Fragen, die wir gar nicht aufwerfen könnten, wenn nicht schon eine Antwort da wäre, Fragen, an die wir nicht einmal herantreten könnten ohne den Mut jenes augustinischen Worte s : Du würdest mich nicht suchen, wenn Du mich nicht schon gefunden hättest !"7 I n seinem Kampf gegen alle ' natürl iche Theologie', also gegen jede vom Menschen ausgehende Gotteserkenntnis, hat Barth später die Deutung des menschl ichen Da seins als Frage nach Gott zu rücktreten lassen. Rudolf Bu ltmann hingegen hat sie beibehalten, bestärkt du rch Martin Heideggers philosophische Ausarbeitung der Frage nach dem Sein als 5einsbestimmtheit des Daseins in Sein und Zeit 1 92 7 . An Heidegger anschließend hat auch Karl Rahner die für das Menschsein konstitutive Seinsfrage theologisch gedeutetR• I n dieser Frage ist nach Rahner die Bejahung eines Seienden absoluter 5einshabe immer schon m itgesetzt. Und schließlich hat Paul Tillich in seiner Systematischen Theologie das Programm einer apologetischen Theo logie entwickelt, die die Aussagen des Glaubens als christliche Antwort auf das existentielle Fragen des Menschen nach sich selbst auslegt9• Die überl ieferte christliche Lehre wird bei alledem nicht in Frage gestellt, sondern im Gegenteil behauptet, indem sie als Antwort auf Fragen dargestellt wird, die notwendig zum Menschen gehören oder sogar mit dem Vollzug mensch licher Exi stenz identisch sind. Die in ihrer Vorgegebenheit nicht mehr unmittelbar überzeu genden Lehraussagen der überlieferung sollen auf diese Weise neue überzeugu ngs kraft gewinnen. Es handelt sich also um eine Form hermeneutischer Applikation der Tradition. Der Sache nach ist die Theologie auch früher schon ähnlich verfah ren. 50 J
Belege bei W . Pannenberg, " D i e Frage nach Gon", in Vf., G"mdfr�gen 'YJtem�,jJ(:her Thl'nlogl". Gättingen 1 967, S. 366 f .
• K. B:m h, ChrIStliche Dogma,ik, Munchen 1 927, S. 7 1 ; \'gl. d e n . , D�s War, Gottes und die Theologle Gl'$4Immelte Vor,r.ige. Munchen 1 924, S. 1 6 1 . � K . Banh, Der Römerbrief. Zürich, 2 . Ausg. 1 92 2 , S . 367 . • So K. Barth in scincr AU5einandcr5eu:ung mit Herrmanns Dogmatik, In K. Rarth, n,,, TheologIe "nd die Kirche, Munthcn 1 92 8 , S. 266. , " Ocr Chri�1 in der GC5C"II�thaft" ( 1 920), in K . Barth, D4J Wort GotteJ und die TheologIe, M unchen M �
1924, S. 3 5 . K . Rahner. Hörer des WorUJ ( 1 940). München ' 1 963, S. 1 00 ff. Vgl. den . ; G,.,."dkurJ des GloiJ"he"" Frciburg 1 976, S. 2 3 . SyJtem411Jche Theologie I , Stutlgart 1 955, S. 74 ff. Vgl. 7U B u h m a n n und T i l l ' c h a u c h den oben Anm. 3 ;r. i t . AufuI7. S. 368ff.
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ist i n der evangelischen Theo logie d i e Heilsbotschaft des Evangeliums als Antwort auf die Lebensfrage des unter der Anklage des Gesetzes zerknirschten Sünders dar gestellt worden : Die Botschaft der Vergebung beantwortet die Frage seiner Schuld. Das Schema von anklagendem Gesetz und freisprechendem Evangelium steht auch hinter Wilhelm Herrmanns Theologie der Frage und h inter dem hermeneutischen Schema von Frage und A ntwort in der evangelischen Theologie d ieses Jahrhunderts. Dabei ist allerdings schon seit der neupietistischen Erweckungstheologie des frühen 19. Jahrhunderts das Schuldbewußtsein nicht mehr unmittelbar vorhandene Voraus setzung der christl ichen Erlösungsbotschaft, sondern diese Vorausset1.ung muß von der Theologie - und nicht nur von der Theologie, sondern schon von der christl ichen Predigt - selber erst hervorgebracht und gewährleistet werden, damit das trad itio nelle Verständnis der christl ichen Lehre seinen Add ressaten noch erreicht. Dennoch ist, wie Nietzsches Moralkritik paradigmatisch erkennen läßt, das hier vorausge setzte ethische Normbewußtsein zunehmend erod iert. Demgegenüber hat die theo logische Explikation des Menschseins selber als Frage entweder die Funktion, d iese Erosion aufzuhalten, oder aber sie sucht die Verstehensbedingungen der christlichen überlieferung allgemeiner zu formulieren, indem sie über das moralische Thema h i naus den menschlichen Lebensvollzug insgesamt als Frage expliziert, auf die der Gott der Bibel in seiner Offenbarung antwortet. Das heißt nicht, daß die Menschen von sich aus ihr Leben immer schon als Frage nach Gon verstehen. Sie werden vielmehr frst d urd'", Theologie und Verkündigung dazu angeleitet. So geseher l ist die Formulierung der Fragen, auf die die Theologie antwortet, gewissermaßen fiktiv. Diese Fragen werden um der Trad itionsverm inlung willen entworfen und dienen der Applikation der überlieferten Lehre. Erstaunl icherweise hat d as fiktive Erzeugen von Fragen, auf die hin dann das, was der Theologe schon vorher weiß, als Antwort beziehbar wird, auch Nichttheologen fasziniert. Das ist möglicherweise' darum so, weil das Fragen an sich zweideutig ist und auch ein kritisches Verhä ltnis zur Trad ition implizieren kann. Das aber ist im theologischen Gebrauch des Schemas von Frage und Antwort gerade nicht gemeint. E s geht ihm vielmehr um d i e Applikation einer als normativ vorausgesetzten Trad i t i o n . Erst recht wird k e i n Verharren in einem Fragen ohne Antwort intendiert. A l lerdings vermag eine d erartige Auszeichnung des Fragens vor allem möglichen A ntworten wohl auch nur eine intellektuelle leisure dass zu befried igen, d i e es sich le isten kann, sich in einer Distanz zur Realität und so 'auch in der Schwebe des F ragens zu halten. Wir gewöhnlichen Menschen müssen uns damit begnügen, mit O bcn:eugungen zu leben, solange die sich in den Erfahrungen unseres Lebens be währen.
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L iegt solcher Priorität der Antwort i n der theologischen Hermeneutik zugrunde, daß sie von vorgegebenen Normen ausgeht. die im Prozeß der überlieferun g und Auslegung ähnlich den j uristischen Gesetzesnonnen appliziert werden? Theologi sche Hermeneutik ist i n der Tat nicht selten so verstanden und praktiziert worden. Als vorgegebene Norm galt dann die Heilige Schrift oder die Kirchenlehre in der Weise, daß der i n der jeweiligen A u s legungssituation gegebene Sachverhalt ihr als A n wendungsfall z u subsumieren und alle dogmatischen Aussagen der Theologie aus ihr abzuleiten w ären. Aber die Bibel ist ein Geschichtsbuch, und darum ist es ihr nicht angemessen, analog einer Gesetzesnorm angewendet zu werden. Geschieht das, dann benützt man die B i bel als eine Sammlung von Beispielen typischer Situa tionen des Menschen vor GOtt, und es gilt, darin die eigene Gegenwart w iederzuer kennen. So verfährt freilich so manche christliche Predigt, ohne daß der Prediger sich darüber im klaren w äre, daß dabei die Bibel w i e ein Gesetzbuch zugrunde liegt oder wie ein Kommentar zum göttlichen G esetz i n Gestalt einer Sammlung paradigmati scher Rechtsfälle. Die geschichtliche Einmaligkeit der biblischen Geschichten wird dabei ebenso verfehlt w i e die andersanige, aber wiederum einmal ige Geschichtlich keit der jeweils neuen A u slegungssituationen. Eher als mit einer gewöhnlichen Gesetzesnorm läßt sich die B ibel mit Verfas s ungstexten vergleichen. Eine Verfassungsnorm enthält auch narrative Elemente, speziell i n i h rer Präambel, und so kann in der Tat die Heilsgeschichte in der B ibel als Präambel des göttlichen G esetzes fungieren. Das ist jedenfalls im Alten Testament der Fall. Zu Beginn des Dekaloges w ird der rechtsetzende Gott durch den Verweis auf die H e ilsgeschichte identifiziert, d i e seinen Rechtsanspruch auf die Bundestreue Israels begründ e t : "Ich bin Jahwe, dein GOtt, der dich aus dem Lande Ägypten, dem Sklavenhaus. herausgeführt hat" (Ex. 20, 1 ) . Diese Präambel des Gottesrechtes ist schließlich z u der ausführlichen Schilderung des Auszugs aus Ägypten im Buche Exodus erweitert worden, w ährend alle später formu lierten Rechtsnormen in die Ursprungssituation am Sinai zurückdatien und als Bestandteile der Sinaigesetzge bung überl iefen w u rden. I m Verhältnis zur Präambel einer Staatsverfassung fällt allerdings im G anzen des Pentateuchs die A usweitung des erzählenden Stoffes auf, die besonders mit der Einbeziehung der i m Buche Genesis vorangestellten Väter überlieferun g und U rgeschichte gegeben ist. Durch die Hinzufügung der Ge schichtsbücher und der prophetischen Bücher im alttestamentlichen Kanon ist dieses narrative Element erheblich verstärkt worden. Das dürfte zwar nicht die bei der Kanonbildung leitende Absicht gewesen sein. Die prophetischen Schriften und Ge schichtsbücher d ü rften eher als eine Art Kommentar zum göttlichen Gesetz verstan den worden sein. Tatsächllch aber kann der alttestamentl iche Kanon als durchla:Jfen der Erzählungszusammenhang gelesen werden, in welchem die Gesetzeskorpon und weisheitliche Spruchsam m l u ngen w i e Einsprengsel w irken. Diese Sicht setzi sich vollends im Urchristentum d u rch. Dem U rchristentum erschien die ganze jücische
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Bibel primär u nter narrativen Gesichtspunkten, denn auch das mosaische G esetz wurde nun einbezogen in die typologische A uslegun g : Seine Bestimmung ist es, durch die Geschichte Jesu erfüllt zu werden. So rückt in der Perspektive des U rchri stent ums das ganze Gesetz mit i n die Funktion der Präambel des Dekalogs ein. Es ist nicht mehr unm ittelbar verpflichtende Norm i m Sinne der auf d i e Präambel folgen den Verfassungssätze. So ist das Gesetz samt den Propheten für die Ch risten z u m " A l t e n Testament" geworden. Wie steht es nun aber mit der Lehre Jesu ? Fällt ihr n u n mehr die Funktion einer auf jene Präambel gegründeten Verfassungsnorm der K i rche z u ? Es muß z ugestanden werden, daß die Lehre Jesu im Christentum weithin s o verstanden worden ist. Das Evange l i u m erschien als n o v a lex. Aber dabei ist doch Entscheidendes übersehen worden. Das läßt sich gerade am Matthäusevangelium zeigen, auf das eine solche A u ffas sung sich am ehesten stützen kann, weil es die Geschichte Jesu typologisch auf die des Mose bezieht. Die Gefährdung u n d Rettung des Kindes, die Flucht nach Ägyp ten, der A ufenthalt i n der Wüste, vor allem aber die Bergpredigt als Gegenstück z um Sinaigesetz stehen in deutlichen Beziehungen z u r Geschichte des Volkes I srael i m ganzen und zu M o s e im besonderen. I n der Bergpredigt - a b e r a u c h in s e i n e r H e i lungstätigkeit - erweist s i c h J e s u s als der 'neue M o s e ' , der d i e Sendung des ersten Mose eschatologisch vollendet und überbietet. Aber er verkündet kein neues Gesetz. Vielmehr werden die überlieferten G esetzesforderungen d urch Verschärfung i n die eine Forderung der Vollkommenheit aufgehob e n : " I h r sollt vollkommen sein wie euer Vater im Himmel vollkommen ist" (Mt. 5 , 48). Dabei geht es - w i e das Voran gehende zeigt - um die Liebe Gottes z u den Menschen, i n die die J ünger sich hineinziehen lassen sollen. So tritt an die Stelle der Gesetzesforderungen des alten Bundes das eine Gebot der Liebe. A lso doch ein neues Gesetz, wenn auch konzen trie" auf d iese eine Ford erung? Mir scheint entscheidend z u sein, daH d i e Forderung der Liebe i m Kontext des Evangeliums noch einmal i n einen narrativen Zusammen han!! aufgehoben wird, denn die Forderung der Liebe findet in der Geschichte Jesu ihre Darstellung, in Jesu Weg zum Kreu7. . Darum entspricht ihr d�r Christ auch nicht unmittelbar durch sein eigenes Tun, sondern d u rch seine Gemeinschaft mit Christus. Die Liebe wird Wirklichkeit bei den Menschen nicht u n m ittelbar d u rch morJlisches Handeln, sondern durch die sakramentale Gemeinschaft mit Jesus Chri stus. im sakramentalen Lebenszusammenhang der K i rche. A l s G l ied der Gemein schaft der Kirche w i rd der einzelne Christ Jesus Christus " gleichgestahet", wie Paulus sagt - aber nicht d urch Subsumtion unter eine Gesetzesnorm, sondern so, daß er freigesetzt wird in seine eigene Geschichtlichke i t ; denn wo Liebe sich ereignet sei es auch in noch so geringem Maße - da kann das n u r in Freiheit geschehen. \'C'egen i h rer Gesch ichtlichkeit, die eng mit der Konzentration des Gottesw illens auf lien Liebesgedanken zusammenhängt, der wiederum unzertrennlich mit der Frei heit jedes einzelnen Christen und also mit dessen eigener Geschichtlichkeit zusam men:;ehärt, kann die Bibel für den Ch risten nicht Norm i m Sinne eines Geset7.estex-
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tes sein. Sie kann als 'Norm' nur in einem ganz allgemeinen Sinne gelten. nämlich im Sinne von " Lebcnsorientierung" (D. Böhler). So ist sie Kanon, nämlich XQVWV tiJs: a).:r,,& E la;. Richtschnur der Wahrheit. insofern nämlich die Geschichte, von der sie berichtet, zur " Lehensorientierung" für alle Folgezeit wird, so daß in dieser d i e biblische Geschichte e i n e Fortsetzung findet. Die bibl ische Geschichte selber w e i s t ja über sich h inaus auf eine letzte Zukunft Gones, der alle Folgezeit entgegengeht. und so orientiert sie den Christen. indem sie ihn in seine eigene Geschichtlichkeit ein weist.
Ehensowenig wie die Bihel als Gesetzesnorm oder Präjudiziensammlung. fungiert die Predigt als Urteil, das die Gesetzesnorm auf die jeweiligen Hörer anzuwenden hätte. Zwar gilt auch hier wieder, daß manche Prediger sich allerdings so gebärden. als ob sie das göttliche U rteil verkünden, indem sie das Wort Gones handhaben als ein "zweischneidiges Schwert" (Hebr. 4, 1 2). Aber jesu Wort : " Richtet nicht. auf daß ihr nicht gerichtet werdet" (Mt. 7, 1 ) gilt doch wohl auch für den Prediger. Ein H i rte soll der ' Pastor' ja sein und nicht ein Richter. Die Predigt soll die Hörer einbeziehen in den Zusammenhang der Geschichte Gones mit der Menschheit, die in jesus Christus vollendet ist. indem ihr Ziel und Ende (das Reich Gones) i n ihm vorwegnehmend gegenwärtig geworden und darum auch in ihm 7.ugänglich ist. Das ist keine Funktion richterlichen Urteilens, sondern Sache sakramentaler Gemein schaft. Dennoch steht die Predigt ebenso wie das Wort jesu in einer Beziehung zum Gericht Gottes. das der Christ in Verbindung mit dem Kommen seines Reiches und der Wiederkunft Christi erwanet. Auch die Botschaft jesu stand ja in einer Bezie hung zur Zuku nft des Gerichtes Gottes : Der Christus des johannesevangeliums sagt von sich einerseits, er sei nicht in die Weh gekommen, um zu verurteilen, sondern um die Welt zu erretten. Darum verurteile er auch den nicht, der seine Botschaft ablehnt. Aber dennoch geht. wer das Won des von Gon Gesandten m i ß achtet, seinem Gericht entgege n : "Das Won. das ich gesprochen habe. wird ihn verurteilen am jüngsten Tage" (joh. 1 2 , 4 7 f.). Wer sich jetzt z u jesus bekennt, entgeht hingegen dem künftigen Gericht Gottes über die U ngerechtigkeit der Welt (vgl. Lk. 1 2 , 8 pass.). I n diesem Sinn verkündet auch d i e christliche Predigt den Freispruch i m Endgericht - d i e Rechtfertigung des Sünders - für den, der sich zu jesus bekennt u nd an der Gemeinschaft mit ihm festhäh. A nders als der Freispruch im Prozeß d urch das U rteil des Richters ist die christliche Vergebungsbotschaft dabei abhängig von Bekenntnis und Glaube des Betroffenen. Das ist darum so, weil es sich um den Freispruch im k;;nftigen Gericht Gottes handelt, der durch jesus Christus schon gegenwärtig vermittelt und zugänglich ist. In diesen Zusammenhang gehört auch derjenige Sachverhalt, bei dem die Nähe der theologischen zur j uristischen Hermeneutik am größten sein dürfte : das Dogma.
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Zwar fu ngiert auch d a s Dogma nicht einfach a l s Gesetz (es s e i denn m ißbräuchlich), aber es nimmt doch in den christlichen Kirchen eine der Rolle des Gesetzes in der jüd ischen Religion vergleichbare Schlüsselposition ein. A nalog dem jüdischen Ge setz näml ich ist das Dogma Kriterium der Heilsteilhabe, allerdings nicht als Norm des HandeIns, sondern des G laubens. Wie kommt es im Christentum zu dieser Funktion des Dogmas ? Die Verkündi gung jesu faßte das Gesetz in das Liebesgebot zusammen, das in jesu eigener Ge schichte erfüllt wird, und zwar ineins damit, daß die Heilszukunft des Gottesreiches in seinem Auftreten schon Gegenwart geworden ist. So ist das Gesetz in die Gones geschichte aufgehoben, die auf die Zukunft seines Reiches hinführt, die in jesus Christus schon anbricht. Kriterium der Teilhabe an dieser Heilszukunft ist daher nun die Zugehörigkeit z u jesus, das Sich bekennen zu ihm (Lk. 1 2, 8 f.). Die Heilszu sage, die jesus an das Sich bekennen z u ihm geknüpft hat. ist zum A usgangspunkt der Entwicklung des Bekenntnisses im Christentum geworden1o• Dabei ist das personale Bekenntnis zu jesus im Sinne der Zugehörigkeit zu ihm fortschreitend ausgeweitet worden durch Sachaussagen, die der Identifikation jesu als dessen. zu dem der Glaubende sich bekennt, dienen. Zu diesen Sachaussagen gehören die Angaben des Credo über den geschichtlichen Weg jesu, aber auch die über Gon den Vater und über den Heiligen Geist, die das Verhältnis jesu z u Gott und seine fortdauernde Gegenwart in der Kirche durch den Geist zum Inhalt haben. Sie stehen in den altki rch lichen Bekenntnistexten im Rahmtn einer s"",·ohl laei.l�geschichtlichen als auch trinitarischen G l iederung: Der Gon, zu dem sich der Christ bekennt. ist selber durch sein geschichtliches Handeln identifiziert. Das Vorwiegen der narrativen Ele mente i n den Bekenntnistexten bedeutet aber dennoch nicht, daß das Credo als eine Reihung narrativer Sätze aufzufassen wäre. V ielmehr treten die narrativen E lemente i n der Form von Relativ- und Partizipialsätzen auf, die jeweils dem Vater, dem Sohne und dem Heil igen Geiste zugeordnet sind, auf die sich das ' Ich glaube' bezieht. Es geht also beim Credo immer noch primär um das Sichbekennen zu dem in jesus Christus offenbaren Gon. Die narrativen Elemente des Credo dienen der Identifika tion des Gones, dem das Bekenntnis gilt. Sie gehören darum aber auch zur Authenti zität des Bekennens selber. Aus diesem Grunde konnten die einzelnen Aussagen des Bekenntnisses - die durch spätere Dogmen weiter ausgebaut wurden - als Kriterium der Zugehörigkeit zu Christus und daher auch zur Kirche Christi gelten und den Status von kirchlichen Rechtsnormen gewinnen. Insofern das Dogma Kriterium der Gemeinschaft mit Christus ist, entscheidet sich an ihm auch die eschatologische Heilsteilhabe des einzel nen und ganzer Gruppen. I n der Bedeutung des Dogmas für das Christentum äu ßert sich das eschatologische Bl'wußtsein des christlichen Glaubens. Ihm eignet die spezifische Versuchung, das eigene G laubensbewußtsein mit der Endgültigkeit der göttlichen Wahrheit zu identiI:
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fizicren. Daraus ist die christliche I ntoleranz hervorgegangen, die die Kirchenge schichte als d u n k ler Schatten begleitet hat. Der Verwechslung der Bekenntnisaussa gen mit der eschatologischen Wahrheit Gottes steht aber der narrative Rahmen des Credo entgegen : Darin ist j a von einer künftigen Vollendung die Rede, die der Bekennende noch vor sich hat. Das impliziert , daß auch das gegenwärtige Bekennen selber noch diesseits der k ünftigen Vollendung steht. Darum d ürfen die Formeln des Dogmas nicht - wie das so oft geschehen ist - mit der eschatologischen Offenha rungswahrheit, die ihr I nhalt ist, identifizien werden. Vielmehr müssen die Formeln des Dogmas Gegenstand einer A uslegungsgeschichte auf eine noch z u erwartende, endgültige Offenbarung seines I nhalts hin werden. D iese Erkenntnis hat sich in der heutigen Theologie mehr oder weniger allgemein durchgesetzt und läßt sie von einem lehrgesetzlichen G ebrauch des Dogmas Abstand nehmen. Stattdessen w ird der Glaubende zusammen m i t dem Nichtglaubenden in eine noch offene Ausle gungsgeschichte von G egenstand und I nhalt des Bekenntnisses verwiesen. Er wird damit an d i e eigene gesch ichtliche Erfahrung verwiesen - aber so, daß über allem Wandel, Fortschritt und auch aller Verdunkelung des eigenen Verstehens der Bot schaft u n d Geschichte Jesu von Nazareth i n ihrem Verhältnis zur Gottesgeschichte I sraels bestehen bleibt, daß ihr nie schon erschöpfend erfaßter Sinn einmal das Krite rium der eigenen wie jedermanns Teilhabe an der Heilszukunft des Gottesreiches sein wird. Auch die Nachbarschaft des Dogmas z u m Gesetz also löst sich wieder auf, wenn das Verhältnis seines eschatologischen Sinnes z u seiner geschichtlichen Formulie rung beachtet wird. Dogma und K i rchenrecht treten dann i n ein differenzierteres Verhältnis, wobei das K i rchenrecht der pastoralen Perspektive einer Bewahrung der G emeinschaft der G laubenden i n der Vorläufigkeit ihrer Gesch ichte d iesseits der eschatologischen Zukunft G ones eingeordnet wird. Freilich könnte auch das positi vierte Recht i n analoger Weise als nie schon endgültig maßgebliche Formu l ierung der Bedingungen wahrhaft gerechten Rechtes verstanden werden, dessen adäquate Ver w irklichung Christen und J uden von der alle menschliche H errschaft aufhebenden Z u kunft der Gottesherrschaft erwarten. Als Norm verstanden steht die ü berlieferung dem Menschen gegenüber mit dem Anspruch auf Gehör, wenn nicht sogar auf Gehorsam. Sie stellt sich dann dar als Antwort auf alle Fragen des Menschen. Die Geschichtlichkeit aber als Element der biblischen überlieferung und sogar des bibl ischen Gones selber verweist den Men schen i n seine eigene Geschichtlichkeit, i n die Selbständigkeit seiner Freiheit. So begegnet sie ihm als Frage : " Adam - wo bist d u ? " D i ese Frage fragt den Menschen nicht nach einer vorformu l ierten Katechismusantwort, sondern nach ihm selber 1 l , 11
Auch die Kalechism usanlworten haben allerdings auf der Ebene der Katechismustexte selber den Charakler einer eigenen, sdbsÜlndigen Darlegung des Glauben� d u rch dcn Befraglen. Sie bc-schrank"'l1 sich nicht auf die Zuslimmung zum Lehrvorlrag eines anderen - wie es so häufig i m platonischeIl Dialog geschieht und auch i n den d ialogisch formulierten Taufbekennlnissen der Ahen K i rche, ill denen dcr Täufling auf die Tauffr.agen nur z u ant ....orlen hat : "Ich glaube"". I n den Katcchismen der
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u nd a u f s i e antwortet m a n nur m i t d e m eigenen Leben. S i e spricht d e n Menschen a u f seine Freiheit a n . i n d e r er freilich a u c h s i c h selber übernehmen u n d v o r d e m s o Fragenden verantworten m u ß . Dadurch w i rd er i n ein eigenes Fragen gebracht, das ihn i m Prozeß einer neuen Lektüre der Tradition dann vielleicht auch seine eigene Antwort i n i h r finden läßt.
RdC'lrmaliC'ln�:rc-it w i rd dc-r G laubc-nsinhah e:rst in dc-r Antwon dc-s Katc-Churnc-nc-n c-ntwickdt. Sie: ,e:be:n dahe:r C"xemplarischc- Daulc-l I u nge:n c:iGe:ne:r R«hcnschah ubc-r de:n G laubc:n. I m traditiondlc:n Kale: ,hismusunle:rri,hl ...·urde: dic:se:r Sa,hvC'rhah al lc:rdings " �'rkehrt In dill' auswC'ndigC' und idc-ntischc- WiC' de:rholung sIC'rcot)·p vl1rgc:gC'bc:nc:r Antwoncn.
W A LTER MAGASS
CREDO - VOM B E K E N NTN I S Z U M R E S U LTAT
t . Für die Literatur und das Recht, für die gottesdienstliche Gemeinde und die Theologie hat es immer die Frage nach den Nonnen und Regeln (canones, norma ac regula) des Lesens und der Auslegung gegeben. Wenn Plinius d . ] . im Brief eine Studienanweisung gibt (VI I , 9), dann spricht er von Texten, "praeterea imitatione optimorum similia inveniendi facultas paratur" , spricht er davon, wie man mit den erlesenen Geistern spricht und wetteifert (certare cum electis), dann spricht er von den summi oratores . . . , den optimi : 'Wer diese A utoren sind, ist so bekannt und entschieden, daß es keinen weiteren H inweises bedarf' ("qui sunt hi, adeo notum probatumque est, ut demonstratione non egeat"). Die B ischöfe gaben zur episkopalen Einschärfung gern die Wächterregel des Ete okles aus Die Sieben gegen Theben weiter: über die Mauern ebenso zu wachen wie über die Rede auf dem Markt ; beide bedürfen der custodia, beide der inspectio und der reformatio. Die Fürstenspiegel und die H i rtenbriefe haben dieses Custodia Motiv immer festgehalten : Depositum custodi =: Bewahre, wa� dir anvertraut ( t . Tim. 6, 20). Diese Ermahnung aus dem Depositenrecht wurde in der Alten Kirche für die Auslegungsstreitigkeiten beerbt und anverwandeh, angeeignet l • D i e Reformatoren u n d d i e Bekenntnisschriften fragen erst recht in unübersichtli chen Verhältnissen des entgrenzten Pluralismus nach den Leseregeln : "et sola sacra scriptura iudex, norma et regula agnoscitur" 2 . Henneneutik ist hier eine Funktion des komprehensiven Wächteramtes, in der gemeinsamen Weh mit den Propheten und Aposteln zu bleiben, daß man Kanon und confessio fidei als wohltätigen Zaun empfindet und versteht und die kirchlichen Ämter als munera per vices1• Gegen den Eigensinn und die Gespreiztheit will der Kanon als hermeneutische Stützfunktion verstanden werden, sich vom H ier und Heute nicht betäuben zu lassen ; Kanon gegen den Aktualitätsdruck der Situation (Gal. 6, t 7). I nsofern sprechen in der confessio fidei die Fernen des consensus patrum immer mit; der Gottesdienst als Aufhebung der Distanzen. Zu einem Kanon im disziplinierenden Sinne gehört die auctoritas directiva der Klassiker, über Streitfragen ein Urteil oder eine Leseregel z u geben. Iudicium, iudi care ist die spezifische Fähigkeit der guten Autoren. in Schule, Kirche und Gericht I Vinz�nz von l�rin. Co",numitori.. ",. Pl 50. S. 667. - W . Magaß. " Ob�r di� bischöflich� R�de··. in Ftsmhrift fiir F. P.upr/tt. Munchen 1 976, S. )19-)59. : Di� Concordien·Formd. VOI'I Jtm s.. mmllrisrhtl'l Btgriff ( 1 5BO). , J. Tri�r, · ' O b�r d,e Herkunh einig�r Wöner d�5 sittlichen B�r�ichs". i n StIlJ",m GtnnAlt 1 ( 1 9471"8).
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über den Sinn der Schriften und ihre Interpretation z u befinden, Grenzen der A usle gung zu bewachen und schließlich abwehrend petulantia ingenia im Zaum z u halten : ad coercenda petuiAntia ingenia ist eine alte Fonne! der römischen Amtsträger. Tri dentinum und Vaticanu m I halten diese coercitio noch fest. 2 . Für die Predigt und die Katechese gibt es die Gesichtspunkte der Applikation, in
die Situation die idiotai et illiterati auch einzubeziehen. Die Liturgie ist aber auch an das prophetische und apostolische WOrt gebunden ; B ischof und Plarrer sind gewie sen, das WOrt Jesu so weiterzugeben. wie sie es auch empfangen haben. Die liturgi schen überlieferungen - und das Credo hat darin seinen Platz - sind von den Kirchenvätern als CTeditum verstanden worden: als CTeditum. non inventum. Einem solchen Schatz der Liturgie gegenüber ist auch der Bischof CU5t05. non auctoT. Das heißt : in das Credo als einer Sammlung der Glaubensformeln ist der Referenzrahmen der fragenden Generationen einbezogen. Sprachliche und semantische Schwierigkei ten sind dann wohl die Folge, die in der Predigt und der Dogmenhermeneutik wieder übersetzt werden müssen : kommentierend, erklärend, aktualisierend für die missionarische Situation. In den consensus fratrum gehen auch die Lebens- und Leseerfahrungen der Kirche ein, die Betroffenheit der Glaubenden. Die Fremdheit des Credo fordert zum Ver stehen und zur Annäherung auf, auch das apostolisch Verstandene noch z u verste hen. In der Formel (z. B. der Allmächtige) haben sich Kampf- und Bekenntnissitua tion, übereinkunft mit dem Gesetz, überbietung/Exklusion so niedergeschlagen, daß die lebendige Geschichte nur noch als Abbreviatur, als gefrorenes Resultat da ist. Das zur Kenntnis nehmen, heißt, daß die Glaubensformeln auch im Neuen Testa ment in die Frage- und Antwortsituation institutionell eingebettet sind . eingebettet in eine Predigt, in eine A kklamation, in eine Geschichte, in ein apostolisches Schrei ben4• Hans Lietzmann, Rudolf Buhmann und Ernst Käsemann haben das formel hafte Gut aus solcher Einbettung gelöst und in einem Pragma wie Taufe und Gottes dienst untergebracht. 3 . Summativ - Narrativ? Auf Grund der heutigen sprachwissenschaftlichen For schungslage sollte der pragmatische Aspekt bei unserer Frage nicht unterschlagen werden. In der gottesdienstlichen Handlung sind alle drei Instrumente der ' steuern den' Kirche tätig: der Amtsträger, die Heilige Schrift und das G laubensbekenntnis. Der Gottesdienst hat als Ernstfall auch die prophetischen Kampfansagen und die liturgische 'Syntheke', bei der sich in Geschichte und Gegenwart die Gemeinde rekonstruierend darstellen kann. Die Theo logie hat hier einen rhetorischen Terminus beerbt. So wie Christus die Zusammenfassung (Anakephalaiosis = recapitulatio; Eph. 1 , 1 0) der Zeiten ist, um
• A . S("tberg. K"uchiJP"UJ fir!' UrchriJtrnhr;t. Mun,htn 1 %6 (Emdruek I.elpzig 1903)
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das H aupt des Leibes zu sein, so hat die christliche Kirche im Credo eine für das gemeindl iche Gedächtnis gesammelte Serie von essentiellen Summativen, mit denen sie sich an antiquitas und universitas der Kirche anschließt. Diese Summative des Credo sind der Auslegung besonders bedürftig und in die überkommene Geschichte der biblischen überlieferungen als ihren angestammten Hori .... ont zu stellen ; dortselbst sind sie implizite Erzählpartien, so wie die Erzählfor schung diese Geschichtenreste durch Analyse auch freigelegt hat. Man sollte den Resuhatcharakter solcher Summative im episkopalen und pastoralen Bereich als 'ky bernetische' Integrale verstehen, mit der konfessorischen Sentenz versammelnd wir ken zu wollen. Die versammelte Weisheit des Credo macht sowohl homiletische als auch kirchen rechtl ich-definitive Anschlüsse möglich - insofern ist der Text der beiden ahkirchli chen S)'mbole " Doxologie und Lehre, Gebet und Zeugnis in einemns, Der gottes dienstliche Gebrauch sieht besonders auf die versammelnde Vernunft des Credo, es ist Gotteslob und Glaubwürdigkeit der testes veritatis in einem. Hier muß man sagen, daß auch die Serie summativer Satzpartien nicht die Distan zen schaffende Kraft des Narrativen hat; das Credo hat eher die Qual ität von apodei xis als \'on d iegesis, eher d i e einer recapitulatio u n d memoria a l s d i e eines biographi schen Paradigmas. So wird auch Quintilian dem pragma des Credo durch " rerum repet itio et recapitulatio"" eher gerecht als die existenzialen Annäherungen der letz ten Zeit. Die Kriterien der Katholizität (antiquitas, universitas und consensus) gehen auch auf die.' Einbeziehung der Hörer durch die Steuer-I nstrumente der Amtsträger. Ku r7.formeln dienen der katechetischen I nternalisierung, der Lernbarkeit und dem sapientiellen Anschluß. Grenzen ziehen und den G renzverdacht betreiben, kann man gut mit solchen Summativen. die missionspragmatisch auch Exercitative sind7• Beerben und integrieren können die Amtsträger mit den Summativen des Credo in institutionell pragmatischer Absicht . 4. Das Credo .:z ls A rgument. Das christliche G l aubensbekenntnis steht morpholo gisch in der Reihe der biblischen und geschichtstheologischen Summarien. So wur den Märtyrer und Konfessoren in einer Reihe genannt. Der Sitz in der Institution d i('se.'r altbiblischen Summarien ist die Litu rgie. Hebr. 11 oder die Summarien des e rsten Clemensbriefes (4-6 ; 9- 1 2 , 7 ; 1 7 ; ect.) nennen auf fonnale Weise geschichtli ChL' A bläufe. Die Josephstradition und die des Petrus werden in solchen antitheti !ii c hen Präd tkationen \'orgetragen: "ihr gedachtet es böse mit mir zu machen. GOtt alxr machte es gUt mit mir" (siehe Gen. 50,20; 49, 2 3 ; 45. 4 ff; Jubi läen 39. 1 1 ; Apg. 2 , J6).
, : s. hlmk, . . Du' Struktur d('r dogm�ti" hcn Ausugc", i n Krryg",,, ""ti Dog",.. 1 1 1 , 1 9S7, S. 2S I " . " .Jumtlll�n. I"JlItlltlO or.. tor.... VI. I . I . • '\ Rom I .:! , ' . Pro'". 2 2 , 2 8 : H l O b J8. 1 1
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Die Christusprädikationen sind über das ganze Neue Testament verstreut. Das Bekenntnis zum Werk und zur Person Jesu kann in einer antagonistischen Formel vorgetragen werden : Vernichtungswille der Menschen. Rettung durch Gott (so Apg. 2 , 2 2 ; 3 , 1 3 ; 4 , 27). Die semantische Opposition kann katechetisch leicht angeeignet werden. Das Christushckenntnis wird aber im Kontext einer kirchlichen Handlung bald auf die soteriologische Ebene (pro nobis, für das Leben der Welt) oder auf die der Akklamation gebracht. Die Satzpartien des Credo sind nicht vorrangig biogra. phiseh, sondern argumentativ zu verstehen : ein kirchlich geordnetes Summar von pithanon-Qualifikationen. Sätzen hoher Glaubwürdigkeit, gedacht für die M i ssions rede, den Unterricht, die Liturgie oder die bischöfliche Ermahnung (2. Tim. 4 , t 11.). Schrift und Amtsträger bedürfen noch der Stütze einer auctoritas directiv a : Sätze, mit denen die gottesdienstliche Gemeinde Gott lobt und mit denen sie ihre ' Liturgie' leistet'. S . Schriftlichkeit und Apostolizität. Unser neuzeitliches Verständnis von Schrift und Schriftlichkeit verstellt uns für ein sachgemäßes Verständnis des Credo eher den Blick, als daß wir das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit überhaupt klar sehen. Die viva vox der apostolischen/pastoralen Rede ist verbindliche Regel des Glau bens. Der Zeugencharakter des apostolischen Wortes kann sich hier i n der Predigt auf Evidenz und Präsenz berufen: so daß die Verbindlichkeit des apostolischen Wortes den Glaubwürd igkeitsgrad von 'Schrift' hat, ebenso Ernstfall, ebenso end gültig wie das gedruckte Wort. Christus nennt die apostolische Qualifikation : "Wer euch hört, der hört mich" (Lk. 1 0, 1 6). Damit haben Predigt und bischöfliche Ent scheidung einen hodegetischen Sinn; verbindlich sprechend für das gemeinsame Le ben haben sie die hermeneutische Dignität der Auslegungsrelevanz (Alfred Schütz). Was dem Schrihwort wohl an Bedeutung innewohnt, i h m aber an Applikation fehlt, das schärft der Amuträger auf die Umstände hin nach der Regel des Glaubens. Regula fidei wird pragmatisch geschärft erst ganz deutlich : als interrogatio de fide zur Taufe, als Ermahnung des Pastors zur gemeind lichen Vernunft'. Die Glaubens regel ist insofern die Gestalt der versammelten Gesichtspunkte für die pastorale Applikation, eine A rt Gegensteuern in u nübersichdichen Verhältnissen. Die Folge ist die gezielte Rede, die mit suasorischen Mitteln w irken w ill. Damit der Prediger nicht nur seine rhetorisierte Bildung zeigt, bindet Tertullian die Glaubensregel der Kirche an den Apostel, d iesen an Christus, diesen an Gott. Das ist in de praescrip tione haereticorum die Reihe der G laubwürdigkeit1o• Regula fidei hat hier die hode getische Qual ität inmitten des unverwaltbaren Pluralismus der überlieferungen.
, o. easel, " leiturgiil - Munus", in Orit'fts cbnst"nllI } ( 1 9J2), S. 289-}02 . • O. CuUmiinn. n,t' t'r'Stt'ft cbristlicbt'rr G/,,"btrr sbt'ltt rr rrtrruse. Zurich 1 949. Tenulliiln, Dt' pr"t'Sn-lpllOftt' b"t'rt'lIcorllm 37. Pl 2 , SO.
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6 . Die Stelle im Gottesdienst/in der Predigt. Was bedeutet es, daß eine Gemeinde ein altes Bekenntnis spricht und sich dieses zu eigen macht? Wird sie sich damit selbst frem d ? Nein! Sie lernt hier ' F remdes' verstehen und begreifen und obendrein sich mit vielen Mineln z u eigen z u machen ; denn im Gonesdienst sind auch die Fernen/ die Väter gegenwärtig und formulieren mit. Erst das Zusammensein der Zeiten im G onesdienst fordert zur Erzählung, zum Bekenntnis und zur Erwartung heraus. Karl Barth sagt dnu : " I m Dogma als solchem hören wir ja nur die Stimme der Kirche. nicht die Offenbarung selbst. Machen wir es uns zu eigen. begehen wir es als rechte kirchliche I nterpretation der Offenbarung, so kann das nur geschehen auf Grund der E rkenntnis seiner Notwendigkeit, und diese Erkenntnis wird sich in einem Versuch z u seinem Verständnis z u bewähren haben" l 1 . Zu sehen i s t d i e sekundäre Zeichenebene a l s e i n Konstrukt d e r Gemeinde, i n jedem Jahrhundert b e i d e r Sache Gones z u bleiben u n d sich nicht vom Saeculum sprachlos machen z u lassen. Gones Zeit macht unsere gonesdienstliche Zeit z u einer des Hörens. Singens und Bekennens; und in diesem Hören. Singen und Bekennen sind die Heil ige Schrift, das Gesangbuch und die Bekenntnisse der Kirche unsere textlichen Adj uvanten, Einsager, liturgischen Engel und Erzengel. Das Credo ist als ein in der Zeit ausgesprochenes auch Widerstand gegen den Alleinvertretungsan spruch der Performanz, gegen den Anspruch des Jahrhunderts : " Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sei nicht sein GeschÖpf"l l . Das Credo versammelt die Generatio nen zeugend und bezeugend - und ruh zu einer ge:ochichtsexterncn Verweigerung auf. dem werbewirksamen Domitian überhaupt z u gehorchen, dem herrschenden 'Domitian', der sich gerade bildpublizistisch darstellt und spreizt. Die Predigt hat diese Verweigerung i m Blick auf den Tag. auf das Echo des Tages, wie eine Applika tion des Wortes Gones z u betreiben. I nsofern gehen in d ie Predigt, in das Gebet und den Gesang konfessorische Aussagen ein. Die Macht Jesu - und das ist ein Skandal ist auch die Entmächtigung des bildpubl izistischen Jahrhunderts ! Darüber muß liturgisch und pu blizistisch völlige Klarheit bestehen, daß 'Ehre sei dir, Christe' die übliche Wahrnehmungsschwelle überschreitet : was gestern im Got tesdienst eine Herausforderung war, das wird morgen liturgiefähig! Erst im Zusam menstoß der Legitimationen wird das 'Jesus Christus Imperator' eine Provokation. So hat das Credo im Gottesdienst und in der Predigt drei verschiedene Funk tionen : 1 . Memoria passionis Jesu Christi. Denn es ist eine große Narrheit, allein weise sein zu wollen. So La Rochefoucauld. 2. Antizipation des uns allen Verheißenen. Erinnerung dessen, was von der Doxa Christi noch aussteht. 3 . Doxologie. Das Bekenntnis als Goneslob. als Antwort auf die großen Taten GOt tes. Sprachlich und semantisch eine spezifische Konstruktion der ecclesia militans. 11 K . B�nh. K,,.ch/,cht Dogm/mlr. Bd 1 , 2 , Zollikon 1 9 3 8 f . . S. 190. I'. Schiller. Obt,. d" iiJlhtlllcht E ,.zith.ng dts Mtnschen (9. Brief).
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MANFRED FUH RMANN
D I CHTU N G ALS N O R MTEXT
" Wiedergewinnung des hermeneutischen Grundproblems" : diese Fonnel Gada mersl zieh auf die Applikation als Teil, ja eigentliches Telos des hermeneutischen Verfahrens. Die Applikation sei der philologisch-historischen Henneneutik des Hi storismus verlorengegangen, sei von ihr durch einen Wissenschaftsbegriff verdrängt worden, der die gesch ichtlichen Gegenstände und ihren Betrachter aus dem Fluß des Geschehens herausnehmen und zu 'objektiver' Erkenntnis bringen zu können glaubte. Die Texte, deren sich die Philologie anzunehmen pflegt, also insbesondere die Dichtung, sowie die Philologie selbst erscheinen in d ieser die bisherige Wertung umkehrenden Betrachtungsweise als das Sorgenkind unter den henneneutischen Wissenschaften, die Theologie hingegen und zumal die Jurisprudenz als Vorbild. Denn dort blieb die henneneutische Grundspannung von Normtext und Anwen dung über den H istorismus hinweg erhalte n ; die Predigt und das richterliche U rteil stellen gewissennaßen Ernstfälle dar, die den henneneutisch ans Licht gebrachten Sinn zu h.mdlungsorientiert:ndt:r Geltung erheben. Gesucht ist also jetzt und dies seits des H istorismus der applikative Ernstfall der Philologie; erstrebt ist die Rehabi litierung der Dichtung als Normtext. Wie sich dieses Programm verwirklichen lasse, wird bei Gadamer minder deutlich als das Programm selbst. Verstehen schließe immer - auch bei Dichtung - die Appli kation des verstandenen Sinnes ein, heißt es an einer Ste lle (5. 3 1 5) ; die Applikation der philologisch-historischen Disziplinen, verlautet ein andennal, bestehe im wir kungsgesch ichtlichen Bewußtsein von ihrem Tun (S. 323); dieses Bewußtsein wird sodann als historische Erfahrung bestimmt, die aus der Beschäftigung mit dem Ge genstand und einer hierdurch bed ingten Verwand lung ins Gemeinsame erwächst (S . 329ff.). Der ' E rnstfall' der Philologie verharrt h iernach im Kontemplativen, in der Reflexion und vermag allenfalls mittelbar (und auf schwer kontrollierbare Weise) praktisches Handeln zu steuern ; außerdem fehlt es ihm an einer konkreten herme neutischen Situation, an einem insti tutionellen Rahmen, in dem ein einzelner - wie der Pred iger, der Richter - auf eine Vielheit ihm durch die Institution Zugeordneter einwirkt. Man braucht nach dem soeben umschriebenen Analogon nicht lange zu suche n : d e r Kirche u n d d e r J u s t i z entspricht d a s Schulwesen, d e m Prediger u n d Richter der Lehrer. der Seelsorge und Rechtspflege die bildende Erziehung. Gadamer deutet
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W"hrhr:,t lmd Mnhodr:. Tubingc:n ' ) 975, S. 290n.
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selbst - bei der Erönerung des Begriffes ' K lassik' - auf d iesen Zusammenhan g : das pädagogische Denken (hier sollte man h i nz ufügen : und Tun) des deutschen Klassi zismus habe die h i storische Dimension m i t einer normativen z u vermitteln versucht; dieses normative Element liege der Idee des humanistischen Gymnasiums bis zum heutigen Tage zugrunde ( 5 . 2 70 f . ) . U nd an anderer Stelle behauptet Gadamer, beim Philologen sei trotz seines Bekenntnisses zur offiziellen Lehre des Historismu s , zu Objektivität und h istorischer Distanz, manches von seiner "älteren Natur", dem gläubigen Aufblick z u Vorbildern (hier sollte man hinzufügen : u nd von der Vermitt lung dieser Vorbildhaftigkeit) erhalten geblieben ( S . 3 2 0 f . ) . Für Gadamer sind d iese aus vorhistoristischen Zeiten herübergeretteten Reste normativen Denkens ein ver heißungsvoller A usgangspu n k t ; mit ihrer H i lfe könnte die Philologie versuchen, den verlorenen Bereich der Applikation zurückzugewinnen. womit die altüberkommene henneneutische Trias in i h rer ursprünglichen Symmetrie wiederhergestellt wäre. Denn in der Tat: warum sollte die einstige A rtistenfakultät. das Propädeutikum zumal für Theologie und J u risprudenz. nicht von genau derselben sowohl explizie renden als auch applizierenden Henneneutik beherrscht worden sein wie die Fakul täten, auf die sie vorbereitete ? Doch die Gemeinsamkeit des normativen Textverste hens reicht noch viel weiter z u rüc k : bis i n die griechischen A nfänge philologischen Bemühens. Die Frösche des A ristophanes sind die älteste Q u elle für die sophistische Lehre, daß die Dichtung vor allem auf die moralische Besserung dessen ziele, für den sie bestimmt sei (v. t 008 ff. ) : "Jetzt antwort e mir und gib mir Beschei d : I was ver schafft den Dichtern Verehrung?" / " Fonnales Gesch ick und moralische Kraft, / mit der sie die Menschen verbessern / im Leben ihrer Gemei nschaft . . . " Der platonische Protagoras erklärt die Dichtung gar für eine Tarnkappe, mit deren H ilfe die älteren Erzieher aus Furcht vor Anfeindungen ihre wahre Absicht verborgen hätten (Prota goras 3 t 6 c/d ) : "Wenn jemand als Fremder in die großen Städte kommt und dort die besten j u ngen Leute veranlaßt. den U mgang mit allen anderen aufzugeben. mit Einheimischen und A usländern, mit Älteren und J üngeren. und sich ihm selbst anzuschließen, damit sie d u rch diesen U m gang besser würden. dann muß er sich hierbei i n acht nehmen. Denn daraus ergeben sich vielerlei Eifersüchteleien und andere M ißhelligkeiten und Nachstel l u ngen. Ich behaupte nun. daß die Sophisten kunst schon alt ist, daß sie indes von denjenigen. die sie einst ausgeübt haben. da sie die ihr anhaftende U nbeliebtheit fürchteten, durch einen Deckmantel verborgen wurde. von den einen d u rch die Dichtung (z. B. von Homer. H esiod und Simonides). von anderen d u rch Weihen und Orakelsprüche (z. B . von den Anhängern des Or pheus u nd des M usaios)" usw. Einer der pädagogischen Traktate Plutarchs trägt den Titel Wie die jungen Leute die Dichter auffassen sollen - sie sollen sich u nter dem Gesichtspunkt von Vorbild und Abschreckung mit ihnen beschäftigen; dann erfüllt die Dichtung ihren Zwec k : sie dient als Vorbereitung auf die Philosophie ("Quo modo adu lescens poetas audire debeat" t S f ; 3 6 d-37b). Die mittelal terliche Schule übernahm diese H ierarchie, wobei sie freilich an die Stelle der Philosophie die christliche Religion sente. H ierfür sind die sogenannten
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A cassuJ ad auctores d a s wicht igste Zeugnis : I ntroduktorien z u sämtlichen Schrift stellern des mittelaherlichen Kanons, die alles, was darin vorkam, Antikes w i e Mit telalterl iches, Geistliches wie Weltliches, nach einem stereotypen Schema behandel ten . Das Hauptaugenmerk richtete sich h ierbei allemal auf die Frage, welche Mög lichkeiten der moral ischen Nutzanwend u ng ein jedes Werk enthahe; dieser Ge sichtspunkt w u rde in R ubriken wie materia, intentio, utilitas erörtert, und zudem sparte man nicht mit Versicherungen w i e " Ethicae s u bponitur, quia tractat de cor rectione morum" - ein G ütestempel, den man selbst der A rs amataria Ovids nicht vorenthielt. So reichte ein Pädagogen geschlecht dem anderen das goldene Gefäß der Dichtung als des vornehmsten I nstruments der J u genderziehung, so recht oder so schlecht sich d ieses Gefäß für eine derart einseitige Zweckbestimmung eignen mochte, und wenn sich bei den H umanisten der formale (ästhetische) Gesichtspunkt mehr Geltung verschaffte, so w u rd e darüber - jedenfalls nörd l ich der Alpen - der inhaltliche (moralische) Gesichtspunkt m itnichten vergessen. Dichtung als Normtex t : Gadamer scheint recht z u haben - erst der H istorismus hat mit dieser ehrwürdigen hermeneutischen Trad ition gebrochen. Oder verhielt es sich gar nicht so ; muß man z u m i ndest die Gewichte anders verte ilen als Gadamer (der ja immerhin mit der Fortexistenz von Restbeständen der älteren Applikations hermeneutik rechnet)? Die Einsicht i n d i e hier obwaltenden Zusammenhänge ist offenbar dadurch erschwert, daß seit dem ausgehenden 1 8 . J ahrhundert eine be stimmte A rt von Applikation i n der T il.[ aus der Schule verschwand, und zwar in eben dem Maße, i n dem sich dort d i e vom H istorismus bevorzugten Texte Geltung verschafften : die individualethische Ausmünzung, die Beziehung auf die Praxis des A l hagslebens, wie sie b i s dahin \·orgeherrscht haue. Denn d i e A ufklärung haue die christliche Religion genötigt, zumal im Bildungswesen Terrain z u räu m e n ; die Dich tung, in der christlichen Schule eine ancilla theologiae, rückte i n der säkularisierten Schule zu einer souveränen Position, zum Kristallisationspunkt von Weltanschauung auf und beschrän kte die 'banale' A l l tagsmoral auf den E lementarunterricht. Der wichtigste Inhalt aber w u rde in allen Schulgattungen von der Vol ksschule bis zum Gymnasium der nationale Gedanke. der National staat. und für die Literatur. die Dichtung, die als die maßgebliche Objektivation des Charakters oder ' Geistes' der Nation galt, kannte man keine vornehmere A u fgabe als den Preis nationaler 'G röße' - wobei die eigene nationale Literatur z u unmittelbarer Identifikation auffordern und der politische Gehalt der griechischen und röm ischen Literatur als anfeuerndes Vorbild d ienen sollte. Zumal dem Gymnasium des nationalen Zeitalters eignete demnach stramme Nor mativität, und zumal Dichtungen waren Normtexte par excellence - n u r daß an i h nen nicht mehr das Verhalten des einzelnen zum einzelnen. sondern Kollektiver lebnisse und -hal tungen, d i e Fähigkeit eines jeden, sich i n die Nation und ins Natio nalheer einzugliedern, geübt wurden. N u n bleibt aber der \"on Gadamer zu Recht ko nstatierte Objektivismus der p h i l o logisch-h istorischen Disziplinen, ihr Rückzug aus der Appl ikation : wie reimen sich d iese Erscheinungen mit der soeben behaupte-
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teD Bindung an das nationale Prinzip? Wer hier nach einer Lösung sucht, m u ß zunächst berücksichtigen. daß sich gleichzeitig mit dem Funktionswechsel der Dich tung eine w ichtige institutionelle Veränderung im Bildungswesen abgespielt hat : das seit dem ausgehenden t 8 . Jahrhundcn obligatorische Abitur zog einen scharfen Trennungsstrich zwischen Gymnasium und U niversität, und Gymnasialpädagogik und U niversitätswissenschaft begannen alsbald. sich voneinander abzugrenzen. Der von Gadamer gesch ildenc Rückzug aus der Applikation war im wesentlichen cin Merkmal der Universitätswisscnschah, die soeben skizzierte Bindung an den natio nalen Gedanken wiederum war im wesentlichen ein Merkmal der G y mnasialpäd agogik. A ußerdem sollte man eine von Gadamer oft verwendete Denkfigur auch hier z u R a t e ziehen ; man sollte fragen, o b dem angeblichen R ü c k z u g aus der Applikation die eigentlich entscheidenden Dinge nicht schon vorauslagen - so daß das h istorisch philologische Credo des 1 9 . Jahrhundens, die ' Voruneilslosigkeit', die ' Objektivi tät', eine I l lusion oder richtiger ein Phänomen der Oberfläche gewesen wäre. Zu dem ideologischen Sockel, auf dem das Objektivitäts programm des H i storismus aufruhte, hat gewiß die klassizistische Antike- Begeisterung ebenso beigetragen wie die roman tische Begeisteru ng für das Mittelalter - die deutsche Antike-Begeisterung z u mindest deutet in der G oethezeit das aus Italien und Frankreich ü berkommene Epochen schema 'antik-modern' in das nationale Schema 'griechisch-deutsch' um; die angeb liche Wahlverwandtschaft zwischen deutschem und griechischem Wesen (und das hieß im Falle der G riechen : dem Vollkommensten, das die Menschheit bislang her vorgebracht hatte) gehörte seither und bis ins Zeitalter der Weltkriege zu den wich tigsten Glaubensartikeln des humanistischen Gymnasiums. Angesichts dieser Gegebenheiten fragt sich, ob nicht die angebliche Objektivität des Historismus eine ancilla nationis, ob nicht die für den Preis des Rückzugs aus der Applikation erkaufte ' Wissenschaftlichkeit' eine tückische Selbsttäuschung der an ihr Beteiligten war. Diese Annahme w ü rde wohl auch den heutigen Betrachter in den Stand setzen, den bisher schlimmsten hermeneutischen U nfall der Neuzeit, die Hy bris des nationalen Denkens, für weniger u nbegreiflich zu halte n : diese H ybris war jedenfa l l s in Deutschland - gerade deshalb so fu rchtbar, weil sie sich mit Erfolg vorzugaukeln vennochte, daß sie das von jedem Applikationsinteresse befreite Er gebnis wissenschaftlicher Erkenntnis sei. Trotz dieser überlegungen besteht Gadamers Forderung, daß es gehe, für die h i storisch-philologischen Disziplinen den Bereich der Applikation zurückzugewin nen, gewißlich z u Rech t ; man sollte sie allenfalls in andere Worte kleiden und vielleicht sagen, daß die genannten Diszipl inen gut daran täten, sich offen zur Appli kation, d . h . z u den leitenden I nteressen ihres Tuns z u bekennen - was zugleich bedeuten müßte, daß man die (in letzter I nstanz moral ischen, jedenfa l l s aber nicht ' w i ssenschaftlichen') Prinzipien erörten, die jegliche Applikation zu steuern hätten, und daß man überdies prüft, ob die Praxis m i t diesen Prinzipien übereinstimmt. Der Abschied von der Dichtung, die Flucht aus der Geschichte h ingegen - l'i n zumal im
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Dcutst.:hland nach H itler praktisch und auch theoretisch oft begangener Weg scheint eher geeignet, abermals in eine falsche Vorstellung von der Bestimmung des Menschen und damit abermals in die Abgründe eines schlimmen hermeneutischen Unfa l l s 7 , U führen.
REINHART H ERZOG
ZUM V E R H Ä LTN I S VON N O R M UND N A R RATI VITÄT IN DEN A P P L I K ATIVEN H E R M E N E UT I K E N
D a s M ißtrauen, der Hermeneut wolle, weil e r d i e Wirklichkeit nicht erkennen könne, sie tatsächlich mittels seiner Texte usurpieren und vergewaltigen, ist alt. Wer den Schleier der Isis nicht zu heben vermag. so Kant, und darum den (hermeneuti schen) Anspruch kundtue, "ihn so dünne zu machen, daß man unter ihm die Göttin ahnen kann " - er zitiert F. H . Jacobis Preis der philosophischen Mythen Platons, mit dem Zusatz "wie dünne, w ird hiebei nicht gesagt" -, der sei in Wahrheit "einer von den Kraftmännern, welche die Göttin beim Zipfel ihres Gewandes erhascht und sich ihrer bemächtigt zu haben vorgeben" l . Das ungalante Bild entspricht der angefochte nen Situation, in der sich der Wahrheitsanspruch einer Texte anwendenden Herme neutik zwischen jenem der die Wirklichkeit erkennenden W issenschaft und der sie verändernden Normendurchsetzungssysteme auch heute befindet. Denn mag auch die Kantische Rangfolge von Erkenntnis und Beherrschung der Wirklichkeit vieler orts umgekehrt, mögen viele versucht sein, das Kantische Bild im Sinne der 1 1 . Feuerbachthese nur z u wörtlich vom Fuß auf den Kopf z u stellen - der Schleier der Isis ist verschieden gelüftet worden, es kommt aber darauf an, ihr die Röcke zu heben - ; nach beiden Ansichten ist nur Platz für einen historisch-kritisch gezähmten Hermeneuten, der im Walde der Bildung oder des ' Erbes' seine Texte vor sich hin versteht : nichts zu suchen ist sein Sinn, und er soll 'nichts zu suchen haben' in der Wirklichkeit. Es sind denn auch die Fronten des Szientismus und des historisch materialistischen Pragmatismus, denen sich Gadamers Wiederentdeckung der appli kativen Hermeneutik alsbald gei!enübersah1, Offensichtlich besteht die Chance der applikativen Hermeneutik darin, daß ihre Einzeldisziplinen die ihnen eigenen Phänomene miteinander vergleichen ; dies ist in der Diskussion - abgesehen vom Fehlen der Historiker und Linguisten - geschehen. Die Diskussion zeigte auch, daß die Nötigung, eigene Applikationsphänomene zu vergleichen, in den Einzeldisziplinen umgekehrt proportional der institutionellen Sicherung eigener Applikationspraxis ist. Konnte der J u rist seine Henneneutik auch als ein I nstrument freund licher Sicherheitsverwahrung gegen seine Praxis störende Einflüsse kennzeichnen (Nörr), so antwortete der Theologe auf die Frage nach dem spezifisch Theologischen seiner Henneneutik mit einer Abgrenzung von der Nach bardiszipl i n : die theologische Hermeneutik sei die historische, aber nur, wenn diese I Kant, Wln'ke, hg . E . C�.'i§ut"r, Bd &, S. 4RSf. : \'gl. Ht,..",r lft,,,Jt ,,,,d IdroJoglrfmtilt. hgg. J. Habt"nnas u . a . , Frankfun 1 9 7 1 .
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selbst theologisch sei (Pannenberg) ; der Literaturwissenschaftler end lich unternahm es, eine mögliche applikative Praxis allererst z u rekonstruieren (]auß). Dennoch fühne das Kolloquium z u einer meh rfach diskutierten, provisorischen Zusammenstellung vergleichbarer Applikationsphänomene, soweit sie während der Auslegungsprozcsse in tcxtucll konkretisierbaren Situationen auftrete n :
Theologie: Recht:
Applicandum:
Normtext:
Applikationstext:
Schrift Fall
Dogma, Credo Rechtsnorm ( z . B. Gesetz)
Predigt U rteil
Als Trias vergleichbarer ästhetischerSituationen kann nach Jauß angefügt werden: Werk
ästhetische Norm
ästhetisches Urteil.
Da diese Zusammenstellung Thesen meiner Vorlage) aufnahm, schließe ich an ihre Diskussion hier einige weitere Beobachtungen und Thesen an. Schemata dieser Allgemeinheit können nur dazu bestimmt sein, durch ihre Be streitung zum Vergleichen anzuregen. Doch bestand in der Diskussion Konsens über zwei wichtige Pu nkte : 1 . Die von Gadamer supponierte Vergleichbarkeit der theologischen und juristischen ' Normtexte' Schrift u n d Gesetz, vermittelt noch d u rch die Herrschaft der histo risch-kritischen Hermeneutik, ist aufzugeben. Es empfiehlt sich, die applikativen Situationen/Texte sauber zu differenzieren nach Applicandum ( was wird ausge legt ?), Norm (unter welchem Horizont wird ausgelegt ?) und Applikationstext (auf welches Ziel w i rd ausgelegt ?). 2 . in der theologischen w i e der j u ristischen Applikation erscheinen an bestimmten Situationen narrative Texte, deren Konstitution und Reduktion z u vergleichen ist. Im Zusammenhang m i t dem zweiten Punkt wurde gefordert, die Phänomenologie der Vergleichssituation etwas breiter als im Schema anzulegen · . Ich werde versuchen, auch Aspekte der h istoriographischen Applikation einzubeziehen"'.
J
Ob�n S . J 9 1 H . • H i�rb�i kann an di� Vonr�il�n von K. Sli�rl� und w. SI�mpd in Geschichu - Ereig"is I4"J Er1.iih II4"g, hgg. R . Kosrll�ck!W . - D . SI�mpd, M ü nch�n 1 97) (Po�lik und H �rm�nculik V ) anKeknüph werd�n . • Verw iesen sri insbesondrrr auf dir gleichuitig mil d�m Kolloquium yorgdrgl�n Obcrl�gungen yon J . Rüscn, "Geschichle u n d Norm", in Norm H"J Geschichu, h g . W . Odmull�r, Padcrborn 1 979. S. l l o H .
V F. RHÄLTNIS VON N O R M U N D N A RRATIVITÄT
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Die Trias der applikativen Situationenrrexte ist für den J u r i s t e n - auch innerhalb seiner traditionellen Hermeneutik - offensichtlich kein Problem ; Kritik bezog sich auf die zu einseitige Kennzeichnung des Applikationstexts als ' U rteil', die eine Orientierung am Strafrecht voraussetzte (Nörr. Fuhrmann ) ; moniert w u rd e ferner das Fehlen des Präjudiz (Liebs); schließlich w u rde die Abtrennbarkeit des narrativen Texts, des Falls, in Frage gestellt : 'erzählt' nicht eigentlich erst der Richter im Urteil? (Nörr). Nur dem ersten Einwand läßt sich sogleich begegnen. I n der Tat ist die reiche Differenzierung der j u ristischen Applikation (Uneil, Anspruchsverteilung, Vergleich, notarielle Konstitution u . a . ) nicht auf das strafrechtliche Pragma des Ur teils zu beschränken. I ndessen herrscht in der Rechtstheorie Ein igkeit jedenfalls darüber, daß sämtlichen j u ristischen Applikationen eine identische deontologische Struktur (ob als konstitutiver Akt des Rechtswillens oder wie hier als Umschlag ins Pragma beschrieben) zugrundeliegt. Es sollte allerdings generell angemerkt werden, daß sich die hermeneutische Situation der Applikation nicht stets in festen, gar scharf abzugrenzenden schriftlichen Texten (wie dem U rteil) manifestiert. - Näher zu be trachten bleibt die narrative Situation im gesamten j uristischen Applikationsprozeß. Man kann zwar an der U m schreibung dieser Situation i n meiner Vorlage festhahen mir6 wird eine Geschichte flon mir erzählt, bis sie Folgen für mich hat -, hat dann aber den Ausgar:.gstext dieses Vorgangs. den 'FaU', erheblich z u d ifferenzieren. Seine textliche Konkretisation hat keineswegs eine feste oder konstante Oberfläche : w i rd diese Geschichte erzählt, so kommt sie bereits an ihr Ende. und sie wird erzählt, um an die.!oes Ende zu kommen. Dem entspricht es, daß eine in der Diskussion noch unberücksichtigte breite Phänomenologie der Fallkonstitution7 sich eröffnet: die 'Einfachen Formen ' sich nähernden pragmatischen Situationen Vernehmung, Verhör (dialogische Formen), Einlassung, Einlassungsflerweigerung, Schriftsatz, Gestiindnis (und Widerruf) best immen das Vorfeld der Rechtsanwend ung so stark, daß in der Mehr7.ahl der Fälle die Konstitution einer Geschichte erst mit und nach ihrem prag m.uischen Ende, in dt!r U rteihbegründung arretiert wird. Man hat (mit Ha\'crkamp) von einem 'mehrfachen Erzählen' in der Rechtsanwend ung auszugehen. Erst die �
1>1I:5e Personalpronomina i n die�er u m l den folgenden Um�chreibungen dC'r hermC'ncutischC'n Situalio· nen sollen andeuten. daß hier Applikation niehl als cin Prozeß z w i schC'n zwci TUIC'n. sondern als ein pugmalischer Pro1.eß "on einem A usgangstcxt auf einc Person hin vC'rsundC'n wird. Der häufig begcg nende Sprachgebrauch. daß C'in Nonntexl auf einen auslulegcnden TC'xl appli7.lC'n ""'C'rdC' (odC'r oft : umgckchrt) - hicrnach wäre auch der Kommcnlar eine applikativc Form - ist gC'C'ignC't. diC' pragmati �.;he Silunion des Anwcndens z u vcrkurzen. Appliknion solile nichts andC'rC's bt"dC'uten, als daß TeXle (Gt'schl<:hlcn) im Hinblick auf anderC' Texle ( Normcn) Folgcn fur Pcrsonen haben (pragmnischcs Ende der Applikalionslt'Xlc). , Für einC' gC'nauC'rc Analyse erschC'inl Stierle� übernahme dC'r WillgC'n51einschen BC'griffc SachvC'rhah und Sachlage 7.ur Kon�tilution dC'r Narrativiläl. besonders in der Texurchoiologlc dcs FallC's. C'rfolgver �pn:ch"nd (vgl. K . StierlC'. Tut "/J H""Jilmg. M ünchen 1 975, S. 1 00, 1 5 2 ; "gl. auch diC' Darstellung der narraü"l'n Minima bei W . - D . Siempcl, " Erzählung. Beschreibung und dC'r histOrische Diskurs", in Gt'.ch.chtC" - ErC"IB"u ,,,,d Erzithilmg S. 3 2 5 ff . )
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differenzierten Konstitutionsfonnen des Falhextcs erlauben wahrscheinlich ei nen zutreffenden Vergleich mit den historischen (Augenzeugenhericht, Quellenvergleich u . a.) wie besonders den sehr nahen - i n der Diskussion ebenfalls noch nicht berück sichtigten - Vorformen der theologischen Applikation : Katechese, Beichte. Bekennt nis. Ich beschränke mich im folgenden auf die bisher nicht eröncrtc tempo rale Struktur der juristischen Applikation. I n der deontologischen Diskussion der Rechtstheorie erscheint sie nich t : die i m rechtslogischen Modell der Subsumtion vorausgesetzte Zeitlosigkeit der Gesetzcskonkretisation wirkt hier nach. I ndessen läßt sich das, was mit der Fallgeschichte während der Applikation geschieht, n icht zufällig i n mindestens dreifach verschiedener Weise umschreiben (Beispiel nach mei ner Vorlage) : I. Wer einen anderen . . . , wird wegen Mordes mit . . . bestraft; 11. Der Mörder wird mit . . . bestraft ; 1 I l . A. hat (a) haue (b) . . . A. wird (a) wurde (b) mit . . . bestraft. Der Rechtslogik sind diese A ussagen nichts Neues, und sie wird die deskriptive (11) wie die narrative (111) Offnung der logischen Schere ( I ) als Täuschung deklariere n : I stellt die logisch irrelevante Transformation des Rechtssyllogismus (genauer: des Obersatzes) dar; 111 die Zusammenziehung von U ntersatz und Schluß, wobei die temporale Sukzession der Form ulierung nach a) lediglich die logische Implikation verschleien; die Tempora nach b) gehören nicht mehr i n die j uristische Applikation, i nsofern sie diese nicht mehr vollziehen, sondern ( historisch) berichten. 1 1 endl ich wird sowohl als logische Abstraktion von I wie von 1 1 1 aufgefaßt. - 11 ist übrigens die häufigste Gestalt j uristischer Normtexte. Sie ist der sprachlichen Form nach - man könnte vom j uristischen I ndikativ (Präsens) sprechen - bisher nicht untersucht wor den, kann jedoch vorzüglich den Unterschied z wischen Texten applikativer und erkennend-beschreibender Wissenschaften erläutern. Stellt man etwa die ihrer lin guistischen Oberfläche nach identischen Texte des Kaufparagraphen (§ 433 BGB) und des physikalischen Hebelgesetzes nebeneinander, so scheinen die atemporalen Geltungsmechanismen bei Deskription wie Applikation gleich z u sein: 'gilt' der Text, so tritt die Verpflichtung des Käufers rechtlich ebenso ein (ob sie nun erfüllt wird, oder nicht) wie physikalisch die Bewegung des Lastarms. Doch zeigt eine Situation, wie sie Saul Bellow beschrieben hat', die Spezifik applikativer Logi k : "along t h e shore t h e Forest Service h a d posted descriptions of t h e beaver's l i fe cyde. The beavers were u naware of this and went on gnawing, damming, feeding and breeding". Die Deskription der Welt bringt diese zwar auf 'ihren Begriff", aber sie appliziert sich nicht auf ihre Objekte : sie kongruiert mit ihnen ; und soweit die Objekte die Normen ihrer Beschreibung nicht 'erfüllen', erfüllen sie sie gleichwo h l : die Normen vollziehen s i c h durch sie, nicht a n i h n e n . W e n n übrigens d e r Bellowsche I
S. Bellow, H"mboIJt', Glft. london 1 976, S. 2 3 1 .
VERHÄ.I.TN IS VON N O R M U N D N A RRATIVITÄ.T
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Held fortfährt : "my own case was q u ite similar", so zeigt sich auch der U nterschied der e rkennenden Deskription zur theologischen Applikation. Jahwe hat eben nicht für die Elohim eine Tafel, beschreibend die Lebensbedingungen des homo sapiens, in einem Zoo aufgeste llt. Der - auch theologisch mögliche' - Indikativ 'der Genuß von poma N. N. führt z u m Tode' wäre ebenfall s ein applikativer: Gon appliziert auf uns sein Wort. Zurück zur temporalen Struktu r : die Zurechnung der (deonto)logischen Reduk tion (vom Fall auf ein U rteil unter Transformation auf die Tatbestände einer Norm) zur logischen Struktur der erkennenden Wissenschaft stimmt nicht, weil die Identifi kation des Rechtssyllogismus mit der temporalen Struktur von I I I a nicht zutrifft. Es ist nämlich nicht möglich, die j u ristische Applikation nach I I I in bel iebige Tempora, z . B . die Relation Imperfekt - Präsens, umzuformen (am Beispiel meiner Vorlage : König David mordete. D. wird m i t . . . bestraft). Denn die Rechtsanwendung voll zieht sich nur in der temporalen Spannung des Noch-nicht-Verjährten1o; der j u risti sche Fall steht, wie ich in meiner Vorlage sagte1 1 , im Perfekt (bzw. entsprechend I I I b - im Plusquamperfekt gegenüber dem Imperfekt) - wie man sieht, in einem Perfekt der Institution. Daß die temporale Struktur der Applikation durch ihre institutio nelle Realität gegeben ist, zeigt vollends die zweite institutionelle Vorzeitigke i t : neben j e n e r der Verjährung die des Präjudiz. K riele h a t darauf verwiesen12, daß gegenüber dem die Kodifikationen begleitenden Subsumtionsmodell (Norm - Ein zelfall), in dem die Sukzession n u r als Implikation der differenti .. spec.ifica i n das genus prox imum des Normtexts erscheint, die ursprüngliche, vor der schriftlichen Fixierung der Norm l iegende, diese vielmehr langsam ausschleifende A rbeit des case law, der Präj udizienapplikation die institutionelle Fonn temporaler Rechtsanwen dung ist. Nun kann man z u dieser temporalen A nwendungsfonn die nächsten Paral lelen in der theologischen und historischen Typologie erkennen. Zumal die Nähe des präj udiziellen Verhältnisses 7.wischen entschiedenem und zu entscheidendem Fall zur innerbiblischen Typologie fällt ins Auge. So präfigurieren der Mörder Rose und der Mördergehilfe Rosahl aus dem Jahre 1 858 kraft der institutionellen Kontinuität von dc:r heutigen J udikatur z u m preußischen Obertribunal, was die Applikations struktur betrifft, noch immer die Faktenfolge heutiger M inäterschafts-Fälle. U n d die exotische Kontingen7. des 'Ziegenhaarpinselfal les' (RG 63, 22 1 ) - Pinsel aus diesem 9
I:
11 I�
GC'n. 2 . 1 7 transformiert stau dessen in die temporale Struktur von 111: wes Tages du . . . • wirst du des To,les stC"rbe n : genau gesehen eine Relation von FUlUr 1 1 zu Futur I , welche die juri5lische Vor7.eitig keitsrdaul1n Perfekt - Präsens nachvol lzieht. Die ApplikatIOn von 2 . Sam. 1 1 auf 'David' in meiner Vorlage mußte - wie jede Digestenellegese diesen als Zeitgenossen sub specie iuris fingieren. Die temporalen Probleme dieser Fiktion zeigt vor allem dir Veruneilung wegen Mordes, weil der David des biblischen Tatbestandes Uria zur Verdek kung einrr strafbaren Handlung (des Ehebruchs) umbringen ließ. Da Ehebruch seit 1 970 nicht mehr suafbar Ist. muß dC"r Da\"ld des 'zeitgenossischen' Perfekts der Applikation sich im ' I rnum' über die Suafbarkelt des Ehebruchs befinden. Oben S. 373. " Nörmbildung und Prä;udi7ien" , in Norm ""d GrJch,chtr S. 24 ff.
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Material werden nicht mehr hergestellt - strukturiert maßgeblich einen wichtigen Falltyp von Unterlassungsdelikten, - so wie kraft institutioneller Kontinu ität "'on der Kirche zur Synagoge die exotische und 'vergangene' Kontingenz des Manna d e r Exodus die paulinische Exodus der sakramentalen Eschatologie ( 1 . K o r . 1 0) struk turiert. H ier stehen temporale Auslegungsformen der historischen Identität (zu den bisher genannten : Formen des Exempels und. besonders im archaischen Recht. der Talion ) den logischen der semantischen Identität (Metapher, Allegorie) gegenüber. In den ersteren werden Handlungsverläufe (Fall bis zum U rteil, bei der Talion : Fall bis zum ' Gegen' -Fall) wiederholt, in den letzteren wiedererkannt. Die den erkennenden Wis senschaften eigentlich angemessenen logisch-deskriptiven Textformen vermögen mit den Reduktionsverfahren der Induktion und definitorischen Transformationen z u arbeiten ; a u f applikativen Prozessen zugehörige Texte angewendet führen d i e s e mantischen Reduktionen zu metaphorischen Formen.
Verschiebt man die temporale Struktur der juristischen Applikation (nach 1 1 1 ) zur Form ' A . mordete B . A . wurde mit . . . bestraft', so erhält man, was gemeinhin als narrative Minimalform etwa im Sinne Stempels l l bezeichnet wird: die Ereignissuk zession e\-c konstituiert durch einen Sinnhorizont ( Kausalität, Teleologie). Diese 2' temporale Struktur, nicht mehr des Perfekts auf das Präsens hin, sondern des I m per fekts, ist zugleich die der h i s t o r i s c h e n Darstellung. Der gewählte S innhorizont bahnt in die Fakten hinein die S ukzession ei-cl ; im juristischen Verhältnis von C I (Fall) u n d e2 (Folgen) erfolgte diese Bahnung durch institutionell gesicherte Normen. Nach der Rankesehen und Droysenschen H istorik, in der die Geschichtsschreibung nicht als Applikation verstanden wurde, stiftete die Erkenntnis der vergangenen Wirkl ichkeit selbst diese kausalen Bahnu ngen ; und der scheinbare Gegenpol des H istorismus, die Reduktion der H istoriographie auf eine exakte Wissenschaft im H istorischen Materialismus, hat d iese Abbildung der Wirklichkeit d u rch die Ge schichtsschreibung �ur metahistorischen, ein Wirklichkeitsmodell lediglich exempli fizierenden Ded uktion der historischen Phänomene aus dem dialektischen Schema fortentwickelt. Hierbei entstehen gerade die Probleme der Reduktion temporaler auf logische Strukturen wie im Subsumtionsmodell der J u risprudenzl�. Die überlegu n g e n d e r gegenwärtigen historischen Grundlagend iskussion l � suchen die Präsenz von U 14
U
" E rzählung'" S. 32l ff. Daher neigt die historisch-materialistischc Gcschlchtsschrcibung lur continua mc:uphora: die Danul· lung der nll:Olithischen Revolution wie dcs Oberg�ngs l;eudalismus/Kapitalismus sind - untercinan�cr katachrc5tische - Bestätigungen des dialektischen Schemas sdbS!. Vgl. die Beiträge in Theorie der Gtschichre. Bd 1, hgg. R. Kosdleck/W. J . Momm�en/J. Rü�en. Mim chen 1 977.
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Normen in der historiograph ischen Narrativität, also die applikative Struktur eines historischen Darstel1ens selbst zu rekonstruieren, in dem der Sinnhorizont auf den 'Standort' (Kosel1eck), das 'Selbstverständnis' (Rüsen) des H istorikers bezogen bleibt, nur die Kausalitäten innerhalb wechselnder Horizonte intersubjektiv über prüfbar zu bleiben haben (Rüsen). Die 'applikative' Situation der Historiographie könnte hiernach so umschrieben werden : Es wird (eine) Geschichte erzählt. die Folgen für mich gehabt hat. Man sieht, daß im Unterschied zur Rechtsanwendung h ierbei nicht irgendeine I nstitution von diesem Perfekt eine Spannung zum Präsens Jer eigentlichen, ins Pragma mündenden Applikation aufbau t : umgekehn zur J u ris prudenz aber vennag das historiograph ische Perfekt auch sehr ferne, prin7.ipiell nicht 'verjährbare' Zeiten in die Frage nach dem Selbstverständnis, "wer man ist" (Rüsen), zu binden. Wie eine solche henneneutische Relation gegenüber den offen zutage l iegenden und institutionell gesichenen Applikationen in der Jurisprudenz und Theologie ein zuschätzen ist, kann vielleicht durch einen Rekurs auf die Situation der Rechtsan wendung verdeutlicht werden. 'Handlung' und 'Strafe' können, wenn ihre Sukzes sion ins Imperfekt transponiert wird, als ein historischer Ereigniszusammenhang angesehen werden ; allerdings steht ein Ereignis eben dadurch, daß es als 'Strafe' denominien wird, quer zum normalen pragmatischen Fluß; d iese Denomination verdankt sich, als Ereignisdeutung, der Einwirkung einer Norm in die narratio. An be!'ii t immten Stellen der Ge."ichichte erscheir.t etwa cin Fallbeil, wenn nicht realiter, so doch metaphorisch, ein Faktum besetzend . Diese 'konku rrierende' Kausalität (oder Teleologie) der Normen kann natürlich am bequemsten außertemporal, nämlich posttemporal neutralisien werden, etwa im Theologoumenon vom 'Jüngsten Ge richt', das zu den noch zu besprechenden rechtlichen Situationen in der theologi schen Henneneutik gehärt und aus die!'iie r nur mühum zu eliminieren wäre (man bedenke den Weg vom Bild der Böcke zur Rechten und Linken bis zum Verständnis dieser Situation unter dem Horizont eines "Grundw iderspruch(s) des Ich gegen seine unendliche Bestimmung"'''). Wird es jedoch unternommen, von d ieser juri· stisch · t heologischen Denkform ausgehend, die Normen mittels der naTTativen Dar stellung selbsr in die Ereignisfolge der Geschichten, und zwar nunmehr der gesamten Geschichte, hereinzunehmen, so verschiebt sich die hermeneutische Gestalt der Rechtsanwendung entscheidend. Und mit dieser Form, der Form providentieller Geschichtsschreibung, scheint die merklichste Annäherung an so etwas wie historio graphische Anwendung vorzul iegen. Koselleck hat gerade in dieser Form einen der ersten Vo rläufer des überganges von den (Mi kro-)Geschichten, deren Kausalität noch im Sinne eines Exempels auf das Selbstverständ nis bezogen werden kann, zur U n iversalgeschichte gesehen 1 7• Vorbereitet wurde sie durch das Denken der Stoa, erreicht 7 uerst im antiken Christentum. In d iesem Denken zuerst wird ein Subjekt I� \X'
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der WcllgeschichlC' konnituien. werden die alten Ansuengungen um die Theodizee vergeschichtlicht: nicht mehr Gott "war es gewesen" (Marquard), sondern die Menschheit ; und wie man hinzufügen könnte, macht d ieses ' Gewesensein' des Sub· ;ekts Menschheit, die Integration der Norm in die Narrativität selbst, auch den Gou i n der Geschichte anwesend. Will man die providentiellc Erzählung als die spezifisch historiographische A ppli kation gehen lassen - es fehlen. wie angedeutet die pragmatischen Transmissionen des institutionellen Zwangs, vor allem auch der ' Appl ikationskonsens' u selbst zwi schen H islOriker und A d ressat -. so kann ihr Prozeß wie folgt umschrieben werden : Es wird eine (die) Geschichte erzählt, bis sie 'Von mir handelt. Zur Erläuterung: in einer ersten. zwischen der rechtlichen und der historiographischen Anwendung ste henden Gestalt werden die Normen noch nicht in kontinuierl iche Darstellung trans form i e n : in einem m usivischen D u rchgang d u rch die Ereignisgeschichte w i rd jeweils ein Teil eines Faktenz usammenhangs als normative Reaktion (punitio, Gotteszorn) auf den anderen deklarien - z u beobachten in weiten Panien der orosianischen Historiael9• E s fehlen denn auch nicht die bei der Rechtsanwendung beobachteten Deutungsform e n : die Typologie. das Präjudiz, sehr häufig auch die Talion (sämtlich bereits in der prophetischen Geschichtsdeutung) ; hinzu tritt zuweilen auch hier eine logisch-semantische Reduktionsform, die allegorische Exegese. Es liegt hier noch keine Applikation vor. die d u rc h die historische Kontinuität selbst (und deren Dar stellung) bis zum A d ressaten vermittelt ist; vielmehr w i rd ein Fall aus der ideellen Unendlichkeit normativer Kasus a scriptore vice iudicis 'entschieden' - entschieden nämlich d u rch die typologisch-präj udizielle Identität des Geschehens, das sich mir und anderen in der condicio humana 'ereignet' und in der Abgeschlossenheit einzel ner Faktenzusammenhänge zur Metapher des z u ermittelnden (noch nich t : z u erzäh lenden) U neils wird. - W i r werden dieser Form in ihrer genauen Umkehrung, der theologischen Entlastung d u rch die 'Fälle' der Schrift, wiederbegegnen. In einer Stufe fongeschrinener Applikation konstituien der Providenz historiker allererst Faktenzusammenhänge. indem er Kausalitäten besonderen (teleologischen) Rechts fingiert (Beispiele : die domus aurea Neros stürzt wegen dessen Christenver folgungen unter Trajan ein10: ' U nangemessenheit' d iachroner Ereignisse; die Römer besiegen die Panher, weil die Kaiserin Origines' Predigten hö� l : ' U nangemessen heit' synchroner Ereignisse). Diese Stufe ist innerhalb des Gesamtgefüges applikati ver Textvorgänge hervorzuheben, weil hier das Phänomen der Fiktion i m auszule genden Text erscheint, dem w i r bei der literarischen Applikation begegnen werden und bei der j u ristischen bereits begegnet sind2l : der deontologisch - semantischen 11 Zum Applikationskonscns s . mcinc Vorlagc o. S . J7s ff. 1. Vg! . Vcrf., " Orosius", in NI�drrg.. ,.g (Sprache und Gcschichtc 1 1 1), hgg. R . Koscllcck/f'>. Widmcr (im
Druck). Oros. 7, I 2 , • . 1 1 0 ros. 7, I S , 6 . n V g l . mcinc Vorlagc o. S . J 8 1 H .
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Fiktion der Implikation (am Beispiel meiner Vorlage : Ehebruch gilt als Beleidigung) entspricht hier die teleologisch-temporale Fiktion der Kausalität. - Die Fonn gipfelt - seit Augustin und Orosius - i n der providentiellen SonJergeschichte: die nonnati ven Bahnungen i n Faktenzusammenhänge hinein erhalten n u n eine narrative Einheit durch ein spezifisches Geschichtssubjekt (die K i rche ; d i e A rbeiterbewegung) i m S c h o ß der allgemeinen Geschichte ; z u g l e i c h wird der p unktuelle 'Finger' Gottes z u r distributio, zur Okonomie eines Heilsplans. Solcher H i storiographie i s t nur noch schwer das Prädikat der Applikation abzusprechen, zumal sie nicht n u r ersichtlich von den A d ressaten (auf sie z u erzäh lend) handelt, sondern z u deren I ntegration eine Art eigener Applikationstexte ausgebildet hat: die apologetische, panegyrische und invektive narratio. Daß providentielle H istoriographie zumeist diesen A n w endungs zielen verpflichtet ist, haben die großen Exempel ihrer Läuterung z u r Theologie und Sozialwissenschaft h i n (De civ;tate Jei; der Historische Materialismus) häufig ver deckt. Doch selbst wo die Ereignisfolgen der Geschichte auf ein die Zeit des Adres saten noch übergreifendes, letztlich atemporales Schema reduziert werden sollen, bündelt sich die Providenz unwiderstehlich auf d i e Zeit des Erzählens. Mag die Geschichte ihren Brennpunkt für den H i storiker des Wehgeists in den Hufe n der napoleonischen Kavallerie, für Orosius i n Bethlehem, für den Marxisten vor dem W interpalais haben; zum applikativen Problem des Darstellens w i rd stets das Erklä ren des ' d anach' bis zur eigenen Zeit, davon zeugen die providentiellen Hilfskon struktionen do:r ' ü berreste' (früherer Gesellschaftsfonnation w i e des H eidentums) in der apologetischen, des ' Pleroma' i n der panegyrischen und des ' M üllhaufens der Geschichte' in der invektiven narratio. Sie zentrieren d i e Ereignisse auf den Zeit punkt der Textkonstitution. Orosius' Deklarierung des letzten von ihm berichteten Ereignisses. einer trüben Intrige der Völkerwanderungs zeit. zur Fülle der Zeiten überhaupt ist das unausgesprochene Mono auch noch für den poststal inistischen narrator des realen Sozialismus. Nicht zufällig erhält besonders die Darstellung des ' letzten' Ereignisses Attribute des Ästhetischen u n d TheologischenH. Denn d i e Ge schichte 5011 hier und jetzt aufhören - daher das denkwürd i ge Bild von der Weltge schichte als einem Lepraausschlag. z w ischen dessen Flecken d i e Pausen der Ereignis losigkeit die gesunde Haut darstel len2". U n d sie hat vom Adressaten verstanden zu werden (Orosius), um aufhören zu könne n ; es geht der providentiellen Applikation um Hermeneutik, nicht um Prognose. Die Darstellung des Zeitraums 1.wischen Gegenwart und providentiel l vorgegebenem Ende vermeidet denn auch d i e Ge schichtsschreibung der realen Kirche wie des realen Sozial i s m u s ; seine atemporale Darstellung ist die \'erdachtige Sache der Chili asten und Utopien. Die Zukunft ist applikati\' nur über die: Beherrschung (und das ständige U mschreiben) des Perfekts
: ' " Plu' 1('\ ,'hme, I t l u c h (' n l i. J(' p r (' § 1 b pru\·id('nc('. p l u 5 eI"t·"'I. hl. \ ' d " I - Ch"mp"dJc:r, P1m 1 96 1 , S. 1 0042 ) . U " . \ " , I .:! . o:, U
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1 011 d i s po'l1ion ('n don c- I r (' btll(''' (BOU5'Ut"l.
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zu kontrollieren. "Who comrols the past, comrols the future; who controls [he present. controls the past"2�. Die gegenwärtigen Bemühungen um eine Fundierung der Historik werden sich gewiß nicht i n d iesen Beschreibungen erkennen ; doch w ird vielleicht das oben be rührte Applikationsproblem des historiographischen 'Standorts' auf dem Hi nter grund der Querverbindungen zu den anderen applikativen Textwissenschaften deut licher. Wenn, nach Rüsen2". eine des Normproblems bewußte Historik sich mit der Konstitution einer ' narrativen Triftigkeit' bescheiden sollte, in der einerseits die Kausalitäten intersubjektiv überprüfbar zu sein haben, andererseits die Normen des Darstellenden in der narratio selbst vermittelt sein sollen, so d ü rfte der Verweis auf die Lösung d ieses Problems in der providentiellen Geschichtsschreibung lohnen. Kann man die historische M inimalfonn nach dem skizzierten Schema (ähnl ich den Schemata Dantos) als Ereignissukzession innerhalb eines Sinnhorizonts formalisie· ren, so kann normative Wertung (Applikation) von Zusammenhängen temporal (also nicht durch metaphorische Reduktion) nur durch die Auswahl von Details selbst und deren vollständige Besetzung mit (modellhaften, 'fingierten') Kausalitäten gegeben sein. Daher kennt, mit Stempel zu sprechen27, der Historiograph bei der Textkonsti tution keinen ' Konsistenzmüll', im Sinne der literarischen Hermeneutik keine ' Of fenheit' von Daten, keine Leerstellen. Jedes aufgenommene Detail ist, wie Stempel dargelegt hat2l, im Horizont des Sinnes, der Norm gebunden, gesättigt. Nachprüf· bar, so könnte man die Bestimmung Rüsens ergänzen. haben nicht nur die stets neu zu bahnenden Kausalitäten zu sein; nachprüfbar (in den Quellen) muß auch das Potential nicht aktualisierter Fakten sein. Der H istoriker fingiert keine Kontingenz, aber er bindet sie, soweit er sie erzählt, vollständig.
Man möchte fortset7.en: das ä s t h e t i s c h e Werk fingiert Kontingenz, aber e s bindet sie nicht, läßt sie ansch l ießbar, offen. Doch abgesehen davon, was Fiktion und Offen· heit in d iesem Zusammenhang bedeuten können : für die Frage, ob es so etwas wie ästhetische App l i kation gibt, ist noch stärker als bei der Historiographie zu berück· sichtigen, daß Institution, Applikationskonsens, pragmatische ' Folgen' z u fehlen scheinen. Nicht zufällig war i n der historiograph ischen Situation vor allem von Textkonstitution, von der Standortproblematik des A utors die Rede: es wäre u nmög lich, die Trias von Applicandum. Norm und Applikationstext auf die Geschichts schreibung zu übertragen. JauB hat bei der Formul ierung der ästhetischen Trias innerhalb der oben gegebenen Zusammenstellung (Werk - ästhetische Norm - ästhel� u.
Orwe-II. 1984. London
1 949, S . 2 5 3 . "Ge-schichte- u n d N o r m " S. 1 2 2 ff.
11 " En�ählung" S. 338.
ZI
Ebd. S. l l 7 ff.
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tisches Urteil) wiederholt darauf verwiesen, daß es sich hierbei um eine mögl iche Form ästhetischt>r Erfahrung handele : die Aufgabe der Seelsorge sei für die Ästhetik 'zu gro ß ' ; die Entscheidung ziere den Juristen; i n der ästhetischen Erfahrung liege auch d i e Chance, jedes U rteil zu suspendieren. Immerhin aber wird mit diesem Vorschlag die Möglichkeit einer den institutionellen Disziplinen vergleichbaren äs thetischen Applikation umrissen - und zwar i nnerhalb der Werkrezeption : der Leser (Kunst Genießende) tritt hier an die Stelle der Person, auf die appliziert wird (für d ie eine Geschichte ' Folgen hat'), und das ständige Einschleifen und Korrigieren des Urteilens formu liert, der Judikatur vergleichbar, ein wandelbares normatives Erwar tungsensemble. Ich möchte hier nicht die Rekonstruktion ästhetischer Erfahrung, soweit sie Jauß bisher vorgelegt hat29, mit Phänomenen institutionellen Applizierens vorschnell ver mischen, vielmehr zwei Fragen nach der Abgrenzbarkeit der vergleichbaren ästheti schen Prozesse nachgehen : 1) Worin liegt die offensichtliche Differenz ästhetischen Urteilens gegenüber den applikativen 'Folgen' begründet? Gibt es eine Grundlage pragmatisch faßbarer Veränderungen auch in der Person des applizierenden Rezi pienten, welche Beurteilung (Bewertung, Ablehnung etc. ) eines Werkes erst ermög lich t ? 2) Die vergleichbaren Textverfahren der ästhetischen und der theologisch juristischen Applikation differieren nach den Rollen der Beteiligte n : institutionell geschiedene Subjekte und Objekte des Anwendens fallen in der ästhetischen Appli kation zus,.unrnen; dne Selbstapplikation ersetzt die I nstitution_ Was gewährleistet in der rezeptiven Appl ikation die Anwendung, welche sonst Texten gegenüber nur Institutionen leisten? Es empfiehlt sich, hier auf eine Situation literarischen Applizierens zurückzugrei fen, von der in der Diskussion trotz ihrer Nähe zu Urteil und Predigt nicht die Rede war: die institutionell erzwu ngene Selbstapplikation eines literarischen Werks. Die Besonderheit des literarisch-applikativen Schul4u/satzes gegenüber ju ristisch-theolo gischen Vergleichsformen zeigt sich an der Textoberfläche des Anwendungsprozes ses : Thema - Werk - Applikationstext - Beurteilung. Nur der Kern dieses herme neutischen Ensembles (Werk - Applikatiollstext) ist dem Anfangs- und Endpunkt der j u ristischen (Fall - U rteil) und theologischen (Perikope - Pred igt) Textgestalt z u vergleichen. Thema u n d Beurteilung h ingegen konstituieren d e n institutionellen Rahmen der Situation selbst ; und es ist bezeichnend für die primäre Offenheit der literarischen Rezeption, daß d iese beiden Rahmenstücke Elemente des - zumeist selbständig fehlenden - Normtexts einschließenlo. Es wäre ein I rrtum, den applikati]'I
'J
Zunlich�t i n der Verknüpfung von Distan7 z w i schen Erwartungshorizont und Bestimmung des ästheli �chen W'ertes ( L,ur.Hurg�lchichu ,,11 Provok"rron, Frankfurt ! 1 970, S. 1 77ft), dann - i n einer anderen Ri.:hlUnl; - d u n;h die Rekllnmuktion uthetischer I dentifikation (vgl. Altlutischt E.rf"hrunB unJ liur,, mc"� HtnTIlf"nt·uf,lt. 8..1 I , M u nchtn 1 977, S. I l6 ff., 2 1 2 ff.) Die entspr(".:hendc didakl lsche Situation in der j uristis,hen und theologischen Ausbildung ist nicht \·erglei.:hbar. weil der Aufsat7schreibcr tibet keine Kodifikation verfugt, sondern allenfalls Norm mude l l e ( - s i m u l ationen) im Thema eu.:hl ießen kann.
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yen Aufsatz lediglich als eine minderwenige, überlebte oder atypische Spielan anzu sehen ; historisch ist eher die Textanalyse ohne Applikationszumutung, die ' I nterpre tation' ' ' , eine A u snahmeerscheinung. Die rhetorische Tradition mündet am Ende des 1 8 . J h . mit den Verfahren der Real- und Verbalchrie i n die Vorformen des heutigen A u fsatzes. Die Realchric. dem ' literarischen Thema' nahekommend. setzt eine Ge schichte, ein ' Ereignis' (selten noch ein literarisches) als Applicandum, die Verbal chrie, dem ' Besinnungsaufsatz' präl udierend, eine normative A u ssage (vom Apo phthegma bis zur expliziten Norm) voraus. Beide Verfahren entfalten die schon erönenen logisch-temporalen Mechanismen der Textkonstitution und -reduktion : exemplu m . simile, testimonium u. a. ; sie enden in dem eigentlichen Applikationstext. der adhonatio1l• die als peroratio den ursprünglich forensisch-juristischen On der Rhetorik bewahn. Besonders die Realchrie umschließt noch die Identifikationsfor men der Suasorie und Kontrovers e : eine geschichtliche (literarische) Situation ist aus dem eigenen Horizont neu z u formulieren ( Augustinus a l s A eneas vor Dido). Appli kation ist in dieser Tradition tatsächlich als NeNkonstitNtion eines Werkes dNrch die FormNlierNng aer eigenen Rezeption anzusehen. Diese Neukonstitution aber nähen ihre Textgestalt unter erhöhtem institutionellen Druck immer stärker den j uristisch theologischen Transformationsformen i m Fall (in der Perikope) a n : EinlassNng, Beichte, Bekenntnis. Daß der Applikationsdruck seit dem 1 9 . J h . stärker wird, zeigen für den deutschen A ufsatz die seit ca. 1 830 erhaltenen Schulprogramme an. Zu Beginn des 1 9 . J h . herrscht noch die Verbalchrie, bis ca. 1 87 1 hat sich die Projektion der Applikation in die Literatur d u rchgesetzt; als Typ kann das Minna von Barn helm-Thema 'Warum hat JUSt in der Küche geweint?' gelten. Gefordert wird in diesem - sehr langlebigen - Typ d i e Besetzung l iterarischer Offenheit d u rch eine normative Teleologie, deren Widerspiel die I mplikation Regel - Beispiel im Besin nungsaufsatz ist. A u f die Parallele z u den applikativen Verfahren providentieller Geschichtsdeutung sei verwiesen. - Heinrich Mann hat die A bforderung normativer Bestimmtheit aus der Literatur i n seinem berühmten ' J ungfrau'-Thema ' Das driue G ebet des Dauphin' als Aufforderung zur Fiktion literarischer Teleologie und schließlich zur abstrakten Normbestätigung gedeutet : über das i n der ' J ungfrau ' offengelassene d r i u e Gebet d e s Dauphin z u schreiben bedeutet, durch d i e fiktive Ergänzung des Klassikers eigene normative Handlungsemwürfe präsentieren zu müssen. Hier ist der rezeptive Vollzug des Werks in der R ealchrie zur normativen Rückwirkung auf den Vollziehenden gesteigen. - Erst nach der J ahrhundenwende, soweit ich sehe, hat sich jedoch tatsächlich das unverhüllte Applikationsthema vom Typ 'Was bedeutet für uns . . . ' herausgeschält; es formulien eben jenes applikative pro nobis, das im j uristischen Syllogismus steckt und das den Kern der eucharisti schen Sakramentsapplikation ('Einsetzungsworte') bildet. G egenüber den früheren 11 )1
VgJ. aber übcr die Voraussctzungen auch ihrer 'Vorau55cu�un'G,lo5IGkell' dic Bemerkungcn W . Ise", lkr Ak, J�I U$�nl, Munchen 1976, S. ) 7 f . H i e r w i r d die Verbindung 7 u m Prediguufbau nach d e r tradilionellen Homllelik sichlbar.
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Typen entspricht der übergang zur Bearbeitung eines solchen Themas dem Wechsel z w i schen den Texuorten ' E inlassung' und ' Geständnis' bei der Fallkonstitution. Sie forden nicht mehr die nonnative Besetzung einzelner Leerstellen i m Werk, vielmehr eine normative Reaktion auf das ästhetische Faktum überhaupt)) - ganz i m Sinne des Rilkeschen " D u mußt dein Leben ändern". - Daß man nach wie vor u m ein Werk 'von innen zu bitten' genötigt w i rd, zeigt der vorläufig letzte, auch nach seinem hermeneutischen Potential entwickehste Thementyp. der Erbe - Aufsatz vom Muster ' Warum haben wir u n s Goethe kritisch anzueignen ? ' (vgl. R . Kunze. Die w"nderbta ren Jtahre, Frankfun 1 978, S. 45). Die Forderu n g nach Normbestätigung und Nor men-confessio springt hier u m z u r Forderung. die Institution solchen Applizierens selbst (das Erbe als gesellschaftliche Verpflichtung) z u bestätigen. Kunze ist übrigens dieser extremen henneneutischen Zumutung (die Ford'e rung des Themas nach seiner eigenen Legitimation) d u rch eine extreme Veränderung der herkömmlichen Lösun gen begegnet: d u rch eine Zusammenziehung von Werktext und A pplikationstext, mithin durch Rückzug auf das Basisphänomen aller literarischen Appli kation, die Lektüre. Er schreibt nämlich diesen A ufsatz als Werkzittat (eines Eckermannge sprächs über die Unfreiheit deutscher Jugend). Diese Lektüre fonnulien ihre Appli kation nicht mehr, sie gibt sie - i n einer Allegorie der Subversion - z u verstehen. Die marginal und subaltern erscheinende Fonn des A u fsatzes verweist also - gerade weil sie dem Werk ' u n z u gehörigen' Anwendungszwang aufnötigt - das Faktum des l i terarischen Uneils auf seine Voraussetzung: daß der Akt der ReLepcion auch Normbestätigung, auch Normendestruktion, j a auch Handlungsansatz sein kann. Er verweist also die Möglichkeit literarischer Applikation auf den Akt des Lesens selbst. Nun hat die Leserforschung gerade in der letzten Zeit die Phänomenologie der Bedeutungskonstitution, ja der Leservenextung selbst untersucht. Jedoch scheint mir, daß bisher gerade an dem Punkt des übergangs von einer Lesephänomenologie z u einer Pragmatik der den Leseakt begleitenden Persönlichkeitsveränderungen halt grmacht wird}". Die Literaturwissenschaft hätte hier freilich in die Domäne der noch oft tabuisienen - Psychologie einzudringenH• Indessen sind die applikativen Mechanismen während des Leseaktes bisher wohl am eindringlichsten in der Literatur selbst thematisiert worden, und zwar im letzten Werk Jean Amerys16. Es handelt sich u m das Lektüreprotokoll Mtadame Bovary d u rch F.mmas brtrogenen G atten als Amery. der sich/ihn über die Mechanismen der ') .... uf J,u :inhc:tischc: Faktum üMrh�u p t : d�her Jer Theme n · A lpu�um 'GOClhe als solcher' (Tucholsky). Goethe '�Is "Olcher' i n hic:r ger�de J u rc h d n fehlende 'für uns' lur Meupher inslitutionellen Applizic:' ren� ge... orden. W V.:I. l . B . W . her. Drr AA!t JrJ trUfIf S . 2 2 S f f . : in dc:m K�pilc:l 'Dt'r Bildch�r�kler der Vorstellung' wirJ einr Mt'hn�hl pc:rson�ler Rc:�ktionen ( ' E piph:inomene') t'insdiJ.hn, die dc:n lt'sc�kt bc:sleitc:n. doch 5011 hier dir An�ly,e des le,c:ns nichl l U der des wirklichc:n lesc:fS fuhren. , � D�ß solcht' Vt'r:inderungen i n dc:r T�t im Ged:ichlnispolenti�1 de' t.esc:rs vor sich sc:hrn. hoffe ich In Kurlr I n t'inc:r U ntersuchung ilbc:r Jic: Fiklion�lisic:rung �utobiogr�phischer L�R(bch�h d u rch d ic: Superposition gelc:sener L�ndsch�hen zrigen zu konnc:n . ... Cb.rlrJ Bov.? u"tL.r7:I. SlulIg�n 1 9 7 8 .
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Lese- Korrektur eines Klassikers befragt und schließlich sein Bild (zugleich ein Bild von sich selbst) über Progressivität und Pharisäertum des Bourgeois verändert. Zu gleich aber handelt es sich um ein Lektüreprotokol l von Amery als Emmas betroge ner Gatte - also zunächst das alte Verfahren der Chrie. Charles Bovary liest jedoch 'seine' Geschichte nicht wie Don Quichote und Sancho ihren ' Ersten Teil' innerhalb des Behältnisses der vom Autor fi ngierten Ereignisse, vielmehr post fcstum, näml ich in der Situation des Madame Bo'Vary-Prozcs5cS. In ihm wird nun Charles angeklagt, einmal wegen des der Fiktion geschuldeten Mordes, zudem noch wegen Leichen schändung an Emma - er hat sie als Manifestation seiner nichtfiktionalen Hand lungsfreiheit begangen. Der Prozeß gerät gleichwohl zum Tribunal gegen den Autor; der Arzt vermag durch den Nachweis seiner Handlungsenthobenheit in der Rezep tion 'seine' Geschichte zur 'Tat' des Autors zu transformieren : angeklagt ist die 'Versteinerung' fiktionaler Bedeutungsbestimmung in einer Nebenfigur. Die Appli kationsmechanismen des Rezipierens können in der Tat darum recht deutlich her vortreten, weil die Identifikation sich auf einen weitgehend typisierten (cocu) u nd durch Erwartung des Lesers wie Sinn besetzung des Autors eingeschliffenen Anti Helden bezieht. Der in der Lesekorrektur als Prozeß erlöste Landarzt hält ein lei denschaftliches Plädoyer gegen die vor dem Vorurteil ihre Offenheit und Unbe stimmtheit einer Randfigur versagende Fiktion, die gerade unter dem Programm des Real ismus angetreten war. Sie vindiziert gegenüber d iesem Realismus das uner schöpfliche Potential ihrer 'eigentlichen Realität'. Sie zielt also auf jene erst in Rezep tionsreihen ersch ließbare "Wirklichkeit der Kunsdigur" ( 1 1 0), die sich ironischer weise in der naiven Reduktion von Fiktion auf Moral im historischen Madame Bo'Vary-Prozeß spiegelt. Der Vorwurf der ' Fiktion' als einer Verkürzung, eines vor urteil svollen Selegats ("ich war mehr als ich war", 1 5 1 ) ist nichts anderes als die Forderung, das l iterarische Werk dürfe in keinem seiner Partikel auf den geschlosse nen Sinnhorizont historiographischen Vor-Wertens, auf die rt"gistrierende Endgül tigkeit des Einverständnisses im Leser zurückfallen. Kraft seiner Unabgeschlossen heit im Leser Amery hat er 'seine' Geschichte überlebt und schreitet zum Pr07.eß. Nicht zufällig zum Prozeß ; denn eben die juristischen Formen der Fallkonstitut ion (Zeugenverhör, Gegendarstellung) sind es, welche die versteinerte Werkoberfläche wie jene des Falles in der gerichtlichen Revision - aufzubrechen vermögen. Daher wird in einem ersten Textverfahren (Kap. 1 , 2 . 4 ) vor allem die Kontingenz verviel facht ; es wird neu- und weitererzähl t , auch über die Werkgrenzen hinaus. Einge schliffenes Textverständnis - z . B. das Nichtwissen des betrogenen Gauen. - wird durch Zerfaserung eindeutiger Details zerstört. - Man kann d i e.' genaue Spiegclform d ieses Verfahrens in der Konti ngenzred uktion von Camus' Etranger beobachten : dort w i rd eine zunächst bedeutungslose Detailfolge - die Reduktion vorbereitend schon im ' j uristischen' passe compose gehäuft" - nach dem Mord durch d i e V e r n u n f t d e s Ermittlu ngsrichters i n allen Partikeln in e i n e geschlossene Erzählun�. d e n JI
Vgl. d i e Analysr bei H . Wrinrich. Trmp,u. Stuuj;m � 1 9 7 1 . S. 266 ff.
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' Fall ' , die ' h istoria' überfühn, die der Antiheld nicht mehr als die 'seine' verstehen und beim Anhören sich selbst im Sinne der auch von ihm akzeptienen Normen applizieren kann. - Bovary - A merys Werkvollzug eroben in einer weiteren Textex pansion die Kontingenz des A utors (Kap. 3: 'Die Wirklichkeit G ustave Flaubens'). "Die Wirklichkeit des in den I maginationsfeldern von M i llionen vorhandenen Land arzts" ( 1 I I) verfügt durch ihr Realisationspotential in den Lesern (Amery-Leser' ·n) auch über den Erfahrungshorizont ihres Autors und überspringt damit die Festle gung ihres Potentials in der FiktionlI. "Ist es denkbar, daß Charles Bovary, wenn er nach Rouen fuhr, nicht der Fabrikschlote gewahr wurde, die uns die zeitgenössi schen Stiche zeigen ? Der real istische Erzähler hätte die Leerstellen auffüllen müssen; seine Sache wäre es gewesen, don das eigene Won z u nehmen, wo das seines Ge schöpfes versagte" ( 1 23 f.). Gerade diese Form ulierungen erweitern den Rezeptions zum Applikationshorizont; denn eben dies zu tun, ' Leerstellen z u füllen', u nter nimmt der Rezip ient Amery in seiner selbstkritischen Bi lanz des Bourgeois (vgl. vor allem die Kap. 5 und 6). Die Rezeptionsform der ' Anklage' wird zur Applikations form der ' Reue' : "Des armen Mannes Wirklichkeit muß neu erfunden werden. Der Landarzt gehört einem jeden" ( 05). Dieses Fazit fundien die Möglichkeit ästheti scher Applikation in der Rezeption, einer Applikation, die von keiner Institution ins Werk gesetzt wird (aber eine solche Möglichkeit eröffnet), einer Applikation, in der Textkonstitution und -reduktion zusammenfallen und in einer Person ablaufen. Die Möglil.:hkeit, Texte in dieser An anz"''''' endell, liegt in deren Struktur beschlossen. " Die Geschichte beginnt, als wäre sie die meine" (sagt der Landarzt-Leser ( 1 53 » . Ich
kann sie mir erzählen, bis sie mit Folgen liir mich endet.
Sind Situationen t h e o l o g i s c h e r Applikation nach dem Schema Schrift - Dogma (Credo) - Pred igt mit solchen der anderen Disziplinen vergleichbar? Bezweifelt wurde in der Diskussion die Vergleich barkeit von S�hrift/ Fall und Predigt/Urteil. Liegt in der Schriftperikope - die liturgisch-applikative Eingrenzung auf d iese Text form leuchtet ein - nicht eine dem Fall inkommensurable Normativität beschlossen, gegenüber dem Applikationstext allenfalls ein Verhältnis von Ur-Fall z u 'Ab'-Fall (Pannenberg), von 'dem' Fall z u 'einem' Fall ( Fuhrman n ) ? Ist tatsächlich die Predigt ein so ausschließlicher Ort theologischen Applizierens ; schließt sie überhaupt eine Applikation im Sinne des Uneils ein (Pannenberg)? - Beide Zweifel hängen zusam men und zielen auf die Frage, wo es überhaupt in einem solchen Textensemble zur A pplikation kommt. Der Grimme lshausensche Bergbauer, der sich zwanzig Jahre nach seinem letzten Kirchenbesuch eine Predigt referieren läßt und mit der Frage reagien, was die Obrigkeit eigentlich tue. daß sie diesen Fall nicht endlich ent11
Vgl. 1ur Rd.ation von FiktIOn und NC'g.lIiviut K . StiC'rlC', Tnt.l. H.IIJI"lIg S . 1 00 f .
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scheide)', stellt sie auf seine Weise. Auch hier könnte eine breitere Phänomenologie helfen : BI4ße, Beichte. Katechese, Sakrament. vielleicht auch Geber müssen berück sichtigt werden. I m Fazit meiner Vorlage, einer Pred igt-A pplikation von 2 . Sam. t t . erschien sie z u summarisch : " Mir wird eine Geschichte erzählt. bis sie die Beaingun gen nennt, unter denen sie von mir handelt". Aber gerade das Beispiel meiner Vor lage lehrt, daß diese ' Bedingungen' in der Regel durchaus fehlen können, so daß eine den erörterten historischen oder literarischen 'Applikationen' vergleichbare Trans fonnation von einer zu 'meiner' Geschichte verbleibt. Gerade dies scheint das Pro blem zu sein : worauf basien die Möglichkeit, eine biblische narratio in eine Ge schichte zu transformieren, die mich zwar 'umgreift', aber keineswegs die institutio nellen ' Folgen' der juristischen Anwendung zeitigen muß? - Ich beschränke mich also im folgenden nicht mehr auf die Predigt, bleibe jedoch beim Problem des alttestamentlichen Auslegungstextes. Auszugehen ist wieder von der temporalen Struktur, und zwar noch einmal in der juristischen Situation des ' Gerichts' . Diese steht nicht nur, wie erörten. am Beginn der providentiellen Geschichtsapplikation. sondern hat auch ihren festen Ort im apokalyptischen Denken Jesu und der U rgemeinde. Die Vorzeitigkeit (Relation Per fekt - Präsens) als Merkmal der Rechtsanwendung läßt sich nun in den Aussagen der Evangelien über das letzte Gericht wiedererkennen - transformien auf die Relation Futur 11 (Panizip. Konjunktiv) - Futur I (vgl. Mt. 5,22, in der Denkform "'PIO'tE Mt. 5 , 2 5 ) . Daß d iese Transformationen die Situation der Anwendung von (mosai schem) Recht voraussetzen. zeigen die Hinweise Me. 1 0 , 1 8 und Mt. 1 9 , 1 7 . Und doch wird sofon deutlich. daß das Reden vom Gericht mit dem Auftreten Jesu gerade nicht die juristische Appli kationsform bewahrt ; an d ie Stelle der Strafand ro hung tritt fast ausnahmslos die (bedingte) Heilszusage. Man vergleiche Mt. 5,22 (wer seinem Bruder zürnt - Partizip -, wird des Gerichts schuldig sein) und M t . 1 0 , 2 2 ( w e r ausharn - Panizip -, w i r d gerettet werden): d i e Temporalstruktur i s t gleich, doch beginnt sich die juristische Sukzession von Handlung und Strafe zur 'histori schen' eines Handlungszusammenhanges zu wandel n ; auf menschliches Verhalten respondien Gottes Heilswirken. Geradezu die Umkehrung der juristischen Situation - und erstmals eine Änderung der temporalen Relation - bezeugt dann die Kernaus sage der Täufer- und J esusverkünd igung: I'EtaVOEL'tE, �YYLXEV YclQ i) tktmAda l'rov oUQavrov (Mt. 3 , 2 ; 4 , 1 7) . H ier erscheint auch die erste spezifisch theologische Ap plikationssituation, die Buße. Sie ist tatsächlich ' Umkehr', insofern ein Handel in Hinsicht auf Gottes künftiges Wirken geänden wird - charakteristischerweise kann diese Situation im juristischen Rahmen von Handeln und Strafe nur als 'tätige Reue' begegnen -, und die benachbane, der Rechtsanwendung nächste theologische Form der Beichre endet mit dem ' Freispruch '4c. ,. Das wundC'rbarlichC' Vogdntu I 4. DiC' UmkC'hr dC'r juriSlischC'n Applikallon ",.,·,nJ Im NT �dbu IhC'mamiC'rt : �'gl. ,ht lunhC' Billt dt\ ValC'runsC'u unJ MI. 7, J .
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V E R H ÄLTN I S VON NORM UND NARRATIVITÄT
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N u n zeigt die temporale Verwandlung der Täuferverkündigung, gegenüber d e r apokalyptischen Gerichtsdrohung, d a ß an die Stelle d e r Rechtsanwendung nicht nur eine (futurische) Verheißung getreten ist, die applikationslos einen künftigen, apoka lyptischen Faktenzusammenhang, etwa die Phasen der Äonenwende und der Welt verwandlung darstellt, also die Sukzession der H istoriographie ins Futur transpo nierte. Denn der Aorist fN'ylXEV - zu Recht in der Theologie viel diskutiert (Dodd, Kuhn) - zeigt eine Bewegung der Zukunft auf die Gegenwart an, die bereits begon nen hat und proleptisch in Jesu Person die Gegenwart e"eicht. Man vergleiche mit der Täuferverkündigung die erweiterte und nochmals verschobene Temporalstruk tur der Seligpreisungen (analog : der Weherufe), nach dem Normalty p : j.lO.xaQlol + Part izip + ön + Futur I. Hier ist die Relation von Futur 11 (Partizip) und Futur I über die Engführung von I mperativ und Aorist (Täuferverkündigung) zur Vorschal tung einer präsentischen Prädikation der Heilsanwesenheit samt ihm z ugeordnetem Partizip und einem nur mehr begründenden Futur I geworden. Offensichtlich ent scheidet sich die Nonnativität ins Künftige reichender Handlungen in der Gegen wart, und zwar im Verhalten zu Jesus : "wer sich meiner schämt, dessen w i rd sich auch der Menschensohn schämen" (Me. 8, 38),". Es ist linguistisch sehr schwierig und noch nicht unternommen worden -, das 'proleptische Futur' dieser A ussagen in das herkömmliche Tempussystem einzuordnen42 ; theologisch bedeutet es nichts an deres als die "überwindung des apokalyptischen Rahmens"o durch die Anwesen heit des Entscheidung fordernden Endes in jesus selbst, "die Vorausdarstellung des Kommenden in einer vorlaufenden Geschichte"44• Des eine Entscheidung fordern den Endes - insofern ist diese Relation 'Futur' _ Priis ens ebenso applikativ wie die juristische Perfekt - Präsens : es ist die ursprüngliche temporale Struktur christlicher Applikation überhaupt. Und zu ihr gehören die eingangs erwähnten Anwendungs situationen, so wie sie in der vorösterlichen Geschichte u rsprünglich erschei nen . Das Gebet wird i m Vaterunser aus der apokalyptischen Trad ition, in der die ersten Bitten stehen, in den 'Alltag' hineingezogen, in dem Gon zum 'lieben Vater' w i rd (die proleptische Situation des Gebets erweist vor allem Mt. 6, 8 : Gon weiß, ehe wir beten, was wir brau(;hen). Das 'X'under zeigt das A U50stehende in der HandlungS;lura des anwesenden Jesus (vgl . Mt. 1 1 , 1 ff., wo Jesus mit dem Hinweis auf dieses Präsens eine Frage nach seiner apokalyptischen Bedeutung beantwortet4S). Ethische Kate chese und Nachfolge zeigen, "daß der Forderung ein Heilsangebot vorausgeht"4' und " Vgl. die Analyse bei H . E . Tödt, Drr- Memchtmohn ur drr- Jynoptuchrn Obrrlirfrr-un&, Gütenloh 1 9S9, S. 2 9 ff . ,: Oie Theologie iSI gelegenilich auf dieses 'theologische' Tempus aufmerksam geworden; vgl. die beiläu fige Bemerkung !.iber " logisches fUlur" bei E . Käsemann ( Römrrbrirfltommtnt"r, Tübingen 1 971, ad Rom. 1 , 10). 11 W . Pannenberg, in Offenbar"n" "nd Geuhichtt, GOllingen 1 96 1 , S. 92 . •• L. Goppeh, TypoJ, Ndr; DarmSla.h 1 969, S. 5 . .. Vgl. die Analyse bei U. Wilckens, " Das Offenbarungsversländnis in der Geschichte des Urchristen tums", in Offrnb"r-un& und Grschichtr S. 59. '" H. Con1e1mannl A . lindemann, Ar-bellJb"ch zum NT, Tübingen 1 975, S. ]Ja.
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dann erst dieser Horizont die Dialektik zwischen 'Toraverschärfung' und ' Antithe· sen' in der Bergpredigt erklärt. Die Appl ikation des Kommenden auf Jesu Gegenwan fi ndet den Absch luß mit deren Ende, mit Tod und Auferstehung47; insofern ist das Sakrament der Eucharistie mit der I ntegration des Gläubigen in das Präsens dieses Endes (applikativcs pro vobis) die letzte vor- und die erste nachösterliche App l i kation. Temporal gesehen. hat das Futur das Präsens erreicht und forden nichts anderes mehr als das Bekennt nist' - die erste verbale textuelle Form christlicher Applikation. Hier aber liegt das entscheidende Moment zum Verständ nis der Schriftanwendung. Denn das Bekennen faltet das im Präsens des Ostergeschehens völlig verschlungene Futur in der Zeit struktur des Textes auseinander (des frühen Christuskerygma 1. Kor. 1 1 . der Paulus briefe, der Evangelien und aller folgenden). Theologisch gesprochen: das Bekennen muß sich - i n bezeichnendem U nterschied zum Sakrament - der Ostergewißheit durch die Identifizierung des nach wie vor Ausstehenden mit dem vergangenen. in Jesus vollendeten Heil versichern. Der Heilsvorlauf aus der 'frohen Botschaft' schlägt i n den Bekenntnisrückgang, i n die 'Schrift' um. Im nachästerlichen Präsens wandelt sich das proleptische Futur zur typologischen Vergangenheit. Es wird die textuelle Stufe der Schriftapplikation erreicht. Diese Stufe kann nicht chronologisch, aber nach ihren Typen erfaßt werden : 1) i n die Evangel ien eingeformt wird die Konkretisierung des Kommenden als apokalyptische Identität von Vergangenheit und Zukunft. Apokalyptisch präsent werden die Nineviten, die Königin von Saba (Mt. 1 2 , 40 ff.) und Moses (joh. 5 , 1 5) sein; die Äonenwende ist die Situation Sodoms (Mt. 1 0 , 1 5 ) und Noahs (Mt. 24, 3 7 ff.). Verschränkt mit der futurischen Prolepse erscheint diese Schriftdeutung noch Mt. 1 1 , 1 4 (El ias, der kommen w ird , ist schon gekommen). Jesu ausstehendes Geschick wird zum Zeichen des Jonas (Mt. 1 2 , 38ff.). E r selbst erscheint bereits i n typologischer 'Steigerung' - 'mehr' als Jonas, 'mehr' als Salomo - ; strukturell entspricht sie der Handlungsaura des anwesenden Christus. 2 ) Ebenfalls in die Evangelien eingeformt erscheint die pleromatische Fun dierung durch das AT. Wir begegneten dieser hermeneutischen Form bei der pane gyrischen Historiographie, der z. B. Lukas nicht fernsteht. 3 ) Bei Paulus erscheint die Form erstmals zur Bewältigung einer noch erkennbaren Gemeindesituation (pneu matisches Selbstverständnis der Korinther) ; in einer noch eschatologischen Paränese (1tQOS YOU6eOLQY ��) wird dl!'r Exodus als Typ sakramentaler Gemeinschaft er zählt. 4) Der Hebräerbrief hat die gesamte noch ausstehende Zeit der Gemeinde i n die spirituelle Wüstenwanderung d e s Gottesvolkes transformiert. - Hier i s t die spiri tuelle Transfonnation einer alttestamentlichen narratio durch die ahkirchliche Ex egese, von der meine Vorlage ausging, erreicht. Man ermißt den Weg von der Um formung der apokalyptischen Nähe bis zur fast ' l iterarischen' Applikation i n der Transformation einer Geschichte zu einer anderen, den Hörer umgreifenden, wenn .' Vgl. dlC,� Bemerkungen von U , Wi lckens S, 62, ••
[bei,
V ERHÄLTNIS VON NORM UND NARRATIVIT.ii;r
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man sich des rigorosen Abschneidens aller Berufung auf die Geschichte i n der Täu ferpred igt erinnert : wer dort. wenn er sich auf A braham als Vater beruft. von der Taufe gewiesen wird (Mt. 3 , 9), ist nun. eben d urch sakramentale Typologie. zum 'Samen A brahams' geworden. A ber man wird diesen Weg nicht als Depravation bewerten können. - Die typologische Vergewisserung ist indessen nicht die einzige Form nachösterlicher Vergangenheitsapplikation. In der Theologie der Neuzeit viel einflußreicher49 ist die von Paulus i naugurierte Deutung des mit Jesu Tod vollende ten Geschehens durch die i n eine Geschichtstheologie mündende Rechtfertigungs lehre geworden. Die Spannung von Gesetz und Christus knüpft hier noch einmal an die - durchaus auch apokalyptisch vermittelte - juristische Situation an. I m Kerntext der paulinischen Rechtfenigungslehre wird das durch Christi Sterben Voll brachte als 1C6.QEal�, 'Straferlaß'� gedeutet. Vor allem aber überführt diese Reflexion - hier ch arakteristischerweise über die ' vorösterlichen' Antithesen der Bergpredigt h i naus gehend - die Dialektik zwischen Aufhebung des 'Gesetzes.sl i n einen übergang von Nonntext zu narrativem TextS2• Nicht zufällig ist in der Diskussion der juristische Fundus dieses paulinischen Modells zur Kennzeichnung einer Ambivalenz zwischen Nonn und Narrativität im B i behext gern benutzt worden: die Verbindlichkeit der alttestamentl ichen narratio nes könne mit dem Phänomen des narrativ-deklaratorischen Verfassungstextes ver gl ichen werden (Stierle. PannenbergSl). A llerdings soHte h ierbei die Konsequenz des paulinischen Modells rnitbeda::ht werder.: sie führt nämlich zur Integration der er zählenden Schrift-Vergangenheit i n eine Geschichtstheologie. Rom. 5 , 1 2-2 1 knüpft noch an die typologische Vergegenwärtigung an. dehnt diese jedoch auf einen Rah men von Geschichte überhaupt aus; die Typologie Adam - Christus dient hier einem ' systematischen' Ziel, der Erbsündenlehre. Die Geschichtsdeutungen Rom. 9-1 1 und G a!.3 f. sind kaum mehr als typologisch zu bezeichnenS4 ; sie durchdringen das Phä nomen der Geschichte Israels mit den providentieHen Kategorien der Verheißung, Erwählung, Verwerfung und Rettung; bereits hier erscheinen Probleme der Theodi z e e u n d Prädestination. Es handelt sich um 'historische' Appl ikationsprozesse. Ins besondere die Exege\e im Galaterbrief, i n die Gliederung von Zeitphasen (3, 1 7) und endlich eine Al legorese mündend, nähert sich der beschriebenen Form der 'orosiani sehen' Geschichtsverarbeitung. Man vergleiche hier1.u dtn A uf sal 1 v o n L. Goppe h l.ibtr Apokalyplik und Typologie b e i Paulus (jetzt i n TypoJ. S. 257ft). Rom.l,25. V gl. E. Kastmann. Rbmrrb'l4ltommrrrt.rad loc. \1 VI!:I. die Rechumc-raphorik In Gal. l. 15 ( kein t Attthese). Rom. l, II (ktlne Abrogation) und 9, 6 ("" eitergthung). \: Den Obergang laSt Pau lus 5thr deutlich am Eingang einer S chr l ftau sl � ung htI'Vonreten: Ga!. 4, 21 1Io·ird vor dtr Ausltgung uber Abrahams zwti S oh ne mit dtm Ausdruck 'GuttZ' gtspith: I h r wolll dm:h unltr dtm Gesetz sem (jur;stisthtr Hori70nt). Hon ihr nicht das Gtsetz? (narrativer Horizonl mit fnlgender A lltgortse ). Sehr ahnlich am Ubtrgang von Rom. l zu 4 . • , V gl . jeI1t Panntnberg u. S. "Iflf. .... So noch L. Gopptll. TypoJ S. 266. 4'0 '>C
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R E I NHAKT H ERZOG
M a n kann einem der letzten Paulusinterpreten zustimmen. wenn er diesen Schritt aus einem U ngenügen an der spirituellen Transformation i n Typologien erklärt. Aber man w i rd ihm auch darin zustimmen, daß diese paulinische Applikation des AT weder z u einem existentialen Verständnis der Schrift noch zu einer Theologie der Geschichte im modernen Sinne fühnS5• Sie erfolgt nicht aus dem Horizont einer fortlaufenden G eschichte. i n der sich der G läubige gegenüber der Schrift auf eine 'Standortbcstimmung' im Sinne der h istorischen Hermeneutik verwiesen sähe. Nichts der vollendeten Geschichte Vergleichbares ereignet sich mehr i n dem theolo gischen Präsens seit der A u ferste h u n g ; denn auch 'das Kommende' ist schon vollen det. Aber nicht nur " nichts Neues"s6 und n ichts "für eine beliebige spätere G enera tion" BedeutsamesS? ereignet sich ; vielmehr ist dieses Präsens nur mehr eine "von der vergangenen 'erfüllten' Zeit her bestimmte Zeit geschichtlicher H eilspartizipation" s8 . Auch die paulinische Geschichtstheologie ordnet eine abgeschlossene Geschichte. auch ihr henneneutisches Verfahren vollzieht noch einmal die proleptische Applika t io n nach, fällt nicht etwa h i nter sie zurück : das sich nähernde Kommende ist nicht mehr erst angekommen ; es hat sich vollendet und die Zukunft zur Vergangenheit gemacht . So ist das AT nicht ein Fall. der erst auf meinen Fall appliziert werden müßte, kein U r-Fall, dem als Exempel die Ereignisse einer als außerbiblisch z u sondernden Geschichte zugeordnet w e r d e n könnten (so verfährt e r s t der 1 . C l e mensbrief). sondern mein End-Fall selbst. Die Transformationen der applikativen Exegese sind für die Theologie (hierauf hat v. Rad h ingewiesen) nicht durch die h istorisch-kritische H ermeneutik überwunden worden, sofern nämlich auch heute für d i e biblische Theologie und Exegese gelten soll, daß für ihre Verfahren die Situationen der Ostergemeinde und die von ihr gefundenen Lösungen - und zwar auch "die Weise ihres Rückbezugs" - in der Theologie selbst normative Geltung haben und nicht "durch die jeweils gegenwär tige Perspektive erfahrener Wirklichkeit bedingt sind"s9. Ist das einzuräumen, so erhält offensichdich die Frage der Applikation des AT nicht nur eine exegetische Relevanz60 ; sie berührt auch die Frage nach der theologisch autonomen Geltung einer über die erfüllte Schrift hinausreichenden G eschichte. Kann das paulinische Denken so verstanden werden, daß der aus der Subsumtion unter das Gesetz entlas sene G l äubige " freigesetzt w i rd in seine eigene Geschichtlichkeit"". oder gehört solche eigene Geschichtlichkeit z u den D ingen. die paulinisch gesprochen. mit Ch ri stus begraben sind? Kann biblische Norm so zur Lebensorientierung für alle Folge-
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Vgl. E . Käscmann. Röm�rbr;�fltomm�nr.r S . 24 9 (ad Rom. 9, 6). U. W i lckens, "Offenbarungsveutändnis" S. 76. L. Goppeh, TypoJ S. 273. U. Wilckens. " Offenbarungsverständnis", S . 76. VGI. W. PannenberG. WIJJ�PlJch"tJth�ori� ,."d Th�olog;�. Frankfun \973, S. 383. "Die jeweilige Auffassung und DeutunG dcs AT steht in enGster Wechsclbc7.ichung :r.ur theolOGischen Grundhahung" ( L . Goppeh, Typo J S . 4). W . Pannenberg, o. S. 4\7.
V E R H Ä LTN IS VON N ORM
UND
NARRATIVITÄT
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z e i t werden, " d a ß i n d ieser die bi blische Geschichte e i n e Fortsetzung findet"u, oder kann biblische Norm - wie i n der Bergpred igt - das gerade deshalb nicht. weil w i r u n s i n solcher 'Fortsetzung' enthalten wähnen? Non datur nova revelatio. Was man spezifisch christliche Applikation nennen könnte. liegt vor den textueJ len Formen. Diese tendieren dazu. historische oder literarische ' A p plikation' zu ermöglichen ; und die Institution Kirche ist auch der Versuchung des j u ristischen Appliz ierens immer w i eder verfallen. Es ist das E i gentümliche der theologischen Schriftanwend u n g von A nfang an. daß sie diese ' F remdbestimmung' ihrer Herme neutik n u r i n einer Fonn überwindet. i n der vorösterlichen Situation noch präsent ist und i n Handeln mündet : i n Einsetzung und Teilnahme an der Eucharistie.
b: w.
Pannenberg. ( 1 .
s. -118.
V Z U R A L LG E M EI N E N H E R M E N E UTI K
HANS ROBERT JAUSS ZUR A B G R E N Z U N G UND B E STI M M U N G E I N E R LITERA R I S C H E N H E R M E N E UTI K
I Zur Forschungslage der l iterarischen Hermeneutik Die Begründung und methodische Entfaltung einer literarischen Hermeneutik ist eine Aufgabe, die uns heute neu gestellt ist. Wohl gibt es eine alte, ja säkulare Tradition der philologischen Hermeneutik. Sie kann sich ei nes ehrwürdigen Ur sprungs, der Homerdeutung in der Antike, rühmen. Sie kann sich auf eine ausge baute Kunstlehre der Auslegung kanonischer Schriften berufen, deren stolzes Monu ment die wiederhergestel lten Texte und Kommentare antiker Autoren seit dem Hu manismus sind. Und sie kann den nicht weniger reichen Ertrag einer h istorischen Interpretation von vergangenen Texten der ganzen Weltliteratur vorweisen, mit der sie seit dem 1 9 . J ahrhundert dem Ideal objektiver, mithin ' wissenschaftlicher' Er kenntnis diente. Doch diese Leistungen sind bekanntlich der traditionellen philologi schen Hermeneutik nicht allein eigen. Sie teilt sie mit der theologischen, der juristi schen, der philosophischen wit" der historischen Henneneutik, kurzu m : mit allen Disziplinen, die mit Edition, Quellenkritik und historischer Auslegung von Texten der Vergangenheit befaßt sind. Die Tugenden der traditionellen, auf literarische Texte bezogenen Hermeneutik sind so wenig ihr Privileg, ihre Vorgeschichte ist so wenig von der aller anderen regionalen Hermeneutiken gesch ieden, daß man wissen schaftsgeschichtlich von einer gemeinsamen philologischen G rundlage sprechen kann und die Ausgangsfrage vielmehr so stellen muß: wo beginnt eigentlich die Eigenständ igkeit einer literarischen Hermeneutik? Wie verfuhr und wie verfährt sie heute, wenn sie dem ästhetischen Charakter ihrer Texte gerecht werden will? Diese Frage isr ganz duu angetan, den Philologen auch heute noch in Verlt'genheit zu setzen. Sie wurde traditionellerweise - als Frage nach der Wirkung der l iterari schen Rede - an die Rhetorik verwiesen oder - als Frage nach dem ästhetischen Wert - zum Geschäft der l iterarischen (in Deutschland : außerakademischen) Kritik er klärt. Wo sie seit dem Beginn unseres Jahrhunderts eigens - als Frage nach der 'Literarizität' der Texte - gestellt und zur Prämisse der Auslegung erhoben wurde, entschlug man sich zumeist der hermeneutischen Reflexion. Das gilt sowohl für die neuen Ansätze der russischen Formalisten wie für die Stilistik Leo Spitzersi; aber 1
I.en Spitzer h�t 7WU im Vorwon zu Lmg.. lStln"nJ L,ur.? Hutory(1'NS) sein stilistisches Verf�hren �us dem hermeneutischen Zirktl z u erklliren versucht; doch übersteigt die implizite Theorie srinrr so unsy"lrm�ti�cheli ""ir unn�,h�hmlicheh Intcrprt'utiun�pr�xi5 bc:i wl'ilrm srinr mugin�le htnntnt'uli seht Reflexion. wir �m btutn �us dtr \\' ürdigung "on 1- Stuobinski, L 'orilllw"nt JI - L... rrwtion CTlllq .. r, r�ri5 1970, S. 14-81, hervorgehl.
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HANS ROBERT J AUS S
auch die spätere linguistische oder semiotische Poeti k und noch die jüngsten Theo rien von 'c:criture', 'jeu textuel' und ' intertextualite' fragten kaum nach den herme neutischen Implikationen der neuen deskriptiven Methoden oder bezogen im Banne formalisierender Wissenschaftsideale offen eine antihenneneutische Position. Susan Sontags Agaimt Interpretation ( 1 966) hat Fortune gemacht. weil ihr temperament voller Angriff auf den Objektivismus der traditionellen Auslegungspraxis den W i derspruch aufdeckte, d e r zw ischen moderner Literatur u n d traditioneller I nterpreta tion eintritt, wenn diese die Bedeutungsvielfalt des 'offenen Werks' (opera apcna) auf einen venneintlichen vorgegebenen. im Text verborgenen oder hinter ihm zu suchenden Sinn reduziertl. Blickt man andererseits auf die neue hermeneutische Theoriebildung. zu der benachbarte Textwissenschahen wie besonders Theo logie und J u risprudenz gelangt sind, seit sie begannen. über die gemeinsame phi lologisch historische I nterpretationsleh re h i naus zu erarbeiten, w as ihre hermeneutische Prax i s im Verstehen. Auslegen und A n w e n d e n voraussetzt und unterscheidet, so k a n n m a n Peter S z o n d i nur zustimmen. der 1 970 die R o l l e des 'armen Verwandten' beklagte. mit der sich die literarische Hermeneutik i n dieser Diskussion bislang begnügt habe} . Szondi forderte eine Revision der traditionellen, theorieblind gewordenen philolo gischen Methodik und sah das Ziel einer neuen literarischen Hermeneutik i n der A ufgabe. eine " zwar nicht unphilologische, aber die Philologie mit der Ästhetik versöhnende Auslegungslehre" zu enrwickeln4• Diese werde sich von der überliefer ten Hermeneutik der klassischen Philologie darin unterscheiden müssen, "daß sie den ästhetischen Charakter der auszulegenden Texte nicht erst in einer Würdigung, die der Auslegung folgt, berücksichtigt. sondern zur Prämisse der Auslegung selbst macht"s. H ierzu sei entgegen der allgemein verbreiteten Neigung zu einer Theorie des Verstehens, die seit Buhmann alle regionalen H ermeneutiken h i nter sich lassen wolle, die Rückwendung zu einer materialen, d . h . auf die Praxis der literarischen Auslegung eingehenden H e rmeneutik vonnöten, die auf unserem heutigen Kunst verständnis aufzubauen sei. Für die Ausarbeitung einer solchen literarischen Herme neutik hat Szondi einen G rund gelegt. auf dem es sich gut weiterbauen läßt. Er hat ihr methodisches Verfahren an Paradigmen du nkler Lyrik praktisch erprobt und dabei die Interdependenz von Kritik und H ermeneutik vor Augen geführt. Er hat aber auch die verdeckte Vorgeschichte der l iterarischen H ermeneutik erhellt, i n d em er aus der allgemeinen Tradition der H ermeneutik die Momente hervo rhob. an denen seit Chladenius der ästhetische Charakter von Texten bemerkt, von theologi schen oder j u ristischen Prämissen unterschieden und noch tastend einem spezifi
sch e n Verfahren ästhetischer Auslegung zuge fü h rt wurde. I
"ThC' old slylC' of inlC'rpfC'lalion was insiSlC'nl, bUI fC'spccdul; il C'rC'cIN anolhC'r mC'aning on IOp of IhC' lilC'ral onC'. ThC' modC'm slylc of inlC'rprclalion CKcavalcs, dCSlfoys; il digs 'bchind' Ihc ICXI. 10 find a sub'IC'X1 which is Ihc lruc onc", in Agllll;",t t"tcrprct.twn IIIlntl otheor f,ut". Neow York 1966, S. 6. ) "BemeorkungC'fl zur FonchungslaKC' def lilcrarischC'n H crmenculik", in Ern!ifhrlfng ", tlw liteorllllrtschr HeorPPJc"clftÜt. Frankfun 1 975, S. 404 . • Ebd. S. 2 5 .
, Ebd.S. Il.
ZUR ABGRENZUNG UND B ESTI M M U N G E I N ER LITERA R ISCHEN H ERMENEUTIK
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In Szondis h i nterlassener literarischer H e rmeneutik, die er selbst gew i ß als unvoll endet angesehen hätte, steht demnach von den drei Fragerichtungen der Hermeneu tik: Verstchen, Auslegen, Anwenden oder - um die didaktisch so bewäh rte, ur sprünglich pietiSlische Triade dafür einzusetzen - der subtilitas i"ullige"Ji, expli ca"di, applica"di - die zweite ganz im Vordergrund des Interesses. Damit stellt sich bei einer Wiederaufnahme seines Unternehmens die Frage, ob die E igenständigkeit der literarischen Hermeneutik nicht auch schon im ersten hermeneutischen Akt. der subtilitas i"tdlige"di, gesucht werden muß und o b sie ferner am dritten hermeneuti schen Akt. der subtil;tas applica"Ji, überhaupt teilhat, der die theologische wie die j uristische subtilitas explicanJi krönt. M i t w elchem Recht kann die Behauptung von Hans Georg Gadamer, "daß Anwendung ein ebenso i ntegrierender Bestandteil des hermeneutischen Vorgangs ist wie Verstehen und A uslegen..•• auch für die literari sche Hermeneutik gehen ? Diese Fragen sind kontrovers geblieben, w ährend die literarische Hermeneutik seither ihre spezifischen Probleme der Konstitution, Wir kung und Auslegung ästhetisch strukturierter Texte schon i n mancher H i nsicht gelöst hat'. 1m Vordergrund meines Interesses steht darum der Versuch. i n ständiger Bezugnahme auf die benachbarten Hermeneutiken z u klären, zum einen : welche Einsicht in den primären Vorgang des Verstehens geradr aus dem ästhetischen Ge genstand der l iterarischen Hermeneutik gewonnen werden kann. und zum ander n : inw iefern a u c h d a s Verstehen in ästhetischer E i nstellung n i c h t im p u re n K unstgenuß oder in reflektierender Auslegung endigen muß. sondern gleichtalls zur Anwendung gelangen kann.
11 Der hermeneutische Vorgang als Einheit "'on Verstehen, A u slegen und A n"'enden
Die Methodenreflexion der gegenwärtigen Textwissenschaften hat durch die philo sophische Hermeneutik Hans Georg G adamers einen entscheidenden Anstoß be kommen, den hermeneutischen Vorgang all> eine Einheit der drei Moment� des Verstehens, des Auslegens und des A n w endens z u begreifen. die z u verwirklichen bei aller Verschiedenheit der Gegenstandsbereiche die gemeinsame A ufgabe aller hermeneut i schen Praxis war und wieder sein solhe. Das Sel bstverständn i s und die Vorgcschichte der hermeneutischen D iS7.i p l i nen ließe sich i n der Tat danach charak terisieren. wie wC'it sie diese Einheit der drei MomentC' C'rkannten und i n ih rer wis senschaftlichen Praxis realisierten oder aber vergaßen und ein Moment auf Kosten �
\t'"h,hm 'md MrlhoJr - G,,,nJz;,gr rmr, phl/oJophll�hrn Hrrmrnr"tJt, TiJbmgt'n 1960, S. 291. rrrra�rnlill liv sri ;;mgt'hihn: \l'. Isrr, Drr AJ:t JrJ LrJrns, München 1976: U. JiIIPP' Hrrmrnr"tiJ:
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lJrr throrrlluhr Dult"rJ, dir Litr'.t"r "nJ d.r KonJlr"lttion ihrrJ Z"J.. ",,,,rnhangs in Jrn phllolog. fchrn ll/lJJrns�h..ftr", Munchcn 1977; P. Ricocur, "Die Schrift i11l s Problem der Literaturkritik und ..trr pb.losophl\o.:hcn Hrrmcncutik" , In J . Zlmmcrmilln n ( H g .l, Spr .. �hr "nJ Vlrlter/.. hr"ng, M u nchen 1978, 67-l1li; femrr (semiotISch, m.. h t hcrmrneutisch orientiert) j. l.utman, Dir .'irr"ltt'" t.ter.. rn�hrr Tntr. Munchcn 1972.
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HANS ROBERT J AUSS
der anderen zum allein legitimen Forschungsinteresse erhoben haben. Die literari sche Hermeneutik stand offenbar am längsten im Banne der Paradigmen des H isto rismus und der werkimmanenten Interpretation, woraus sich ihr gegenwärtiger Rückstand erklärt. Sie hat ihre Theorie auf die Auslegung verkürzt, ihren Verste hensbegriff unartikuliert gel assen und das Problem der Applikation so völlig ver nachlässigt, daß die Wendung zur Rezeptionsästhetik. die d iesen Rückstand in den Sechzigerjahren aufzuholen begann, der unerwartete Erfolg eines ' Paradigmenwech sels' zuteil wurde. Die Einsicht, daß im Verstehen immer schon der Begi nn des Auslegens liegt und Auslegen daher die explizite Form des Verstehens ist, �.. ie ande rerseits daß "im Verstehen immer so etwas wie eine Anwendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten stattfindet ..•• ist der theologi schen wie der j uristischen Hermeneutik niemals verlorengegangen. Dazu nötigten sie j a auch ständ ig die Erfordernisse der Predigt (als Vergegenwärtigung der H e i l s bot schaft) und des Urteils (als Konkretisation des Gesetzes zur Lösung eines Rechts falls). Im Blick darauf erscheint es darum plausibel. Gadamer folgend u nsere gegen wärtige Aufgabe darin zu sehen. "die geisteswissenschaftliche Hermeneutik von der juristischen und theologischen her neu zu bestimmen"'. Für diese Absicht ist es gewiß dienlich zu fragen, wie in der vergessenen Ge schichte der Auslegungspraxis literarischer Texte jene Einheit von Verstehen, Ausle gen und Anwenden sich angezeigt hat. die erst den vollen Begriff der Hermeneutik ausmacht. Gadamer führt sie im Blick auf die Systematisierung des hermeneutischen Problems im 1 8. Jahrhundert ein: der Pietismus untersch ied die subtilitas intelligendi von einer subtilitas explicandi und fügte dem - im Interesse religiöser Erbauung - als drittes Gl ied die subtilitas applicandi hinzu. Die Wissenschafts lehre der Romantik habe diese Sonderung der drei Momente des hermeneutischen Vorgangs überwun den und die innere Einheit von intellegere und explicare erkannt, ineins damit aber die Anwendung (applica reJ preisgegeben, d. h . dem neuen Ideal der historischen Erkenntnis geopfert1c• D ieser epochale Paradigmenwechsel hat mehrere Aspekte. Er eröffnet eine universale Hermeneutik. die sich von allen Bindungen der traditionel len Hermeneutiken an Texte von kanonischer Bedeutung (die Heilige Schrift, das Corpus Juris, die Klassiker der Antike) emanzipiert. Er gelangt bei Schleiermacher zur Begründ ung einer allgemeinen Hermeneutik als Wissenschaft vom Verstehen, die von münd l icher Rede, nicht also primär von Tex ten ausgeht (jeder Akt des Verstehens ist die Umkehrung eines Aktes des Redens)l1, die das Problem des Verstehens auf das fremde Du. auf die Individualität des Autors zentriert und damit die psychologische (oder technische) Auslegung an die Seite der grammatischen stellt. Für die l iterarische Hermeneutik der klassischen Philologie schließlich führte dieser Paradigmenwechsel dazu, daß an die Stelle der Lehre vom • • I� 11
H . -G. G�d�mC'r. W.brbC" ' I4"J MttboJC'S. 291. Ebd. S. 2904. Ebd. S. 29Off. So:hlC'iC'rm�chC'r. Hnmt"tl4ll•• hg. H. Kimmc-rlc, Hc-idclbc-rg 19S9, S. 8C (§04).
Z U R ABGRENZUNG UND BESTI MMUNG F.INER LITERARISCHEN H ERMEN EUTIK
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mehrfachen Schriftsinn - wie Szondi an Friedrich Asts Grundlinien der Hermeneu tik und Kritik ( 1 808) hervorhob - die Lehre von der mehrfachen Auslegungsweise tritt : " das historische Verständ nis, das sich auf den Inhalt bezieht, das grammatische, das sich auf Form. Sprache und Vortrag bezieht. und das geistige, das auf den Geist des einzelnen Schriftstellers und auf den der Epoche zielt"I2, Die gesch ichtliche Wende, mit der die Hermeneutik erst eigentlich ihren wissenschaftlichen Anspruch zu begründen begann, ist zur Genüge dargestellt wordenD, Hier kommt es mir nur darauf an, ins Licht zu rücken, daß nicht erst der Hermeneutik seit der Aufklärung, sondern auch schon der älteren Praxis der ars interpretandi ein implizites Verständ nis der Einheit von Verstehen, Auslegen und Anwenden zugrundelag und daß das neue Modell der mehrfachen Aus legungsweisen das alte Modell des mehrfachen Schriftsinns nicht einfach abgelöst. sondern dessen Funktionen umbesetzt und wei tergeführt hat, A n der Wortgeschichte ist interessant, daß griechisch hermeneuein drei Bedeu tungsrichtungen umfaßt : aussagen (ausdrücken), auslegen (erklären) und übersetzen (dolmetschen)'4, Denkt man an die ursprünglich sakrale Verwend ung des Worts, so erforderte die dunkle Sprache des Orakels, den göttlichen Willen nicht allein durch Auslegung zum Verstehen zu bringen, sondern auch das Verkündete in die gegen wärtige Situation zu übersetzen. Eines ' Hermeneuten' oder Dol metschers bedarf aber auch das poetische Wort H omers, das im wachsenden zeitlichen Abstand nicht mehr unmiuelbar verständlich blieb oder im Wandel der Siuen anstößig werden konnte. Hier l iegt der U rsprung der Scheidung von sensus litteralis und sensus allego rieus. die der Praxis der beiden ersten Schulrichtu ngen einer literarischen Hermeneu tik avant la lenre zugu nde lag: der grammatischen I nterpretation (die in der späteren alexand rinischen Philologie zur Bl üte gelangte) und der al legorischen Exegese (die von den Stoikern und der pergamenischen Schule ausgebaut wurde). Das verschie dene Verfahren, entweder den schwer verständlichen alten Wortlaut durch die ge genwärtige Sprache zu erläutern oder ihn du rch eine aktuelle, meist moralische A u s legu ng gleichsam zu verdoppe l n , wird leicht unterschätzt, solange man den dar aus erwal.:hscnen, in der Geschichte der Henneneutik von Epoche zu Epoche unter verschiedener Flagge wieder auflebenden Streit der beiden Richtungen nicht als die beiden Seiten eines fortschreitenden Rezeptionsprozesses sicht. Szondi hat das Pro blem der Appl ikation, das diesen Prozeß in Gang hält, angesprochen, als er die tiefere gemeinsame Intention der grammatischen und der allegorischen Interpreta tion darin sah, "den kanonischen Text, welcher der Homer den Athenern der klassi !'lichen Zeit und den Alexandrinern war, aus seiner historischen Entrücktheit herein7.uholen in die Gegenwart, ihn nicht nur verständlich, sondern auch gleichsam geIl
f",f"h"""RS.158.
" Zu G.IIll.&mrr unJ S7.onJi 'l'I no,h .IIui G. Ebding, Anikd "Hl'rml'nl'uuk", in DIl' Rdlglo" ", Gl' ,d"chtr "".1 Gl'gl'"u.',m, Tublnj;l'n '1957, BJ l. Sp. 242-262. und .IIui W . P.IInnl'nbl'rg(s.u. Anm.l9/40) \·rrW'l'\l'n. ,. �.II.:h EbdmK. "Hl'nnl'nl'Ulik" Sp. 243.
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genwänig zu machen, ihn als unvermindert gültigen, eben kanonischen, auszu weisen'· 1 5. So hat Horner nicht allein poetologisch den Kanon der Weltliteratur eröffnet, sondern auch hermeneutisch - durch die Nöte der Aus legung seines Werks - zuerst ein Problem des Verstchens aufgegeben, das als Differenz zwischen Text und Ausle gung die Grundsituation aller Hermeneutik bestimmt. Die Scheidung von sensus litteralis und sensus allegoricus ist nach der HomeraliegoresC' von der christlichen B ibelexegese wohl am meislcn dadurch bereichen worden, daß der kanonische Text ein neues, eschatologisches Verständ nis der Geschichte als Heilsgeschichte eröffnete, der sensus litteralis mithin als sensus historicus begriffen werden mußte. Der Notwen· d igkeit, die Geschichte des Alten Testaments als Präfiguration des in Christus er· schienenen Neuen, das Gesetz i m lichte des G l aubens, die Gegenwan in der escha tologischen Hoffnung auf das kommende Reich Gottes auszulegen, entsprach das paulinische Verfahren der Typologie. Spezifisch christlich erscheint daran, daß nun das Problem der A p p l i kation nicht allein die Bedeutung des Vergangenen, sondern auch die Bedeutung des Zukünftigen für die gegenwänige Situation umschließt. Die drei zeitlichen Dimensionen kehren i m eigentümlich christlichen Verfahren der pa· tristischen Bibelexegese wieder: der lehre vom dreifachen Sinn der Heiligen Schrift. Seit Origenes bürgert sich die U nterscheidung von einem somatischen (buchstäbl i chen, historisch-grammatischen), einem psychischen (moralischen) und einem pneu matischen (allegorisch·mystischen) Schriftsinn ein, der anthropologisch in der Ein· heit von leib, Seele und Geist veranken ist. Die Erweiterung des alten doppelten Schriftsinns ist hier wie i n der schulmäßigen Schematisierung des M ittelalters (littera gesta docet. quid CTedas allegoria. moralis quid agas. quo tendas anagogia) näherhin eine Aufgliederung des sensus spiritualis i n verschiedene Richtungen der Applika· tion : "auf die Kirche und ihren dogmatischen lehrgehalt. auf das Verhalten des einzelnen Gläubigen (auch 'tropologisc h ' ) sowie auf die metaphysischen und escha· tologischen Geheimnisse"'''. Stand in der Geschichte der christlichen Schrihexegese bisher das Verhältnis von A uslegung und Anwendung im Vordergrund, so mußte das Moment des Verstehens neu zum Problem werden. als die Frage nach den Kriterien des wahren Schriftver· srändnisses nichr mehr durch den Besitz der regula lidei und die hermeneurische Norm des karholischen Trad itionsprinzips als gubernaculum interpretationis vorenr schieden warP. Luthers lehre von der Klarheit der Schrih, d. h. ihres sensus litteralis, ' stellte jeden Christen als leser der Bibel vor die A ufgabe. unabhängig von der Aurorirät einer säkularen Deutungstradirion, mirhin kraft der eigenen subtilitas intel ligendi, sich den Sinn des verbum Dei smptum zu eigen zu machen. Die Preisgabe des mehrfachen Schrihsinns und i m besonderen die Verwerfung der A l legorese schloß indes für Luther den Schritt von der erplicatio zur applicatio keineswegs aus. I�
Em/"h,,,n,S. Iftf.
I ' G. Ebc:ling. " H c:nnc:neu,ik" Sp. 247. Nach G. Ebcling, "Hermenc:uük" Sp. 24Sf.
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Z U R ABGRENZUNG U N D B ESTI M M U N G E I N E R LITERARISCHEN H ER M EN E UTIK
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Er begründete ihn vielmehr neu, indem er die gesch ichtliche Priorität des 'Verbum Dei non smptum vor dem 'Verbum Dei sCTiptum, des lebendigen Evangeliums vor dem zur Schrift erstarrten G esetz hervorhob I': "aus geschehener Verkündigung soll geschehende Verkündigung werden. Diese Wendung vom Text zur Predigt ist eine Wendung von der Schrift zum mündlichen Won"". Die Predigt als h istorisch ge wandelte, situationshaft aktualisiene Botschaft und nicht der ein für allemal vorgege bene, zeitlose Sinn einer heiligen Schrift ist nunmehr der genuine Text, i n dem sich der hermeneutische Vorgang für den mündig gewordenen Christen erfüllt ! Der pro testantischen Hermeneutik i n der Geschichte nach Luther erwächst aus der Forde rung, den Text der Bibel i n seiner Altenümlichkeit zur Gegenwan i n Beziehung zu setzen, das Problem der E inheit und Selbigkeit des Textes. das sich i n dem Maße verschärft. w i e das beginnende historische Denken die Kluft zwischen dem Literal sinn der biblischen Quellen und dem faktischen. nur ind irekt erschl i eßbaren Her gang der Ereignisse aufdeckt20• Der literarischen Hermeneutik haben sich analoge Probleme erst gestellt, als im G efolge der Quere/Je des Anciens et des Modernes ein h istorisches Verständnis der klassischen Texte entfaltet w u rde. das die Vorbildlich keit und Nachahmbarkeit der antiken A u toren i n Frage stellte2 1 • Der Schritt von der Lehre vom meh rfachen Schriftsi n n . die alle D ifferenz der A uslegung schon i m Text su bstantiel1 vorgegeben oder vorgezeichnet sieht, zu einer H ermeneutik der mehrfachen A uslegungsweise. die den Sinn des Textes als aufgege ben. als Bedingung der Möglichkeit immer wieder neuer Applikationen versteht und den h istorischen Standon mit dem sich wandelnden Lebenszusammenhang zum D ifferenzpunkt der verschiedenen I n terpretationen macht, ist von Luther eingeleitet und im l8 . J ahrhundert - wie schon erwähnt - von der Hermeneutik des Pietismus zur Lehre von den drei subtilitates ausgebaut worden. D i e Auslegungspraxis der h u m anistischen Gelehnen hat sich unabhängig davon entw ickelt und die allegorische Interpretation der großen antiken A u toren schon seit der Philologie der Renaissance als antiquiert verabschiedet. G leichwohl steht auch die Ende des 1 8 . Jahrhu ndens im Zusammenhang mit der Begründung einer h i s torischen Altenumswissenschaft auf kommende Hermeneutik der klassischen Philologie in einem Folgeverhältnis zu den Problemen und Lösungen der zeitgenössischen theologischen H ermeneutik. Szondi konnte darum die Hermeneutik von Friedrich Ast zu Recht als einen Versuch dar stellen, die alte Lehre vom mehrfachen Schriftsi n n i n eine neue Theorie der mehrfa chen A u s l egungsweisen - der h istorischen, der grammatischen und der 'geistigen' Uln7.u setzen. Szondi hat sodann auch Schleiermachers H e rmeneutik in dieses FolgeU "lex i n tabu li5 5cribebatur et erat scriptura monua, limitibus tabulae claun, ideo parum efficax. At
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:1
Evangelium vivae et liberrimae voei in auras effune comminitur, ideo plus energiae habet ad conver· tendum". zitien naeh G . Ebdinr;. "Won: Gones und Hermeneutik", in Wort ,,1Iti Gw"br, Tübingen J1967, 5 . )27. Ebd . $ . )45. Nach W. Pannenberg, " H ermeneutik und U n i versalgeschiehte", in den .• Gnmtifr.ge1l JYJtc11Ulturher TheologJe, Gouingenll 97 1 . 5. 91 . Duu Vf . • LJur.'IIrgrJrhirhte.h l'rrwolt.,J01l. Frankfurt 11970. 5. 29ff.
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verhältnis gestellt : " Indem Schleiermacher die Hermeneutik nicht auf den Begriff des Schriftsinns, sondern auf den des Verstehens gründet. ergibt sich die Möglichkeit, Auslegungsweisen zu unterscheiden, ohne daß sie eine Vielfalt im A usgelegten selbst voraussetzen würden". Wenn man i n d ieser Wende der Hermeneutik mit Szondi eine verdeckte "polemische I ntention Schleiermachers und der Hermeneutik seiner Zeit gegen die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn" erkennt!2, darf man indes nicht übersehen, daß die neue Lehre von der meh rfachen A uslegungsweise ineins damit die alten Funktionen der theologischen Schriftexegese übernimmt und neu formu l iert. An die Stelle des sensus /ittera/is, der in der ch ristlichen E xegese mehr und meh r als sensus historicus aufgefaßt wurde, tritt einerseits das historische, auf das vergangene Ereignis (oder die poetische Fabel) bezogene Verständnis, andererseits die gramma tische I nterpretation, die bei Schleiermacher die D ifferenz zur altertümlichen Sprach stufe aufarbeiten muß, wobei auf beiden Ebenen die Gattung des z u interpretieren den Werkes als eine hermeneutische Brücke dienen kann 2J• A n die Stelle des sensus spiritualis tritt bei Ast die geistige, die psychologisch-technische I n terpretation, die den alten pneumatischen Schriftsinn i n die neue Forderung ummünzt, das Werk eines Schriftstellers als Produkt seines Geistes und dem seiner Epoche zu verstehen. Diese Umformulierung, bei welcher der Geistbegriff des deutschen Idealismus Pate stand, steht unserem Begriff von Hermeneutik gewiß am fernsten ; sie fällt damit gleichwohl - denkt man an ihre I ntention - der modernen Kritik am einfühlenden Verstehen nicht völlig anheim, wenn man berücksichtigt, daß psychologische I nter pretation nach Schleiermacher (im U nterschied zur geistigen I nterpretation nach Ast)24 die eigene Nacherzeugung der lebendigen Gedankenerzeugung des A utors erforderte. Wenn Schleiermacher die psychologische I nterpretation zugleich die technische nennen kann, so wohl darum, weil sie für ihn nicht auf intuitionistischer Ineinssetzung mit dem fremden D u beruhte, sondern auf dem konstruktivistischen Prinzip der Poiesis gegrü ndet war, dessen Erkenntnisleistung letztlich auf Vicos Satz 'Verum et factum con'Vertuntur z u rückweist2�. Die Stelle des sensus mora/is und damit die Funktion der Applikation im engeren Sinn fehlt i n der Hermeneutik Asts und Schleiermachers; das auf Beipflichtung anderer angewiesene ästhetische Urteil i m S i n n e Kants ist nunmehr dem kontemplativen I d e a l der autonomen K u n s t anheimge fallen. H ingegen kann man cum grano salis für den sensus anagogicus eine Entspre chung darin sehen, daß sich - wenn nicht ausdrücklich für Schleiermacher, so doch 11
E",führ"ng S. 190.
!\ D ... s hat Szondi neu in� licht geruckt (Einführ""g S. 190). Siehe dazu Szond is Kritik an der harmonisierenden Funktion. die Ast dem Geistbcgriff verliehen habe. der bei ihm "nicht nur z u r Bestimmung des Ziels dient. das die: Hermeneutik der Goethe:zeit dem Verstehen setzt. sondern zugleich i n seiner Nebelaura alle Probleme aufhebt. die etwa mit dem Zeitab stand zwischen Autor und leser oder m i t der I nterdepe:ndenz von Te:xt und Konte:xt p;e:setzt sind "
!4
!S
(E",führ"ngS . 139).
Schle:iermacher. Hc,.",c"c"ult S. 81 und 1 0 7 ff. (§§ 5-7. 4 1 -4 4 ) ; Szondi h ... t die konstruktivistische Wurzel ...on Schleiermacheu pS)"f.�hologischer I nterpretallon übruehen. die besonders D . Böhler i n seiner Vorlage: " P h i losophi\che Hermene:utik u n d hermeneutische Methode" Ins Licht geruckt hat.
Z UR ABGRF.NZUNG U N D B ESTIMMUNG E I N E R LITERARISCHEN H ERMEN EUTI K
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für die Brüder Schlegel - der hermeneutische Vorgang nicht schon im verstehenden Auslegen des einzelnen Werks oder Autors, sondern erst durch seine Einordnung in den Kanon der Weltliteratur erfüllte, mithin vom I nterpreten als Literaturkritiker ein ästhetisches U rteil verlangte, das die vergangene mit der zukünftigen Bedeutung ineins nimmt. Wenn sich meine These h i storisch halten läßt. daß die Genese der neuen Herme� neutik der mehrfachen A u slegungsweise aus einer U mbesetzung von Funktionen der alten Lehre vom mehrfachen Schriftsinn erklärt werden kann, bestätigt dies letztlich die Erwartung. daß i n der geschichtlichen Arbeit am kanonischen Text stets alle drei Momente des hermeneutischen Vorgangs beteiligt sind. Gleichviel ob die verschie� dene A uslegbarkeit eines Textes auf Ebenen vorgegebener Bedeutung oder auf Wei sen seiner Rezeption zurückgeführt wird . setzt doch jede Konkretisation von Sinn das Ineinandergreifen von Verstehen. Auslegen und A nwenden voraus, auch wenn die drei Momente verschieden gewichtet werden oder ein einzelnes - wie das Verste hen in der historischen Rekonstruktion, wie das A uslegen i n der werkimmanenten I nterpretation oder wie die Anwendung in der Allego rese - zum Ziel des hermeneu� tischen Vorgangs erhoben wird. Die heute kaum mehr ernst genommene und doch unerkannt fortwirkende Allegorese21> war so wenig eine nur willkürliche oder 'naive' Umdeutung wie die gegenwärtige Rezeptionsästhetik nur subjektive Projektionen und ideologische Vorurteile zutage fördern kann. Die letztere sucht vielmehr die h istorisch wandelbaren Präm issen des Verstehens i n den leitenden Interessen der Applikation aufzudecken, die sich i n einer A u slegungsgesch ichte geltend machen; sie darf dabei die Frage nach der gewahrten. verwandelten oder auch verlorenen Identi� tät des Textes so wenig aus dem Allge verlieren wie d ie besondere Konstitution ihres Textrepertoires. wenn sie der Zielsetzung aller Hermeneutik gerecht werden will. IIJ Frage und Antwort als Prämissen des Verstehens '«'oIS hat Jas Verstehen in ästhetischer Einstellung mit dem Vel'stehen theologischer.
j uristischer oder philosoph ischer Texte gemeinsam und wo läßt sich im hermeneuti schen Vorgang das spezifische Problem des Verstehens literarischer Texte abgren zen? Der Anfang und damit das Geme insame allen Verstehens ist nach der philoso phischen Hermeneutik i m Verhältnis von Frage und Antwort begründet. Verstehen heißt - wie Hans�Georg G adamer formulierte - "etwas als Antwort verstehen"2'. Als Antwort erschließt sich der Text aus der Frage. Denn ihr Wesen ist "das Offenle� gen und Offenhalten von Möglichkeiten"28. Gadamer nimmt dabei Bezug auf Hei� :. Ihr unl"ingesl.lndent'S Weitrrwuk,'n heße sich 1.. B . in maniili§chen Interprt'lationrn 1.ri,rn, dir das Verh:il tni� von Basis und lilcrarischem Oberbau ,dlrgori§ierrn mih�en, um die stummen Produktions vrrhallnls�e als agierrnd zum Sprechen lU bringen. :. In einem noch unveroUenthchten Vorlrag uber lilerarischr Hermeneutik, Duhrovnik 1978. �. "Vum Zlrkri ..tn Vrnlehen§", In G. Nr�ke (Hg.), F�JtJch"lt - M.ni,. H�iJ�8g�r ZM," JI�hzIR"�" G�bMnJtolg, Plullingrn 1959, S. 14.
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deggers einführende Explikation der Frage nach dem Sein. näherhin auf die Bestim mung: "Jedes Fragen ist ein Suchen. Jedes Suchen hat seine vorgängige Direktion aus dem Gesuchten her. Fragen ist erkennendes Suchen des Seienden i n seinem Daß- und Sosein . Das erkennende Suchen kann zum ' Untersuchen' werden als dem freilegen den Bestimmen dessen, wonach die Frage steht"l'. Die literarische Henneneutik kennt d ieses Verhältnis von Frage und A ntwort aus ihrer Auslegungspraxis, wenn es darum geht. einen Text der Vergangenheit in seiner Andersheit zu verstehen, das heißt: die Frage w ieder zu gewinnen. auf die er anfänglich die Antwort war, und davon ausgehend den lebenswehlichen Horizont der Fragen und Erwartungen zu rekonstruieren. i n den das Werk zu seiner Zeit für seine ursprüngliche Adressaten eintrat. Was für die explizite Auslegung wie für die theoretische Ebene des ' U ntersu chens' zu fordern ist. braucht indes nicht auch schon für die primäre Ebene der ästhetischen Erfahrung, das verstehende Genießen und genießende Verstehen, zu gelten. Denn es liegt auf der Hand. daß der ästhetische Charakter eines Textes nicht notwendig den Status einer expliziten oder impliziten Antwort haben muß : wenn ein Text wie der Amphitryon oder wie der Faust erst als Antwort auf die Frage nach der Identität der Person oder auf die Frage nach dem Glücksgew inn durch Erkenntnis angemessen verstanden werden kann, so stehen dem doch andere poetische Texte wie zum Beispiel in der Lyrik - gegenüber, denen dieser Antwortcharakter fehlt, ja deren ästhetischer Reiz gerade darin liegen kann, daß sie uns dem existentiellen Ernst des Fragenmüssens überheben. Ich komme auf dieses Problem der primären Konsti tution und Rezeption ästhetischer Texte w ieder zurück und gehe erst noch auf die Weiterführung von Heideggers ontologischer Begründ ung des Verstehens durch Rudolf Buhmann ein. dessen theologische Hermeneutik die Grenz.e zum Ästheti schen immer w ieder überschreitet. Das Problem Jer Hermeneutik ( 1 950) beginnt für Buhmann - und nach ihm für alle neuere Henneneutik - erst eigentlich mit dem Schritt, der über den Objektivis mus der h istorischen Erkenntnis hinausführt. Verstehen ist kein rein kontemplativer Akt, in dem der Interpret nurmehr seine Subjektivität auslöschen und seinen ge schichtlichen Standort vergessen müßte. um zu der objektiven Erkenntnis einer Sache zu gelangen. Verstehen ist stets an einer bestimmten Frageste l lung, an einem 'Woraufh i n der Befragung' orientiert und mithin von einem Vorverständnis der Sache geleitet. das i n einem I nteresse des Fragenden begründet ist. Alle verstehende Interpretation setzt voraus, "daß d ieses Interesse auch in irgendeiner Weise i n den zu interpretierenden Texten lebendig ist und die Kommunikation z.wischen Text und Ausleger stiftet")c. Scheint dieses gemeinsame Lebensverhältnis zur Sache Bultmanns Theorie des Verstehens hier noch auf eine gemeinsame gesch ichtliche Tradition zwi schen Text und Ausleger zu beschränken. so ermöglicht später ein alle bestimmten Fragestellungen übergreifendes 'Woraufhin' : "was gibt mir der Text als Möglichkeit 1'1 M . HC'idC'ggC'r. S�j,..,.J Z�It. TübinlC'n 1927, §2. \Il I n R . Buhm.l.nn. GL..b�,.""J V�"uh�". Bd 2 , TubingC'n '1 96 1 . S. 217.
Z U R ABGRENZUNG UND B ESTI M M UNG EINER LITERARISCHEN H ERM ENEUTIK
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eigenen Seins zu verstehen?" doch auch eine henneneutische Brücke zum Verstehen von Äußerungen fremder Kulturen. Bultmanns Formulierung für dieses übergrei fende ' Woraufh i n ' allen Verstehens: "das menschliche Sein in seinen Mögl ichkeiten als den eigenen Möglichkeiten des Verstehenden" ist nicht zufällig im Blick auf die "Werke echter Dichtung" gewonnen". Es dürfte i n der Tat ja auch schwerer fallen, solche Vermittlung von Fremderfahrung und Selbsterfahrung als Leistung fragenden Verstehens auch für den Umgang mit theologischen oder juristischen Texten in gleichem M aße zu behaupten. Ob dies daran liegt . daß ästhetische Texte für den Ausleger doch nicht allein ein Sich-Verstehen i n der Sache, sondern auch ein Verste hen über die Form ermöglichen? Zur Abgrenzung des ästhetischen Frageinteresses finden sich bei Buhmann einige bedenkenswerte Ansätze. In der Skala der leitenden Vorverständnisse, die Bultmann vom naiven Befragen der Texte bis zur philosophi schen Frage nach der Wahrheit, vom I nteresse der h istorischen Belehrung oder der U nterhaltung beim Erzäh len über das psychologische, h istorische (Rekonstruktion des Vergangenen) oder formale Interesse bis zur Frage nach dem Handeln Gottes entfaltet, erscheint das ästhetische Interesse ambivalent. Die " innere Teilnahme am Schicksal des Helden, i n den sich der Leser versetzt", kennzeichnet erst den naiven Leser, ist dann aber überhaupt die " sachgemäße Weise des Verstehens gegenüber den Werken echter Dichtung", sofern sie uns "das menschliche Sein in seinen Möglich keiten als den eigenen Mögl ichkeiten des Verstehenden" erschließtl2• Am Ende sind Texte der Philosuphie, der Religion und der Dichtung für cJi� "Frage nach dem mensch lichen als dem eigenen Sein" gleichermaßen einschlägig». A n d ieser Stelle der A rgumentation wird unverkennbar, daß Bultmann das Verstehen primär nach dem Woraufh i n der Befragung abgrenzt, als ob die verschiedene Konstitution der Texte nur eine sekundäre, wenn überhaupt eine Rolle spiele. Der alles übergreifenden Frage nach dem menschlichen als dem eigenen Sein können " grundsätzlich . . . alle Texte (wie die Geschichte überhaupt) unterworfen werden"H. Doch sind es in der Tat allein die dieser fundamentalen Frage untergeordneten Fragestellu ngen, die den hermeneutischen Zugang zum Text differenzieren? Ist das Woraufhin der Befragung nicht auch vom Charakter des religiösen, juristischen, ästhetischen Textes bedingt ? Für Bultmanns Hermeneutik gibt es nur eine Theorie des Verstehens, die anthro pologisch - im Menschen als fragendem Wesen - begründet ist. Das braucht keines wegs zu besagen, daß d ieser gemeinsamen Prämisse aller regionalen Hermeneutiken nicht eine Textpragmatik nachgeordnet werden könnte und sollte, die bei der Diffe renzierung des Verstehens gemäß der Vorgabe theologischer, juristischer oder l itera rischer Texte einsetzen und die versch iedene Zielsetzung ihrer Auslegung und Appli kation erarbeiten müßte. Bultmanns neue Position, mit der die theologische Herme neutik von der Prämisse befreit wird, dem Worte Gones eine eigene Redestruktur I1 l!
Ebd .S. 22 1 . F.bd. Ebd. S . 228. " F.bd. J'
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zuschreiben zu müssen, dürfte darum gewiß nicht alle Theologen froher stimmen. Die literarische H ermeneutik hingegen kann die Prämisse von Bultmanns Theorie des Verstehens dankbar und ungestraft übernehmen, die sie gleichfalls von einer orthodoxen Tradition befreit. Ich meine den Quasi-Offenbarungscharakter klassi scher Werke. ihren vermeintlich zeitlosen Sinn, der nunmehr in den Prozeß des fragenden Verstehens einbezogen ist, und die korrelate, immanent ästhetische Be trachtung des Kunstwerks. Mit der formalen Analyse eines ästhetischen Textes ist das 'eigentliche Verstehen' lediglich vorbereitet, aber noch nicht vollzogen. Auch die literarische Hermeneutik muß nunmehr vom I nterpreten fordern, sein Vorverständ nis im Verstehen eines Textes selbst kritisch z u prüfen, "es aufs Spiel zu setzen", oder anders gesagt : "in der Befragung des Textes sich selbst durch den Text befragen zu lassen, seinen Anspruch zu hören")S, Den 'Anspruch eines Textes' zu vernehmen scheint auf den ersten Blick die litera rische Hermeneutik zu überfordern, Die Metapher des Anspruchs hat inzwischen eine spezifisch theologische ' Hermeneutik des Wortes Gottes' nach sich gezogen, derzufolge der Anspruch eines Textes seinen religiösen Charakter als ' Ruf' oder 'Anrede' ausmachen soll, die zu vernehmen bereits den Glauben des Hörenden voraussetzte. Bei Buhmann setzte indes das Hören auf den im Text begegnenden Anspruch voraus, die stummen Texte durch Fragen erst wieder zum Reden zu bringen : "allein der durch die Frage der eigenen Existenz Bewegte vermag den Anspruch des Textes zu hören"16. Auch der Anspruch eines religiösen Textes ist für Buhmann davon so wenig ausgenommen, daß er sogar nicht davor zurückschreckt, auch das Verstehen von Berichten über das H andeln Gottes aus einer Frage des Menschen hervorgehen zu lassen. Die kühnste These dieser theologischen Herme neutik lautet : "daß der Mensch sehr wohl wissen kann, wer Gott ist, näm lich in der Frage nach ihm. Wäre seine Existenz nicht (bewußt oder unbewußt) von der Goues frage bewegt ( . . . ), so würde er auch in keiner Offenbarung Goues Gon als Gon , erkennen m, Dieser These ist aus theologischen Gründen widersprochen worden. Das Verstehen eines Textes als Verbum Dei habe eine eigene Prämisse : für den im G lauben Stehenden habe der Text "Anredecharakter" und sei das verstehende Ich "immer schon ein gerufenes Ich" ( E . Fuchs); dem Wort Gottes, bestimmt als "Zu sage", entspreche die Bestimmung des Menschen durch das Antworten-Sollen : "Denn seine Bestimmung ist, als Antwort zu existieren. Er ist gefragt, was er zu sagen hat" ( G . Ebeling)l', Doch auch dann, wenn man die Vorordnung des Gones verständ nisses vor das Selbstverständnis theologisch anders begründet und mit W. Pannenberg im Ereignischarakter der Geschichte Jesu den geoffenbanen Sinn und Anfang aller theologischen Hermeneutik sehen will, l äßt sich dem Verstehen IS Wo I� I1
Ebd. S. 228. Ebd . S. 230, \·gI. S. 23l. Ebd. S. 232. E. Fuchs, Hermene"riit, Tübingen = 1 958, S. IH; G . Ebc-ling, "WOrt Gont.'� und Hermeneutik", in W'orr "nd Gt.."be, Tübingen IJI)67. S. 343.
ZUR ABG RENZUNG UND B ESTI M M UNG EINER LITERARISCHEN H ERMEN EUTI K
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bibl ischer Texte a l s " Offenbarung d e s Gottes d e r Geschichte, dessen Herrschaft immer noch im Kommen ist"", kein henneneutischer Vorrang zuerkennen, der Bultmanns Prämisse erübrigen würde. Auf jede theologische Hermeneutik, die für das Verbum Dei die Bewegung von Frage und Antwort umkehren will, um der Frage des Textes an mich (seinem theologischen ' A nspruch') den Vorrang vor meinem eigenen Fragen zu geben, fällt der kaum w iderlegbare Einwand zurück, den W . Pannenberg gegen Gadamers Begriff des klassischen Textes erhob (und der letztlich auch seine These vom Vorrang des Gottesverständnisses treffen muß) : "daß das Reden von der 'Frage', die der Text an uns stellt, nur eine Metapher sein kann: nur für den fragenden Menschen wird der Text zur Frage; er ist das nicht von sich aus"40. Wenn die theologische Hermeneutik den Vorrang der 'Frage des Textes an mich' nicht preisgeben kann, mag ihr Bultmanns Theorie des verstehenden Fragens als eine Hermeneutik auf unerkannt ästhetischer Grundlage erscheinen, während eine litera rische Hermeneutik, die das Klassische als "Ursprungsüberlegenheit und Ur sprungsfrei heit" von " eminenten Texten" bestimmt, die sich selbst bedeuten und sich selber deuten41 , in den Verdacht geraten kann, sich der theologischen Herme neutik autoritativer Texte zu nähern. Angesichts dieser Scheidung zwischen einer theologischen Hermeneutik, die der Frage des Textes an mich, an das eigene Selbst verständnis ('Adam, wo bist d u ? ' ) Ursprungsüberlegenheit einräumt, und einer ästhetischen H ermeneutik, die der Frage des Interpreten den Vorrang gibt, durch die sich ihm die Antwort des Textes immer wieder neu erschließt, ist der Literarh istori ker versucht, von einer jüngsten Phase der 'Querelle des anciens et des modernes' zu sprechen. Dann könnte eine Chance der Versöhnung darin l iegen, daß die theologi sche Hermeneutik die H i lfe ihres literarischen Nachbdrn zumindest dann in An spruch nehmen kann, wenn ein religiöser Text oder ein Werk der religiösen Kunst, das in seiner ;ntent;o reaa einst vom G lauben des Betrachters sprach, uns aber gerade als Zeugnis einer fernen G laubenswelt fremd geworden ist, durch die intentio obli qua seines Kunstcharakters über die Brücke des fragenden Verstehens w ieder zu gänglich zu werden vermag42. Das Verhältnis des Menschen zu Gott als Prämisse der theologischen Hermeneutik ermöglicht nicht notwendig eine Brücke des Verstehens zur Andersheit einer vergangenen Glaubensweh. Rel igiöse Texte der christlichen Ketzerverfolgung oder der Inquisition lassen sich allenfalls historisch erklären, nicht aber ·verstehe n ' . Wohl aber gibt es literarische Texte und Werke der Kunst, die uns im fragenden Verstehen noch etwas von den Konflikten der im Namen Gottes Handelnden und Leidenden erschließen - durch die vermittelnde Kontinuität der ästhetischen Erfahrung, deren eigentüml iche Leistung, Horizonte ferner Lebenswel,� \V. l".Innenberg, " Obt"r histori�che und theulogischt" Hermeneutik", in Gr.. ndfr.g�n JYJtrmAtifch�r Theolog,�, Gtlltingen : 1 9 7 1 , S . 1 39 . ,: " Hl'rmt"neutik und Uni\"l'rulgcschichte", in Gr.. ndfr.gen JYJ'�"'.tucher Theolog;�, S. 1 1 1 . ' 1 H . - G . C.ldamer, U'.hrhru .. nd Methode. Tübingen 1 %0. S . 17-1. und i m N.lchwon lur J . Auflagt", Tubinl:cn 1973. 5 . 539/010. ,: Zu 8uhm.lnn\ 8eispid " o n der Aufn.lhme rdigiuscr Kunstwerke, GI...b�n lind 1/�Tfuhen S . 224.
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ten aufzudecken. zu transzendieren und mit dem gegenwärtigen Horizont zu ver schmelzen die Prämisse u nd wohl auch der Vorzug der literarischen Henneneutik ist.
Zwischenbemerkung Die vorstehenden drei Kapitel bildeten meine (hier nur an zwei Stellen überarbei tete) Vorlage zum IX. Kolloquium der A rhcitsgruppe Poetik und Hermeneutik41• Die angekündigte Fortsetzung stellt mich vor einige Schwierigkeiten. Zu einigen der offengebliebenen Fragen hat die Diskussion Vorschläge erbracht, die ich gerne auf nehmen mächte. aber erst in der definitiven Fassung dieser Abhandlung ausarbeiten kann, die in den zweiten Halbband von Ästhetische Erfahrung und literarische Her meneutik eingehen soll. Dazu gehört das Problem der l iterarischen Applikation, die Frage nach Analogien und Differenzen zwischen ästhetischem u nd juristischem Ur teil, für die ich hier auf die Vorschläge von M . Fuhrmann, R . Herzog, U . J app, O. Marquard und D . Nörr verweise44. Auf die Frage nach der ästhetischen Funktion, welche Frage und Antwort im eigentümlichen Gebrauch poetischer Texte überneh men können, möchte ich hier wenigstens noch in einem vorläufigen Statement einge hen. Als zentrales Desiderat an die literarische Hermeneutik hat sich in den Diskus sionen die Frage nach der ästhetischen Konstitution ihrer Texte und den Folgerun gen, die sich daraus für die triadische Einheit des hermeneutischen Vorgangs erge ben, herausgestellt. Darauf antwortet das folgende IV. Kapitel mit dem Versuch, die drei A kte des Verstehens, Auslegens und Anwendens im Blick auf einen poetischen Text als Horizonte sukzessiver Lektüren voneinander abzuheben und i n theoreti scher Absicht zu beschreiben. Zu d iesem U nternehmen hat m ich die auf verschiede nen " Lektüren' basierende Diskussion über Valerys Cimetiere Marin angeregt. Das folgende ist die theoretische Einleitung zu einer hermeneutischen Demonstration, für die ich einen Text mit längerer Interpretationsgesch ichte benötigte und Baudclai res Gedicht Spleen 1/ ("'J'ai plus de souvenirs que si j 'avais mille ans ") wählte. D i ese Demonstration konnte auch ihres Umfangs halber hier nicht mit aufgenommen werden, so daß ich den Leser für die praktische Einlösung auf eine gesonde rte Publikation verweisen muß4�.
tl überarbeitet sind dC'r lC'tzte Absatz von K a p . 1 1 und dC'r e'me' Absatz von Kap. 1 1 1 . .. S . 429ff., 4 l S f f . , l2l ff . • S J f f. • 1 1 7 ff . • J9Sff. t� In R_"iuischr Zrilschri{r {ir üurlll"rgrschichtr 4 ( 1 980). Heft 2/J.
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IV Der poetische Text im Horizontwandel der verstehenden, der auslegenden und der rezeptionsgeschichthchen Lektüre Um z u erkennen, welche An von Verst�hen, Auslegen und Anwenden einem Text ästhetischen Charakters eigentümlich ist, erscheint es mir geboten, in drei Gängen der Interpretation zu scheiden und methodisch zu reflektieren, was i n der philologi schen Auslegungspraxis gewöhnlich ungeschieden bleibt. Don w i rd in der Rekon struktion des historischen Kontextes, der ursprünglichen I ntention von Autor oder Werk, auch schon die Basis des Verstehens für eine I nterpretation gesehen, die sodann zwischen den Akten des Aufnehmens und des Auslegens kaum mehr unter scheidet und das wahrnehmende Verstehen sogleich im reflektierenden Deuten auf gehen läßt. Soll nun aber die ästhetische Konstitution des Textes als Prämisse seiner Rezeption, die unser Verstehen über den Zeitenabstand hinweg allererst ennöglicht, erarbeitet werden, so bietet es sich an, die Horizonte einer ersten, ästhetisch wahr nehmenden Lektüre von einer zweiten, retrospektiv auslegenden Lektüre abzuheben und daran eine dritte, historische Lektüre anzuschließen, um den Text auch im Horizont seiner Alterität und Differenz zu unserer Erfahrung ansichtig z u machen. Diese h istorische Lektüre kann bei der Rekonstruktion des Erwanungshorizontes ansetzen, in den der Text mit seinem Erscheinen für seine zeitgenössischen Leser eintrat; sie wird der gefordenen Einheit der henneneutischen Triade aber erst voll gerecht, wenn der h istorische Abstand zwischen Text und Gegenwan wieder aufge arbeitet und die Tradition der Lektüren aufgehelit wird, die der jüngsten Applikation den Weg bereitet haben. Das Problem der Abhebung von drei Horizonten der I nterpretation im henneneu tischen Vorgang läßt sich methodisch am einfachsten lösen, wenn man die drei henneneutischen Akte phänomenologisch als sukzessive Lektüren desselben Textes erfaßt u nd beschreibt, wobei jeweils die vorangegangene Lektüre zum Horizont des Vorverständnisses für die folgende wird. Der literarischen Henneneutik kommt hier die Horizontstruktur allen Verstehens zugute, die bei der Rezeption eines poetischen Textes besonders rein zutage tritt. Davon absehen zu wollen ist die Schwäche der strukturalistischen Poetik, die sich am meisten mit der Frage nach der Konstitution ästhetischer Texte befaßt hat. Was immer am fenigen Gewebe des Textes, dem abgeschlossenen Ganzen seiner Struktur, als bedeutungstragende Sprachfunktion oder ästhetische Äquivalenz erkannt werden kann, setzt immer schon ein vorgängig Verstandenes voraus. Was der poetische Text vorgängig, dank seinem ästhetischen Charakter, verstehen läßt, geht aus seiner prozessualen Wirkung hervor und kann darum aus einer Beschreibung seiner fenigen Struktur als 'Anefakt', so vollständig sie auch seine 'Schichten' und sprachl ichen Äquivalenzen erfaßt haben mag, nicht d irekt abgeleitet werden. Strukturale Textbeschreibung sollte und kann heute - das lehrt die Debatte zwischen Roman Jakobson/Claude Levi-Strauss und M ichael Rif faterre - hermeneutisch i n einer Analyse des Rezeptionsprozesses fund ien werden . 46 ..
R . Posntr zog daraus das Fazit: "Offtnsichdich läßt Sich wtdtr dit Prosodie- noch dit xmanlik de-� Gtdichts durch die- bloße- De-sknpnon de-s ge-schritbe-ne-n Tate-s e-fSchlie-ßen - ganz davon zu schwe-ige-n
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Der poetische Text wird in seiner ästhetischen Funktion erst dann faßbar, wenn die poetischen Strukturen, die als Merkmale am fertigen ästhetischen Gegenstand abge lesen wurden, aus der Objektivation der Beschreibung wieder in den Prozeß der Erfahrung am Text zurückübersetzt werden, die den Leser an der Genese des ästheti schen Gegenstandes teilnehmen läßt. Anders und mit der Formul ierung gesagt, mit der M ichael Riffaterre 1 962 die Wendung von der strukturalen Beschreibung zur Rezeption.sanalysc des poetischen Textes einleitete: der Text, den die strukturale Poetik als Endpunkt und Summe der i n ihm realisierten M ittel beschreibt, muß nunmehr als Ausgangspunkt seiner ästhetischen Wirkung betrachtet und diese i n der Folge der Rezeptionsvorgaben untersucht werden, die den Vorgang der ästhetischen Wahrnehmung steuern und damit auch die Willkür der vermeintl ich nur subjektiven Lektüre begrenzen47, Mit dem begonnenen Experiment gehe ich i n eine andere Richtung weiter als Riffaterre, der seine strukturale Stilistik unlängst zu einer semiotischen Poetik fort geführt hat, die mehr an den Rezeptionsvorgaben und
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vom .:isthelischen Kode des Gedichts, der sich vor allem dieser Textebenen bedient, Ähnlich wie m.ln den prosodischen Merkmalen nur gerecht werden kann, wenn man von ihrer akuni�chC'n Verwir k l i · c h u n t': aU�Keh l, k a n n man a u c h d i e Sem.lnlik nur ad;iquat beschreiben, 'IIlil' n n man von eml'm Tex1 ausg,'ht, der bcrc.'il� \'011 rczipien und verstanden worden ist", �ichc "Strukturollismus in cJ,'r G,'J i(ht�· interpretation", in Sprache im technlJche" Zeitalter 29 ( 1 9&9) S. 27-58, be" 4 7 . Jetlt in EHaIJ Je ItyliJllqlfe ItrlfCflfrale, Paris 1 9 7 1 . S. 307 ff. ; vgl. dcr\., "The Readcr'� Perc"puon u: Narrative", in Intnpretauon o{Na,.,.a'tlJe, Toronto 1 9 7 R , S. 29. Se••uotia o{ Portry, Bloomington/london 1 9 7 8 , bcs, 5, 1 1 5 ff ,
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d . h. wahrnehmenden Lektüre bleibt auch die explizite Auslegung in der zweiten und jeder weiteren Lektüre bezogen, wenn der Interpret beansprucht, einen bestimmten Bedeutungszusammenhang aus dem Sinnhorizont dieses Textes zu konkretisieren, und nicht etwa die Lizenz der Allegorese benutzen will, den Sinn des Textes in einen fremden Kontext zu übersetzen, d . h. ihm eine Bedeutung zu geben, die den Sinnho rizont und damit die Intentional ität des Textes übersteigt. Die Auslegung eines poetischen Textes setzt immer schon ästhetische Wahrnehmung als ihr Vorverständ nis voraus; sie kann nur Bedeutungen konkretisieren, die dem Interpreten im Hori zont seiner vorgängigen Lektüre als möglich aufgesch ienen sind oder hätten auf scheinen können. Das Diktum Gadamers : "Verstehen heißt, etwas als Antwort verstehen", muß darum im Blick auf den poetischen Text eingeschränkt werden. Es kann hier erst den sekundären Akt des auslegenden Verstehens betreffen, sofern d ieses eine bestimmte Bedeutung als Antwort auf eine Frage konkretisiert, nicht aber den primären Akt des wahrnehmenden Verstehens, der die ästhetische Erfahrung am poetischen Text ein leitet und konstituiert. Gewiß schl ießt auch ästhetische Wahrnehmung immer schon Verstehen ein.·'! Denn als ästhetischer Gegenstand ermöglicht der poetische Text im Kontrast zur alltäglichen, der Normierung verfallenen Wahrnehmung bekannterma ßen eine zugleich komplexere und prägnantere Weise des Wahrnehmens, die nur im ästhetischen Genuß das erkennende Sehen oder sehende W iedererkennen (aisthesis) zu erneuern vermag.� Doch diese sinnverstehende Leistung der Aisthesis bedarf nicht sogleich der Auslegung und hat darum auch noch nicht notwendig den Cha rakter einer Antwort auf eine implizite oder explizite Frage. Wenn für die Rezeption eines poetischen Textes gelten soll, daß hier - wie Gadamer selbst im Anschluß an Husserl formuliert hat - " i n der ästhetischen Erfahrung die eidetische Reduktion spontan erfül l t iSt",51 so kann das Verstehen im Akt der ästhetischen Wahrnehmun,; nicht auf ein Auslegen angewiesen sein. das ja eben damit. daß etwas als Antwort verstanden wird, den Sinnüberschuß des poetischen Textes auf eine seiner möglichen Aussagen reduziert. I n der eidetischen Reduktion der ästhetischen Wahrnehmung kann die reflexive Reduktion der Auslegung, die den Text als Antwort auf eine implizierte Frage verstehen will, z unächst suspendiert bleiben und gleichwohl ein Verstehen am Werk sein, das dem Leser Sprache in ihrer Virtualität und damit Welt in ihrer Bedeutungsfül le erfahrbar macht . Nach alledem ist die Abhebung des reflektierenden Auslegens vom wahrnehmen den Verstehen eines poetischen Textes wohl so künstlich nicht, wie es erst schien. Sie wird durch die evidente Horizomstruktur der Erfahrung des Wiederlesens ermög-
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licht. Jedem Leser ist die Erfahrung vcnraut, daß sich ihm die Bedeutung eines Gedichts oh erst i n der Umwendung des W iederlesens erschließt. Dann wird die E rfahrung der ersten Lektüre zum Horizont der zweiten Lektüre: was der Leser im progressiven Horizont der ästhetischen Wahrnehmung aufgenommen hat. wird im retrospektiven H o rizont der A uslegung thematisierbar. Fügt man hinzu, daß die Auslegung selbst w i eder zur Grund lage einer Anwendung werden kann. näherhin : daß ein Text der Vergangenheit ausgelegt wird, um seine Bedeutung für die gegen wärtige Situation neu zu erschl ießen, so tritt zu Tage. daß die triad ische Einheit von Verstehen, Auslegen und Anwenden, wie sie im hermeneutischen Vorgang vol lzogen wird. vollkommen mit den drei Horizonten der thematischen. der Auslegungs- und der Motivationsrelevanz übereinstimmt, deren Wechselverhältnis nach A . Schütz die Konstitution der subjektiven E rfahrung i n der Lebenswelt bestimmtS2• Für die Absicht. i m Gang einer mehrfachen Lektüre die drei Akte des henneneuti s c h e n Vorgangs zu thematisieren. kann ich Erkenntnisse aufnehmen u n d weiterent wickeln. die M . Riffaterre, W . Iser und R. Barthes i n die Analyse von Rezeptions prozessen eingebracht haben. Riffaterre analysiert den Rezeptionsablauf eines Ge dichts als Wechselspiel von Antizipation und Korrektur, das durch die Äquivalenz kategorien der Spannung, überraschung, Enttäuschung, Ironie und Komik bedingt ist. Diesen Kategorien ist eine ' Uberdetennination' gemeinsam, die durch die jewei lige Korrektur einer Erwartung Aufmerksamkeit erzwingt, derart den Rezeptionsab lauf des Lesers steuert und damit den auszulegenden Sinn des Textes fortschreitend vereindeutigt. Riffaterres Kategorien sind nach meiner E rfahrung narrativen Texten mehr angemessen als lyrischen : die Lektüre eines Gedichts weckt nicht so sehr Spannung auf den Fortgang als die Erwartung dessen, was ich lyrische Konsistenz nennen möchte - d i e E rwartung, daß die lyrische Bewegung einen erst verborgenen Zusammenhang Vers u m Vers faßbar werden und am Ende aus einer oft okkasionel len Situation den A nblick der Welt neu erstehen la"se. I nnovation und Wiedererken nen werden i n der lyrischen A isthesis komplementär, so daß Riffaterres negativen Kategorien der Uberraschung und Enttäuschung die positive Kategorie der befrie digten Erwartung an die Seite gestellt werden muß, von der bei ihm nur pejorativ, als sei sie gleichbedeutend mit dem Effekt des Klischees, die Rede istS1• Schließlich setzt sein Modell der Gedichtrezeption den idealen Leser ('Superreader') voraus, der nicht nur mit der Summe des heute verfügbaren l iterarhistorischen Wissens ausgestattet, sondern auch fäh i g sein muß, jeden ästhetischen Eindruck bewußt zu registrieren und auf eine Wirkungsstruktur des Textes zurückzuführen. So überschauet die aus legende Kompetenz d i e Analyse des wahrnehmenden Verstehens, obschon R iffaterre im offenen Horizont der syntagmatischen Systementfaltung und System korrektur interpretiert . U m diesem Dilemma zu entgehen, habe ich nicht etwa einen ' naiven Leser' fingiert. sondern mich selbst in die Rolle eines Lesers mit dem BildungshoriU D". Probir". d" Rrlrw"z. Frankfun 1 9 7 1 .
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Eu.,. d r u,/uriq"r .""er",m S . )40.
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ZOnt u nserer Gegenwan versetzt. Die Rolle dieses historischen Lesers soll vorausset zen, daß er im Umgang mit Lyrik erfahren ist, aber seine literarhistorische oder linguistische Kompetenz vorerst suspendieren und dafür die Fäh i gkeit einsetzen kann, sich i n seiner Lektüre gelegentlich zu wundern und diese V e rwunderung in Fragen auszudrücken. Diesem historischen Leser des Jahres t 979 habe ich einen Kommentator von w issenschaftlicher Kompetenz an die Seite gegeben, der d i e ästhe tischen E i ndrücke des genießend verstehenden Lesers analytisch venieft und soweit möglich auf Wirkungsstrukturen des Textes zurückführt. Da ich immer noch nicht darunter leide, kein Empiriker geworden zu sein. nehme ich es gelassen hin, m i t meiner Lösung noch nicht das Modell für die notleidende empirische Rezeptionsforsch ung gefunden zu haben. Ich werde m i r wahrscheinlich den Vorwurf zuziehen. als Leser z u intelligent und als Analysator linguistisch oder semiotisch nicht versien genug zu sein. hoffe aber doch, mit meinem Experiment zumindest einen methodisch ausbaufähigen Ansatz gewonnen zu haben, die Ebenen der ästhetischen Wahrnehmung und der reflektierenden Auslegung i n der I nterpreta tion poetischer Texte schärfer als bisher z u sondern. Insbesondere sehe ich einen Gewinn darin, mit H i lfe der Frage - A ntwon-Relation die Textsignale i m syntagmati schen Z usammenhang als konsistenzstiftende Vorgaben des Rezeptionsablaufs spe zifizieren zu können. Die Appellstrukturen, Identifikationsangebote und Sinnlük ken, die Wolfgang Iser i n seiner Theorie der ästhetischen Wirkung kategorial erfaßt hatS4, werden im Rezeptionsablauf auf die einfachste Weise als Antriebe zur Sinn konstitution konkretisierbar, wenn man die W irkfaktoren des poetischen Textes als Erwartungen beschreibt und diese i n Fragen umsetzt, die der Text an solchen Stellen auslöst. offenläßt oder beantwortet. Hat Iser im Akt des Lesem gegenüber R iffaterre. der den Rezeptionsvorgang unter der dominanten Kategorie der Uberdetennination sieht und nolens volens vereindeutigt. den ästhetischen Charakter fiktionaler Texte unter der dominanten Kategorie der U n bestimmtheit (und Weiterbestimmbarkeit) wieder zur Geltung gebracht . so blieb m i r übrig, den Rezeptionsablauf i n der ersten, wahrnehmenden Lektüre als eine Erfahrung von wachsender, ästhetisch zwingender Evidenz zu beschreiben, die als vorgegebener Horizont der zweiten auslegenden Lektüre den Spielraum möglicher Konkretisationen zugleich eröffnet und begrenzt. Der H orizontwandel zwischen der ersten und der zweiten Lektüre läßt sich da nach wie folgt beschreiben. Der Leser, der Vers für Vers aufnehmend die Panitur des Textes ausführte und im ständigen Vorgriff vom Einzelnen auf das mögliche Ganze der Form und des Sinns zum Ende gelangt ist, wird der erfüllten Form des Gedichts, aber noch nicht seiner ebenso erfüllten Bedeutung, geschweige denn seines ' ganzen Sinns' gewahr. Wer die hermeneutische Prämisse anerkennt, daß das Sinnganze eines lyrischen Werks nicht mehr als Substanz, als zeitlos vorgegebener Sinn, sondern als aufgegebener Sinn verstanden werden soll, erwanet vom Leser die Einsicht, daß er im Akt des auslegenden Verstehens nurmehr eine unter anderen möglichen Bedeu�
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tungen des Gedichts konkretisieren kann, deren Relevanz für ihn die Diskut icrbar keit für andere nicht ausschließen darf. Der Leser wird nunmehr von der erfüllten Form aus die noch uncrfülhc Bedeutung retrospektiv, in der Rückwend ung vom Ende auf den A nfang, vom Ganzen aufs Einzelne. durch eine neue Lektüre suchen und erstellen. Was dem Verstehen zunächst entgegenstand. zeigte sich in den offenen Fragen an, die der erste Durchgang hinterließ. Von ihrer Lösung ist zu erwarten. daß sich aus den einzelnen. i n verschiedener H insicht noch unbestimmten Bedeutungs elementen durch die Arbeit der Interpretation auf der Sinnebene ein ebenso erfülltes Ganzes erstellen läßt wie auf der Ebene der Form. Daß dieses Bedeutungsganze nur durch eine wählende Perspektivierung gefunden. nicht aber durch eine vermeintl ich objektive Beschreibung erreicht werden kann. fällt unter die hermeneutische Prä misse der Partialität; mit ihr ist die Frage nach dem geschichtlichen Horizont gestellt. der die Genese und Wirkung des Werkes bedingt hat und der wiederum die Ausle gung des gegenwärtigen Lesers begrenzt. Seine Ermittlung ist hier die Aufgabe einer dritten, historischen Lektüre. Dieser drine Schritt ist. soweit er die Interpretation eines Werks aus den Prämis sen seiner Zeit und seiner Genese betrifft. der historisch-ph ilologischen Hermeneu tik am vertrautesten. Doch dort ist die historisch rekonstruierende Lektüre tradi tionsgemäß der erste Schritt. den der H istorismus mit der Forderung verknüpfte. der Interpret müsse von sich und seinem Standort absehen, um den ' objektiven Sinn' des Textes desto reiner aufnehmen zu können. Im Banne dieses Wissenschaftsideals, dessen objektivistische Ill usionen heute fast jedermann einsichtig sind, pflegte die Hermeneutik der klassischen und neueren Philologien das h i storische Verstehen der (selten überhaupt versuchten) ästhetischen Würdigung vorzuordnen. Sie verkannte damit, daß der ästhetische Charakter ihrer Texte als hermeneutische Brücke, die anderen Disziplinen versagt ist. das historische Verstehen von Kunst über den Zei tenabstand hinweg überhaupt ermöglicht und darum als hermeneutische Prämisse i n den Vollzug d e r I nterpretation eingebracht werden muß. Umgekehrt bleibt aber auch das ästhetische Verstehen und Auslegen auf die kontrollierende Funktion der historisch rekontruierenden Lektüre angewiesen. Sie verh indert , daß der Text der Vergangenheit den Vorurteilen und Sinnerwartungen der Gegenwart naiv angegli chen wird, und ermöglicht durch die ausdrückliche Abhebung des vergangenen vom gegenwärtigen Horizont, den poetischen Text i n seiner A lterität ansichtig zu ma chen. Die Ermittlung der ' Andersheit', der eigentümlichen Ferne in der Gegenwär tigkeit des literarischen Werks, erfordert eine rekonstruktive Lektüre, die damit einsetzen kann. die - meist unausdrücklichen - Fragen zu suchen. auf die der Text zu seiner Zeit die Antwort war. Einen literarischen Text als Antwort interpretieren sollte beides einschließe n : seine Antwort auf Erwartungen formaler Art, wie sie die literarische Trad ition vor seinem Erscheinen vorzeichnete. und seine Antwort auf Sinnfragen. wie sie sich in der geschichtlichen Lebenswel t seiner ersten Leser stellen konnten. Die Rekonstruktion des ursprüngl ichen Erwartungshorizonts fiele indes in den H i storismus zurück, wenn die historische Auslegung nicht wieder dazu dienen
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könnte, die Frage : 'was sagte der Text ?' in die Frage : ' was sagt mir der Text und was sage ich zum Text ? ' zu überführen. Wenn die literarische Hermeneutik wie die theologische oder juristische ,,'om Verstehen über das Auslegen zum Anwenden gelangen soll , kann Applikation hier zwar nicht i n praktisches Handeln einmünden, dafür aber das nicht weniger legitime Interesse befried igen, in der literarischen Kom munikation mit der Vergangenheit den Horizont der eigenen Erfahrung an der E rfahrung des Andern zu messen und zu erweitern. Die U nterlassung der Horizontabhebung kann Folgen haben, die sich an der Rezeptionsanalyse einer Poe-Novelle durch Roland Banhes zeigen lassens5. Ihre Stärke liegt in der Demonstration, wie die struktural istische Beschreibung des narra tiven Prinzips, das den Text als Variante eines vorgegebenen Modells erklän, in die textuelle Analyse der "sign ifiance" überfühn werden kann, die den Text prozessual, als eine fortwährende Produktion von Sinn, genauer gesagt : von Möglichkeiten des Sinns (" Ies formes, les codes, selon lesquels des sens sont possibJes") verstehen läßt"'. I h re Schwäche l iegt in einer naiven Horizontverschmelzung: die Lektüre soll der Intention nach unmittelbar und ahistorisch sein ("nous prendrons le texte tel qu'il est, tel que nous le lisons . . . " V) und kommt doch nur durch einen 'Superreader' zustande, der ein umfassendes h istorisches Wissen vom X I X . Jahrhundert ins Spiel bringt und im Rezeptionsablauf vornehmlich die Stellen registrien, an denen kultu relle und linguistische Kodes abgerufen oder assoziien werden können. Von einer Bindung d,,;-r Interpretation an den Prozeß der ästhetischen Wahrnehmung kann keine Rede sein, da diese als "code des actants" in Verbindung mit dem "code ou champ symbo l ique" selbst w ieder nur ein Kode unter anderen Kodes ("code scienti fique, rhetoriq ue, chronologique. de la destination ", etc . ) sein darf5K• So entsteht eine Lektüre, die weder historisch noch ästhetisch , sondern so subjektiv wie impressioni stisch ist und gleichwohl die Theorie begründen soll, dan jeder einzelne Text ein Gewebt" von Texten sei - das unabschließbare Spiel einer frei schwebenden Intenex tualität i m ' K ampf der M enschen und der Zeichen'59. Die literarische Hermeneutik, die Barthes wohl nicht zufä l l ig als einen (für ihn) 'enigmat ischen Kode' ansieht, ist demgegenüber heute gewij� nicht mehr daran inter essiert. den Text als Offenbarung der einen, in ihm verborgenen Wahrheit zu inter prelierenbc• Sie setzt der Theorie des "texte pluriel" und ihrer Vorstellung von ' I n tertex� uali�ät' a l s einer unbegrcnz�en . arbiträren Produktion v o n Sinnmöglichkeiten und von nich� weniger arbiträren I n terpretationen die Hypothese entgegen . daß die historisch fortschreitende Konkretisation des Sinns literarischer Werke einer gew is sen ' Lo g i k ' folgt. die sich in der Bildung und Umbildung des ästhetischen Kanons �,
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ICXludlc d ' u n conlc d · Ed�.u PU,"" , I n Shmot''I"r 11",.,."twr rt tr:ctllrllr, hg. CI. Ch;lbrol, P.u15
1971, S. 29-54 .
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niederschlägt, und daß sich im Horizontwandel der I nterpretationen durchaus zwi schen arbiträren und konsensfähigen, zwischen nur originellen und nonnbildenden Auslegungen unterscheiden läßt, Das fundamentum i n re, das diese Hypothese StütZt, kann nur i m ästhetischen Charakter der Texte liegen, der als regulatives Prinzip ermöglicht, daß es zu einem literarischen Text eine Folge von Interpretatio nen geben kann, die i n der Auslegung verschieden, im Blick auf den konkretisierten Sinn aber doch auch wieder vereinbar sind. H i erzu kann ich an den Versuch e iner pluralistischen I nterpretation von Apollinaires Gedicht L 'arbre erinnern. der auf dem 11. Kolloqu i u m der Gruppe Poetik und Hermeneutik u nternommen w u rde. Ergab er einerseits, daß schon die vom Leser jeweils gewählte Distanz zum Gedicht eine andere ästhetische Wahrnehmung entstehen ließ und daß jede bestimmte Kon kretisation der Bedeutung norwendig andere, nicht weniger stimmige Auslegungen i gnorieren mußte, so führte die überraschende Feststellung, daß sich die individuel len I nterpretationen trotz i h rer Verschiedenheit nicht widersprachen, zu der Schluß folgerung, daß selbst noch dieser 'pluralistische Text' im Horizont der ersten Lek türe dem wahrnehmenden Verstehen eine einheitsstiftende ästhetische Orientierung geben kann61 • Gewiß läßt sich einwenden, daß ein modernes Gedicht nach Baudelaire dem Leser diese Evidenz eines z w ingenden G anzen nicht schon i n der ersten Lektüre, sondern erst i n der W iederlektüre erbringen kann, und daß mutatis mutandis ein Gedicht älterer Trad ition oder aus einer anderen Kultur sich dem ästhetischen Verstehen oft überhaupt erst öffnet, wenn das h i storische Verstehen Rezeptionsbarrieren weg räumt u n d eine ästhetische Wahrnehmung des zuvor ungenießbaren Textes ermög licht. Das ist d u rchaus auch meine Meinungl'2 , so daß ich d iese Einwände eben noch zu einer letzten Präzisierung nutzen kann. Die Priorität der ästhetischen Wahrnehmung i n der Triade der literarischen Her meneutik benötigt den Hon·zont. nicht aber die zeitliche Priorität der ersten Lektürei d ieser Horizont des wahrnehmenden Verstehens kann d u rchaus auch erst i n der Wiederlektüre oder mit H ilfe des h i storischen Verstehens gewonnen werden. Ästhe tische Wahrnehmung ist kein u niversaler Kode von zeitloser Geltung, sondern wie alle ästhetische E rfahrung der gesch ichtlichen E rfahrung verschwistert. Darum kann der ästhetische Charakter von poetischen Texten abendländischer Trad ition bei der I nterpretation von Texten aus anderen Kulturen nur heuristische Vorgaben leisten . •,
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I",,,,, mr,,u ASlhrnlt - ASlhrllJchr Rrflrxlo1l, hg. w. Iser, Munchen 1 966 (Poctik und Henneneuuk 1 1 ), S. 4 6 1 -484, bes. S. 473 und 480 ; " F u r eine konkrete I nterpretation und zum Urteil uber die Qualit.ät du Gedichts genugl es nu.-:hl, srin Struklurprinzip anzugeben und die poelischr Tec hnik von Apolli· nalre z u be�hreibrn. Eine Folgr von A m biguitälrn ISI noch krin z w ingendrs Ganzes. Wrnn dieses Ganzr, aufgrund der Trchn i k , i n der es ausgrführt i�I, 7 U immer neuer Deutung auffordert. so in d ielr doch weder beliebig i m Detail noch frei von einer grundlegenden Orientierung, die durch den Aufbau drs Texles z w ingend segeben IU . Die rrslr Lrklurr rrgibt dirsrs Z"" ngrnde durch die Suggestion des RhYlhmus. Dir Intrrpretation muß sich auf dirses Mrdium einlassen, i n drm sich das Gedicht brwq:l" ( D . Henrich). Siehe da7u Alu",., ,md Mode,.,."., der J'f'IllIeLJur/,chr1l Lllrr,." "r, M unchen 1 977, bes. S. l o ff
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D a ß d i e ästhetische Wahrnehmung selbst d e m historischen Wandel unterworfen ist, muß die literarische Interpretation m i t den drei Leistungen des hermeneutischen Vorgangs kompensieren. Sie gewinnt dadurch die Chance, über das ästhetische Ver· stehen die h istorische Erkenntnis zu erweitern und durch ihre zwanglose Art der Applika.tion vielleicht ein Korrektiv zu anderen Applikationen zu bilden, die dem situativen Druck und Entscheidungszwang des Handeins unterworfen sind.
D I ETRICH BÖHLER P H I LO S O P H I S C H E H E R M E N E UT I K U N D H E R M E N E UTI S C H E M ETH O D E >
t . Zur Problemsituation
W e r behauptet. d a ß d i e Geschichtsw issenschaften u n d d i e Textwissenschaften eines wohl begründeten. ihren Tätigkeiten entsprechenden methodologischen und begriff lichen Rahmens entbehren. dürfte unter Kennern. die den Begriff ' M ethode' nicht gleich im Sinne· eines neukantianischen Dualismus von Natur- und Kulturwissen schaften für den Bereich jener reservieren wollen. auf wenig W iderspruch stoßen. Das weithin empfundene und für die wissenschaftliche Praxis ebenso wie für die d idaktische Selbstdarstellung der humanities belastende Orientierungs- und Begrün dungsdefizit erscheint verwunderlich und überwindbar. Verwunderlich erscheint es. weil die gegenwärtige Erörterung ihrer methodologischen Fragen sich auf eine reiche Tradition insbesondere der theologischen. später der juristischen und seit Vico auch der h istorischen Henneneutik beziehen kann. überwindbar scheint jenes Defizit i n der Gegenwan vor allem aus zwei G runden zu sein: Einmal hat die Entwicklung zur Philosophischen Hermeneutik seit Schleier macher i n Gadamers Wahrheit und Methode l eine historismus- und damit szientis muskritische Aufhebung erfahren. so daß nunmehr den verstehenden W issenschaf ten ein spezifisches kategoriales und praktisches Fundament2 zum Teil bereits ange boten. zum Tei l erarbeitet werden kann. Die Reflexionen von Karl -Ono Apel. jür gen Habermas. das rezeptionsästhetische Programm von Hans Robert J auß sowie dessen erste Ausführungen und Weiterführungen. etwa du rch Hans-]örg Neuschä.. Im Tilel und im Aufsalz w i rd von dl"r trrminologischen Untrrscheidung Hrrmr"r"tlk als Ausdruck fiir Jie Lehrr von drr Intrrprrl.nion vrr�u� PhJolophuchr Hrrmr"r"tiJc 7ur Brzrichnung einrr Reflr· xion auf irne Gebrauch grmacht. Dirse Reflrxion strllt sich dir Fragr nach rinrr angrmrssenrn Brgrün dung drr I nterprrlalionslehrr, und zwar anhand drs Kriteriums. ob einr lnlrrpretationslrhre drn logisch nOlwrndigen Vorau5SeI7.ungen mäglichrr Interpretation grrrcht wird. Um dirsrs Kriterium entwi.;:keln 7.U könnrn. brginnt dir Philosophische Hrnnrnrutik mit drr nachkantischen Fragr "wir ist Vrr�trhen möglich?" niese Arbeit ist Alfrrd Kellrtat in Dankbarkeit gewidmet. I Dir erste Auflagr rrschirn 1 960 i n Tübingen, die viene ebcndon 1 975. Wir 7.itieren nach drr 2. Auf!. 1965 und verwenden als Abkürzung ' G adamrr'. � Das praktischr Fundamrnl einrr Wissrnschafl ist drrrn notwendigrr spe7.ifischrr Br7.ug auf mogliches Handeln. von dem gill. daß ohnr seinr Entfaltung auch die gr""tilrgr"tir Fr.grstrU""g, dir den spezifischen Gegenstand und Gegenstandsbl"7.ug riner Wissrnschah begrifflich konstituien, und damit drr Rrgrilf einer Wissenschaft nicht expli7.irrbar ist. Jürgen Habennas und Karl-Onn Apcl habcon für jenrn Handlungsbcozug drn Trrminus Erkr""t"iJmurrur vorgrschlagen: J . Habcnnas, " E rkenntnis und Inlerene'·, (Frankf. Antrittsvorlesung), in Trch"iit: ""ti Wusr"Jcha/t .b 'IJroIog�', Frankl . - M . 1 1 968. S. 1 46 ff . - Drrs. , Erkr""t"u ""ti I"trrrssr, Frankl . - M . 1 9 7 ) . - K . - O . Aprl, "Szirnlistik, Hrrme· nrutik. Ideologiekritik", in Tra"s!orFrWt,o" Jrr Phi/osophir, 2 Bdr. Frankf. - M . 197), S. 96ff.
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DI ETR ICH BÖHLER
fer, bezeugen den erfolgversprechenden Stand der j üngsten hermeneutischen Ent w icklung. die bereits, sieht man von Apels Werk "Idee der Sprache" ab. als Wir kungsgeschichte Gadamers gelten darP. I ndem Gadamer die Kategorie ' G eschieht lichkeit' als einen Begriff a priori von Verstehen überhaupt zum Ausgangspunkt einer Phi losophischen Henneneutik macht und indem er die Frage-Antwort-Rela tion als logische Struktur der möglichen Entstehung und des möglichen Verstanden werdens von Texten angibt. hat er wesentlich dazu beigetragen , die verstehenden Wissenschaften, insbesondere die Text- oder I nterpretat ionswissenschaften auf ein genuines Fundament zu stellen. Zweitens erlaubt die pragmatische Wende der sprachanalytischen Philosoph ie so wohl i n ihrer vom späten W ingenstein etwa über William Dray, Arthur C. Danto und anderen zu Georg Henrik v . Wright führenden Entwicklung zu einer "analy tisch orientierten hermeneutischen Phi losophie"· als auch i n ihrer. von John L . A u s t i n initiierten, Entwicklung zu e i n e r rekonstruktiven Pragmatik d e r SprechakteS eine sprachphilosophische und handlungsphilosophische Neu begründung der artes sermonicales und ihre Vereinigung mit den jüngeren artes. die sich auf Geschichte und Gesellschaft beziehen. also den Geschichts- und Handlu ngswissenschaften. Als ars interpretandi dürfte die Hermeneutik i n dem sich gegenwärtig ausbildenden corpus der Humanwissenschaften eine hervorragende, wenn nicht die zentrale Stei lung einnehmen. sofern sie konsequent sprachgemäß entfaltet, nämlich am Para digma des dialogischen Sprachhandelns und Sprachverstehens orientiert w i rdsa• Dies aber ist noch Desiderat. Wir stehen vor der Aufgabe, den j üngst von Alfred Kelletat als hermeneutischen Fundamentalsatz gekennzeich neten Aphorismus Schleierma chers aus dem Kontext einer Verstehenspsychologie, die vom Paradigma der Einfüh lung ausgeht und unter dem Postulat des identischen Nachverstehens steht, heraus zulösen und konsistent als G rundsatz einer Methodologie der I nterpretation zu entwickeln : " Alles vorauszusetzende i n der Hermeneutik ist nur Sprache und alles I
K.-O. A pel, "DilC' Idee der Spr;lchlC' in der Tr;ldition des Humanismus von D;lnu: bis ViL'O," in
Archiv
für Bcg riffsgcsch,chu 8 ( 1 964). - Den., Trilmslomuwon, Bd I, bn. S. 22 ff., 19ff., 216ff., l l 5 f f . , Bd 2.
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PHILOSOPHISCHE HERM ENEUTIK UND HERMEN EUTISCHE M ETHODE
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zu findende w o h i n a u c h die anderen objectiven u n d subjectiven Voraussetzungen gehören muß aus der Sprache gefunden werden···. Es ist geraten, aus der Erfahrung der oben angegebenen Verlegenheitssituation nicht eilfertig i n dem konstruktivistischen Geist, der dem technischen Zeitalter ent spricht und dessen Maxime der effizienten Problemlösung folgt, sich in das Geschäft der Rahmenkonstruktion zu stürzen, um den historisch hermeneutischen Wissen schaften alsbald ein stromlin ienförm iges methodologisches und terminologisches Sy stem zu verpassen'. Zu häufig, man darf wohl sage n : regelmäßig, erweisen sich solche Konstrukte als unfruchtbar und kurzlebig. Denn das methodologische Kon struieren verwechselt die reflexive Metahandlung des Ph ilosophierens, das sich im Dialog mit seinem Problem für reflexive Erfahrungen offenhält, mit der Handlung des Konstruierens, welche die Regel eines vorgefaßten, nicht dem Gespräch mit der Sache ausgesetzten Schemas befolgt. überdies neigt ein w issenschaftstheoretischer Konstruktivismus der Fiktion eines reinen construere als schriuweisem Aufbau Z U R . Dieses u ndialektische Ideal berücksichtigt nicht den quasi dialogischen Charakter von Hand lungen als praktischer A ntworten auf widerfahrene und verstandene Situa tionen9• Infolgedessen werden die Standardfunktion einer Handlung, nämlich i n angemessener W e i s e auf eine Situation zu antworten, die Erfolgsbed ingungen e i n e r Handlung, nämlich die gegebene Situation richtig zu fJerstehen. u n d der soziale Ausspruch einer Handlung. nämlich als situationsgerecht zu gelten, nicht ernst ge nommenlO• Die notwend i ge (nicht auch die hinreichende) Bedingung für das Gelin gen einer jeden Handlung, auch der Metahandlung des Entwickelns einer Methodo logie, ist die richtige E inschätzung der vorliegenden Situation. Diese Wahrheit, die wie alle philosophischen Wahrheiten, wenn sie nur hinreichend dargelegt sind, ein fach scheint und dies i n ge"risser Weise auch ist, enthält m . E , auch die Begründung für die U mwegigkeit eines h istorisch gerichteten Phi losophierens, das mit einer hi storisch-hermeneutischen G enese der Problemsituation einsetzt,
h F. ll. l-. . Schltitrm.Jchtr, Hr,.""e "r"" k. hg H . KimmC'rlC', HC'iddbC"rg 1 9S9, S. ) 8 . A . KdlC't.JI, " H C'rmC' nC'uliC.J '1.U Cd.Jn, .Jnbißlich �C'inC's Pulms", in Abh,,,, JI''''gr,, "". Jrr P;,J"goguchr" HochJCh,.lr BC'rli", Bd I , hg. W. HC'lslC'rm.Jnn, 8C'rlin 1 9 7 5 , S. 269. , Ein BC'ispid dolfur gC'bC"n diC' Arbt-ilC'n j ungC'r VC'nrC'lC'r dC'r KonstrukllvC'n WiuC'nsch.JfulhC'oriC' (Erbn. l:C'r SchulC'l, diC' ohnC' VC'rgr-gC'n ....lrligunp: dC'r ProblC'msilu.Jlion unt.l t.lC'rC'n h,slorischC'r GC'nC'�C' soSlC'ich In J,t mtlhodologischC' Konslruklion springtn: M . G.Ju:C'mC'iC'r. "MtlhodischC' SchrillC' C'inC'r TC'xlinlC'r· prC"uliun In ph.lo\ophl\chC"r "\ mlChl", uml r= Koppe', "ThC'�C'n '1 U C"!ntr LilC"f.Jlurwiutnsch.Jh In h.Jnd· IUn�\llnCnllcrent.ler Absicht", heide in Z"m "Ormdlrotn F""d4mmt tlrr \1llUnuchA/t, hg. F. Koimb,md und J . MLlIo:I�If.JI;, Ff.Jnkf. · M . 1 9 7 1 . � " 1: 1 . P . Lcon. u n d O. Schw�mmer, I(01lJtr"ktl1Jr LogJt, Eth,k ""d Wrue".ch
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Die Maxime. daß zunächst die Prohlemsituation. auf die ein philosophischer Ent wurf antworten soll, u m sie aufzu lösen. h insichtlich ihrer h istorischen Genese nach konstruiert werden solle, kann d avor bewahren, daß die angebotene Pmblemlösung m i t ähnlichen strukturellen Mängeln behaftet bleibt, wie sie schon der zu beheben den Pmblemsituation anhafteten . Dies bleibt dem eilfertigen Konstrukteur verbal'" gen, weil er nicht danach fragt, aus welchen h i storisch tieferliegenden, strukturellen G ründen die bisherigen methodologischen Entwürfe, insbesondere jene, die mit h istorischer Sorgfalt und Bildung den Reichtum der hermeneutischen Traditionen auszuschöpfen bemüht waren, gleichwohl das methodologische Defizit der humani ties nicht zu bewältigen vermochten. D iese Frage soll hier exemplarisch, nämlich am Beispiel der Philosophischen Hermeneutik Hans-Gcorg Gadamers, die ihrerseits aus seiner A ufarbeitung der henneneutischen Tradition. zumal der Henneneutik seit Sch leiermacher, entwickelt worden ist, gestellt und behandelt werden. Dabei verfah ren wir so, daß wir zunächst G adamers A nsatz bei der G eschichdichkeit des Verste hens herausstellen ( § 2 ) , dann G rundzüge seiner Philosophischen Hermeneutik in bezug auf folgende Teilfragen kritisch prüfe n : I n wiefern ist eine philosophisch her meneutische Krir:: i k am neuzeitlichen Methodenideal und inw iefern ist Gadamers Methodenabstinenz berechtigt oder nicht (§§ 3-3 . 3 ) ? Wie ist es möglich, daß Schlei ennachers Aphorismus, den Gadamer selbst zu entfalten beanspruch t l i , immer noch ein Desiderat indizien ( § 4 ) ? 2 . D a s transzendentalhermeneutische Thema : Geschichtl ichkeit von I nterpretation und I nterpretand u m E s i s t Gadamers Verdienst, d a s phi losophische Fragen nach d e r Interpretation von Texten auf das N iveau einer Rekonstruktion der allgemeinen unvenneidlichen Vor aussetzungen des Verstehens, insbesondere des Verstehens überlieferter Texte, ge bracht zu haben. Traditionell und unter A u s k l ammerung der Probleme, die sich aus Kants Fixierung auf die operationale Erfahrung von Objekten theoretischer Kausal erklärungen und aus seiner Verabsolutierung der Subjekt-Objekt-Relation ergeben, kann das von Gadamer erreichte Fragenn iveau ' transzendental' genannt werden. Die genuine Fragestellung einer philosophischen Hermeneutik kann seit Gadamer so formuliert werd e n : " W i e ist V erstehen von überl iefertem überhaupt möglich ?" Oder spezifischer: " W elches sind die notwendigen konstitutiven VoraussetzlIngen. die Bedingungen der Möglichkeit, der Interpretation überlieferter Texte, die als solche vom I nterpreten durch einen Zeitenabstand getrennt sind?" " Zeitenabstand " ist freilich e i n vager Ausdruck 1 2• Gemeint ist eine, durch die verschiedene, auch (aber eben nicht n u r ! ) chronologisch unterschiedliche Situierung bedingte Differenz zwischen der Welt. in der ein Text entsteht, und jener Welt, in 11
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Gad.unC'r S. }61 und " DriuC'r TC'il : OntologischC' WC'ndung dC'r HC'nnC'nC'utik am lC'idadC'n dC'r SprachC'''. Gad.mC'r S. 1 79, 27Sff., passim.
PHI LOSOPH ISCHE H E R M EN EUTI K U N D H E R M E N EUTISCH E M ETHODE
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der e i n Interpret einen tradierten Text liest und interpretiertD. Aber auch "Welt .. ist ein vager Ausdruck, es sei denn, man erinnert den Kontext. i n dem er eingeführt worden ist, nämlich Heideggers Sein und Zeit. I n Sein und Zeit w i rd "Weh" als geschichtlicher Sinnzusammenhang bestimmt, i n dem der Mensch als verstehendes und handelndes soziales Wesen ("Dasein", das konstitutiv " Mitsein" ist) derart einbezogen ist. daß er handelnd und zugleich verstehend an dessen Sinnerschließung teilnimmt. u nd zwar so. daß er alles, was ihm widerfährt, was er sieht, hön u nd erlebt, als etwas von bestimmter (für Ego und Alter virtuell oder faktisch gleicher) Bedeutung versteht und transsubjektiv ausdrücken kann. I n scharfer Sinnkritik des cartesischen D i ngwelt - und Außenwelt-Begriffs rekonstruiert H eidegger "Weh" als ein G anzes von transsubjektiven Verweisungsbezügen. das den Menschen umgreift, statt daß es ihm gegenüberstünde. I h re Struktur ist nicht etwa primär mechanische Material ität, sondern "Bedeutsamkeit" (und jene e i n dcfizienter Modus dieser). Die Bedeutsamkeit wird im H andeln und Verstehen des Daseins erschlossen. Die Sinnerschließungsfunktion des Daseins charakterisiert dieses als " In-der Welt-sein". Aus der Notwendigkeit, seine Daseinsmöglichkeiten zu bewahren, her zustellen und auszufüllen, muß sich das Dasein einerseits antizipatorisch (" entwer fend") auf sich selbst beziehen und ist andererseits notwendige rweise von vorfindl i c h e n Daseinsformen abhängig und auf überlieferte Orientierungen angewiesen. Seine Möglichkeiten entwerfend und derart primär zukunftsbezogen, ist es doch immer schon vergangenheitsbedingt; es entw irft aus einem vorgegebenen Rahmen. Der Modus der Zeitlichkeit des Daseins w i rd als "geworfener Entwurf" oder als "Sorge" bestimmt '4. In diesem Zusammenhang redet Gadamer von der Geschichtlichkeit des Verstehem,'5. " Daß die Struktur des Daseins geworfener Entwurf ist. daß das Dasein seinem eigenen Seinsvollzug nach Verstehen ist, das muß auch für den Verstehens vollzug gelten. der i n den Geistesw issenschaften geschieht"". Damit ist der Kontext skizziert, aus dem G adamers A ntwort auf die t ranszenden talhermeneutische Fragestellung "Welches ist die notwendige u nd allgemeine Vor aussetzung der I nterpretation überlieferter Texte?" verständlich wird. Formelhaft lau let die A ntwort : " die Geschichtlichkeit von Text und möglichen I n terpreten resp. möglicher I nterpretationen " ' 7 . Damit führt Gadamer den grundlegenden Topos der 11
Nicht �lIeln bei Gadamer, sondern auch i n der sonstigen hennencutischen u n d verSlehenssoziologi. ichen Literalur wird die besondere Weh eines Autors oder einer I nterpretation häufig ungenau als ""(geschichtliche) Situation" bezeichnel. Das ist inadaquat, weil A u toren (und Interpreten) Situationen Insofern sich gegenüber haben als sie sich darauf be7.iehen und sie vielleichI auch darSlellen (l.. B . Tolstoi in Krieg ""d Fmd�n die russische Situation um 1 8 1 2 ) . Es fälh dieser R e d e schwer, zwischen sulchen ( Bezugs. )Situationen und dem Zusammenhang l. U unterscheiden, in dem Autoren (und I n ter· prelen) situiert sind. Fur !et1.tere kam dann der Verlegenheit5ausdJ"Uck "(geschichtliche) Gesamtsilua· lion·· auf. I ' Heidegger. St"m ,md Zr,t, §S 1 2-2 1 , 26, 73 ff. U Gadamcr S. 247 f., vgl. 240 ff. - HO, 260 f . • 274/27S. ,� Gadamer S. 249. " Zur BegriffsenIwicklung: G . Bauer, Gt"SCblCbtlicbltt"II - Wegt" "nd IrTWegt" eines Begriffs. Berlin 1 963. Und L . v. Renthe-Fink. Gt"scb,�bth�bltr't - Ibr tt"T71lllJologis�bn ,md ngriff1icbr, Unp,,,ng ni Hegr/, HA}'", Ddrbe} ""d Yorclt. Göningen 1 96 8 .
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Geisteswissenschaften fort. Es ist jener Topos, mit dem, seit Heget, Yorck und Dilthey, eine Gleichdrtigkeit von Interprettdionssubjekt und InteryretlmJum be hauptet wird. Stützen kann sich der Topos darauf, daß heide, und zwar in centione reeta und intentione obliqua. verstehensfähige sowie ausdrucksfähige, daher auch anredefähige und verständliche Momente einer Welt sind. Mit anderen Worten: Qua Verstehen sind Interpret und Text einbezogen in den geschichtlichen Prozeß von Sprache und Kultur, in deren Rahmen (" Horizont") sie etwas in bestimmter Weise deuten und zugleich damit beurteilen. Die Gleichartigkeit von Interpretationssubjekt und Interpretandum ist gewisser maßen der Rechtsgru nd für die Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften und Geistes- resp. Kulturwissenschaften. Mit Entfaltung dieser Gleichanigkeit wird die Perspektive der Subjekt-Objekt-Spaltung, nach der seit Descanes das Verhältnis einer Wissenschaft zu ihrem Gegenstand allgemein gedacht worden ist. für die Kul turwissenschaften überwunden - eben mit dem Argument: Text' und Interpret sind immer schon und notwendigerweise geschichtlich i • . Selbst revolutionäre Kunst werke und originelle Deutungen, also hochschöpferische Kulturleistungen, die als Sinnereignisse wirken können, weil sie neue Möglichkeiten menschlichen Welt- und Selbstverständ nisses erschließen, werden ennöglicht und begrenzt von dem Rahmen einer Welt als geschichtlichem Sinnzusammenhang. "Unüberholbar liegt dem Dasein voraus, was all sein Entwerfen ermöglicht und begrenzt", formuliert Gadamer mit Bezug auf Heideggers " Hermeneutik der Faktizität"". Denn alles Entwerfen setzt ein Verstandenhaben voraus und ist selber eine, wie immer transzendierende, Ent wicklung von Verstandenem. Auch das Entwerfen von neuem Sinn, dieses schöpferi sche Tun, ist nur das Movens im, je schon anhängigen, Prozeß der Traditionsver mittlung und Trad itionsfonbildung, so daß wir " ständig in überlieferungen stehen" - auch und um so mehr dann. wenn wir nicht Tradiertes aufarbeiten, sondern uns vergangenheitsvergessen aus dem Jetzt auf das Morgen werfen und etwas gänzl ich Neues zu entwerfen meinen20• Das Entwerfen ist nur ein Modus des geschichtl ichen LI
Grob k,mn die Entwicklung d�s Topos 50 v�ran5chaulicht w�rd�n:
� ____ '�' � !;�; :���::: H�gd
YO"k. oa, H
l � ; ,. Horkh�im�r u . a . )
Gadam�r, Ap�1 ( 1 96]) A p d , Hab�nnas J a u ß u . a. L'
lD
Gadam�r S. 2S0, vgl. 2 .. o ff. Im Historismus, zumal d�m soziologisch�n, wi� er �twa von E. Trodts(h und K . Mannh�im (Wiss�nS501.iologi�) v�nret�n word�n ist, wurd�, was H�id�gg�r als transz�nd�nt.l· Irs Argument �infühn, wi� �inC' �mpiri5chC' GrsC't2:C'shypothC'5C' traktiC'n, namlich als Th�s� d�r "Situ.l· tionsg�bund�nh�it" sozial�n Wis5�ns. Das hontC' �inC'n tou!C'n hi5torisch�n Rdativismu5, �in� Auflo· sung dC'r IdC'ologiC'kritik und überhaupt der MöglichkC'it praktischC'r VC'munh 1.ur Folg�. GadamC'r S. 266 f . , 28" f., passim.
PH ILOSOPHISCH E H ERMEN EUTIK U N D H ERM ENEUTISCHE M ETHODE
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Verstehens. Und dieses ist, unabhängig vom Selbstverständnis der Verstehenden und unabhängig vom Verstehensmodus, immer ein geschichtl iches und daher vorausset zu ngsvoIles. Daher kann die Produktion von Texten und deren Interpretation in denselben Begriffen konzipiert werden. Beides sind gleichstrukturierte Vorgänge der Sinnerschließung des geschichtlichen Daseins innerhalb des Rahmens einer " Welt" . Der Satz " Text und I nterpretation sind geschichtlich" bedeutet nach Gadamer so viel wie "Text und I nterpretation haben die Struktur des geworfenen Entwurfs". Für den Begriff ' I nterpretation' folgt daraus, daß er nur in bezug auf Begriffe wie 'Vor verständ nis' ( R . Buhmann) und 'Vorurteil ' im Sinne der Heideggerschen Vorstruk tur des Verstehens angemessen expliziert werden kann. Deshalb unternahm Gada mer seine mißverständ liche Rehabilitierung des Vorurteilsbegriffs, welche Vorurteile als Bedingungen möglichen Verstehens aufweisen, nicht aber die Fixierung unange brachter Vorurteile rechtfertigen 501111 •
J. Die Tragweite der philosophisch hermeneutischen Kritik an der
neuzeitlichen Idee der operational objektivierenden Methode Gadamer entfaltet die Kategorie 'Geschichtlichkeit' keineswegs in methodologischer Absicht. Denn er versteht die Problemsituation der Hermeneutik nicht als methodo logisch defizitär ; vielmehr besteht sie, seiner Argumentation zufolge. in der Beirrung der Text- und Geschichtswissenschaften durch den. seit Galilei herrschenden. neu zeitlichen Begriff der Methode. I nw iefern? In seiner Kritik der romantischen Hermeneutik Schleiennacher!l und der histori schen Hermeneutik Diltheys, genau genommen : wesentlich des Dilthey vor dem Aufbau der geschichtlichen Wdt ( 1 9 1 0), hebt er hervor, daß der naturwissenschaft liche Methodenbegriff auf die entstehenden Geisteswissenschaften übertragen wird l 2 . :1 EbJ. S. 2 6 I ff.
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O :aß G��nl�r.� Kl itik s.:hlci�tm:acl,�r ... nd Dil t hc)" im cin/dno:n kC l n�swegs gcrco.:hl .... i,d. bt:audll hier nur .angemerkl 7 U werden, d� G�d�mer den Grund1.ug der Enlwicklung der Geisleswissrnschaften Ireffend her�unrbeilel. - D�r späle Dillhey läßl, von Hege! und Husserl beeinflußI. den Psychologis. mu\ und Hislorismu� hmler sich. Die Einfühlungstheorie de\ h,\torisch�n Ventehen� ube�'indet er duro.:h eine A n Par�(hgm:aw�ch5c1 . Denn er bcgr�ih Im AN!""" nicht langer das emfuhl�nde Nu-h"er �Iehen der Secli\o.:hen Erlebnis5� und d�u sich hinein\·�riC"I1.ende Nach"olbi�hen der indi\'iduell�n POLe\is :als Pat:adigma der HenneneUlik. sondern d�5 fp'lI�hJ,�hr VetslC'hC'n emu I nlerpr�landum in \C'lnC'r GC'5chichtlichC'n SinnwC'lt, n.amlio.:h in dC'r "gC'mC'inumC'n SpharC''' des "ob i C'kl l vC'n GC'isteS", dem eS 1.ugehon und in der es Kinc Z c it Ge noss�n "nspricht und diC'5en vC'rständlich 151. D.C'sC'n Dihhey, dC'r du hC'rmC'n� ... tisch� VC'r5lC'hcn .auf das "C'IC'n)�nlarc, pr.al:m�li5o.:he" Versleh�n i n der gemC'inumC'n Sphu� einer L�bcn\v.·elt l u ruckb�7i�ht, d i\kut it"rl Gad :amn nil· h l . (Dilth .... �·. Grl 'ich"!rr,,, Bd 7, hg. 8 . Groelhu)'Sen, Stuugan und Goninse:n, · 1 973. S. 79ff . • 20Sfl. - Duu K.-O. Apd, r,.tJnf!ormtJllrm ßd I , S. )71 ff.) Was Gadam�n s.:hl�L�rmao.:hC'rd�utung anb�langt, so iSI mil C. \' . Bormann 1. U frag�n, ob S,hl�Lo:rma chC'u 8c:1i�hung dC'r Ht"nn�ncutik auf die: Dial�klik nichl 1.ur DiffC"r�n7.iC"rung C'in�5 Bildes führ�n m ... ßtt", In d�m Schl�i�rmaeh�r "",. als R�pr�senlant dC'r p�ychologischen IntC'rprC"ulionsl�hr� figuri�n. D n u C . v . Bormann, "Die: Zw�id�utigkC'il der hC'rm�n�UU5ch�n ErbhrunK", in K.-O. Apd ... . a. Hrrmr"r",ilt "nd Idrologl�ltnlilt. Frank f . - M . 1 9 7 1 , hi�r S. 8 7 f.
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Ohne hier eine historische Darstellung dieses ObenragungsprozessC's geben zu kön nen, soll vielmehr das Schema dieses Prozesses als Antwon auf die Frage " W elche begrifflichen Voraussetzungen und welches erkenntnisleitende Interesse ennäglichte jene übenragung?" idealtypisch entwickelt werden.
3 . 1 Die Entwicklung des konstruktivistischen Prin7.ips:
Wir verstehen nur, was wir machen können. Der Methodenbegriff der postgalileischen . exakten Natu rwissenschaft wird du rch eine neue Einstellung des Wissenschaftlers zur Natur und durch eine daraus sich ergebende Wandlung des Naturbegriffs konstituien. Die Genese jener Einstellung läßt sich an der Entwicklung zweier Topoi der spätmittelalterl ichen und der Renais sancephilosophie verfolgen. deren Ursprünge sich ausschließen. Es ist dies einmal der konstruktivistische Topos des verum et factum convenuntur, den Vico aus dem vom Cusaner initiienen konstruktivistischen Selbstverständnis der zeitgenössischen Geometrie und Mathematik aufgreift und zur Begrü ndung der Historie und der Philosophie als " neuer Wissenscha.ft . . heranziehtH. Freilich leugnet Vico die An wendbarkeit dieses Prinzips auf die Naturbetrachtung, weil deren Gegenstand Natur - nichts vorn Menschen Gemachtes und daher für den Menschen nicht exakt verständlich ist, so daß Natur auch nicht Gegenstand exakter W issenschaft und wahrheitsheanspruchender Aussagen werdcn könne24• Demgegenüber haue sich längst vor Vico ein konstruktivistisches resp. operationalistisches Selbstverständnis der Naturwissenschaften auf dem Umweg eines Bedeutungswandels des zu nächst im Geist des christlichen Platonismus konzipienen und auf eine sympathetische Natur einsteIlung zurückverweisenden Topos der interpretatio naturae u nd des liber na turae angebahnt - nämlich zwischen dem Cusaner und GaliieiH• Freilich brachte erst Kant die Entwicklung auf den Begriff und machtc den operationalistischen Charak ter der postgalileischen Naturwissenschaft als G rund für deren beispielhafte Wissen schaftlichkeit gehend, die auch für die seit Schleiermacher säkularisierte Henneneu tik vorbildlich werden sollte. Eine direkte Wirkung des vicoschen Prinzips verum et factum convertuntur auf die deutsche " historische Schule" scheint nicht zu bestehen. 1I
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Zunächst halle Benedeno Croce auf mögliche Vorlaufer V,COS im Neuplatonismus der Renaissance einschließlich Galileis und im skepti1.istischen Humanismus (Paolo Sa rp i , M. Ficino, G . Cardano, T. Cornelio) aufmerksam gemacht: B. Croce, Lt Ii/olof.. J. G.. mb,.tt;JtIl V.cu, Bari 1 9 1 1 , dtlch. E. AuerbachlTh. lucke, Tübingcn 1 9 2 7 ; besonders: den., " le fonli della gnolcologia vichiana", i n A m J. A ce . P01It._. S. 243ft. K.-O. A p e l h a i d e n v o n V i c o weiterentwickelien Konsll'\1klivismus auf den Cusancr 1.ul'\lckverlolgl : Apcl, "Die Idee der Sprache" S. 3 2 1 H . G . B. Vico. D� "olm tnrlp0J'U It"J.or"", rlillio,,�. hgS. W . F. OnoiF. Schalk, Godnberz l 947, S. 40: "Gcom�1rica d�monl1ramul, quia facimul ; si physica demonIlrare po,SC'mus, fac�remus. I n uno enlm DC'O 0pl. Max. lunl v�n.� rel'\lm forma�, q u ibus eal'\lndC'm �SI .:: o nfonnala nalura." Dazu K . -O. Apcl, "DiC' Idrc d�r Sprache"; B . CrocC', "lC' fonti " ; J . Kluv�r, Oprr.,ioIMlism"J-KrItlJr ""J G�lCh;ch,� �;,,�r PhilolOph;� Jrr �.It'II"t�" WiunlJOu.frr". Slungan- Bad Cannstau 1 9 7 1 , Kap. 1 1 , 2 .
PHI LOSOPHISCHE H E RMEN EUTIK U N D HERM ENEUTISC H E M ETHODE
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Desto folgenschwerer "'rar die u mwegige Wirkung des konstru ktivistischen resp. operationalistischen Methodenideals über den Topos vom Buch der Natur und des sen dialektischer Aufhebung i n Kants naturwissenschaftlich orientienem Begriff des exakten konstruktiven Verstehens, die wir deshalb skizzieren sollten. Der ursprüngliche Sinn des Topos interpretatio naturae resp. liber naturae, der von der deutschen Logosmystik, zumal von J akob Böhme und Paracelsus festgehal ten, dann i n Vorromantik und Romantik erneuen worden isr6, war durch und durch sympathetisch. Er entsprach dem ontotheologischen Naturverständnis der antiken Kosmologie und dessen Fonsetzung i n der christlichen Schöpfungstheologie. Beide haben nämlich, unbeschadet der inhaltl ichen, theologisch und kulturgeschichtl ich bedeutsamen U nterschiede, eine Struktur gemeinsam : eine sympathetisch verste hende Beziehung zur Natur als einem göttlichen Sinnzusammenhang, dem auch der Mensch selbst zugehön und i n dem sein Leben Sinn enähn. I m M i ttelalter w i rd nun das Verstehen der Natur zunehmend konstruktivistisch umgedeutet. Cusanus, Kepler und Galilei begreifen das Naturverstehen als A ufgabe des mathematischen Verstandes. Die damit einhergehende Wandlung des mensch lichen Verhältnisses zur Natur, die doch Gones Schöpfung ist, wird als Realisierung der Gonebenbildlichkeit des Menschen (Genesis 1, 26) verstanden und theologisch gerechtfenigt. U nbeschadet des. gerade vom Cusaner gedachten, "unendlichen qua litativen Unterschieds" ( Kierkegaard, Karl Banh) zwischen Gon und der mens hu mana, hebt Nicolaus von Cues einen gemeinsamen Tätigkeitsrnodus von Schöpfer gon und menschlichem Geist hervor: die Handlungsweise des Produzierens. die nach dem antiken "tExV11 - Modeli begriffen wird. Als Schöpfer wird Gott wie ein Techn iker gedacht, der sein Werk i n der Idee mathematisch vorentwonen hat. Die Schöpfung kann dann mechanisch als Uhrwerk ( Kepler) resp. überhaupt als mach ina (von Gal ilei über Descartes bis zum mechanistischen Material ismus eines Lamettrie. �
Jakub BohmC' und, I n dC'S�n Tradilion, H amann SO .... IC' St-hdling vC'rbindC'n dC'n Topos hbC'r naturaC' mil dC'f IdC'C' C'1nC'f OffC'nbarung dC's goulichC'n logos in dC'f SC'dC' dC's MC'nschC'n und in dC'fC'n Ausd l'll c ks· Wt'I�C'n: Munenpf.lchC', Dichtung, M)"tho�, Rdiji;iun. I n gC'wissC'r ,«'C'isC' uC'ht .lu.:h HC'gd i n d iC'sC'f Trad ilion. Für ÄuhC'uk und Dichtung in auf diC' C'"gluchr Vom",... ", ... (Edward Young, RobC'n Wood). den GoC'thC'Schrn s,,,"'" ""tl Dr""g (vgl. "ScndschrC'ibcn" , 1 774 : Sich. so i u Natur rin Buch Itbc:ndig. ! Unvrrstanden. doch nicht unvC'fStand lich) und vor allrm die Ra"... ",,,, zu vrrwC'isC'n. DC'rC'n ,ympathrtischr Naturauffusung hat nicht nur den Topos inlerprclalio naturac 7ur Maximr C'rhobC'n und den Begriff dC'r Nalul"pOC"sie hC'rvorgcbfloChl. sondern louch C'Iß symplolhC'tischC'1 Verstandnis dC'f Nloturwissenschloh (Sc helling) und dC'f TC'ChnikC'n wir Mcdi7Iß (SchellingJ und Bergblou (NOVlolis. Frlon7 'o'on Baloder). Frrilich schC'int diC' fomlontische Ästhelik ambivalC'nl zu sein : ihr Naturvrrständnis folgt dC'm sympathetischen To pos , ihre Henneneutik aber oriC'nlirn sich .Im konstl'll k tivistischC'n Prinzi p . Dies ist m. E. krine Z .... eideutigkeit. sondC'rn C'hC'f �inr kons�quenlC' vichianischr Einstellung: DichtunG. Ruuhal menschlicher Poiesis. vrntehen wir. weil und ind�m wif sie rnach�n reip. nach-konstruieren; Nlolur hlngC'K�n, dloi KunSlw�rk Gou�s (SchC'lIing), könnC'n wif nicht kon5lrukliv, sondern nUf lots deren Enuprrchung und Mom�nt. lots Kreaturen und daher sympathetisch ve"t�hen. Die Geschichte des Topos int�rpfetlotlO naturae ist noch zu schr�iben. Materialien dazu be i : I::: . R. Cunlus. C"ro,.,uch� u'rr"'''rI",tl u'�",u�h�1 Mill�"hrr. Sern u. Munchen ' 1 963. Kap. 1 6 . S 7 ; nur C'iniK� Erglon�unGC'n zu Cunius bringl H. M. Nobis' AnikC'1 " Buch d�r Nlotur" in HUlorumrs Wörtrr "��h tl�r PhJo",phw. Bd 1 . hg. J. Rin�r, Blo",1 1 9 7 1 : problC'mgC'Schichdich �fh�lIC'nd: K.-O. ApC'1 1 963 u . 1 9S5. vg!. Anm. 2 3 u . 29.
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Moleschott und Büchncr) angesehen und als Gegenstand einer Naturw issenschaft freigegeben werden, die Naturvorgänge als Kausalzusammenhänge nachkonstruiert. Als quasi alter deus solle der Mensch die konstruktiven Gedanken des Schöpfergot tes nachdenken (Cusanus) und die "Chiffren". i n denen das Buch der Natur verlaßt ist, nämlich "die mathematischen Figuren und deren notwend ige Verknüpfung ver stehen" lernen (Galilci)2', Erst dadurch. daß der Mensch sich auch konstruktiv als Gottes Ebenbi ld erweise. indem er die Schäpfungskonstruktion nachkonstruiere. lerne er präzis zu verstehenl I, Für den Verstehensbegriff wurde, wie K.-O. Apel dargetan hat. diese konstrukti vistische Wende im Mensch-Natur-Verhältnis insofern höchst bedeutsam. als nun mehr. nämlich seit dem Cusaner. ein konstruktivistisches resp. operationalistisches Kriterium des präzisen Verstehens entwickelt werden konnte. Es ist das Prinzip. daß der Mensch nur das präzise versteht. was er selber prod uziert oder reprod uziert hat29• Mit der Cusanischen Formulierung dieses Verstehensprinzips war der Topos der interpretatio naturae konstruktivistisch interpretiert worden}o. Dies impl izierte die liquidation des quasi dialogischen Verstehensverhältnisses zur Natur als Sinnzu sammenhang. Sodann folgte daraus ein konstruktivistisches Kriterium für die Wahr heit menschlicher Aussagen über die Natu r : verum et factum convertuntur. Reflexiv in Besitz genommen und konsequent zu Ende gedacht wurde diese kon struktivistische Entwicklung des Verstehensbegriffes freilich erst von der Transzen dentalphilosophie Kants. die nicht zuletzt eine Rekonstruktion des Methodenbe griffs und Erfahrungsbegriffs der postgalileischen Physik ist. Kant definiert das Ver stehen als Aktualisierung des spontanen konstruktiven Vermögens der Begriffe. des "Verstandes". Etwas verstehen heißt ihm. es nach einer Regel unter Verstandesbe griffe bringen und das Verstandene somit begriffl ich reprodu1.ieren können - gege benenfalls auch materialiter: "Wir verstehen . . . nichts recht als das. was wir 7.uglcich machen könncn. wenn uns der Stoff dazu gegeben würdc"} I . I n der Wirkungsgeschichte dieser und ähnlicher Kantischer Formulierungen ent wickeln sich nicht allein die pragmatistische sowie die konstruktivistische logik und 11
J' � Je 11
Zu Cusanus: Dr brryJlo, Cap. 6. Vgl. Galilei. 11 S.ggu,orr. Frage 6. "Die Philosophie ist i n dem großt"n Buch niederges.:: h rieben, das vor unseren Augen immer offen liegl, ich meine das Universum. Aber wir kannen t1 ersl lesen, wenn wir die Sprache gelernt haben und mit den Zeichen venuul sind, in dcnen e� geschrieben iSI. F.s iSI i n der Sprache der Malhemalik geschrieben, und seine Buchstaben s i nd Dreiecke. Kreise und andere geometrische Figuren; ohne diese Minel i51 es dem Menschen unmoglich. auch nur . ein ein1iges Won 1.U verslehen . . Zit. nach A . C . Cmmbie, Von A"g".'''' " . b.J C.I./r. - Dw E"u",z.,,�· ';on Jrr N.,"rv.';urn.ch./un, Koln und Berlin 1 964, S. )74, vgl. S. ) 7 ) f f . Cusanus, Id,ot. d r mrnte, C a p . 7, fol. 8 6 . Zum hermelischen Topos v o m Menschen als a l l e r dC'u\. V . Rüfner, "Homo sccundus deus", In Phi/oJophilchrJ j.hrbllch 63 ( 1 9SS). K.-O. Aprl, "(}as VerSlC'hen (eine Problemgeschichle als BC'griffsgeschichlc)", in Arch,'ll {iir Brgrl"Jgr· Khichrr I ( 1 9SSl, hier S. 1 4 3 - 1 5 3 . lose BI::'lIer 1 3 u n d 1 5 . H inwC'is b e i K . -O. A p r l , ebd. S. I S2 . RdlC'llionC'n. Nr. )9S. Vgl. Krrllk drr rrmen Vr,.,,,,,,{,, B X I I . Dazu Verf . , "Objeklivi5lischC' "euul hC'rmeneuli�che MC'lhodologiC' dC'r Handlungsw iuenschahen", hier K a p . : " K anlS Begrund ung de:. melhodologischen Objeklivismus und Oprralionalismus", vorerst in SozulphiloJDphiJche Arbe","n· trrLqrn, PilJliIgoguche HochJch../r Srr/;n, Nr. 2, WintC'ueme5lC'r 1 976/7 7 .
P H I LOSO PHISCHE H ERM ENEUTIK UND H ERM EN EUTISCH E M ETHODE
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Wissenschaftstheorie seit Charles Sanders Peirce)2 und Hugo Dingler - Paul Loren zen», sondern zunächst die I nterpretationslehre der deutschen Hermeneutik seit Schleierm acher.
3.2 Die Funktion des konstruktivistischen Prinzips in der Hermeneutik seit Schleiermacher Das konstruktivistische Prinzip w i rd von Friedrich Schleiermacher auf die Herme neutik übertragen. D ieser setzt die Bedeutsam keit eines Kunstwerkes mit dessen ursprünglichem geschichtlichen Kontext gleich, mit dem Entstehungszusammen hang. Daher kann er formulieren: "Es verliert schon seine Bedeutung, wenn es aus dieser U m gebung herausgerissen w i rd und in den Verkehr übergeht . . . .. )4. I nfolge dessen bestimmt er die hermeneutische Aufgabe im Sinne einer Reproduktion, die die ursprünglichen Bedingungen, unter denen das Werk entstand, wiederherzustel len versucht und den Produktionsvorgang selbst w iederholt. Zu diesem Zweck muß sich der H ermeneut i n den Seelenzustand des A utors - in actu productionis - "hin einversetzen")4&. Es ist keine offene Frage, sondern eine A ufgabenbestimmung, wenn Schleiermacher formuliert : " w as ist wohl die schönste Frucht von aller ästhetischen Kritik über Kunstwerke der Rede, wenn nicht ein erhöhtes Verständniß von dem inneren Verfahren der Dichter . . . (,) von dem ganzen Hergang der Composition vom ersten Entwurf bis zur letzten Ausführung?"}4 b So verbindet sich die Idee der psychologischen Interpretation mit dem operationa listischen Prin7.ip, das historisch gewendet wird und daher den Sinn einer Wieder herstellung der geschichtlich und persönlich individuellen Antecedensbed ingungen erhält. Diese h istorische Re-konstruktion strebt nach der ' Gleichsetzung' des Inter preten mit dem Künstler in einer I dealen GleichzeitIgkeit. Die je besondere WeItzu gehörigkeit von Interpret und Interpretandum und damit die aus ihrer Geschicht lichkeit folgende historische Differenz soll methodisch überbrückt und überwunden e h . S. Peirce, Srhrrllt" I und 11. hg. K.·O. Apd, Frolnkfurt/ M . 1 967 u . 1 970. - A . Gehlen, Der Mrmrb. Bonn 6 1 9 5 S , Kap. 35. Vgl. J. Klü\'er, 0prI"atro"../jsmus 2. Teil. Kambartd. Erfahru"g u"J Strulttllr, Fn.nkfurt/M . 1 968, S. 1 1 2- 1 22 . P. Lorenzen . MrthoJrsrJns Dtflltrn, bes. S. 4 l n . - Die Verwandu\:holh des moderncn Konstruktivismus und Pn.gm,lI ismus mil K.anl IK-slcht unbcs\:hadet der Kritik btidtr Richt ungcn an dcssen Apriorismus, dcr so .... ohl von Peirct wie: auch von Dingler distanziert wurde. Zu Dingltr: J. Willer, Rrw'lf./j,iit IIIId Ej"Jruljgltrrl - Hligo Orngkrs Britrag Zlir Brgrii"JII"gsprobirmatrlt. Meistnheim 1 973, be�. S. 86 ff. Zu Peirce: K.·O. Apel. Einführung z u Peircc, Srhrrltr" I, bC$. S. 7 5 f f . , S. 1 1 1 H . " S\:hleierm;lehcr, ASlhrtrlt. hg. R . Odebrecht . 5. 86; zit. b C I Goldamer, S. 1 5 S f . �. A I � "posil i\·t Formel", ;l U S d e r die Regeln d e r Auslegungskunst zu enlwiekdn seitn, f ü h rt Schleier· molcher "du ge�ch ichtliche und divinollorisehe obieelive und 5ubjeclive Naeheonslruitrtn der gegebe. ntn Redc" an (HrrmrllrMtjlt S. 87). - Fur eine immanente Darlegung von Schleiermaehers psychologi "hcr I nttrprctation�lehrt· als Melhodologic der " N achconstruction" dtr individuellen Kombinations· weisc eines Autors : J. Wach, DII.J Vrrstehe", Bd I . Tübingen 1 926, bC5. S. 89-97. 138 H. '41> Schleiermacher , Herme"elltilt S. 1 3 S . \1
" F.
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werden15• Dieses erkenntnisleitende I nteresse an der überw indung des mit der Ge schichtlichkeit eines (historischen) Textes und eines (späteren) Interpreten gegebe nen Zeitenabstandes läßt es nicht zu, die Interpretation als Hochstilisierung eines Quasi-Dialogs zwischen Angehörigen versch iedener Sinnwehen, die sich mit ver schiedenen Erwartungen und Absichten auf verschiedene Situationen beziehen. zu begreifen und die henneneutische Aufgabe als ü bersetzung von und als Auseinan dersetzung mit tradiertem Sinn zu bestimmen. Vielmehr führt dies Erkenntnisinter esse zur Abblendung der aus der Geschichtlichkeit, dem besonderen Situationsbezug und den besonderen praktischen Interessen sich ergebenden unterschiedlichen ge schichtlichen Zeit. Denn es untersteHt die einheitliche. aber leere physikalische Meß Zeit als den gemeinsamen Raum von Interpret und I nterpretandum: Die Unterstel lung des Begriffs der physikalischen Zeit als Bezugssystem fühn zu einer verräumli chenden Vorstellung des Geschichtlichen und damit zu dessen Entgeschichtlichung. Dies war die Entdeckung Graf Yorks. der die verräum l ichende Denkweise bereits auf die "okulare" E instellung des griechischen Geistes und seiner traditionsbilden den Grundbegriffe wie voü; und öEOlpLa. btlD"nlJ1TJ und 'tEXVTJ zurückfühneJ6• vor deren H i n tergrund sich auch die postgalileische Naturw issenschaft. deren Methodenideal und schließlich der Geist der technisch-wissenschaftlichen Zivilisa tion ausgebildet hat. I n dem homogenen Raum, d iesem quantitativen "Zeit-raum" . zu dem die Ge schichte für das okulare Denken wird, kann jedes Ereignis methodisch wiederholt werden, wenn es gelingt. dessen " A ntecedensbedingungen", wie es in der Sprache der Hempel-Oppenheimschen (Natur-)Wissenschaftstheorie heißt. wiederherzustel len -. "wenn uns der Stoff dazu gegeben würde". wie Kant metaphorisch sagte. Ist dies der Fall, so gibt es keinen Zeitenabstand zwischen Ereignis und Reproduzent . keine spezifische Geschichtlichkeit. Reproduzierbare Ereignisse stehen gleichsam zeitlos nebeneinander i n demselben Raum . in dem auch ihre möglichen Reproduzen ten sich aufhalten. Reproduzierbare Ereignisse und ihre mögl ichen Reproduzenten sind virtuell gleichzeitig. Nach dieser für den experimentellen Naturwissenschaftler tJ.nd für den Techniker gegebenen G leichzeitigkeit strebt im G runde die Hermeneu tik seit Schleiermacher und der " historischen Schule". Nach Analogie der experi mentell reproduzierbaren Naturereignisse sollen auch tradierte Sinngehalte reprodu ziert u n d i n idealer Gleichzeitigkeit zu e i n e m Universum gleich-gültiger u n d let?t l ich gleichgü ltiger Tatsachen gesammelt werden J1 . Diese E instclJung bringt die Leitn
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Dnu K.-O. Apel, Tr'IZm{or7rUlt;o" Bd 2, S. 1 1 5 ff. - Gadamer S. 17 .. ff., 226ff. - H . Geissner. "Zur Henneneutik des Gesprochenen", in W . L. HöHe/H. Gti�sntr. SprlZ�ht .md Sprtmt", Bd I , Ratingen Düssddorf 1 968, bn. S. 1 8 ff. Graf P. Yorck yon Wanenburg, Btfl}.ßrJt;"JJttJJ."B .nd GtJCh,�hlt, hg. 1 . Fttscher. Tübingen 1 956. Dazu J . H abennas, " Erkenntnis und Internsc," in Ttch",1t ."d WiJJemch4r S. I " S f . - f.. Heintd. "Der Mann ohne Eigenschaften und die Tradition", i n Wiuc""h4t ."d WtJtbJd. 1 960. S. 1 79 f f . - J . Ritter, "Die Aufgabe der Geisteswissenschaften i n der modernen Gnellschaft", i n jlZhrtJJch"!t 1961 der GeJtJhch4r z., Förder."B der WeJ'{iiJi.J�he" W,JhtJ,m-U"i"e,.,itii, �,. Miimter , S. 11 ff. - K . - O . Apcl, "SzientiSlik, Henneneutik, Ideologiekritik", in TrlZm!0.,.",.,1I0n Bd 2 , h i e r S. 1 1 5 f . - G . Rad nitzk)·. Co",emporlZry Schoob o{ MetllJCience. Göteborg 1 970, Bd 2. S. lo H .
P H I I.OSO PHISCHE H E R M E N I-: UTIK UND H E R M EN EUTISCH E M ETHODE
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idee der I nstitution Museum hervor. I n dieser Einstellung sehen die Geisteswissen schaften ihre Funktion i n der Errichtung eines " imaginären Museums" . - Ehe wir auf die damit verbundene Ausblendung des Geltungsanspruchs tradiener Sinnge halte zu sprechen kommen, fragen w i r : Was für ein Begriff vom Sinn eines Kunst werks ermöglichte dieses h istoristische I nteresse? Das erste Schleiermacher-Zitat wies bereits darauf hin, daß der Sinn eines Kunst werks nicht etwa nach dem Modell einer Redehandlung oder einer anderen sozialen H andlung, sondern nach dem Modell einer einsamen Produktionshandlung, also der Poiesis eines Individuums, gedacht wird. Dies Modell ist gleichsam die nüchterne Struktur der romantischen Genieästhetik17a. Romantik und H i storismus konzipieren den Sinn eines Kunstwerks, i nsbesondere eines literarischen Textes, nicht in bezug auf das quasi d ialogische Verhältnis Werk - mögliches Publikum, sondern i n bezug auf das lediglich teleologisch gedachte Verhältnis AutOT - Werk. I nfolgedessen wer den von ihnen die beiden konst;tutwen S;nndimens;onen eines Werks, die immer schon gegeben sind, wenn der Produktionsvorgang in der Dimension A utor-Werk anhebt. von vornherein abgeblendet. Es sind dies einmal der besondere geschicht liche Situationsbezug des I nterpretandum als Antwon auf eine widerfahrene und in bestimmter Weise verstandene Situation, zum anderen der quasi dialogische Bezug eines Werks auf mögliches Publikum als den Adressaten, denen es etwas zu verste· hen gibt u nd/oder darbietet. Diese Beziehung wird gegenwärtig als antizipiene Rezi prozität Text-Le!ler, al'5 Einstellung de'5 Textes auf Lrsererwanungen und als Evoka tion sowie Destruktion solcher E rw anungen durch den Text von der hermeneuti schen Re:teplionsästhetik entfaltet. Der geschichtliche Situationsbezug ist von Gada mer im Anschluß an Collingwood herausgestellt worden)l. ,-, nll� engliu:he vorromanlische Jhlhelik eines Shahesbury und Young. sodann Herders und Goelhe�
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promelhelsche Shill k espearr- Deulung bereiten der romill n tischen GenieillS lhetik den Wrg, indem sie die Cusill n lsche Anill i ogie von Schopfergon und mens human.1 gleichsam poetisieren: Nlchl mehr der malhemalisch konstruktive GelSI sondern das originale poeti.'lche Genie wird in A nill l og.e zu Gou als (rl"aUlr '·enunden. die vom poetischen Genie hervorgebrachle Schopfung gilt als eine "Weil" (Vgl. J. Riurr, Artikel " Genie" i n Hutomchr. WOrurb ....ch drr Ph,loJophir, Rd J, hg. J. R i urr. BiII5 e1 1 974. hier S. 292 1f.). I n N"ov.1lis, J .. r ;.1 aur.:h d i rt'kt sowie über Fried r irh Schlegel auf Schleicnnacher gc:wirkl huf '·ermineln sich i n charakteristischer Weise Zügr jener genieästhetischen Tradition mit dem Erzeu �ungspalhos der Sub;eklphilosophie Kanu und Fichles. (Gewiß bleibt zu beillC h um. wie sehr Novalis .b\ E l il;ire d .. s poetischen Genie- Begriffs bst vichiani'l"h und analog 7 U H .1mann, dem die Poesie als " M uuerspnche des menschlichen Geschlechu" gilt. iIIu rhebl, indem er brrcilS das freie sprKhliche Sich.1usJrücken i11 l s poeüsch und diese elementare Poesie als den Ursprung der DichtkunJot .luffaßt. So Im illC h len KapileI des enlen Teils des " H einrich von Ofterdingen·'. Vgl. Novalis, g:'rr.ir .... nd BIV/r, hg und mil einem Nach"'on verliehen von A. Kellelat, Munchen 1 9SJ. S. 249.) Seine Ideill i i nischen Lc:hrer .1n Radi kalität überbielend, fonnullen Novalis das kon5lru k tivinische Prinzip in brzug auf den Begriff refleXiven Wissens " WIr Wd.rn nur insoweit wir rrwchrn" und erhebt es zur Maxime literui· scher Krit i k : " Wer keine Gedichte machen kann, wird sie auch nur negaliv bruneilen. Zur echten Krilik gehon die Flihigkeil, du zu kritisierende Produkt selbst hervon:ubringen .. :' (Aus dc:n Frag mentgruppen " Nolen an den Rand des Lc:bens" und "Poetizismen" , s. Wrr.i.. .... nd BIV/... S. 4SS, Nr. 1 59 und S. 427, Nr. 36.) Gadamcr S. 3 S 1 ff. Gen.1ugcnommen handeh es sich bri den herillu sgestelhen Beziehungen uni anal y . li'Ch heuristi'l"he Unterscheidungen. die zwei zusammengehcirige Aspekte e i n e r Sache trennen. Diese Tn-nnung ist nicht unproblemalisch. Letztlich w illr e sie als Folge der vorpragmatischen Denkweise zu
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H ingegen orientiert sich die traditionelle Hermeneutik an der künstlerischen Handlung und faßt diese nur als Poicsis eines Subjekts auf: Sie konzipiert die kü nst lerische Tätigkeit nach dem Modell der 't€x.Vll als Produktion eines Individuums. das unter besonderen Randhedingungen gemäß einer bestimmten Idee mit jeweiligen M itteln ein Werk herstellt. Ein tech nischer Vorgang aber hat die Form einer Opera t;on, der eigentümlich ist, daß sie, bei gegebenen gleichen Randhedingungen. Zielen und M itteln, person- und zeitunabhängig reproduziert werden kann. Diese Repro duzierbarkeit ist seit Galilei das Si nnkriterium der naturwissenschaftlichen " Experi mentalmethode", wie sie Kant nennt. Seit Schleiermacher beginnt die übernahme dieses Kriteriums in die Geistesw issenschaften. Denn Schleiermacher sieht "die Auf gabe der Hermeneutik darin . . . ( , ) den ganzen innern Verlauf der componirenden Thätigkeit des Schriftstellers auf das vollkommenste nachzubilden"}'. Maßstab für die gelungene Interpretation, für die gelungene Aufführung, für die gelungene Rezi tation und die musikalische Darbietung w i rd die " getreue" Reproduktion, unabhän gig von der Zeit und den ausführenden Personen4 0 . Schleiermacher verbindet Kants konstruktivistischen Methodenbegriff mit einer platonisierenden Bestimmung des Verhältnisses von konkretem Menschen und ewi gem Selbst, von äußerer Sprache und innerem Denken. Muster dieser Verhältnisbe stimmung ist die Relation endliche, paniku lare Erscheinung - ewige, allgemeine Idee. Gemäß dieser platonischen Relation denkt Schleiermacher die Tätigkeit des Redens und Schreibens : Zwar sei " j eder Einzelne auch sprachbildend", zwar bringe zumal "der productive Geist immer etwas, was man nicht erwarten konnte", doch drückt sich in diesem I ndividuellen wesentlich das Allgemeine der Idee aus. Daher kann er als Ziel der I nterpretation angeben, "den Menschen als Erscheinung aus dem Menschen als Idee zu verstehen"4 1 und ins Bewußtsein zu heben, "welches Denken der (zu interpretierenden) Rede im G runde gelegen"42. So wird das konstruktivistische Methodenideal platonisch unterbaut und dadurch als sachgemäß gerechtfertigt. Als Reproduktion der ursprünglichen Produktion einer Rede oder einer Schrift wiederholt die I nterpretation das H e rvorgehen der "äußeren Sprache" aus dem " i nneren Denken", der Erscheinung aus der Idee. Denn d er methodische " Akt des Verstehens ist die Umkehrung eines A ktes des Redens" resp. Schreibens, indem durch ihn "ins Bewußtsein kommen muß, welches Denken der Rede (resp. dem Text - D . B.) zum Grunde gelege n " . D iese Umkehrung des rhetori schen oder literarischen Vorgangs als dem Ausd rücken eines Denkens begreift Schleiermacher als " nachkonstru ieren" . Es ist letztlich die I ntention. das einem Text zugrunde liegende Denken zu rep rod uzieren, diesen u inneren Hergang" der "fortkrilisieren. die aus der Iheoria·Tradition die Hermeneulik und die (Sprach-)Philosophie behern.cht. Aber solange wir im Stadium der Traditionskritik uns bcfindC'n, können wir nur mit dC'f Tudition gegen sie dC'nken. " HC'rmC'ftC'utllt S. 1 35 . oe Vgl. Gadamer S. 1 59 f . 11 HC'rmC'ftC'ldllt in Siirnrnt/ichC' WC'''-''C' , I . A b l . , Bd 7, h g . F. Lücke, Berlin 1 83 8 , S. 2 io l f . • : HC'rmC'ftC'ul,1t S. 80.
PHILOSOI'HISCHE H E R M EN EUTIK U N D H E R M E N EUTISCHE M ETHODE
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laufenden Gedankenerzeugung" im Autor. welche ihn zu einer konstruktivistischen Bestimmung der hermeneutischen A ufgabe motiviert und welche ihn die Hermeneu tik auf die " Dialektik" als die Lehre vom Denken zurückbeziehen läßto. Nun zeigt sich, daß auch der ei ngangs zitierte Schleiermachersche Aphorismus plalonistische Prämissen hat : Er u nterstellt Sprache als Medium der vorsprachlichen Idee und begreift sie und ihre Aktualisierung i m Reden gemäß der klassischen Sprachauffassung, die nach dem Modell des sinnlichen Sehens ein vorsprachliches Erkennen und Denken (ÖEOOQElV und VOElV) annahm. als ein Seku ndäres, das zum Zwecke der Gemeinschaft notwendig sei : "Das Reden ist die Vermittlung für die Gemei nschaftlichkeit des Denkens", und als solches " ist es nur die äußere Seite des . Denkens. ..... I nsofern konzipiert Schleiermacher die Hermeneutik nicht radikal sprachgemäß, sondern nochmals idugemäß - dies freilich im kantianischen Bezugs system des konstruktivistischen Methodenbegriffs, der i n den Dienst des historisch und psychologisch gerichteten Erkenntnisinteresses an der Reproduktion einer lite rarischen Produktion tritt. Die übernahme des I nteresses an Reproduzierbarkeit und seine Standard isierung als hermeneutisches Kriterium führt. wie G adamer dargelegt hat, vollends im Histo rismus zur Reduktion der hermeneutischen A ufgabe auf die methodisch geleistete Wiedergabe dessen. was der Künstler " tatsächlich im Sinn" hatte. und auf die mctho disch vermittelte Wiederholung des " u rsprünglichen" Konstruktionsvorgangcs. "Es ist die Verführung des H istorismus. i n solcher Reduktion die Tugend der Wissen schaftlichkeit zu sehen und im Verstehen eine Art von Rekonstruktion zu erblicken, die die Entstehung des Textes gleichsam wiederholt. Es folgt damit dem uns aus der Naturerkenntnis bekannten ( s e i l . operat ionalistischen) Erkenntnisideal , wonach wir einen Vorgang erst dann verstehen. wenn wir ihn künstlich herbeiführen können'·u.
3 . 3 Die d ialogische Reziprozität 7.wischen Text und Leser/Interpret
Naeh unseren Darlegungen kommt die übertragung des konstruktivistischen resp. opcrational istischen Methodenbegriffs auf die hermeneutischen und historischen Wis�cnschaften einer �laß6.ulC; dC; dUo ytvoc; gleich. Dieser Methodenbegriff ist der Interpretation als einer Hochstilisierung des Verstehcns von aktuell Gesagtem zu eine" Disziplin des Verständl iehmachens historischer Texte wesensfremd. Denn das kon�tru ktivistische resp. operat ionale Prinzip ist a-d ialogisch. Wer aussc h l ießlich
diesc:"s Prinzip befolgte, müßte den Sinn eines h i storischen Textes ebenso wie den eine) jetzt und hier Gesagten verfehlen. weil er sich nicht auf die Reziprozität des A nrc:"dens und Verstehens einläßt, die ein Text oder eine Rede als KommunikationstI H
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akte in bezug a u f mögliche Adressaten a priori herstellen o d e r die sie - getragen von einem größeren, Sprecher und Hörer resp. Autor und Leser umgreifenden Sinnzu sammenhang - unterstellen. Die ausdrückliche H erstellung oder die faktische U nter stellung einer Reziprozität von Anrede und Eru/artung sowie von Anspruch und Kompetenz ist die notwendige Bedingung dafür, daß eine Kommunikationshandlung gelingen kann. Sie gelingt aber in dem Maße. wie sie sich als das darstellt und ausführt, was sie sein will (z. B . ein Versprechen. ein Roman), wie sie hinsichtlich dessen verstanden wird, was sie geäußen hat (z. B . das Versprochene. das künstle risch Dargestellte), schließlich i n dem Maße. wie sie als das anerkannt wird, als was sie zu gelten beansprucht (z. B. als wahrhaftiges und zuverlässiges Versprechen, als guter, unterhaltsamer Roman über . . . ). Freilich kann eine Kommunikationshand lung sehr wohl verständ lich und anerkennungswürdig sein, ohne auch faktisch ver standen oder anerkannt zu werden - etwa weil H ö rer resp. Leser abgelenkt, desinter essiert bzw. von vornherein dagegen sind. Diese empirischen, kontingenten Rezep tionsbedingungen spielen aber für unsere transzendentale Fragestellung nach dem Begriff 'Sinn eines Textes' keine Rolle. Konstitutiv für den Sinn eines Textes ist, daß er sich so darstellt und ausführt, daß zwischen ihm und möglichen Lesern eine Gemeinsamkeit in semantischer und prag matischer H i nsicht, und letzteres sowohl modal als auch normativ, ermöglicht wird - unabhängig davon, ob, wann und von welchen Lesern diese G emeinsamkeit aktua lisien wird. Die pragmatische Gemeinsamkeit bezieht sich einmal auf den Modus der Kommunikation. Dieser wird durch bestimmte Formen von ankündigender A nrede und durch andere " i llokutionäre Faktoren"46 hergestellt, die dem Adressaten 7.U verstehen geben, was für einen Kommunikationsmodus er zu erwarten hat : im Alhag etwa den der U nterhaltung oder Diskussion. des Versprechen oder Befehls. der Benachrichtigung; in der Literatur etwa den Modus des Epos oder Romans, d e r Novelle o d e r Erzählung, d e r Ballade oder d e s Sonens u . v . a . m . Durch ankündigende A nrede erhebt ein Text den sozial pragmatischen Anspruch, die angekündigte Kom mu nikationssituation auch herzustellen, so daß er sich selbst festlegt. Zugleich weckt er damit auf seiten der Adressaten bestimmte E rwartungen. So stellt sich eine modale Reziprozität her. Die pragmatische Gemeinsamkeit von Text und möglichen Lesern bezieht sich zudem auf die Geltung der Kommunikationsform und des kommunizierten proposi tionalen Gehalts. A nalog zur Äußerung, impliz iert ein Text den A nspruch, in einer bestimmten, eigens hergestellten oder schon gegebenen Kommunikationssituation vor Lesern als zu dieser Situation passender, verständ licher und guter Text zu gelten, der der Mühe aufmerksamen Lesens wen ist und A nerkennung sowohl wie Wirkung
... Vgl. J . L . Aunins Analysc dcr I l locutionary fortes rincr Äußrrung. i n Austin. Hau' ta Ja Thmg. u'uh
Ward• .
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verdient47• E i n solcher Geltungsanspruch setzt Adressaten mit bestimmtem Norm wissen und einer Beurteilungskompetenz voraus. So implizien ein Roman als 'Ro man' den A nspruch, i n bezug auf etabliene (oder aber von ihm selbst verändene) literarische Normen für Romane gerechtfenigt werden zu können. Damit w i rd eine Reziprozität von Geltungsanspruch und Beuneilungskompetenz unterstellt. Von einer nur konstruktivistisch eingestellten Interpretation w i rd diese modal pragmatische und geltungspragmatische Dimension ei nes Textes ausgeklammen. Ein strikt konstruktivistisch eingestellter Interpret verfehlt den Sinn eines Textes, weil er den Text nicht als D i alogpanner und sich nicht als Angeredeten versteht, sondern als Subjekt einer Operation in das adialogische Verhältnis zu einem Operationsgegen stand tritt, welcher als Gegenüber abgeblendet ist48• Die Kommunikation von ego mit aJter bezweckt nicht, daß dieser sich i n ego h ineinversetzt und den Produktions vorgang seines 5agens reproduziert, sondern sie bezweckt erstens, daß alter seine (egos) Rede als A n rede an sich (alter) aufnimmt, sich also als Adressat ei nbeziehen läßt i n den Dialog, und zweitens bezweckt sie notwendigerweise, daß alter das Kommuniziene in seinem A nspruch ernst nimmt.
4 . Wahrheit versus Methode? Zur Aporetik der Philosophischen Hermeneutik Gadamers Die von G adamer entworfene Philosophische Hermeneutik ist eine Antwon auf die seit dem H istorismus u n reflektiert vorgenommene konstruktivistisch methodische A bstraktion von den A n s p rüchen überlieferter Texte. Freilich entwickelt Gadamer nirgends die Pragmatik der Modalität und der Geltung von Texten. Er richtet sich gegen die E ntmachtung orientierungsrelevanter Trad itionen, deren Geltungsan spruch von der herrschenden Interpretationseinstellung sogleich eingeklammen werde, so daß uns überlieferte Texte nichts mehr sagen und wir Heutigen, die auf die Obersetzungsleistung der I nterpretationskunst angewiesen sind, sie nicht mehr ernstnehmen. Dm:h die eindrucksvo lle Kritik .an der hermeneutischen Methodik, die Gadamer in diesem Sinne übt, mehr noch sein Ansatz einer Philosophischen Herme neutik, der aus solcher Kritik sich entwickelt, leidet - neben Eklektizismen, verw i r rend u nsystematischem Vorgehen und souveränem, wenig hermeneutischem Um gang mit Vorläufern w i e D i lthey - vor allem an Kategorienfehlern. Hier sei auf die Konfundierung von ' G e ltung' resp . ' G eltungsanspruch' mit 'Wahrheit' resp. 'Wahr heitsanspruch', auf d i e Ineinsetzung von 'Methode' mit 'konstruktivistischer Me-
4?
4R
Dazu F.. lask, "Zum Sym'm der logi k " , i n Gesa",,,,e/te Schn/ten, Bd 3 , Tübingen 192., S. 57- 1 70. An die- Gdlung$phi losophie l:l$ks knüpft J. H abermas' Uni'Yersalpragmalik ''"' die- den Vef'iuch einer (qua�i tran)z.:ndentalen) A nalyse de-r allgemeinen "Gdtungsbasis der Rede" unternimm t : "'W'as heißt Uni,'eualpragmalik?" i n K . O . Apd ( H g . ) , Sp,."chp""g",,,rik 'md Phi/oJoph,e. Vgl. "um V.:rf. "Zu cine-r p h ilosophischen Rekonstruklion dcr Handlung", s . o. (Anm. 1 0 ) .
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DIETRICH B ÖHLER
thode' und auf die G leichsetzung von 'Sinn' resp. ' Bedeutung (eines Textes)' mit 'Sache (eines Textcs)' h ingewiesen. Emphatisch setzt Gadamer dem Selbstverständnis der Hermeneutik als Lehre ei ner Methode des Verstehens ein phänomenologisch und scinsgcschichtlich orientier tes Selbstverständnis der Hermeneutik als Trad itionsverminlung entgegen. Der her meneutischen Praxis weist er die Aufgabe zu, für den Anspruch des Trad ierten. Wahrheit zu vermitteln, erneut empfänglich zu machen, damit sich die Gegenwärti gen vom Vergangenen, dem sie über eine Wirku ngsgeschichte faktisch ohnehin zuge hören, auch ausdrücklich etwas sagen lassen49• Die Aufgabe der Philosophischen Hermeneutik sieht er insbesondere darin, durch transzendental henneneutische Re flexion das Bewußtsein für die Geschichtlichkeit möglicher I nterpretation zu wek ken; näm l ich dafür, daß auch konstruktiv methodisches Interpretieren vorgängig und unvermeidbar i n den Prozeß der "Wirkungsgeschichte" als eines "Oberliefe rungsgeschehens" und "Wahrheitsgeschehens" einbezogen ist, wenn das herr schende Verständnis auch nichts davon wissen will50• D iese Position markiert der Titel : Wahrheit versus Methode. Kurzschlüssig ist diese Position sowohl als Opposition wie auch als Begriffsbe stimmung. So wird der Methodenbegriff wie selbstverständlich mit dem Begriff einer operationalen Methode gleichgesetzt. Eine Folge ist, daß die Philosophische Herme neutik keine systematische Reflexion möglicher hermeneutischer Methoden leistet, sondern auf die faktische Entwicklung der Geistesw issenschaften, deren Gang sie doch kritisiert, negativ fixiert ist und den so entstandenen Methodenbegriff einfach aufgreift, so daß sie selbst abhängig vom Kritis ierten bleibt und die Geistesw issen schaften ohne methodologische Orientierung läßt. Eine weitere Folge ist, daß Gada mer nicht begreifen kann, was er, zumal im zentralen Kapitel " A nalyse des wir kungsgeschichtlichen Bewußtseins" selber tut, nämlich den Rahmen für eine Me thode der explikativen historischen I nterpretation zu entwickeln. Hans Robert Jauß hat in diesem Rahmen inzwischen tatsächlich eine re1.Cptionsästhetische Methode im Sinne einer " H ermeneutik von Frage und Antwort" entworfen 5 1 • Unbegründet ist a u c h Gadamers Gleichsetzung v o n ' Anspruch (des Oberliefer ten)' im Sinne von ' G eltungsanspruch' mit ' A nspruch auf Wahrheit'. Allein der Sinn konstativer Äußerungen resp. Texte wird durch den Gchungsanspruch, Wahres dar zulegen und deshalb wahr zu sein, konstitut iert. Der Sinn anderer Äußerungsformen (z. B. Befehl, Wunsch, Versprechen) und anderer Textfonnen wird durch andere Geltungsansprüche konstituiert. Eine Monopolisierung des Gehungsanspruchs auf Wahrheit ließe sich nur begründen, wenn d ie klassische sprachlogische und sprach4'J '>Il
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Gadamer S. X X I , X X V ff. Gadamer S. X I X . X I I I , Z ff., Kap. 1 1 . I, S. 355, 4 3 5 ff. , 4 8 3 ff. Kritisch da7.u J . H abermas, Zlfr LogIk Jer Sozwlumsensch4u" (BeihC'ft 5 der Phllosophuche" RIf"dscha" 1 967), S. 1 72 f . - K . · O . Apel. "S1.ien tistik, Hermeneutik, Ideologiekritik", in den., Transformatlo" Bd 2 , hier S. 1 09 - 1 2 0 . - R. Warning, I n ders. ( H g . ) Rezeptlonsasthetik S. 1 9-25. S . o . (Anm. 3 ) .
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philosophische U nterstell ung des konstativen Satzes (" Aussage" , "UneiI", " Propo sition", " Prädikation") als Paradigma der Sprache und damit die Verabsolutierung der Sprachfu nktion des Beschreibens von Wirkl ichem zu Recht bestünde. Eine sol che Annahme darf seit den sprachpragmatischen Untersuchungen und Reflexionen, wie sie Wingenstein und Austin, Hare und Searle, aber auch Rosenstock-H uessy, Adolf Reinach und Hans Lipps, Apcl, H abermas und Gadamer selbst51 angestel l t haben, a l s gründ lich widerlegt gehen. Gadamer gerät in Widerspruch mit seiner Kritik der Verabsolutierung der " G rundstruktur des Zuordnens von Prädikaten zu einem Subjekt" durch den Logos-Begriff und den davon ausgehenden " griechisch christlichen I ntellektualismus"�l, wenn er 'Geltung' mit 'Wahrheit' konfundien, 'Wahrheit' mit Heideggers ' Erschlossenheit' gleichsetzt!t4 und wenn er ' A nspruch' nur semantisch als ' A nspruch auf Wahrheit' versteht. Die einseitig semantische, und zwar gegenständlich semantische Auslegung von ' A nspruch eines Textes' rührt vor allem daher, daß Gadamer stillschweigend vom M uster philosophischer Texte, etwa platonischer Dialoge, ausgeht, und daher, daß er nicht zu einer Pragmatik der möglichen verschiedenen Funktionen eines Textes und der verschiedenen Typen von Texten gelangt. Deshalb thematisien er auch nicht das Ganze eines Textes als I nterpretand um, sondern sieht das Ziel der Interpretation nur im Zur-Sprache- Bringen "der Sache des Textes" zum Zweck der Herstellung eines " E i m'erständ nisses in der Sache"s5. Er geht dabei von einem gegenstandstheoreti schen Bedtutungsbt."griff aus, den er von Husserl übernimmt. Ebensowenig wie d ieser begreift er Bedeutung von der gesprochenen Sprache, vom d ialogischen Ver hältnis her, sondern konzipiert die Bed eutung eines Gesagten resp. Geschriebenen nach dem kl assischen Modell des Sehem von Dinge"s". Die A bhängigkeit von jenem Modell bringt Gadamer in einen weiteren Wider spruch, weil sie ihn :r. wingt, d i e Geschichtlichkl'it dC's VC'rstehC'ns in unge.'sl·hi,ht lichen B cgriffen zu kon:r.ipieren. Sowohl dJ.s sekundäre.' Verstehen von Oberliefenem als auch das primäre Weh\'erstehen, das im Lebensvollzug des Daseins " m itgängig" immer schon geleistet wird, entwickelt Gadamcr nach dem Husserlschen Schema der Intentionalität. Das Schema bezieht sich zwar auf e i n geistiges Sehen, ist aber, wie nicht anders möglich und wie in der Trad ition der antiken ÖEOOQLU üblich, auf das Modd l deo;, sinnlichen Sehens gegründet57• Gadamer verfä l l t bei der begrifflichen Bestimmung der Geschich tlichkeit des Verstehens im " handelnden Voll zug" des I,
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H . C' . G.1d.1mer. K/�/1I� SchP1/ull. Tubin�en 1 967. Bd
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Dlc,e (;Ielc h\l.� t .r. u n g hier .f U c-rorll:rn, durfu' \Il·h nach K . · O . Ape!) K m i k a n Gadamer, und
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(, bJ . 'i. 2 7 1 . . 3 1 .
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E. Tugendhat, Dr" 311 H., §§ 1 !;- 1 8 , bc-s. S . 399 H. Zu Gad.1· Im'r u n d Heldegger: K . -O. A pe!, Trolmformat;oll drr Ph./OJoph.e. Bd I, E i n l e l l u n g Kap. 4 und 3 . , \ G.1Jamer S . ! 7 (, ( H . ) , y � l . S . 3bO, l&1 . lb4 f . • 4 2 1 . .... Z u r K r i l i k d i r �t'5 Model l s : E. Tu�end h .1 l , Vo"/eJI4"gell z"r E",/.h"""g 111 d.e Jpracha_Iytuche PhlioUl' ph.e. Fr.mkfU ri/M . 1 97&. be�. 9. bl\ 1 1 . Vnrlt'�ung. ,. I ht'� "'el" F . Tugendhat k r i , i �ch .l.uf : " PhanomC'nologle unJ Spn.chanalpc", i n Hermrllel4t,1t "nd nw/�lttllt, hGii. R. Bubnrr U . .1., Tubin�en 1 970, Bd 2 , 5. 3-2 3 . TUj;l'ndllau K r l l l k an H c-idc-ggc-n Wahrhrllsbrgriff c-rubrigc-n. Zu Hl'ldr�ge r ;
V,'oJhrht'ltJbrgr;/f br. Hl4urrl l4l1d Hr.drggl!"r, Bt'rhn 1 970,
S.
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Daseins und der darauf beruhenden Interpretation gerade jener nicht sprach- und geschichtsmäßigen sondern "vorstellungsmäßigen", "okularen" Einstellung der theoria-Trad ition. gegen die Graf Paul Yorck von Wanenburg die Kategorie der Geschichdichkeit gestellt und ein geschichtsmäßiges Denken postulien haues" "Ge schichtliches Dasein hat stets eine Situation, eine Perspektive und einen Horizont. E s ist wie in d e r Malere i : Perspektive, d . h . die O r d n u n g der D i nge n a c h ' näher' und 'ferner' schließt einen Augenpunkt ein, den man einnehmen muß. So aber trin man in ein Seins'Verhältnis zu den Dingen und gehört ih rer Ordnung an. indem man sie sich zuordnet" 59, I n Wahrheir Nnd Merhode bestimmt er mit diesen visuellen Meta phern. welche die Relation des Verstehens nur räumlich und gegenständlich zu denken erlauben. auch den Vorgang des historischen Verstehens resp. Interpretie rens : als "Verschmelzen" des besonderen gesch ichtlichen " H orizonts" eines Textes mit dem " Horizont" des I nterpreten. Den sprachlichen. begrifflichen Vorgang des übersetzens historischer Ausdrücke derselben oder einer anderen gesch ichtlichen Sprache denkt er nicht vom reflexiv interpretativen Sprechen. sondern vom Schauen her. Das Resultat des so begriffenen Vorganges. die " H orizontverschmelzung"60 . ist als Vereinigung zweier Blickfelder zu einem neuen Blickfeld gedach t : d . h . aber als Herstellung eines RaHmes gemeinsamer Wahrnehmung. Dort aber herrscht der Zeit modus Gegenwart. Denn die Wahrnehmung präsentiert das G eschehene : Sie konsti tuiert die Gleichzeitigkeit des Geschehenen i n einem Zeit-Raum. Gadamers okulare Begrifflichkeit verrät seine Intention. H atte er an Schleierma cher und der historistischen Hermeneutik kritisiert. daß sie die konstruktive Me thode übernähmen. um das ungeschichtliche Ziel des Sich-mit-dem-Interpretandum G leichzeitigmachens zu erreichen. so suggeriert G adamers G ru ndbegriff der Hori zontverschmelzung ebenfalls eine resultierende G leichzeitigkeit von I nterpret und Interpretandum. Diese Suggestion überspringt die historische Differenz der verschie denen Sinnwehen. und sie klammert den dudogischen Prozeß der I nterpretation als übersetzung von und Auseinandersetzung mit Tradiertem aus. Die henneneutische Interpretation sollte sich nach Gadamer gerade dadurch auszeichnen. daß der Inter pret den Prozeß der I nterpretation sowohl reflexiv vollzieht. indem er kritisch seine Vormeinungen und damit seine Situierung in einer gegenwärtigen Sinn welt sich bewußt macht 6 1 • als auch explikativ verfähn. indem er die Bezugssituation und die Sinnweh seines Interpretandum aufarbeitt"t. u m es als A ntwort darauf verstehen I. U können'-l. Eine zugleich reflexiv kritisch e und historisch explikative I nterpretation würde aber nicht zur Versammlung von A usleger und Auszulegendem i n einem ,� Gral P. Yorck von Wanl!nburg. Bru·lIptst-mmt-ll.ng lind Grsch,chu, hg. I. FrlSchC'r, TübingC'n 1 95&. Vgl. auch GadamC'r, S. 2 4 7 1 . , 2 l 7 ff . .... Gado1mer, Klrmr Schriftrll Bd 1. 5. 8 ( H ervorhebungen im Zilolt von mir). Vgl. Gal,:I.Imer S. 2 3 1 f1.,
286ft ..c 61 0..:
' Huril0nlverschmd:r.ung' iu ein G rundbrgriff in G adolmeu LehrC' dr� historischen VC'rlill!hC'ns: G old", mrr S. 286-2'Kl. 3 5 6 f . • 359, polSslm. GadOllm rr S . 284 ff., 250ff. F.bd. S. J51 ff . . 2 5 2 .
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Zeitraum führen, sondern zunächst zur Einsicht i n die h istorische Differenz durch Klärung der verschiedenen Welten, welche sodann eine angemessene übersetzung und A useinandersetzung möglich m acht6l• Nun hat gerade Gadamer die A ufdeckung der h istorischen Differenz als herme neutische A ufgabe gestellt604• Nicht die A nerkennung dieser Aufgabe ist also der strittige Punkt. Es geht auch nicht um die terminologisch puristische, philosophisch gar nicht zu rechtfertigende, Forderung einer metaphernfreien Sprache. Behauptet sei vielmehr, daß die okulare Metaphorik einem unkritisch verfolgten I nteresse des Autors an der Kontinuität klassischer Bildungstradition und einem unkritischen, verkürzten Verstehensbegriff entspricht, der weder die volle, nämlich zukun/tsdomi niene und daher diskontinuierliche Geschichtlichkeit des nicht-dogmatischen Tradi tionsverstehens n o c h dessen notwendige Beziehung a u f Normen und Beurteilungs kompetenzen zu denken erlaubt. Beide Defizite verweisen aufeinander. Denn zur vollen Geschichtlichkeit des Verstehens gehön wesentlich die virtuell kritische Zu kunftsoffenheit beider D ialogpartner als Gleichberechtigter. Als solche sind sie zu kunftsoffen, weil sie sowohl dem anderen Neues zu verstehen geben und sein Mitge teiltes i n neuer Weise verstehen als auch selbst Neues erfahren können. Deshalb ist der Begriff der Geschichtlichkeit des Verstehens logisch untrennbar von dem Begriff der Reziprozität von Geltungsanspruch und Beurteilungskompetenz. Eine Theorie des Verstehens, die das Verstehen nicht von der dialogischen Reziprozität gleichbe rechtigler Partner her konz.ipiert, kann weder dessen Zukunftsdimension noch des sen Ge ltungsd imension erfassen. Dafür gibt Gadamer ein Beispiel. Er konstruiert den kategorialen Rahmen einer Hermeneutik der Kontinuität : durch Erhebung des eingesch ränkt dialogischen Verhältnisses der dogmatischen Auslegung zum Para digma will er ein Kontinuum der Geltung des überlieferten begründen; durch die Erhebung des, auf H ege! zurückgehenden, Begriffs des sich selbst deutenden Klassi schen6041 zum Paradigma will er ein Kontinuum des überlieferten Sinns begründen. Beide Paradigmen verkürzen die dialogische Wechselseitigkeit von Interpretandum und I nterpret und den damit gegebenen Zukunfts bezug sowie das, aus diesem fol gende, Moment der D i skontinuität der Trad itionsvermittlung. das sich i n Verände rungen des tradierten Sinnes zeigt. Gadamer geht, w i e wir feststellten, von der VergJeichgültigung des trad ierten Sinns aus, die eine Folge der, von der romantischen Hermeneutik initiierten und mit der h i storischen G ru ndlegung der Geisteswissenschaften zur Herrschaft gelangten, konstruktivistischen Methodologie ist. Die aus der a-dialogischen Einstellung zu kulturellen Trad itionen resultierende Verknappung, j a letztlich Auflösung verbind61
Dazu d i e erhellende . von H eideggers Besümmung der Zeidichkcit des verstehenden Daseins ausge· hrnde Kritik F. HogemOinns. D.u Problrm drr " prrcrptio n " In der Ph.inomrnolog,r Mauna Mrr/rau· Pontys. (Diu. p h i i . ) Koln 1 9 7 3 . S. 264-28". vgl. 246-248 . ... GadOlmer S. 286-290. passim . .... Vgl. G. W. F. Hegd. Vnnrllftlgrn Ilbrr dir AsthrtiJt, Z ..... eiter Tei l . Z�'rlter Abschnitt - Einleitung (in der A usgabe von Fr. Busenge. Brrlin/Weimu 1 955. S. 4 1 8 ff . ) . - Vgl. GadOlmer S. 27Jf.
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lichen oder doch orientierungsrelevanten Sinns, zu nächst aJs Historismus- und Nihi 1ismus-probem diskutiert und poC'tisch zumal in Roben Musils Der Mann ohne Eigenschaften dargestellt, ist zweifellos ein praktisches G ru ndproblem der moder nen, an einem konstruktivistischen Wissenschaftsbegriff orientierten. Zivilisation. In seinem Versuch, dies Problem philosoph isch zu beantworten, schüttet Gadamer freilich das Kind der Romantik, nämlich die Idee einer Methode der Interpretation und der Hermeneuti k als Methodenlehre. mit dem Bade des konstruktivistischen Geistes aus, indem er die dogmatische und klassische Traditionsvcrminlung der Hermeneutik als Paradigma empfiehlt.
4.1 Die U ntauglichkeit der dogmatischen A u s legung als hermeneutisches Paradigma Zur überwindung des Sinn- und Orientierungsdefizits, jener Folgelast h istoristi scher Geisteswissenschaften, intendiert Gadamer einen Einstellungswandel. A n die Stelle der a-dialogischen Einstellung einer objektivierenden, genetischen Nachkon struktion, " die sich von vornherein aus der Situation der Verständigung zurückgezo gen hat"6�. rückt er die eingeschränkt dialogische Einstellung der Ergebenheit, die Angehörige einer institutionalisierten Sinn- und Handlungsgemeinschaft den autori tativen Weisungstexten dieser Gemeinschaft entgegenbringen. Hier zeigen sich nun die Folgen einer traditionell geistesgeschichtlich verfahrenden Philosophischen Her meneutik, die nicht zu einer sprachpragmatischen A nalyse der konstitutiven Bedin gungen verschiedener Textarten gelangt. Weil er auf eine solche Analyse verzichtet, kann Gadamer unversehens einen besonderen Typus von Texten als M uster für Texte überhaupt unterstel len. Es ist der Typus solcher Texte. die i n einer konkreten Lebensgemeinschaft autori tativ gelten. weil die Ident ität der Gemeinschaft ebenso wie deren Orientierung und Handl ungsweise von ihnen abhängt. Solche handlungsbezogenen institutionellen Texte haben die Funktion einer verbi ndlichen lebenspraktischen Orientierung und zureichenden Festlegung der Sinngrenzen der Gemeinschaft. Zu dieser K l asse von Texten zählen insbesondere Gesetzes- oder U rteilstexte einer Rechtsgemeinschaft und in gewisser Weise heilige Schriften einer G l aubensgemeinschaft. Die A l lgemein heit und/oder der M ustercharakter und/oder die h i storische Differenz und/oder der je besondere, geschichtlich einmalige Situationsbezug solcher Texte machen sie aus legungsbedürftig und deutungsoffen. Der A us legung institutioneller Texte, deren Geltung in der Gemeinschaft vorausgesetzt ist, stellt sich die Aufgabe, die Differen zen zwischen Text und je gegebener Situation so zu überbrücken, daß sie aktuell zu hand lungsorientierender Wirkung gebracht, nämlich auf die gegenwärtige Situation des Interpreten angewendet werden. Diese A ufgabensteIlung der situativen Aktuali.� F.bd. S. 287.
PHILOSOPHISCHE HERM ENEUTIK U N D H E R M EN E UTISCHE M ETHODE
sos
sierung, A neignung und Anwendung eines verbindlichen praktischen Sinns wird reflektiert und methodologisch bewältigt von der dogmatischen Hermeneutik, die von der jüd ischen und christlichen Theologie ebenso wie von der Jurisprudenz entwickelt worden ist und als deren sozialph ilosophischer Vorläufer die A ristoteli· sche Phronesis lehre betrachtet werden darf66• Gadamer betrachtet seine Erönerung der dogmatisch hermeneutischen Aufgabe bereits als "Wiedergewinnung des hermeneutischen Grundproblems" schlechthinlo7, U nbestreitbar und für die Hermeneutik wie für die Interpretationspraxis gleicherma· ßen wichtig ist das generalisierbare Ergebnis dieser Erönerung: die Einsicht, daß alles Textverstehen eine aktualisierende Aneignung des Textsinnes durch den I nter· preten h i nsichtlich möglicher Situationen i n seiner Welt einschließt. Unangemessen ist es aber, daß Gadamer dieses Ergebnis in Begriffen der dogmati schen H enneneutik, nämlich als applicatio, vonrägtlo8• Von Anwendung im spezifi· schen Sinne kann nur in bezug auf einen strukturienen Handlungszusammenhang geredet werden, innerhalb dessen sich Situationen ergeben, die vermitteIs eines, im Zuge einer A bwägung konkretisierten, verbindlichen Schemas bewältigt werden sol· len und können"'. Ein solches Schema oder Muster gibt der handlungsbezogene institu tionelle Text. Seine Standardfu nktion ist, Handeln in je besonderen Situatio· nen paradigmatisch zu orientiere n ; weshalb behauptet werden darf, daß es geradezu sein Sinn (in der· Bedeutung von "Wozu") ist, appliziert zu werden. Von dieser direkten praktis.:hen Bestimmung eines solchen Textes leitet sich sein Gdtungsan· spruch her. Er beansprucht nämlich. als verbindliches und taugliches Schema für das konkrete Hande l n in Situationen z u gelten. Insofern unterstellt ein handlungsbezo. gener institutioneller Text ein spezifisch eingeschränktes dialogisches Verhältnis 7.U seinem I nterpreten, das mit Gadamer als " konstitutive Unterlegenheit dessen, der versteht, gegenüber dem der sagt und zu verstehen gibt" beschrieben werden kann 70. Denn ein solcher Text nimmt den wesentlichen Sinn der Handlungen vorweg: er setu diesen das Ziel oder begrenzt z umindest die Menge erlaubter Ziele; u. U . be grenzt er auch die Menge der erlaubten M i tteV' . Dem institutionellen I nterpreten und/oder dem Akteur, der an einem solchen Text sich orientiert, verbleibt lediglich die Aufgabe, den Deutungsspielraum d u rch kluge Situationseinschätzung und Mit telreflexion sinngemäß und situationsgerecht auszufüllen; so nämlich, daß die Deu tung als richtig im Sinne des handlungsorientierenden Textes und als zur Handlungs situation passend gelten kann. Dieser charakteristische Geltungsanspruch dogmati scher A uslegung ist in der juristischen Hermeneutik als Kanon des " rechten und .... Die Entd«kung der 11C:rmenl;, u t i s,hen Rt"leun7 der A r i stotdi�4'h" n E t h i k \'erdankrn ..... Ir Gadamer, v g l . .l e u . S. 295 ff.
�. F bd . s 290 ft . ... F bd . � . S. lCl l. .� "Rtpllk", 1n
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K . -O. Apd u . a . , HtnTIcnt .. " II .. nd IJcolog,("II"tlII �. 1 0 1 .
H ierbC"i kann tS s i , h ni,hl u m tindtuligt 8egrc n 7 u n gen handeln, �ondern n u r um paudigmalis,he I m
S i n n e W i l l gensl t i n � ; v g l . C' 1 9o' a
Ph,!ofophlJrhC' Un,rm,ch'fflg rn, SS 71 -80.
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billigen" Urteils geläufig, das i n höherer I nstanz als solches ausweisbar sein muß : nämlich als richtige und situationsgerechte Applikation geltenden Rechts. Die zur Erfüllung jenes A nspruchs notwendige Auslegungstätigkeit ist von vornherein prak tisch i nteressiert und situationsbezogen. Denn sie wird von einer. durch Handeln oder Verhalten gleichsam zu beantwortenden Situation ausgelöst und sucht. die Situation vor Augen. Orientierung i n den als verbindlich gesetzten Texten, i ndem sie diese auf die konkrete Situation bezieht. Zweifellos fungieren Situation und normati ver Text im Prozeß der Auslegung als dialektische Momente, die sich wechselseitig voraussetzen, so daß die Situation von vornherein i n bezug auf den normativen Text als eine bestimmte Handlungssituation (etwa als Fall i . S. einer A bweichung von Rechtsnormen) verstanden wird, wie umgekehrt j e ner gleich im H i nblick auf die zu bewältigende Situation befragt und gedeutet wird. Der praktische Situationsbezug ist also kein isolierbares Erstes, wohl aber ist er für die dogmatische Auslegungspraxis leitend: Die zu bewältigende Situation ist das Thema, und geleitet vom I nteresse an deren Bewältigung wird der Text ausgelegt. I nsofern verhält sich der dogmatische Ausleger zum handlungsbezogenen institutionellen Text wie ein Ratsuchender zu einem zu beherzigenden allgemeinen Rat, dessen Allgemei nheit er freilich selbst aufheben muß, indem er ihn auf die je besondere Situation anwendet. H ingegen eignet der geisteswissenschaftlichen I nterpretation. auch wenn sie nicht auf genetische Nachkonsuuktion verkürzt, sondern als method ische Hochstilisie rung eines D ialogs mit dem Text durchgeführt wird, keinesfalls jener direkte Praxis bezug. Es hieße, die wissenschaftliche I nterpretation historischer Texte gründ lich m ißverstehen. wollte man ihr - und sei es i n emanzipatorischer Absicht - eine direkte praktische Funktion auferlegen. Ihr Thema. also ihr Gegenstand, und ihre konstitutive Fragestellung, also das I nteresse, welches sie an ihrem Gegenstand nimmt, schließen einen solchen Praxisbezug aus. Denn ihr Thema ist nicht eine gegenwärtige Situation, sondern das Interpretandum selbst. Und ihr leitendes Inter esse richtet sich keinesfalls auf die anwendungsorientierte Konkretion eines Textes als verbindliches Handlungsschema um einer Situations bewältigung willen, es richtet sich vielmehr auf die Konkretion des Textes als eines fremden Textes um seiner Verstehbarkeit willen und zum Zwecke seiner Beurteilbarkeit. I nsofern die über setzung eines Textes über die historische D ifferenz eine notwendigerweise aktuali sierende Erschließung ist. enthält sie eine situationsbezogene A neignung, die jedoch keine direkte A nwendung eines, vorweg als verb i ndl ich gesetzten, handlungsleiten den Sinns ist.
4.2 Verstehen versus Zustimmen Damit kommen wir, nach der unterschiedlichen Bestimmung von Thema und leiten dem I nteresse des dogmatischen und des nicht dogmatischen Traditionsverstehens, zu einem drinen U nterscheidungsmerkma l : der vorgängigen A kzeptierung des Gel-
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tungsanspruchs einerseits und der V i rtual isierung sowie möglichen Prüfung des Gel tungsanspruchs andererseits. Denn eine anwendungsorientierte Sinnerschließung setzt voraus, daß der betreffende Sinn als Sinn, der angewendet werden kann und angewendet werden sollte, schon akzeptiert worden ist. D iese Geltl4ngsl4nterstelll4ng hat die institutionalisierte Handlungsgemeinschaft, der ein dogmatischer Ausleger zugehört, immer schon gemacht. Ein wissenschaftl icher Interpret gehört keiner institutionalisierten Handlungsge meinschaft, sondern einer praxisdistanzierten Interpretations- und Argumentations gemeinschaft an. Ein w issenschaftlicher I nterpret in d ialogischer Einstellung kann daher auch nicht von der Voraussetzung einer vorvollzogenen A kzeptierung des Geltungsanspruchs seines Interpretandum ausgehen, sondern erschließt d iesen An spruch als konstitutives Moment des zu verstehenden Sinns und nimmt den An spruch ernst, indem er i h n prüft. Demgemäß hätte eine Ph ilosophische Hermeneutik zu unterscheiden zwischen dem anwendungsorientierten, eingeschränkt dialogischen Verhältnis der dogmati schen Auslegung und dem textorientienen, reziprok dialogischen Verhältnis einer w issenschaftlichen I n terpretation und A rgumentation. Gadamer überspielt jene Un terscheidung, indem er auch die geisteswissenschaftliche I nterpretation nach dem Muster der dogmatischen Auslegung begreift : "Die Hermeneutik im Bereich der Philo logie und der historischen Geisteswissenschaften . . . ordnet sich selbst dem beherrschenden Anspruch des Textes unter. Dafür .aber ist die juristische und die theologische Hermeneutik des wahre Vorbild. Auslegung des gesetzlichen Willens, Auslegung der göttlichen Verheißung zu sein, das sind offenkundig nicht Herr schafts - , sondern Dienstformen. I m Dienste dessen, was gelten soll, sind sie Ausle , gungen, die Applikation einschließen m. E i ne derartige Festlegung der H enneneutik auf das Paradigma der dogmatischen A uslegung enthält einen fundamentalen Kategorienfehler73, nämlich die Verwechs lung von Verstehen und Zustimmen, Verständnis und Einverständnis74• Der dogma tische Ausleger versteht und ist, verstehend, bereits mit dem, was er auslegt, einver standen. Aber das Einverstandensein ist keinesfall s die notwendige Bedingung einer dialogischen Einstel lung zu dem, was verstanden sein w i l l . Dialogisch kann man sich auch zu ausgedrücktem Sinn verhalten, den man i n seinem A nspruch versteht, ohne d iesen 30m Ende gelten zu lassen. Die notwendige Bedingung für das Verstehen ist es, 1; G�d�mef •,
S. 295 .
Vgl. dll� E i n fuhrung d n Tenninus K .l teGorienve""ech.�lung fe�p Kuegorienfehler (utegory · m i �t�ke) in: G . Ryle, D�,
Bcg'4' J�I G�ut('1
(dt. Oben. " o n Th�
COFIcept o{ MrnJ, 1 949),
5tuttglon 1 969,
S. 1 4 ff . , 1 9 ff., 99ff., 2 7 9 f f . "
Guhmer b('lon�prucht die U n terschc-i d u n g ' V rfstehc-n e i n e s . \ n s pruchs· vefSUS ' A kzeplieren e i n e s A n · spruc h s ' s c l b s l lon m lo n c h e n SIelIen, s o w e n n C f u b e f du Verstehen c- i n c s ßc-fc- h l s sprichl (5. l I 6 f.), .aber er mlochl und befucksiehligl s;(' nicht bei d e r A u ufbeitung des " h efmcnc-utischc-n G rundproblems" ( K lop .
1 1 . 2).
Zudem vefstellt ef sich d ., .. Mogli..-:hkt'il 1.U lc-nC-f U n t erscheidung bc-fc-ils bc-i dc-r Einfuh·
run� des Vc-fStehensbt.'gfi f f s : " V('fstehen heißt lunli.:hst, sich miteinlonder verslehen. Verstandni ... ist ;runloc!m Ein'·er�tän d n i 5 . " ( 5 . 1 68)
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D I ETRICH BÖHLER
e i n e n verstehb a r e n A u s d r u c k i n s e i n e m A nspruch zu ersch ließen und s i c h selbst als Adressat auf den erhobenen A nspruch ei nzulassen. Sich selbst als Adressaten eines A nspruchs zu verstehen, heißt nicht, den A nspruch akzeptieren zu müssen, wohl aber, ihn ernst zu nehmen. Ernst nimmt einen A nspruch auch, wer seine Berechti gung prüft - wer also argumentiert und nicht von vornherein akzeptiert. Wer eine argumentative Prüfung, einen Diskurs zum Zwecke der begründeten Beurteilu ng, vornimmt, verhält sich auch auf der Ebene der Geltung dialogisch. Und nur ein Verstehender, der solche Beurteilu ngskompetcnz hat und von ihr Gebrauch macht, kann ein Gesagtes oder Geschriebenes i n seinem Geltu ngsanspruch resp. den Urhe ber hinsichtlich seines Geäußerten anerkennen. Eine bloße Applikation bleibt die dialogische E ntsprechung schuldig, weil ein A nspruch als Geltungsanspruch nur in einem Diskurs anerkannt werden kann. Denn ein Geltungsanspruch enthält die Behauptung, daß etwas anerkennungs'würdig sei, d. h . daß es in der (idealen) Argu mentationsgemeinschaft kompetenter und vernünftiger Menschen die beanspruchte Anerkennung - etwa als wahre Aussage, als gute Handlungsorientierung, als ge lungene Satire auf . . . , als schönes Gedicht - auch finden würde. Geltung in diesem Sinne beanspruchen, worauf bereits Emil Lask aufmerksam gemacht hatte, nicht allein Reden, sondern auch Kunstwerke7!>. Daraus folgt, daß eine Philosophie, die die dialogische Beziehung zwischen An spruch und A d ressaten begreifen will, aber die Reziprozität von Geltungsanspruch und dessen Beurteilung (in einer kompetenten Interpretations- und Argumentations gemeinschaft) nicht entwickelt, ihr Ziel verfehlt. Es folgt ferner, daß sie ihren An spruch, eine Philosophie des Verstehens zu sein, nicht einlösen kann. Denn das Verstehen des Sinns von etwas verlangt eine dialogische Einstellung. Schließt der Sinn von etwas einen Geltungsanspruch ein, so ist zur Sinnerschließung das dialogi sche Verhalten zum Gcltungsanspruch notwendig. Dieses aber ist die argumentative Prüfung zum Zwecke der BE'urteilung.
5 . Geschichtlichkeit und Geltung. Neubestimmu ng des philosophisch hermeneu tischen Problems Im Unterschied etwa zu der antizipatorisch eingestellten Hermeneutik Ernst Blochs und der kontinuitätskritischen Hermeneutik Walter Benjamins, deren nicht-meta physische Reformulierung ein großes Desiderat ist, verkürzt Gadamer den Begriff der Geschichtlichkeit des Traditionsverstehens im Sinne einer substantialistischcn Kontinu itätsvorstellung, weil er die Rolle des Interpreten nicht als Rolle des gleich berechtigten, beurteilu ngskompetenten D i alogpartners begreift. Entsprechend seiner Annahme einer "konstitutiven U nterlegenheit" des I nterpreten gegenüber dem I n terpretandum behauptet er eine konstitutive Unterlegenheit der Gegenwart gegen 1S
F.. L :l5 k. " Z u m SYSlcm dcr Logik" ,
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über der Vergangenheit, der jene immer schon zugehöre und aus der sie ihren Sinn beziehe. Das unbezweifelbare Prius der Uberlieferungsgeschichte, die Traditionsver m ineltheit allen Verstehens, verabsolutiert Gadamer zum Primat überlieferten Sinns, indem er ' G eschichtlichkeit des Verstehens' als Ohnmacht des Verstehens gegenüber der es durchherrschenden Vergangenheit bestimmt : als Einbezogensein des Verste henden und seines Tuns in das Kontinuum des " U berlieferungsgeschehens", welches zugleich " Wahrheitsgeschehen" sei?6. Damit nimmt Gadamer die, von Hamann bis zum frühen Heidegger einerseits, bis zu Bloch und Benjamin andererseits gedachte Zukunftsdominanz der Geschichtlichkeit des Verstehens, insonderheit des h istori schen Verstehens, zurück und setzt eine Vergangenheitsdominanz i m Sinne der Hei deggerschen " Geworfenheit" an deren Stelle. Zudem vermengt er die Bestimmung des "ln überlieferungen Stehens" , die eine "Vorstruktur" des Rezipierens über haupt angibt und daher für das Verstehen ebenso w i e für das M ißverstehen, für dogmatisches Verstehen wie auch für kritisches Verstehen gilt, mit dem normativen Begriff der Wahrheit77• Wahrheit versteht Gadamer vom späten H eidegger her als eine Offenbarung des Seienden in seiner U nverborgenheit, wie sie i m Kunstwerk geschehe. Solches Wahr heitsgeschehen besteht nach Heidegger, der es charakteristischerweise an der bilden den Kunst (van Goghs Bäuerin, griechischer Tempel) und an l i terarischen Entspre chu ngen ( C . F. Meyers Römischer Brunnen), die uns etwas sehen lassen, erläutert, darin, daß "das Sein des Seienden in das Ständige seines Scheinens" kommt, daß also ein Seiendes in seiner Ganzheit und in zeitlosem Gegenwärtigsein offenbart wird'l. H e idegger erneuert damit den Parmenideischen Offenbarungsbegriff der Wahrhe i t : einer Wahrheit o h n e Beziehung a u f mögliche dialogische Prüfung und Anerken nung, die ontotheologisch als Epiphanie des ewigen Gegenwärtigseins gedacht war". Dieser a-dialogisch, in bezug auf das A llgegenwärtigsein der griechischen Götter, konzipierte Wahrheits begriff ist es, an dem Gadamer, vermitteIs seiner Rehabilitie rung des Klassischen, die H ermeneutik orientieren w i l l : Sie solle empfänglich machen für "Wahrheit", wie sie sich in dem Klassischen zeige, "das der jeweiligen Gegen Wolrt etwas so sagt, als sei c=s eigc=ns ihr gesagt", indem es sie einbeziehe in "eine Art zcitlosel" Gegenwart, die fül" jede Gegenwal"t Gleichzeitigkeit bedeutet" lo. Letztlich dank d iesel" Rehab i l i t iel"Ung des Klassischen i m Kontext des Pal"menideischen Wahl" hcitsbegriffs kann Gadamel" seine, fül" die dogmatische A uslegung zutl"effende, These der U ntedegenheit des Inte1"pl"cten gegenübel" dem I ntel"pl"etandum auf das Vel"hält]� G .l. d a m c r S. 2 74 ff . . 290 ft, 4 3 7 f t . v � l . � e l n e n d u biosen Spidbegriff S . XXII, 9 7 ff . u n d das R i l kesehC' Muno. - E r h e l lend : W . Sc h u l .. . PhiloJoph,C' m JC'rvrrii"JC'rtr" Wrlt. rf u l l i n gen 1 972 . S . 5 3 9 t " n" .. u 0.111.' K r i t i k K . - O . A p d s . Trd1lJ!ormtmoPi Ho.! I � s . S. 3 8 --4 8 . ,� M. . H e idc�ger. " D e r U r s p r u n g dc� Kunstwerks", i n Holzwrgr. �Frankfur1/M . 1 9 7 2 , S . 2 5 . Vgl. a u c h G"damcn Nachwurt .. u r Rcdam - A usgabe 1 96 2 , S. 1 1 7 H . ,... \' � I . G . P i c h t . " D i e E p i p h a n i e der c"'·.gen GC'gc:nw a r t " , i n WdbrhC'lt, VC'n"m!t. VrrdPltwort""g. St U U t;,lTt 1 969, S. 36-87.
�: G.llhmtr S.
274, 2 7 2 . Vgl. d i e: trC"ffendr Kritik von H . R . Jauß in Lurrdt .. rgeschichtr dlJ PrOf/oltdtioPi
S . I S6 U . . 2 3 1 f f .
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nis der geisteswissenschaftlichen I nterpretation zum I nterpretandum übertragen. Denn auch die Beziehung zu einem so verstandenen Klassischen ist die eingeschränkt d i alogische der Ergebenheit. welche eine Kontinuität des Sinns ermöglicht. Gedacht, das heißt begrifflich expliziert werden kann die Annahme einer Konti n u i tät des Sinns nur aufgrund der Voraussetzung einer Kontinu ität der bloß unter stellten Geltung des Tradierten, die wiederum nur gedacht werden kann aufgrund der Voraussetzung des. für die dogmatische Auslegung charakteristischen, einge schränkt dialogischen Verhältnisses zw ischen Traditum und A uslegendem. Wo jenes Verhältnis aber ein reziprok dialogisches ist, die I n terpretation also die Form eines D i alogs Gleichberechtigter hat, dort ist die Kontinuität der bloß unterstellten Gel tung i n Form einer institutionellen Etablierung von vornherein virtualisiert, damit aber auch die Kontinuität des Sinns. Denn der beurteilungskompetente I n terpret prüft und kritisiert gg{. erhobene Geltungsansprüche. Dies kann er nur, wenn er sachlich kompetent ist, d . h . wenn er, j e nach der Beschaffenheit eines Traditum, beispielsweise als dessen poetischer, philosophischer, philo logischer D ialogpartner fungieren kann. Der sich entspinnende Dialog der I nterpretation und Kritik ist als Dialog von G leichberechtigten zukunftsoffen für beide Partner, insofern der I nter pret sich offen hält für Sinnerfahrungen, die er am Interpretandum machen kann, und insofern dieses vom I nterpreten expliziert, kritisiert und ihm Sinn hinzugefügt wird. Wie i n jedem offenen Dialog von Gleichberechtigten kann im Prozeß der nichtdog matischen h i storischen I nterpretation beiden Seiten deshalb Neues widerfahren, sich also Zukunft eröffnen, weil die E rw iderung des A ngeredeten vom Anderen nicht berechnet und i m voraus festgelegt, also durch Extrapolation eines aus der Vergan genheit Bekannten erfaßt werden kann8 l • Allem nach d ürfte das philosophisch hermeneutische G rundproblem d i e Rekon struktion der dialogischen Reziprozität und die Begründung einer ihr gemäßen Me thodenlehre der I nterpretation sein. Die Bestimmung dieses Problems verlangte eine Kritik sowohl der genetisch nachkonstruktiven Hermeneutik Schleiermachers als auch der eingeschränkt dialogischen Hermeneuti k Gadamers. Denn die volle, zu kunftsoffene Geschichtlichkeit der nicht-dogmatischen Trad itionserschließung kann n u r von einer Philosophischen H ermeneutik begriffen werden, die die Rolle des I nterpreten nicht auf die mediale des applikativen Dolmetschers verkürzt, sondern als Rolle des gleichberechtigten, das heißt aber virtuell kritischen, explikativen sowie virtuell sinn verändernden D ialogpartners entw ickelt und die demgemäß auch die Aufgabe des Obersetzens schwieriger h i storischer Texte als eine explikative herme neutische Leistung begreift, welche d i e Kompetenz der Prüfung und der sinngemä ßen Veränderung voraussetzt. Den Weg weist Novalis' kluger Aphorismus über die
. , ' Diillogiker' wir Manin Buber, Fnn-,: R05cnzwrig, G risebilch und RosenSlock · H uess)· haben den
Zukunftsbczug des Grspräths und des Verstehrns brmnt. Dnu M . Theunls§cn, Anikd " lch·Du· Verh ä l t n i s " , in Rrlig.on ' " Grsch,mtr " n d Grgrnw,..., ( 3 . A u f 1 . ) , RJ 3, S. !i!i4 ; Jcrs . . Der Andere, Bcrlin
1 9&5, S . 295-3 01 ; B. Cuper, DaJ diaJoguche Dnrltrn, r-rclbul'); u . a . 1 96 7 , S. 1 69 ff.
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verändernden übersetzungenll1 : "Zu den verändernden übersetzungen gehört, wenn sie echt sein sollen. der höchste poetische Geist . . . Der wahre übersetzer dieser A rt muß . . . der Dichter des Dichters sein und i h n aJso nach seiner und des Dichters eigner Idee zugleich reden lassen können. I n einem ähnlichen Verhältnis steht der Genius der Menschheit mit jedem einzelnen Menschen."
T HOMAS LucKMANN ZUM H E R M E N E UT I S C H E N P R O B L E M D E R H A N D L U N G SWI S S E N S C H A FTEN
Unter Gelehrten, die in einer ehrwürdigen, langen überlieferung des gewissenhaften Umgangs mit Texten stehen, gibt es zwar oft genug A nlaß zu Meinungsverschieden heiten über die rechte Art der Auslegung, über die Abgrenzung von Gattungen, über das Wesen der Applikation. Aber es steht unter ihnen außer Frage, daß Texte den eigentlichen Bereich ihrer geleh rten Bemühungen bilden. Für viele wird es in der Folge zur Selbstverständ lichkeit, daß die Wirklichkeit, nämlich die eigentliche Wirk lichkeit des M enschen, in Texten zu finden sei. Ob dies falsch oder richtig ist, hängt davon ab, was man unter Menschheit und was man unter Texten versteht - selbstver ständlich ist es jedoch nicht. Dennoch dürfte die Wirklichkeitsauffassung der Text gelehrten stil lschweigend und hintergründig von d ieser unausgesprochenen An nahme geprägt sein, jedenfalls ihre Wirklichkeitsauffassung in theoretischer Hin sicht. Denn auch Textgelehrte leben zu Hause gewiß nicht in Texten. Aber die systematisch ausgezei,·hnt'tt" Wirklichkeit der Phi lologen, Literaturwissenschaftler, Theologen und weitgehend auch der H istoriker und Juristen war und ist die Text wirkl ichkeit. Die Methode, Jit: ihnen den Griff in diese Wirklichkeit ermögl icht, ist hermeneutisch. Unter Wissenschaftlern, die auf eine alte Tradition des sachgerechten Umgangs mit Natur 7.urückblicken, gibt es ebenfalls oft genug A nlaß zu Auseinandersetzun gen iJber die rechte Art der Erklärung, uber Messung und Formalisierung, über technische Umsetzung. Aber es steht unter ihnen nicht zur Debatte, daß die Natur in ihren meßbaren Eigenschaften den Gegenstand der Wissenschaft bildet. Für viele folgt daraus wie selbstverständlich, daß die eigentliche Wirklichkeit der Natur - und som it auch des Menschen - in Meßeigenschaften zu finden sei. Ob dies falsch oder richtig ist, hängt wiederum davon ab, was man unter Natur - und Natur des Men schen - und was man unter Meßeigenschaften versteht. Keineswegs ist es aber selbst verständlich. Trotzdem w i rd die gesamte Wirklichkeitsauffassung dcr Wissenschaft ler, jedenfalls ihre Wirklichkeitsauffassung in theoretischer Absicht, von dieser vor dergründ igen Annahme geprägt. Obwohl auch W issenschaftler zu H ause nicht in Meßvorgängen leben, ist die systematisch ausgezeichnete Wirklichkeit der Physiker, Astronomen, Chemiker und weitgehend auch der Biologen, Physiologen und Psy chologen d i e meßbare, raumzeitliche Natur. Die Methode, die es ermögl icht, Natur systematisch zu vermessen und in ihrer Gesetzmäßigkeit zu erfassen, ist hypothe tisch -deduktiv. Sozialw issenschaftier haben es schwerer. Leute, die versuchen, mit menschlichem,
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THOMAS LUCK MANN
gesellschaftlichem, geschichtl ichem H andeln theoret isch und systematisch umzuge hen, verdienen es ja auch ob ihrer Vermessenheit, es schwerer zu haben. Wo sollen sie sich ihre Selbstverständl ichkeiten holen. wie finden sie ihre ausgezeichnete Wirk lichkeit? Borgen sie sich ihre stillschweigenden Annahmen beim A l ltagsverstand. drehen sie der Theorie und der Systematik den Rücken 1. ll ? Holen sie sie sich bei Naturwissenschaftlern, müssen sie all das vergessen, was den Alltagsverstand be kümm ert - und somit gcradl' auch das, was die ausgezeichnete Wirklichkeit der Wissenschaftler und der Tcxtgdehrtcn dann ausmacht, wenn sie nicht gerade w issen schaft l ich oder gelehrt bemüht sind. Und machen sie I!'ine A n leihl!' bei dl'n Textge lehrten. bewegen sie sich in Höhen, die nur ein kleim'r T cil der Menschhl!'it - und auch der nur zu bestimmten Stunden - erklommen hat. Sozial wissenschaft ler stehen i n keiner langen eigenen Uberl ieferung. obwoh l sie sich auf eine philosophische Vorgeschichte ihrer Fächer berufen dürfen. Und sie stehen in keiner einheitlichen Trad ition. Entweder gehören sie einer der zwei hauptsächlichen Anleihe-R ichtu ngen an oder setzen die kur1.e Tradition einer Wirkl ichkeitssicht fort. die versucht. den natürlichen und geschichtlichen und den gewöhnlichen und außergewöhnlichen Ei genschaften menschlichen Handelns gerecht zu werden. I n welcher Tradition sie sich auch ei ngerichtet haben mögen, Sozialwissenschaftler finden immer Anlaß zu Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen un tereinander. Die Selbstverständ lichkeiten des einen sind nicht die Selbstverständlich keiten des anderen. Der Streit geht um die Abgrenzung des Gegenstand sbl'reic h s : gesellschaftl iches Handeln als Natur. als Geschichte, als beides zugleich ? Er geht um den Deutungsrahmen : Gesellschaft als System. a l s ein Sinn - Kosmos. als ein Zwitter? Er geht um die rechte Art des Erfassens: Erklären, Verstehen oder viel leicht verste hend erk lären ? Und er geht natürlich um die Methode: hy pothetisch-deduktiv. her meneutisch oder gar - ist so etwas denkbar? - eine Verbi ndung jener zwei? So1. i a l wissensch aftlern vorzuschlagen, daß die Hermeneutik. o d e r jedenfalls einl' Herme neutik. die angemessene Methode zur Erfassung ihrer sy stematisch ausgeiteichneten W i rklichkeit ist. heißt also. in cin Wespennest zu greifen. in cin Wespennest, in dem schon viele H ände schmerz lich gestochen wurden. Denn d e r Vorsch l ag, der mit dem wohlbekannten Aufsatz Ricoeurs l neuerdings wit'der zur Debatte gestellt wurde. bedeutet. daß man den SOl.ial wissenschaften wieder einmal vorschreibt. womit sie es eigentlich zu tun haben. I m Kreis der Fächer. die sich systematisch mit der gese llschaftl ichen Wirklichkeit des Menschen beschäftigen, sind G elehrte. die sich an Hegels Geschichtsph i losophie oder a n Diltheys H i storismus orientieren. i n der Mind erheit gebliebt'n. Sie h a t t e n auf d i e Entwicklung der gesellschaftlichen 'Normalwissenschaft' kaum einen nennens werten Einfluß. Da ihr Verständ nis der gesellschaftlichen W irklichkeit idealistisch s i n n - o rientiert ist, ist für sie eine Hermeneutik des Handeins ohnehin eine SclhstvcrCnn'll.lc-,C"d �\ .I TC"xl". I n Sorr.,/ RCJr.Jrrh 3M ( 1 9 7 1 ) . S . S29-562 ( d l . ; " Uer Te:\;[ �I, M oo e l l ; hermeneuli" h,·� Vc-rueh,· n " . i n \1f. 1 . . B u h l ( H ". ) . �'",u hc"dc .'ioz.oIogic _ Gr,,,,dl,,gc ,,,,d E",u,',rltl""gJIC'"dc,uc". M u ne h e n 1 9 7 2 ) .
, P . Rieoeur. "Thr Mudd uf IhC" Tcx ! ; Mc-�ningful AClitln
ZU M
H E R M E N E UTI S C H E N
P R O BU:M
DER
H A N D I . U N G S'C ' I S S E N S C H Al-TEN
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ständ l ichkeit : sie stehen zumindest i n d ieser Hinsicht in der Tradition der Textwis sensch.aften, Nur bestimmt sich Handeln für sie als jenes nicht-triviale, außerge wöhnl iche kommunikative Handeln, das zur ästhetischen, religiösen, politischen Kenntnis ge langt : also von vorneherein als geschichtliches Handeln im begrenzten und prägnanten Sinn, Einem in dieser Trad ition aufgenommenen Vorschlag einer Hermeneutik des Handc1ns entzieht sich daher zunächst die naturverwurzelte, viel fältige institutionelle und kulture l l e Wirklichkeit vor-schriftl icher Gemeinschaften. Aber auch das konkrete H andeln gewöhnlicher Menschen zu gewöh n l ichen Zwek ken in den ordinären Institu tionen moderner Gesellschaften sträubt sich w iderspen stig gegen eine folgerichtige Anwendung dieses Vorschlags. Bei jenen Nationalökonomen, Soziologen und Sozialpsychologen, Kultur- und Sozialanthropologen und Politikwissenschaftlern, die in der galileisch-cartesianisch newtonschen 'Normalwissenschaft' ihrer Fächer festen Boden unter den Füßen ge funden zu haben glauben, stößt der Gedanke, daß menschl iches Handeln einer be sonderen Auslegung, einer H ermeneutik bedarf, auf Unverständnis. Diese 'Normal wissenschaft' war ausdrücklich oder stillschweigend positivistisch. Sie fügte sich bis in die jüngste Zeit einigermaßen bruch los in die jeweilige positivistische Wissen schaftstheorie ein. Sie sah auch bisher keinen zw ingenden Anlaß, von den klaren Vorschriften, die ihr in der letzten Zeit der Logische Positivismus gab, abzuweichen. Was gibt es denn in der Wirklichkeit mensch l ichen HandeIns, das es aus dem Bereich natürlicher Gesct7mäßigkeiten herau�höhe? Wa'i gibt es d", z u verstehen oder gar auszulegen, das sich nicht verläßlicher erklären ließe, wie eben anderes Geschehen auch? Nun ist die Diskus!liun um die Anwendbarkeit des covering lau·-Prinzips in der Erklärung gesch ichtl ichen Handclns noch keineswegs abgeschlossen. W ird sich die Brücke. die man von der 'anderen Seite' - z . B . nach Popperschen Vorstellungen zu den sich h istorisch verstehenden Sozialwissenschaften zu schlagen versucht, als tragfahig erweisen ? Aber warum in eine ungl'wisse Zukunft schweifen? Das Gerüst einer B rücke, welche den textwissenschaftlichen H istorismus mit dem s07.ialwissenschaftlichen Empi rismus und Positivismus verbindet, wurde schon längst von Max Weber errich tet. Die verstehende. historische So:r.iologie Webers ist 7.war noch mit der unzurei chenden neu-kantianischen Lösung des sozialw issenschaftlichen Methodenproblems bclastl·t, vermeidet aber die dogmatischen Selbstverständl ichkeiten positivistischer, hegeli.mischer und historistischer Wirkl ichkeitssicht. Verstehen und Erklären wer den z\lmindest programmatisch in einer Weise verbunden, die der Eigenart mensch lichen Handeins angemessen ist, seine Geschichtl ichkeit nicht zum Verschwinden bri ngt und 7.ugleich am allgemeinen wissenschaftl ichen Erkenntnisziel festhält. Wenn man also die Möglichkeiten und G renzen einer allgemeinen Hermeneutik des Handdns neuerdings zur Diskussion stellen will, stößt man in der Trad ition der verstehenden Soziologie auf Vorverständ nis. Da sich Weber der Notwendigkeit enthoben fühlt, eine genaue Analyse des Hand lungs�lnns durchzuführen - 7. U Unrecht -, bleibt jedoch sein Handlungshegriff un-
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deutlich und die Theorie des verstehenden Erklärens in diesem entscheidenden Punkt ungewiß. A n diesem Punkt setzen daher die Schützsehen Analysen der Zeit und Sinnstruktur des Handelns ein; sie sollen einer hand l ungstheoretischen Begrün dung der Sozialwissenschaften im Webersehen Sinn dienen. Die Ergebnisse d ieser A nalyse sind geeignet. die Reichweite und die G renzen einer Hermeneutik des Han delns deutlich zu machen. leh werde sie also so knapp wie möglich i n Erinnerung rufen2, Wie bildet sich überhaupt der Sinn einer Handlung? Er bi ldet sich i n vielfältig geschichteten Bewußtseinsvorgängen. Bewußtsein, das definitionsgemäß von etwas ist und nicht an sich, erfaßt das jeweilige 'Von, das Korrelat intentionaler Vorgänge, in synthetischen Leistungen. Dieses Korrelat (das noema) enthüllt sich in seiner univer salen Struktur, ob es sich nun um Wahrnehmungen, Erinnerungen, fiktive Darstel l u ngen usw. handelt : intentionale Gegenstände haben einen thematischen Kern, der i n ein thematisches Feld eingebettet ist, das seinerseits von einem offenen Horizont umgeben ist>. Was sich als thematischer Kern aus dem Bewußtseinssuom - den Identitätssynthesen der inneren Zeit - abhebt, ist eine Frage, die in einer Theorie der Relevanz beantwonet werden muß�. H ier sei nur darauf hingewiesen, daß sich im Bewußtsei nsstrom solche Kerne aufgrund miteinander verbundener thematischer. interpretativer und motivationsmäßiger Relevanzen als Erlebnisse abheben. Jedes Erlebnis enthält neben dem aktuellen Kern der Erlebnisphase auch appräsentiertr (darüber im folgende n ! ) Elemente. So gehön zur Vorderansicht eines Gegenstands die 'automatisch' mitgegebene Rückseite. Bei allen Erlebnissen im Bereich a l l tägli cher Wirklichkeit ist jeweils ihr jeweiliger Typus (ein Schema subjektiv abgelagerter, zusammengehöriger, hervorstechender thematischer E lemente) schon in passiven Synthesen appräsentiert. So wird z. B . im Erlebnis einer Blume schon vor der klaren E rfassung ihrer sozial vermittelten und im subjektiven Wissensvorrat abgelagerten K lassifikation (' Alpennelke') eine typische Gestalt in einen Zusammenhang von ty pisch dazugehörigen Geruchs-, Berührungs- und Gebrauchseigenschaften eingebun den. A lle derartigen Synthesen und Appräsentationen, die den eigentlichen themati schen Kern (hier die Gestalt) umgeben, verschmelzen zur selbstverständlichen Ein heit der a l l täglichen Gegenstandserfahrung. Erlebnisse a l ler Art, nicht nur solche, die sich auf Wahrnehmungsgegenstände beziehen, werden 'automatisch', also schon auf
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Die-� An.JlpC'n f'ndC'n sich schon Im SChulZlchC'n Fruhwc:rk (A. s.:hul1., Dry n"" h,,!rr A tl/b"tl dry IOlu/r" Wrlr, 'Il'irn 1932). SiC' 1l.·e-rdrn " u r .J11C'm in 7 1l.·e-1 'pale-,e-n Auf�all.e:n fon"e-hih n ; " Cnmmon Srn�C" ..n d 5.:iC"nlifi .. Inle-rp,e-uliun uf Hllmoll1 A':lion " und " Chuu\ing ..mon" PTtljC"l.·t\ uf ..'Clinn· · . �idC" in ColltNrd p,,!"", Sd I, Tht H.,ut 1%2 (dl . : · · W,sstns.:h.hli .. ht Inlrrp'C'Il,lIon und A l h.,syrr. §andni\ me:nschlichtn H.nddns" und "Das Wählrn l.wls.:hC"n Handlungstnlwü,ftn" , In Grt"",,,, r/tt A tl!'drZt, Bd I . Dtn Hloag 1971). Hit, ü�rnthmC" ,ch die: auf dC"n S.:him:sche-n An.JI)·un fußC'nde-n. kn.Jpp �Y SlC'mlolisiC'nC'n Aushihrunp:e:n aus mrintm Brilrap: " Aspe-klt C"int' Thro,ie- dt, Sol.I.Jlkummum klolion", i n H . P. Ahh.Jus I H . HC'nne- I H . F. . WitgC'nd (HGG.). /_UdO" drl' 8r,..",,,,,uruehr,, L"'8tlUlIlt, Tubin.:tn 1 97J, S. I - t l . , A . Gurwinch, Thtonr d tl eh"",p Jr J., ro"JOt"er, S'UKKe- 19!'7 (th ; 0", Bru·tlp'ltIfIJ!rlJ. Se-,Iin 1 97�) . • A. SchUll ' Th . l u.: km m n . S,nolt'tll'r" drl' Lrbrruu.-C'/" Ntuwlnl und l)umsud' 197S. Kap. I ! ! .
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der Stufe passiver Synthesen, als typische konstituiert. Das ist die Sinn-Grundlage aller aktiven eigentlichen Sinnbildung. Erlebnisse, denen das Ich seine Aufmerksamkeit zuwendet, die also nicht einfach 'ab laufen', sind durch einen höheren Grad der Bestimmtheit und Abgehobenheit des Erlebn iskerns und durch eine deutl ichere Stimmigkeit des Erlebnisverlaufs durch versch iedene Phasen gekennzeichnet. Auch solche Erlebnisse - nennen wir sie Er fahrungen - sind wesensmäßig aktuel l und haben noch keinen eigentlichen Sinn. Der Sinn der E rfahrung bildet sich jedoch, wenn sich das Ich der abgelaufenen Erfahrung - oder der abgelaufenen Phase einer noch nicht abgeschlossenen Erfahrung - zuwen det und sie i n einen über die schl ichte Aktualität der Erlebniseigenschaften h inausge henden Zusammenhang setzt. Sinn konstituiert sich also i n der Bewußtheit einer Beziehung zwischen einer Erfahrung und etwas anderem, mit Bezug auf die Erfah rung also - genaugenommen - im nachhinein. Dieses andere kann eine frühere Erfahrung sein, die z . B . als gleich erfaßt wird ('Schon wieder diese Blume') oder ein Erfahrungsschema ('Dies ist eine Alpennelke') oder eine Handlungsmaxime (' Alpen nelken sind geschützt') usw. Das Wie und Warum dieser Bewußtseinsleistungen, in denen sich der Sinn der Erfahrungen herausbildet, hängt nicht nur von der jeweiligen Situation ab, sondern in entscheidender Weise vom subjektiven Relevanzsystem. Denn nicht nur wurde von diesem die ursprüngliche Erfahrung und die Situation als Erfahrungshorizont - bestimmt, sondern auch der Handlungszusammenhang, i n dem die ursprünt:;liche Erfahrung u n d die nachträgl iche Deutung stehen. Was heißt aber Handl ungszusammenhang? Was sind Handlungen? Das sind Er fahrungen, die vom lebenden Ich auf ein Ziel hin vorentworfen sind und im Blick auf dieses Ziel h i n vol lzogen werden. Handlungen bestehen also aus Entwurf u" J Vo l I z u g . D e r Entwurf bildet s i c h , indem d a s Ziel im aktuellen Erfahrungsverlauf a l s der zu erreichende Zustand fiktiv vorweggenommen wird - Schütz sagt : modo futuri exact i . Dies geschieht in sehr untersch iedlichen Klarheits- und Bestimmungsgraden ; diese hängen vom Typ der Handlung ab, vor allem aber davon, wie stark d i e Hand lung routinisiert ist, im Gegensatz zu schrittweise vorgehenden problem- lösenden Handlungen. Wenn nun d ieses Zid angegangen wird, wenn man es zu verwirklichen sucht, setzt die Handlung ein. Selbstverständ l ich ist das Planen einer Handlung �elbst eine Handlung - aber eben anderen Typs als die zu vollziehende geplante Handlung. Es ist also deutlich, daß Handlungen Joppelsinnig sind. Einmal - und auf jeden Fall - haben sie jenen Sinn, der sich aus der bewußten Erfassung der Beziehung zw ischen der jeweils aktuellen Erfahrung als Handlungsphase und dem Handlungs ziel ergibt. Die Handlung ist sinnvoll, indem sie auf ein Ziel hin gesteuert wird. Außerdem kann aber jede abgeschlossene Handlung - und selbstverständlich jede abgesch lossene Handlu ngsphase im Handlu ngsverlauf - nachträglich thematisiert werden. wie jede schlichte Erfahrung ohne die komplexe Zeitstruktur des Handelns auch. Sie kann zu etwas anderem in Beziehung gesetzt werden, ob nun dieses andere frühere Handlu ngen, Hand l u ngsmaximen, Rechtfertigungen, Lebenspläne, institu-
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tionellc Normen usw. sind. A l lerdings mit dem Unterschied zu sch l ichten Erfahrun gen, daß bei Handlu ngen grundsätzlich - wenn auch bei den meisten Arten von Handlungen nicht faktisch - auch der ursprüngl iche und spezifische. durch ihre besondere Zeitstruktur bestimmte Sinn der Handlungen nachvoll zogen werden kann. Ist aber die Handlung vollzogen, ist das Ziel erreicht - oder schießt man am Ziel vorbei -, ist auch der ursprüngliche Sinn endgültig abgeschlossen. Aber sowoh l der Handelnde wie natürlich auch andere. die die Handlung beobachten, von der Handlung hören, Berichte lesen, können die abgeschlossene Handlung immer wie der i n neue Beziehungen setzen, mit anderen Worten : umdeuten. erklären. Diese zweite, aber auch nur diese zweite Sinnschicht ist also grundsätzl ich 'offen'. Es ist jedoch der Fall, daß nur bestimmte Handl ungen unter bestimmten Umständen die Art von Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die zu weiteren Deutungen führt. Die Gründe dafür sind zunächst in dem weiteren Lebensverlauf des Handelnden, in der intersubjektiven, sozialen und schließlich gesch ichtlichen Relevanz mancher Hand lungen zu suchen. Meist geht es also um jene Form des HandeIns, die wir soziales Handeln nennen. Soziales Handeln ist alles Handeln, dessen Entwurf auf andere gerichtet ist. Diese anderen können bestimmte M itmenschen sein: der ausgezeichnete Fall hier ist, wenn es sich um M itmenschen in leiblicher Gegenwart handelt; andere Möglichkeiten sind durch Entwürfe, die sich auf Abwesende beziehen, gekennzeichnet (' Alpennelke schenken') oder auf Verstorbene C Alpennelken aufs Grab tragen') oder bestimmte Ungeborene (testamentarische Verfügungen). Diese anderen können aber auch nUT in ihrer Typik erfaßte Personen sein (' Angehörige der Gebirgswacht') oder gar nur anonyme gesel lschaftliche ' Strukturen' ('Pflan1.ensch utzgesetz'). Wenn soziales Handeln vol lzogen wird, kann es zur Kenntnis gelangen und in seiner sozialen I ntention und Relevanz von anderen gedeutet werden. Der wichtigste Typ sozialen Handelns ist Handeln in konkreter I ntersubjektivität : h ier kommt soziales Handeln auf jeden Fall zur Kenntnis. Vor allem wird aber hier das Handeln nicht nur im Entwurf, sondern auch im konkreten Vollzug vom M itmenschen in einer gemeinsa men Umwelt mitbestimmt. Dieser Typ sozialen Handelns ist außerdem die Voraus setzung kommunikativen HandeIns. I n allen Arten s07.ialen Handelns gilt jedoch, daß zur verwickelten Doppelsinnigkeit des Handelns und der allgemeinen Fundie rungsstruktur des Handelns in Erfahrung und Erlebnis auch noch die spezifische Sinnstruktur von Erfahrungen hinzukommt, die auf besondere, typische oder an onyme Mitmenschen hin entworfen sind. Soziales Handeln wird auf diese Weise von anderen in Vorwegnahme mitbestimmt : im Fall der konkreten I ntersu bjektivität durch Vorwegnahme und unmittelbar im Hand lu ngsverlauf. Die wichtigste Form dieser ' M itbestimmung' des Handclns ist kommunikat i v : im Falle der konkreten I ntersubjektivität gesch ieht sie verm ittels der Grundformen der Komm unikation, sonst in objekt iv ierten kommunikativen Akten, 7.. B. Texten. Die wichtigste Form der ' Mitbestimmung', aber nicht die einzige ! Neben objektivierten kommunikativen Akten im strikten Sinn gibt es nämlich vielfältige andere Formen objektivierter
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Handlu ngsergebnisse, v o n Bauten, Pfaden, b i s z u versteckten Giftstacheln oder Tel lerminen, die soziales Handeln 'mitbestimmen' . Nun w ird z w a r a l l e s soziale Handeln, d a s zur Kenntnis gelangt, 'gedeutet '. Der hermeneutische Kompetenzanspruch dürfte diesem Umstand zuzuschreiben sein, denn wer sonst sollte ihn beachten, da ihn ja die Positivisten verschiedenster Prägung entweder überspringen oder seine Bedeutung für die Methodik der Sozialwissen schaften trivialisieren. Bevor man d iesen Kompetenzanspruch pauschal annimmt, gilt es zu fragen, welcher A rt diese ' Deutung' ist. Normalerweise und bis auf weite res ist sie automatisch : der typische Sinn des Handelns wird von Mithandelnden oder Beobachtern ( 1. . B. alltagsweltlichen Zuschauern) appräsentativ erfaßt, ohne daß es zu urteilenden Bewußtseinsleistungen kommt, die den Namen Deutung verd ienen. Normalerweise : wenn es sich nicht um eine Situation handelt, die von vorneh inein problematisch ist; dennoch ist auch da der Ausgangspunkt eine zwar unzureichende, aber zunächst automatische Typik. Und bis auf weiteres : solange der Handlungsver lauf nicht den automatisch appräsentierten Sinn der Handlung gewaltsam durch bricht und das Handeln deswegen zum Deutungsproblem wird. Der typische Sinn jeder Handlung hat natürlich seine Geschichte. Er hat sich in vergangenen Deu tungsakten ausgebildet, in denen Situation und Handlungsverlauf problematisch wa ren und die so lange fortgesetzt wurden, bis sich eine für die übl ichen praktischen Zwecke ausreichende Typik des Handlungssinns ausgebildet hat. Solche Deutungs akte kömlen im eigenen, bewußten Leben des Handelnden, M ithandelnden oder Beobachters stattgefunden haben. Meist sind sie jedoch aus dem gesellschaftl ichen Wissensvorrat, der kommunikativen Sedimentierung vergangener Deutungsakte, übernommen. Ob er sich nun in eigenen oder fremden Deutungsakten ausgebildet hat (unter verschiedenen anderen Gesichtspun kten ist dies allerdin�s ein wichtiger U nter !>chit....t ) , c.I ... r typisch ... Sinn von Handlungen b ... zieht sich auf objektive gesellschaft liche In .. titutioncn (Normen, Bräuche, Gesl'tzc, soziale Rollen), auf das subjektive Rclevanzsystem des Mithandclnden (die Interessen des Partners, Gegners usw.) oder Beobachters (als Zuschauer, Spion, Theoretiker usw.) und auf das !.ubjektive Rele vanzsystem des Handelnden selbst (auf seine - von außen her gesehen : vermutlichen - Hand l u ngsentwürfe und Motive). Der Sinn s07.ialer Handlungen hat also subjek tive und objektive Bestandteile wie der Sinn kommunikativer Akte, ist aber nicht von \'orneherein und notwendig kommunikativ im eigentlichen Sinn des Begriffs. Die objl'ktive Komponente sozialen Handelns im allgemeinen bezieht sich auf geschicht l ich kon krete I nstitutionen, die vor allem Zwangscharakter haben, obwoh l sie auch ' srmbolischcn' Sinn besit...en - nicht aber auf zwar ebenfalls gesch ichtliche, jedoch vor allem 'symbolische' quasi- ideale Zeichensysteme, wie natürliche Sprachen, ob wohl d iese i n einem sehr weit gefaßten Sinn des Wortes auch ' I nstitutionen' sind. Die subjektiven Dimensionen beziehen sich auf den Sinn von Handlungsverläufen und deren Ergebnisse für H andelnde, Mithandelnde und Beobachter; dieser kann gan ... und gar unterschiedlich sein. Jedenfa l l s wird aber der Sinn vom Handelnden nicht
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gesetzt, um vom anderen gedeutet zu werden . Und er wird nicht so gesetzt. wie er vom anderen in typischer Vorwegnahme seiner Deutung gedeutet werden soll. Ge rade dies ist jedoch für kommunikative Akte bezeichnend . Erst wenn es sich um gesetzten Sinn dieser Art handelt, sollten wir vielleicht der Unterscheidung wegen von Bedeutung sprechen. Wenn man den Begriff der Kommunikation dehnt - wie es heutzutage häufig geschieht -, kann man natürlich alles soziale Handeln als kommunikativ bezeichnen, da alles soziale Handeln einen Sinn hat. der grundsätzlich gedeutet werden kann. Nur setzt man sich damit der Gefahr aus, die Unterschiede der Sinnkonstitution im sozialen Handeln im allgemeinen und der Bedeutungskonstitution in kommunikati ven Akten im spezifischen Sinn des Begriffs zu verwischen. Denn nur i n letzteren wird 'Sinn' als solch er entworfen. vollzogen und gedeutet. also als Bedeutung. Hinzu kommt, daß man bei kommunikativen A kten auch noch unterscheiden muß zwi schen solchen, die sich keines quasi- idealen Zeichensystems bedienen, und solchen, die das tun. Und bei letzteren ist jene Form besonders zu beachten. in denen sich kommunikative Akte über die konkrete Handlung hinaus objektivieren, z. B. i n Texten, u n d s i c h so als Vorlage ( u n d n i c h t nur als Erinnerungsspur) i m m e r wieder deuten (hier schon besser: auslegen) lassen. Gewiß. kommunikative A kte aller Art sind auch und auf jeden Fall soziale Hand lungen und haben daher die Grundstruktur sozialen Handelns und somit neben ihrer spezifischen Bedeutung auch einen Sinn. Jedoch sind sie eben durch ihre Bedeutung vor allen anderen Formen sozialen Handelns ausgezeichnet : durch die Struktur von Sinnsetzung und Sinndeutung. die i n quasi- idealen Zeichensystemen historische. über die konkrete I ntersubjektivität zwischenmenschlicher Beziehungen h inausrei chende Gestalt gewinnt. Es würde zu weit führen, die Konstitution von quasi idealen Zeichensystemen in intersubjektiven Sinn-Setzungs- und Sinn-Deutungs A kten phänomenologisch nachzuzeichnen�. Es sei nur darauf hi ngewiesen. daß sie auf einer komplexen Form der Appräsentation beruhen: der Bedeutungsbeziehung. in der das präsente Datum das nicht-präsente 'weckt'. wobei das nichtpräsente the matisiert wird. Ferner sei darauf h i ngewiesen. daß die Bedingungen für die Konstitu tion eines quasi-idealen Zeichensystems in der Lebenswelt des Alltags liegen und die folgenden sind : Objektivität der Daten, die appräsentative Funktion haben ; Anzei chenhaftigkeit dieser Daten und Ausd ruckhaftigkeit (d. h . Verweis auf I nnenleben eines alter ego) ; typische Erzeugbarkeit der Daten in Handlungen in der konkreten I ntersubjektivität. Und schließlich sei darauf hingewiesen, daß sich ein quasi-ideales Zeichensystem erst ausbildet, wenn sich die zeichen-artigen kommuni kativen Akte in konkreter Intersubjektivität von den konkreten Bedingungen eben d ieser I nter subjektivität abgelöst haben. Das heißt : wenn sich Zeichen von der Aktualität der , Th. luckmann, "The Connilulion of language in Ever)"day lifc", in 1.. Embree ( H g. ) . Li!e-WorlJ 4.,/(J. Consrio"Jneu - Esu)'J /or Aran G"F'UI.tJC'h, h'anuon 1972. S . 469-488 (Jt.: "Die Konnitulion der Sprache i n der Welt des A l hags", i n 8. 8aJura / K . G l o)' ( H g g . ) , .fio?Iolog.r J r r Komm"niltdtion, Stuttgan · ßad C.J.nnuan 1972, S . 2 1 8-238).
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jeweil igen subjektiven E rlahrungen, d e n räumlichen u n d zeitlichen Perspektiven und der Individualität der Erlahrungen und vor allem auch ihrer unmittelbaren Einbet tung in soziales Handeln weitgehend (in natürlichen Sprachen nie völlig!) losgelöst haben; genauer: wenn Bedeutungen sinn-transzendent bzw. kontext-unabhängig werden. Wozu führen nun diese Analysen?
1 . Handlungen sind doppelsinn i g : sie vollziehen sich konkret in bezug auf einen Entwurl und können nachträglich nach verschiedenen subjektiven Relevanzsyste men gedeutet werden. Soziale Handlungen haben jedoch auch einen objektiven, d u rch gesellschaftliche Institutionen bestimmten Sinn. Dieser ist, wie die Institutio nen selbst, vom subjektiven Sinn von Handlungen grundsätzlich mitbestimmt : in h i storischen Handlungsvo llzügen. M itbestimmt, jedoch keineswegs aus ihnen ableit bar. I nstitutionen sind nicht schlichte Aggregate subjektiven Sinns. A ndrerseits ist der subjektive Sinn von Handlungen immer auch vom objektiven Sinn, der durch gesellschaftliche Institutionen zw � nghaft mitgegeben ist, abhängig. Er steht in einem rekonstru ierbaren Zusammenhang mit d iesem. Solche Rekonstruktionen werden schon · im alltäglichen Ve'rStehen 1.U praktischen Zwecken - vorwissenschaftlieh und vorhermeneutisch - vorgenommen. In den Sozialwissenschaften wird die Rekon struktion systematisch zu theoretischen Zwecken, nämlich zur Beschreibung typi schen Sinns sozialen HandeIns, vorgenommen. H ier geht es um die Bildung von ' Daten', um allerdings hochkomplexe Beschreibung, nicht um ihre Erklärung. Der theoretische Zweck ist und bleibt die Erklärung. Diese geschieht in der Anwendung von covering laws. A llerdings haben die 'Daten', die erklärt werden, Handlungs und somit Sinncharakter. Das heißt, daß sie vorinterpretiert sind ; und zwar im Emwurl des Handelnden, im mehr oder minder automatischen Verstehen der Hand lung durch M ithandelnde und Beobachter und in nachträgl ichen Deutungsakten. Diese e!"mentaren Verstehen .. leistungen und Deutungsakre haben nicht die spez ifi sche Struktur von Textauslegungen. Sie lassen sich phänomenologisch in ihrer allge meinen Struktur beschreiben - als Grundlage einer Handlungstheorie - und, obwohl es sich - wie gesagt - um ' Verstehen' handelt, in ihrer Typik von den Sozialwissen schaften erklären. 2 . Insofern kommunikative Akte soziale Handlungen sind, gilt das Gesagte selbst verständ lich auch für sie. Außerdem haben sie eine spezifische Stru ktur von Sinn Setzung und Sinn- Deutung, die ebenfalls phänomenologisch beschrieben und empi risch erklärt werden kann, obwohl es sich hier um Verstehen einer komplexeren A n handelt.
3 . I nsofern zeichengebundene kommunikative Akte eben kommunikative Akte sind, �ilt das Gesagte natürlich auch für sie. Außerdem haben sie jedoch eine spezifische
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Bedcutungsstruktur. Diese läßt sich aus der Quasi- Ideal ität (der historischen Ideali tät) von Zeichensystemen - vor allem geht es hier um die Sprachen - ableiten. Auch hier ist phänomenologi sche Beschreibung der Konstitutionen und empi rische Erkla rung der Struktur und Funktionen möglich. Sie reicht jedoch nicht weit genug, da sie i m ersten Fall formal und im zweiten abstrakt kausal bleibt. Die Idealität und zu gleich historische Besonderheit solcher Kommunikation verlangt nicht nur nach ' Verstehen', sondern nach einer 'Deutung', für die das Textmodell der Hermeneutik heuristischen Wert hat. A l lerdings gilt es h ier, die schon bestehenden Ansätze zu einer Gattungstheorie ordinärer alltäglicher Kommun ikationen politischer, ökono m ischer, familiärer A rt weiter zu entwickeln. Denn eine ausschließlich an ästheti schen, theologischen, j u ristischen Texten ausgerichtete Hermeneutik w ü rde den Verstehensabläufen in ihrer alltäglich bedeutsamen Gewöhnl ichkeit - ihrer E inbet tung i n a l ltägliches soziales Handeln - Gewalt antun.
4 . I n Texten objektivierte kommunikative Akte sind natürlich auch soziale Handlun gen, und das für jene Gesagte gilt auch für sie. Auch sie können phänomenologisch beschrieben und sozialwissenschahlich erklärt werden. W ie die typischen Verste hensleistungen gewöhnl icher Menschen i m alltäglichen sozialen Handeln und in trivialen komm u n i kativen Akten von den Sozialwissenschaften als wesentlicher Be standteil ihrer ' Date n ' , nämlich des sozialen H andeIns, rekonstruiert werden müs sen, so müssen auch die kommunikativen Akte, die sich i n Texten objektivieren, wie auch die Auslegungen, die z u ihrem Verständ nis notwendig sind, systematisch re konstruiert werden. Das heißt also, daß die Hermeneutik im engeren Sinn eine Methode in der ' Datenbildung' der Sozialwissenschaften ist (oder sein müßte). Dies unbeschadet der Logik der Erklärung, die für diese Wissenschaften gilt. A l lerdings ist unser theoretisches I nteresse an Texten durch Erklärungen nach dem covering law- Prinzip keineswegs befried igt. I h re Historizität, ihre Idealität und ihr nicht alltäglicher. spezifisch ästhetischer oder religiöser Gattungscharakter muß bei der sozialwissenschaftlichen Benutzung der Hermeneutik als daten-konstitutiv zwar m itbedacht und rekonstruiert werden - w i rd aber eben als Datum rekonstruiert, um i n seiner (wenn auch historischen) A l l gemeinheit erkl ärt z u werden. Die historische E i n zigartigkeit, d i e eine menschlich entscheidend interessierende Dimension ihres Sinns ausmacht, bleibt außer Betracht. Hermeneutik ist also sozusagen eine Daten produktionsmethode für einen Teil bereich des Gegenstands der Sozialwissenschaf ten. Sie ist aber vor allem auch eine andere porm des theoretischen Zugriffs in eine spezifisch menschliche Daseinsweise. die historische. Zum Vorschlag des Textmodells als Parad i gma für die Sozialw issenschaften ist die Antwort also ein eingeschränktes Nein. Soziales Handeln ist zwar sinnvoll - aber n icht nur das. Es m u ß zwar, um erklärt zu werden, verstanden sein - aber das reicht nicht aus. Kommunikatives Handeln ist soziales Handeln - und muß i n seiner spez i fischen Struktur verstanden werden, bevor es erklärt werden k a n n . I n Texten objek tiviertes kommunikatives Handeln m u ß erst recht i n seiner spezifischen Struktur
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verstanden werden, bevor es erklärt werden kann - aber auch das reicht nicht aus. Erklären heißt unter Gesetze subsumieren, ob es u m universale Naturgesetze oder historische Gesetzmäßigkeiten des sozialen Handeins geht. Das, was subsum iert wird, muß i n seiner Besonderheit - z . B . als kommunikatives Handeln - unter ande n : m also als Sinnsetzung crfaßt werden. D as gehön zur Datenbildung. So besehen sind die H c rmeneutiken Dienerinnen der Sozialwissenschaften wie die Biologie. Texte sind h i ngegen nicht nur objektiviertes soziales Handeln. Sie müssen zwar in den objektiven Bedingungen ihrer Prod uktion und Rczeption erfaßt werden - aber das reicht nicht aus. Sie sind auch d i rekt ansprechende Dokumente des Menschseins. Die Sozialwissenschaften sind Diener einer historisch-philosophischen Herme neut ik.
VON D E R TEXTH E RM E N EUTI K Z U R H A N D L U N G S H E R M E N EUTI K
Hermeneutik ist herkömmlicherweise ein Titel für die Theorie des Interpretierens von Texten. Als solche hat sie die Aufgabe. die Möglichkeit, die A rten und die Methoden der kunstmäßig geübten I nterpretation schriftlicher Verlautbarungen zu begründen und zu beschreiben. Seit Schleiermacher rechnet man zu den Aufgaben einer philosophischen Hermeneutik nicht mehr nur die Behandlung der Interpreta tion von Schriftwerken. sofern deren Verständnis in Unmittelbarkeit und Unkom pliziertheit nicht oder nicht mehr möglich ist, sondern auch die Behandlung einer außerliterarischen. im alltäglichen Umgang der Leute miteinander geübten Verste hens- und A uslegungskunst. Hermeneutik und Auslegung bleiben aber auch hier immer noch bezogen auf sprach liche oder parasprachliche, in Mimik und Gestik geschehende Verlautbarung. Sie bleiben primär bezogen auf sprachliche Kundgabe, auf die darin sich äußernde Meinung. I ndessen scheint es, als ob die Idee einer primär nicht sprachbezogenen, sondern handlungsbezogenen I nterpretation und Hermeneutik historisch ohne Schleierma chers Erweiterung des Begriffs der Auslegung nicht so recht möglich geworden wäre. Zu sehr nämlich bestimmen praktische und pragmatische Gesichtspunkte das alltägliche Sich-Verstehen und Miteinander-Zurechtkommen im Umgang. Nicht zu fäl l i g ist es Wilhelm Dilthey, der Wiederentdecker und Wiedererwecker von Schlei ermachers Hermeneutik, gewesen, der die Idee der Hermeneutik um den Aufgaben kreis einer Hand l ungshermeneutik erweitert hat. Entsprechend der neuen Bedeu tung, die nach dem Ende der Metaphysik die leitende Kategorie des in den Formen der geschichtlichen Praxis sich offenbarenden 'Lebens' erhält, stellt sich für Di lthey nun die Frage nach der Möglichkeit einer an die Stelle der herkömmlichen Philoso phie tretenden Hermeneutik des geschichtl ichen Handelns und Produzierens. Die Idee einer Handlungshermeneutik ist dabei sehr eng und charakteristisch gebunden an die Idee einer durch systematische phi losophische Konstruktion nicht erreichba ren geschichtlichen Sei bsto Henbarung der menschlichen Vernunft, die konstitutiv für die 'Phi losophie des Lebens' ist. Handlungshermeneutik soll ihrer ersten Absicht nach nicht auf die Sozi a l wissenschaften und deren philosophische Reflexion bezogen sein. sondern auf die Mögl ichkeit einer materialen Philosophie der gesch ichtlichen Vernunft. D i lthey hat über diese Möglichkeit im Zusammenhang seiner letzten Entwürfe zur G rundlegung der Geisteswissenschaften grundsätzliche Ausfüh rungen geliefen, die
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d a s h i e r berührte Problem e h e r verschleiern a l s erhellen u n d d e n Leser ratlos lassen. Die Möglichkeit, die geschichtliche Praxis als einen Zusammenhang von Handlun gen zu verstehen und auszulegen, wird von Dihhcy nämlich nach dem Modell des Verstehens und Auslegens begriffen. das cr vorzüglich für die Auslegung sprachl i cher Objektivationcn. also besonders v o n Texten, konstruiert h a t . Danach ist d i e Auslegung die ausdrückl iche, reflexive Erfassung eines im ' Nacherleben' mimetisch wiederholten fremden ' Erlebens', das sich als elementare subjektive lebenspraktische Gegebenheit einen ' Ausdruck' schafft und mittels dieses Ausdrucks durch die andere Subjektivität nachvol lzogen wird. Man wird schon an der Tauglichkeit dieses Mo dells, die Leistung sprachl ichen Verstehens und Auslegens begreiflich z u machen, zweifeln können. Denn die Subjektivität allen ' Erlebens', die Dihhey voraussetzt, bringt enorme grundsätzliche und method ische Schwierigkeiten ins Spiel. Entweder ist sie nämlich ein prinzipielles Hindernis für jede Art von Nachvollzug durch eine andere Subjektivität, oder aber ' Nacherleben' ist nur möglich auf Grund der A n nahme einer ei nheitlichen Natur aller Subjekte, an d e r d a s zu verstehende Subjekt ebenso wie das verstehende teilhaben; dann jedoch ist gerade die Lösung der Auf gabe, geschichtliche, d . h . je besondere Lebenspraxis zu verstehen, hinwegargumen tiert. Wenn man andererseits bedenkt, daß ' A usdruck' eines subjektiven I nneren als sprachliche Artikulation dieses I nnere mitteilbar macht, d . h . es aus der Subjektivität und Partikularität überführt in die gemeinsame sprach liche Welt, in der sich Men schen mitei nander verständ igen, dann zeigt sich, daß es diese gemeinsame Welt ist, in der sich das von Dihhey angenommene ' Erlebe.o.' immer schon abspielt, d . h . daß Dilthey viel leicht Aufgabe und Struktur des Verstehens in erheblicher Verzeichnung skizziert hat.
II Nun hat Di lthey selbst unabhängig von diesen Bedenken das mit dem Erlebn is Begriff operierende Modell des Verstehens und Auslegens in die Erörterung der Möglichkeit, Handlungen zu interpretieren, nur mit erheblichen Vorbehalten einge führt l . Der Grund dafür ist eine gewisse Defizienz im Wesen der Handlung selbst. Sie ist nämlich kein ' Erlebnisausdruck', und darum fehlt ihr die "besondere Bezie hung . . . zwischen ihm, dem Leben, aus dem er hervorgeht, und dem Verstehen, das er erwirkt"!. Dafür bemerkt Dilthey, Handlung sei ohne das angenommene mimeti sche Verfah ren des Nacherlebens einfach dadurch verstän d l ich, daß s i c h in i h r der i ntend ierte Zweck des Handelns darstelle. Das I nterpretationsprinzip ist hier also jene 'Zweckrationalität', auf die später Max Weber vor allem die Möglichkeit einer Handl ungshermeneutik gegründet hat. Dilthey setzt damit für die HandlungshermcL Vgl. duu Grsammr/u SchrifurI Bd V I I , S. 206. : Ebd.
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neutik seine hermeneutische G rundthese außer Kraft, daß . . . "wir nur aus dem Erleben unsere Kenntnis jedes geistigen Tatbestands haben" l. Die I nkongruenz von Dihheys Verstehensmodell einerseits und Handl ungsstruk tur andererseits l iefert aber kein A rgument für die hermeneutische Armut und Ein falt der Struktur von Handlu ngen, sondern eher für die Armut und Einfalt von Diltheys Modell. Es ist einfach unfähig, das Verstehen und Auslegen von Praxis. d . h. Handlu ngszusammenhängen. begreiflich zu machen. Dabei scheitert es nicht etwa an der sogenannten Zweckrationalität mancher Handlungsstrukturen. Diese könnte vermutlich in Di hheys Modell ohne große Schwierigkeit eingebaut werden. Es schei tert daran. daß es eine wesentliche Leistung allen I nterpretierens überhaupt nicht berücksichtigt. Eben deshalb ist es wahrscheinlich auch nicht recht tauglich. die Struktur von Textverstehen und Textauslegung begreiflich zu machen. Merkwürdi gerweise hat Dilthey diese Leistung an anderer Stelle seines Werks und in einem anderen, historischen. Zusammenhang erwähnt. Er hat don auch ihre prinzipi e l l e Bedeutung gewürd igt. jedoch in e i n e r s e h r aphoristischen Weise, deren Resultat in d i e späteren überlegungen seiner phi losophischen Hermeneutik nicht mehr einge gangen ist, Die im Jahr 1 900 erschienene Abhandlung "Die Entstehung der Herme neutik" enthält eine allgemeine Charakteristik der Hermeneut ik Fr. Schleiermachers. Sie enthält diesen Pass u s : Die Bedingungen, unter denen er arbeitete : Winckelmanns Interpretat ion von Kunstwerken. Herders kongeniales Sich - E infüh len in die Seele von Zeitaltern und Völkern u nd die unter dem neuen ästhetischen Gesichtspunkt arbeitende Philologie von Heyne. Friedrich August Wolf und dessen Schülern. unter denen Heindorf in engster Gemeinschaft platonischer Studien mit Sch leiermacher lebte - das alles ver band sich in ihm mit dem Verfahren der deutschen Transzendentalphi losoph ie. hin ter das im Beu'ufltsein Gegebene zurückzugehen auf ein schöpferisches Vennögen, das einheitlich wirkend, seiner selbst unbewuflt, die ganze Form der Welt in uns hervorbrrngt. Eben aus der Verbindung d ieser beiden Momente entstand die ihm eigne Kunst der Interpretation und die definitive Begründ ung einer wissenschaft l i c h e n Hermeneutik4 • Dieselbe A bhandlung enthält gegL'n Ende folgende Senten z : Das len.te Z i e l d e s hermeneutischen Verfahrens i s t , d e n Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat. Ein Satz, welcher die notwendige Konsequenz der Lehre von dem unbewußten Schaffen ist�. III Der Hinweis auf die aus der Tradition der kantischen Phi losophie stammende Lehre vom unbewußten Produzieren ist geeignet, die Frage nach Mögl ichkeit und Struktur L'iner Hand lungshermeneut ik und ihres Zusammenhangs mit der Texthermeneutik , !·hJ. S. 1 9t, . ("f'ld""" f'/tt· .fj(hn!un Bll V,
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aus der Sackgasse zu führen, i n die sie durch Dihheys Verstehensmodell geraten ist. Vielleicht ist es überhaupt aussichtslos, das Verhältnis von Texthermeneutik und Handlungshermeneutik nur unter der Voraussetzung zu betrachten, daß Hermeneu tik i n heiden Fällen an die Existenz sprachlicher Verlautbarung, eines Textes oder eines A nalogons von Text, gebunden sei. Die Theorie der Hermeneutik hat demge genüber seither mit gutem Recht darauf h ingewiesen, daß für das Verstehen von Handlungen und Handlungskontexten die Kategorie der Sinnobjekti'Vatwn. die auch sprachliche Verlautbarung einschließt, h inreicht. Handeln, menschliche Praxis über haupt, stellt sich für ein Verstehen völlig hinreichend dar, auch wenn es im Sinn sprachlicher Artikulation stumm bleibt oder sich nur unzureichend äußert. Praxis stellt sich dar für fremdes oder späteres eigenes Verstehen, auch wenn der Handel nde im Vollzug seines Handelns sich des Sinnes, der sich da zeigt, gar nicht eigens bewußt ist. Diese U nbewußtheit kann statthaben, obwohl der Handelnde sein Tun zugleich sprachlich auszudrücken und verständlich zu machen versucht. Praxis zeigt sich dann eben trotz ihrer sprachlichen Artikulation, j a sogar gerade m ittels ihrer, als im Grund unbewußt und als befangen oder irregehend. Handeln als Handeln ist nämlich immer Darstellung seiner selbst, ist Darstellung eines in ihm leitenden Sinnes, der nicht notwendigerweise auch bewußter. dem Handelnden gegenwärtiger Sinn ist. Eben diese Qualität des Handelns ist nun aber geeignet, die Gemeinsamkeit von Handlungshermeneutik und Texthermeneutik ver ständlich zu machen. Man kann den Begriff der Handlung univcrsalisieren, an ders gesagt : jede Erzeugung sprachlicher Gebilde, die als 'Texte' zu nehmen sind, als einen Modus von Handeln auffassen. Die Hermeneutik von Texten ließe sich so am Ende begreifen als eine besondere, aber in dieser Besonderheit auch paradigmati sche Form von Handlu ngshermeneutik. Diese Betrachtungsweise ist so neuartig nicht. Sie wiederholt auf ihre Weise den für die neuzeitliche Philosophie seit Kant charakteristischen Vorgang, bestimmte ' H andlungen' (A kte) des theoretischen und praktischen Subjekts zu analysieren. Besonders E . Husscrl hat dieses Verfahren methodisch kultiviert und auf der Einsicht in den Selbstdarstellungs-Charakter des Handelns die Möglichkeit und die Prozedur der Phänomenologie begründet. Die Möglichkeit einer phänomenologischen Beschreibung intentionaler Akte beruht j a in der Tat darauf. daß der Akt-Sinn sich im Aktvollzug darstellt und durch eine eigens auf diesen Vollzug gerichtete Reflexion erfahren werden kann. Es ist eben das Wesen des intentionalen Akts, es ist überhaupt das Wesen jedes irgend wie gerichteten Be wußtseins. sich an ihm selbst zur Darstellung zu bringen für ein anderes Bewußtsein bzw. für ein reflexives Bewußtsein. Was kommt h ier zur Darstellung, und wie kommt es zur Darstellung? Man könnte vermuten, die durch die Intentionalität etwas s ichtbar machende Leistung der intentionalen Akte bestehe darin, daß sie eben ein intentum, ein Ge meintes, Gewolltes usw. als solches vor Augen stellten : die Wahrnehmung das Wahrgenommene, das Wollen das Thema des WoHcns usw., je nach dem, was zur I ntention als spezifisches intentionales gegenständl iches oder thematisches Korrelat
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dazu gehört. Aber es ist trivial zu sagen, die I ntention lasse als I ntention das Inten dierte sehen. Das ist nicht der Kern der phänomenologischen Entdeckung Husserls. Die eigent l iche Entdeckung, die Husserl mit der Analyse der Intentionalität gelun gen ist, ist vielmehr dies : Was sich im ' Phänomen' der phänomenologischen Betrach tung von ihm selbst h e r zeigt. d a s i s t nicht einfach d a s Thema d e s intentionalen A kts. sofern es eigens gemeint ist, d . h . im Zentrum der A ufmerksamkeit steht und dem 'Bewußtsein' vorschwebt. Nicht das Bewußt-Haben als solches vollbringt schon die Darstellung, die der intentionalen Handlung eigentümlich ist. Denn was sich hier darstellt. das ist nicht so sehr das Thema des Meinens, sondern das Tun des Meinens selbst. Darin ist das Thema des Meinens nur insofern dargestellt. als es in der Tat Thema des sich darstellenden Tuns des Meinens ist. ' Phänomen' der phänomenologi schen Deskription ist der Vollzug des Meinens, nicht das Gemeinte. Phänomen ist das, was i n allem Thematisch-Haben gerade nicht Thema ist. Die Darstellungslei stung ist also relativ ·unbewußt'. Ein für das vollziehende Subjekt selbst wtenter Sinn stellt sich im Vollzug dar. Phänomenologie ist Bewußtmachung, Explikation eines zuvor im Vollzug für den Vollziehenden selbst nur unter der Hand, implicite, leiten den Sinnes.
IV Explikation eines im Vollzug zwar sich darstellenden und insofern für andere Sub jekte oder eine dazukommende Reflexion des voll:r.iehenden Subjekts sichtbaren, wenn auch dem handelnden Subjekt primär nicht bewußten, bloß impliziten Sinnes : das ist d i e Leistung der phänomenologischen Erkenntnis. Eben darin aber beruht ihre parad igmatische Bedeutung für eine Theorie der Hermeneutik. Denn der Grundzug a l ler Auslegung, derjenigen von Texten ebenso ""ie derjenigen von Hand lungen, ist Expl ikation von im Vollzug nur implizit gegebenem Sinn. ist ausdrück liche W iederholung und A neignung von solchem. was in der zu interpretierenden Praxis - auch der Praxis sprachlicher A rt - unausdrücklich miql::e leistet ist. Jede Auslegung weist d iese Struktur auf. einfach deshalb. weil sie Reflexion über das Auszulegende ist. Allein schon das ist ein hinreichendes Argument gegen die A uffassung. die Auslegung, z . B . eines Textes, habe ihren Gegenstand so zu verste hen. wie ihn der Autor verstanden habe. Jeder Interpret spielt unvermeid lich die Rolle eines, der einem bei einer Praxis Begriffenen - und möglicherweise in diese Praxis Verstrickten - Zltfitht und allein schon deshalb mehr sieht als der Tätige selbst. Die Rekonstruktion der Pra x i .!o . als die man jede A uslegung begreifen kann, kann nur so die Perspektive des Tätigen wiederholen, daß sie aus der spezifischen Befangenheit dieses Tätigen heraustritt und den Vollzug gleichsam von außen sieht, d . h . die Tätigkeit nicht einfach imitiert, sondern reflektiert. I nterpretation kopiert das Interpretierte nicht einfach, sie wiederholt es anders. Sie macht es so wie jemand, der sich handelnd an einem Beispiel orientiert. Der I nterpret eines Textes z . B. wie-
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derholt die Meinung des Autors dadurch, daß er sie kommentiert. Dazu zwingt ihn meist schon die historische Distanz, die den Text der Selbstverständ l ichkeit ent rückt hat. Es ist dieser zusätzliche Aufwand, wie er etwa im Kommentar steckt, es ist diese Differenz der Ausdrücklichkeit, die Interpret und Autor trennt, angesichts deren man gelegentlich gesagt hat, der I nterpret verstehe den Autor besser, als jener sich selbst verstanden habe. Nicht rechthaberisches Besserw issen der Sache, von der der Autor redet, ist damit gemeint. sondern der Zuwachs an Erkenntnis, der daraus entspringt, daß der I nterpret die Sprache des Autors, seine Art, die Sache zu sagen, noch einmal zum Thema machen kann und muß. So z. B., wenn er einen bestimmten Wortgebrauch analysiert, um zu zeigen, was der Autor in allem ausdrücklichen Reden über die Sache durch die A rt und Weise seines Redens unausdrücklich mitge sagt hat. Solches unausdrückliche Meinen der Sache ist keineswegs ein uneigent licher Modus einer Ausdrücklichkeit, die eigentlich statthaben müßte ; sie ist keine defi ziente Form von Ausdrücklichkeit, so wie etwa eine vergessene oder unterschlagene begriffliche Voraussetzung, die eine Theorie fehlerhaft macht. Unausdrücklichkeit ist eine Charakteristik von Ausdrücklichkeit selbst. Sie gehört zur Konstitution von Ausdrücklichkeit. Das unausdrücklich Bleibende ist das Unausdrückliche am Aus drücklichen, einfach deshalb, weil alles Ausdrückliche und weil alles besondere Mei nen eine bestimmte Praxis, weil sie ein bestimmter Vollzug sind. Zu jeder bestimm ten Praxis gehört, damit sie Praxis bleiben kann, eine Selbstvergessenheit, die verhin dert, daß das Handeln zugleich sich selbst gegenständ lich erfaßt. Das wird deutlich an der Praxi s der Sprach e : ausdrücklich redend über etwas bin ich doch unfähig, die im Reden über etwas und als dieses Reden unausdrücklich bleibenden H insichten meines Redens vollständig zugleich zum Thema meines Redens zu machen. Denn solange ich rede, d . h . ausdrücklichen Sinn herausstelle, rede ich ja, d . h . ich produ ziere oder übernehme als Sprecher einer tradierten Sprache einen Sinn, den ich im Sprechen nicht mehr eigens herausstelle. Hegel hat d iese Struktur als diejenige des endlichen 'Bewußtseins' beschrieben. I m Licht des soeben Gesagten können wir zunächst einige Anwendungen vorneh men. Wir haben innerhalb der Texthermeneutik den Fall behandelt, wo ein Text eine gegenständ liche Meinung vermitteln will. Der Text handelt von einer Sache, er argu mentiert zum Beispiel. So ein philosophischer Text. Texte d ieser A rt sind in der Regel nach dem Ideal weitreichender Ausdrücklichkeit konstruiert. Absolute Aus d rücklichkeit ist ihnen, wie ihre I nterpretierbarkeit zeigt, versagt. I nterpretation expliziert, was bei der Konstruktion des Kontextes ihrer ausdrücklichen Meinung notwendigerweise unausdrücklich geblieben ist. Am a nd eren Ende der Skala steht der Text, der ein literarisches Kunstwerk ist. I n der Regel beansprucht er nicht, eine gegenständliche Meinung zu vermitteln. Er ist kein 'Diskurs'. Deshalb erscheint der sprachliche Vollzug an ihm nicht als unausdrückliche Bedeutung im Verhältnis zum ausdrücklich Bedeuteten (Gemeinten). Der sprachl iche Vollzug schlägt sich vielmehr nieder in der ästhetischen Qualität der 'Form', und die Leistung der Aus legung besteht hier in der Explikation der Form. Diese Expl ikation ist phänomenologisch
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einigermaßen schwierig zu erfassen, weil die mögliche Vielfalt ihrer Realisierung ein Reflex des mehrdeutigen Status des herkömmlicherweise ' Form' Genannten, zwi schen inhaltl icher Bedeutung und bloß formaler Relation Schwankenden. zu sein scheint. - Endlich der Fall der Handlungshermeneutik. bei der wir weitgehend 'stummes' - wenn auch nicht absichtsvoll verschlossenes und also zweideutiges Handeln voraussetzen wollen. Ausdrücklich erscheinen hier einzelne praktische ' Ä u ßerungen' des handelnden Subjekts : bestimmte Handlungen, bestimmte Maß nahmen. Unausdrücklich. mehr oder weniger unausdrücklich bleibt i . a. das, was diese ei nzelnen Äußerungen zusammenhält, sie i n einen ' Kontext' vereinigt : die Absichten, die Zwecke. die Motive, die das handelnde Subjekt bewegen'. Die Motive sind dem Handelnden mehr oder weniger bewußt, j a es ist möglich und sogar häufig, daß jemand in gänzlicher Unbewußtheit seines Motivs handelt, ohne deshalb abnorm zu sein. Auch i n diesem Zusammenhang gilt, analog zur Praxis der Rede. daß dem Handelnden absolute Ausdrücklichkeit unerreichbar ist, sogar hinsichtlich der Vergegenwärtigung seiner Motive. Alles Handeln muß am Ende diese Möglichkeit, latente Motive nicht völlig vor Augen bringen zu können, d. h . auf eine letzte Selbstrechtfertigung verzichten zu müssen, anerkennen. Vermutlich han delt es sich bei dieser Grenze des praktischen Bewußtseins nicht einfach um ein factum brutum . das unreflektiert akzeptiert werden m u ß ; vielmehr scheint sie positiv im Phänomen der Tradition begründet, das alles Handeln bestimmt. Die Aufgabe der nachkommenden I nterpretation besteht darin, jene wirksamen - und gerade als unaus:drückliche w irksamen - Motive ausdrücklich zu vergegenwärtigen, um der Besessenheit durch Tradition zu entgehen.
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H ermeneutik, Auslegung, hat also. wie gezeigt, als vermutlich einzige ihren Spielar ten gemeinsame Charakteristik die Struktur der Expl ikation von implizitem Sinn, der sich in je verschiedenen p rakti5.chen Vollzügen darstellt. Die Praxis der Sprache ist dafür parad igmatisch : I m Sprechen einer bestimmten Sprache dient mir die Spra che auf der semantischen Ebene dazu, gewisse Sachverhalte ausdrückl ich zu formu lieren. Ich gebe dem andern die Sache ausdrücklich zu verstehen. I ndem ich dabei i n Sätzen spreche, mache i c h ü b e r die inhaltlichen semantischen Bestimmungen hinaus noch Gebrauch von zusätzlichen H i nsichten. die ich beim Sprechen selber im Nor mal fall nicht oder kaum thematisiere und die auch vom Adressaten meiner Rede nur im Falle schwieriger oder gestörter Verständigung durch Beachtung des Wie meines •
Nachkommtndts Vtrstchtn ( A uslegen) dts H;andl ungskonttxtts formulitn ausdrücklich den MotiV7u nmmenhang. Am einfachstcn - auch als didakt isches Beispiel am tinfachstcn - ist das dann, wtnn, wie
MiJX Wtbfor eingeschärft hat, der Kontext ' n... eckrational' ist. Eint bestimmte Absicht wird, zunächst h y pothetisch, "Is organisierendc\ Prinzip eill7.dntr Handlungen in Annt"'. gebracht. Kr inlinalgeschich· ten nutzen d i eses Verstehensschtma. - Zweckrationales HIndeIn hat frtilich als Paradigma auch den Nachuil, dit Idee totaltr A u s d rü c k l ichkeit nahe7.ulcgen.
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Sprechens - der Wortwahl. der syntaktischen F ü g u n g u s w . - ausdrücklich wahrge nommen werden. Das sind inhaltliche (semantische) Nuancen, die den gebrauchten A u sdrücken aus der allgemeinen und besonderen Geschichte ihres Gebrauchs zu kommen. und es sind bestimmte Regeln des Sprechens, die sich nachträglich als syntaktische Regeln vergegenwärtigen lassen . I m Sprechen selbst jedoch habe ich die mitvollzogenen inhaltlichen H insichten und die syntaktischen Regeln nicht für sich. unabhängig von den konkreten Anwendungen, vorstellig. Ich verstehe sie. aber nur so, daß ich ' m ich auf sie verstehe'. nämlich auf ihren Gebrauch. Ich 'beherrsche' die Sprache, d . h . ihr inhaltliches Repenoire, und ich 'kann' ihre Syntax. Für einen, der meine Rede unabhängig von der konkreten Verständigungssituation, gleichsam von außen, betrachtet, stellt sich daran ein Sinn dar. den der Redende aktualisiert. aber nicht e igens ausgesprochen hat. E r kann diesen semantischen und syntaktischen Sinn für sich formulieren und die Regeln, die ich nur angewendet habe, zum Gegenstand einer A nalyse machen. Das i n meiner Rede Implizierte wird ihm Thema einer theo retischen Betrachtung. Er treibt Linguistik. Linguistik ist Hermeneutik der Sprach praxis. Explikation des i m Sprechen nur implicite gegenwärtigen Sinnes. Das i n allen Vollzügen unausdrücklich präsente konstitutive Unausdrückliche können wir auch charakterisieren als unbewupte Leistung: unbewußt im Verhältnis zur Bewußtheit dessen, was der Vollzug im einzelnen intendiert. Das Unbewußte ist hier daher ein relativ Unbewußtes, relativ zur Bewußtheit dessen, worauf der Voll zug gerichtet ist. Die Relativität der Unbew u ßtheit läßt Grade zu. Der im Vollzug präsente Sinn kann mehr oder weniger bewußt, mehr oder weniger unbewußt sein. Sicher ist nur die D ifferenz, d i e den Vollzugssinn vom gegenständlich präsenten intendierten Sinn als einen unbewußten u nterscheidet. 'Unbewußt' meint, wie w i r gesehen haben. n i c h t unwirksam, i m Gegente i l : die Wirksamkeit d e r den Vollzug ermöglichenden Sinnleistung beruht gerade darauf, daß diese Leistung unthematisch bleibt, gleichsam unter der Hand gesch ieht. Hermeneutik jeder Art kann also unter dem angegebenen Aspekt als Bewuptma chung eines zuvor unbewupten Sinnes begriffen werden. Für die Texthermeneutik hat diese E i nsicht seit der romantischen Hermeneutik im Grunde bis über D ilthey hinaus gegolten, sofern hier I nterpretation vorzüglich als Bewußtmachung der im unbewußten Schaffen des Genies wirksamen Selbstauslegung des Lebens und der gesch ichtlichen Vernunft begriffen worden ist. Die Theorie des sozialw issenschaftli chen Verstehens nähert sich diesem Gesichtspunkt neuerdings immer mehr, seit es deutlich wird, welche Rolle hier die Aufklärung unbewußter Motive spielt.
VI So i s t neuerdings von ] . H abermas die Konzeption d e s Unbewußten in die Theorie der Hermeneutik eingeführt worden, u m speziell das sozialwissenschaftl ich orien tierte Verstehen auf einen zureichenden Begriff zu bringen und vor allem u m das
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hermeneutische Verfahren selbst i n seither nicht geübter Weise zu komplettieren und zu revidieren. Habermas' Vorschlag einer 'Tiefenhermeneutik' hat den Begriff des Unbewußten und seiner Aufklärung bekanntlich z u r G ru ndlage eines neuen Selbst verständnisses und einer neuen Praxis der Hermeneutik zu machen versucht. Nun könnte eine Erinnerung daran prinzipiell förderlich sein, daß es I nterpretation jeder Art mit der Bewußtmachung unbewußter Leistungen zu tun hat. Indessen scheint Habermas' Versuch einer Erweiterun g der vertrauten Möglichkeiten der Hermeneu tik d u rch Einführung eines sehr speziellen Begriffs des Unbewußten mit erheblichen Unzulänglichkeiten belastet, die eine phänomenologische Kritik nötig machen. H abermas' Idee einer Tiefenhermeneutik adaptiert Freuds Konzeption des Unbe wußten, um einer Gefahr aller Auslegung, nämlich der unkritischen Hörigkeit vor der Tradition. zu steuern. Der Rückgriff auf Freuds Modell der reflexiven A u fklä rung des mit Zwangscharakter wirkenden U n bewußten soll Henneneutik als ein Moment gesch ichtlicher Selbst befreiung ermöglichen. I n dieser A bsicht akzeptiert Habennas jedoch auch Freuds Begriff des Unbewußten, und damit sitzt er einer Äquivokation im gängigen Ausdruck 'das Unbewußte' auf, die seit Freud existiert und die den Sachverhalt. der getroffen werden soll. eher verdeckt. Ich skizziere im folgenden die Differenz zwischen dem U nbewußten im Sinne Freuds und dem U n bewußten, dessen Bewußtmachung d a s Geschäft der Hermeneutik i s t . t ) D a s U nbewußte im S i n n e v o n Freud und H a bermas ist n i c h t von A nfang a n u n d prinzipiell k e i n Thema d e s 'Bewußtseins'. Es ist vielmehr d a s Unbewuflt-Ge wordene. U nbewußte Motive sind hier ursprünglich Themen des Bewußtseins, und sie sind unbewußt geworden, weil sie Themen des Bewußtseins gewesen sind. Sie sind aus dem Bewußtsein verdrängt. Das besagt doch, daß sie dort eigentlich h inge hören. I h re eigentümliche Wirksamkeit. der Zwang, den sie ausüben, hängt damit zusammen, daß sie als anfängliche Themen des Bewußtseins verdrängt worden sind. auch daß der Zwangscharakter des Verhaltens als Leiden erfahren wird. Dieses Lei den und die Möglichkeit seiner Therapie durch die vom Therapeuten eingeleitete Selbstreflexion sind epistemologisch gesehen ohne besondere Bedeutung. Die Unbe wußtheit des Motivs und seine Bewußtmachung sind epistemologisch kontingent, d . h. das Motiv kann an sich den Status ' u nbewußt' oder 'bewußt' haben; es ist ihm nicht wesentlich, unbewußt zu sein. Im Gegente i l : es ist ihm sogar wesentlich, bewußt zu sein. Es ist nur aus zufäl ligen Gründen unbewußt geworden und macht sich deshalb durch seelische Dysfunktion und Leiden bemerkbar. Wegen d ieser Kontingenz ist die Bewußtwerd ung und Erinnerung des unbewußten Motivs ver mutlich nicht, wie Habermas nahelegt, ein Lern- und Bildungsprozeß, sondern eine Therapie, d . h . die Reparatur eines Mangels, Zurechtrückung einer schief verlaufen den Geschichte. 2) Aber w i rd der Bann einer in Verstrickung befangenen Geschichte gebrochen, wenn Hermeneutik bewußt macht. was an unbewußtem Sinn, nämlich an positivem Sinn, i n ihrem Gegenstand steckt? Ist diese Bewußtmachung dessen, was den Zusam menhang der einzelnen Momente eines Textes, eines Handlu ngsverlaufs usw. erst
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positiv �ekonstru icrbar macht. eine Therapie. die von den Verstümmelungen einer Geschichte befreit. an denen früheres U n bcwußt-gewordcn-Scin von Motiven dieser Geschichte die Schuld trägt? Die A nwendbarkeit des psychoanalytischen Begriffs des Unbewußten auf Hermeneutik läßt sich folgendermaßen bestreite n : Die Unausdrücklichkeit v o n S i n n , d e r durch I nterpretation an sprachlichen Oh jektivationen oder an Handlungszusammenhängen ausdrücklich formuliert wird, ist nicht kontingent wie die Unbewußtheit des Motivs, von der die Psychoanalyse ausgeht, sondern essentiell. Das Unausdrückliche könnte hier nicht ursprünglich auch ausdrücklich sein. Es ist nicht u nausdrücklich geworden wie ein beliebi ges Thema, von dem sich die Aufmerksamkeit abwendet oder das mit Erinneru ngsver bot belegt w i rd (und eben deshalb seine Wirksamkeit durchsetzt), sondern es ist von vornherein und notwendigerweise als Wirksames unausdrücklich. Daß im Sprechen bei aller A usdrücklichkeit etwas unausdrücklich bleibt, das sich nicht im Sprechen über . . . darstellt, sondern am Sprechen, ist kein Mangel und kein aberrantes Sprach verhalten, sondern die Vollzugsweise von Sprache selbst. Auch dem bewußtesten und aufmerksamsten Sprechen gelingt es nicht, i m Vollzug des Sprechens über belie bige Themen diesen Vollzug zugleich vollständi g zum Thema des Sprechens zu machen. Jede Ausdrücklichkeit - jedes ' B ewußtsein' - behält wesensmäßig ein irreduzibles Moment von U n ausdrücklichkeit an sich, das durch kein noch so reflektienes Ver halten eingeholt werden kann. Jede Reflexion i n bezug auf das unausdrücklich Blei bende trifft angesichts ih rer selbst auf dieses Phänomen, das konstitutiv ist für die Seinsart von 'Bewußtse i n ' . Wir k ö n n e n a l s o sagen, daß unausdrücklich bleibender Sinn im U nterschied zu dem, was die Psychoanalyse und H abermas vor A u gen haben, zur Normalitiit von Sprechen, von Lebenspraxis und ganz generell von ' Bewußtsein' gehören. Eben deshalb ist seine Bewußtmachung durch andere oder - nachträglich - durch das Subjekt des Vollzugs keine wie auch immer geanete Therapie, kein Durchschauen von Zwangsmechanismen. Hermeneutische Explikation gehört zur Normalität von Sprechen und Handeln und w i rd höchstens provoziert durch m ißlingendes Verste hen und Zusammenspiel der Handelnden. Sie hat überhaupt keinen Entlarvungscha rakter wie die psychoanalytische Reflexion, die deshalb so geeignet erscheint für das Geschäft der Ideologiekritik. übrigens ist sie ebensowenig analytische Freilegung vergessener oder unterschla gener Voraussetzungen, deren Mangel einer Theorie kritisch angelastet wird, weil solche Voraussetzungen i n den inhaltlichen Zusammenhang der Theorie gehören. Hermeneutik rückt auch i n dieser Weise nichts zurecht. Sie ist auch nicht, wie oft vermutet, Entschlüsselung eines absichtlich ' versch lüsselten' Sinns. Die Notwend ig keit der I nterpretation ergibt sich i n der Regel nicht aus der A bsicht, die Kommu ni kation mittels Chiffrierung einzuschränken, sondern aus zeitlicher oder sozialer Distanz. Für den I nterpreten besteht vielmehr die Forderung, einen Text z . B . so zu interpretieren, als habe dessen Autor geradenwegs und ohne Umschweife alles mit-
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geteilt, was er mitzuteilen gehabt hat. Freilich sagt man bisweilen, man verfüge nicht über den 'Schlüssel' z u einem Text oder einer Praxis. I n Wahrheit meint man aber den Horizont, der, wie i n jeder Erfahrung, erst den Bedeutungszusammenhang stif tet, der das einzelne überhaupt verständlich macht.
KARLHEINZ STIERLE TEXT ALS H A N D L U N G UND TEXT ALS W E R K
Wie sinnvoll i s t e s , Handlungen a l s Texte oder Texte a l s Handlungen zu erklären ? Th. Luckmanns A ntwort auf diese Frage ist eher skeptisch. Beide Erklärungsversu che stoßen auf das Bedenken, daß sich klar gezogene Grenzen verwischen, wenn eine solche Bezugsetzung versucht wird. So berechtigt Luckmanns Warnung vor einer allzu unvermittelten Zuruckführung von Handlung auf Text, von Text auf H andlung ist, so scheint mir seine Argumentation doch den Erkenntnisgewinn einer solchen Bezugnahme nicht schon von vornherein i n Frage stellen zu können. Der Text als die d ifferenzierteste und komplexeste Form der Handlung kann E insichten i n das Phä nomen Handlung gewähren, die bei elementareren Formen des H andelns sehr viel schwerer zu gewinnen sind. Umgekehrt können auf der elementareren Ebene des H a ndelns Strukturen sichtbar werden, die bei der symbolischen Handlungsstruktur des Textes verdeckt sind und sich der unmittelbaren Einsicht entziehen. So wenig also eine dogmatische und undifferenzierte Bezugsetzung von Text und H andlung ihrer jew�iligen Erkenntnis förderlich ist, so darf von einer differenzierteren Be trachtung des Verhältnisses von Text und Handlung ein Gewinn an Einsicht erwartet werden, der nur durch diese Bezugsetzung möglich wird. Ich möchte den Vorteil einer solchen Betrachtungsweise an der, wie mir scheint, elementareren Beziehung des Textes auf die Handlung skizziereni . Für Th . Luck mann scheint der Text eine ausgezeichnete Form der Verwendung von Sprache zu sein, die sich im geschichtlichen Raum ereignishaft verwirklicht. Mit dieser Auffas sung steht Luckmann i n einer alten Trad ition der Auslegung, die als Texte in einem ausgezeichneten Sinne nur jene Texte gelten ließ, die nicht so sehr kommentarbe dürftig als vielmehr kommentarwürdig sind2• Der theologische Text und der Geset zestext, aber auch der normsetzende Text im Traditionszusammenhang der großen Dichtung sind von d ieser Art. Es ist unbestreitbar, daß d ie Entstehung der Herme, Damit fass� ich Ergebnisse ein�r Reih� von Unlersuchungcn �USilmmcn, mit denen ich die FriigeslcI. lung meines Buchs T�xt dis Hdrllilllrig ( Mi.mchen 1 975) fortgeführt hilb�. Vgl. "Zur B�griHsg�5Chichte von ' Konlexl"', in Anhitl /i;r B�g rillsgcs,hKhu XVIII ( 1 974); "W;u h�ißI Re�eplion bei fiklionalen Texten ?", in PonKd 7 ( 1 975); "Die Einh�il d�s Text��", in F,mltltollcg Llurdt"r. Hgg. H . Brackert' E. Limm�n, Bd I, Frankfun 1 9 7 7 ; " lern�icl lrs�n", in Lltcrdt"r im Urltcrricht. Hg. H . Milinusch, München 1 979; "Sprt"Chsituation, Kontext und Sprachhandlung", in H . lenk (Hg.), HdrlJl"rlgsthcoric ;'ucrJu1:ipli"'r. Bd I, München 1979; " A ltertumswissenschahliche Henneneutik und die Anfänge der Neuphilologie", in Philologlc "rld Hrrmrrlrlllllt im 19./dhrh"rlJrn, Göuing�n 1 979. - Zur umg�k�hr ten B�lrachtungsweis�. di� die Handlung als T�xt �u verst�hen sucht. vgl. P. Rica:ur, "D�r Text ills Mod�lI: h�nnen�uusch�s VerMehm ", in W . l . Bühl ( H g.), Vcrsuhcrldr S01:.ologir, München 1972, S. 2 52-281. 1 Vgl. Vcrf . , "Zur B�griffsg�schicht� von Kont�xt" S. 1 46.
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neutik mit der Auslegung solcher Texte im prägnantesten Sinne, das heißt normset zender Texte, verbunden war. A llerdings bedarf es hier schon der Erinnerung daran. daß bereits im 19. Jahrhundert eine eigene philologische Hermeneutik sich aus viel fältigen Traditionszusammenhängen heraus entwickelte, die nicht mehr allein auf die Auslegung der großen Texte bezogen war. Die philologische Hermeneutik des 1 9 . J ahrhundens sah vielmehr zuerst in aller Deutlichkeit das hermeneutische Pro blem, das in der unauflösbaren Rückbindung auch noch des singulärsten Textes an seine Sprache, und das heißt an ein allgemeines System yon Zeichenkonventionen, liegt } , Der dialektische Zusammenhang von Sprache und Rede, einmaliger Verwirk lichung des herausragenden Textes und anonymer Arbeit am System der Sprache selbst als dem A usdruck einer ganzen Kultur, wurde in der klassischen Phi lologie am großen Paradigma der A ntike zu immer schärferem Bewußtsein gebracht. Zugleich ist es eine grundlegende hermeneutische Einsicht der klassischen Philologie, die erstmals bei A . Boeckh ausdrücklich wird, daß der Zusammenhang von Allgemein heit der Sprache und Besonderheit der Rede vermittelt ist durch ein System von Redeformen". Die Einsicht der philologischen Hermeneutik in den Zusammenhang von Struk turgesch ichte der Sprache und Ereignisgesch ichte der Rede ist in der neueren Sprach wissenschaft ebenso vernachlässigt worden wie in der auf die Tradition von Schleier macher, Dilthey und Gadamer zurückgehenden literarischen Hermeneutik. Wäh rend die Sprachwissenschaft ihre eigene Geschichte mehr und mehr aus dem Blick verlor und sich zu einer die Geschichdichkeit der Sprache übergehenden Systemwis senschaft entwickelte, wurde in der literarischen Hermeneutik die Einmaligkeit und Ereignishaftigkeit des großen normset7.enden literarischen Textes unvermittelt 1.um Gegenstand der Auslegung gemacht. Der Versuch, den Text als Handlung zu begrei fen, kann sich gerade die Tradition der so gut wie vergessenen philologischen Her meneutik des 1 9 . Jahrhunderts zunutze machen. Deren Einsichten lassen sich unter der leitenden Fragestellung nach dem Text als H andlung neu entfalten . Es ist eine wesentliche Voraussetzung für den Versuch, den Text als Handlung zu beschreiben, daß das Moment des Kommunikativen. das die sprachliche Handlung bestimmt, nicht allein als I nformation. sondern als Konstitution eines gemeinsamen J •
Vgl. Vcrf . • " Ahcnums,.,. isscnschaftlichc Hcrmcnculik und die Entstehung der Ncuphilologie" . A . 8occkh. EPlzyltlop,j'd,c liPId Mcthodc"ll/chrr dcr- phl/ologuchc"II Wruc"II ,mtAfuPI, hg. E . Bratuschcck, un"erändcner Nachdruck dcr Ausgabc "on 1 886, Darmuadt 1 966, S. 82f.: " Ocr Zweck i�1 die ideale hcihcre F.inhcit des M ilgelhcilten, dic - als Norm gcSCl71 - Kunslregel iu und als solche �teu I n cincr bcsondercn Form, cincr GtAttllPlg, ausgcprägt cr5chcinl." 80cckh hat bcsonders dcudich den Zusam menhang z ... ischen alhaglicher Praxis des Handclns und dcn höhcrcn Formcn dcs symbolischcn Han dclns herausgcstelh: " Bcidc Scitcn des Handelns uchen in Wcchsclwirkung; dcnn das lcben ist nicht am!uordncn ohnc dcn vaü!O, wclchcr der Ordncr allcs Wohlgcordneten in, also nicht ohnc Thcoric. Diese abcr iSI nichl gcdcnkbar ohnc dic Bcdingungcn dcs äußcrrn sachlichen Dasci ns; ja das prakti�chc Handcln iSI die Basis dcs lcbcns, auf ... clchcr alles übrige ruhl und aus wclchcr das Throrcti�che sich hcuusbildct" (S. 59). Nicht ausgcschlosscn, daß Karl Marx, dcr in Bcrlin KlasSlSchc Philologie stu dicnc, sich an diesen oder eincn ähnlichcn Salz aus der Enzrklopadie"orlcsung Borckh, (cr hielt \IC "on 1 8 09- 1 865) erinncnc. als cr BUIS und Obcrl»u z u l.entralcn Kalcgoricn seincr lchre machlc.
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Handlungshorizonts aufgefaßt wird. innerhalb dessen die Rollenzuordnung von Sprechendem und Angesprochenem und darüber hinaus ihre personale Zuordnung erst möglich wird. Sprechen als Handeln heißt wesentlich nicht informieren. sondern Zuordnungen innerhalb gesetzter Horizonte schaffen. Zugleich impliziert die Auffassung vom Text als Handlung. daß er nicht als eine Summe von Redeakten, sondern als eine h ierarchisch organisierte intentionale Ein heit aufzufassen ist. Die Redeakte auf den verschiedenen Ebenen sprachlicher Orga nisation sind fundiert in der übergreifenden intentionalen Einheit des Textes oder genauer der Redes. Vom Fundierten zum Fundierenden aber gibt es keinen unm ittel baren. sondern nur einen semiotisch vermittelten übergang. So wie nach G . Buck das Handeln immer schon Darstellung seiner selbst ist', sofern es implizit auf ein Schema verweist, dessen Realisierung es ist, so ist auch die Rede eine auf sich selbst verweisende Handlung, die gleichfalls über die Sprachlichkeit selbst h i nausreicht, teilhat an jenem stummen Verweisungs- und damit Zeichencharakter, der allen Handlungen eigen ist. Die Einheit der Rede wird nicht sprachlich bezeichnet, son dern vol lzogen. Das bedeutet, daß die sprachliche Information immer schon in einer sprachü bergreifenden Einheit zu synthetisieren ist. der Einheit des HandlungsvolI zugs. Erst auf der Ebene der Handlung werden die Sätze Momente eines Zusammen hangs, nicht schon auf der Ebene einer wie auch immer gearteten sprachlichen I nfor mation selbst. Jede sprachliche Setzung einer Sachlage ist zugleich ein Vollzug, der bezogen i!>t auf eine konstitutive Situation, die Sprechenden und Angesprochenen vereinigt. Wenn diese Situation als kommunikative Situation aufgefaßt werden kann, so nur unter der Voraussetzung, daß diese kommunikative Situation sich als eine Situation symbolischen Handeins bestimmt. Die von Th. Luckmann geforderte dif ferenzierte Zuordnung von Text und Handlung kann daher sinnvollerweise nicht darin bestehen, beide Bereiche einfach zu scheiden. sondern nur darin, ihren Zusam menhang i n einzelnen Schritten sorgfältig zu rekonstruieren. Es gibt Schwellen im übergang von Handlung und Text, die sich genau bezeich nen lassen. Eine erste Schwelle hat K. Bühler in seiner Sprachtheorie ausdrücklich gema.cht. Es ist die der Entbindung der Sprache als eines noch Olbhängigen, punktuel� len Moments im Kontext einer übergreifenden Realhand lung zu einem Zusammen hang ('igener Art'. Der Schritt vom Wort :zum Satz bedeutet die kontextuelle 'Selbst versorgung' der Sprache und damit erst den übergang :zu einer eigenen Form von symbolischer Handlung, die ins Feld der praktischen Handlu ngen eingelagert ist und \ � 1
Vj;I. R . Homgl�.. "ld. D,r GrlmdL.gr" drr Dr"ltpsy,hologw. h'ipzlg/B�rlin 1 925. S. ]6: "Em In der Einhei1 Jer Rede wuruln die Bedingungen fur die MagJichkeil luch dei Salzes." Vgl. o . S. S28. Vgl. K . Buhler. Spr4cbtbeonr _ Dir Dtirstr'b",gsl""lttio" drr Sp,tI,br. S1u1lgln ! 1 96S. S . ]66 f . : "Es gibl i m AnwendungsbrrC'ich der mC'nschli.. hen Sprlch7.eichen einen Bcfreiungsschri1t. der virIleichi elnmll im WerdC'glßg der MrßschC'ßsprlche zu JC'ß eßl5cheid�ndslen g�horl�. Wir ( . . . ) kannen ihn ( . . . ) s}'nemlli5ch bC'5limmrn 115 di� Brfn:.ung. so .... �il �ie g�hl und moghch gC'wordC'n in, von den Silualionshilf�n. Es iSI dC'r Obcrglng vom .... C'sC'ntlich unpnklischen SprC'Chen zu wC'ilgrhend 5yns�· m.lßmch sdbnlindigC'n (selbSiversorglen) Sprlchprod uk1en."
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in diesem zu eigener Bedeutung kommt. Daß dies möglich ist, setzt, in welcher Weise auch immer, jenes Moment voraus, das die Sprache aus einem beliebigen Zeichensystem erst zur Sprache macht : die Syntax. Die Syntax organisien sprach liche Einheiten als Ä q u i valente von symbolischen Akten, die ihrerseits d i e Bedin gung der sprachlichen I nteraktion sind. Eine zweite, ebenso entscheidende Schwelle aber liegt beim übergang vom Satz und seiner formalen Struktur zu jener Einheit, die nicht mehr formal gesichert ist. sondern nur i m Vollzug der Satzfolge bedeutet werden kann, der Einheit der Rede. Erst beim ü bergang vom Satz zur Rede als Satzfolge erweist sich, daß der Satz selbst schon eine zweifache Einheit ist: die Einheit der i nnersprachlichen Konfiguration des Satzes und die intentionale E i nheit des i m Satz bewirkten Sprechakts. So macht der übergang zu einer nächsten Stufe sichtbar, was zuvor nur als Potentialität ange· legt war. Auch bei den folgenden Schwellen im A ufbau der Rede wird sich beobach ten lassen, daß das, was auf einer Stufe sprachlicher Komplexität noch Potentialität ist, auf einer nächsten Stufe als konstitutive Struktur zur Geltung kommt. Der ü bergang vom Satz zur übergreifenden E i nheit einer sprachlichen H a ndlung vollzieht sich nicht m i t der elementaren Stringenz des übergangs vom Wort zum Satz. Hier kommen institutionelle Momente ins Spiel, die es erst erlauben. den Bereich der Rede zu d ifferenzieren und den A ufbau des 'Universums der D iskurse' zu beschreiben. U m ü berhaupt die Möglichkeit des Diskurses als einer komplexen. in sich selbst z u rücklaufenden Form sprachlichen Handelns beschreiben zu können, ist es erforderlich, bei sehr elementaren Formen symbolischer I nteraktion durch Sprache einzusetzen. Ein ideales Modell der elementaren Kommunikation ist das des Gesprächs unter einer Mehrzahl von Beteiligten. Was hier als ein Ganzes zusammen· kommt, ist eine Vielfalt offen ineinandergreifender Sprechakte, bei denen die Vertei lung der Sprechchancen immer nur zu elementaren Diskursen führen kann. Schon auf dieser Ebene ist zwar die einseitige Verteilung von Hörer· und Sprecherrollen für eine Zeit möglich, aber nur zufällig, unter besonderen Bedingungen und als instabile Möglichkeit. D i e prinzipielle Symmetrie von Sprecher- und Hörerrolle aller an einem Gespräch Beteiligten erlaubt keine Ausd ifferenzierung von festen Diskurs formen. Der übergang von der elementaren Form sprachlicher I nteraktion und dem ge brochenen, polyphonen Diskurs des D i alogs zum Zusammenhang einer geordneten Rede als dem komplexen Vollzug einer symbolischen Handlung ist an Vorausset zungen gebunden, die sich nur mit den M itteln einer Handlungstheorie genauer beschreiben lassen. Die Entwicklung komplexer Rede setzt eine Asymmetrie von Sprecher und A ngesprochenem voraus. Bedingung dafür aber, daß überhaupt so etwas wie Asymmetrie zwischen Sprechendem und Angesprochenem möglich wird, ist eine Sprechsituation, die das Verhalten von Sprechendem und A ngesprochenem für einen bestimmten Zeitraum institutionell festlegt. Die Vorgabe der Sprechsitua tion ist gleichsam das a priori der Einheit der Rede'. Was auf der Ebene des offenen I
vgl. Verf. • "Die Einheil des Texlcs" S.
l 79ff.
TEXT ALS HAN DLUNG UND TEXT ALS W E R K
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Diskurses im Dialog s i c h nur akzidentiell verwirklicht. d e r in s i c h stimmige Zusam menhang des Dialogs zu einer sich entfaltenden Kontinu ität. ist das Formgesetz der Rede unter der Bedingung einer vorgängigen stabilisierten Sprechsituation. Die Aus differenzierung des U niversums der Diskurse ist an d i e A usd ifferenz ierung solcher Sprechsituationen unauflöslich gebunden. Dies wird besonders sinnfäl lig bei jenen in sich selbst ausd ifferenzierten und i n sich selbst zurücklaufenden Diskursen, die man als ' M akrod iskurse' bezeichnen könnte. Jede Gesellschaft verfügt nur über eine begrenzte Menge institutioneller Situationen, in denen solche Diskurse möglich sind. Denn daß diese möglich sind, setzt i n erhöhtem Maße eine entsprechende Sicherung durch I nstitutionen voraus. Es ist für den A ufbau der Mögl ichkeiten sprachlicher Artikulation eine grundle gende Voraussetzung. daß jede Ebene schon in sich Mögl ichkeiten enthält, die erst auf einer neuen Ebene strukturell zum Tragen kommen können. D i e elementare Sprachhandlung enthielt als Möglichkeit schon ihre Vermittlung i n der neuen Ord nung des Dialogs. I n diesem aber ist schon die Möglichkeit der Rede angelegt. die sich erst unter der neuen Ordnung der asymmetrischen Kommunikationssituation in der Diskursinstitution verwirklichen kann. I n der diskursiven Realisierung der ein fachsten wie der komplexesten Form sprachlicher H andlung ist aber zugleich schon die Möglichkeit angelegt, diese selbst der Einmaligkeit zu entheben, sie auf Dauer zu stellen. und 7.war durch spezifische Techniken der formalen Gestaltung. Auf allen Ebenen der sprachlichen Konstitution gibt e:; O.dnungsmöglichkl!iten. die in beson derem Maße der Memorierbarkeit der sprachlichen Handlung und damit ihrer Wie derho lbarkeit entgegenkommen. Schon die Ordnung der gesprochenen Rede also kann auf deren Wiederholbarkeit angelegt sein. I m H i nblick darauf aber ist der übergang von der Rede z u ihrer schriftlichen A ufbewahrung, das heißt der über gang zum Text im prägnanten Sinne, erneut eine Schwelle. Das Problem der Memo rierbarkeit und damit zugleich das der Wiederholbarkeit der sprachlichen Handlung ist hier auf grundsätzlich neue Weise gelöst. Unter der Bedingung der Schriftlichkeit aber werden jene strukturellen Formen der klanglichen, rhythmischen, syntakti schen und semantischen Prägnanz. die das Memorieren erleichtern sollten und die die Ordnung des Diskurses sinnfäl l i g machten. überflüssig. Damit kann die pragma tische Funktion solcher Strukturen eine neue Geltung als ästhetische Funktion ge winnen. Zwar ist der übergang von pragmatischer zu ästhetischer Funktion immer fließend, doch verändert sich unter den Bedingungen des schriftlich aufbewahrten Textes das Verhältnis von dominanter und sekundärer. pragmatischer und ästheti scher Funktion grundlegend . Was für das Verhäl tnis von pragmatischen Strukturen der Memorierbarkeit zu ästhetischen Ordnungsstrukturen gilt, ist aber nur ein besonderer A spekt einer um greifenden Möglichkeit ästhetischer Freisetzung. Diese ist aufs engste an die Ausdif ferenzierung des U niversums der Diskurse selbst gebunden und erscheint zugleich als deren Kompensation wie als ein Moment d ieser Ausd ifferenzieru n g selbst. Die pragmatischen Formen sprachlichen HandeIns sind zwar selbst immer schon mehr
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oder weniger ästhetisch gesättigt. doch können sie auch spielerisch überschritten oder reflexiv transformiert werden. Der pragmatischen Ausbildung der Diskurse korrespondiert an einem bestimmten Punkt der Entwicklung die ästhetische Freiset zung. I n seinem Buch Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik hat H . R. Jauß die systematisch entfaltbare E i nsicht formuliert, daß die nach Sinn bezirken geordneten D iskurse der Lebenswelt ästhetisch-fiktionale Freisetzungen entwickeln, so daß diese einen ganz verschiedenen Charakter gewinnen können, je nach dem Sinnbezirk und seinen pragmatischen Formen sprachlichen Handeins, denen die Freisetzung entspringt9, Zugleich aber ist die Spezifik poetischer und fiktionaler Freisetzung bezogen auf jene Schwellen im Aufbau des sprachlichen H andeIns, die sich systematisch entwickeln lassen. I n dem Maße, i n dem die Rede sich auf sich selbst zurückbezieht, sich selbst zur Situation wird, w i rd zugleich die pragmatische Situation in ihrem Charakter verän den. Von einer unmittelbaren H a ndlungssituation wird sie zu einer vermittelten Symbolsituation. Das Handeln als sprachliches Handeln bedeutet mit Bezug auf die H andlungsintention eine Umwegstruktur. So ist die Realsituation der sprachlichen I nteraktion imme r schon eine durch die Symbolsituation vermittelte. Die Enthebung aus der Realsituation aber findet ihre Realisierung als Struktur i n der durch Sch rift aufbewahnen Rede. M i t dem übergang von der Rede zu ihrer Vergegenständlich ung als Schrift ist erneut eine Schwelle i m Aufbau des symbolischen Handlungsfelds der Sprache erreicht. Erst die i n der Schrift festgehaltene Rede ist in einem prägnanten Sinne Text. Die übergänglichkeit der Rede als Vollzug, ihr Nacheinander, wird zum Nebeneinander der Schrift arretien. Für den Schreibenden bedeutet dies die Mög lichkeit, daß er i n einem unendlichen Prozeß der Adäquation die Momente des geschriebenen Diskurses immer genauer einander zuordnen kann, da ihm alle Mo mente noch verfügbar sind. Pascal hat i n einer scharfsinnigen Reflexion auf den letztlich nur d u rch einen dezisionistischen A kt aufhebbaren Zirkel von A nfang u nd Ende des durch die Schrift arretienen Diskurses h ingewiesen: " La derniere chose qu'on trouve c n faisant u n ouvrage, est de savoir cellc qu'il faut mcttrc l a premierc" (No. 1 9). 1 0 Damit freilich gewinnt auch die Rczcption eine zwcifache Perspektive. Sie muß aus der Fixierung der Schrift den Vollzug dcr Rede in seiner Dynamik erst wiedergewinnen. Dabei bleibt cs dem Akt des Lesens selbst anheimgestellt, den Vollzug dcr Rede einem eigenen Rhythmus zu unterwerfen. Der Text als Vollzug i st zwar im Text als objektivcm Korrelat der Rede fundiert, muß aber im Leseakt immer neu konkret entworfcn wcrden. Zugleich aber gibt erst die im Text arreticrte Rede •
IC
H . R . Jauß, Ästhrtischr Erf.. hr-IIP11 liPId liur-.. rischr HrrmrPlru,jlt, Bd I , Munchrn 1 977, S. 1 6 1 . J a u ß spricht hirr von drm " G renzverhähnis der ästhetischen Erfahrung zu anderen Sinnbereichen d �r Lebenspraxis". Dieses Verhältnis wird gerade im Medium der Sprache als Verhältnis praklischer zu poetisch-fiktionaler Rede unminclbar sinnfällig. Vgl. hierzu auch die von Jauß vorgelegte S)'slematisie rung der " kleinen Gattungen des Exemplarischen" im Mittelalter (H. R . J.luß. "Die kleinen G.ltlungen des Exemplarischen .115 literarisches Komm unikationssystem", in den., Altrntiit umJ Modrrllltiit Jer
","uw/ur/ichrPl Liurdtltr. München 1 977. S . l4-47) .
B. P.lISC.lII, PrPlIÜl, Hg. Ch.-M. des G r.angcs, Puis 1 964, 5. 78.
TEXT A l.S HANDLUNG UND TEXT Al.S WERK
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die Möglichkeit frei. im Fortgang der Rezeption zu rückzugreifen auf früher schon Rezipiertes und so die Obergänglichkeit der Rede gleichsam erneut zu arretieren. den Text und seine Bedeutung in der Dialektik von Struktur des Textes und Prozeß der Rede zu erfassen. Erst der durch die Schrifdichkeit arretiene Text eröffnet zugleich die Mögl ichkeit, den Horizont der ersten Lektüre mit seinem anwachsen den Kontext nach links zu komplettieren durch den H o rizont einer zweiten Lektüre, wo jeder Leseakt im Vorwärtsschreiten der Rezeption zweifach situien ist, durch den Kontext nach links wie durch den schon gewußten Kontext nach rechts. Damit aber gew innt die Handlungsdimension der Rede erneut an Komplexität. Der in der Schrift festgehahene Text ist ein Text ohne Situation. E r muß aus seiner symbolischen Onlosigkeit allererst in eine Situation des symbolischen Handelns zurückgestellt werden, die der Text implizien, ohne sie doch selbst bereitstellen zu können. Wenn schon im kon kreten Vollzug der Rede als einem sprachlichen Han deln die Realsituation als eine Symbolsituation gedeutet werden muß, die in die konkrete, beobachtbare Realsituation eingebunden ist, so verlangt die Dekodierung der Rede des Textes als Rede, daß der Leser in der Lage ist, die symbo lische Situation unabhängig von einer gegebenen Realsituation beizustellen, das heißt zugleich, daß er sich aus seiner eigenen kon kreten Situation in die vom Text impl izierte symboli sche Situation zu versetzen vennag. Wenn jeder schriftl ich verfaßte Text strikt unter den Bedingungen einer solchen texrimmanenten und texuranszendenten Rezeptionssituation steht, so besagt dies nicht, daß jeder Text i n seiner konkreten Verfaßtheit d i eser Situation Rechnung tragen müßte. Hier zeichnet sich erneut eine Schwelle im Aufbau der sprachlichen Handlungen ab. Als Werk läßt sich genau jener Text bestimmen, der in seiner Komposition der durch die Schriftlichkeit des Textes vorgegebenen Rezeptionssitua tion selbst konsequent Rechnung trägt. So erhält jene am schriftlichen Text schon skizz ierte unaufhebbare Dialektik von Prozeß und Struktur i m Werk ihre höchste Prägnanz. Die in der Schriftlichkeit auf Dauer gestel lte sprachl iche Handlung erfüllt sich im Text als Werk. So ist der Text als Werk nicht loslösbar von der elementaren Dynamik des Textes als Handlung. Der Leser muß den Text als Werk allererst in einen Text als Vol lzug und genauer in einen Text als Handlung übersetzen. Erst wenn das Werk zur Handlung geworden ist, kann deren Konkretisation als Werk im Horizont einer zweiten Lektüre zu Bewußtsein kommen. Das Werk ist ein Text, der von vornherein auf eine Pluralität von Lektüren angelegt ist, und zwar sowohl auf eine Pluralität von Lektüren des jeweils einzelnen Lesers wie auch auf eine Pluralität von Lektüren vielfältiger Leser, die das Sinnpotential des Werks erst erschließen können. Wenn im Vollzug der Aneignung des Werks das Werk zur Redehandlung wird. so i n der Weise, daß der Text als Handlung das Thema, der Text als Werk sein Horizont ist. Ist einmal i n d ieser Perspektive der Text angeeignet, so wird das Verhältnis von Thema und Horizont reversi be( l l . Es kann jetzt der Werkcharakter 11
Zun, u·\·c r,ihlc:n Vc.-rh� h n i , \"(m Thc.-nl.1 unt.l H uri.mn! bel der LeklUrc:
bC"l f l kuonollc:n Tex!en ? "
vgl. Vcri . • "Wu hc:iH! Rc:;r.c:p!ion
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des Werks zum Thema werden vor dem Horizont des Textes als Vollzug der Rede handlung. Wenn diese zweifach gerichtete lektüre die henneneutische Situation der Rezeption des Werks bestimmt, so gilt dies in besonderem Maße für jene Werke, in denen der Werkcharakter der schriftlich niedergelegten Sprache seine höchste Prä gnanz gew innt, die auf Dauer gestellten Werke der literatur und Dichtung. D i e Dichtung ist Werk i n einem ausgezeichneten Sinne und damit zugleich im Aufbau der sprachlichen Handlungen die H a ndlung von h öchster Komplexität. Denn in der Dichtung wird das Sprechen als Handeln reflexiv. Es wird hier nicht durch den Vollzug der sprachlichen Handlung mittelbar gehandelt, vielmehr wird der Handlungscharakter der Sprache selbst zur Darstellung gebracht. Zugleich aber w i rd der Handlungscharakter der Sprache, indem er zur Sprache gebracht wird, aufgehoben im Werk, das auf sich selbst und seine Konkretheit zurückbezogen ist. Das poetische Werk ist aber nicht nur auf sich selbst bezogen, " objektives Korrelat", wie T . S . Eliot formu l i erte, es ist zugleich Vollzug einer sprachlichen Hand lung, die die Immanenz des Werkcharakters überschreitet und auf die Welt des symbolischen H andelns und deren gesch ichtliche Verwurzelung zurückweist. Die Dichtung als prägnanteste Fonn des Textes als Werk ist zugleich die prägnanteste und singulari sieneste Form des Textes als H a ndlung. So muß auch die Auslegung auf beides bezogen sein. Auch noch das singulärste, i n Sprache verwirklichte Werk steht im Zusammenhang und im Aufbau der i n der Sprache und ihren Traditionen selbst angelegten Formen des symbolischen HandeIns. Eben deshalb kann eine Hermeneu tik des poetischen Werks auf Einsichten i n den H a ndlungscharakter der Sprac he nicht verzichten. Doch müßte sie umgekehn die Besonderheit des Werks verfehlen, wenn sie dabei die konkrete Einmaligkeit des Werkzusammenhangs aus dem Auge verlöre. So scheint mir, daß die Henneneutik nicht in Gdahr ist, irrezugehen, son dern nur an Einsicht gewinnen kann, wenn sie sich den G edanken vom Sprechen als H andeln, vom Text als Handlung zu eigen macht und dabei zugleich sich des Auf baus der Handlungskomplexität im Spielraum zwischen elementarer vorsymboli scher Handlung und komplexester symbolischer Handlung bewußt bleibt. Wenn somit die H andlu ngstheorie sich als ein noch kaum erschlossenes Reservoir an Einsichten in das Wesen der symbolischen Vollzüge sprachlicher Zusammen h änge erweisen kann, so darf umgekeh n der Text, und zwar i n seinen differenzierte sten Formen, als ein Paradigma des Handelns aufgefaßt werden, das dem Hand lungstheoretiker das Wesen der Handlung selbst erst voll erschließen kann. Für diesen stellt die A bgrenzbarkeit von H a ndlungen ein eigenes Problem dar, das er immer nur durch die H y pothese von der A bgegrenztheit der Handlung ü berspielen kann. Er geht dabei bereits von einer Konzeption aus, die ihre parad igmatische W i rklichkeit i n der A bgegrenztheit des Textes, i n seinem konstitutiven Verhäl tnis von Anfang und Ende gefunden hat. Die Sprache ist es, die der Auffassung vom Handeln erst die Idee der Einheit vorgeben kann. Die Bezeichnungen, die die Spra che für das H a ndeln bereitstellt, implizieren immer schon eine Einheit und Abge grenztheit, die sich dem Beobachtungsfeld des konkreten Handelns zumeist ent-
TEXT ALS HANDLUNG U N D T EXT ALS WERK
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zieht. So ist die Einheit der Handlung wesentlich i n der Sprache verankert. Diese Einheit, auf die die Sprache i n ihren Bezeichnungen des Handeins verweist, w i rd aber konkret im Medium der Sprache selbst, wenn sie sich als Handlung in ihrer differenziertesten Form realisiert.
UWE JAPP ü B E R K O NT E XT UND K R IT I K
Eine R o s e i s t e i n e Rose; ein Text i s t ein Text. Genau w e i l d i e s nicht so i s t , g i b t es d i e Hermeneutik. S o w i e d i e Rose i n d e r Erde oder i n einer Vase steht, so steht d e r Text in einer Situation. Aber wäh rend die trad itionelle Hermeneutik die Stad ien d ieser Situation durch die drei Subtilitäten des Verstehens, des Erklärens und des A nwen dens charakterisierte (und sie somit insgesamt als gelingende Situation vorstellte), kann man sagen, daß der gemeinte Vorgang in der Regel sehr viel riskanter abläuft, weshalb es sinnvoll erscheint, den drei genannten Subtilitäten die drei Fakultäten des Mißverstehens, des Andersverstehens und der Kritik gegenüberzustellen oder jene durch d iese zu ergänzen. Freilich sind die Kriterien der Unterscheidung gerin g : Mißverstehen ist a u f bestimmte W e i s e a u c h A ndersverstehen, u n d d ieses k a n n a l s K r i t i k gemeint s e i n - w e n n n i c h t als K r i t i k am vorausentworfenen Verständnis des Autors, so doch als Kritik am anderen Verständnis der anderen I nterpreten. Was auf jeden Fall aus dieser Labil ität der Kriterien hervorgeht, ist ein Entschei dungsnotstand, der zur zugleich bedauerlichen und erfreulichen Unabgeschlossen heit hermeneutischer Situationen gehört. Diese Not hat zweifellos mit der Vieldeu tigkeit der symbolischen Rede zu tun. Die Rose ist demzufol ge manchmal eine Rose, manchmal ist sie es nicht, und manchmal ist sie eine Rose und keine Rose und noch etwas anderes. In Kafkas Text Ein Landarzt, um ein berühmtes Beispiel zu nennen, ist " R osa" der Name des Mädchens, das er verliert, weil er zu dem kranken Knaben eilt, dessen Wunde als " rosa" Blume beschrieben wird usw. Pansemiotische Reduk tionen und panhermeneutische Synthesen greifen angesichts dieser - bekannten Verhältnisse gleichermaßen zu kurz. I n der Geschichte der Hermeneutik läßt sich allerdings die schematische Spur einer eigentüml ichen Synthesenbildung nachzeichnen. I n Georg Friedrich Meiers Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst ( 1 757) wird dieser Ort der Synthese von GOtt eingenommen, denn GOtt sei der Urheber des bezeichnenden Zusammenhan ges i n dieser Welt. Um zu einer richtigen Auslegung zu gelangen, muß man sich auf diesen göttlichen Kontext beziehen, indem man der Maxime der "hermeneutischen Ehrerbietigkeit gegen Gott" folgt. Den Platz Gottes nimmt in Friedrich Asts Grund linien der Grammatik. Hermeneutik und Kritik ( 1 808) der - menschliche - Geist ein, weil "der Geist das ewige Bildungsprinzip alles Lebens" sei. Diese Formul ierung leitet bereits über zu Wi lhelm Di ltheys Pos ition, die nunmehr (Entstehung der Her meneutik. 1 900) das Leben selbst als adäquaten Kontext und damit Ort der Synthese ansieht. Die Linie läßt sich fortführen zu Gadamers Wahrheit und Methode ( 1 960), wo nun das Leben an Erklärungsmächtigkeit wieder einbüßt, um dafür einen meta-
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UWt: JAPP
physischen Begriff der Geschichte zu profilieren, in deren einem Horizont als dem unentrinnbaren Kontext wir immer schon stehen. Ohne diese gewagte überlegung hier ausführen zu können, scheint sich nun eine an der Sprechakttheorie inspirierte Hermeneutik dieser Tradition der Kontext- und Sy nthesesuchc ansch l ießen zu wol len. indem jetzt die Situation des Handelns und der Handelnden als neue Expl ika tionsfolie alter hermeneutischer Schwieri gkeiten angeboten wird - ohne dabei frei lich immer in ausreichendem Maße zu berücksichtigen, daß das Schreiben, Lesen und Auslegen von Texten gerade vom Handeln suspendieren kann, wie darüber hinaus möglicherweise die literarische H ermeneutik insgesamt als jene merkwürdige Theorie angesehen werden kann, die im Gegensatz zur Handlung nicht zu Entschei dungen verpflichtet. Das wäre dann auch als ein krasser Unterschied zur theologi schen und zur j uristischen Hermeneutik zu werten, die jedenfalls in ihren prakti schen Teilen zu handlungsrelevanten Entscheidungen verpflichtet sind. Für die literarische Hermeneutik hat demgegenüber zu gelten, daß sie nur mit Schw ierigkeiten den ihr angemessenen Kontext i n einer externen Idee finden können wird. Die symbolische Rede eines literarischen Textes läßt sich nicht durch die Bezugnahme auf einen Extra-Text reduzieren, weil Symbolexplikationen überhaupt nicht als Reduktionen von Sinn, sondern als Entfaltung von Sinn aufzufassen sind. Mit anderen Worten, das Symbolisierende (symbolisant) ist nicht durch das Symbo lisierte (symbol ise) zu ersetzen, es stellt vielmehr eine Weiterentwicklung des Sinns dar. Dies nicht nur, weil das Symbolisierte sich pluralisieren kann (Rose + Mädchen + Wunde . . . ), sondern weil es seinerseits zum Symbolisierenden werden kann. Deshalb kommt die I nterpretation nicht mit einem ideologischen oder methodischen Kontext aus, sondern muß eine Vielzahl von sich weiterentwickelnden Kontexten für möglich halten. Die Symbolinterpretation ist keine Ersetzung. Sie ist vielmehr, mit den Worten Dan Sperbers, selbst ein symbolisches Exercitium. Nun können aber die wechselnden Kontexte einfach auf Mißverstehen und An dersverstehen beruhen. M ißverstehen und Andersverstehen sind augenscheinlich Weisen der Appl ikation : im ersten Fall ist sie mißlungen (eröffnet aber auch so möglicherweise interessante Aspekte), im zweiten Fall ist sie nicht entsch ieden, aber akzeptabel (insofern zwei oder mehrere Deutungen sich zwar unterscheiden, aber nicht ausschließen). Auch auf dem Hintergrund dieser Beschreibung kann der Vorgang der Applika tion zutreffend durch Odo Marquards Frage-Formel 'Was sagt mir das ?' charakteri siert werden. Nur scheint es, daß damit erst die halbe Wahrheit der Applikation verraten wurde. Es gehört deshalb zur Applikation immer auch die umgekehrte Frage : 'Was sage ich dazu ?' Damit ist nun offenbar die Frage nach dem Zusammen hang von Hermeneutik, Applikation und Kritik aufgeworfen. Die Hermeneutik, das wird man generell feststellen dürfen, tut s ich mit der Kritik schwer. Zwar taucht die Kritik gelegentlich, etwa bei Ast, Sch leiermacher und Boeckh, in den Titeln mit auf, gemeint ist aber in der Regel ein rud imentärer phi lolo gischer Begriff von Kritik, Konjektu ral - oder Echtheitskritik also. Signifikant hier-
ÜBER KONTEXT UND K R I T I K
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für ist auch die Kontroverse zwischen Emilio Betti und Hans-Georg Gadamer. Betti meinte bekanntlich, Gadamer habe mit der Rehabilitierung der Applikation die I nte gration der Kritik in die Hermeneutik betreiben wollen; ein Unterfangen, das Betti ablehnte. Nun hatte er damit aber lediglich Gadamer mißverstanden, denn auch dieser erkl ärt lapidar, Kritik gehöre nicht zum Normalfall des Verstehens. Während also die beiden H ermeneutiker im Resultat wieder einig sind, verweist Bettis 'Miß verstehen' auf eine weitere und möglicherweise angemessenere Verstehensmöglich keit von Applikation: auf eine solche, die Kritik impliziert. Aber gerade in bezug auf diese mögliche Impl ikation ist die Hermeneutik heute weitgehend unkritisch ; entwe der weil sie Kritik pauschal ablehnt oder weil sie Kritik ebenso pauschal fordert oder weil sie, wie meistens, dieses Thema als einen exterritorialen Kontext ansieht. Wenn all erdings zutrifft, daß Applikation immer so etwas wie die A nwendung des fernen Sinns des Textes auf die nahe Gegenwart des I nterpreten meint, dann ist die Frage, was ihm jener Text sagt, nicht 7.U lösen von der Frage, was er zu dem Text und vor allem über den Text sagt, kurz, was er von dem Text hält. I n diesem Sinne ist die Applikation, ob das ihre Bdürworter oder Gegner wollen oder nicht, der Anfang der Kritik.
HANS ROBERT JAUSS DER F RAG E N D E ADAM Z U R F U N KT I O N VO N F R A G E U N D ANlWORT IN LITE RAR I S C H E R TRA D I T I O N
. , A d a m , wo b i s t du ?" - die erste Frage, die in biblischer Trad ition an den Menschen gerichtet wird, ist - genau genommen - eine Scheinfrage. Gott der Herr weiß sehr wohl, wo und warum Adam sich vor ihm versteckt. Und auch Adam, sein Geschöpf, versteht den H i ntersinn d ieser ironischen Rede durchaus. Denn er antwortet gleich gar nicht auf das wo, sondern auf das implizierte warum und fügt sich damit i n das beginnende Verhör. Der Fall des ersten Menschen ist auch ein erster Fall von henne neutischer Applikation, um nicht zu sage n : der erste Fall in henneneutische Botmä ßigkeit. Doch warum fragt Gon nicht geradezu? Zeigt die ironische Fonn seines Fragens die ausgespielte überlegenheit des Herrn an oder aber ein entgegenkom mendes Verständnis für die mißliche Situation des zu Verhörenden? Liebt Jahwe vielleicht die ironische, suggestive oder rhetorische Frage, der man keinen echten Fragesinn zuerkennt, weil es für den allwissenden Gon eh keine offenen Fragen geben kann? Müßige Fragen, die man sich auf der Herrenseite zu verbitten pflegt ! Und doch hätte in der unbotmäßigen Gegenfrage : 'warum fragst du mich gerade so und warum fragst du überhaupt. wenn du die Antwort schon weißt?' für Adam - das frei geschaffene Ebenbild Gones - eine Chance gelegen. sich der übermacht seines Herrn zu erwehren. Aber der erste Mensch ist noch nicht, was er erst werden soll : das 'animal quaerens cur'. Sieht man darin eine Bestimmung seiner zu künftigen Mündigkeit, so kommen ihm auf dieser Bahn seiner Emanzipation wenigstens drei gute Feen zu Hilfe: die Philosophie, die W issenschaft und nicht zuletzt auch die ästhetische E rfahrung. Die Funktion von Philosophie und Wissenschaft beim fort schreitenden A bbau der Heteronomie, anders gesagt : bei der Umsetzung der Fragen nach dem cur i n die weltaneignende Haltung der curiositas, ist besser bekannt als die der ästhetischen Erfahrungi. Der folgende Beitrag kann daher nur einige Perspekti ven auf eine künftige Funktionsgeschichte von Frage und Antwon in literarischer Tradition eröffnen. "The answers are sciemific, at least insofar as they remain subject to rational criticism, the questions are not" - auf diesen Nenner hat Eric Weil die Frage- und Antwonrelation i m wissenschaftsgeschichdichen Prozeß gebrachtl . Dessen Dialek tik sei von der Philosophie vorangetrieben worden, sofern sie die Frage höher stellte • D:II 7. U vor aJlcm H. Blumcnbcrg, Der ProuP Jer ,hNre'ucherl Ne"llerJe, Frankfun 1973 (SIW 24). : " H umanislic Sludies : TIU'ir Obi«I, Melhods, and Meaning" , .n D.mLJ"" Spring 1 970, S. 2S0.
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H A N S ROBERT JAUSS
als die Antwon. Aus den ursprünglich ' naiven', das heißt: den Menschen i n seiner " Iiving totality" betreffenden Fragen der Philosophie gingen Wissenschaften hervor, die im Maße ihrer wachsenden Präzision die Beziehung zu solchen Fragen verloren oder sie als ' u nw issenschaftlich' wieder an die Philosophie verwiesen, nicht ohne ihr d u rch die Maxime: 'worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen' ein anhaltend schlechtes Gewissen zu bereiten. Die Rehabilitierung der Frage, die nicht schon eine wissenschaftlich lösbare Antwort voraussetzt, ist heute indes nicht nur eine letzte Chance der ' Humanitics', Sie ist auch eine wesentliche Forderung der hermeneutischen wie der w issenschaftstheoretischen Reflexion, die heute gerade auch von Disziplinen erhoben wird, die von Hause aus den Vorrang der Aussage oder A n twort (wie die Logik) oder der 'Frage des Textes an mich' (wie die Theolo gie) behauptet haben. Bei dieser Neubesinnung trin zutage, daß die Umkehrung des autoritativen Verhältnisses von Frage und Antwort im historischen Wandel der Weherklärungssysteme immer schon dazu ged ient hat, die Vorbereitung, Durchset zung und Legitimation des Neuen zu erleichtern, wenn nicht zu ermöglichen. Als Beispiel sei hier nur eine berühmte Episode aus der englischen Kirchengeschichte von Beda angeführt. Dort wird die Bekehrung zum Christentum am northumbri schen Königshof durch das folgende A rgument eines heidnischen Priesters einge leitet : " M i r scheint, König, das Menschenleben, wie es auf Erden abläuft, ähnlich dem Flug eines Sperlings, der - während du mit deiner Gefolgschaft zur Winterzeit in geheiz ter Halle zu Tische sitzest - den Raum rasch durchfliegt, zur einen Tür h i nein und zur anderen heraus. Solange er im Saal ist, berührt ihn die Kälte nicht : aber wenn er nach diesem kurzen Augenblick der Annehml ichkeit aus dem Winter i n den Winter zurückkehrt, verschwindet er deinen Blicken. Dergestalt ist auch das Menschenle ben; was auf es folgt, was ihm vorangeht, wissen wir nicht. Wenn aber diese neue Lehre darauf eine Antwort wciß, so sollte man ihr wahrlich anhängen " ' . Wenn dieses Zeugnis dafür einstehen kann, daß es - nach C. S. Lc:wis - nicht so sehr neue Fakten als neue Antworten auf alte Fragen sind, die ein Weltmodell verändern", so verdankt das von Beda berichtete Argument seine Uberzeugungskraft gewiß auch der ins poetische Bild erhobenen neuen Antwort. Dem fragenden Adam, der sich der Herr schaft einer Welterklärung entziehen will, steht also nicht a llein die oft apostro phierte L izenz der ästhetischen Erfahrung zu Gebote, fürwitzige neue Fragen stel len zu können, die erlauben, im Schutze der Fiktion eine G renzüberschreitung zu wa gen5• Zum eigentümlichen Repertoire, das den Gebrauch von Frage und Antwort i n literarischer Funktion auszeichnet, gehören a u c h die indirekte, a u s e i n e r Analogie erst zu erschließende Antwort, die eine erloschene, unterdrückte oder verdrängte ! •
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ZitiC'n nach W. GOC'IZ, "DiC' EinSlC'llung zum Todt' Im M ,"t'b,hC'r", in Dt', G,t'"zbt',t'"b va" Lt'bt'" .,,11' Tod, Goningt'n 1 976, 5 . 1 1 5 (au5 Beda Vt'nC'rabi li\. Hut. C'rd. gmtlJ A"gl , hb. 1 1 , c. 1 3 ) . ThC' Jur.rtiC'J'm4gC', Cambridgt' 1 964, 5 . 22 1 . S . dazu vI., AJtbC't;JchC' E rf.hr."g .,,11' l.t C'r.nsrbC' HC'""C'"C'.tilt, M u ncht'n 1977, 5 . 2 2 , und "Goelhe� und Val�ry5 'FauSl''', i n Com/4',.t;vt' LiUr.t"rd8 ( 1 9�.6), 5 . 2 0 1 -232.
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Frage wieder akut macht, wie andererseits die indirekten Fonnen der 'nur rhetori schen', der 'falsch gestellten' oder sogar der 'dummen' Frage, die fürs erste unbeant wortbar sind und eben darum ein fraglos gewordenes Weltverständnis aufbrechen können. Das Wehverständ nis vergangener Epochen kann selbst schon durch einen Katalog von Fragen und Antworten festgelegt und systematisiert sein. Mehr noch als die scholastische Summa ist der christliche Katechismus mit seinen zulässigen Fragen und schon feststehenden Antworten für die W issensverminlung in der Lebenswelt bedeutsam. Der Katechismus nimmt auf der Skala der h istorischen Funktionen von Frage und A ntwort die Gegenposition zum sokratischen Fragen ein, das eigens dazu dient, G ewußtes zu erschünern und den so Befragten durch die Aporie zu tieferer Einsicht zu führen. Eine Funktionsgesch ichte des christlichen Katechismus, der aus dem Frageakt vor der Taufe hervorging und über Beichtunterricht und Beichtverhör allmählich zum Unterweisungssystem für die gesamte Lebensführung ausgebaut wurde, wäre von besonderem Interesse', um konkurrierende Entwicklungen der Literatur, der Moralistik und der Geschichtsphilosophie schärfer zu erkennen. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts bemerkte Th. Jouffroy, daß das Schulkind alle Fragen, wie sie die Geschichtsphilosophie zu stellen pflegt, bereits i n seinem Kate chismus beantwortet finden könne'. Später hat sogar die Lyrik diese Konkurrenz aufgenommen, wie Victor H ugos Gedichtband Les contemplations ( 1 856) zeigt, des sen religiöse Stücke als eine A rt von laizistischem Katechismus gelesen werden kön nens. I n Kleists Amphitryon versucht der Gott durch ein 'Beichtverhör' ("Ist er dir wohl vorhanden? Nimmst du die Welt, sein großes Werk, wohl wahr?" , v. 1 420) über die Anerkennung der göttlichen Autorität die Liebe Alkmenes zu erzwinge n ; im Gegenzug dazu stellt Giraudoux die gebrochene I ntegrität d e s menschlichen Paares wieder her, indem er die Fragerichtung umkehrt und eine kritischen Alkmene den katechisierenden Weltschöpfer i n die Rolle des Geprüften versetzen und i n seine anfängl iche Zuschauerrolle zurückführen läßt'. Die allzu großen, 'letzten Fragen' werden im Ei ngang zu D iderots Jacques le Fataliste aufgeworfen, um den Leser du rch die versagte Antwort i n seinem eingespielten Roman- und Weltverständnis aufzustöre n : " Comment s'etaient -ils rencontres ? Par hasard, comme tout le monde. Comment s'appelaient- i l s ? Que vous importe? D'ou. venaient-ils? Du lieu le plus prochain. Ou. allaient- i l s ? Est-ce que I'on sait ou. I 'on va? Que disaient-ils? le maitre ne disait rien; et Jacques disait que son capitaine disait que tout ce qui nous arrive de bien et mal ici-bas etait ecrit la-haut." Die fünf Fragen eines vorgestellten Lesers machen nicht al lein den Erwartungshorizont eines Romans bewußt, der die Teleolo•
S. R�/,gion ", G�JCh,chtr: "nd Gr:gr:nu'lIrr, S . \' . Katr:chismu'. Tlibingr:n 1959; zur G�schicht� s�in�r lebcnsweltlichen Rr:levan7 ""ir: 7.ur Funktion " o n Frage und Antwon in der rr:ligiosr:n Pruis scheint mIr ein� umfassend� Unt�rsuchung 1.U fehl�n . • Mtwngr:JphrloJoph"l"r:J. Paris 1 87 5 . o S. d a l u V f . , A"hr:tlJchr: Erfllhrl",g S. 372. � H ier1u kann ich auf meinr: Amphltryon- Abhandlung in IJ�ntltdt, hgg. O. Marquard / K . Slierle, M ü n e h r: n 1 979 (Poetik u n d Hermeneutik V I I I ) , S. 2 1 3-254, '·erweisen.
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gie von Anfang, Mitte und Ende zu erfüllen pflegte. Die Negierung aller Erwanun gen trifft h intergründig das Weltcrklärungssystcm des christlichen Dogmas, die Tc.' leologie der autoritativen Antworten auf das Woher, Wohin und Wozu. und iroOl sien die Antinomie von Zufall und Providenz, individuellem Namen und namenlo sem Geschick. Auf die kleineren Fragen der Lebensführung im alltäglichen Lauf der Welt ant worten positiv die literarischen Gattungen des Exemplarischen und der Fabel. ira nisch das Sprichwort, kasuistisch die Novelle und mit belachbarer Pointe dC' Schwank. Während die Exemplasammlungen für Fragen des praktischen Handeln probate Antworten i n Gestalt von historischen Präzedenzfällen schon wohlgeordnc bereit halten, erteilt das Sprichwort eine Lehre, die dem Betroffenen nichts meh nützen kann, weil sie als Antwort auf seine Situation immer schon zu spät komml Der ironische Antwortcharakter des Sprichworts, dessen retrospektive Erkenntnis 'so ist der Lauf der Weh ! ' man sich nicht zur Regel des HandeIns machen kann, is die einfachste literarische Form, um die Fraglosigkeit des eingespielten Weltver ständnisses aufzubrechen. Eine kompliziertere Form, die nur die Frage aufw irft, un den Leser selbst abwägen zu lassen, nach welcher Norm er den Vorgang bewerte l soll, ist der Kasus. "Was ist dem Minnenden größerer Genuß, an die Geliebte Zl denken oder die Geliebte zu sehen ?" - solche und noch intrikatere Fragen, die in dilemmatischen Streitgedicht (Tenzone, Partimen) des Mittelalters thematisiert unt sogar wettkampfmäßig inszeniert wurden, waren noch im 1 7. Jahrhundert als pre ziöse "questions amoureuses" beliebt. Sie konnten nach einer berühmten H ypothes · von Andre Jolles zur literarischen Form der Novelle weitergebildet werden, in wel cher ein "unerhörtes Ereignis" den Kasus auflöst10 . Damit ist indes das moralisch· Problem, wie die involvierten Normen selbst zu bewerten sind, zumeist nicht so gleich mitgelöst, so daß das Frage-und-Antwortspiel weitergehen und - wie SChO I die Rahmenerzählung von Boccaccios Decameron zeigt - der entschiedene Kasu gleich w ieder einen neuen nach sich ziehen kann. Für die Aufklärer wird die literarische Kasuistik zu einer Waffe gegen die sanktio nierte religiöse und gesellschaftliche Moral, wie man am schönsten an den eingeleg ten 'wahren Geschichten' i n Jacques le Fataliste und an den Erzählungen D iderot sehen kann " . I n Ceci n'est pas un conte sind zwei Erzählungen mit spiegelverkehrte Konstellation von Mann und Frau, von aufopfernder Liebe und schnödem Egois mus, gegenübergestellt; die Verlagerung der Normenabwägung von der gesellschaft lichen Moral über die Frage der Theodizee zum anthropologischen Problem de Affekthaushalts (sensibilite gegen passion) macht den Kasus mehr und mehr unlös bar, bis zu guter Letzt eine Frage ad hominem den regressus ad infinitum d u rch bricht : "dites-moi, vous monsieur I'apologiste des trompeurs et des infideles, s i vou 10 11
Ein/.�h� FrJ",, � ", H.lllt ' 1 956, S. 1 6 0 f f . ; t bd . findtl sich auch tin Katalog von Fragtn dtr Minntkuu, srik. Dazu R . Warning, "Opposition und Kasus - Zur ltstrrollt in Didtrots Jacqun It fatalisrt tt so, maitrt", in dtn. (Hg.), Rtuptionliilthttrlt - Thtorrr ""ti PriUU, Munchtn 1975, bts. S. 482 ff.
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prendriez le docteur de Toulouse pour votre ami ? . . . Vous hesitez? Tout est dit"ll. Damit ist zugleich bedeutet, daß allein die praktische Vernunft die aporetischen Fragen der philosophischen Theorie zu beantworten vermag. Bei Kafka schließlich scheint die Kasuistik eigens um ihrer Unlösbarkeit willen gesucht zu sein. Die Para bel vom Türhüter pervertiert die neutestamentliche Parabelform, indem hier die lebenswendende Frage ('Was muß ich tun, um das ewige Leben zu ererben ?', Luk. 1 0, 25) gerade dazu dient, den Einlaß Begehrenden (allegorice : den verhinderten Messias?) auf der einmal eingeschlagenen Bahn unentrinnbar der Verdammung an heimfallen zu lassen D. Die unbotmäßige Frage, zu der sich der ' Mann vom Lande' schon im Angesicht des Todes in einer letzten Anstrengung aufrafft : "Alle streben doch nach dem Gesetz ( . . . ), wie kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat ?", weist in die Tradition der erlösenden Frage zurück ; man kann sie versäumen wie der Erwählte im G raalsroman. dem beschieden ist, das Versäumte auf einem langen Umweg der Bewährung w ieder gut zu machen. Bei Kafka h ingegen kommt gerade die richtig gestellte Frage immer schon zu spät; sie hat eine Antwort zur Folge. die sich dem Fragenden wie eine Schlinge um den Hals legt : " H ier kon nte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt". Das Paradoxon dieser Antwort ist eine hermeneutische Falle, in der sich K., der fragende Adam, auf eine unlösbare Interpretationsaufgabe einlassen muß, die i h n tiefer und tiefer in den unkenntlichen Sinn einer sakrosankten Schrift verstrickt. Bestätigt Kafkas Parabel noch in der Aporie die Maxime der philosophischen Hermeneutik, "daß das Fragen schwerer ist als das Antworten" 1 4, so verfügt das Repertoire von Frage und Antwort i n der Literatur andererseits aber auch über G attungsmuster. i n denen eine hilfreiche mythische Autorität die Not des Fragens erspart und die richtige Antwort zur rechten Zeit garantiert. Es sind dies vor allem das Rätsel und das Märchen, die gegen die übermacht der allzu großen Fragen nach Schuld oder U nschuld, Verantwortung von Menschen oder Göttern, Sinn oder Ab surdität der Weltordnung aufgeboten werden können - gegen das unbeantwortbare WarNm, aus dem die Erschütterung der Tragödie entspringt 's. Während die Lebens rätsel und selbst noch die sogenannten ' Rätsel der Wissenschaft' h i nter j eder Ant WOrt schon wieder die nächste ungelöste Frage erkennen lassen, gibt es für jedes l iterarische Rätsel die eine wahre Antwort, mit der alle Fraglichkeit erlischt. Zeichen dafür ist die Sphinx. die sich in den Abgrund stürzt, sobald jemand ihr Rätsel gelöst hat. Oedipus, dem dies gelingt, ist an diesem Punkt seiner Geschichte noch dem Erwählten im Märchen gleich. der traumwandlerisch sicher eine oder auch drei Fragen zu beantworten weiß, an denen alle Vorgänger versagen mußten. Oft zeigt 11
CEN frr. rolfWf1rJI/NrJ, hG. H . Binac, Paris 1 95 1 , S. 8 1 2 . Z u (t � r l)�utung "Y�rhind�"�r M�5Sias" 5 . K . W�mberg, Kt4lt,u DntN"grf1 - Dir TrIJvrmr" drs My,boJ, B�rn 1 963. H.-G. Gadam�r, W"hrhrll .."d MrtboJr. Tubing�n 1 960, 5. 345. 1 \ R . Ba"hn, S.. r R"C1"r. Paris 1 963, 5. 1 29 : " l a tragidi� consiSl� pr&isim�nl ia choisir des qurstions sans 1�5ur, dC' fac;on ia alimrnlrr d ·unr fac;on sürr l · appilil d� I'i-ch« . · ' I) 1t
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sein E rwähltsein auch eine Gabe an, die ihm auf seinen Weg mitgegeben wird. damit er eine noch unbekannte Gefahr sicher bestehen kann. Diese Gabe. von der nicht Im vorhinein gesagt wird, wozu sie nütze ist, hat den Charakter einer Antwort, die der Märchenheld schon besitzt. noch bevor ihm die Frage gestellt isti". D iese Umkth rung der gewöhnlichen Ordnung von Frage und Antwon entspricht vollauf der Gattungsbestimmung des Märchens, das - nach Andre Jolles - nicht so sehr unSfre Neigung zum Wunderbaren. das sich hier wie von selbst versteht, als das Bedürfnis der " naiven Moral" befriedigt, zu erfahren, "wie es unserem Empfinden nach i n der Welt zugehen müßte"". I nsofern antwortet das Märchen auf eine Frage, die im christlichen Katechismus wie i n seinen politischen Surrogaten nicht vorgesehen ist die Frage nach einer Welt. die unser subjektives Gerechtigkeitsgefühl und individuel les Glücksverlangen ineins erfüllen und den gefallenen Adam zum 'Hans im G lück' erheben könnte. Die Funktion von Frage und Antwon erlangt in der Lyrik ihren eigentümlichsten Gebrauch, wo sie den geschlossenen Horizont der Fragen. die eine bestimmte Ant wort erwanen lassen, verweigern oder dem Fragenden die Pflicht der E ntscheidung auferlegen, aufzubrechen und die Offenheit der Fragerichtung wiederherzustellen vermag. Im Gebrauch der Poesie ist die schlichte, geradezu eneihe Antwort auf eine Frage die Ausnahme. Hier ist der Ort, Fragen zu stellen. auf die keine A ntwort möglich ist : Fragen ohne einen wirklich Fragenden, Fragen ohne wirklich Gefragtes, Fragen ohne erkennbare Fragerichtung oder erwanbaren Sinn, Fragen an eine my thische oder imaginäre Instanz. Hier gibt es Fragen, die sich selbst beantworten oder zugleich Frage und Antwort sind. H ier kann die Antwort durch eine bloße Gegen frage abgegolten sein oder aus einer Richtung kommen, die von der Frage gar nicht eingeschlagen war. Als einführendes Beispiel kann einer der berühmtesten Verse der französischen Lyrik dienen: " Mais OU sont les neiges d'antan?". Dieser Refrain antwortet i n Villons BallAde des dames du temps jadis auf die in jeder Strophe wiederholte Frage : "ubi sunt qui ante nos in mundo fuere ? " Villon hat dieser Frage, die zu seiner Zeit schon zum Kl ischee der Vergänglichkeitstopik herabgesu nken war, die poetische Gestalt eines triumphalen Zuges der legendär schönsten Frauen gege ben. Deren Evokation erneuert von Name zu Name die Frage : 'wo sind sie geblie ben ? ' i n der Funktion einer ' rhetorischen' Frage, deren poetischer Sinn die Klage über das Dahingehen der Frauenschönheit ist. Den möglichen On als Antwon auf das wo? zu nennen, wäre prosaisc h ; für den poetischen Effekt kommt es vor allem auf die Negation ' alle sind nicht mehr hier' und das fingierte Nichtwissen an, wo sich die Toten nach christlicher Vorstellung aufhalten. Der Refrain stellt denn auch statt der bestimmten Antwort eine wiederum offene Gegenfrage, die immer dann, wenn sich die lyrische Bewegung einer Strophe zu Protest oder A uflehnung gegen den Tod zu erheben scheint, ihre beruhigende Wirkung im Tone einer weisen. väterlichen ,. Nach M . · L . TC'ncu', .. nu conte- me-rvC'illC'ux commC' GC'nrC'''. in A,." C', ,,..Jillo,u /IOp"Ls,,.C's 1 8 � 1 970), 11
5. 1 1 .
A . Jol lC'\, [".,{.ehr FormC',., S. 200.
DER
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Autorität ausübt : "Mais OU sont les neiges d'antan ?" 1 1 Ober die poetischen M ittel d ieses Verses (das emotive 'mais', den visualisierenden Plural ' Ies neiges', das für uns archaisch schön kl ingende 'antan') hat L Spitzer schon alles gesagt. Er deutet den Sinn des Refrains als Zurückweisung einer "nutzlosen Frage" hinter der sich die Einsicht verberge, Leben und Tod des Menschen sei dem Kreislauf der Natur ver gleichbar und es sei ebenso nutzlos, sich gegen das Sterbenmüssen aufzulehnen wie gegen den Ablauf der Jahreszeiten 1 '. Wiederum hat die Gegenfrage des Refrains die poetische Funktion einer Frage, die vom Adressaten erfordert, die nächstliegende, ' l ogische' Antwort : 'der Schnee vom vorigen Jahr ist geschmolzen' zu suspendieren. Die Gegenfrage : " Mais OU sont les neiges d'antan ?" ist selbst schon die Antwort, sofern sie die Blickrichtung auf die Gestaltenfolge der ubi sunt-Strophen zurück wendet und zu Vergleichen einlädt wie: Frauenschönheit ist wie das reine Weiß des Schnees. der Tod des Schönen ist sanft wie die Schneeschmelze im Frühling, die verbleibende Melancholie findet Trost im Gedanken, daß das Schöne in der Natur wie in der Gestalt anderer Frauen immer wiederkehrt . " I n Anbetracht all dessen, was die Gegenfrage als indirekte Antwort auslöst, möchte ich auch schon die voran gehende ubi sunt-Frage nicht mehr als " nutzlos zu stellende" und darum leise geta delte interpretieren. Nutzlos wäre nurmehr die bestimmte. immer schon gewußte alltägliche Antwort. I ndem hier die traditionelle Frage des ubi sunt mit der neu ge fundenen Gegenfrage beantwortet wird und auch schon beantwortet ist, erlangt das Frage-und-Antwort-Spiel die poetische Funktion, den gesch lossenen Horizont des Gewußten und fraglos Gewordenen auf das Fragliche der Situation des Menschen zwischen Leben und Tod zu öffnen. Die letzte Wiederkehr des Refrains im soge nannten Envoi: " Prince, n'enquerez de sepmaine / OU el les sont, ne de cet an, / Que ce refrain ne vous remaine: / Mais ou sont les neiges d'antan ?" gibt auf die nutzlose, für die Poesie aber legitime Frage noch eine unerwartete letzte Antwort. Dem Emp fänger der Ballade wird ihr tieferer Sinn dann aufgehen, wenn er erkennt, daß die Angst der Frage nach dem Sinn des Todes nicht mit den Antworten des Lebens überw ll ßden werden kann, wohl aber mit ihrer Aufhebung in der Erfahrung der Poesie. deren Sprache allein den natürlichen Reigen von Leben und Sterben zu überdauern vermag. I n den unvergeßlichen Worten Leo Spitzers : " I e refrain doit ' rester', le cortege doit disparaitre sans laisser d'autre trace, le refrain seul est voue ä l ' i m m(lrtalitc,, 20 , Die reichste Orchestrierung der poetischen Funktionen von Frage und A ntwort habe ich i n R ilkes Sonette an Orpheus gefunden. Mehr noch als bei Villon, der ja der subjektiven Lyrik erst die Bahn brach, wi rd bei Rilke sichtbar. daß der Gebrauch von Frage und Antwort eine gattungsspezifische Konvention der Lyrik erweitert, wen n nicht aufhebt : Lyrik als Form der Selbstaussprache, von der man sagen konnte, 18
I·
Nach L Spit7.er, " Etude a-historique d'un texte: Ballade des dlomcs du temps jadis", in Rom."uche L"er�'lfrftl.J,e", Tübingen 1 959, 5. 1 1 3 - 1 29, m-s. 1 1 7. Ebd . S . 1 1 7 u nd 5. 1 1 9- 1 2 1 .
l � E bd .
S. l l f, .
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hier spreche ein Ich für sich allein, als ob es keinen Zuhörer habe, w i rd in dem Maße d ialogisch, wie sie den Zuhörer oder Leser durch Frage und Antwon, näherhin : durch Fragen, die sie ihm steltt oder auch unterstellt, wie durch i rritierende Antwor ten, deren Sinn er selbst finden muß, i n die Kommunikation einbezieht. Als Beispiel habe ich das zweite Sonett aus dem ersten Teil gewählt : Und fast ein Mädchen wars und ging hervor aus diesem einigen G l ü c k von Sang und Leier und glänzte klar durch ihre Frühlingsschleier und machte sich ein Bett in meinem Ohr. Und schlief i n mir. Und alles war ihr Schlaf. Die Bäume, die ich je bewundert. diese fühlbare Ferne. die gefühhe Wiese und jedes Staunen, das mich selbst betraf. Sie schlief die Welt. Singender Gou, wie hast d u sie vollendet, daß sie nicht begehne, erst wach zu sein? Sieh, sie ernand und schlief. Wo ist ihr Tod ?
0, wirst du dies Motiv
erfinden noch, eh sich dein Lied verzehne? Wo sinkt sie hin aus m i r ? . . Ein Mädchen fan .
Die klassische Zweiteilung des Sonetts ist hier so ausgeführt, daß die heiden Terzinen (v. 9-1 4 ) all das i n eine Kette von Fragen umkehren, was die beiden Quartette apodiktisch und scheinbar fraglos als erstaunliche Wirkung von "Sang und Leier" rühmten. Scheinbar fraglos, denn der dunkle Zusammenhang des irrealen Vorgangs dürfte trotz seiner p rägnanten Bilder im Leser eine ganze Reihe von Fragen auslösen: was meint "fast ein Mädchen", ist das ' aus dem Gesang geborene' Mädchen nur Metapher für d i e Wirkung der Musik oder auch eine Eigengestalt, deutet " Bett i n meinem Ohr" auf d a s H ö r e n zurück, w iderspricht dieser Vermutung " u nd schlief in mir", wie kann alles "ihr Schlaf" sein, wenn sich im Schlafen doch die Sinne vor der Welt verschließen? Man kann von diesen Fragen zunächst absehen und versuchen, eine gewisse Konsistenz i n die Folge der Bilder zu bringen. wenn man die mit und beginnenden Hauptsätze zu einem Vorgang verbindet. Dann wäre "ein Mädchen" das Subjekt, h e rvorgegangen aus dem Geiste der Musik. aufglänzend wie Botticellis Prima'Uera. sich ein Bett machend, u m ganz geschützt ("in meinem Ohr") zu schla fen und eben dadurch die Welt in ihrer Fülle zu erfah ren. " Fast ein Mädchen" und 'erwachender Frühling' treten dann i n eine erhellende Äquivalenz und bilden zu gleich einen Gegensatz zu der Vollendung der Erfahrung ("Und alles war ihr Schlaf"). die Vers 9: "Sie schlief die Welt" resumiert. Wie kann das Anfän gliche zugleich vollendet sein? Diese impliz ite Frage des Lesers erweist sich als zu Recht gestellt, wird sie i n den folgenden Versen doch ausdrücklich form uliert : "Singender Gon. wie hast I d u sie vollendet, daß sie nicht begehrte. I erst wach zu sein?" Es ist eine rhetorische Frage i n poetischer Funktion, die in der Frage auch schon die
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Antwort enthält. Man braucht nur das wie i n ein so umzuwandeln, um zu erkennen: daß die A nfängliche zugleich die Vollendete zu sein vermochte, ist das Werk eines "singenden Gottes". Die rhetorische Frage enthält i n poetischer Funktion aber im mer noch mehr als die suggerierte, für den Fragenden schon feststehende Antwon. Die Antw ort, die Vers 1 1 erteilt, stellt i n ihrer Paradoxie die frühe Vollendung des Mädchens wieder in einen offenen Sinnhorizont : "Sieh, sie erstand und schlief." Ihre Vollendung muß im Schlaf gesehen werden. Gerade diese irritierende Antwort ist durch ein "Sieh ! " eigens an den Leser gerichtet. U m ihre Dunkelheit aufzuhellen, kann der Leser zu H ilfe rufen, woran ihn dieser Halbvers erinnert. "Sie erstand und schlief" korrespondiert ex negativo mit dem Jesuswon an den Gichtbrüchigen : "Stehe auf und wandle ! " (Matt. 9, 5). Don be kundet sich die restitutio ad integrum i m Aufstehen, u m i n der Welt zu wandeln, hier im E rstehen zu einer Vollkommenheit, die keines Tuns bedarf. Was meint der Schlaf, der diesen reinen Zustand ins Bild hebt? H ierzu kann sich der Leser an ein anderes Sonett an Orpheus erinnern ( 1 1 , 5). Es begin n t : " B l umenmuskel, der der Anemone / Wiesenmorgen nach und nach erschließt" und endet m i t der Frage : "Wir, Gewaltsa men, wir währen länger. / Aber wann, i n welchem aller Leben, / sind wir endlich offen und Empfänger ? " Die implizite Antwort, die diese ' rhetorische Frage' bereit hält, erschließt sich, wenn man die explizite Antwort auf das wann suspendiert (ViIIons wo hatte dieselbe Funktion des 'shifter', der Aufforderung, die Fragerich tung umzukehren ! ) : nicht das wann, ein späterer Zeitpunkt, steht zur Frage, sondern das jetzt, der qualitative Sprung, den es erfordert, das gegenwärtige Leben zu ändern, um " endlich offen" zu sein " und Empfänger" ! Demnach ließe sich der Schlaf des Mädchens als reinster Zustand des Empfangens interpretieren, des ungeteilten Of fenseins für die Weh, deren Sinnfülle sonst die Gewahsamkeit des H andeins ent stellt. Dann aber kann der Schlaf nicht mehr bedeuten, was ihn i n einer säkularen Trad ition zum schönsten Trostgrund der Poesie machte : eine Metapher für den Tod, für Jen bdriedeten, vom Leben erlösten Zustand der Abgeschiedenen. Gerade der so vollkommen gelöste Zustand des Schlafs, der dem ' Ruhen' eines Toten so ähnlich zu !fiein scheint, soll hier als Inbegriff des reinsten Lebens, des Offenseins für die unge trübte Erfahrung der Welt, verstanden werden. Dann aber stellt sich die Frage neu, zu der der Leser gelangen muß und die ihm wiederum ein folgender Vers bestätigt : " W o ist ihr Tod ? " I n dieser Frage ist (im Unterschied zum wann der oben zitienen Verse) das wo nicht zu suspendieren, sondern in seiner intentio recta zu nehmen. Wenn doie Schlafende die Möglichkeit des Lebens vollkommen erfüllt, wo ist dann noch Raum für den faktischen Tod ? Woher mag er kommen, wer kann ihn entsende n ? Diese Frage kann nur an eine imaginäre Frageninstanz, an eine mythische Autorität gerichtet werden. Es ist derselbe "sin gende Gon", an den sich die merkwürdige, futurisch formuliene Frage richtet : " 0 , wirst du dies Motiv / erfinden noch, eh sich dein Lied verzehrte ? " Daß der Tod "erfunden" werden muß, entspricht seiner Nichtanerkennung als einer selbständ i g e n , d e m Leben entgegenstehenden Mach t : a l s b l o ß e Negation des Lebens geduldet,
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kann er nicht von sich aus auf die Szene treten, sondern bedarf es eines Motivs, das im Lied selbst aufgerufen werden muß, nicht also es von außen kommend beendet. Was m i t dem Lied begann, kann n u r mit dem Lied enden. Dieses Enden fällt nicht einfach m i t dem letzten Wort des letzten Verses zusammen. Der Tod der Schlafen den selbst w i rd als Ereignis ausgespart, nur durch ein 'Vorher' und 'Nachher' bedeu tet. Das 'Vorher' ist die futurische Frage an den singenden Gon, das 'Nachher' die präsentische Frage des letzten Verses : " W o sinkt sie h i n aus mir? . . . Ein Mädchen fast . . . ". Statt m i t einer Antwort auf die letzte Frage schließt das Sonett mit der Benen n u n g : "Ein Mädchen fast . . . .. . d i e den Anfang: "Und fast ein Mädchen wars . . . .. w iederaufnim m t . Die so Gerühmte, nicht ihr Tod vollendet den Gesang; seine vollendete Gestalt triumphiert über den Tod und bringt - wie schon bei Villon - als Negation seiner Negation die Poesie als das Bleibende hervor2 l .
11
Ich muß diese I nterpretalion hier abbrechen, ohne auf die eingangs aufgeworfenen Fragen zurückkom men zu können. I hre Beannvortung würde eine Kontc:xterweiterung auf den ganzen Zyklus erfordern. Doch hoffe ich, mit dem Vorstehenden wenigstens den A nfang zu einer historischen und systemau schen Erforschung der poetischen Funktionen von Frage und Antwort gemacht und meine leser davon überzeugt z u haben, daß das Glück des Interpreten w i e die Chance der literarischen Hermeneutik in der A u fforderung z u m Weiterfragen liegt.
ANSEI.M H AVF.RKAMP
A L LE G O R I E . I R O N I E U N D W I E D E R H O LU N G ( Z U R Z W E I T E N L E KTü R E )
Für W iederholungen ist Lektüre ein weites Feld : das Feld der literarisch wiederhol ten Erinnerungen wie der l iterarisch erinnerten Wiederholungen. Schon der Lesevor gang selbst ist von Wiederholungen geprägt, die das Verhältnis von Protention u nd Retention, Erwartung und Erinnerung, rhetorisch akzentuieren und hermeneutisch modifiziere n I . Das Fortschreiten des Lesens im Horizont des Gelesenen beruht auf der steten W iederholun g des Gelesenen im Vorgang des Lesens. Dieser Prozeß der Wiederholung erschöpft sich nicht in i nformationstheoretischer Redundanz, die das retentional Erinnerte als I nformation pragmatisch reduziert und stabi lisiert. Wieder holung stabilisiert und operationalisiert nicht nur die Erinnerung des Gelesenen, sie ist die Art, im Lesen zu erinnern. W i ederholung ist dasjenige Moment der Lektüre, das Erinnerung im Akt des Lesens hervorbringt und, indem es die Lektüre voran bringt, den Zusammenhang des Gelesenen schafft : die Konsistenz der Geschichten wie die Kontinuität von Geschichte. Daß Erinnerung im Lesen an den Modus der Wiederholung gebunden ist, i n dem die Lektüre fortschreitet, ist keine ah istorische Bestimmung dessen, was i n der Lek türe immer wieder vorgeht. Wiederholung scheint i m Gegenteil diejenige Bestim mung der Lektüre, an der ihre Geschichtlichkeit am klarsten hervortritt. A n ihr wird im Lesevorgang selbst die h i storische D ifferenz faßbar, die i n der zweiten Lektüre moderner Texte die moderne Lektüre von der älteren, allegorischen trennt. Von Moderne reden ist dabei von jener Vorläufigkeit des übergangs, i n dem die Ablö sung der neuen von der trad itionellen Lektüre begriffen ist2• Die ältere. ihrem allgemeinsten Sinne nach allegorische Lektüre bleibt wiederholte Erinnerung, die i n exemplarischer Applikation aufgeht. I m Modus trad itionaler Wie derholung dienen wiederholte Lektüren der wiederholenden Erinnerung dessen, was paradigmatisch geworden und relevant geblieben ist für typische Situationen. Wie die großen Paradigmen der Wiederholu ngslektüre zeigen. vollzieht sich wiederholtes Lesen hier im mythischen oder auch kerygmatischen Horizont einer Tradition, für d i e der Text als hermeneutische Norm einsteht, die stellenweise und womöglich ad hoc zu memorieren ist. Die al legorische Lektüre ist auf diese Weise immer schon zweite Lektüre zu dem i n der Trad ition aufgehobenen kollektiven Vorverständ nis I Vjtl. i m folgcndC'n W . h C' r , D e r Akt des Lesem, München 1 976, S. 1 82 U . ; s o w i C' " Der LC'scvorgang" ( 1 972), i n Rc�rpt;om,jsthrllk, hg. R. Warning, M ü m:hC'n 1 975, S . 2 51-76, hier S. 2 5 9 f . : Zum Vl.'chältnis v o n ModC'rne und LC'ktüre H . R . J a u ß , Luerat"rgC'Jmirhte a / J ProvokoJt;o", Frankfun 1 970. bl.'�undcrs S. 5 0 f f . ; v g l . G . Hanman, ThC' Fauof RC'ad"'g , Ch icago 1 975, S. 2 5 0 ff.
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ANSELM HAVERKAMP
einer gemeinsamen Geschichte. die nun i n mehrfacher H i nsicht anzuwenden ist : i n allegorischer. tropologischer oder anagogischer Auslegu ng. F ü r die Lektüre d e r L y rik - darin w i rd L y r i k zum 'Paradigma d e r Moderne' - gewinnt die individ uelle Eschatologie gegenüber dem h istorischen Sinn der überkommenen Institutionen und dem moralischen Sinn der überlieferten Lebensformen d i e entscheidende Bedeutung. Es mag sein, daß noch die zweite Lektüre moderner Ged ichte, für die hier Valerys Cimetiere man"n parad igmatisch ist, ihre Wurzeln i n der A bspaltung der individuel len von der kollektiven Eschatologie hat. Denn wie die ind ividuelle Eschatologie den anagogischen Sinn der kollektiven Eschatologie voraussetzt. gegen deren repräsen tative Vergegenwärtigung sie sich behauptet. setzt die zweite Lektüre moderner Gedichte eine erste Lektüre voraus. die dem Modus kollektiver Wiederholung folgt, gegen dessen Nachvollzug sie sich sperrt. I n der zweiten Lektüre des Cimet;ere marin w i rd mit der Vergangenheit der Tradition die Geschichtlichkeit der W ieder holung erinnert. nicht deren Erinnerung w iederholt. Allegorische Lektüre war trad i tionale W iederholung durch Erinnern, moderne Lektüre betreibt Erinnern durch W iederholen. Kierkegaards Begriff der W iederholung. i m W iderspruch zur platonischen Ana mnesis entwickelt. charakterisiert treffend die D ialektik von Erinnern und W ieder holen, i n der sich der Konflikt der modernen mit der allegorischen Lektüre abspielt : "Wiederholung und Erinnerung sind d ieselbe Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung. Denn was da erinnert wird, ist gewesen, w i rd nach rückwärts w iederholt, wohingegen die eigentliche W iederholung nach vorwärts erinnert"). I n der allegori schen Lektüre w i rd Erinnerung nach rückwärts wiederholt, in der Wiederholung der modernen Lektüre nach vorwärts erinnert. I ndem Kierkegaard das typologische Schema der allegorischen Lektüre aus dem Modus der traditionalen i n den Modus der modernen W iederholung überführt. überführt er d i e allegorische in ironische Lektüre, die nicht mit der vorläufigen Erfüllung des Alten zufrieden ist. sondern auf der wiederholten Erwartung des Neuen insistiert. " D i e D i alektik der W i ederholung ist leich t ; denn das, was wiederholt wird, ist gewesen, sonst könnte es nicht w ieder holt werden, aber gerade dies, daß es gewesen ist, macht die Wiederholung zu dem Neuen", Gerade dies, daß es gewesen ist, zeigt i n der W iederholung, daß es vorbei ist; daß es vorbei ist i ndessen, macht die Wiederholung ebenso neu wie vergeblich. Die neue Wiederholung tauscht die unerreichbare Vergangenheit der Allegorie gegen die fragwürdige Zukunft der Iron i e : " I rony d ivides the flow of temporal experience i nto a past that is pure mystification and a future that remains harassed forever by a relapse within the inauthentic"", Paul d e Man hat d i e klassische Alternative von Symbol und Allegorie als Krise der allegorischen Lektüre verständlich gemacht, aus der die ironische Lektüre als selbständiger Akt des Lesens hervorging, Die vorro) Sör�n Ki�rk�gaard, DU! Wi�d�,.ho"fIIll ( 1 843), W�,.k� 11, hg. L. Rich[�r, Reinb�k 1 96 1 , S. 7 und 23. Für dir Differenz zu Ni�l7.5ch� vgl. G . D�I�uzc. D'ff�,.�nc� �l "�p�lIlllm. Paris 1 968. hierS. 1 S f . d� Man, "The RhelOric of Tcmporalüy", in Intr.",r�l,"i(m - Tht'ory .nd Pr.Clic�, hg. eh. S. Singl�, IOn, Baltimorc 1 969, S. 1 73-209, S. 203 ; vgl. im folgenden S. 1 9 1 H .
• P.
ALLE G O R I E , I RON I E U N D WI EDERHOLUNG
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mantische Loslösung der ironischen von der allegorischen Lektüre ist dunkel und kaum erforscht, wie beider Nebeneinander in der romantischen Diskussion zeigt. Sofern der Allegorie die Ironie als alternativer Modus der traditionellen Lektüre zur Verfügung stand, konnte die Applikation immer schon mit einem problematischen Bewußtsein verbunden sein und der exemplarischen Anwendung des w iederholt Erinnerten die ironische Abwendung erneuter Konsequenzen gegenübertreten. Je denfalls ist diese Ironie noch nicht, Friedrich Schlegel zu zitieren, "eine pennanente Parekbase" : in doppelter Ironie auf Dauer gestellter Aufschub, der im Bewußtsein der vergebl ichen W iederhol ung die Konsequenz der vergeblich w iederholten Erin nerung ist. Daß moderne Lektüre nun weitgehend ironische Lektüre sei, ist ein naheliegender Schluß und für die Romanlektüre ein Gemeinplatz. Daß zweite Lektüren mit ver stärkter Reflexion aufs Verfahren verbunden sind, mag zu zusätzlicher Distanz ver helfen, Ambiguitäten im Text verdeutlichen, 'dramatic irony' verstärken5• Für die Lyrik indessen ist die Annahme. die W iederholung in zweiter Lektüre beruhe auf und verhelfe zu I ronie, besonders unbefriedigend. Seit Benjamins Baudelaire-Studien steht die Vermutung im Raum. neben der Ironie habe auch die Allegorie ihre mo derne W iederholung erfahren. die in i h rem Fall freilich nicht durch das bewußte Aushalten einer aussichtslosen Perspektive (der übertragenen Typologie) gekenn zeichnet wäre, sondern durch deren Verlust (in der individ uellen Eschatologie)". Wie immer man sich hier terminologisch entscheiden mag, bleibt die Rede von der ' Re habilitierung der Allegorie' i rreführend. Die die ' Rhetoric of Temporality', die Alle gorie und Ironie gemeinsam ist, führt i n der modernen Wiederholung zu offensicht lich entgegengesetzten Konsequenzen für beide Figuren.Vor allem i n der Lyrik w i rd deutlich. daß es sich dabei um keine bloße Umkehrung handelt, in der die moderne Allegorie vom ironischen Modus der Lektüre abhängig wäre, wie es die Ironie vom allegorischen Modus der traditionellen Lektüre war. Es liegt vielmehr in der Dialek tik der modernen Lektüre. daß beide unversöhnlich auseinanderfallen : Ironie unend lich, Allegorie vergeblich wiederholt. Für den Roman hat das zur Folge, daß die i ronische Lektüre zum ' reflexiven Mechanismus' moderner Lesegewohnheiten wer den kann, aus dem die verstärkte A ufmerksamkeit der zweiten Lektüre womöglich heraushilft. Die plurale Lektüre moderner Romane kann die temporale Impl ikation der Wiederholung dann aus dem Nacheinander bestimmter in das Nebeneinander vielfacher Lektüren auflösen'. Während so der Roman nur aushilfsweise der zweiten Leknire zur Verdeutlichung der ironischen E instellung oder ' Lust am Text' bedarf, wird in der Ly rik die zweite Lektüre zur notwendigen Konsequenz, die im Vollzug • VK'. � •
Ill e r f u r anderC' W . c . 800lh, Th� Rh�,oric o{ F'Cf'Ofl. ChicaKo 1 96 1 , 5. 2 8 5 ; sowiC' im 10IgC'ndc:n.
A RhrtIJn,· n{I'Trmy. Chicago 1 974.
VI;I. lulel1t H . R . Jauß. " 8auddairc:� Rückgriff auf diC' A.1IC'goric: " , I n
Formr" ,."J F,.nk,io,,�n J�'T
AII�I0'TI�. hg W. Haug, 51ultgart 1 979, )C'llle- Sc-il � n . P l u rale- Lcklure- nach R. Banh�s • .51Z. Par i § 1 970, S. 22 1 . ; vgl. L� pl.. l JI'T J.. It%,�. Paris 1 97J, abe-rmals S. 2 2 f f .
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ANSELM HAVERKAMP
der ersten Lektüre angelegt i s t : "der Leser muß das Gedicht. um es voll zu verstehen, beim erneuten Lesen vom Anfang an mit einem vom Ende her umgewendeten B l ick sehen"lI. Die Aufhebung jeder ' i ntention epiquc' ist dabei nur das Oberflächensym ptom einer tiefergehenden Abwehr der allegorischen Lektüre. deren temporales Schema in der zweiten Lektüre bestritten. nicht vertieft wird. H i storische Skizzen vermitteln leicht den Eindruck geradliniger Entw icklungen und klargeschnittener Differenzen. I m U nterschied dazu handelt es sich hier um einen sehr schwierigen und auch unübersichtlichen A hlösungskonflikt. indem die moderne Lektüre zustandekommt. die allegorische Lektüre gleichwohl übermächtig präsent bleibt und provoziert, wozu die moderne imstande ist. Die zweite lektüre moderner lyrik ist für diese Situation parad igmatisch, weil sich i n ihr der Konflikt i n e i n e m eigenen Modus des lesens niedergeschlagen hat und in a c t u abspielt . I n der ironischen lektüre erscheint die temporale Struktur der allegorischen lektüre rad i kalisiert, in der Radikalisierung a b e r geradezu restituiert. I n der zweiten lektüre dagegen bleibt der Konflikt ohne übergang, die allegorische lektüre i n ihrer Wie derholung gefangen. Dabei kommt die rhetorische F u nktion der Wiederholung zum Vorschein, i n der die allegorische lektüre Erinnerung wiederholt hatte. I m Modell einer rhetorisch u mgeprägten Anamnesis garantierte Wiederholung Evidenz, indem sie die Macht der Tradition als Macht der Erinnerung ausgab'. Freud hat sich d iese Rhetorik der Erinnerung, die auf der Wiederholung beruht, zunutze gemacht und auf den tech nischen Nenner der 'Deckerinnerungen' gebracht . Wie d iese stehen Wiederholungen an der Stelle von Erinnerunge n : "der Analysierte wiederholt, an statt zu erinnern"to. Wie im W iederholungszwang symbol isch agiert wird, was erst im Pro7.eß langen D u rcharbeitens der Erinnerung fäh ig wird, w iederholt die zweite lektüre im Akt des lesens, was die Macht der Trad ition i n der ersten Lektüre zwangsläufig zur Wiederholung bringt. Die zweite Lektüre wiederholt einmal mehr, aber i n der Differenz zur ersten Lektüre erinnert sie die Vergeblichkeit der trad itio nalen Wiederholung, m i t dem Effekt momentaner Halluzination möglicherweise, nicht Evidenz. Die W iederholung der zweiten lektüre ist derart ein Akt des Durch arbeitens, an dessen Ende nicht die fiktive 'Wahrnehmungsidentität' eines literari schen Symbols stehen kann, sondern ein Prozeß der Reflex ion in Gang kom mt. Sie hält dazu an, die i m temporalen Schema der A l l egorie erstarrten Erinnerungszeichen des ' A ndenkens' i n der erinnernden Wiederholung durchzugehen, i n der manifest wird, woran sich die wiederholte Erinnerung vergeb lich abgearbeitet hat, Es gehört zur Vorgeschichte der ' Artistik des M i ßlingens', daß die zweite Lektüre die Aktivität " H . R . Jauß, AJrh�t;Jch� Erf.hrllrlg Ilnd l!t�r.ruch� H�"""' �rI�Mtlk I, Munchen 1 977, S. 128 7 U B.ludd.li re� Le Cygne. VKI. H. Blumrnht'rg. " W i r k l i chkrinhrKriff und W,rkunj;'p
A LL E G O R I E , I R O N I E U N D W I EDERHOLUNG
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des Lesers ohne den E rfolg allegorischen Sinns und ohne symbolisches Resultat läßt l l , Will man daraus zu einem applikativen Schluß kommen, muß man sich dar über klar werden, wieweit die Fähigkeit zur Erinnerung durch Lektüre bestärkt (wenn nicht geschaffen), der Zwang zur Wiederholung d u rch Lektüre gemildert (wenn nicht aufgehoben) w i rd : doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben,
V g l . \'r. Iser. "Die Artistik des M i ß l i nj;cns - Ersticktes Lachen i m Theat.:r Beckens", in S"zlf"g5b� r"htc der Heide/be!'ger AIr.,d. d. Wm., rhi l . - H ist. Klassc. l . Abh . • H e id d be rg 1 979, S. 5 8 .
REINHOLD R. G R I M M VON D E R E X P L I KATI V E N Z U R P O ETI S C H E N A L L E G O R E S E
Anselm Haverkamp arbeitet b e i seiner Analyse d e s C;met;ere Marin mit d e m Model l einer zweiten, anti-allegorischen Lektüre, die entgegen der üblichen H ermeneutik die ästhetische Wahrnehmung restituien und dadurch zu reflexiv-gesteigener An schauung komm t : " Was zuvor literale Oberfläche für al legorischen Sinn war, wird zum l i teralen Sinn auf einer allegorischen Oberfläche". Dieses Verfahren hat in der Geschichte der Henneneutik bereits im Mittelalter eine bedeutende Rolle gespielt, wie im folgenden an zwei Beispielen des übergangs von einer explikativen zu einer poetischen Allegorese gezeigt werden soll. Mit Literarisierungen und Kontrafakturen von Sinn konfigurationen, die aus der theologischen Exegese stammen, rechnet die mediaevistische Literaturgeschichts schreibung allenthalben ; in besonderer Weise gilt dies für die allegorischen Dich tungsgattunge n l . Es bleibt freilich beunruhigend, daß solche Kontrafakturen unter dem Stichwort 'Säkularisation' eher rubrizien als überzeugend abgeleitet werden. Will man sich mit der bloßen Konstatierung d ieses Sachverhalts nicht begnügen, ist nach den historischen und poetologischen Bedingungen zu fragen, unter denen alle gorische Sinnkonfigurationen ihre zu nächst explikative Funktion verlieren und so in den ursprünglich zu deutenden 'Text' integriert werden, daß sich eine neue, nun mehr fiktionale Deskription ergibt, die als 'poetische Gegenwelt' ihrerseits verschie densten Applikationen und Funktionalisierungen zugänglich wird. Dabei mag es sich ergeben, daß der übergang von einer explikativen zu einer poetischen A l lego rese sich keineswegs nur an Beispielen aus dem Umkreis der theologischen Exegese nachweisen läßt. Dies sollen im folgenden zwei Beispiele verdeutlichen, die bei allen Unterschieden im einzelnen den hier gemeinten Sachverhalt illustrieren können. Die Literarisierung des ' I rdischen Paradieses' ist ein besonders venracktes Exempel für die Emanzipa tion einer Sinnkonfiguration aus den Zusammenhängen der Bibelhenneneutik. Die neue Funktion ' Arkadiens' im neuzeitl ichen H inenroman b l iebe ohne den H i nter grund der spätantiken und mittelalterlichen Verg i l - A J l egore'ie unverständ lich. I n bei den Fällen läßt sich der tTbergang zur Konvention entleerter exegetischer Motive in neue, aus der ursprünglichen hermeneutischen Situation emanzipierte Zusammen hänge nachweisen. Weder das ' I rdische Parad ies' volkssprachlicher Dichtungen noch I
VI;I. H. R Jaul;, " E nnu:hun g unJ Slruklunvandr) Jrr .a1Jrgorl'IChrn Dlchlun g " . I n L.. lmir.,,,r,. JIIJ",.C· "qlf,., ..lIignrul"" ,., w'rnq_", 8J I , HCIJd�fl: 1 968 ( G ru nJril� Jrr rum.lJ1i'§Cht'n lileraluren Je" Miud· .l11e'r\, HJ \'I 1 ) , 5. 1 .6-244.
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R EINHOl.D R . G R I M M
die arkadische Fiktion bukolischer Romane wäre ohne die Konventionen einer lan gen allegorischen Auslegungstradition ' normativer Texte', des biblischen Paradieses mythos und der vergilischen Bukolik verständ lich. Aus der Allegorese als hermeneu tischem Verfahren zur Sinnexplikation überl ieferter Texte ist freilich in beiden Fällen eine neue, poetische Allegorese geworden. die das überlieferte nicht mehr interpre tiene. sondern ersetzte und damit zugleich neue literarische Verfahren konstitu ierte, die zu reflexiv gesteigerter Anschaulichkeit führten.
11 E s ist unbestritten. daß der parad isus amoris der mittelalterlichen Literaturen als Kontrafaktur der theologischen Paradiesesexegese zu gehen hat und ohne den Hin tergrund der allegorischen Auslegungstrad ition des bibl ischen Mythos unverständ lich bliebel. Dies erhellt schon daraus. daß der parad isus amoris die allegorische Topographie übernahm. mit der die Exegese die kargen Angaben der Genesis weit überbot. Ohnehin ist es einsichtig. daß eine literarische Gegenwelt gesellschaftlichen Zwängen entrückter Liebe da an die theologische Paradiesesexegese anknüpfen konnte. wo diese im Irdischen Paradies die ungebrochene Sinnlichkeit der ursprüng lichen Schöpfungsord nung verkörpen sah : "virginibus sensibus quibus pura utebaGleichwohl sollte es überraschen. daß der parad isus amoris der weltlichen Dichtung viele Elemente der allegorischen Paradiesexegese übernehmen und neu funktionalisie ren konnte. obgleich er in denkbar großem Gegensatz zur aitiologischen Logik des Parad iesesmythos und zur antierotischen Tend enz der exegetischen Tradition stand . Soll das I rdische Parad ies als Paradigma ungebrochener Sinnlichkeit gelten. mußte sich die Paradiesesallegorese so weit von ihrem ursprünglichen Sitz im Leben ent fernt haben. daß sie mit anderen. der klassischen Mythologie entstammenden Moti ven verbunden werden konnte. Unabdingbare Voraussetzung dafür war eine Ver selbständigung der allegorischen Auslegungsd imension. die der Bibelhermeneutik zunächst recht ferne lag. Das für den latein ischen Westen geradezu normativ gewordene august in ische Pa rad igma der Paradiesesexegese4 hatte die allegorische Auslegung eng mit der l iteralen verknüpft und den ' historischen' Sinn des Mythos immer vorausgesetz t : "aliud quam erant illa omnia significauerunt. sed tamen etiam ipsa corporaliter fuerunt"�. Entsprechend verfuhren die mittelalterlichen Kommentare : sie boten im allgemeinen nebeneinander eine literale und mehrere all egorische Auslegungen. ohne daß es zu 1
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Ich �t·hc h i e r da\'on ab, d a ß im plradi5u� amoris a u c h d e r Einfluß v o n antiken l.u�tuns�·hIIJcru ngt·n Jeutlich ist. Ernaldu\, rL 1 89, 1 5l7c . Vgl. Vf .• P.. ,.. diJIIJ COdt'JliJ, P.. ,..dlJlllJ 1('fTt'JlriJ - ZN,. A IlJugllngJgt'fchlChu tbJ p.. ,..d,eJeJ Im Abmd land blJ 11 ," 1200, Mu nch.:-n t9n ( Malium Aevum Bd ll). lli Gt''IeJIJ ..d btter..m V1 1 1 . ... , H .
VO N
D E R E X P I . I K A.T l V E N Z U R P O E T I S C H E N
A L L E G O RESE
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Kontami nationen der Si nnebenen gekommen wäre. Abweichungen von d ieser Regel wurden eigens motiviert und meist mit d idaktischen Abs ichten gerechtfertigt. Galt der ' h istorische' Sinn als die Voraussetzung der allegorischen Sinnebenen und ergab sich daraus eine enge Verknüpfung von literaler und allegorischer Exegese in den mittelalterlichen Bibelkommentaren, so ist doch die methodische Trennung der versc hiedenen Auslegungsebenen ebenso auffäll i g . Die augustinische U nterschei dung von "proprie" und "translato uerbo"" wurde konsequent beibehalte n : die verschiedenen Sinndimensionen blieben nebeneinander stehen, ohne daß Motive aus der einen in die anderen eingedrungen wären. Dies hatte freilich zur Folge, daß sich in den Bibelkommentaren die allegorischen Sinnebenen mehr und mehr verselbstän digten und ihre Rückbind ung an den literalen Sinn immer schwächer wurde. Die seit Augustins De doctrina christiana kodifizierte hermeneutische Reflexion der traditionel len Exegese sperrte sich allerdings gegen jede übertragung ihrer allego rischen Sinn konfiguration in Bereiche, mit denen die Exegese endgültig verlassen wird. übertragungen einzelner parad iesischer Attribute aus der allegorischen Gene s isexegese auf die Kirche, die Liturgie, das Klosterleben bl ieben ebenso wie ihre Verwendung in anthropologischen Erörterungen heilsgeschichtlich vermittelt und waren so, grundsätzlich jedenfalls, an die Bibelhermeneutik zurückgebunden; sie gchönen, wenn auch "translato uerbo", i n einem weiteren Sinn noch zur Explika tion des Textes. Dies gilt im Prinzip sogar noch für die zu Gemeinplätzen geworde nen Anspielungen auf das Ird ische Parad ies, wie sie im Höfischen Roman nicht selten sind. Die m ittelalterliche Exegese der Parad ieseserzählung bl ieb bis ins zwölfte Jahr hu ndert im Rahmen eines festen Kanons von Auslegungsmöglichkeiten, der bis in die Patristik 7.urückreicht. Allerdings war die ursprüngliche Funktion der Unter scheidung von Si nnebenen i n der Exegese längst verloren gegangen. Augustinus hatte die so differenzierte Bibclhermeneutik zunächst 7.ur Abweisung spätantiker Häre sien entwickelt, deren Widerlegung mit nur literalen Argumenten nicht zu erreichen war -. für das M ittelalter wurde daraus eine verschieden zusammengesetzte, variable Kette nicht mehr problematisierter Interpretations muster, die von der Paradieseser zählung selbst nicht mehr 7. U trennen war. Dem mittelalterlichen Leser begegnete der biblische Mythos immer schon ausgelegt, wobei sich das historische Gewordensein der Auslegungsmuster hinter d('r Konsistenz eines selbstverständ lich gewordenen, habitual isierten Vorverständ nisses verlor. Zunehmend wurde die augustinische Un terscheidung von " proprie" und " translato uerbo" nurmehr als formale Gewohnheit rezipiert, ohne daß die hermeneutische Verklammerung der verschiedenen Explika t ionsebenen bewußt blieb. Es geriet in Vergessenheit, daß für Augustinus die allego rischen Sinnebenen nur dann hermeneutisch gerechtfertigt waren, wenn sie streng von der literalen Sinnebene getrennt b l ieben, auf die sie sich berufen konnten. Noch � \".:
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R EINHOLD R. G RI M M
i n d e r Bibelexegese selbst bahnte s i c h e i n e Möglichkeit d e r Literarisierung a l legori scher Motive an. Für das hier gewählte Beispiel des paradisus amoris wäre also nach solchen O ber gangsformen der allegorischen Auslegung des I rdischen Paradieses zu suchen, die bereits weitgehend die strengen Regeln der traditionellen Bibclhenneneutik und die scharfe Unterscheidung der verschiedenen Sinnebenen aufgeben. Eine solche Spät form der Paradiesesauslegung erscheint nun in der Tat in der monastischen Exegese des zwölften Jahrundens8• Als sich die strenge Schulexegese langsam zu einer vor scholastischen wissenschaftlichen Disziplin spezialisierte, gab sie Raum für ei nen neuen Stil allegorischer Auslegung, der seinen Sitz im Leben in der monastischen Meditation hane. Der gesamte Reichtum allegorischer und etymologischer überlie ferung wurde der monastischen Paradiesesauslegung zu einem neuen Primärsinn, der nun seinerseits wieder allegorisch ausgelegt werden konnte und in gewisser Weise den sensus lineralis der traditionellen Auslegung einnahm. Die monastische Exegese brachte etwa die geläufigen Allegoresen und Etymolo gien der Paradiesesflüsse in einen neuen sekundären Zusammenhang, der Konsistenz anstrebte. Eine ' Allegorese der A llegorese' versuchte Geschlossenheit der sekundä ren allegorischen Bezüge zu erreichen. die nicht mehr aus der ständigen Referenz auf den grundlegenden literalen Sinn gewonnen, sondern aus Korrespondenzen i nner halb der überlieferten allegorischen Deutungen hergestellt wurde. Eine solche, litera rischen Rang beanspruchende Geschlossenheit der allegorischen Sinnbezüge geht weit über die Verfahren der trad itionellen Bibelexegese hinaus. Diese konnte nie alle Einzelheiten der biblischen Erzählung einem einzigen allegorischen Explikationsrah men unterordnen. sondern stellte konkurrierende Auslegungsmuster nebeneinander. ohne daß es auf der allegorischen Sinnebene zu einer in sich kohärenten 'sekundären Deskription' gekommen wäre. Das traditionelle exegetische Verfahren der B i belalle gorese beruhte geradezu auf der Zerlegung des Mythos i n einzelne Referenzen. ohne daß die allegorische Transposition ihrerseits wieder neue Kohärenz geschaffen häne. Anthropologische, christologische und ekklesiologische A uslegungen der Paradie seserzählung auf die menschliche Seele, auf Christus und auf die Kirche beschlag nahmten jeweils einzelne Elemente des Textes. Auf jeder allegorischen Sinnebene wurde zwar Kohärenz erreicht, jedoch nie so. daß ein allegorischer Explikationsrah men die ganze Paradieseserzählung erfaßt häne. I n einem Kommentar wie den Mor./w in Genesin9 des Guiben von Nogent ( 1 053-1 1 24) findet sich durchaus noch die geläufige Vielzahl allegorischer Deutun gen. G leichwohl erschließt die moralisch-tropologische Auslegung nunmehr neue, der traditionellen literalen und allegorischen Auslegung entgangene Zusammen hänge, die von der "experientia" eines monastischen Lebens erfahren werden. das ständig mit allegorischen Transpositionen umgeht. Die Stimmigkeit der neuen Aus� 9
Vgl. P.. r.. Ju". �1�lIu 5. 129-146.
PL H6, 19-JJI.
V ON DER EXPLIKATIVEN ZUR POETISCHEN ALLEGORESE
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legung beruh sich freilich nicht mehr auf den literalen Sinn der Paradieseserzählung selbst, sondern auf die Explikation der überlieferten allegorischen Auslegungen : das gesamte Repertoire der Paradiesesallegorese, gleich welcher Herkunft, wird auf einer zweiten Ebene allegorisch ausgelegt. Damit ist ein erster Schritt zu neuer, reflexiver A nschaubarkeit getan. Es ist bezeichnend für dieses Vorgehen, daß sich die Bezüge zwischen primären und sekundären allegorischen Deutungen von Begriffen und Erzählfragmenten völ lig verselbständ igen. Der neu erschlossene Sinn ist so konsi stent geworden, daß er der narrativen Logik der Paradieseserzählung durchaus wi dersprechen kann : so gilt der allegorischen Logik sogar die Vertreibung aus dem Paradies als w ünschenswert (in einem Sinn, der durchaus nicht mit der theologischen fel i x culpa-Tradition zu verrechnen ist). Die partielle Emanzipation der Paradiesesallegorese aus ihrer zunächst nur expli kativen Funktion in der B ibelhermeneutik zeichnet sich im De paradiso 10 des Ernal dus von Bonneval (t nach 1 1 56) noch deutlicher ab. Ernaldus geht insofern noch einen Schritt weiter, als in seinem Kommentar die von der allegorischen Exegese gesammelten Bedeutungen "gleichsam auf die literale Ebene zurückübersetzt" wer den und in einer "auslegenden Beschreibung" \ ! aufgehen. Dies zeigt sich schon i n d e r A ufgabe d e s üblichen Kommentarschemas, d a s die biblische Erzählung sukzessiv auslegte. Ernaldus verzichtet auf eine fortlaufende Kommentierung des biblischen Textes und beschränkt sich auf die Behandlung der ersten drei Kapitel der Genesis 12• Wichtiger ist freilich, daß er die 'Allegorese der A llegorese' Guiberts insofern über bot, als nunmehr Elemente der allegorischen Exegese in die Deskription des Irdi schen Paradieses selber eindringen ; die bisher streng getrennten Sinnebenen der Bibelhermeneutik gehen ineinander über. Damit kommt es zu einer gewissen Off nung ihrer Strukturen, wodurch einzelne Elemente der biblisch-theologischen Para d iesesvorstellung zu anderweitiger Verwendung frei werden. Am wichtigsten für unsere Fragestellung sind deshalb nicht die im trad itionellen Sinn al legorischen Ab schnitte des De paradiso, sondern die Deskription des Irdischen Paradieses C'parad i sus corporalis"), in die einzelne Motive d e r Paradiesesallegorese integriert werden, obwohl hier - der augustinischen Bibelhermeneutik folgend - nur der literale Sinn angewandt werden durfte. Da das Paradies zwar nicht außerhalb, wohl aber jenseits unserer Erfahrungsmög lich kriten liege, stellt Ernaldus als Deskriptionsregel den Satz auf: "ex consuetis i nexperta metimur" l l . Entsprechrnd versuchte er, seine Beschreibung des I rdischen Paradieses nach den fünf Sinnen der menschlichrn Wahrnehmung zu gliedern, ohne allerdings darin konsequent zu verfahren. In einer "exstasis" müsse menschlicher Vorstellung ein Zustand erreichbar werden, in dem das Verhältnis von Mensch und I: n
1� l'
PL. 1 1I9, 1 5 1 5- 1 5 70. H . R . J aul�. AJlhrusehr t:-,fahnmg "nd lurr,m"hr Hr-rmrnr,,,Jt , Bd I, MünchC'n 1977, S . 1 09 . N a c h d C' f ,·C'r1orC'nen �hr1h d C' \ TC'rtullian in d a s D r paraJno d C' s Emaldu� diC' erstC' C'�C'gC'1iSl,;he A blllomJlung. dIe- nur da, ParadiC'�. nicht auch die- andC'fcn Te-ile- dC'f Ge-nC'sis behandelt ) l I 89. 1 5J6 d .
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R E I NHOl.D R. G RI M M
Natur noch ungestört w a r . Nun ist schon dieses Vorgehen e i n e bemerkenswert neue Appl ikation des alten allegorischen Schemas, in dem das Paradies auf die menschli che Seele und ihre Vermögen h i n ausgelegt wurde. Noch überraschender ist aller dings die enge Verschränkung von literalem und allegorischem Sinn in einer Be schreibung des "parad isus corporalis". die literal verstanden werden will. Die sin nenhafte Vollkommenheit des Paradieses in einer "ekstatisch erfahrenen Gegen wart " l 4 läßt einerseits die Allegorese poetisch werden, um ihren didaktischen Zweck zu erreichen, und läßt sie andererseits literal werden, um in einer Deskription des I rdischen Parad ieses eine Gegenweh zum jetzigen Zustand der Dinge vorzustellen. Was zuvor literale Oberfläche für allegorischen Sinn war, wird zum literalen Sinn auf einer allegorischen Oberfläche l 5• Wenn man diesen Aspekt des De paradiso - zweifellos einseitigi" - extrapoliert, lassen sich einige Schlußfolgerungen ziehen. In der auslegenden Beschreibung der monastischen Exegese verliert die Paradiesesallegorese ihre enge Bindung an den hei lsgeschichtlichen Rahmen der Schriftau slegung. Der Weg zu einer literarischen Kontrafaktur, i n der die Paradiesestopik zur Beschreibung einer 'Gegenwelt' ohne historische Situ ierung verwendet wird, ist nicht mehr weit. Text und Kommentar lassen sich nicht mehr unterscheiden: die allegorische Dimension wird so mit dem literalen Sinn verknüpft, daß eine "neue Fülle der Aisthesis des Ubersinnlichen" l 7 entsteht. Dies verlangt aber gleichzeitig einen neuen Rezeptionsmodus, insofern als die allegorischen Verweise so i n den deskriptiven Zusammenhang integriert werden, daß ihre Referenzen nicht mehr außertextlich zu beziehen sind. Damit führt das De paradiso des Ernaldus bis an die Schwelle einer Deskription, in der sensus liueralis und sensus allegoricus eine so untrennbare Verbindung eingehen, daß an die Stelle der allegorischen Expl ikation der poetische Sinn einer literarischen Gegenwelt tritt.
111 V o n einer Literarisierung o d e r Kontrafraktu r a l l egorischer Motive d e r BibelL'xegese kann im strengen Sinn erst dann gesprochen werden, wenn sich habitualisierte Sinn konfigu rationen aus dem Zusammenhang der Bibelhermeneutik gelöst haben und einen sekundären Zusammenhang begründen, der an die Stelle des ursprünglich zu explizierenden Textes trin. Aus der expliz ierenden Funktion der Allegorese wäre dann eine konstruktive geword e n ; der 'neue Text' ist seinerseits der Interpretation zugänglich und e rsetzt den Primärsinn der theologischen Exegese. Am Beispiel des paradisus amoris sollte gezeigt werden, daß d ieser Umschlag der Funktion de5 Alle gorischen noch i m Rahmen der Bibelexegese vorbereitet wurde. Man darf wohl "
H . R . J aut�, Asthetische ErfahruPl' 5. 1 1 1 .
l ' Vgl. In dit·'Öt'm Band A . Ha,·crk.tmp . . . A l l t-gorie. I ronie und Wlt'derholung (Zur l w... iu,'l1 I� 11
S. 56 I - 565. Tc:h Vt'rn.lc:htissigc hier alle Gesit·ht�punkte. die Ernaldu� mJt ,It'r Ir.ldlUone-lIe-n Exe-l>t'u· Ic.'llt H. R. J.luß. Asthetuchr ErfahruPl' S. I 09 .
I.l... ,urc)"
VON Df..R EXPU KATIYEN ZUR POETIS C H E N A LLEGORESE
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annehmen. daß d ieser Zusammenhang mit der Bibelhermeneut ik für die Wiederent deckung des Fiktionalen in der mittelalterlichen Literatur eine bedeutende Rolle gespielt hat. Petrarca und Boccaccio leiteten aus diesem Zusammenhang bezeichnen derwL·ise die Legitimation der poetis..:hen Fiktion ab und zogen die theoretische Kon sequenz, auch der Dichtung kämen in gleicher Weise wie der scriptura sacra die Attribute des mehrfachen Schriftsinns Z U I 8 . Der übergang von der exegetischen Paradiesesallegorese zur literarischen Kontra faktur des parad isus amoris ließ sich als Wechsel von einer hermeneutischen Funk tion der Allegorese (in der Explikation eines normat iven Textes) zu einer konstrukti ven Funktion (in der Konstitution eines poetischen Textes) beschreiben. Das Ergeb nis ist der ' latente A l l egorismus' einer literarischen Gegenwelt, dessen Referenzen nicht mehr eindeutig bestimmbar sind. Als historische Voraussetzung eines solchen Funktionswandels der Allegorese kann eine i n sich geschlossene und konventionalisierte I nterpretationsgeschichte ei nes klassischen oder normativen Textes gelten, der ohne seine allegorischen Explika tionen gar nicht mehr in den Blick kommt. Diese Bedingung erfüllen nicht nur theologisch 'beschlagnahmte' Auslegungsgeschichten, sondern auch literarische Tra dit ionszusammenhänge, in denen ein vergleichbarer Funktionswechsel des Allegori schen festzustellen ist, wie ich im folgenden am Beispiel des bukolischen Romans zeigen möchte. Die Entstehung des neuzeitlichen Hirtenromans ist eng mit Sannazaros Arcadia ( 1 502 / 1 504) verbunden: in ihrer Rezeptionsgeschichte konstitu ierte sich eine neue bukol ische Gattung, die i n der neuzeitlichen Romanliteratur die verschiedensten Funktionen übernehmen konnte. Ihre " gattu ngsspezifische Lizenz", "Zeitge schichte ( . . . ) deutend verarbeiten und utopische Gegenentwürfe im Gewand pasto raler Symbolik entwickeln zu können"I'iI, verdankt der H i nenroman sei nem "laten ten A llegorismus"zo, ohne dessen Verständnis sein Sinn potential versch lossen blei ben mußte. Wie in der allegorisierenden Deskri ption dC's paradisus amoris die poeti sche ( ; egenweh sich gerade dadurch konstituierte, daß die allegorischen Referen7.C'n nicht mehr eindeutig beziehbar waren, erlaubte die allegorisierende Beschreibung einer arkad ischen Gegenweh dem Hirtenroman reflexiv gesteigerte A nschaulichkeit. Die poetologischen Voraussetzungen des Hirtenromans, die den großen Rezep tionsspielraum seines Grundmusters erst erklären, lassen sich am besten in seinem Zusammenhang mit den Trad itionen spätantiker, mittelalterl icher und humanistischer Bukolik explizieren. Dabei kommen überraschende Parallelen mit dem eben be sch riebenen Funktionswechsel von explikativer zu konstruktiver A l legorese in der I.
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Sumlt·rhdl 1 9 7 7 ( Rt·/t·pliulI�;istht·llk und l . i ltralurgc.\Chi.:hlc), S. 2CJ-22C.
REINHOLD R. G R I M M
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Paradiesestopik i n den B l ick. Vergleichbar dem De pllr"Jiso in d e r Paradiesestopik nimmt die Arcildia eine eigenanige Zwischenstellung zwischen den Trad itionen h u manistischer B u k o l i k und dem modernen bukolischen Roman c i n , die gerade i n den I n konsistenzcn der endgültigen Fassung von 1 504 deutlich werden. Für die latein ische Bukolik des M inelalters und des H umanismus war es entschei dend. daß eine lange I n terpretationsgesch ichte. die mit den spätantiken Kommen tatoren einsetzte, Vergils Bukolik als allegorisches Rollensprechen verstand l i . D a bukolische D i c h t u n g stets imitatio des normativen Modells d e r vergilischcn Bukolik blicb, das seinerseits nicht ohne seine allegorische Auslegungsgeschichte i n den Blick kam, w u rde die A llegorese noch zur selbstverständlichen Voraussetzung latein i scher und volkssprachlicher Eklogend ichtung im 1 5 . u n d 1 6 . Jahrhundert. E i n e i n s i c h konsistente allegorische Funktion Arkadiens k a m schon deshalb nicht zustande, weil die Auslegungsgeschichte schon Vergils A rkadien die verschiedensten Bezüge unterstellte. Für Dante, dessen bukolische Dichtung die I nnovation der Gattung einleitete, besaß die bukolische Fiktion folgerichtig keinen Eigenwen. Er sah i n den arkadischen H i rten vielmehr, ganz im Einklang mit der spätantiken und m ittelalterli chen Vergil -Allegorese, Rollensprecher, die gerade durch den irrealen Charakter der bukolischen Inszenierung verschiedene Besetzungen zuließen. Von einer bezeich nenden Ausnahme bei Boccaccio abgesehen, bleibt die bukolische Dichtung bis Sannazaro i m allegorischen Gebrauch der bukolischen Fiktion befangen. Die bukoli sche Eklogend ichtung nutzte einen poetischen Freiraum zur Artikulation verschie denster aktueller Themen und verband sich m i t der Sehnsucht der Humanisten nach der verlorenen Weh der Antike. Allegorisches Rollensprechen der Hinen, Einbin d ung i n konkrete kommunikative Situationen und Themenviclfalt sind charakteri stisch für die produktive Vergil-Rezeption der Humanisten: das bukol ische Reper toire blieb bis zum Ende des 1 5 . Jahrhunderts streng an die Tradition der Vergil A l legorese gebunden. Dies hatte zugleich die Folge, daß solche allegorische Dich tung eines Kommentars bedurfte, der entweder mitgeliefen wurde oder sich aus der i n den Eklogen selbst thematisierten kom m u n i kativen Situation für den Leser ergab. I n diese Tradition gehörte für die zeitgenössischen Leser zweifellos auch Sannaza ros A rcaJia, die geradezu als Repetitorium der traditionellen pastoralen Motive und der von der Eklogendichtung i n der Nachfolge Vergils entwickelten Verfahren gelten darf. Dies w i rd dadurch bestätigt, daß eine größere A nzahl von Kommentaren bis in den Barock hinein dem Leser d i e a l l egorischen und gelehnen Bezüge zu entschlüs seln h a lf, die er nicht unmiuelbar dechiffrieren konnte. Die I nnovation d ieses 'ersten H i rtenromans' sch i e n z unächst n u r auf der formalen Ebene zu liegen, in einer neuen Organisation der geläufigen pastoralen Thematik. Diese wurde dadurch erreicht. daß Sannazaro einzelne Eklogen. die er teilweise zunächst für sich konzipien haue. in einen narrativen Rahmen fügte, wobei wohl zunächst das Vorbild des allegorischen Romans maßgebend war. Freilich blieb die narrative Konsistenz dieses Rahmens �I
Vgl.
K. Knuner, D,� R�rJ"lJwrJu JtT B .. kolik, p,u�im.
V ON D E R I-:X PLI KATIVEN ZUR PO ETISCHEN A L L EGORESE
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wie i n den späteren Hirtenromanen - gering. Die Prosaabschn itte waren kaum noch erzähllogisch miteinander verknüpft, sondern folgten horizontal aufeinander. Erst allmählich bildete sich in der Konzeption der ArcaJu. ein narrativer Zusammenhang heraus, der dann in den Schlußteilen des ' Romans' wieder deutlich in allegorische Transpositionen des Neapolitaner literatenkreises u m Sannazaro überging. Gleichwohl liegt in dieser für Zeitgenossen noch fast unmerklichen Abweichung von der bukolischen Trad ition die entscheidende Wendung zu einer neuen bukoli schen Ganung, die sich endgültig aus den Fesseln der Vergil-A llegorese löste. Die Prosaabschnitte situieren die einzelnen Eklogen und schaffen eine Gegenwelt, die ihren eigenen Nonnen folgt und die in den Eklogen artikulierten subjektiven Ge fühle i n eine ' poetische' Gesellschaft integriert. D i eser Sachverhalt ist aber nur mög lich, weil sich gleichzeitig eine Umkehrung des A llegorischen von der Explikation dem leser unbekannter Bezüge zu einer reflexi v gesteigerten Anschauung des poeti schen A rkadiens vollzieht. Die allegorische Explikation, die das bukolische Rollen sprechen bisher erfordert hatte, wurde nun i n den latenten A l legorismus der bukoli schen Rahmenfiktion selbst übernommen. Das poetische A rkadien des entstehenden Hirtenromans ist durch einen nurmehr latenten A l legorismus deshalb charakteri siert, weil die literarische Gegenweh bestimmte Bezüge nicht mehr notwendig vor aussetzt ; aus der Allegorese als hermeneutischem Verfahren ist auch hier eine poeti sche Allegorese geworden. Freilich ist d iese Wende in Sannazaros Arcadu. noch nicht konsequent durchge führt. Das " per 10 coverto parlare"21 gehört z u i hren immer noch unentbehrlichen Verfahre n ; ansatzweise ist es allerdings bereits i n die fiktionale Welt des poetischen Arkad i e n selbst integriert. Der allegorische Bezug einzelner Passagen auf die lebens weIt des Dichters übernimmt nicht mehr primär eine explikative Funktion, sondern leistet die erzählerische Verschränkung von lebenswelt und arkadischer Fiktion, ohne daß alle Teile des Werks dem leser bestimmbare allegorische Referenzen auf weisen müHten . Die vielsch ichtigen Interpretationsmöglichkeiten des poetischen A rkadien werden im 'Roman' selbst ständig neu thematisiert und damit eine neue Rezeptionsweise vorbereitet, die an die Stelle der allegorischen Einzetbezüge i n der Nachfolge der Vergi l - A l l cgorese und der ihr folgenden Eklogend ichtung die arkadische Fiktion insgesamt der individuellen oder gesellschaftlichen lebenswelt kommensurabel macht. Die poetische A l legorese der A rcaJia initiierte eine neue literarische Gattung, die an die Stelle der explikativen Allegorese den latenten A llegorismus einer poeti schen Fiktion setzte und gerade deshalb die Möglichkeilen der literarischen Gegen weIt eröffnete, weil ihre Referenzen nichl mehr eindeutig bestimmbar waren. Aus dem sensus allegoricus der humanistischen E klogend ichtung wurde ein neuer sensus litteralis. dessen latenter Allegorismus dem neuzeitlichen H i rtenroman die verschie densten Besetzungen ermöglichte. Die bukolische Dichtung i n der Nachfolge der
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REINHOl.D R . G RI M M
Vergi l - Allegorese bedurfte des Kommentars; erst d i e s e Verbindung machte das G e m e i n t e dechiffrierbar. S c h o n Petrarca h a t t e i n d e r notwendigen "obscuritas" solcher Dichtung den Konstitutionsgrund der E klogend ichtung seiner Zeit gesehen, damit freilich auch die Grenzen dieser Gattung bestimmt. Für die Nicht-Eingeweihten blich dergleichen schwer zugänglich ; es sei denn, sie hätten sich gerade durch die "obscuritas" zu besonderer i ntellektueller oder ästhetischer Anstrengung veranlaßt gesehen - ein Argument das gelegentlich auch i n der B ibelhermeneutik auftritt. Die "obscuritas" des latenten Allegorismus im H i rtenroman beruht nicht mehr auf der Notwendigkeit eines Kommentars, der einzelne allegorische Bezüge aufschließen könnte, sondern auf der reflexiven Ansch aulichkeit einer poetischen Gegenweh, deren Rezeptionsspielraum der Leser erst nutzen mußte. Die entscheidende Neuerung der A rcadia. die den Weg zum neuzeitlichen H irten roman eröffnete, kann durchaus mit der fortschreitenden Literari5ierung der allego rischen Sinndimension im paradisus amoris verglichen werden. Das poetische Arka dien des H i rtenromans brach mit der U nterscheidung verschiedener Sinnebenen und erreichte durch die I ntegration des allegorischen i n den literalen Sinn eine deskriptive Konsistenz, wie sie auch der paradisus amoris anstrebte. I n beiden Fällen wird eine poetische Gegenwelt durch einen Funktionswechsel des Allegorischen erreicht . wie er nur nach einer langen Habitualisierung explikativer Allegorese eines bestimmten Motivbereichs denkbar ist. Ernaldus wie Sannazaro sind signifikante Zwischensta tionen einer Entwicklung, an deren Ende der latente A l l egorismus einer poetischen Deskription steht, die als literarische Gegenwelt literal und al legorisch zugleil.:h ist. Schon deshalb ist es nicht überraschend, daß i n der weiteren Entwicklung Parad ieses topik mit der arkadischen Fiktion verbunden wurde. Ein zu nächst exegeti sches Genre wurde poet isch.
J Ü RGEN SCHLÄGER A P P L I KATI O N SV E R STAN D N I S D E R L ITE RA R I S C H E N H E R M E NEUTIK
O d o Marquard h a t i n seinem Schlußwon a u f d i e Notwendigkeit einer hermeneuti· sehen Selbsthinterfragung der Hermeneutik h ingewiesen und diese Selbsuufklärung als Rekonstruktion der Frage, auf die die neuzeitliche Hermeneutik eine A ntwort zu geben suchte, in Angriff genommen. Er fühn überzeugend aus, daß das I n teresse a n der Ausbildung e i n e r Methodik d e s Verstehens i m Gegenzug gegen die fortschrei tenden Verluste an Selbstverständlichkeiten entstand, die das westliche Bewußtsein seit der Renaissance erlitten hatte. Die moderne Situation hat nun d ieses Selbstver ständlichkeitsproblem so verschärft, daß die traditionellen hermeneutischen Metho den bei seiner Bewältigung zusehens versagten und der Praxisbezug, u m dessen E rhaltung wi llen Hermeneutik ja allererst betrieben worden war, gänzlich abzurei ßen drohte. Um dieser Gefahr zu begegnen, hat n u n - w i e Marquard unterstreich t die Hermeneutik in jüngster Zeit (und ausdrücklich gegen die fondauernden Versu che, den Verstehenszusammenhang durch Substitution einer ungebrochen geltenden klassischen Tradition zu retten) eine applikative Wende vollzogen, i n der das für die Moderne so typische und für die traditionelle Hermeneutik so problematische Bre chen mit Trad itionen voll mitreflektien und aufgefangen werden kann. Für M a rquard ist es vor allem die literarische Hermeneutik i n ihrer neueren Aus prägung als rezeptionsästhetische und rezeptionsgeschichtliche Reflexion gewesen, die bislang am meisten zur Beseitigung des vorhandenen Applikationsdefizits der H ermeneutik beigetragen hat. Seine eigene hermeneutische Selbstaufklärung der Hermeneutik soll nun ein übriges tun. um die an ästhetischen Texten und ihrer Rezeption gewonnene Einsicht in den Charakter allen Verstehens zu festigen und den damit herbeigeführten Paradigmawechsel i n der Hermeneutik nachhaltig anzu· empfehlen . M e i n e r Ansicht nach beinhaltet e i n e solche Argumentation mehr a l s ein die tradi · tjonellen Hermeneutiken lediglich ergänzendes B e m ü h e n um Beseitigung i h rer Ap plikationsdefizite. Denn mit der Universalisierung des am ästhetischen Text eingeüb ten Verstehens zur metahermeneutischen Erkenntnis ist doch wohl ein ganz anderer Begriff von Applikation gemeint. als er i n der Rechtsprechung oder i n der Theologie als Auslegungsziel vorliegt. Um Mißverständnisse zu vermeiden und um einige w ichtige Konsequenzen des Parad igmawechsels bewußt zu machen, erscheint es mir u nerläßlich. die Spezifik der Anwendungsd imension eines solchen hermeneutischen Verstehens von anderen Begriffen von Anwendung abzuheben. Fragt man nämlich. i n welcher Weise der i n der subtilitas intelligend i und der
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jÜRGEN SCHl.ÄG ER
subtilitas interpretandi eruierte Sinn eines ästhetischen Textes app liziert werden will, so kann die Antwort auf keinen Fall lauten. daß die Auslegung vom Interesse an der Lösung praktisch- Iebensweltlicher Probleme geleitet sein muß. Im Gegenteil, das im Durchgang durch die Rezeptionsgeschichte des Werks geschärfte Bewußtsein von der potentiellen Bedeutungsvielfalt des ästhetischen Textes verbietet geradezu ver eindeutigende Sinnzuweisungen als Voraussetzung für Appl ikation im engeren Sinn. D.h. in die Verstehensbemühungen um einen ästhetischen Text fließt - nicht zuletzt durch die moderne L iteratur selbst gefördert - immer auch ein Stückehen metahisto risches Bewußtsein ein, das allen, auch den traditionellen Texten gegenüber, eine Einstellungsmodifikation bewirkt, die das Verstehen davon abhält, Sinn und Geltung für etwas Eindeutiges, Fixierbares zu halten. Frage und Antwort stehen fortan unter einem Anwendungsvorbehalt, den es in dieser Form früher nicht gegeben hat. Und genau in diesem Vorbehalt liegt auch der applikative Wert einer hermeneutischen H interfragung der Hermeneutik, wie Marquard sie unternimmt. Denn er wendet ihn zum Nutzen und Frommen moderner Geisteswissenschaft gegen die Anmaßungen der Neo-Cartesianer, die mit ihrer Huldigung an einen dogmatischen Rationalismus oft ein Minimum an hermeneutischer Aufgeklärtheit vermissen lassen und deshalb ihre Auslegungsresuhate für die Sache selbst halten, ganz abgesehen von ihrer mono manischen Präferenz des Erklärens über das Verstehen. I n seinem E ifer, Hermeneutik als E i nüben in Erkenntnistoleranz gegen die ' Code Knacker' abzusetzen, schüttet Marquard j edoch, wie ich meine, das Kind mit dem Bade, will sagen, die für jede Methodik des Verstehens als Ergänzung und Pendant notwendige Entwicklung von Erklärungsmodellen zusammen mit ihrer dogmati schen Praxis aus. Vergangenheitsrekonstruktion ist mit Textauslegung im engeren Sinn allein nicht zufriedenstellend zu leisten. Deshalb muß das Verstehen die Gren zen des Auslegens der schriftlich fixierten Selbstverständnisse einer Zeit zu über schreiten suchen, und dies kann es nur mit H ilfe der Bildung anthropologischer, psychoanalytischer, wahrnehmungs- oder kommunikationstheoretischer Erklä rungsmodelle leisten ' . Denn Geschichte offenbart sich nicht von selbst, sondern sie ist, wie Norbert Elias es einmal ausgedrückt hat, ein Prozeß, der "sich als Ganzes ungeplant" , aber " dennoch nicht ohne eine eigentüml iche Ordnung" vollzieht2• Und dieser Zusammenhang von Planlosigkeit und Ordnung kann heute durch eine Me thodik der Textauslegung, die sich nicht auch auf systematische Zugriffe oder Theo rieangebote einläßt, nicht erklärt werden. Somit l iegt der app likative Wert einer Hermeneutik, für die die Rezeption ästhetischer Texte zum Auslegungsparadigma geworden ist, vor al lem darin, daß sie die Vorbehalte, d ie aus der Erfahrung mit Auslegungen ästhetischer Texte gewachsen sind, in das Zusammenspiel von Verste hen und Erklären einbringen kann und dadurch Dogmatismus und überspitzten Rationalismus verhindern h ilft. L !
Vgl. dnu J . H�bermu, "Der Uni\'ers�lit;its�nspruch der Henm:ncutik", in Hrrmtrle'd,1t lind Dwlrlt· tilt, hgg. R . Bubner/ K . Cramer/ R. Wiehl, Tübingen 1 970, Aufs;inc I, S. 7 l f . N . Eliu. Ober den Prouß der Ziflilu.. tion. Frankfun 1 976, S. J 1 J .
J ACOB TAU BES ZUM P R O B L E M E I N E R TH E O LO G I S C H E N M ETH O D E D E R I NTE R P R ETAT I O N
Wenn es sinnvoll i s t , v o n e i n e r theologischen Methode d e r I nterpretation zu spre chen, abgehoben von jeder weltlich orientierten h istorischen Methode. so muß sich ihre Signatur am Problem 'Offenbarung als Wort Gottes' erweisen. Das Gespenst dieser Frage beunruhigt (vornehmlich) die (protestantische) Theologie seit der Auf klärung, als die h istorische Reflexion die Texte der Offenbarungsrel igion kritisch zu zersetzen begann. Eine letzte Variante dieses Problems trin uns in Buhmanns Pro gramm der ' E ntmythologisierung' entgegen. Das 'Wort' Gottes bleibt als ' Kerygma', allein schon kraft seiner Defi nition als 'un weltliche', aller Geschichte enthobene eschatologische Botschaft von der Erlösung, unau flösbarer und originärer Kern, der von der H i storie nicht mehr 'kritisch' zersetzt werden kann. Das ' Kerygma' funktionien bei Bultmann und seiner Schule als eine theologische Variante des canesischen fundamentum inconcussum. an das ,die All macht der h i storischen Reflexion, weil wertlos, als 'Weisheit dieser Welt' nicht zukann. Das ' Kerygma' ist für Buhmann Kern der christlichen Erlösu ngsbotschaft. Es bleibt daher Aufgabe aller ' kritischen', konkret : aller entmythologisierenden Refle xion der (protestantischen) Theologie, die historischen Schalen, die diesen Kern umgeben, i n ' weltlicher', konkret : mit Mitteln der historischen Methode als Hüllen abzulösen. Die Nebelwand des Historischen hüllt das ' Kerygma' ein. Diese Nebel wand muß durchschritten werden. Dies ist der kategorische Imperativ aller (prote stantischen) Bibelkritik. Daß auch die theologisch orientierte Bibelkritik oft im Ne bel des Historischen steckengeblieben ist und sozusagen den Tod in der Historie erlitten hat verschlägt wenig gegen den kategorischen Imperativ h istorischer Red lichkeit, den die protestantische Theologie auf ihr Panier geschrieben hat. Aber auch diese die theologische Reflexion stets bedrohende Anfechtung hat den Gang der ' k ritischen' Theologie bis heute nicht ersch üttern können. Es blieb beim Imperativ einer notwendigen Katharsis des WOrtS der Offenbarung durch historische Kritik und dem Programm einer kritischen H istorie der Offenbarungsgeschichte. Was im mer auch diese kritische Arbeit vom christlichen G lauben an Opfern verlangt, sie kann durch nichts anderes als historische Reflexion selbst abgegolten werden. Der pristine Augenblick des ' Kerygma', den der Theologe Buhmann als Reservat bestimmen möchte, kann aber geschichtlich nicht festgehalten werden. Denn schon mit Paulus setzt, das zeigt der Neutestamentler Buhmann, die "Vergesch ichtlichung der Eschato logie" ein, Johannes fühn sie weiter. Die Geschichte des Christentums w i rd von Bultmann als Verfal lsgesch ichte des eschatologischen ' Kerygma' exponiert.
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j ACOB TAUBES
Mit Recht hat Blumenherg in Bu ltmanns methodischer Exposition von Kerygma und Geschichte des Christentums eine formale Wiederkehr des gnostischen M ythos vom unberührbaren Kern des Pneuma gewitten. Bultmanns kerygmatische Formel enthüllt sich als Variante pneumatischer Exegese u nter den Bedingungen rad ikalisier ter historischer Reflexion. Aber bedenken Bultmann und seine Schule wirklich die Bedingungen historischer Reflexion seihst ? Geschichte will in der Tat Vergangenes historisch artikulieren. so daß Ereignisse erscheinen, wie sie 'eigentlich' gewesen sind . Eine erkenntn istheoreti sche Reflexion auf die G renzen der geschichtlichen Methode erweist, daß aber gerade Geschichte eine "Vergegenwärtigung der vollen Wahrheit" verweigert. Was Ranke noch naiv als das Credo der H i storiographie formuliert hat, erweist sich als I llusion. W i r kommen historisch ans Gewesene 'an sich' gar nicht heran, sondern blicken je immer bestimmt von der besonderen Verfassung eines historisch erkennenden Sub jekts aufs Geschehen der Geschichte. Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Ge schichte, im eminenten Sinne Ort des Vergänglichen, ist nur in gleichnishafter Rede möglich. Vom ' G leichnis' freilich spricht auch das Wort der Offenbarung. Wäre also die h i storische Methode die ihr eigentlich angemessene Reflexionsform ? Offenbarung als 'Wort Gones' wäre aber keine Offenbarung, wenn sie beim Vers Goethes, der auch unseren Begriff vom Symbol bestimmt hat, stehenbliebe und unterschiede sich in nichts von weltlichem Geschehen. Gleichnis und Wahrheit begegnen sich im Geschehen der Offenbarung, bewegen sich aber gegenstrebig in entgegengesetzte Richtungen. Geschichte ist immer nur als ' phänomenale' H istoriographie faßbar. Das noumenon, das Ereignis, ist an sich nicht faßbar. Freilich, Offenbarung als Ereignis an sich bedarf auch keines historischen Schlüssels. Denn in ihm herrscht ' G l eichzeitigkeit' zwischen Geschehen und Subjekt. Seit der Aufklärung begleitet der Schatten der historischen Kritik jede theologi sche Reflexion. Das 'Wort Gones' wurde vor das Forum des historischen Urteils gezogen. Die großen theologisch-politischen Traktate des 1 7 . Jahrhunderts geben auch Anleitung zur historischen Bibelkritik. Die bibelkritischen Part ien dieser Trak tate sind keineswegs gleichgültige Appendices, sondern haben eine systematisch philosophische Funktion als Kritik des Offenbarungsglaubens. Wenn heute versucht wird, die philosophischen Intentionen der historisch-kriti schen Methode i n die " L i nie der reformatorischen Theologie" selbst zu stellen ( G . Ebeling), so wird verschwiegen, daß nicht Luther und Calvin, sondern ihre Gegensp ieler: H obbes und Spinoza am Ursprung der historischen B ibelkritik ste hen. Man müßte schon Hobbes und Spinoza als die vollendete Reformation interpre tieren . um den Pfeil der historisch-kritischen Methode aus dem Köcher der Refor matoren kommen sehen zu können. Erst eine philosophische Reflexion auf die Be d ingungen des historischen Urteils, Aug i n Aug mit den Voraussetzungen von Hob bes u nd Spinoza, könnte die Möglichkeit einer theologischen Methode eru ieren, die weder pneumatische Exegese alten Stils noch Echo einer Historik wäre.
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MARQUARD F RA G E NACH DER F R A G E , AUF D I E D I E H E R M E N E UT I K D I E ANlWORT I ST
Hans Robert Jauß hat in seiner Vorlage - Zur Abgrenzung und Bestimmung einer literarischen Hermeneutik - ein gutes WOrt eingelegt für die von Collingwood und G adamer herkommende hermeneutische Logik von Frage und A ntwort : sie ist meint er - unverzichtbar für die Hermeneutik. Ich möchte dieses Plädoyer durch einige Bemerkungen unterstützen, und zwar unirritien durch den verschiedentlich geäußenen Verdacht, die Interpretation dieser geschichtlichen A nknüpfungsrelation als quasidialogischer Replikvorgang sei unzulässig, weil es sich dabei u m eine bloß metaphorische Redeweise handle ; denn mir scheint: selbst wenn hier die Rede von Frage und Antwon eine Metapher sein sollte, dann wäre es jedenfalls eine gelungene. eine fruchtbare. eine gute i . I Dieses Problem, das d as 'sprachliche' Modell der Frage und A n t...o n für d i e Geschichte darstdh, hat Ähnl ichkeit mit dem Problem, das "der Text als Modell" für das Soziale darstellt: vgl. P. Riccrur, " Der Text als Modell : hermeneutisches Verstehen" ( 1 972), jetzt in H . G . Gadamerl G . Boehm, S�m"..,.: Dj� He"", e"e"tllt "nd die Winm.ch..,Fre", Frankfurt 1 9 7 1 , S. 10- 1 1 7, der "da' Konzept des Tex�s als ein gutes Paradigma für das sogenannte Objekt der Sozial... issenschaften" (S. I) nimmt und speziell dem "si nnhaft orientienen Verhalten" im Sinne Max Webers einen "Lesbarkeits-Charakter" zuspricht (S. 95). H ier hat Thomas Luckmann schon Kritik angemeldet. Freilich : seit die Speech-Act-Theorie nahelegte, Texte als Handlungen zu begreifen - vgl. K . Stierle, Text .. lJ H.. ",II""I. München 1 977 -, mußte es aisbai..! zum Versuch der Umkehlt.hese kommen: Handlungen als Texte zu begreifen; das untl'mimmt Riccrur: RJC'a"r, Texttheoru Ihr H..n JI""1 ut J" R..che Jrr Hrrme"e"tilt .. n Jer H." J I"",.theone Je. Texte•. BC'i genauC'rC'r Analyse von Riccrurs Versuch zeigt sich m . E . : indem er inspiriert vom späten Dilthey unter Rückgriff auf HegeIs Theorie des "objektiven Geistes" - Handlun· gC'n als Texle und diC'se als Phanomene dC's objektiven Geistes 7.U begreifen unternimmt, interessiert ihn vor allem das Z ... ischenreich 7. ... ischen "parolC''' und "langue", z ... ischen dialogischer Perfonnan7 und Systemslruktur dC'r Kompetenz, namlich insbesondere das Phänomen dC'r Ablösung des Textes aus seinC'n 'ostentativen' Bezügen nicht nur durch seinC' Abtrennung vom Autor und vom unmittelbaren AdrenatC'n. \ondern durch seinC' F.manzipation auch vom subjektivC'n Primär7 ...eck; das aber ist das, ... as Gehlen die " Trennung des Motivs vom Zweck" bei "auf Dauer genelhC'n Handlungen" , bei " eigC'nauthenüschen HandlungskrC'i5C'n" genannt hat : bei I"Jlu""o"e,,; vg!. A . GC'hlen, Urme"seh " " J S/h'tlt"I,,,,. - PhiJofOphisehe Erreb"me " " J AMlwg�", FrankfunlBonn ' 1 964. S. ) I f., S. ) 7 f . u.i . ... . (das Ist, konnte man sagen, der Gedanke einer ' List dC'r Institution'): m. E . geht es Riccrur vor aller Texttheo ric der H�ndlung um eine Theoru Je. Textes .1. lrutit.tw". Auch darin stecken ProblemC': z . B . die Gc-fahr emC's hermeneutischen numerus dausus, wenn nur mC'hr zu InstitutionC'n sozialisiene TC'xte Interpretallonswurdig bleiben. Zugleich aber ergibt sich - scheint mir - für das hennC'nC'utische Frage Antwort-Schema einC' interessante und wichtige Distinktion und Modifikation: man darf offenbar bei Texten, die man als AntwonC'n auf (gC'schichtliche) Fragen versteht. nicht vC'machlässigen, daß es Fragen gibt. diC' Ihr (subjektiver) Zweck ... aren, und Fragen, die ihr (objektives) Moti'll wurden und blieben; man sollte alsu bC'1 jedem Text 7.U fragen versuchen: wdchC's war diC' FragC'. auf diC' (aufgrund C'ines subJekti ven ' Z... ecks') C'r die Antwort w.,., und ...elches sind jene Fragen, auf die (aufgrund objektiver 'Motive') er die Ant"'ort v·"r Je und bl,ebf
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M A RQUARD
In der genannten Vorlage - im ersten Abschnitt - nimmt Hans Robert l auB indem cr u. a. Peter Szondi konsu ltiert - auf eine bemerkenswerte Defizitlage der gegenwärtigen Diskussion um die Henneneutik Bezug : ihr entgeht - meint cr, und mich überzeugt das - weithin das Spezifische - das spezifisch Ästhetische - gerade der literarischen Hermeneutik. und zwar möglicherweise just deswegen. weil sie das hermeneutische Problem der Applikation vernachlässigt. Mir leuchtet zudem ein, was Hans Roben lauB im zweiten Absch nitt diagnostiziert : die Rezeptionsästhetik wurde deswegen erfolgreich, weil sie dieses Applikationsdefizit kompensiert. Ihr E rfolg ist daher konsolidierbar einzig durch ausdrückliche übernahme des h erme neutischen Applikationsproblems : und eben das ist in seiner Vorlage die Absicht von Hans Robert Jauß. Es war nämlich - scheint mir Jauß zu zeigen - seit je das Problem der Applikation. das die Hermeneutik nicht nur nötig machte und in ihre Entste hungsgeschichte hineinzwang. sondern das ihr auch spezifische Gestalten abver langte : gerade das Applikationsproblem treibt die Hermeneutik über ihre alte trad i tionsorientierte Gestalt einer Hermeneutik des mehrfachen Schriftsinns h inaus über den Traditionsbruch des Schriftprinzips hinweg - hinein in ihre moderne Ge stalt einer Hermeneutik der mehrfachen Auslegungsweisen2. Es ist dieser h istorische Kontext. im Blick auf den - im dritten Abschnitt seiner Vorlage - Hans Robert Jauß "Frage und Antwort als Prämisse des Verstehens" bestimmt. Dabei scheint ihm die aktuelle Situation, die die literarische Hermeneutik gegenwärtig, im Zeitalter der Rezept ionsästhetik, spezifisch herausfordert, geprägt durch eine Reprise der 'Que relle des Anciens et des Modernes', nämlich durch die Opposition zwischen Buh mann, dessen "Entmythologisierung" die alte Gestalt preisgibt, und Gadamer, de� sen Rehabi litierung des Klassischen die alte Gestalt gerade festhalten w i l l . Wie aus der ' Q uerelle' im 1 7. und 1 8 . Jahrhundert schließlich - Vorbildlichkeit der Antike und modernen Fortsch ritt gleichermaßen relativierend - der historische Sinn ent stand '. so kann gegenwärtig - als Replik auf d iese heutige 'Querelle des Gadameriens et des Bu ltmanniens' - die spezifische Gestalt des hermeneutischen Bewußtseins einer literarischen Hermeneutik entstehen. Auch dabei ist vornehmlich die Applika tionsproblematik das principium specificationis der Hermeneut i k : darum muß auch die literarische Hermeneutik - gerade gegenwärtig - von der Applikation her spe7.i fisch bestimmt werden. � n... btl kommt H ... ns Robcon J ... uß zur ThtSt. d ...ß dit lthrt \'on dtn drti Ausltgungsantn - gnmm"'li·
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seht. historischt. psychologischt b7.W. gtislige- - die- pos!feform"'loflsch·rom;anlische- " U mbe-5t17.ung" de-r Le-hrt \'om dre-ibche-n Sthrifninn - se-nsus liuer ... lis. §e-nsus monlis. se-nsus spiritu ... lis - iSI. J ... uß de-ule-I e-Ine-n Zuummenh ... ng zwische-n de-n "dre-i ZC'itlichc:n Dime-nsione-n" Ve-rg ...nge-nhe-it. Ge-genwul. Zukunft und de-m dre-if... che-n Sthrihsinn ... n ; die-se-n Zusammtnh ... ng muß e-s d ... nn ... uch mil de-n drti Ausle-gungswe-iscn gtbcon. 8e-sltht e-r ... uch :r.ur TriOl.5 VtrSle-he-n. Auslegtn. Anwe-ndtn? H ie-r gilt mögll ' chtrwc-ist f ü r J ... u ß d n . wn Htidtggtr - im 81ick ... uf d i t dre-i " E kslntn" d t r Ze-il - bcoi dtsscn . Unle-rschtidung von ..... nliquuische-r . . "' krilische-r" und "monume-nl ... lische-r Historie-" über Nlttuche101.,,1 1; : "d ... ß e-r me-hr vtrsund . ... ls er kundg... b " ; vgl. He-ide-gge-r. Se-III ,,,,d Ze-it, H ... lle 1 927. S. 396. Vgl. H . R . Jauß, " U rsprung und 8tde-utung de-r Fonschrltuide-t i n dtr 'Que-rdlt de-s A ncie-ns c:t du . Mode-rne-s· . . in H. Kuhnl F. Wic-dmann (Hgg.), Dir Pbi/oJopb� .. nd dir Fr.gr _cb dC'1I1 ForlJ�b"tt. Münchtn 1 96 .. . S. 5 1 -72.
FRAGE NACH D E R FRAGE, AUF OIE O I E HERM ENEUTIK D I E ANTWORT IST
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M i r scheint : Hans Robert Jauß empfiehlt - durch das Beispiel, das er mit dieser Vorlage gibt - eine hermeneutische Aufklärung der Hermeneutik, speziell der litera rischen Hermeneutik. Das impliziert, meine ich, folgendes: das von Gadamer her kommende Schema von Frage und Antwort, das Jauß favorisiert (und das möglicher weise der ausgezeichnete Fall des von Joachim Ritter so genannten "hypoleptischen" Verfahrens der hermeneutischen " Anknüpfung" ist), ist offenbar nicht nur das, mit dem die Hermeneutik oper;ert, um zu verstehen, sondern - ebendeswegen - zugleich auch das, mit dessen Hilfe die Hermeneutik selber verstanden werden kann und muß. So hat, wer eine hermeneutische Aufklärung der Hermeneutik vorhat, seiner seits zu fragen : welches ist die Frage, auf die die Hermeneutik selber - speziell die l iterarische Hermeneutik - die Antwort war und ist? Zu dieser Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, möchte ich hier - die überlegungen von Hans Robert Jauß ergänzend - drei Antwortbemerkungen machen; ich versuche indem ich vom minder Spezifischen zum Spezifischen weitergehe - drei Fragen zu benennen, auf die die Hermeneutik und schließlich ihre moderne und gegenwärtige Umformung zur primär literarischen Hermeneutik die Antwort war und ist. Da ist
1. jene Frage, die durch die menschliche Endlichkeit gestellt ist: sie ist elementar. Des Menschen Endlichkeit ist - diesseits der theologischen Bestimmung Kreatürlichkeit - seine von ihm gewußte Sterblichkei t : sein "Sein zum Tode". Vita brevis : keiner, der stirbt, kann von vorn anfangen, denn sein Tod ist immer schneller als die Aus führung d ieses Vorsatzes. Darum sind die Menschen antiprinzipielle Anknüpfen Müsser: sie können sich von dt'r Vergangenheit, die sit' sind, stets nur partiell distan zieren : zu mehr fehlt ihnen die Lebenszeit. Darum ist ihre Vergangenheit - ihre Herkunftsgeschichte - zwar kontingent, aber nicht als beliebig abwählbare Beliebig keit, sondern als kaum entrinnbares Schicksal : dieses gehört zu der Wahl, die jeder ist, als die Nichtwah l , die jeder ist; denn die Menschen müssen stets mehr Vergan genheit übernehmen als sie wählen oder gar negieren können. So liefert die Allzubal digkeit ih res Todes die Menschen ihrer - geschichtlichen - Herkunft aus. Zu dieser gehören - kontingent, aber unvermeidlich - die Texte: theologische, juristische, ph ilosophische, l iterarisch e ; sie sind stets schon d a : wir haben sie - wie u nsere Vergangenheit insgesamt - durch unser Sein zum Tode auf dem Hals, und die Hermeneutik trägt dem Rechnung. Sie trachtet, den modus vivendi mit dem nicht Negierbaren der Herkunft zu finden. Das ist ihre zwar unspezifische, aber elemen tare Bestimmung: Hermeneutik ist e;ne Weise, jene Folgefast der menschlichen Sterb lich /er;t zu tragen, dit darin besttht, geschichtliche Herkunft - als Bedingu n g der Möglichkeit ihrer stets nur part iellen Negierbarkeit - übernehmen zu müssen. Da ist 2 . jene Frage, die durch die menschliche Historizität - speziell die moderne - gestellt ist: dadurch. daß die geschichtliche Herkunft zugleich stets entgleitet. und zwar nicht ins Nichtsein. sondern in die Schwerverständlichkeit oder Unverständ l i chkeit, indem bestimmte Modi ihrer bisherigen Präsenz historisch obsolet werden. Zu die sen Modi gehören stets Menschen : mit jedem Tod stirbt Verständ lichkeit von Ver-
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gangenem. Dieser Verständlichkeitsverlust - der relativ als Selbstverständ lichkeits verlust erscheint - erzwingt, speziell für Texte, ein als besondere Kunst betriebenes Verstehen, das in die Stelle der verlorenen Verständnismodi eintritt : das ist die Henneneutik; sie substituiert primäre Herkunhserschlossenheiten, die ausgefallen sind. Sie wird - das habe ich im letzten Abschnitt meiner eigenen Vorlage unterstrei chen wollen - potenziert nötig und wirklich i n der modernen Weh : durch die zunehmende Beschleunigung ihres sozialen Wandels w i rd immer schneller Vertrau tes zu Fremdem, zum Unverständlichen : nicht n u r das, was neu ist in der Weh, sondern auch und gerade das in ihr Alte. D a eben braucht es die Hermeneutik, die folgerichtig erst in der modernen Weh emphatisch entsteht und erst dort - offenbar im 16. J ahrhundert - ihren Namen bekommt". Chancen eröffnet ihr ein Kompensa tionsbefu n d : die zunehmende Veraltungsgeschwind igkeit wird kompensiert durch Zunahme der Reaktivierungschancen fürs Alte. Weil das so ist, behält - wie Waher Magaß das hier exemplarisch gezeigt hat - auch die Predigt als Appl ikationsform der exegetischen H ermeneutik ihre Bedeutung. Dabei gibt es die Fortsetzung des Ahen unter Verwendung moderner Mittel: w o die Modi des exakten Erklärens und die großen Fortschrittserwartungen die Traditionen und die E rfahrungen der nächsten Lebenswelt außer Kraft setzen und diese stumm zu machen drohen. müssen sie d u rch Innovationen. also etwa durch Ausbildung der ' h istorischen' und der 'ästheti schen' Optik gerettet werden : dadurch wächst der Hermeneutik das Pensum auch des h istorischen und ästhetischen Verstehens z u . So wird die sich beschleunigende Dauerveränderung der modernen Welt beantwortet durch die Genese der Herme neuti k : die Hermeneutik wird - durch die menschliche Historizität - gerade modern
nötig und wirklich, weil sie den gerade modern zunehmenden Dauerverlust an Selbstverständlichkeit durch die Entwicklung des Wiederverstehens zur wissenschaft lichen Kunst kompensiert. Dabei muß gerade die ästhetisch-literarische Hermeneutik der Fiktionen zum Anwalt der Realität und i h rer E rfahrung werden, wo der mo derne W i rklichkeitssinn - durch seine Besetzung m i t H y pothesen und Ubererwar tungen - fiktional w i rd und wo er Gefahr läuft, im Namen des Heils die menschliche Lebenswelt zu ruinieren und gegebenenfalls blutig zu zerstören. Darum gibt es
3 . jene Frage. die durch die erfahrene Tödlichkeit der Rechthaberei absoluter Texte gestellt ist: von den konfessionellen Bürgerkriegen bis zum modernen Wehbürger krieg. Auf diese spezifisch moderne 'challenge' antwortet die Hermeneutik, indem sie vorrangig zur literarischen wird. Ich knüpfe hier an eine kryptische Bemerkun g v o n J acob Taubes zu Beginn u nserer Diskussionen an, d i e ich m i r folgendennaßen
zurechtlege: die Hermeneutik lebt von jener unselbstverständlichen - vielleicht gar unwahrscheinlichen - Friedlichkeit, i n der man redet, statt sich blutig zu bekämpfen. Ich gehe weiter, indem ich sage : die Hermeneutik ist, was Texte betrifft, der Agent dieser Friedlichkeit, und zwar einer, der Texte besänftigt und dadurch Menschen. Sie 4
V g l . H . E. H . J:r.eger, "Studien 7.ur Frühgeschichle d e r Henneneutik", i n Armiv f;;, Begriffsgeschichre 1 1 ( 1 974), S. 1S-S4.
F RAG E NA.CH D E R F RAG E , A.UF D I E D I E H ER M ENEUTIK D I E ANTWORT IST
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ist die A n t w o n a u f die moderne Situation d e s konfessionellen und ideologischen Bürgerkriegs und kann es sein wegen ihres Vermeidungswerts oder Vermeidungser trags (und sie ist somit etwas ' stattdessen ' ) : nämlich als Ersetzung des "Seins z u m Totschlagen" � durch das Sein zum T e x t . Die Rechthaberei i n bezug a u f die Wahrheit eines Textes kann tödlich sei n : das ist die Erfahrung der konfessionellen B ürger kriege. Wenn jemand sagt : ich habe recht ; in meinem Text steht die Wahrheit, und zwar so und nicht anders ; und wenn ein anderer dagegen sagt : ich habe recht; i n m e i n e m T e x t s t e h t d i e Wahrheit, und z w a r so und n i c h t anders : d a n n k a n n es insbesondere, wenn es sich um dieselbe heilige Schrift handelt, in der beide Entge gengesetztes lesen - Hauen und Stechen geben. Die Hermeneutik - und zwar nicht nur die literarische - ist die Antwon auf genau diese Situation durch die spezifisch hermeneutische Frage : wenn i m Text des einen die Wahrheit so steht und i m Text des anderen die Wahrheit so : könnte es nicht doch sein, daß i m Text von beiden die Wahrheit nicht 'so' steht, sondern vielmehr anders? Die Hermeneutik entschärft also - potentiell tödliche - Streitsituationen, indem sie das rcchthaberische Textverständ nis i n das interpretierende verwandelt : i n ein TUMJerständnis, das mit sich reden läßt; und wer mit sich reden läßt, schlägt möglicherweise nicht mehr tot. Aus dem absoluten und rigorosen Text wird der konziliante Tex t ; aus dem total engagienen wird der relativ neutralisiene leser : und der konzilianteste Text ist der literarische Text, der neutralisierteste leser ist der l i terarische leser. Die moderne Genesis der
literarischen Hermeneutik ist - als Replik auf den tödlichen Streit um das absolute Verständnis der heJigen Schnft - die Genesis des konzüiAnten Texts und des neutr4li sierten Lesers. Dazu gehön die Suche nach demjenigen Zusammenhang, der die rigorosen Textverständnisse relativien zugunsten dessen, was im Text unkontrovers oder folgenlos kontrovers gemeint ist : das kann das sein, was die Naturerkenntnis an ihm gelten läßt (Spinoza), oder das, was die menschliche Gesprächsgeselligkeit be eindruckt (Schleiermacher). Oder es ist die ausdrucksfähige mensch liche lebendig keit (Dilthey) oder die Sorge ( Heidegger) oder das Spiel ( Gadamer). Dazu kann gehören : die heilsame Veroberflächlichung der Wahrheits- und Heilsfragen . Das kann einschließe n : die Position der ' I ronie' im Sinne von Thomas Manns Essay über Ironie und Radik4lismus: "Fiat justitia oder veritas oder libertas, fiat spiritus - pereat mundus et vita! So spricht aller Radikalismus. ' I st denn die Wahrheit ein Argument wenn es das leben gilt?' Diese Frage ist die Formel der Ironie . .... Es ist - scheint m i r - die Formel der literarischen Hermeneutik, die Formel ihrer Direktion aufs Ästheti sche. Das berühn das Problem der Appli katio n : eines der wichtigsten Dinge bei der Applikation kann es sein, es nicht u n m i ttelbar zu ihr kommen zu lassen. W o etwa Applizieren als Urteilen Veruneilen heißt, kann es lebenswichtig werden, die Appli kation zu verzögern : sie dilatorisch, m ittelbar, folgenarm oder gar folgenlos zu machen. Das ist der G rundzug der ästhetischen Applikation : das Degagement, eine � R. Koselleck. · ' K riegerdenkmale als Iden,i,a,ss,ihungen der Oberlebenden", I n /J�rllIt.t. h g g . O . Mar q uaflil K. S,ierle. München 1 979 (Poe�ik und Henneneu�ik V I I I ) , S. 257.
h Th. M.lInn. Bptrtlch"".gPrI �irl�1 U"politilChp" ( 1 9 1 8), Frankfun 1 956, S. 560.
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Tolerammachung der Texte und Leser auch in Dingen des wirkungsgeschichdichen W i l lens zur Macht. Die moderne Entstehungsgeschichte der Henneneutik ist die Geschichte der Humanisierung der rigorosen Texte zu solchen, die mit sich reden lasse n : zu Texten. die immer noch anders gelesen werden und immer noch etwas anderes bedeuten können und also auslegungsfähig sind. Als Replik auf den Bürger
krieg um den absoluten Text neutralisiert die Hermeneutik absolute Texte zu inter pretablen und absolute Leser zu ästhetischen. Es leuchtet - scheint mir - ein, daß dabei die Autonomisierung der Texte zu literarischen und die Absonderung und Priorisierung der literarischen Hermeneutik eine Leitfunktion gewinnen mußte. Das waren drei kurze H i nweise auf drei Fragen, die - unter anderen - in Frage kommen als Fragen, auf die die Hermeneulik - speziell die literarische - die Antwort war und iS[o Freilich : wer die Hermeneutik als Antwort auf derlei Fragen versteht, optiert für eine hermeneutische Aufklärung der Hermeneutik. Diese Option - scheint mir - ist gut, aber nicht selbstverständ l ich. Was eine hermeneutische Aufklärung der Herme neutik tut, kann zusätzlich deudich werden, wenn man - wie ich das hier in einer kurzen abschl ießenden überlegung tun möchte - die Ahernative ins Auge faßt. Das ist das Code-KnAcken: es ist - auch und gerade verstehenstheoretisch - unter ver schiedenen Wissenschahsnamen im Vormarsch (z. B . als Semimik). Die Verstehens frage ist dann die nach dem benutzten Code. Indem ich zugleich die begriffsge schichtliche Analyse der Grundvokabeln der nicht mehr diachronen Humanwissen schaften als allgemein interessantes und wichtiges Desiderat kennzeichne7, vermute ich widerlegIich : obwohl 'Code' (als Kodex : etwa beim Code Napoleon) aus einer Handschriften- und Bücherbezeichnu ngsvokabel l ängst zum Wort für ein Verzeich n i s oder einen I n begriff von Regeln sich gewandeh haue, scheint 'Code' - auf dem Weg über die Linguistik - zum prominenten Grundlagenterminus geworden zu sein doch wohl erst von jenem Moment an, i n dem - nach der Erfindung der Telegraphie , Z . B . müßle unleuuchl 1\,·erden. 1\,'arum bc.-i der Performan7· KomP'"lenz.Theorie die Akluali�ierungwl1' kabd ("'perfonnance" ) offenbar aus Jem Thulerbereich. die POlenzvokabel ("compelence") aber aus dem WorlfclJ der Rivaliläl kommi : "compelenlia" war im aben Rom der SUIUS von Konsul.tukanJida· len, im jüngeren Rom Jer Sialus von PapSikanJiJalcn. bis �ie Kon\uln bzw. Papsl geworden Oller nichl l!Ieworden waren; bc.-i J . H . ZeJ ler, GroßeJ vollstimJigrs UPrlvrrJ..llui/to" ..Urr Wuuruch..!u" .. mi K.. nsu. Hallel Leipzig 1 7l2 ff . • heißI e�: "Compelenlr�: .. ar In der allen Kirche diejenige K la,se von denen Calechumenil, 1\,'elche bllher In der chTlsdichen Rdigion genugsam infonnirel ...·aren. unJ nun· mehro mileinander anhiehen. daß �Ie 7ur Tauffe gdangen moglen . . . Sie fi1hnen aber dielen Namen nichl Lange. denn am Palmen·Sonnlag hiehen sie um die Tauffe an, und den Oller·Tag erhielien ,ie dieselbe " ; Zedler generalisien : "Compelenl . . . heißI einer, der mil andern zugleich um elwas anhäh", ein Anhaher: kompelenl iSl der, Jer (.I) elwas will, was nlchl alle wollen, der (b) elwas 1\,'i l l , Woll auch andere wollen, der (c) el .. .tl> Will, Woll nur einer oder wenige bekommen konnen, und der (d) noch nichl erreichl h.al, .. as er will: er iSI eIR Rivale. Man muß fragen, ob - ggf. wie - dieS(' noch Icbc.-ndige Anfangsbedeulung von "Compelenlia" in den J urislen-, Syslemforscher-. Linguislen- und Diskurs· Iheoreliker- Begriff der ' K ompelenz' noch hineinwirkl und wa� Jas bcJeulen würde: .. arum wird ein Moglichkeilsbegriff Jer Rivaliläl zum Legilimalionsbcgriff vernunhiger Panizipalion ? UnJ: .. ieweil bleibl Jer Legilimalionshegriff " ernunhiger Panizipalion gleichwohl ein Möglichkellshegriff der Riva· lilal?
FRAGE NACH DER FRAGE, AUF D I E DIE H ERMENEU T I K D I E A NTWORT
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(Morse 1 837) und insbesondere der Einführung der drahtlosen Telegraphie, des Funks (Marcon i 1 897) - die Enuchlüsselung versch lüsselter Gegner-Funksprüche (und die Versch lüsselung eigener) in erheblicher Weise zum Pensum militärischer Geheimsprachenexperten geworden ist: 'Code' startet seine lingu istische Karriere als Spionagewort. Fortan - in großem Stile spätestens seit dem Ersten Weltkrieg - kann der Dechiffrier- und Chiffrierexperte zum Eckmann der Sprachw issenschaftler (die in Kriegszeiten nicht selten als militärische Codierungs- und Decodierungsfachleute tätig waren) werden und 'Code' zunehmend zum Eckterminus der Linguistik avan cieren, und im A nschluß daran zum Eckterm inus auch der Literatur- und Sozialw is senschaften. Das bedeutet aber: mit der Konjunktur des Code-Begriffes wird i n den Humanwissenschaften die Optik des Dechiffrierers repräsentati v : die Optik dessen, der mit der Sprache als 'Geheimsprache' konfrontiert ist: jener Sprache, die ich noch nicht spreche, noch nicht verstehe (im U nterschied zur Muttersprache und den b i l dungsüblich mitbeherrschten Sprachen, die i c h immer schon o d e r wenigstens fast immer schon spreche und verstehe). Auch unter dem Druck der zunehmenden linguistischen A nforderungen der Ethnologie - u nd des Sonderproblems der Entzif ferung toter Bildzeichensprachen - wird für die Linguistik, die Literatur- und Sozial wissenschaft exemplarisch das Verhältnis zur zunächst nicht verstandenen (unver ständ lichen) Sprache, zum zunächst nicht verstandenen (unverständlichen) Text, zum zunächst nicht verstandenen (unverständlichen) " fait social". Adorno hat Max Webers "verstehende Soziologie" mit Emile Durkheims Soziologie der "faiu so ciaux" eind rucksvoll kontrastiert und die Durkheim-Soziologie als die Soziologie der ganz und gar fremd gewordenen Welt interpretiert 8 : es ist aufschlußreich, daß der Vater der modernen Linguistik, de Saussure, sich an Durkheim orientierte. Die ser Ansatz beim ' fremden' Phänomen ist nicht selbstverständ lich ; die Vorentschei dung für ihn ist zweifellos folgenreich : darum muß sie offengelegt werden. Man kann sagen : die code-knackende Verstehenstheorie - die nicht-hermeneutische also begibt sich methodisch-künstl ich heraus aus jener - phänomenologisch ausgezeich nc'tCn - Situation, in der wir lebenswelttagtäglich existieren : aus der lebensweltlichen Situation der immer schon (irgend wie) verstandenen oder vorverstandenen Sprache, des immer schon (irgendwie) verstandenen oder vorverstandenen Textes, der immer schon (irgendwie) verstandenen oder vorverstandenen Sozial weh. Bei dieser aber setzt die Hermeneutik an: die code-knackenden Wissenschaften gehen aus von der grundsätzlich fremden, noch unverstandenen Welt (Sprache, Literatur, Sozietät ) ; die Hermeneutik geht aus von der grund sätzlich vertrauten, schon verstandenen Welt (Sprache, Literatur, Sozietät ) : darum ist die hermeneutische Rekursinstanz nicht der 'Code', sondern die Geschichte. Der Vorteil der Hermeneutik ist dabei offenbar nicht nur, daß sie anknüpft an die - phänomenologisch ausgezeichnete - Situation, in der wir uns lebenswehlieh stets schon befinden (an den Binnenaspekt der Lebens•
Th . \l' . AJorno, A n . "GrSC'lI�ch ... h " . in EV''''llr/iJchr. S'.....m/n'ltolJ. h&g. H. Kunst/S. Grundm ... n n . Slung"n/Brrhn 1 966. S. &)6--6-4 2 . brs 5. "18
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weh), sondern ebenso, daß sie stets schon auf den Vcrnändnisrcichtum vorgegebener Vcrnändnissc - auf die Vorausgelcgthcit - der geschichtlichen Welt rekurrieren kan n : die Hermeneutik hat es näher zu den konkreten, den i nteressanten, den span nenden - den datierbaren - Fragen. U m es i m Bergsteigerbilde zu sage n : während die H ermeneutik i h r Basislager der Vorvcrständ nissc - dank der Geschichte, die es dahintransponicne - immer schon knapp unter dem G ipfel der konkreten Vernänd nisprobleme hat, muß die decodierende Kommunikationstheorie Sländig i n der 'Tie fenzone' der Täler am Fuß der Problemberge auf normal Null oder gar im M inusbc reich anfange n ; sie - die code-knackende W issenschaft - legt dann zwar (mit hohem Finanzminclbedarf) u nentwegt jene Strecken z u rück, auf denen man viele Apparate. Sherpas und w issenschafdiche H i lfskräfte braucht i aber die Frage in allemal, ob sie w irklich und häufig auf jene Problemgipfclhänge h i n aufkommt, auf denen die Her meneutiker stelS sofon - mein ohne die Sauerstoff maske der Forschungssu bvention - unterwegs sind : i n kleinen Seilschahen oder allein. Diesen Voneil - Anknüpfung ans schon Verstandene sein zu können - nutzt auch die h�rm�neutisch� Aufklärung der Henneneutik : die. die die Henneneulik selber als A ntwon auf geschichdiche Fragen versteht. Sie verfügt außerdem - anders als die absuakte W issenschahstheorie - über die Zusatzmöglichkeit. die Hennencutik speziell die literarische - I;t�r"risch-hermeneut;sch aufzukläre n : als Verstehen des Vernehens, das mit sich reden läßt und seinerseits interpretabel bleibt und immer noch weitere A uslegungsmöglichkeiten offenläßt. Die Henneneutik - speziell die l iterarische - w i rd dann selber ein Sujet literarischer Hermeneuti k : auch und gerade das hat einen Ersparungswen oder Vermeidungsenragi so muß man - um hierbei das w issenschafdiche Sozialprodukt fair zu berechnen - auch und gerade d iesen Verscho mmgseff�ltt i n Anschlag bringen. Er scheint mir geeignet, jene Befürchtung zu de mentieren. die - i n unseren D i skussionen - vor allem Dieter Nörr zum Ausdruck gebracht hat: daß nämlich die henneneutisch reflektienen I nterpretationsmethoden, sobald sie - nach i h rer G ru ndlagenbehandlung i n einem Methodenrehabilitalions zentrum, einer metatheoretischen Fitnessklinik, einer henneneutischen SchönheilS fann - auf die Wissenschahsmenschheit losgelassen werden. den hermeneutischen Praktiker bei seiner Arbeit nur nören. Ich denke, er unterschätzt dabei eine klassi s c h e F u n k t i o n der Metatheorie, die gerade die literarisch zivilisiene Diskussion um die H e rmeneutik erfüllt. Sie besteht darin. nicht : Methoden funktionstüchtig zu machen und dann den Praktikern aufzuzwingen, sondern : gerade störende Metho den sozusagen i n eine freundliche Sicheru ngsverwahrung zu nehmen (in die der G ru n d l agenreflexion), auf daß sie arbeitende Wissenschafder bei ihrer Wissen schafISarbeit vor O n h i nfon gerade nicht mehr nören. Wir - als I nterpreten der Interpretation. als Henneneutiker der Henneneutik - haben Depon;epf1icht�,. und sind zuständig insbesondere auch für die E,.tsorgu,.gsprob/�m� der ;nterpr�t;erend�n Wiss�nsch"ft�,.; darum - dies ist eine als Behauptung getarnte Frage - haben wir die uns zugewiesenen oder z u gefallenen Henneneutikprobleme möglichst lange bei uns zu behalten und sie vor allem nicht - und schon gar nicht definitiv - zu lösen : das
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wäre vielmehr grob fahrlässig. Es wäre ein Kunstfehler, das Problem der Hermeneu tik nicht zu stellen ; es wäre aber auch ein Kunstfehler, das Problem der Hermeneutik zu lösen : unsere Sache - dies sage ich mit zaghafter Zuversicht im Blick auch auf die bange Frage nach dem Ergebnis unserer D i skussionen - unsere Sache ist, scheint mir, vor allem anderen die Ausübung der Kunst, diese Kunstfehler nicht zu begehen.
ANHANG
I Liber Genesis ( I . Mos. 2 .4 b -3.24)*
s.p 1 � . 1 1 . [\' hr l.� "
in die quo fecit Dominus Deus caelum et terram 5 et omne virguhum agri antequam oreretur in terra omnemque herbam regionis priusquam germ inaret non enim pluerat Dominus Deus super terram et homo non erat qui operaretur terram ' sed fons ascendebat e terra inri gans universam superficiem terrae 7 formavit igitur Dominus Deus hominem de limo terrae et inspiravit i n faciem eius spira culum vitae et factus est homo in animam vi ventem a plantaverat autem Dominus Deus parad isum voluptatis a principio i n quo posuit hominem quem formaverat ., produxitque Dominus Deus de humo omne lignum pulchrum visu et ad vescendum suave lignum etiam vitae in medio pa radis i lignumque scientiae boni et mali 10 et fluvius egrcd iebatur de loco voluptatis ad inrigandum para disum qui indc dividitur in q uattuor capita
V.. lgara. hg. 8. Fischcr. Stutr!;,," G A OC IATMcz, "b
1969,
1 1 nomen uni Phison ipse est qui circuit omnem terram Evilat ubi nascitur aurum 12 et aurum terrae illius optimum est ibique invenitur bdellium et lapis onychinus I } et nomen fluvio secundo Geon ipse est qui circu it omnem terram Aethiopiae 1 4 nomen vero fluminis tenii Tigris ipse vad it contra Assyrios fluvius autem quanus ipse est Eufrates 1 5 tulit ergo Dominus Deus homi nem et posuit eum i n paradiso voluptatis ut operaretur et custodiret illum " praecepitque ci dicens ex omni ligno parad isi comede 1 7 dc ligno autem scientiae boni et mali nc comedas i n quocumque enim die comede ris ex eo mO[1e morieris 1 8 d l xlt quoque Dom i nus Deus non est bonum esse hominem so lum faciamus ci adiutorium si milem sui 19 formatis igitur Dominus Deus de humo cunctis animantibus ter rae et universis volatilibus caeli adduxit ca ad Adam ut videret quid vocaret ea
S. 7 f .
12 ibi A A c 1 1 ] flUUli 5cc u n d i C t A c 1 1 5 iIIu d C
1 1 8 ..d i u lOrium similem AATMcz,. e[. b
(app . ) ) .. d i u torium �imile O c ; .. d i u torcm �imilcm CI rb 1 � u i 1 5ibi Cc 1 1 9 eSI 0'".
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19. 1 0 , )7.17. 1. '.1. 1I s... �.1 . n Son " , u . I P" , . . . . •• phS,JC
MI 19.�. M. I�." �ph U I m f . . t.lO l ! Mol l . a . I C ..... l .
L I B E R G EN E S I S
am ne enim quod vocavit Adam animae viventis ipsum est no men eius lO appellavitque Adam nom i n i bus suis cuncta animantia ct u niversa volatilia caeli et am nes bestias terrae Adam vero non inveniebatur adiutor s i m i l i s eius 2 1 inmisit ergo Dominus Deus 5 0 parern i n Adam cumque obdormisset tulit u nam de costis e i u s et replevit carncm pro ea 12 et aedificavit Dominus Deus co stam quam tulerat de Adam i n m u l ierem et adduxit eam ad Adam n dixitque Adam hoc nu ne os ex ossibus meis ct caro de carne mea haec vocabitur virago quoniam de vira sumpta est 24 quam o b rem relinquet homo patrem suum ct matrem ct adhcrebit uxori suae ct erunt duo i n carne una H erant autem uterque nudi Adam seilicet et uxor eius et non erubescebant 1 sed et serpens erat callidior eunc tis animantibus terrae quae fe cerat Dominus Deus q u i dixit ad m u lierem cur praeeepit vobis Deus ut non eomederetis de omni ligno pa radisi 1 eui respond it mulier de fruetu l ignorum quae sunt i n paradiso veseemur
t . Mos. 2 ,4 b -3,24
de fructu vero l igni quod est i n m e d i o paradisi praecepit nobis Deus ne comede remus et ne tangeremus illud ne forte moriamur 4 dixit autem serpens ad mul ierem nequaquam morte moriemini S seit enim Deus q uod i n quocum que die eomederitis ex eo aperientur oculi vestri et eritis si cut dii sciemes bonum et malum 6 vidit igitur mulier quod bonum esset lignum ad vescendum et pulchrum oculis aspectuq ue delectabile et tulit de fructu illius et comedit deditque v i ro suo qui comedit 7et aperti sunt oculi amborum eumque cognovissent esse se nudos consuerunt folia ficus et feeerunt si bi perizomata B ct cum audissent vocem Domini Dei deambulantis i n paradiso ad auram post meridiem abscondit se Adam et uxor eius a facie Domini Dei in medio ligni paradisi , vocavitque Dominus Deus Adam ct dixit ei ubi es 10 q u i ait vocem t u a m audivi in p a radiso et t i m u i eo q u o d nudus essern et abscondi me 11 cui dixit quis enim indicavit tibi quod nudus esses n i si quod ex ligno de quo tibi praeceperam ne comederes co medisti
1
20 ;ubm: I ... 1 .10' ( . ... i 2 S e r a l AM.: 1 n u d u s Al:M c 11 ).1 ursc i m u r 41.:; C" d C" m u � A. J drusJ dummus C . 1 S !iicUI ] UI ACl: .. .Imborum ] "urum A 1 - �r l'sSC' I\T4t ... 1 9 ' " + ;ld;lm C 1 1 1 dlll: 1 t + d r us CI
L I BF. R G ENESIS
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l. p h �.22. 1 .
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l . Mos. 2.4 b -3,24
1 2 dixitque Adam mulier quam de disti sociam mihi dedit mihi de ligno et comedi I ) et dixit Dominus Deus ad mulie rem quare hoc fecisti quae respondit serpens decepit me et comedi 1 4 et ait Dominus Deus ad serpen tem quia fecisti hoc maledictus es inter omnia animantia et be stias terrae super pectus tu um gradieris et terram comedes cunctis diebus vitae tuae 1 5 inimicitias ponam inter te et mulierem et semen tuum et semen illius ipsa conteret caput tu u m et tu insidiaberis calcaneo e i u s 16 mulieri quoque dixit multiplicabo aerumnas tuas et conceptus tUOS in dolore paries filios ct sub viri potestate eris et ipse dominabi tur tui 17 ad Adam vero dixit quia audisti vocem uxoris tuae et comedisti de ligno ex quo praeceperam tibi ne comederes maledicta terra i n opert' tuo in laboribus comedes eam cunctis diebus vitae tuae
18
spinas et tribulos germinabit tibi et comedes herbas terrae 19 i n sudore vuhus tui vesceris pane donec revertaris i n terram de qua sumptus es quia pulvis es et i n pulverem reveneris 20 et vocavit Adam nomen uxoris suae Hava eo quod mater esset cunctorum viventium 21 fecit quoque Dominus Deus Adam et uxori eius tunicas pel licias et induit eos 22et ait ecce Adam factus est quasi unus ex nobis sciens bonum et malum nunc ergo ne forte mittat manum suam et sumat etiam de ligno vitae et comedat et vivat i n aeternum 2} emisit eum Dominus Deus de pa rad iso voluptatis ut operaretur terram de qua sumptus est 24 eiecitque Adam et conlocavit ante paradisum vo l u ptatis cherubin et f1ammeum gladium atque versatilem ad custodiendam viam ligni vil'ae
1 [1nC'/pir G ) I - praeceperam libi TMcs.c 1 1 2 - mihi sociam 01:c 1 J.4 t'� 1 �'ris 0 1 cunclis ) omnibus Ge. I I S ipsc OIT b 1 calcant'um OCAcs. 1 1 6 1 u i ) Iibi 0 1 1 7 aJ adam GAOrb ) aJae rer. l cam 1 ex e a M c ; de ra C . I I S herbam A c 1 1 9 panem Cl:cs. 1 i n lI:rra C 1 2 0 haua GA rb. 1 h�'U;[ c.; aeua M; eua rer. 1 2 1 adat' OCI M c ; ad .l.Jam G 1 2 2 - qU.l.si unu� cx nubis faclus eS! c . 1 2 1 �·I .. misil O I e 1 deus om. C I .
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LIBER G ENESIS t . Mos. 2,4 b -3,24
2 übertragung von G . von Rad"
a Die jahwistische Geschichte vom Paradies ( 1 . Mos. 2,4 h-2S) 4h Als Jahwe, Gott, die Erde und den H i mmel machte. - S noch war kein Steppen busch auf Erden. noch wuchs kein Kraut auf dem Feld. denn Jahwe, Gott, hatte noch nicht regnen lassen auf den Erdboden, und es war kein Mensch da, den E rdbo den zu bebauen, 6 nur Gru ndwasser ( ?) stieg von der Erde auf und feuchtete den ganzen Erdboden, - 7 da bi ldete Jahwe. Gon, den Menschen aus Staub vom E rdbo den und hauchte seiner Nase Lebensodem ein ; so ward der Mensch ein lebendes Wesen. 8 Dann pflanzte Jahwe. Gott, einen Garten in Eden gegen Osten und dahin ein setzte er den Menschen, den er gebildet haue. 9 Und Jahwe, Gott, ließ vom Erdboden aufsprießen allerlei Bäume, lieblich anzusehen und gut zu essen. aber den Baum des Lebens minen im Garten und den Baum der Erkenntnis (von gut und böse). 10 Ein Strom aber entspringt i n Eden, den Garten zu bewässern ; von da ab teilt er sich und wird zu vier Armen. 1 1 Der eine heißt Pischon, das ist der, der ganz Chawilaland umfließt, wo das Gold ist; 12 das Gold jenes Landes aber ist kostbar ; dort gibt es auch Bedolach(harz) und Schohamsteine. 13 Der zweite Strom heißt Gichon. das ist der, der das ganze Land Kusch umfließt. 14 Der drine Strom heißt Chiddekel. das ist der. der östlich von Assur fließt. und der vierte Fluß ist der Eufrat. IS Und Jahwe, Gon. nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden. ihn zu bebauen und zu bewachen. 16 Und Jahwe. Gott. gebot dem Menschen und sprach : Von allen Bäumen des Ganens darfst du essen ; 17 aber von dem Baum der Erkenntnis (von gut und böse) darfst du ja nicht essen, denn des Tages. da du davon issest. mußt du des Todes sterben. 18 Da sprach Jahwe. Got t : Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei ; ich will ihm eine Hilfe schaffen. die ihm entspricht. 19 So bi ldete Jahwe, Gon. aus Erde alles Getier des Feldes und alle Vögel des Himmels und brachte sie zu dem Menschen. um zu sehen. wie er sie nennen würde; und wie der Mensch sie nennen würde. so sollten sie heißen. 20 Und der Mensch gab allem Vieh und allen Vögeln des H immels und allem Getier des Feldes Namen ; aber für 'den" Menschen fand er keine H i lfe, die ihm entsprochen hätte. 21 Da ließ Jahwe. Gott. einen Tiefschlaf auf den Menschen fal len, so daß er einschlief, und er nahm ihm eine der Rippen und schloß die Stelle mit Fleisch zu. 22 Und Jahwe. Gon. baute ein Weib aus der Rippe. die er vom Menschen genommen hane. und brachte es dem Menschen. 23 Da sprach der Mensch : "Das ist nun endlich
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L I B I' R G EN E S I S 1 . Mos. 2,4 b -3,24
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Bein von meinem Bein und F l eisch von meinem Fleisch. Diese wird man ( isSa) Weib nennen, weil sie vom (is) Mann genommen ist." 24 Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen, und sie werden zu einem F leisch . 25 Die beiden aber, der Mensch und sein Weib waren nackt, aber sie schämten sich nicht. b Die Geschichte vom Sündenfall ( 1 . Mos. 3 , 1 -24) 1 Die Schlange aber war listiger als alle Tiere des Feldes, die Jahwe, Gott, gemacht hatte, und sie sprach zum Weibe : Gott hat wohl gar gesagt, ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen ? ' 2 Da sprach das Weib: Wir dürfen essen von den Früchten der Bäume im Garten, 3 nur von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt : esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, daß ihr nicht sterbet. 4 Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet ja gar nicht sterben, 5 sondern Gott weiß wohl, daß, sobald ihr davon esset, euch die Augen aufgehen werden, und ihr wie Gott sein werdet, wissend Gutes und Böses. 6 Und das Weib sah, daß von dem Baume gut zu essen wäre und daß er lieblich anzusehen sei, und begehrenswert. um klug zu werden; da nahm sie von seiner Frucht und aß und gab auch ihrem Manne neben ihr und er aß. 7 Da gingen den Beiden die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren. Da flochten sie Feigenlaub zusammen und machten sich Schürzen. 8 Als sie nun das Geräusch Jahwes, Gottes, hörten. wie er beim Tageswind im Garten wandelte, da versteckte sich der Mensch mit seinem Weibe vor dem Ange sicht Jahwes. Gottes, unter den Bäumen des Gartens. 9 Jahwe, Gott. aber rief dem Menschen und sprach zu ihm: Wo bist du denn? 1 0 Er sprach : ich hörte dein Geräusch im Garten. da fürchtete ich mich, weil ich nack( bin und versteckte mich. 11 Da sprach er: Wer hat dir gesagt, daß du nackt bist? Hast du von dem Baum gegessen. von dem zu essen ich dir verboten habe? 12 Da sprach der Mensch : Das Weib, das du mir zugesel l t hast, das hat mir von dem Baum gegeben, da habe ich gegessen. 13 Da spral.:h Jahwe . Gott, zum Weibe : Was hast du da getan ! Das Weib aber antwortet e : Die Schlange hat mich verführt ; da habe ich gegessen. 14 Da sprach Jahwe, Gott, zur Schlange: Weil du das getan hast, sei verflucht vor allem Getier des Feldes. Auf dem Bauche sollS( du kriechen und Staub fressen dein Leben lang. 15 Feindschaft will ich setzen zwischen dir und dem Weibe, zwischen deiner Nachkommenschaft und ihrer Nachkommenschaft ; er wird dir nach dem Kopfe t reten und d u wirst ihm nach der Ferse schnappen. 16 Zum Weibe sprach e r : Ich w i l l d i r viel Beschwerden machen i n deiner Schwangerschaft, unter Schmerzen sollst du Kinder gebären. Nach deinem Manne soll dein Verlangen sein, aber er soll d ich beherrschen! 17 Und zum Menschen sprach er: Weil du auf deines Weibes Stimme gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem ich dir gebot : du sollst 1 luthr� ; " h :h kann das Ebrris .. hr nicht wohl grbrn. widdrr drutsch noch latrinisc h ; rs laut rbrn d.u W on �ph k l �I� wC'nn C'inC'r dir Nasrn rümpft und rinrn vrrlachC't und vC'npouC't."
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nicht davon essen, - verflucht sei der Erdboden um deinetwillen, mühsam soll st du dich von ihm nähren, solange du lebst ; 18 Dorn und Gestrüpp lasse er dir sprossen, und das Kraut des Feldes sollst du essen. 1 9 1m Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zum Erdboden zurückkehrst, von dem du genommen bist; denn Staub bist du und zum Staub sollst du zurückkehren. 20 Da nannte der Mensch sein Weib Chawwa (Leben), denn sie ist die Mutter aller Lebenden geworden. 21 U nd Jahwe, Gott, machte dem Menschen und seinem Weibe Kleider aus Fell und zog sie ihnen an. 22 Und Jahwe. Gott sprach : Siehe, der Mensch ist nun geworden wie unsereiner, wissend G utes und Böses. Nun aber, daß er nicht seine Hand ausstrecke und nicht auch von dem Baum des Lebens b reche und esse und dann ewig lebe - , 23 so schickte ihn Jahwe, Gott, fort aus dem Garten Eden. daß er den Erdboden bebaue, von dem er genommen war. 24 Da vertrieb er den Menschen, und ließ östlich vom Garten Eden die Cherube sich lagern und die Flamme des Zickzackschwertes. den Weg zum Baum des Lebens zu bewachen.
11 Der ' Mephisto ' - Fall
1 Auszüge aus den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (Zivilsachen), Bd 50, Nr. 22, S. 1 33 - 1 3 5 ( Sachverhalt), 5. 1 4 1 - 1 47 ( Urteil) Zur Frage des Persönlichkeitsschutzes Verstorbener gegen eine Verfälschung ihres Lebensbildes in einem zeitkritischen Roman. C ' Mephisto") GG Art. 2 , 5 . I . Zivilsenat. Urt. vom 2 0 . März 1 968 i . S . N . Verlagshandlung (Bekl.) w . P. G r . - G . ( K l . ) [ ZR 44/66. I. Landgericht Hamburg 1 1 . Oberlandesgericht Hamburg
Der klagende Adoptivsohn und Alleinerbe des verstorbenen Schauspielers und I n tendanten Gustaf Gründgens beanstandet mit d e r vorliegenden Klage die Verbrei tung des Buches " Mephisto - Roman einer Karriere" von Klaus Mann. Gründgens war i n den zwanziger Jahren mit Klaus Mann befreundet und mit dessen Schwester Erika kurze Zeit bis 1 928 verheiratet. Im Jahre 1 933 begaben sich die Geschwister Klaus und Erika Mann aus politischer überzeugung in die Emigra tion. G ründgens, der insbesondere durch seine Mephisto-Rolle bekannt geworden war, w u rde im Jahre 1934 zum I ntendanten des Staatlichen Schauspielhauses in Berlin ernannt, im Jahre 1 936 zum Preußischen Staatsrat und im Jahre 1937 zum Generalintend anten der Preußischen Staatstheater, die Göring unterstanden. Klaus Mann schrieb den Mephisto-Roman bald nach seiner Em igration und veröf fentlichte ihn im J ahre 1 936 im Querido-Verlag in Amsterdam in deutscher Sprache. Der Roman schi ldert die Karriere eines Schauspielers, der im Roman den Namen Hendrik H öfgen trägt und der als ehrgeiziger, talentierter Opportunist aus kleinbür gerlichem Milieu mit perversen sexuellen Neigungen, als zynisch-rücksichtsloser Mitläufer der nationalso7.ialistischen Machthaber und als Rückversicherer dargestellt w i rd . Zahlreiche Einzelheiten - so die Beschreibung von Figur und Gesicht� die Reihenfolge der Theaterstücke, in denen d ieser Schauspieler mitwirkt, insbesondere auch die übernahme der Mephisto- Rolle. sowie der Aufstieg zum Generalintendan ten der Preußischen Staatstheater - entsprechen dem äußeren Erscheinungsbild und dem Lebenslauf von G ründgens. Auch Personen aus dessen Umgebung sind i n dem Roman wiederzuerkennen. Zwischen den Parteien ist unstreitig, daß auf Gründgens wesentliche negative Charakterzüge und Handlungen nicht z utreffen, die im Roman der Person H öfgens angedichtet werden. Der Mephisto- Roman erschien im Jahre 1 956 erneut im A ufbau-Verlag in Ost-
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DER ' MEPHISTO ' - FALL
Berlin und trug auf der letzten Seite den Vermerk : "Alle Personen dieses Buches stellen Typen dar, nicht Porträts K . M . " Dieser Herausgabe hat der Kläger im Na men von Gründgens. dessen Assistent er seit seiner Adoption bis zu dessen Tode war, im Jahre 1 95 7 widersprochen. doch war die Auflage bereits ausgeliefert. Wei tere H erausgaben bei drei westdeutschen Verlagen konnten verhindert werden. I m August 1 963 kündigte die Beklagte ihrerseits die Herausgabe des Buches an. Nach dem Tode von G ründgens am 7 . 0 ktober 1 963 hat der Kläger hiergegen zu nächst erfolglos protestiert und schließlich Klage erhoben. Nachdem die Beklagte i n erster Instanz obgesiegt hatte . brachte sie das B u c h mit folgendem, durch einstwei lige Verfügung angeordnetem Vorspruch heraus : " A N DEN LESER Der Verfasser Klaus Mann ist 1 933 frciwillig aus Gesinnung emigriert und hat 1 936 diesen Roman i n Amsterdam geschrieben. Aus seiner damaligen Sicht und seinem Haß gegen die Hitlerdiktatur hat er ein zeitkritisches Bild der Theaterge schichte in Romanform geschaffen. Wenn auch Anlehnungen an Personen der dama ligen Zeit nicht zu verkennen sind, so hat er den Romanfigurcn doch erst durch scine dichterische Phantasie Gestalt gegeben. Dies gilt insbesondere für die H auptfigur. Handlungen und Gesinnungen, die dieser Person im Roman zugeschrieben werden, entsprechen jedenfalls weitgehend der Phantasie des Verfassers. Er hat daher seinem Werk die E rklärung beigefügt : ' A lle Personen dieses Buches stellen Typen dar. nicht D e r Vcrlegcr" Porträts . ' Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung u . a. ausgeführt, daß die durch den Roman verletzten Persönlichkeitsrechte von Gründgens mit dessen Tode untergegangcn seien. Gegen dieses Uneil hat der Kläger Berufung eingelegt. mit der er sein Klagebegeh ren weiterverfolgt . jedoch zum Ausdruck gebracht hat, daß das Verbot nicht unbe dingt für alle Zeiten erstrebt werde. Die Beklagte hat erklärt, sie verpflichte sich, den Roman künftig stets mit dem durch einstweil ige Verfügung angeordneten Vorspann zu veröffentlichen. Das Oberlandesgerid" hat der Berufung stattgegeben und die Beklagte antragsge mäß verurteilt. Die Revision der Beklagten blieb ohne Erfolg. Aus den Gründen : I ...
11 .•. 1 1 1 . 1 . I n der Sache selbst führt das Berufungsgericht i m einzelnen aus, daß Klaus Mann die Hauptfigur seines Romans unbestritten an G ründgens angelehnt habe. Eine ausreichende "Verfremdung" der aus der WirkJ ichkeit entlehnten Vorgänge lasse sich nicht feststellen. Zwar würden jüngere Leser in zunehmendem Umfang in den dargestellten Romanfiguren die damals lebenden Personen nicht erkennen und
ENTSC H F. I DUNGEN DES BUNDF.SG E R I CHTSHOFS
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den Roman als zeitkritische Darstellung des Theaterlebens i n den zwanziger und dreißiger Jahren werten. Eine nicht unbeträchtliche Zahl des theaterkundigen Publi kums, von dem das Buch überwiegend gelesen werde, denke aber bei der Hauptfigur H öfgen an G ründgens und identifiziere diesen infolge der übereinstimmungen im äußeren Erscheinungsbild, dem Lebens- und Berufsweg und der Umgebung mit Höfgen. Dabei könne der Leser nicht zwischen Wahrheit und Erdichtetem unter scheiden. Diese tatrichterlichen Feststellungen des Berufungsgerichtes sind frei von Rechts oder Verfahrensverstößen . . . 2 . Das Berufu ngsgericht führt sodann weiter aus, daß der Roman für diejenigen Leser, welche Handlungen, Motive und Äußerungen des Höfgen auf Grundgens beziehen, ein negativ verzerrtes, verunglimpfendes Charakter- und Lebensbild von Gründgens vermittle. Das Buch sei - so gesehen - eine Schmähschrift i n Roman form, i nsbesondere wegen der unstreitig frei erfundenen Schilderung der masoch isti schen Beziehu ngen Höfgens zu der Negertänzerin. Gründgens werde in der Gestalt Höfgens als ein begabter Schauspieler mit großer Karriere geschildert, der die M e ph isto- Rolle vorzüglich spiele u n d seinem Charakter nach selbst ein Meph isto s e i . der s i c h den nationalsozialistischen Machthabern seiner Karriere wegen ausliefere. Ferner bedeute die Unterstellung, Höfgen habe einigen politisch Verfolgten nu r geholfen. um sich dadurch für später eine Rückversicherung zu verschaffen. eine Verächtlichmachung des Höfgen und somit von G ründgens. Auch das physische Versagen des Höfgen in seiner Ehe - möge es auf Gründgens zutreffen oder nicht sowie die zahlreichen verbalen Beleidigungen seien geeignet, Gründgens herabzu setzen. Die Beklagte habe nicht dargelegt und unter Beweis gestellt, daß dieses negative Lebens- und Charakterbild auf Grundgens tatsäch lich zutreffe. Unstreitig habe G ründgens nicht - wie i n dem Roman dargestellt - im Hause Göring verkehrt und zu dessen 4 3 . Geburtstag eine Rede gehalten. Sein schneller Aufstieg sei - ebenso wie seine Ehrungen nach dem Kriege - seinen schauspielerischen Leistu ngen zuzuschrei ben. Auch die Beklagte behaupte nicht, daß Gründgens sich nach 1 933 für politische Propagand azwecke habe mißbrauchen lassen. Möge Klaus Mann auch seinerzeit geglaubt haben, G ründgens habe politisch Verfolgte nur aus Gründen der Rückver sicherung unterstützt, so spreche doch dagegen. daß Gründgens - wie auch die Beklagte anerkenne - unter eigener Gefährdung jüdischen und mit Jüdinnen verhei rateten Schauspielern sowie politisch Verdächtigen geholfen habe. Die: wahrheitswid rige Entstel lung des Charakter- und Lebensbildes von Gründ gens werde - so führt das Berufungsgericht weiter aus - weder durch das Recht zur freien kritischen Meinungsäußerung noch dadurch gedeckt, daß der beanstandete Roman in übereinstimmung mit dem Landgericht als Kunstwerk zu werten sei. So weit die Inti msphäre angetastet werde. entfalle überhaupt jede Interessenabwägung. Daher sei der auf die Verletzung des Persönlich keitsrechts gestützte Unterlassu ngs anspruch des Klägers gemäß §§ 1 004, 823 BGB i . V . m . A rt . I und 2 GG begründet .
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DER. ' M EPHISTO'· FALL
3 . Den Angriff der Revision. die sich gegen die rechtlichen Folgerungen richten, die das Berufungsgericht aus den genannten Feststellungen und Würdigungen gezo gen hat, muß im Ergebni s der Erfolg versagt bleiben. a) Das auf der Würde des Menschen beruhende Persönl ichkeitsrecht (Art. 1 , 2 GG) ist als sonstiges Recht im Sinne des § 823 Abs. I BGB geschützt (vgl. BGHZ 1 3 . 3 3 4 - Leserbriefe ; 2 4 , 200 - Spätheimkehrer; 2 6 , 3 4 9 - Herrenreiter; 3 0 , 7 - Caterina Valente ; 3 1 , 308 - Burschenschaft ; 35, 363 - Ginsengwurzel ; 39, 1 24 - Fernsehansa gerin ; GRUR 1 965, 256 - G retna Green). I ndem bei der inhaltlichen Präzisierung dieses generalklauselartigen "Auffangstatbestandes" auf verfassungsrechtliche Wert entscheidungen zurückgegriffen wird, ist freilich zu beachten, daß das Persönl ich keitsrecht nicht nur i n Art. 2 GG eine ausdrückliche Begrenzung durch die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz erfährt. Vielmehr sind darüber h i naus bereits bei der Prüfung, ob überhaupt tatbestandsmäßig eine rechts w idrige Persönl ichkeitsbeeinträchtigung vorliegt, auch die weiteren Wertentschei dungen des Verfassungsgebers heranzuziehen, die sich gerade bei der verfassungs konformen Auslegung von Generalklauseln auswirken (BVerfGE 7, 198, 204 - Lüth; 12, 1 1 3, 125 - Schmid) und die nicht erst unter dem Gesichtspunkt eines besonderen Rechtfertigungsgrundes zu berücksichtigen sind (BGHZ 45, 296, 307 - Höllen feuer). b) Als eine der grundlegenden Wertentscheidungen kommt insbesondere das Recht auf freie kritische Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 GG) namentlich gegen über solchen Personen in Betracht, die - wie Gründgens - durch ihr Wirken und ihre Stellung im öffentlichen Leben Gegenstand des allgemeinen Interesses geworden sind (BGHZ 36, 77 - Waffenhänd ler; BGH NJW 1 964, 1 4 7 1 - Sittenrichter). Dieses Recht deckte im Streitfall nicht nur eine allgemeine zeitkritische Auseinandersetzung mit den Verhältnissen des Theaterlebens seit 1 93 3 , sondern auch, daß Klaus Mann i n scharfer Polemik Karriere u n d Charakterbild v o n Gründgem a l s e i n e r weithin b e kannten Persönlichkeit der Zeitgeschichte kritisierte, deren Verhalten besonders a u s der Sicht e i n e s emigrierten und engagierten Gegners d e r Hitler-D iktatur, die Gefahr in sich barg, den Nationalsozialismus i n den Augen der Welt aufzuwerten. Klaus Mann hat sich aber nach den zutreffenden Ausführungen des Berufungsgerichts nicht auf eine derartige Kritik beschränkt, sondern in seine Darstellung frei erfun dene Vorgänge eingearbeitet. Unter diesen ist schlechterdings nicht zu rechtfertigen die E rfindung des Verhaltens gegenüber der schwarzen Tänzerin, zu der Höfgen langdauernde perverse Beziehungen u nterhält und die er, als sie seiner Karriere gefährlich zu werden d rohte, in niederträchtiger Weise von der Gestapo verhaften und abschieben läßt. Zu nennen ist hier ferner die Erfindung einer besonders engen Art von Beziehungen zu den damaligen Machthabern und die Entstellung der Hilfe leistungen für rassisch und politisch Gefährdete i n ein auf berechnender Rückversi cherung beruhendes Verhalten. D a s Recht, Verhalten u n d Lebensbild einer Persön lichkeit kritisch zu beurteilen, findet nach der ausdrücklichen Regelung in Art. 5 Abs. 2 GG seine Schranken in dem Recht der persönlichen Ehre und rechtfertigt es
ENTSC H E I DUNGEN D E S BUND ESGERICHTSHOFS
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jedenfa l l s nicht. das Lebensbild einer Persönlichkeit mittels frei erfundener. oder doch ohne jeden A nhaltspunkt behaupteter. die Gesinnung negativ kennzeichnender Verhaltensweisen zu entstellen. die nur noch das U rteil zulassen, daß es sich um einen niederträchtiger Handlungsweise fähigen Menschen gehandelt habe. Nament lich das erdichtete abschließende Verhalten gegenüber der Tänzerin läßt dem Leser keine andere Wahl. c) Entstellungen derart schwerwiegender A n werden auch nicht durch die eben falls verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit der Kunst (Art. 5 Abs. 3 GG) gedeckt, auf welche sich die Beklagte in erster Linie beruft. Da der beanstandete Roman in beiden Vorinstanzen rechtsirnumsfrei als Ergebnis künstlerischen Schaffens gewür digt worden ist, greift allerd i ngs diese Grundrechtsnorm im Streitfall Platz, die entgegen der Auffassung des Klägers nicht led iglich eine gegen den Staat gerichtete institutionelle Garantie enthä1t, sondern notwendigerweise auch die persönliche Freiheit des Künstlers umfaßt, sich künstlerisch zu betätigen und die Ergebnisse des Schaffens der Offentlichkeit bekanntzumachen (v. Mangoldt/Klein, GG, 2 . Aufl., Anm. X 2 b zu A rt . 5 ; Hamann, GG, 2 . Aufl., Anm. 1 3 zu Art. 5 ; Schmidt/Bleibtreul Klein, GG, Anm. 2 zu Art. 5; Arndt, Die Kunst im Recht, NJW 1 966, 26; BayObLG NJW 1 964, 1 1 49; OVG Münster NJW 1 959, 1 890 mit insoweit zustim mender Anm. von Hamann und von Stein i n JZ 1 959, 720 ; vgl . ferner zum vergleich baren Problem der Freiheit der Wissenschaft BVerfGE 3 , 58, 1 5 1 ; 5, 85, 1 4 5 ; 1 5, 256, 263). Diese Freiheitsverbürgung, die in ihrer historisch gewordenen Ausprägung in erster Linie ein Abwehrrecht des Bürgers gegen staatliche Eingriffe darstellt, verkör pert zugleich eine Grundentscheidung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesver fassungsgerichts (vgl. BVerfGE 6. 7 1 ; 7, 204 ; 9, 248), in der für einen bestimmten Bereich der Rechts- und Sozialordnung eine Wertentscheidung des Verfassungsge bers verbindlich ausgedrückt wird, die ihrerseits i n engem Zusammenhang mit dem Grundwert der Menschenwürde steht und die als G rundsat7.norm bei der Ausfül lung von Generalklauseln des bürgerlichen Rechtes Beachtung erheischt. Bei der Heranziehung d ieser Verfassungsnorm ist zugunsten der Beklagten zu berücksichtigen, daß der Verfassungsgeber die Freiheit der Kunst außerordentlich umfassend verbürgt hat. Anders als beim Schutz der Persönl ichkeit und beim Recht der Meinu ngsfreiheit hat er trotz der Meinungsverschiedenheit über die Auslegung der entsprechenden Bestimmung der Weimarer Verfassung keine ausdrückliche Ein schränkung angeordnet und dadurch zum Ausdruck gebracht, daß der allgemeine Gesetzesvorbehah des A rt . 5 Abs. 2 nicht anwendbar ist (vgl. etwa BVerwGE 1 . 303 - Sünderin ; OLG Hamburg NJW 1 963, 675). Daraus folgt, daß dann, wenn eine Meinungsäußerung in die Form eines Ku nstwerkes gekleidet ist, der Freiheitsspiel raum gegenüber d e r Persönl ichkeitssphäre eines Betroffenen weiter zu ziehen sein kann als bei solchen Meinungsäußerungen, die nicht den Rang eines Kunstwerkes erreichen (a. A . OVG Münster aaO ; wie hier Arndt aaO, Stein aaO ; Hamann, NJW 1 959, 1 890). Das bedeutet für Fälle der vorliegenden Art. daß der Künstler nicht nur - was für den künstlerischen Schaffensprozeß unverzichtbar ist - an reale Gescheh-
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nisse und persönliche Umweherfahrungen anknüpfen darf und daß ihm bei der Verarbeitung dieser A nregungen i m FaIJe ausreichender Verfremdung weiter Schaf fensspielraum bleibt. Vielmehr kann beim Konflikt zwischen Freiheit der Kunst und geschützter Persänlichkeitssphäre die G üterabwägung dazu führen, daß der Künst ler bei romanhafter Darstellung des Lebens einer Person der Zeitgeschichte. wenn jene erkennbar nicht den A nspruch erhebt. die historischen Begebenheiten w irklich keitstreu widerzuspiegeln, den Dargestellten auch durch erfundene Begebenheiten ergänzend charakterisieren und - entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts bei Verstorbenen in gewissen G renzen auch Vorgänge aus dem Intimbereich schil dern darf. Von h ier aus gesehen wäre es i m Streitfall für sich allein noch nicht zu beanstanden. daß Klaus Mann i n dem Roman Wahres und E rfundenes vennischt und dabei auch den Intimbereich berühn hat. Aber auch diese umfassende Gewährleistung künstlerischer Schaffensfreiheit kann nicht bedeuten. daß künstlerisches Schaffen schrankenlos ausgeübt werden darf. Denn die Freiheit der Kunst ist kein isolierter Höchstwen der verfassungsmäßigen Wenordnung. dem alle anderen Werte unterzuordnen wären. Wo sie im einzelnen unter Berücksichtigung der vom Verfassungsgeber angeordneten besonders umfas senden Verbürgung ihre Grenzen findet. bedarf keiner ausführlichen Erörterung. Es kann insbesondere dahi nstehen. ob es ohne weiteres zulässig wäre. d iese G renze u nter Anwendung des A n . 2 Abs. 1 GG als "Muttergrundrecht" - in den Rechten anderer. der verfassungsmäßigen Ordnung und dem Sittengesetz und auch i n den in d iesem Rahmen erlassenen Gesetzen zu suchen (vgl. dazu BGH GoltdArch 1 96 1 , 2 4 0 - Religionsdelikte; LM N r . 2 2 z u A n . 5 G G - Reichstagsbrand ; BayObLG aaO . OLG Hamburg aaO ; zurückhaltender BVerwG aaO sowie Arndt und Stein aaO). Denn jedenfalls erfähn das Recht zur freien künstlerischen Betätigung in gew issem U mfang eine immanente Begrenzung mit Rücksicht auf das gleichfalls verfassungs rechtlich garantierte Persönlichkeitsrecht . Diese Grenze ist überschritten. wenn das Lebensbild einer bestimmten Person. die derart deutlich erkennbar als Vorbild ge dient hat wie i m vorliegenden Falle. durch frei erfundene Zutaten grundlegend nega tiv entstellt wird. ohne daß dies als satirische oder sonstige übertreibung erkennbar ist. Nimmt der Künstler i m Falle der Charakterisierung einer Person bewußt derar tige Veränderungen des w i rklichen Geschehens vor. dann kann und muß von ihm erwartet werden. daß er i m I n teresse des verfassungsrechtlich garantierten Persön lichkeitsrechts die Anknüpfung an das Vorbild unerkennbar macht. Im Streitfall ist das nach den zutreffenden Ausführungen des Berufungsgerichts nicht geschehen. Der Einbruch i n die Persönlichkeitssphäre von Gründgens wäre allenfalls zu recht fenigen. wenn das sich aus dem Roman ergebende Charakter- und Lebensbild von Höfgen mit den grundlegenden Wesenszügen und dem Persönlichkeitsbild von G ründgens. so wie dieses aus seinem Leben zu entnehmen ist. übereinstimmen würde. Unter dieser Voraussetzung können bei einer erkennbar romanhaften Dar stellung tatsächliche Vorgänge. Gespräche und Erlebnisse h inzuerfunden werden. ohne daß die Grenzen der Freiheit der Kunst überschritten wären. Im vorliegenden
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Fall ist aber nicht geltend gemacht worden. daß G ründgens dem Typ des zynisch rücksichtslosen Opportunisten entsprach. der i m Interesse seiner Karriere unter Verrat seiner früheren politischen Gesinnung engsten Umgang mit den Machthabern pflegt. der seine Geliebte der Gestapo ausliefert und Gefährdeten lediglich aus Be rechnung h i lft. Nach alledem ist es aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, wenn das Beru fungsgericht die Verbreitung des angegriffenen Romans als Persönlichkeitsrechtsver letzung beurteilt hat. 2 Auszüge aus den Entscheidungen des Bu ndesverfassungsgerichts, Bd 30, Nr. 1 6 . S. 1 73- 1 79 ( z u m Sachverhalt) u n d S. 1 88-22 7 ( B eschluß) Nr. 1 6 1 . A rt . S Abs. 3 Satz 1 G G ist eine das Verhältnis des Bereiches Kunst zum Staat regelnde wertentscheidende G rundsatznorm. Sie gewährt zugleich ein individuel les Freiheitsrecht. 2 . Die Kunstfreiheitsgarantie betrifft nicht nur die künstlerische Betätigung. sondern auch die Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks. 3. Auf das Recht der Kunstfreiheit kann sich auch ein Buchverleger berufen. 4 . Für die Kunstfreiheit gelten weder die Schranken des A rt . S Abs. 2 G G noch die des Art. 2 Abs. 1 H albsatz 2 G G . S . E i n Konflikt zwischen d e r Kunstfreiheitsgarantie und dem verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsbereich ist nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wert o rdnung zu lösen ; h ierbei ist insbesondere die i n Art. 1 Abs. 1 G G garantierte Würde des Menschen zu beachten. Beschluß des Ersten Senats vom 24. Februar 1 97 1 - 1 B v R 43S/68 in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerdt" dt"r Nymphenbu rger Verlags handlung, Gesellschaft mit beschränkter Haftung. vertreten d u rch i h ren Geschäfts füh rer - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Dr. Gerth A rras, Stuttgart. Eugenstr. 1 6 gegen 1 . das U rteil des Bundesgerichtshofs vom 2 0 . März 1 968 - I ZR 44/66 - ; 2 . d a s U rt e i l d e s H anseatischen Oberlandesgerichts i n Hamburg vom 1 0 . März 1 966 - 3 U 372/ 1 96S -. Entscheidungsformel : Die Vt"rfassungsbeschwerde wird zurückgew iesen. Gründe: A.-l. D i e Verfassungs beschwerde richtet s i c h gegen d a s v o n d e m Adoptivsohn und A l l einerben des verstorbenen Schauspielers und I ntendanten Gustaf G ründgens ge-
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gen die Beschwerdeführerin erwirkte Verhot. das Buch HMephisto Roman einer Karriere" von Klaus Mann zu vervielfältigen, zu vertreiben und zu veröffentlichen. Der Autor. der im Jahre 1 933 aus Deutschland ausgewandert ist, hat den Roman 1 936 im Querido-Verlag, A msterdam, veröffentlicht. Nach seinem Tode im Jahre 1 949 ist der Roman 1 956 im A ufbauverlag i n Ost-Berlin erschienen. Der Roman schildert den Aufstieg des hochbegabten Schauspielers Hendrik Höf gen, der seine politische überzeugung verleugnet und alle menschlichen und ethi schen Bindu ngen abstreift, u m im Pakt mit den Machthabern des nationalsozialisti schen Deutschlands eine künstlerische Karriere zu machen. Der Roman stellt die psychischen, geistigen und soziologischen Voraussetzungen dar, die diesen Aufstieg möglich machten. Der Romanfigur des Hendrik Höfgen hat der Schauspieler G ustaf Gründgens als Vorbild gedient. G ründgens war i n den zwanziger Jahren, als er noch an den Ham burger Kammerspielen tätig war, mit Klaus Mann befreundet und mit dessen Schwe ster Erika Mann verheiratet, von der er nach kurzer Zeit w ieder geschieden wurde. Zahlreiche E inzelheiten der Romanfigur des Hendrik H öfgen - seine äußere Er scheinung, die Theaterstücke, an denen er mitwirkte, und ihre zeitliche Reihenfolge, der Aufstieg zum Preußischen Staatsrat und zum Generalintendanten der Preußi schen Staatstheater - entsprechen dem äußeren Erscheinungsbild und dem Lebens lauf von G ründgens. Auch an Personen aus der damaligen U m gebung von Gründ gens lehnt sich der Roman an. Klaus Mann schrieb über die Romanfigur des Hendrik H öfgen und ihr Verhältnis zu Gustaf Gründgens i n seinem 1 942 i n New York erschienenen Buch "The Turning Point" u . • . (5. 281 f.), " I visualize my ex-brother- i n - I aw as the traitor par excellence, the macabre embodiment of corruption and cynicism. So intense was the fascination of h i s shamefu l g l o ry t h a t 1 decidcd tO ponray Mephisto-Gründgcns i n a satirical novcl. I thought it pertinent, indced, ncccssary to cxposc and analyzc thc abject type of thc treacherous i ntellectual who prostitutes h i s talent for the sake of some tawdry famc and transitory wealth. Gustaf was just one among others - i n reality as weil as in the composition of my narrative. H e served me 3S a focus around which I could make gyrate the pathetic and nauseous crowd of petty c1imbers and crook s . " In d e r neubearbeiteten. 1 94 8 erschienenen deutschen Ausgabe "Der Wende punkt" heißt es hierzu (5. 334 f . ) : "Warum schrieb i c h meinen Roman 'Mephisto ' ? D a s dritte Buch, d a s i c h im E x i l 1 936 - veröffentlichte, handelt von einer unsympathischen Figur. Der Schauspieler, den ich hier präsentiere, hat zwar Talent, sonst aber nicht viel, was für ihn spräche. Besonders fehlt es ihm an den sittlichen E igenschaften, die man meist unter dem Begriff 'Charakter' zusammenfaßt. Statt des 'C harakters' gibt es bei diesem Hendrik Höfgen nur Ehrgeiz, Eitelkeit, Ruhmsucht, W irkungstrieb. Er ist kein Mensch, nur ein Komöd iant.
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War es der Mühe wert, über eine solche Figur einen Roman zu schreiben? J a ; denn der Komädiant wird zum Exponenten, zum Symbol eines durchaus komödianti schen, zutiefst unwahren, unwirklichen Regimes. Der Mime triumphien i m Staat der Lügner und Versteller. ' M ephisto' ist der Roman einer K arriere i m Dritten Reich. ' Vielleicht wollte er (der Autor) dem Schauerstück blutiger D i lettanten das Porträt des echten Komödianten gegenüberstellen', wie Herman Kesten i n einer gescheiten Rezension meines Buches ('Das Neue Tagebuch', 1 937) mit Recht vermutete. Er fähn fort : ' I h m gelingt mehr, er zeichnet den Typus des M itläufers, einen aus der M i l lion von kleinsten M itschuldigen, die nicht die großen Verbrechen begehen, aber vom Brot der Mörder essen, nicht Schuldige sind, aber schuldig werd e n ; nicht töten, aber zum Totschlag schweigen, über ihre Verdienste h i naus verdienen wollen und die Füße der Mächtigen lecken, auch wenn d iese Füße i m Blute der Unschuldigen waten. D iese Million von kleinen M i tschuldigen haben ' Blut geleckt'. Darin bilden diese die Stütze der Machthaber! ' Genau dieser Typus w a r e s , d e n i c h zeichnen wollte. I c h hätte meine Intention selber nicht besser zu formulieren vermocht. ' Mephisto' ist kein 'Schlüsselroman', wie man ihn wohl genannt hat. Der ruchlos brillante, zynisch rücksichtslose Karrie remacher, der im M ittelpunkt meiner Satire steht, mag gewisse Züge von einem gewissen Schauspieler haben, den es w i rklich gegeben hat und, wie man mir versi chert, wirklich immer noch gibt. Ist der Staatsrat und Intendant Hendrik Höfgen, dessen Roman ich schrieb, ein Porträt des Staatsrates und I ntendanten Gustaf Gründgens, mit dem ich als j u nger Mensch bekannt war? Doch nicht ganz. Höfgen unterscheidet sich in mancher H insicht von meinem früheren Schwager. Aber ange nommen sogar, daß die Romanfigur dem Original ähnlicher wäre, als sie es tatsäch lich ist, G rundgens könnte darum immer noch nicht als der ' H eld' des Buches bezeich net werden. E s geht i n diesem zeitkritischen Versuch überhaupt nicht um den Einzelfall, sondern um den Typ. A ls Exempel hätte mir genauso gut ein anderer dienen können. Meine Wahl fiel auf G ründgens - nicht, weil ich ihn für besonders sch l i m m gehalten hätte (er war vielleicht sogar eher besser als manch anderer Wür denträger des Dritten Reiches), sondern einfach. weil ich ihn zufällig besonders genau kannte. Gerade i n A nbetracht u nserer früheren Vertrautheit erschien mir seine Wandlung, sein Abfall so phantastisch, kurios, unglaubhaft, fabelhaft genug, um einen Roman darüber zu schreiben . . . " 11. I . I m August 1 963 kündigte d i e Beschwerdeführerin d i e Veröffentl ichung des " Mephisto"- Romans an. H iergegen erhob nach dem Tode des am 7 . 0 ktober 1 963 verstorbenen G ustaf G ründgens sein Adoptivsohn und A l l einerbe Klage. Er machte geltend : Jeder auch nur oberflächlich m i t dem deutschen Theaterleben der zwanziger und dreißiger Jahre vertraute Leser müsse H öfgen mit dem Schauspieler G ründgens in Verbindung bringen. Da in dem Roman zusammen mit erkennbar wahren Tatsachen
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zahlreiche erfundene herabsetzende Schilderungen verknüpft seien, entstehe ein ver fälschtes, grob ehrverletzendes Persönlichkeits bild von G ründgens. Der Roman sei kein Kunstwerk, sondern ein Schlüsselroman. i n dem sich Klaus Mann an Gründ gens räche, weil er die Ehre seiner Schwester E rika durch die Heirat mit G ründgens verletzt geglaubt habe. Der Kläger beantragte, der Beklagten unter Strafandrohung zu untersagen. den Roman "Mephisto" zu vervielfältigen, zu vertreiben und zu veröffentlichen. Entsprechend dem Antrag der Beklagten wies das Landgericht in Hamburg' die Klage ab. Daraufhin veröffentlichte die Beschwerdeführerin den Roman im Septem ber 1 965 mit dem Vermerk " Alle Personen dieses Buches stellen Typen dar, nicht Porträts. K. M." Aufgrund einer von dem Kläger bei dem Hanseatischen Oberlan desgericht in Hamburg am 2 3 . November 1965 erwirkten einstweiligen Verfügung wurde dem Buch ferner folgender Vorspruch beigegebe n :
.. AN DEN LESER Der Verfasser Klaus Mann ist 1933 freiwillig aus Gesinnung emigriert und hat 1 936 d iesen Roman in Amsterdam geschrieben. Aus seiner damaligen Sicht und seinem Haß gegen die H itlerdiktatur hat er ein zeitkritisches Bild der Theaterge schichte in Romanform geschaffen. Wenn auch Anlehnungen an Personen der dama ligen Zeit nicht zu verkennen sind, so hat er den Romanfiguren doch erst d u rch seine dichterische Phantasie Gestalt gegeben. Dies gilt insbesondere für die Hauptfigur. Handlungen und Gesinnungen, die dieser Person im Roman zugeschrieben werden, entsprechen jedenfalls weitgehend der Phantasie des Verfassers. Er hat dazu seinem Werk die Erklärung beigefügt : 'Alle Personen d ieses Buches stellen Typen dar, nicht Porträts . ' D e r Verleger" 2 . Auf die Berufung des Klägers gab das Oberlandesgericht der Klage sowohl aus dem eigenen Recht des Klägers als auch aus dem fortbestehenden Persönlichkeits recht des verstorbenen Gustaf G ründgens statt. 3 . Die Revision der Beschwerdeführerin blieb erfolglos. C.-I1I. A r t . 5 A b s . 3 Satz 1 GG erklärt die Kunst neben d e r Wissenschaft, Forschung und Lehre für frei. Mit dieser Freiheitsverbürgung enthält A rt . 5 Abs. 3 Satz 1 GG nach Wortlaut und Sinn zunächst eine objektive, das Verhältnis des Bereiches Kunst zum Staat regelnde wertentscheidende Grundsatznorm. Zugleich gewährleistet die Be stimmung jedem, der in diesem Bereich tätig ist, ein individuelles Freiheitsrecht. 1. Der Lebensbereich " Kunst" ist durch die vom Wesen der Kunst geprägten, ihr allein eigenen Strukturmerkmale zu bestimmen. Von ihnen hat die Auslegung des Kunstbegriffs der Verfassung auszugehen. Das Wesent liche der künstlerischen B etäI
Das Uncil dcs lG Hamburg vom 25. Augusl 1 96 5 iSI veröffendichl in UFITA, Band SI ( 1 969). S. 3S2.
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tigung ist die freie schöpferische Gestaltung. in der Eindrücke . Erfah rungen. Erleb nisse des Kü nstlers durch das Medium einer bestimmten Forrnensprache zu unmit telbarer Anschauung gebracht werde:n. A ll e künstlerische Tätigkeit ist ein Ineinander von bewußten und unbewußten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen w irken Intuition, Phantasie und Ku nstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck und zwar unmittel barster Aus druck der individuellen Persönl ichkeit des Künstlers. Die Kunstfreiheitsgarantie betrifft in gleicher Weise den "Werkbereich" und den "Wirkbereich" des künstlerischen Schaffens. Beide Bereiche bilden eine unlösbare Einheit. Nicht nur die künstlerische Betätigung (Werkbereich). sondern darüber h i naus auch die Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks sind sachnotwendig für die Begegnung mit dem Werk als eines ebenfalls kunstspezifischen Vorganges ; dieser "Wi rkbereich" , in d e m d e r Offentl ichkeit Zugang z u dem Kunstwerk ver schafft wird. ist der Boden, auf dem die Freiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG vor allem erwachsen ist. Allein schon der Rückblick auf das nationalsozialistische Re gime und seine Kunstpolitik zeigt. daß die Gewährleistung der individuellen Rechte des K ünstlers nicht ausreicht. die Freiheit der Kunst zu sichern. Ohne eine Erstrek kung des personalen Geltungsbereichs der Kunstfreiheitsgarantie auf den Wirkbe reich des Ku nstwerks würde das Grund recht weitgehend leerlaufen. 2 . Wie weit die Verfassungsgarantie der Kunstfreiheit reicht und was sie i m einzel nen bedeutet. läßt sich ohne tieferes Eingehen auf die sehr verschiedenen Äußerungs formen künstlerischer Betätigung in einer für alle Kunstgattungen gleichermaßen gültigen Weise nicht erschöpfend darstellen. Für die Zwecke d ieser Entscheidung bedarf es jedoch einer so weit ausgreifenden Erörterung nicht, da die I nstanzgerichte - in übereinstimmung mit den Prozeßbetei ligten und soweit ersichtlich mit dem Urteil aller kompetenten Sachverständ igen - dem hier zu beurteilenden Roman d i e Eigenschaft e i n e s Kunstwerks mit Recht 7.uerkannt haben. Es genügt deshalb. a u f d i e spezifischen Gesichtspunkte ein7.ugehen, die b e i d e r Beurteilung e i n e s Werkes der c.' rzählenden (epischen) Kunst in Betracht kommen können. das an Vorgänge der historischen Wirklichkeit anknupft und bei dem deshalb die Gefahr eines Konfl iktes mit schutzwürd igen Rechten und I nteressen der in dem Werk dargestellten Personen gegeben ist. Auch wenn der Künstler Vorgänge des realen Lebens schildert, wird d iese Wirk l ichkeit im Kunstwerk " verdichtet " . Die Realität wird aus den Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten der empirisch - geschichtlichen Wirklichkeit gelöst und in neue Beziehungen gebracht. für die nicht d i e "Real itätsthematik " . sondern das künstlerische Gebot der anschaulichen Gestaltung im Vordergrund steht. Die Wahr heit des einzelnen Vorganges kann und muß unter Umständen der künstlerischen Einheit geopfert werden. Sinn und Aufgabe des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 3 Satz I GG ist es vor allem. die auf der Eigengeset7. lichkeit der Kunst beruhenden, von ästhetischen Rücksichten bc.' stimmten Pro7.esse, Verhaltensweisen und Entscheidu ngen von jeglicher Ingerenz
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öffentlicher Gewalt freizuhalten. Die A rt und Weise, in der der Künstler der Wirk lichkeit begegnet und die Vorgänge gestaltet. die er in dieser Begegnung erfährt . darf ihm nicht vorgeschrieben werden. wenn der künstlerische Schaffensprozeß sich frei soll entwickeln können. Ober die "Richtigkeit" seiner Haltung gegenüber der Wirk lichkeit kann nur der Künstler selbst entscheiden. I nsoweit bedeutet die Kunstfrei heitsgarantie das Verhot, auf Methoden. Inhalte und Tendenzen der künstlerischen Tätigkeit einzuwirken, insbesondere den künstlerischen Gestaltungsraum einzuen gen, oder allgemein verbindliche Regeln für diesen Schaffensprozeß vorzuschreiben. Für das erzählende Kunstwerk ergibt sich daraus im besonderen, daß die Verfas sungsgarantie die freie Themenwahl und die freie Themengestaltung umfaßt, indem sie dem Staat verbietet, diesen Bereich spezifischen künstlerischen Ermessens durch verbindliche Regeln oder Wertungen zu beschränken. Das gilt auch und gerade dort, wo der Künstler sich mit aktuellem Geschehen auseinandersetzt ; der Bereich der " engagierten" Kunst ist von der Freiheitsgarantie nicht ausgenommen. 3 . Art. 5 Abs. 3 Satz I GG garantiert die Freiheit der Betätigung im Kunstbereich umfassend . Soweit es daher zur Herstellung der Beziehungen zwischen Künstler und Publikum der publizistischen Medien bedarf, sind auch die Personen durch die Kunstfreiheitsgarantie geschützt, die hier eine solche vermittelnde Tätigkeit ausüben. Da ein Werk der erzählenden Kunst ohne die Vervielfältigung, Verbreitung und Veröffentlichung durch den Verleger keine Wirkung in der Offentlichkeit entfalten könnte, der Verleger daher eine unentbehrliche MittIerfunktion zwischen Künstler und Publikum ausübt, erstreckt sich die Freiheitsgarantie auch auf seine Tätigkeit. Die Beschwerdeführerin als Verleger des Romans kann sich deshalb auf das Grund recht aus Art. 5 Abs. 3 Satz I GG berufen (vgl. auch BVerfGE 1 0 , 1 1 8 [ 1 2 1 ] ; 12, 205 [260] zur Pressefreiheit). 4 . Die Kunst ist in ihrer Eigenständ igkeit und Eigengesetzlichkeit durch Art. 5 Abs. 3 Satz I GG vorbehaltlos gewährleistet. Versuche. die Kunstfreiheitsgarantie durch wertende Einengung des Ku nstbegriffes, durch erweiternde Auslegung oder A nalogie aufgrund der Schrankenregelung anderer Verfassungsbestimmungen einzu schränken, müssen angesichts der klaren Vorschrift des Art. S Abs. 3 Satz I GG erfolglos bleiben. Unanwendbar ist insbesondere. wie auch der Bundesgerichtshof mit Recht an nimmt. An. 5 Abs. 2 G G , der die Grundrechte aus An. S Abs. I GG beschränkt. Die systematische Trennung der Gewährleistungsbereiche in Art. 5 GG weist den Abs. 3 dieser Bestimmung gegenüber Abs. I als lex specialis aus und verbietet es deshalb, die Schranken des Abs. 2 auch auf die in Abs. 3 genannten Bereiche anzuwenden. Ebensowenig wäre es angängig, aus dem Zusammenhang eines Werkes der erzählen den Kunst einzelne Teile herauszulösen und sie als Meinungsäußerungen im Sinne des Art. S Abs. I GG anzusehen, auf die dann die Schranken des Abs. 2 A nwendung fänden. Auch die Entstehungsgeschichte des An. S Abs. 3 GG bietet keinen Anhalt für die Annahme, daß der Verfassungsgeber die Kunstfreiheit als Unterfall der Mei nungsäußerungsfreiheit habe betrachten wollen.
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D i e Äußerung des Abgeordneten v. Mangoldt i n der Sitzung des G rund satzaus schusses des Parlamentarischen Rats vom 5 . 0ktober 1 948, daß die Gewährleistung der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit in unmittelbarer Verbindung mit der Freiheit der Meinu ngsäußerung stehe (jbOffR, N. F . , Bd. I, S. 89 ff.), sollte die Stellung des damals noch selbständigen Artikels unmittelbar hinter den Garantien der Meinungs freiheit erklären . Sie ging also gerade von der Selbständigkeit der Regelungsbereiche aus. Von Bedeutung ist auch die Stellungnahme des Allgemeinen Redaktionsaus schusses vom 16. Dezember 1 948 (PR Drucks. 370), in der das Zensurverbot aus drücklich für das Theater mit der Begründung geforden wurde, daß durch den im Entw u rf enthaltenen An. 7 (dem jetzigen An. 5 Abs. 3 GG) die Freiheit des Theaters noch nicht garantien werde, da nicht jede Theateraufführung Kunst zu sein brauche. Zu berücksichtigen ist ferner, daß für den Verfassungsgeber auf G rund der Erfah rungen aus der Zeit des NS-Regimes, das Kunst und Künstler in die völlige Abhän gigkeit politisch-ideologischer Zielsetzu ngen versetzt oder zum Verstummen ge bracht haue, begründeter Anlaß bestand, die Eigenständigkeit und Eigengesetzlich keit des Sachbereichs Kunst besonders zu garantieren. Abzulehnen ist auch die Meinung, daß die Freiheit der Kunst gemäß An. 2 Abs. 1 Halbsatz 2 GG durch die Rechte anderer, durch die verfassungsmäßige Ordnung und d u rch das Siuengesetz beschränkt sei. Diese Ansicht ist unvereinbar mit dem vom Bu ndesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung anerkannten Verhältnis der Subsidiarität des Art. 2 Abs. I GG zur Spezialität der Einzelfreiheitsrechte (vgl. u . a. BVerfG E 6, 32 [36 11. ] : 9, 63 [ 73 ] : 9, 73 [77]: 9, 338 [34J]: 1 0, 55 [ 5 8 ] : 1 0 , 1 8 5 [ 1 99 ] : 1 1 , 234 [238]: 2 1 , 2 2 7 [234]: 23, 50 [55 1.]), das e;ne Erstreckung d e s Geme;n schaftsvorbehalts des An. 2 Abs. 1 Halbsatz 2 auf die durch besondere Grundrechte geschützten Lebensbereiche nicht zuläßt. Aus den gleichen Erwägungen verbietet sich, Art. 2 Abs. 1 GG als Auslegungsregel zur Interpretation des Sinngehalts von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG heranzuziehen. Diese Schrankenregelung ist auch nicht auf den " Wirkbereich" der Kunst anzuwenden. 5 . A ndererseits ist das Freiheitsrecht nicht schrankenlos gewährt. Die Freiheitsver bürgu ng in Art. 5 Abs. J Satz 1 GG geht wie alle Grund rechte vom Menschenbild des G rundgesetzes aus, d . h. vom Menschen als eigenverantwortl icher Persönlich keit, die sich innerhalb der s07.ialen Gemei nschaft frei entfaltet (BVerfG E 4 , 7 [ 1 5 f. ] ; 7, 1 98 [205 ] : 24, 1 1 9 [ 1 44 ] : 27, 1 [ 7 ] ) . Jedoch kommt d e r Vorbehaldos;gke;t des Grundrechts die Bedeutung 7.u, daß die G renzen der Kunstfreiheitsgarantie nur von der Verfassung selbst zu bestimmen sind. Da die Kunstfreiheit keinen Vorbehalt für den einfachen Gesetzgeber enthält, darf sie weder durch die allgemeine Rechtsord nun� noch durch eine unbestimmte Klausel relativien werden, welche ohne verfas sungsrechtlichen Ansatzpunkt und ohne ausreichende rechtsstaatliche Sicherung auf eine Gefährdung der für den Bestand der staatlichen Gemeinschaft notwend igen G üter abhebt. Vielmehr ist ein im Rahmen der Ku nstfreiheitsgarantie zu berücksich tigender Konflikt nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wenordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wensystems durch Verfassungs-
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aus legung zu lösen. Als Teil des grundrechtlichen Wensystems ist die Kunstfreiheit insbesondere der in Art. 1 GG garantierten Würde des Menschen 1.ugeordnet, die als oberster Wert das ganze grund rechtliche Wertsystem beherrscht (BVerfG E 6, 32 [4 1 ] ; 27, 1 [6 ] ) . Dennoch kann die Kunstfreiheitsgarantie mit dem ebenfall s verfas sungsrechtlich geschützten Persön lichkeitshereich in Konflikt geraten. weil ein Ku nstwerk auch auf der sozialen Ebene Wirkungen entfalten kann. Daß im Zugriff des Künstlers auf Persönl ichkeits- und Lebensdaten von Men schen seiner Umwelt der soziale Wert- und Achtun gsanspruch des Dargestellten betroffen sein kann, ist darin begründet. daß ein solches Kunstwerk nicht nur als ästhetische Realität wirkt. sondern daneben ein Dasein in den Realien hat. die zwar in der Darstellung künstlerisch überhöht werden. damit aber ihre sozialbezogenen Wirkungen nicht verlieren. Diese Wirkungen auf der sozialen Ebene entfalten sich " neben" dem eigenständigen Bereich der Kunst; gleichwohl müssen sie auch im Blick auf den Gewährleistungsbereich des Art. S Abs. 3 Satz 1 GG gewürdigt wer den. da die " reale" und die "ästhetische" Welt im Ku nstwerk eine Einheit bilden. 6 . Die Gerichte haben in diesem Zusammenhang mit Recht zur Beurteilung der Schutzwi rkungen aus dem Persönlichkeitsbereich des verstorbenen Schauspielers Gründgens Art. 1 Abs. 1 GG wertend herangezogen. Es würde mit dem verfassungs verbürgten Gebot der Unverletl.1ichkeit der Menschenwürde. das allen G rundrech ten zugrunde liegt. unvereinbar sein. wenn der Mensch. dem Würde kraft seines Personseins zukommt. in diesem allgemeinen Achtungsanspruch auch nach seinem Tode herabgewürdigt oder erniedrigt werden dürfte. Dementsprechend endet die in An. 1 Abs. I GG aller staatl ichen Gewalt auferlegte Verpflichtung. dem ei nzelnen Schutz gegen Angriffe auf seine Menschenwürde zu gewäh ren. nicht mit dem Todl'. Der Bundesgerichtshof und das Oberlandesgericht erkennen darüber hinaus auch nach An. 2 Abs. I GG Ausstrahlu ngswirku ngen für den zivilrechtlichen Schutl.be reich um die Person des verstorbenen Schauspielers Gründgens an. wenn auch in einem durch sein Ableben bedingten eingeschränkten U mfang. Die Fortwirkung eines Persönlichkeitsrechts nach dem Tode ist jedoch zu verneinen. weil Träger dieses Grundrechts nur die lebende Person ist; mit ihrem Tode erlischt der Schutz aus diesem G rundrecht. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. I GG setzt die Existenz einer wenigstens potentiell oder zukünftig handlungsfähigen Person als unabdingbar voraus. Daran vermag die Erwägung des Bundesgerichtshofs nichts zu ändern, daß die Rechtslage nach dem Tode für die freie Entfaltung der Person zu ihren Lebzeiten nicht ohne Belang sei. Die Versagung eines Persönl ichkeitsschutl.es nach dem Todl' stellt keinen Eingriff dar. der die in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Handlungs- und Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt. 7. Die Lösung der Spannungs lage zwischen Persönlichkeitsschutl. und dem Recht auf Kunstfreiheit kann deshalb nicht allein auf die Wirkungen eines Kunstwerks im außerkünstlerischen Sozialbereich abheben. sondern muß auch kunstspezifischen Gesichtspunkten Rechnung tragen. Das Menschenbild. das Art. 1 Abs. I GG 1.U grunde liegt. wird durch d i e Freiheitsgarantie in A n . 5 Abs. 3 Satz I G G ebenso
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mitgeprägt wie diese umgekehrt von der Wertvorstellung des Art. 1 Abs. I G G beeinflußt ist. Der soziale Wert- und Achtungsanspruch des einzelnen ist ebensowe nig der Kunstfreiheit übergeordnet wie sich die Kunst ohne weiteres über den allge meinen Achtu ngsanspruch des Menschen h inwegsetzen darf. Die E ntscheidung darüber, ob durch die Anlehnung der künstlerischen Darstel lung an Persönlichkeitsdaten der realen Wirklichkeit ein der Veröffentlichung des Kunstwerks entgegenstehender schwerer Eingriff i n den schutzwürdigen Persönlich keitsbereich des Dargestellten zu befürchten ist, kann nu r unter Abwägung aller Umstände des Ei nzelfalles getroffen werden. Dabei ist zu beachten, ob und inwie weit das " Abbild" gegenüber dem "Urbild" durch die künstlerische Gestaltung des Stoffs und seine Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus des Kunstwerks 50 verselbständigt erscheint, daß das Individuelle, Persönlich-I ntime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der "Figur" objektiviert ist. Wenn eine solche, das Kunstspezifische berücksichtigende Betrachtung jedoch ergibt, daß der Künstler ein " Porträt" des " U rbildes" gezeichnet hat oder gar zeichnen wollte, kommt es auf das Ausmaß der künstlerischen Verfremdung oder den Umfang und die Bedeutung der "Verfälschung" für den Ruf des Betroffenen oder für sein Andenken an. IV. Das Bu ndesverfassungsgericht hat danach zu entscheiden, ob die Gerichte bei der von ihnen vorgenommenen Abwägung zwischen dem durch Art. 1 Abs. 1 GG gesch ützten Persön lichkeitsbereich des verstorbenen Gustaf Gründgens und seines Adoptivsohnes und der durch Art. S Abs. 3 Satz I GG gewährleisteten Kunstfreiheit den dargelegten Grundsätzen Rechnung getragen haben. Bei der Entscheid ung dieser Frage ergab sich im Senat Stimmengleichheit. Infolgedessen konnte gemäß § 1 S Abs. 2 Sat7. 4 BVerfGG nicht festgestellt werden, daß die angefochtenen U rteile gegen das G rundgesetz verstoßen. 1. Die Heranziehung des Art. 2 Ab5. I GG durch die Gerichte ist, wie oben dargelegt, zu Unrecht erfolgt. Dies ist j edoch unschäd lich, weil die in erster linie gegebene Begründ ung aus Art. I Abs. I GG die Entscheidung trägt. 2. Das Oberlandesgericht als letzte Tatsacheni nstanz hat festgestellt, bei G ründ gens handle es sich um eine Person der Zeitgeschichte und die Erinnerung des Publikums an ihn sei noch lebendig. Aufgrund dieser Feststellungen sind das Ober l andesgericht und der Bundesgerichtshof davon ausgegangen. daß der Schutz des Achtu ngsanspruchs des verstorbenen Gründgens im sozialen Raum noch fortdauere. H ierbei hat der Bundesgerichtshof zutreffend berücksichtigt, daß das Schutzbedürf nis - und entsprechend die Schutzverpflichtung - in dem Maße schwindet. in dem die Erinnerung an den Verstorbenen verblaßt und im laufe der Zeit auch das Inter esse an der Nichtverfälschung des lebensbildes abnimmt. Diese Anwendung des A rt. l Abs. 1 GG ist nicht zu beanstanden. Andererseits gehen die Gerichte davon aus, daß es sich bei dem Roman des verstorbenen Klaus Mann um ein Kunstwerk im Sinne des Art. S Abs. 3 GG hand eh und daß sich auch die Beschwerdeführerin auf
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d ieses G rundrecht berufen kann . H iernach h aben die Gerichte die verfassungs recht lieh erhebliche Spannungsl age zwischen den durch die A n . I Abs. I und An. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten Bereichen erkannt. Sie haben deren Lösung in einer Abwägung der w iderstreitenden Interessen gesucht. 3 . Das Bundesverfassungsgericht geht i n ständiger Rechtsprechung davon aus, daß gerichtliche Entscheidungen auf eine Verfassungsbeschwerde hin nur in engen G ren zen nachgeprüft werden können (BVerfGE 22,93 [97]), daß ins besondere die Fest stellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwend ung auf den einzelnen Fall allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen sind (BVerfG E 1 8, 8 5 [92]). Diese G rundsätze gelten auch bei der Nachprüfung der hier in Rede stehenden Abwägung zwischen den nach An. 1 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten Bereichen zweier Paneien eines Zivilrechtsverhältnisses. Diese Abw ägung ist zunächst den zuständigen Gerichten im Rahmen der A n wen dung und Auslegung bürgerlich-rechtlicher Vorschriften aufgetragen. Die Aufgabe des Zivilrichters besteht in deranigen Fällen darin, aufgrund einer wenenden Abwä gung der Umstände des Einzelfalles - unter Beachtung des allgemeinen WiIlkürver bots (Art. 3 Abs. 1 GG) - die Schranken des G rundrechtsbereichs der einen Partei gegenüber demjenigen der anderen Partei zu konkretisieren. Das Grundrecht der jeweils unterlegenen Partei ist nicht schon dann verletzt, wenn bei dieser dem Rich ter aufgetragenen Abwägung widerstreitender Belange die von ihm vorgenommene Wenung fragwürdig sein mag, weil sie den Interessen der einen oder der anderen Seite zu viel oder zu wenig Gewicht beigelegt hat (vgl. BVerfGE 1 8 , 85 [93 ] ; 2 2 , 93 [99 f.]). Das Bundesverfassungsgericht ist nicht befugt, seine eigene Wenung des Einzelfalles nach Art eines Rechtsmittelgerichts an die Stelle derjenigen des zuständi gen Richters zu setzen. Es kann vielmehr in deranigen Fällen eine Verletzung des Grundrechts der unterlegenen Partei nur fesutellen, wenn der zuständige R ichter entweder nicht erkannt hat, daß es sich um eine Abwägung widerstreitender Grund rechtsbereiche handelt, oder wenn seine Entscheidung auf einer grundsät7.1ich un richtigen Anschauung von der Bedeutung des einen oder anderen der Grundrechte, insbesondere vom Umfang ihrer Schutzbereiche, beruht. Die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidungen nach diesen Maßstäben er gibt : Das Oberlandesgericht und der Bundesgerichtshof haben erkannt, daß eine Spannungslage zwischen den durch Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten Bereichen besteht und daß diese durch eine Abwägung gelöst werden muß (vgl. oben C In 7). Würdigt man die angefochtenen Entscheidungen in ihrem Gesamtzusammenhang, so ist nicht festzusteUen, daß sie auf einer grundsätz l ich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und vom Umfang der Schutzbereiche der beiden G rundrechte beruhen. Insbesondere lassen die Entscheidungen keine fehlerhafte Auffassung vom Wesen des bei der Abwägung unterlegenen G rund rechts, auf das sich die Beschwerdeführerin beruft, erkennen. Die Gerichte haben nicht allein auf die Wirkungen des Romans im außerkünstlerischen Sozialbereich
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abgehoben, sondern auch kunstspezifischen Gesichtspunkten Rechnung getragen. Sie haben eingehend und sorgfältig dargelegt, daß die Romanfigur des Hendrik Höfgen i n so zahlreichen Einzelheiten dem äußeren Erscheinungsbild und dem Le benslauf von Gründgens derart deutlich entspreche, daß ein nicht unbedeutender Leserkreis u nschwer in Höfgen Gründgens wiedererkenne. Ob dies richtig ist, hat das Bundesverfassungsgericht nicht zu entscheiden ; jedenfalls liegt darin die maß gebliche Wertung der Tatsachen durch die Gerichte, daß das "Abbild" Höfgen gegenüber dem " U rbild" Gründgens durch die künstlerische Gestaltung des Stoffes und seine Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus des Romans nicht so verselbständigt und in der Darstellung künstlerisch transzendiert sei, daß das Indivi duelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der " Figur" genügend objektiviert erscheine. Die Gerichte haben auch eingehend erörtert, daß der Autor ein grundlegend negatives Persönlichkeits- und Charakterbild des Höfgen und damit des verstorbenen G ründgens gezeichnet habe, das in zahlreichen Einzel heiten unwahr. durch erfundene, die Gesinnung negativ kennzeichnende Verhaltens weisen - namentlich das erdichtete Verhalten gegenüber der schwarzen Tänzerin angereichert sei und verbale Beleidigungen und Verleumdungen enthalte, die Gründ gens durch die Person des Höfgen zugefügt worden seien. Das Oberlandesgericht hat - vom Bundesgerichtshof unbeanstandet - den Roman als "Schmähschrift in Romanform " bezeichnet. Es gibt keine hinreichenden Gründe, d ieser von den Ge richten vorgenommenen Wertung entgegenzutreten, daß der Autor ein negativ-ver fälschendes Porträt des " U rbildes" G ründgens gezeichnet habe. Das von den Gerichten gefundene Ergebnis. daß bei d ieser Sach- und Rechtslage der Schutz aus Art. 5 Abs. 3 Satz I GG gegenüber dem geltend gemachten Unterlas5ungsanspruch versage. kann schließlich auch nicht mit der Erwägung in Frage ge steilt werden, der Erlaß des Veröffentlichungsverbots stehe außer Verhältnis zu der zu erwartenden Beeinträchtigung des Achtungsanspruchs des verstorbenen Gustaf Gründgens. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar wiederholt betont, daß der G rundsatz der Verhältnismäßigkeit \'erfassungsrechtlichen Rang hat (vgl . BVerfGE 1 9 , 342 [348 f.]) und deshalb bei allen Eingriffen der öffentlichen Gewalt in den Freiheitsbereich des Bürgers beachtet werden muß. Um einen derartigen Eingriff handelt es sich hier jedoch nicht. Die Gerichte hanen lediglich einen von dem einen gegen den anderen Bürger gehend gemachten zivilrechdichen Anspruch zu beurtei len. d . h. ein zivil rechdiches Rechtsverhältnis im Einzelfall zu konkretisieren. Zur Beurteilung von Grund und Höhe eines zivi lrechtlichen Anspruchs, etwa eines Scha densersatzanspruchs, können diejenigen Erfordernisse. die von Verfassungs wegen im Verhältnis des Bürgers zum Staat bei Eingriffen in die Freiheitssphäre des einzel nen zu beachten sind. auch nicht entsprechend herangezogen werden. Aufgabe des bürgerlichen Rechts ist es in erster Linie, Interessenkonflikte zwischen rechtlich gleichgeordneten Rechtssubjekten möglichst sachgerecht zu lösen. Demgemäß kann das Bundesverfassungsgericht das durch die angefochtenen Urteile ausgesprochene Veräffentlichungsverbot nur daraufhin nachprüfen, ob Art. 3 Abs. I GG beachtet
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ist. Das ist zu bejahen. Die Gerichte haben erwogen, ob die Veröffentlichung des Romans mit einem "klarstellenden Vorwort" (eingesch ränktes Veröffentlichungs verbot) zugelassen werden könne ; sie haben sich mit den Gründen, die nach ihrer AElsicht für oder gegen ein absolutes oder ein eingeschränktes Veräffentl ichu ngsver bot sprechen. ausemandergesetzt und sich schließlich für das Veräffentlichungsver bot entschieden. Die diesem Verbot zugrundeliegenden Erwägungen sind nicht sach fremd und daher nicht willkürlich. V. Eine Verletzung des Grundrechts a u s A r t . 5 A b s . I GG entfällt schon deshalb. weil diese Bestimmung mangels Vorliegens einer Mcinungsäußerung nicht anzuwen den ist. Künstlerische Aussagen bedeuten, auch wenn sie Meinungsäußerungen ent halten, gegenüber d iesen Äußerungen ein aliud . Insoweit ist Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gegenüber Art. 5 Abs. 1 GG eine lex specialis (vgl. oben C 1 1 1 4). Ebensowenig ist für eine besondere Prüfung am Maßstab des Art. 14 Abs. 1 und 3 GG Raum (vgl . BVerfGE 1 3 , 290 [296]). (gez . ) Dr. Müller Dr. Stein Ritterspach Rupp-v. Brünneck Dr. Böhmer Dr. Brox
Abweichende Meinung des Richters Dr. Stein zu dem Beschluß des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Februar 1 9 7 1
- I BvR 435/68 -. I m vorstehenden Beschluß ist in C IV nur die Auffassu ng der d r e i Richter dargelegt, die die dort vor 1) gestellte Frage bejaht haben. Als einer der drei anderen Richter, die diese Frage verneint haben, begründe ich meine ahweichende Ansicht wie folgt : I. Das Bundesverfassungsgericht hat im vorliegenden Verfahren die beanstandeten gerichtlichen Entscheidu ngen u . a. darauf selbständig nachzuprüfen, ob die Zivilge richte im Rahmen der gebotenen Abwägungen die besonderen Gesetzmäßigkeiten ausreichend gewürd igt haben, die dem Roman von Klaus Mann als einem Ku nstwerk eigen sind und die nach der Wertentscheidung in Art. 5 Abs. 3 GG auch gegenüber den Schutz interessen aus dem Persönlichkeitsbereich von Gustaf Gründgens berück sichtigt werden müssen. Denn Inhalt und Reichweite der Verfassungsgarantie in Art. S Abs. 3 Satz 1 GG und ihre Beziehung zu den anderen Wertentscheidu ngen des G rundgesetzes sind unm ittelbar berührt, wenn eine zivilgerichtliche Entscheidung die grund rechtliche Ausstrahlungswirkung auf das Zivilrecht nicht richtig bestimmt und die verfassungsrechtliche Wertentscheidung dadu rch verkennt. H ierdurch wird nämlich unmittelbar das Grundrecht verletzt, auf dessen Beachtung durch die recht sprechende Gewalt der einzelne gemäß Art. 1 Abs. 3 GG einen verfassungsrechtli-
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chen A nspruch hat. Ob u n d inwieweit im Rahmen d e r Privatrechtsordnung das Spannungsverhältnis w iderstreitender Interessen wegen dieser verfassungsrechtli chen " A usstrahlungswirkungen" im Wertsystem der Verfassung selbst angelegt u nd aus ihm heraus zu lösen ist. kann dabei nicht abstrakt. von den Umständen des zu schlichtenden Falls abgesehen. sondern nur u nter würd igender Heranziehung des konkreten I n teressenkonflikts ermittelt werden. Auch das Bundesverfassungsgericht muß deshalb die Vereinbarkeit der angegriffenen Entscheidungen mit der verfas sungsrechtl ichen Kunstfreiheitsgarantie auf der G rundlage der konkreten Umstände des vorl iegenden Sachverhalts überprüfen. Weder entscheidet damit das Bundesver fassungsgericht über die I nteressen auf der einfachrechtlichen Ebene. noch nimmt es dabei die ihm nicht zukommende Stellung eines Rechtsmittelgerichts ein. Vielmehr ermittelt es allein den Schutzbereich der G rund rechte in ihrer Auswirkung auf die Privatrechtsordnung für den zu entscheidenden Fall und erfüllt somit lediglich seine ihm von Verfassungs wegen übertragene Aufgabe. über die Beachtung und A nerken nung der Verfassungsnormen durch die rechtsprechende Gewalt zu wachen. Würde in Fällen wie dem vorliegenden entsprechend der Ansicht der drei Richter die Prü fungszuständigkeit des Bu ndesverfassungsgerichts auf eine eng begrenzte Kontrolle beschränkt sein . nämlich darauf. ob die Gerichte den Einfluß der G rundrechte über haupt erkannt. ihn berücksichtigt und das allgemeine Willkürverbot nicht verletzt haben (vgl. oben C IV 3 des Beschlusses des BVerfG vom 2 4 . 2 . 1 971 - 1 BvR 435/68 - . S. 1 96 1.). dann würde das Bu ndesverfassungsgericht seiner Aufgabe. Hüter der G rundrechte auf al len Rechtsgebieten zu sein. nicht gerecht werden. Deshalb hat dieses Gericht bei der Beurteilung von Umfang und Reichweite der verfassungs rechtlichen Ausstrahlungswirkungen auf Interessenkonfl ikte sich in ständiger Recht sprechung nicht auf eine abstrakte Aussage beschränkt, sondern sich dafür befugt erachtet. W ürdigung von Zivil- und Strafgerichten durch eigene Wertungen zu erset zen, wenn diese Gerichte die Ausstrahlungswi rkungen von Grundrechten verkannt haben (vgl . BVerfGE 7, 1 98 [207] ; 12, I \3 [ 1 26 11 . ] ; 1 8 , 8 5 [93 fl.]; 2 1 , 209 [ 2 1 6 ] ; 2 4 , 2 7 8 [281 H . ] ; 2 5 , 2 8 [ 3 5 ] ; 25, 3 0 9 [ 3 1 2 ] ; 2 7 , 7 1 [ 79 H . ] ; 27, 1 04 [ 1 09 1 . ] ; 2 8 , 5 5 [63 1.]). 11.
1 . D i e gebotene Abwägung zwischen den I nteressen aus dem Persönl ichkeitsbe reich von G ustaf G ründgens und der Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit des künstlerischen Bereichs hat in allen Beziehu ngen den verfassungsrechtlichen Wert entscheidu ngen zu entsprechen, die auf diesen Konflikt Einfluß nehmen. Wo bei der vOr:l.unehmenden Güterabwägung d ieses von der Verfassung aufgegebene spezifi sche Verhältnis im Sinne der Darlegungen unter C 111 2 verfehlt ist. ist die Kunst freiheitsgarantie des A rt. 5 Abs. 3 Satz I GG verletzt. Gerade auf eine solche grund legende Verkennung d ieses von der Verfassung geforderten Verhältnisses zur Kunst und nicht nur auf Feststellu ngen und Wertungen. welche die verfassungsrechtliche Ebene unberührt lassen. ist die Würdigung der durch die beabsichtigte Romanveröf fentlichung berührten Interessen durch Oberlandesgericht und Bundesgerichtshof
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zurückzuführen. Diese verfassungs rechtlich zu beanstandende Grundeinstc l l u ng nicht eine der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogene einfach rechtliche Wertung - liegt i nsbesondere auch dem von den Gerichten angestcHten Vergleich der Romanfigur Hendrik Höfgen mit G ustaf Gründgens. der Verneinung einer ausreichenden "Verfremdung" des Hendrik Höfgen sowie der Charakterisie rung des Romans als einer " Schmähschrift in Romanform" zugrunde. Beide Gerichte haben nicht genügend beachtet, daß ein Kunstwerk, als das der ·' Mephisto" .Roman von ihnen ausdrücklich anerkannt worden ist, Realität nicht nur im außerkünstlerischen Wirkbereich. sondern vorwiegend auf der ästhetischen Ebene besitzt. Die Gerichte haben einseitig auf das Spannungsfeld im sozialen Wir kungsbereich abgehoben und dabei die ästhetische Realität des Romans, die i n d iesen W irkbereich übergreift und ihn verändert, unbeachtet gelassen. Diese einseitige Be trachtung hat die Güterabwägung in ihrer Struktur beeinflußt und die Gerichte zu einseitigen Ergebnissen geführt : allein aus der Blickrichtung eines Leserpublikums, das den I nhalt des Romans für die Wirklichkeit nimmt, also dem Roman gegenüber eine nichtkunstspezifische Haltung einnimmt, haben sie Erscheinung und Verhalten der Romanfigur Hendrik Höfgen mit dem Persönlichkeitsbild von Gustaf G ründ gens so verglichen, als gehöre Hendrik Höfgen der realen W irklichkeit an. Aus schließlich auf dieser Vergleichsebene haben die Gerichte den Konflikt zwischen Schutzinteressen aus dem Persönlichkeitsbereich von Gustaf Gründgens und den durch die Beschwerdeführerin wahrgenommenen I nteressen der Kunst zu lösen ge sucht. Allein deshalb, weil die Bezüge der Romanhandlung zur Wirklichkeit nach ihrer Ansicht deutlich erkennbar seien, haben die Gerichte eine hinreichende künst lerische überhöhung oder Transzendierung des Romanstoffs verneint. Nur wegen der Abweichungen zwischen der Romanfigur Hendrik Höfgen und dem Persön l ich keitsbild von Gustaf Gründgens, die sich für eine allein auf die h istorische Wirklich keit gerichtete Betrachtung auf dieser Vergleichsebene ergeben, haben !'i .... den Roman als "Schmähschrift i n Romanform" bezeichnet und eine Beeinträchtigung der Per sönlichkeit von G ustaf Gründgens festgestellt sowie ein unbeschränktes Veröffent lichungsverbot für gerechtfertigt gehalten. Auf derselben, einseitig an der Welt der Realität orientierten Wertung beruht das Zugeständnis des Bundesgerichtshofs, der Kunst zu gestatten, im gewissen Umfang zur "ergänzenden Charakterisierung" durch erfundene Begebenheiten das Persönl ichkeitsbild desjenigen zu ergänzen, an den eine Romanfigur angelehnt ist. Diese Betrachtungsweise mag für eine Dokumentation oder eine Biographie ange messen sein, die eine wahrheitsgetreue, wissenschaft lich nachprüfbare Darstellung der äußeren und inneren Entwicklung des Lebensganges eines Menschen ist, wenn auch in Fragen der historischen Erklärung und Deutung die Allgemeingültigkeit umstritten sein mag. Das künstlerische Anliegen eines Romans hat nicht eine wirk lichkeitsgetreue, an der Wahrheit orientierte Schilderung historischer Begebenheiten zum Ziel, sondern wesenhafte, anschauliche Gestaltung aufgrund der Einbildungs kraft des Schriftstellers. Die Beurteilung des Romans allein nach den Wirku ngen, die
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er außerhalb seines ästhetischen Seins entfaltet, vernachlässigt d a s spezifische Ver hältnis der Kunst zur realen Wirklichkeit und schränkt damit das der Beschwerde führerin i n Art. 5 Abs. 3 Satz I GG garantierte Freiheitsrecht in unzulässiger Weise ein. 2 . Ein Kunstwerk wie der Roman von Klaus Mann strebt eine gegenüber der realen W i rkl ichkeit verselbständigte "wirklichere Wirklichkeit" an, in der die reale Wirklichkeit auf der ästhetischen Ebene in einem neuen Verhältnis zum Ind ividuum bewußter e rfahren wird . Zeit und Raum sind im Roman etwas anderes als im wirkli chen Leben . Ein " Abphotographieren" der Wirklichkeit ist nicht sein künstlerisches Anliegen. Auch bei der hier geschehenen A nknüpfung an reale geschichtliche Gege benheiten hat eine überhöhung oder Transzendierung dieser Begebenheiten oder Zustände i n die eigene, von der künstlerischen Phantasie geschaffene "ästhetische Realität" des Kunstwerks stattgefunden. Die künstlerische Darstellung kann deshalb nicht am Maßstab der Welt der Realität, sondern nur an einem kunstspezifischen, ästhetischen M aßstab gemessen werden. Bezogen auf das künstlerische Anl iegen können die aus der W irklichkeit entnommenen und gestalteten Daten auch dann " w i rklichkeitstreu" sein, wenn sie, bezogen allein auf die reale Welt, die "Wirklich keit verfälschen". In der ästhetischen Real ität ist Faktisches und Fiktives ungeson den gem ischt; sie sind nicht ein lästiges Nebeneinander, sondern eine unauflösliche Verbindung. alles ist freies " künstlerisches Spie l " . I n d i e s e r Beurteilung d e s Verhältnisses e i n e s Kunstwerks zur Realität stimmen d i e folgenden Zitate überein, die von Autoren künstlerisch verschiedener Richtungen stammen und gerade dadurch ihr besonderes Gewicht und ihre Klangfarbe erhalten : " Auch einige die sich dem sinn des verfassers genähert haben meinten es helfe zum tieferen verständnis wenn sie im Jahr der Seele bestimmte personen und örter ausfin dig machten. möge man doch (wie ohne w iderrede bei darstellenden werken) auch bei einer dichtung vermeiden sich unweise das das mensch l iche oder landschaftliche urbild zu kehre n : es hat durch die kunst solche umformung erfahren daß es dem schöpfer selber unbedeutend wurde und ein wissen darum für jeden anderen eher verwi rrt als löst" (Stefan George, Werke - Ausgabe in 2 Bänden, hrsg. von R. Boehringer, Band 1, 1958, S. 1 1 9 ) ; "Die W i rklichkeit, die ein Dichter seinen Zwecken d ienstbar macht, m a g seine tägliche Welt, mag als Person sein Nächstes und Liebstes sein; er mag dem durch die Wirklichkeit gegebenen Detail noch so untertan sich zeigen, mag ihr letztes Merkmal begierig und folgsam für sein Werk verwenden: dennoch wird für ihn - und sollte für alle Wel t ! - ein abgründ iger Unterschied zwischen der Wirklichkeit und seinem Gebilde bestehen bleibe n : der Wesensunterschied nämlich, welcher die Welt der Realität von derjenigen der Kunst auf immer scheidet." (Thomas Mann, Bilse und ich, 1906, in: Gesammelte Werke, Band X , S. 1 6 ) . "Gerade die Vortäuschung d e s Wirklichen ist der echten K u n s t v o n G rund aus fremd. A l l e Theorie des Scheines und der I l lusion, die d iesen Weg einschlägt, ver kennt einen w ichtigen Wesenszug im künstlerischen Erscheinenlassen: . . . daß es
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nicht Wirklichkeit vortäuscht. daß vielmehr das Erscheinende auch als Erscheinen des verstanden und nicht als Gl ied in den realen Lauf des Lebens eingefügt wird, sondern gerade aus ihm herausgehoben und gleichsam gegen das Gewicht des Wirk lichen abgeschi rmt dasteht." (Nicolai Hartmann. Ästhetik, 2 . Aufl ., 1 966, S. 36). "Denn alles, was die Kunstwerke an Form und Materialien, an Geist und Stoff in sich enthalten, ist aus der Realität in die Kunstwerke emigriert und in ihnen seiner Realität entäußert . . . Selbst Kunstwerke. die als Abbilder der Realität auftreten, sind es nur peripher: sie werden zur zweiten Realität. indem sie auf die erste reagieren; . . . . . (Adorno. Ästhetische Theorie, 1 970, S. 1 58 , 425). Für die " R ichtigkeit" oder "Wirklichkeitstreue" der Romanfigur Hendrik Höf gen in der ästhetischen Real ität des uMeph isto"-Romans ist ein Vergleich zwischen Hendrik Höfgen und Gustaf Gründgens nach dem Grad der übereinstimmung in den " Persön lichkeitsdaten" grundsätzlich irrelevant. Nun kann ihre Erscheinung und Wirkung auf der werkbezogenen Ebene allerdings nicht verhindern, daß die künstlerische Aussage von demjenigen, dem sich ihr ästhetisches Dasein nicht er schließt, nur in den Wirkungen der im Kunstwerk verwendeten Realien auf der Blickebene einer von ästhetischen Elementen freien Wertung ebenso wahrgenom men wird. Diese Art der Würdigung kann auch die eindeutige künstlerische Qualität eines Werkes der epischen Kunst nicht verhindern, weil die betroffenen Wirkungs ebenen und Wertbezugssysteme insoweit grundsätzlich voneinander unabhängig sind und die Wahrnehmung der ästhetischen Real ität eines Kunstwerks, in der die im Kunstwerk verwendeten Realien sublimiert sind, ein nicht erzwingbarer, höchst individueller Akt ist. Dieser Umstand allein rechtfertigt jedoch die den angefochte nen Entscheidungen zugrundeliegende einseitige Betrachtungsweise nicht. Das folgt bereits daraus, daß die Kunst eine ihrer wichtigsten Aufgaben nicht erfüllen könnte, wenn ihr die Verwendung von Daten aus dem Persön lichkeitsbe reich in allen Fällen untersagt werden würde, in denen befürchtet werden muß, daß ein Teil der öffentlichkeit die kunstspezifische Wirkung des Kunstwerks nicht zur Kenntnis nimmt, es vielmehr einseitig an außerkünstlerischen Maßstäben mißt und auf diesem Wege zu einer negativen Einstellung der Person gegenüber gelangt, über die sie aus dem Dargestellten etwas zu erfahren meint. Einer freien Kunst muß grundsätzlich gestattet sein, an Persönlichkeitsdaten aus der Wirklichkeit anzuknüp fen und ihnen durch Zeichenwerte verallgemeinernde Bedeutung zu geben. Das gilt vor allem in den Fällen, in denen sich die künstlerische Darstellung wie die vorlie gende an eine Person der Zeitgeschichte anlehnt. Persönlichkeiten, die im öffentli chen Leben stehen oder in Kunst und Wissenschaft ein allgemeines Interesse wach rufen, begegnen künstlerischen I nteressen vor allem durch ihre besonders enge Ver knüpfung mit den Geschehnissen von allgemeiner Bedeutung und den Zeitströmun gen, durch die sich Realität in ihrer Person besonders intensiv verdichtet und sym bolhaften Sinnbezug gew innt. Diese zeichenhafte Bedeutung der Persönlichkeit, die der Künstler mit seinen Ausdrucksmitteln anschau lich darzustellen sucht, ist gegen über dem Bild der individuellen Person verselbständigt. Daß d ieser Umstand im
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Ku nstwerk bei einem von der ästhetischen Wirkung absehenden Vergleich des Dar gestellten mit der Welt der realen Tatsachen durch eine " Verzerrung" des Bildes der individuellen Persönlichkeit zum Ausdruck kommt, beruht somit nicht auf einer Mißachtung der Persönlichkeit, sondern ist im Wesen und i n der Aufgabe der Kunst begründet. die das Wesentliche, das aus dem Wirklichen herausgehobene Typische darstellt (vgl. W . Dilthey, Gesammelte Schriften, Band VI, S. 1 8 S ff.) Dieses Prinzip bringt es zugleich mit sich. daß die Bezüge des Kunstwerks zu einer Person der Zeitgeschichte häufig sichtbar bleiben. Gerade die besonders intensive sachl iche Ver knüpfung einer solchen Persönlichkeit mit dem die Allgemeinheit angehenden Ge schehen sowie die sich hieraus ergebende Prägung des Persönlichkeitsbildes machen es im allgemeinen unmöglich, d ieses Persönlichkeitsbild im künstlerischen " Abbild" aus seinen Bezügen zur realen Welt zu lösen, wenn der Künstler im Sinne künstleri scher Realität wirklichkeitstreu gestalten will. Derartige Spannungen zwischen dem i n seiner Würde von jedem zu respektieren den Individuum und dem künstlerischen Anliegen gehören zum festen Bestandtei l d e r literatur; u n d wo s i e in künstlerischen Romanen u n d Dramen hervorgetreten sind, beruhen Wirkung und Wen der D ichtung auf ihrem Rang als Kunstwerk. nicht auf der Einkleidung biographischer Erlebnisse. U ngeachtet ihrer Zuordnung zu der sogenannten Schl üsseldichtung sind sie i n ihrem künstlerischen Rang unbestritten, wie u . a . die Werke von : Goethe, Die leiden des jungen Werthers ; G . Keller, Der Grüne Heinrich ; Th. Fontane, Frau Jenny TreibeI ; L . Quidde, Caligula; Thomas Mann, Buddenbrooks, Doktor Faustus ; F. Wedekind, Erdgeist; H. Hesse, Der Step penwolf ; G . Flaubert, Madame Bovary ; Leo Tolstoi, Anna Karenina; Simone de Beauvoir, les Mandarins. Diese wenigen Beispiele zeigen, daß seit jeher Personen der Wirklichkeit in künstlerischer " Verfremdung" , jedoch zunächst für den mit den Verhältnissen Venrauten erkennbar, zur Darstellung menschlicher Schwächen und AbKründe, insbesondere zur Auseinandersetzung mit dem Dämonischen im Men schen auch in der Weltliteratur benutzt worden sind. I n d iesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, daß schon beim Abdruck des Romans in der " Pariser Tageszeitung" in Paris im Jahre 1 936 Klaus Mann sich in einem an die Redaktion d ieser Zeitung gerichteten Brief gegen die Bemerkung der Voran1.eige der Redaktion verwahrt hat. daß der "Mephisto" ein die Person von G ustaf Gründgens betreffender Sch l üsselro man sei. U . a. schrieb er damals: " Ich bin genötigt, feierlich zu erklären : Mir lag nicht daran, die Gesch ichte eines bestimmten Menschen zu erzählen, als ich ' Mephisto. Roman einer Karriere' schrieb. Mir laK daran : einen Typus darzustellen, und mit ihm die.' verschiedenen M i l ie.'us (mein Roman spic:lt kei neswegs nur im 'braunen ' ) , d i e sozio lo�ischen und geisti ge.'n VorauSSet1.ungen, d i e seinen Aufstieg erst möglich machten ", Diese Auffassung bestätigen auch die Ge.'nnanisten und Schriftsteller Hans Mayer = Tübi ngen , Hermann Kesten = New York, Franz Theodor Csokor = Wien, Albr(.'Cht Gm!'� = Stuttgan, Max Brod = Tel Avi\', u . a. i n ihren im Ve.' rfahren \'orgelegte.'n gutacht lichen Äußeru nge n ; fe.'rner Thoma� Mann i n seinem Brie.,f an seinen Sohn Klaus vom J. Dczcmber 1936, abgedruckt in "Die.' Neunzehn", Te.' xt und I nformationen, 1 970, S. 3 f.
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Ein A usschluß der Kunst von diesem Erfahrensbereich würde sie in ihrem Kern treffen , solange sie ihre Aufgabe auch und gerade in der Bewußtmachung zeitgenös sischer Konflikte auf moralischem, gesellschaftlichem und politischem Gebiet sieht. Eine in d ieser Weise beschränkte Kunn wäre nicht frei im Sinne von Art. 5 Abs. 3 Satz I G G . Die Kunstfreiheitsgaramie läßt dem G rundsatz nach weder die Ein schränkung des künstlerischen Themenkreises noch die A usklammerung von Aus drucksmineln und -methoden aus dem künstlerischen Verarbeitungsprozeß zu. Auch kann dem Künstler, insbesondere vom Staat, nicht aufgegeben werden, die verwendeten Daten aus dem Persönlichkeitsbereich wenigstens im Rahmen des äs thetisch Zu mutbaren so zu verfremden. daß eine Identifizierung der als Vorbild etwa für eine Romanfigur benutzten Persön lichkeit vermieden wird : über das ästhetisch Zumutbare lassen sich verbindliche Regeln weder aufstellen noch dürfen sie in einem freiheitlichen Staat von staatlichen I nstanzen aufgestellt werden. Zudem steht einer solchen Forderung entgegen, daß der Einfluß des Künstlers auf den schöpferischen Gestaltungsprozeß und seine Wirkungen i n der Offentlichkeit beschränkt ist. Die Auffassung. daß dem Künstler bei der Darstellung des menschlichen Lebens zahlrei che Möglichkeiten zur Verfügung ständen und er deshalb den Stoff so "\·erfremden" könne. daß Persönlichkeiten der realen W irklichkeit nicht mit dem Kunstwerk i n Verbindung gebracht werden könnten. trifft schon a u s diesem Grund, zumindest in d ieser A l lgemeinheit, nicht zu. Ebenso ist die Eigengesetzl ichkeit künstlerischer Prozesse in der von dem Bundes gerichtshof nicht beanstandeten Forderung des Oberlandesgerichts verkannt, Klaus Mann habe nach Kriegsende den "Mephisto" - Roman unter Berücksichtigung der neuen E rkenntnisse über G ründgens umgestalten müssen. Abgesehen davon, daß der Roman nur unter dem Eindruck einer ganz bestimmten, individuell erfahrenen Si tuation geschrieben werden konnte und nicht unabhängig von Raum und Zeit seiner Entstehung beliebig wiederholbar ist. und die Gerichte den Kunstwert des Romans nicht i n Zweifel ziehen. ist die gerichtliche Zumutung nach "Umgestaltung" des Mephisto- Romans ein verfassungswidriger Eingriff i n die künstlerische Gestaltungs freiheit. Ein "u mgestalteter" Roman könnte nur ein aliud gegenüber dem " Mephisto"-Roman sein. Obschon somit das Spannungsgefäl le zwischen außerkünstlerischer und kunstspe zifischer Wirkungs- und Betrachtungsweise in der Sache angelegt und unaufhebbar ist, hat das Grundgesetz i n Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG die Eigengesetzlichkeit einer freien Kunst anerkannt und vorbehahslos gewährleistet. Das verbietet im vorliegen den Fall. mit dem Bundesgerichtshof und dem Oberlandesgericht die Frage nach der Rechtfertigung des Veröffentlichungsverbots einseitig nach den Wirkungen des Ro mans auf ein Leserpublikum zu beantwonen. das das Dargestellte ohne Blick für seine kunstspezifische Bedeutung wie eine Dokumentation auf übereinstimmungen mit der Wirklichkeit untersucht. Abgesehen davon begegnet es auch methodischen Bedenken, die Würdigung eines Romans an eine bestimmte Leserschicht oder einen bestimmten Lesertypus zu knüpfen. Ein solches Vorgehen würde u . a. voraussetzen,
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daß die ästhetische Realität des Romans nicht außerhalb der geistig-seelischen Vor gänge im einzelnen Leser existiene und identisch wäre mit dem geistig-see lischen Vorgang im einzelnen Leser oder Hörer. Ein Kunstwerk kann man zwar nur durch einzelne Erlebnisse kennenlernen, aber es ist mit ihnen nicht identisch und existien auch außerhalb der Erlebnisse. Daher kann es nur als eine Struktur von Bedeutungs einheiten und Qualitäten verstanden werden, die in den Erlebnissen seiner vielen Leser nur zum Teil realisien werden. Deshalb kann auch für die rechtliche Beunei lung i n Fällen wie dem vorliegenden nicht auf ein fiktiven Lesenypus abgehoben, sondern es muß der kunstspezifische Gehalt des Kunstwerks ermittelt und gegen über seinen außerkünstlerischen "Sozialwirkungen" abgewogen werden. Zwar bürdet die Kunstfreiheitsgarantie dem Betroffenen nicht schlechthin sämtli che Nachteile auf, die sich für seine Person daraus ergeben, daß Kunst oh verkannt wird und sich nur dem einzelnen unter spezifischen Umständen erschließt. Sie ver pfl ichtet aber dazu, bei einem Interessenausgleich zwischen I ndividuum und künst lerischem Anliegen den Eigenwen der Kunst mit zu berücksichtigen. Das kann nur dadurch erfolgen, daß auch von der ästhetischen Wirkungsebene aus die Lösung der künstlerischen Darstellung von der h istorischen Wirklichkeit und ihre Verselbstän digung als ästhetische Realität mit gewürdigt wird. Zur Vermeidung der negativen außerkünsderischen W irkungen des Romans für die Persönlichkeit von Gustaf Gründgens darf i n die ästhetische Realität durch ein Veröffentlichungsverbot jeden falls dann nicht eingegriffen werden, wenn bei Würdigung des Romans als Kunst werk die rein stoffliche Beziehung zu Gründgens i n der Verbindung von Faktischem und Poetischem deutlich in den H intergrund tritt, mag diese Anlehnung an die Wirklichkeit auch noch erkennbar bleiben. 3 . Danach ist im vorliegenden Fall verfassungsrechtlich eine andere Bewenung der Spannungslage von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsschutz geboten. Bei Würdi gung des Romans als Kunstwerk erscheint Hendrik Höfgen in erster Linie als Ro manfigur auf die künstlerische Darstellung be7.ogen und als Typ gegenüber dem Persönl ichkeitsbild von G ustaf Gründgens verselbständigt. Daß Höfgen ein Typus und kein Porträt ist, ergibt sich schon aus dem Typisieren den in der Zeichnung der Romanfigur, in der Zwischentöne fast ganz fehlen und die i m Zusammenhang von Zeit und Milieu der Romanhandlung deutlich zeichenhahe Züge hat. Die Figur des Höfgen ist in ihrer Konzeption so durchsichtig und während der gesamten Romanhand lung wo wenig inneren Veränderungen ausgesetzt, daß der Gedanke daran, daß hier Realität dargestellt wird, gegenüber dem Bewußtsein von der typisierenden, zeichenhahen Bedeutung des Häfgen zurücktritt. Auf diese Weise gewinnen auch die inneren Konflikte. die Häfgen zu bestehen hat. symbolhafte Bedeutung. So gehören bei ungezwungener Betrachtung 7.. B . die "Schwarzen Mes �n". die Häfgen mit seiner "Pri n7.Cssin Tebab" 7.elebrien, deutlich einer mystisch orgiastischen Fabelweh an . angesichts derer die Feststellung des Oberlandesge richts. der Leser könne Wahres nicht von Erdichtetem unterscheiden. ebenso unver ständl ich erscheint wie im Blick auf die fast lyrischen Passagen vor allem zu Beginn
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des V I I . , V I I I , IX. und zu Ende des X . Kapitels. Auch die Personen die Höfgen umgehen. sind - ausgenommen vielleicht Barbara Bruckner (Erika Mann) - Typen, keine Charaktere oder Porträts. Der Roman ist durch und durch geprägt von dem aus politischen G ründen emigrierten Schriftsteller Mann, seinem Schicksal, dem Geist der Opposition und der Entlarvung des verruchten Regimes ; die anschauliche. schöpferische Gestaltung dieser Erlebnisse macht gerade seinen künstlerischen Ge halt aus. Andererseits treffen die Feststellungen der Gerichte zu, daß Gründgens sehr deutlich der Romanfigur Höfgen zum Vorbild ged ient hat. H ierauf kommt es jedoch nach den oben gemachten Ausführu ngen nicht an. Maßgebend ist vielmehr. ob das Bild der Romanfigur Höfgen in der Welt des Romans eine eigene Funktion hat. durch die es gegenüber dem Persönlichkeitsbild von Grü ndgens \'erselbständigt wird. oder ob die Figur des Höfgen individuelle Persönl ichkeitsdaten über die Per son Grundgens mitteilen will. Der Bezug der Romanfigur Höfgen zur individuellen Persönlichkeit Gustaf G ründgens wird durch die künstlerische Konzeption und symbolhafte Gestaltung so stark überlagert. daß die individuelle Persönlichkeit Grundgens gegenüber dem "Phänomen des geistigen Mitläufers", das auch zu ande ren Personen in Bezug gebracht werden könnte, in den H intergrund tritt. Das kommt auch in den im Verfahren vorgelegten Kritiken zum Ausdruck. Auch müssen in diesem Zusammenhang die zeit- und kulturgeschichtlichen Ak zente berücksichtigt werden, die der 1 936 erschienene Roman in besonders starkem Maß besitzt und die auch dem durch das Vorwort des Verlags zudem ausdrücklich hierauf aufmerksam gemachten Leser heute aufgrund der zeitlichen Distanz zu den Ereignissen nach 1 933 bewußt werden müssen: das Bild einer korrumpienen Gesell schaft. eines komöd iantischen. unwahren Regimes. einer Heimsuchung des deut schen Geistes in Gestalt des geistigen Mitläufers. Der Mephisto- Roman ist ein Werk der Exill iteratur. deren Thematik, Struktur und Sprache nur unter dem Zwang des politischen. sozialen und psychologischen Ausnahmezustandes der Emigration rich tig gewürdigt werden kann. Er ist künstlerischer Ausdruck des tiefen Schmerzes "des Ausgestoßenen. der die Nachrichten der Heimat nur noch vernimmt wie den Widerhall von Wahnsinn und Entsetzen. Er wartet auf das unbekannte Ereignis, das ihn zurückruft ; . . . " (Heinrich Mann. Geist und Tat, Essay über Zola [ 1 9 1 5] , S. 234. erschienen im Verlag Gustav Kiepenheuer. Weimar 1 946). Auch durch diese Umstände. d i e in den angefochtenen Entscheidungen nur eine nebengeordnete, wenn nicht sogar eine untergeordnete Rolle spielen. wird die Dar stellung im Roman und mit ihr die Romanfiguren von der Realität abgelöst und verselbständigt; sie lassen den künstlerischen A u sdruck der den Autor unterdrük kenden politischen Gewalt und seines Widerstandes gegen den Nationalsozialismus erkennen. Die Beurteilung des Romans d u rch Oberlandesgericht und Bundesgerichtshof. die der Bewertung des im Roman Dargestellten nach übereinstimmungen und Abwei chungen mit der realen Wirkl ichkeit den Vorrang gibt, kann auch den Motiven nicht gerecht werden. die dem Roman zugrundeliegen. Auf dieser einseitigen. die Bedeu-
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tung des Buches als Kunstwerk vernachlässigenden Betrachtungsweise beruht die von dem Bundesgerichtshof nicht beanstandete Charakterisierung des Romans d urch das Oberlandesgericht als eine G ustaf G ründgens diffamierende "Schmäh schrift in Romanform" ebenso wie das U nternehmen des Oberlandesgerichts, den Roman als zeitkritische Darstellung des deutschen Theaterlebens in den zwanziger und dre ißiger J ahren auf seine historische Genauigkeit zu untersuchen. Dabei bleibt auch hier unbeachtet, daß das Kunstwerk kein historisches Dokument ist und sein will. Das künstlerische Anliegen des Mephisto-Romans ist, in anschaulicher Gestal tung das Phänomen des geistigen M itläufenums i m NS-Staat darzustellen. Es be stimmt die Gesamtkonzeption des Romans und das Bild des Hendrik Höfgen. Auf d iesen allgemeineren Hintergrund, nicht auf eine Person oder ein historisches Ereig nis angelegte Darstellung deutet bereits der Untenitel des Buches " Roman einer Karriere" und das ihm beigegebene Motto aus Goethes "Wilhe1m Meister" h i n : "Alle Fehler d e s Menschen verzeih' ich dem Schauspieler, keine Fehler d e s Schau spielers verzeih' ich dem Menschen . " Auf ihn haben auch der Autor selbst u . a. in seinem Buch "Der Wendepunkt" sowie die Kritik zu dem "Mephisto"- Roman hin gewiesen. 4 . Darüber hinaus haben Bundesgerichtshof und Oberlandesgericht bei der gebo tenen Abwägung die nachteiligen Wirkungen des Romans auf den Schutzbereich der Persönlichkeit von Gustaf Gründ gens auch noch in anderer Beziehung überbetont. Unter C III 6 des Beschlusses des BVerfG vom 2 4 . 2 . 1 97 1 - BvR 435/68 -. S. 1 94 . i s t bereits hervorgehoben worden. daß bei der A bwägung dem vorbehaltlosen Grundrecht der Beschwerdeführerin aus An. 5 Abs. 3 Satz 1 GG als kollidierender Wertaspekt nur der dem Verstorbenen aus Art. 1 Abs. 1 GG zukommende Schutz. dagegen nicht auch Art. 2 A bs. 1 GG gegenüberzustellen ist, dem die Zivilgerichte zu Un recht A usstrah lungswirkungen auf den vorliegenden Fall zuerkannt haben. A rt. 1 A bs. 1 GG garantiert den al lgemeinen Eigenwert, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt (BVerfGE 30, 1 [2, Leitsatz 6]). Das Gebot der U nver letzlichkeit der Menschenwürde verbürgt Schutz vor solchen Ei ngriffen in die Per sönlich keitssphäre, durch die zugleich der Mensch als solcher in seinem Eigenwert. seiner Eigenständigkeit verletzt ist. I m Verhältnis zu Art. 2 Abs. 1 GG, der die freie Entfaltung der Ein7.elpersönlichkeit sichert, ist Art. 1 Abs. 1 GG daher weniger auf die Individ ualität als auf die Personal ität bezogen. Dieser Unterschied ist für die vorliegend gebotene A bwägung von Bedeutung. Eine Beeinträchtigung dieses Schutzbereiches set7.t danach zumindest die Befürchtung voraus, daß die Veröffentli chung des Romans zu einem in d ieser Weise besonders qualifizierten Eingriff in die Persönlich keitssphäre von G ustaf Gründ gens führen wird. Demgegenüber haben die Zivilgerichte das Veröffentlichungsverbot unter dem allgemeinen Gesichtspunkt ei nes auf das Individuum bezogenen Ehrenschutzes für gerechtfertigt erklärt. Sie sind nicht von dem spe7.ifisch auf die Personalität bezogenen Wertaspekt des Art. 1 Abs. 1 GG ausgegangen. Schon deshalb ist nicht auszuschließen, daß die nach Art. 1 Abs. 1 GG vorgenommene Würdigung durch die irrige Annahme eines, wenn auch einge-
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schränkten Weiterwirkens des Persönlichkeitsrechtes gemäß A n . 2 Abs. l GG nach dem Tode wesentlich heeinflußt ist und einer Auslegung Raum gegeben hat. die die Bedeutung der Person nach An. 1 Abs. l u n d der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. l GG deshalb verkann� hat. I n d iesem Zusammenhang ist außerdem zu berücksichtigen. daß mit verblassender Erinnerung an den Verstorbenen die Gefahr einer nachteil igen E inwirkung auf die geschützte Persönlichkeitssphäre geringer wird. Diese Gesichtspunkte haben zwar auch die angefochtenen Entscheidungen hervorgehoben ; jedoch ist unbeachtet ge bl ieben. daß das allgemeine I nteresse an Personen. die nicht der allgemeinen Zeitge schichte angehören, sondern wie Gustaf G ründgens i n einem engeren Bereich des öffentlichen Lebens ihrer Zeit hervorgetreten sind. nach ihrem Tode rascher schwin det und damit die Gefahr einer persönlichkeitsverletzenden Identifizierung von Gu staf Grundgens mit der Romanfigur Hendrik Höfgen geringer ist. Gründgens gehört heute. acht Jahre nach seinem Tod. weitgehend bereits der Theatergeschichte an; seine Fehde mit Klaus Mann ist dem allgemeinen Bewußtsein entschwunden und in die Geschichte zurückgetreten. Für die w irklich an der Person Gründgens interessierten Kreise. die Kenner der Theatergeschichte der jüngsten Zeit ist das Persönlichkeitsbild von Grundgens so fixiert. daß es durch die Veröffentli chung dieses Romans im Jahre 1 9 7 1 nicht mehr ernstlich erschüttert werden kann. Für sie wird das Bild Gründgens' durch seine weithin bekannten Leistungen als Schauspieler und Regisseur und durch seriöse historische Veröffentlichungen, nicht aber durch die Romanfigur des Hendrik Höfgen bestimmt (vgl. die in dem von R . Badenhausen und P. Gründgens-Gorski herausgegebenen Buch " Gustaf Grund gens - Briefe Aufsätze Reden - ( 1 967) auf der Seite 453 ff. zitierte Literatu r über GuStaf Gründgens). Ferner kennt diese Schicht des Publikums im Zweifel auch längst den Mephisto-Roman aus der Vorveröffentlichung i m J ah r 1 956. Im übrigen lenken das besondere zeit- und kulturgesch ichtliche Gepräge sowie das VorwOrt der Beschwerdeführerin auch den nicht am ästhetischen. sondern nur am sachlichen Aussagewert des Romans interessierten Leser auf die Entstehungsge schichte des Romans und die besondere Situation hin. i n der sich der Em igrant Klaus Mann damals befand. Sie erklären seine Reaktion auf das Verhalten von Gustaf Gründgens gegenüber den nationalsozialistischen M achthabern und veranlassen hierdurch auch die den ästhetischen Aspekt vernachlässigenden Leser zu einer d iffe renzierten Haltung in der Beurteilung der Objektivität der Details. Auch kann der Roman nach seiner Anlage und mit Rücksicht auf die Veröffentl ichungen in den Jahren 1 936 und 1 956 heute nur noch auf das Interesse eines begrenzten. vor allem der Bildungsschicht angehörenden Leserkreises rechnen. der weitgehend den Erfah rungsbereichen der Kunst nicht u ngeschult gegenübersteht und weiß. daß ein Werk. das sich selbst als Roman bezeichnet, keinen Anspruch auf W irklichkeitstreue im Sinne einer Dokumentation oder einer Biographie erhebt. Die Befürchtung, daß der Roman nicht als künstlerische A ussage, sondern nur wörtlich genommen wird, ist dadurch weit gemindert. Dieser produktiven und phantasievollen Mitwirkung des
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Lesers, der ein Kunstwerk in seiner Einheit und in seinen immanenten Zusammen hängen sich vergegenwärtigt, messen die Gerichte in den angefochtenen Entschei dungen ü berhaupt keine Bedeutung bei. Andererseits muß ein berechtigtes Interesse des literatu rkundigen und -interessierten Publikums anerkannt werden, den Mephi sto-Roman als ein bedeutendes Werk eines Hauptvertreters der Exilliteratur, noch dazu eines Angehörigen der Familie Mann, kennenzulernen, zumal diese Literatur, von gew issen Ansätzen abgesehen, noch immer der wissenschaftlichen Bearbeitung harrt. Bei Abwägung der kollidierenden Interessen im Sinne der verfassungsrechtlichen Wertentscheidung kann deshalb die Schmälerung der Personwürde des Verstorbenen nicht so gewichtig sein, daß sie ein Verbreitungsverbot rechtfertigen könnte. 5 . Auch werden durch das VorwOrt mögliche nachteilige Wirkungen für die Per sonwürde von Gustaf Gründgens so weitgehend verringert, daß demgegenüber der Erlaß des Verbreitungsverbots den verfassungsrechtlichen G rundsatz der Verhältnis mäßigkeit verletzt. Dieses festzustellen ist dem Bundesverfassungsgericht entgegen den drei die angefochtenen Entscheidungen billigenden Richtern nicht verwehrt, da spezifisches Verfassungsrecht betroffen ist. Bundesgerichtshof und Oberlandesge richt verkennen die Au sstrahlungswirkungen des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, wenn sie zur Wahrung der schützenswerten I nteressen aus dem Persönlichkeitsbereich von G u staf G ründgens nur ein Vorwort für geeignet halten, in dem von einer mit dem Theaterleben der zwanziger und d reißiger J ahre vertrauten Person eine umfassende objektive Richtigstel lung des Charakterbildes von Gustaf Gründgens und seiner antifaschistischen Gesinnung sowie seiner Hilfsbereiucllaft gegenüber Juden und politisch Verfolgten nach 1 9 3 3 gegeben werde, in dem ferner auch die Beziehungen von Gustaf G ründgens zu Klaus Mann in den zwanziger Jahren dargestellt und die besondere Situation des Dichters in der Emigration geschildert würden. Den Anfor derungen, die das Oberlandesgericht und der Bundesgerichtshof hier stellen, liegt ersichtlich die Auffassung zugrunde, das Vorwort müsse die Leserschaft über die " u nrichtige" Darstellung der Person G ründgens in Einzelheiten aufklären. Damit setzen die Gerichte den Roman auch in dieser Beziehung einer Dokumentation oder B iographie über die Person G uslaf G ründ gens gleich. I n dem dem Roman aufgrund der einstweiligen Verfügung beigegebenen Vor s pruch wird der Leser auf den zeitgeschichdichen Hintergrund des Romans und seine Entstehungsgeschichte, auf das künstlerische Anliegen des Autors und auf das spezifische Verhältnis der Romanfigur, insbesondere der Gestalt des Höfgen, zur Realität deutlich hingewiesen. Dieses VorwOrt ist geeignet, auf die objektivierende Wirkung, die von der künstlerischen Darstellung im Roman ausgeht, aufmerksam zu machen und sie zu u nterstreichen. Es gibt in knapper, aber eindrucksvoller Formu l ierung dem Anliegen des Autors deutlicheren Ausdruck als ein umfassendes, die geschichtliche Wirklichkeit darstellendes Vorwort im Sinne der Ausführungen des Oberlandesgerichts. Die VeröHentlichung des Romans von einer umfassenden Auf klärung auch derjenigen Leserschicht abhängig zu machen, die trotz eines solchen
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Vorspruchs nicht bereit oder fähig ist. die vorhandene kunstspezifische Eigenstän digkeit des Romans anzuerkennen. würde die Verfassu ngsgarantie des A n . 5 Abs. 3 Satz 1 GG in unzu lässiger Weise einschränken. 6. Aus d iesen G ründen ist eine schwere Beeinträchtigung des Persön lichkeitsberei ches des verstorbenen Guslaf Gründgens nicht festzustellen. Infolgedessen l iegt auch kein eindeutiger Verstoß gegen Art. 1 Abs. t GG vor. Nur ein solcher Verstoß würde angesichts der vorbehaltlos gewähnen Kunsdreiheit die Feststel l u n g einer Verletzung der Menschenwürde rechtfertigen und zur Versagung der Berufung auf das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG führen. Danach verletzen die angegriffenen Uneile des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg vom 1 0 . März 1 966 und des Bundesgerichtshofs vom 20. März 1 96 8 das G rundrecht der Beschwerdeführerin aus A nikel S Abs. 3 Satz I GG. (gez . ) Dr. Stein
A bweichende Meinung der Richterin Rupp·v. Brünneck zu dem Beschluß des Er· sten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Februar 1 97 1 - 1 B v R 4 35/68 -. Der abweichenden Meinung des Richters Dr. Stein sch l ieße ich mich an und möchte nur kurz folgendes hervorheben und ergänzen: I. Die Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde beruht auf einer restrikt iven Auslegung der Prüfungszuständ igkeit des Bu ndesverfassungsgerichts, die einen Bruch mit der bisherigen Rechtsprechung bedeutet und zu sehr bedenklichen Konse q uenzen führen kann. Es ist nach allgemeiner Auffassung ein besonderes Verdienst dieser Rechtspre. chung, daß sie beginnend mit dem " Lüth·Urteil" (BVerfGE 7, 198 [20Sff., 2 1 4 ff . , 2 1 8 f.]) die Wirkungskraft d e r Gru ndrechte a u f a l len Rechtsgebieten du rchgesetzt hat, mit der Forderung, daß auch bei jeder Auslegung und Anwendung derjenigen Rechtsvorschriften, die die Beziehungen der Staatsbürger untereinander regeln, den mit den Grundrechten gesetzten objektiven Wertmaßstäben Rechnung getragen werden muß. Die sich daraus ergebende, sehr weit reichende Prüfungszuständ igkeit hat das Bundesverfassungsgericht dahin eingegrenzt, daß es sich nur die Prüfung der Beachtung oder Verletzung "spezifischen Verfassungsrechts" vorbehalten will, wäh rend die Gestaltung des Verfahrens, die Auslegung des einfachen Rechts, die Fest stellung des Tatbestandes und seine Subsumtion unter das einfache Recht den dafür allgemein zuständ igen Gerichten überlassen bleiben soll. Wie der Zusammenhang der viel zitierten Ausführungen dazu in der maßgebenden Entscheidung BVerfGE 1 8, 8 S [92] eindeutig zeigt, wendet sich das Bundesverfassungsgericht damit gegen eine " unbeschränkte rechtliche Nachprüfung von gerichtl ichen Entscheidu ngen um deswillen . . . , weil eine unrichtige Entscheidung möglicherweise Grundrechte des
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unterlegenen Teils b e r ü h r t " 1 . Das heißt, ein Urteil in einem zivil rechtlichen Eigen tumsstreit soll z. B . nicht auf falsche Beweiserhebung oder unrichtige Auslegung einzelner Tatbestandsmerkmale der angewandten Norm des bü rgerlichen Rechts hin überprüft werden, obwohl man sagen könnte. daß auch eine auf solchen Fehlern beruhende falsche Entscheidung im Ergebnu in das G rundrecht der unterlegenen Partei aus Art. 14 GG eingreift (vgl. auch BVerfGE 22, 93 [97ff]). Dagegen betrifft die Frage. ob die Einwirkung der G rund rechte auf das anzuwendende Recht allge mein und im Einzelfal l richtig beurteilt worden ist, selbstverständ lich spezifisches Verfassu ngsrecht. Eine Gerichtsentscheidung muß also nicht nur dann aufgehoben werden, wenn sie ein Grundrecht übersehen hat oder von einer grundsätzlich un richtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grund rechts ausgegangen ist. son dern auch dann. wenn das Gericht bei Zugrundelegung der grundsätzlich richtigen Anschauung im konkreten Fall niemals zu dem gefundenen Ergebnis hätte gelangen können. Weiter darf nicht außer acht gelassen werden, daß die erwähnten Prüfungsgrund sätze in erster Linie den Sinn haben, eine angemessene Funktionsteilung im Verhält nis des Bu ndesverfassungsgerichts zu den anderen Gerichten herzustellen und das Bundesverfassungsgericht vor einer untragbaren Belastung zu bewahren; jedoch hat bereits die genannte grundlegende Entscheidung betont, daß aus der oft schw ierigen Abgrenzung der Prüfungszuständ igkeit kein Dogma gemacht werden darf : " Freilich sind die G renzen der Eingriffsmögl ichkeiten des Bu ndesverfassungsge richts nicht immer allgemein klar abzustecken ; dem richterlichen Ermessen muß ein gewisser Spielraum bleiben, der die Berücksichtigung der besonderen Lage des Em zelfalls ermögl;ch," (BVerfGE 1 8 , 85 [93]). Für die Ausnutzung dieses Spielraums muß es unter anderem darauf ankommen, wieweit das betreffende G rund recht wesentliche Voraussetzungen der freiheitlichen E x i stenz und Betäti�un� des Einzelnen schützt. die da!t Essentiale des Menschenbil des der Verfassung und ihrer darauf ausgerichteten Staatsordnung ausmachen (vgl. BVerG E 7, 1 9 8 [208 ) ; 1 0, 1 1 8 [ 1 2 1 J; 1 0, 302 [322); 20, 1 62 [ 1 74 1. ) ; 27, 7 1 [81 I.». H ierzu gehön auch die Möglichkeit, die menschl iche Persönlichkeit im künstleri schen Schaffen frei zum Ausdruck zu bringen. Demgegenüber würde die der Senatsentscheidung zugrundeliegende Abstinenz letzten Endes darauf hinauslaufen. daß eine allein gegen die Art der Rechtsanwen dunI!; im Einzelfall gerichtete Verfassungsbeschwerde stets aussichtslos wäre, wenn das einschlägige G rundrecht nur beim Namen genannt und die hienu in der Recht sprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten G rundsätze in die Entschei dunI!; aufgenommen sind, gleichgültig, zu welchem Ergebnis das Gericht im Einzel fall kommt - die in der Senatsentscheidung konzedierte Prüfung auf Willkür hat keine Bedeutung. weil auf sachfremden Erwägungen beruhende Gerichtsentschei dun�en so gut wie nie vorkommen -. Hierin läge eine evidente Verkürzung des I
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bisherigen G rundrechtsschutzes: Bei solchen Prüfungsmaßstäben hätten weder das Lüth-Urtei l selbst (BVerfGE 7, 198 [207 fl., b.s. 2 1 2 fl.]) noch die Entscheidungen im Schmid-Spiegel-Fall. im Falle des Tonjägerverbandes oder zur Freiheit der Infor mation aus DDR-Zeitungen (vgl. BVerfGE 1 2 , 1 1 3 [ 1 26 fl . ] ; 24, 278 [281 H . ] ; 27, 1 04 [ 1 09 f.]) ergehe n können, um nur einige markante Beispiele für die zahlreichen Ent scheidungen z u nennen, in denen das Gericht unter Prüfung der konkreten Um stände des E inzelfalles einen G ru ndrechtsverstoß bejaht hat (vgl. etwa auch BVerfGE 16, 1 94 [ 1 98 H. ] ; 17, 108 [ 1 I 9 f. ] ; 20, 45 [49fl.] zum Grundsatz der Verhäh nismäßigkcit). 2. Die angefochtenen Urteile haben die Einwirkung des Grundrechts aus Art. S Abs. 3 GG auf den hier zu entscheidenden Interessenkonflikt nicht genügend be rücksichtigt. besonders indem sie, wie der Richter Dr. Stein näher dargelegt hat, ein K unstwerk in der Form eines Romans mit der Elle der Realität gemessen haben, wie wenn es sich um eine gewöhnliche kritische Äußerung über einen namentlich be zeichneten Dritten in Gesprächen. Briefen. Zeitungsartikeln oder einer Lebensbe schreibung handeln würde. Hierfür war offenbar wesentlich, daß die Gerichte. ob wohl sie nicht verkannt haben. daß Art. 5 Abs. J GG ein spezielles, nicht durch einen Gesetzesvorbehalt oder anderweitig beschränktes Grundrecht gewährt. sich den noch in W i rklichkeit an den in Art. 5 Abs. 2 GG gesetzten Schranken orientiert haben, die nur für die Freiheit der Meinungsäußerung und den sonstigen Schutzbe reich des An. 5 Abs. t G G , nicht aber für das Grundrecht aus Art. 5 Abs. J GG gelten (vgl. die vorstehende Senatsentscheidung unter C III 4). Dies ergibt sich für die Entscheidung des Bundesgerichtshofs sowohl aus dem Aufbau des Gedanken gangs wie aus der Einzelwürdigung. Die U rteilsgründe gehen bei der verfassungs rechtlichen Prüfung nicht unmittelbar von Art. 5 Abs. 3 GG aus. sondern stellen zunächst fest. daß sich die Romanfigur durch einzelne. negative Charakterzüge und Verhaltensweisen von Gründgens' wirklichem Lebensbild unterscheide und daß es sich hierbei u m schwerwiegende Entstellung handele, welche die in Art. 5 Abs. 2 GG gesetzten Schranken (Recht der persönlichen Ehre) überschritten. Erst hieran schließt sich die Erwägung, ob d ieser Verstoß gegen A rt . 5 Abs. 2 GG sich mit der Freiheit der Kunst nach Art. 5 Abs. J GG rechtfertigen lasse. Diese falsche Ausgangsposition erklärt es auch, daß nicht ein Gesamturteil über das Buch den Ausschlag für sein Verbot gegeben hat. sondern die Prüfung bestimm ter herausgegriffener. namentlich aus dem Zusammenhang der künstlerischen Kom position gelöster E i nzelpunkte auf ihren Wahrheitsgehalt. Dies führt zu dem seltsa men und widersprüchlichen Ergebnis. daß dem Autor einerseits der Vorwurf ge macht wird. er habe ZN wenig "verfremdet" - d . h . er habe seinen Romanhelden G ründgens zu ähnlich. also zu wirklichkeitsgetreu nachgebildet -, andererseits wird ihm vorgeworfen, er habe ZN stark "verfremdet" - nämlich seinen Helden mit er dichteten negativen Verhaltensweisen und Charakterzügen ausgestattet. die dem Le bensbild vo n Gründgens nicht entsprächen. Eine solche Bewertungsmethode tut nach meiner Auffassung dem Wesen eines Kunstwerks in der Form eines Romans
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Gewalt an und ist nicht vereinbar mit dem aus der vorbehaltlosen Gewährung der Kunstfreiheit in A rt . 5 Abs. 3 GG in erster Linie zu entnehmenden Gebot, daß dem Künstler für die Auswahl des zu bearbeitenden Stoffes und für dessen künstlerische Gestaltung keine Vorschriften gemacht werden d ürfen. Soll es denn bei einem in Anlehnung an eine Person der Zeitgeschichte geschriebenen zeitgeschichtlichen Ro man darauf ankommen, ob der Autor, der einen inneren Zusammenhang zwischen den sexuellen Neigungen und der politischen Labilität seines Romanhelden sieht, ihn d urch e i ne andere sexuelle A bartigkeit charakterisiert, als sie dem Vorbild allgemein zugeschrieben w u rde, und ob sich hieraus für die Gestaltung der Romanhandlung weitere A bweichungen von der historischen Wirklichkeit ergeben? Die genannte Prufungsmethode kann auch die ohnehin bei der rechtlichen Beur teilung von K unstwerken naheliegende Gefahr verstärken, daß die rechtliche Ent scheidung mit davon bestimmt wird, wieweit der Beurteiler die künstlerische Tran szendierung der aus der Wirklichkeit entnommenen Tatsachen und Erfahrungen als gelungen ansieht, mit anderen Worten, daß die subjektive, ästhetische Bewertung der Qualität des K unstwerks maßgebend mitspricht. Ich halte " M ephisto" nicht für einen g uten Roman - jedenfalls steht er nicht auf dem N iveau anderer Werke von Klaus M ann - ; aber hiervon darf die Anwendung des G rundrechtsschutzes auf den Roman, der nach einhelliger Ansicht als ein K unstwerk im Sinne des Art. 5 Abs. 3 GG anzusehen ist, nicht abhängen. 3 . Eine unmittelbar von Art. 5 Abs. 3 GG ausgehende Prüfung muß der vorbehalt losen. uneingeschränkten Gewährung des Grundrechts d urch die Verfassung ihr volles Gewicht lassen. Sie bedeutet im Vergleich zu den anderen Vorschriften des Art. 5 G G , daß der Verfassunggeber hier bewußt von einer Konfliktsregelung nach A rt des A rt . 5 A bs . I in Verbindung mit An. 5 Abs. 2 GG abgesehen hat, sei es, daß er i m H inblick auf das Wesen der in einer anderen Ebene w i rkenden Kunst die Möglichkeit eines Konflikts mit den in Art. 5 Abs. 2 G G geschützten Interessen grundsätzlich ausgeschlossen hat oder daß er in dubio der Freiheit der Kunst den Vorrang einräumen wollte. H ieraus ergibt sich zugleich, daß die Verfassung auch in d iesem Punkt grundsätzlich von der M ündigkeit der Bürger ausgeht, nämlich von i h rer Fähigkeit, ein Kunstwerk als ein aliud zu einer gewöhnlichen Meinungsäuße rung z u betrachten, d . h. einen Roman als eine Schöpfung der Phantasi e zu verstehen, die als solche niemand zu beleidigen vermag. Wenn dennoch aus den in der Senats entscheidung unter C 1 1 1 5 dargelegten G runden unter bestimmten Voraussetzungen eine Begrenzung des Grundrechts wegen des Schutzes der Menschenwürde in Art. I GG in Betracht kommt, so muß der Freiheit der Kunst gleichwohl mehr Raum verbleiben als bei Anwendung der Schranken des An. 5 Abs. 2 GG: Der im Interesse des Persönlichkeitsschutzes erfolgende Eingriff darf nur eine sehr eng zu begren zende A usnahme darstellen. Aus d iesem G runde sehe ich bei einem Werk der vorliegenden Art - einem in Anlehnung an Persönlichkeiten der Zeitgeschichte geschriebenen zeitgesch ichtlichen
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Roman - das entscheidende Kriterium für die Versagung oder Gewährung des G rund rechtsschutzes darin. ob der Roman bei einer Gesamtbetrachtung ganz über wiegend das Ziel verfolgt. bestimmte Personen zu beleidigen oder zu verleumden, ob die Kunstform des Romans zu d iesem Zweck mißbraucht wird oder ob das Werk nach den erkennbaren Motiven des Autors und nach objektiver Würdigung des I nhalts und der Darstellung einem anderen Anliegen dient. Bei einer solchen Bewer tung kann die Antwon nur zugunsten des Romans "Mephisto" ausfallen. Wenn auch die persönliche Abneigung des Autors gegen den ehemaligen Schwager und dessen politisches Verhalten nicht ohne Einfluß auf die Auswahl des Stoffes und seine Darstellung gewesen sein mögen, so steht doch im Vordergrund durchaus die Absicht, die innere Korrumpierung einer intellektuellen Oberschicht durch ein ebenso brutales wie ungeistiges Regime darzustellen, zu erklären und zugleich eine letzte verzweifelte Warnung an die noch ansprechbaren K reise im damal igen Deutschland und an das Ausland zu richten. I n diesem Zusammenhang erscheinen auch die von den angefochtenen U rteilen als so gravierend angesehenen einzelnen " Entstellungen", z. B . die Auslieferung der Negenänzerin an die Gestapo, in einem anderen Licht : Der Autor will zeigen, daß derjenige, der sich auf den Pakt mit einem solchen Regime einläßt, in ausweglose Zwangslagen geraten kann, die ihn am Ende zum Verrat auch starker menschlicher Bindungen treiben ; er hat damit typis ierend eine von vielen Zeitgenossen des nationalsozial istischen Regimes schmerzlich erfah rene Einsicht vorweggenommen - auch wenn das spätere Verhalten des Vorbildes der Romanfigur hiermit nicht getroffen sein mag. Das Gesamtanliegen des Romans ist auch für den heutigen Leser noch ersichtlich, besonders wenn man das Vorwort des Verlages einschließlich der Versicherung des Autors hinzunimmt, das mir übri gens gerade wegen seiner Küo.e und Prägnanz weit wirkungsvoller für die ge botene Distan7.ierung erscheint als die von den angefochtenen Uneilen verlangte ausführliche Darstellung des l.ehen .. bildes von G ründgens und der Entstehungo;vor aussetzungen des Buches, die der normale Romanleser im Zweifel " überspringen" würde. 4 . H i lfsweise ist noch folgendes zu bedenken : Auch wenn man entgegen der von Richter Dr. Stein und mir vertretenen Ansicht der Prüfung die in den angefochtenen U neilen angewandten Kriterien zugrunde legt, so müßte doch die Ausnahmesitua tion des Autors bei der Entstehung und ersten Veröffentlichung des Romans vol l berücksichtigt werden. E s i s t bekannt, d a ß Klaus Mann besonders schwer unter dem Emigrantenschicksal gelinen hat und daß er zugleich zu den sicher nicht zahlreichen Emigranten gehörte, die in bewundernswerter Weise ungeachtet aller Schw ierigkei ten und Anfeindungen ihre Krähe in den Dienst des geistigen Kampfes gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime gestel l t haben. Im Schmid-Spiegel - Fall (BVerfG E 12, t 1 3 [ t 29]) hat das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen, daß in einer Pressefehde auch eine starke Polemik gerechtfenigt ist, wenn sie der Art des gegnerischen Angriffs entspricht und einem berechtigten Interesse an der Einwir kung auf die öffentliche Meinungsbildung dient. I ch verweise hierzu auch auf die
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außerordentlich großzügige Rechtsprechung des Supreme Court l . der in bezug auf Personen und Gegenstände des Zeitgeschehens das allgemeine Interesse an der freien öffentlichen Diskussion grundsätzlich immer höher bewertet als die möglicherweise d urch eine falsche Information oder polemische Darstellung betroffenen persön l i c h e n I nteressen. solange n i c h t "actual malice" vorliegt. I m Falle d e s "Mephisto" Romans handelt es sich um weit mehr als um einen Meinungskampf im üblichen Rahmen. nämlich um den Widerstand gegen ein unmenschliches. rechts- und verfas sungswidriges Herrschaftssystem - ein Handeln. das jetzt im Grundgesetz ausdrück lich sanktioniert und durch ein grundrechtsgleiches Recht gesch ützt wird (vgl . Art. 2 0 Abs. 4 und Art 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Wenn ein Schriftsteller unter den damali gen Umständen d ie ihm allein zur Verfügung stehenden geistigen Waffen im Dienste der guten Sache einsetzte. wenn er h ierbei seinen Gedanken und Gefühlen nicht in einer politischen Streitschrift. sondern in der - vennutlich wirkungsvolleren - Form eines satirischen Romans Ausdruck gab und die Romanhandlung an eine weithin bekannte Person der Zeitgeschichte anlehnte. die wegen ihrer hervorgehobenen Stei lung als ku ltureller Repräsentant des bekämpften Regimes angesehen wurde. so rechtfertigte die gegebene Notstandssituation sein Vorgehen auch dann. wenn' er sich bei der Wahl der M ittel im einzelnen vergriffen haben sollte. Diese Abwägung behält auch ihre Wirkung für die erneute Verbffentl ichung des Romans in der Gegenwart. Mit dem zunehmenden zeitlichen A bstand von dem zeitgeschichtlichen Anlaß und den pol itischen Veränderungen könnte zwar der Schutz der betroffenen Persönlich keiten ein verhältnismäßig stärkeres Gewicht er halten. jedoch wird dies wieder aufgewogen d urch das Schwinden des Schutzbedürf nisses. da heute schon ein großer Teil der potentiellen Leser des Romans mit dem Namen und der Person von G ustaf G ründgens keine Vorstel lungen mehr verbindet. Insgesamt lassen die fortdauernde. nicht nur h istorische Bedeutung der Vorgänge der nationalso7.ial istischen Zeit und der über den konkreten Anlaß hinausreichende Teil der künstlerischen Aussage von Klaus Mann die privaten und al lgemeinen Interessen a n der Verc)ffe ntlichung des Romans auch heute noch sc.:hutzwürdiger erscheinen als die Abwehr einer möglichen, vergleichsweise geringen Beeinträchtigung des Anden kens an Gustaf G ründgens. (gez.) Rupp - v . Brünneck 3 C;\·set7.\·sauszüge zu BGHZ 50, Nr. 22 und BVerfGE 30. Nr. 1 6
A r t . I A b,. I G G (Schutz d e r Menschenwürde) Dir Würdr des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpfl ichtung aller staatlichen Gewalt. , \'.:1. he�, New Y"rk Tlme� ... . Sull'\';ln, 376 V.S. 254 ( 1 96" ) ; � . d;ll.u C;l§per, Redefreiheil und Ehren· \ChUll . Anmerkungen l U den G rundl�gen der nC'Ueren �merikaßlschen und deulschen Rechnprechung. I n I;jr h nhenrcihe der J u riSlischen Sludiengcsdlsch�h. Kulsruhc. 1 9 7 1 , Heft 1 04 .
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DER ' M EPHISTO · - FIt.LL
Art. 2 GG (Persönliche Freiheitsrechte) ( 1 ) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. I n d iese Rechte darf nur auf G rund eines G esetzes eingegriffen werden.
§ 823 B G B (Schadenersatzpflicht) ( 1 ) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben. den Körper. die Gesundheit, die Freiheit. das E igentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt. ist dem anderen zum Ersatze des daraus entstehenden Schadens ver pflichtet. (2) D ie gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem Inhalte des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die E rsatzpflicht nUr im Falle des Verschuldens ein.
Art. S GG (Recht der freien Meinungsäußerung) ( 1 ) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und B ild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus aUgemein zugänglichen Quellen u ngehindert zu un terrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung d u rch Rund funk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. (2) D iese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Ge setze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der J u gend und i n dem Recht der persönlichen Ehre. (3) Kunst und W issenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.
§ 1 004 BGB (Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch) ( 1 ) Wird das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthahung des Besitzes beeinträchtigt, so kann der Eigentümer von dem Störer die Beseiti gung der Beeinträchtigung verlangen. Sind weitere Beeinträchtigu ngen zu besor gen, so kann der Eigentümer auf Unterlassung klagen. (2) Der Anspruch ist ausgeschlossen, wenn der Eigentümer zur Duldung verpflich tet ist.
G ESETZESAUSZÜGE ZUM BGHZ UND BVerf G E
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§ 1 89 StGB • . F. (Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener) ( I ) Wer das Andenken eines Verstorbenen verunglimpft. wird mit Gefangnis Hs zu zwei J ahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Die Verfolgung tritt nur auf Antrag der Eltern. der Kinder. des Ehcgattel'1 <>-der der G eschwister des Verstorbenen ein. § 1 89 StGB n. F. (Verunglimpfung des A ndenkens Verstorbener) Wer das A ndenken eines Verstorbenen verunglimpft. wird mit Freiheitsstrdc- bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. § 83 UrhG (Schutz gegen Entstellung) ( I ) Der ausübende Künstler hat das Recht, eine Entstellung oder eine andere J\eein· trächtigung seiner Darbietung zu verbieten. die geeignet ist. sein Ansehen oder seinen Ruf als ausübender Künstler zu gefährden. (2) Haben mehrere ausübende Künstler gemein5am eine Darbietung erbracht , so haben sie bei der Ausübung des Rechts aufeinander angemessene Rücksi.;ht zu nehmen. (3) Das Recht erlischt mit dem Tode des ausübenden Künstlers, jedoch erst fünf undzwanzig Jahre nach der Darbietung. wenn der ausübende Künstler V(1 r Ab lauf d ieser Frist verstorben ist; die Frisl ist nach § 69 zu berechnen. Nach dem Tode des ausübenden Künstlers steht das Recht seinen Angehörigen ( § 60 A bs. 3)
§ 22 Ku nstUrhG ( Rechl am eigenen B i lde) Bildnisse dürfen nur mit Einwill igung des Abgebildeten verbreitet oder (;ffent· lieh zur Schau gestellt werden. Die Einwilligung gilt im Zweifel als erteilt. 'Nenn der A bgebildete dafür. daß er sich abbilden l ieß. eine Entlohnung erhielt. Nach dem Tode des A bgebildeten bedarf es bis zum Ablaufe von zehn Jahrerl der Einwilligung der Angehörigen des Abgebildeten. Angehörige im Sinne dieses Gesetzes sind der überlebende Ehegatte und die Kinder des Abge bildeten . und wenn weder ein Ehegatte noch Kinder vorhanden sind, die Eltern des A bgebi l· deten.
I I I 1 PAUL VALERY
LE CIMETI�RE MARIN"
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PINDARE, Pylbiq"�J. I I I . C e toil tranquille, o u marchent dn colombt'S, EntrC' les pins palpit�. entre les tombes; Midi le juste y compose de feux La mer, la mer, toujours recomm�nced o rCcompense apres une pensee Qu'un long regard sur le calme des dieux ! Qud pur travail de fins eclairs consume Maint diamant d'imperceptible ecume, Et quelle paix semble se concevoir! Quand sur I'abime un soleil se repose, Ouvrages purs d'une etemelle cause, Le Temps scintille et le Songe est savoir. Stabil.' tresor, temple simple ä Minerve, Masse de calme, et visible rCserve, Eau sourcilleuse, CEil qui garnes en toi Tant de sommeil sous un voile de flamme, o mon silence! . . . F.difice dans l'imr. Mais comble d'or aux mille tuiles, Toi t ! Temple du Temps, qu'un seul soupir rCsume, A ce point pur je monte el m'accoutume. TOUI entourC de mon regard marin; EI comme aux dieux mon offrande supreme". La scinlillation sereine snne Sur I'altitude" un dCdain souverain. Comme I ... fruit se fond en jouissance, Comme" en d ... lice i l change son absence Dans une bouche DU sa forme se meun. J e" hume" ici ma future fumh. Et Ie" cid chante i )'ime consumee Le changnnent des rives en rumeur. Beau eid. vrai eid, regarde-moi q ui change ! Apres tant d'orgueil. apres tant d'clrange Oisive"te, mais pleine de pouvoir, J e" m'abandonne ä ce brillant espace, Sur les maisons des mons mon ombre passe Qui m'apprivoise i son freie mouvoir.
I n P.
Valcry. CE"'fIr�I I , hg. 1- Hyticr. Paris 1 957, S . 1 04 7- 1 5 1 .
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PAUL VALERY, LE C I M ETIERE MA1IN L'ime exposee aUK lorches du solstice. Je te souliens, admirable juslicc Oe la (urniere aux annei uns pitie! Je te rcnds pure i ta placc premiere: Regarde-toi! . . . Mais rcndre la [urniere Suppost' d'ombre une morne moitie.
o pour moi seul • .1. moi seut, CR moi-memc, Aupres d'un ca:ur, aux sources du poeme. Enue le vide CI ['evenement pur, J'auend! ['echo de ma grandeur interne. Amere, sombre CI sonore eiterne, Sonnan! dans ['irRe un crcux loujours futur! Sa.is-tu. fausse captive des feuillages. Golfe mangel.lf de ces maigrcs grillagc5, Sur mes yeux elos. secren eblouissanu, Qud corps me uaine i Ja fin parcsseuse, Ql.lel front l'attire a ceue lerre Oiseuse? Une elincelJe y pense i mes ahsents. Fermi, sacre, plein d'un leu sans matiere, Fragment tcrreSlrc oHen ä la lumiere. Ce lieu me plait, domini de f1ambeaux. Composi d'or. de pierre e'I d'arbres sombres. DU. tant de marbre est tremblant sur tant d'ombres; La mer fidele y don sur mes tombeaux! Chienne splendide. icane J'idolätre! Quand solitaire au sourire de pitre, Je pais longternps, moutons mystirieux. Le blanc troupeau de mes tranquilles tombes. I!loignes-en Jes prude.nes colombes, !.es songes vains, les anges curieux! Ici venu, l'avenir est paresse. L 'inse<:te net gratte Ja sichereue; Tout est brllli, debit, r�u dans ('air A je ne sais quelle severe essence . . La vie est Vaste. etant ivre d'absence, EI J'amenume eSI douce. et I'esprit clair. Les mons cachis sonl bien dans ceue terre Qui In richauHe e'I seche leur myslcre. Midi li-haut, Midi sans mouvemenl En soi se prnse et convient i soi-meme . . nte complete et parfait diademe, Je suis en toi le secrel changement. Tu n'as que moi pour conlenir tes craintes! Mes repentirs. mn doutes. mes contraintes Sont Je difaut de ton grand diamant . . Mais dans leur nuit loute lourde de marbres, Un peuple vague aux racines des arbres A pris dijä ton pani lenlernenl.
PAUL VALERY. L E C I M ETIERE MARIN
IIs Ont fondu dans une absence epaisse. L'argile rouge a bu la blanche espece. Le don de vivre a passe dans les neurs! OÜ sont des mons les phrases familicres. L'an personnel, les imes singulihes? La larve file ou se fonnaient des pleurs. Les cris aigus des filles chatouillees. Les yeux. les dents, les paupicres mouillees. Le sein channant qui joue avec le feu. Le sang qui brille aux Ihres qui se rendent, Les demiers dons. les doigts qui les defendmt, Toul va sous urre eI renne dans le jeu! EI vous, grande ime. esperez-vous un songe Qui n'aura plus ces couleurs de mensonge Qu'aux yetlx de chair I'onde el l'or fonl ici? Chanlerez-vous quand serez vapoRusd AUez! Toul fuit! Ma presence esl pORuse. La sainle impalience meun aussi! Maigre immonalile noire el doree. Consolalrice aHreusemenl lauree. Qui de la mon fais un sein malernd. Le beau mensonge et Ja pieuse Nse! Qui ne connait. el qui ne les rduse. Ce crine vidr el ce rire eternel! Pcres profonds. letn inhabitres. Qui sous le poids de lant de pellelen, tles la lerre el confondez nos pas, Lr vrai rongeur, le vrr irrifulable N'est poinl pour vous qui donnez sous la lable. 11 vit de vie, i l ne me quitte pas ! Amour, peut-elR, ou dr moi-meme haine? Sa denl secrele eSI de moi si prochaine Qur IOUS les noms lui peuvrnl convenir! Qu',mpone! 11 voil, il veUl, il songe, il tauche! Ma chair lui plail, el jusque sur m:l couche. A ce vivant je vis d'appanenir! Zenon! Crud Zenon! Zcnon d ' �lce! M'as-Iu perce de celle f1echr ailee Qui vibrr, vole, el qui ne vole pas! Le son m'enfanle el la flcchr me lue! A h ! le soleil . . . QueUe ombre dr lonur Pour I'ime. Achille immobile a grands pas! Non, non! . . . Deboul! Dans l'cre successive! Brisex. mon corps, cellr fonnr pensive! Buvez, mon sein, la naissance du vrnl! Une fraicheur, de la mer rxhalee. Me rrnd mon ime . . . 0 puissance saler! Courons a l'onde en rejaillir vivanl !
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Ü BERTRAGUNG VON ERNST ROBERT CURTI US O u i ! Grande meT d e dclif(�S douce. Peau de pantherc CI chlamydc trou« Oe mille CI mille idoles du soleil. H ydrc absoluc, ivrc de ta chair bleue, Qui I C rcmords )'ctincclante qucuc Dans UD tumulte au silencc pareil. Lc venl sc Ihc ! . . . 11 laut lemer de vivre! l'air immense ouvrc CI refcrmc mon livre, La vague CD poudre ose jaillir des rocs! Envoln-vous. pages tout iblouics! Rompcz, vagucs! Rompc7. d'caux rcjouies Ce loil uanquille DU picoraicDt des foes !
I I I 2 übertragung von E. R. C U RTIUS
F R I EDHOF A M MEER" Dies stille Dach. auf dem die Taubc schreitet, Ist zwischen Pinien und Gräbern ausgcsprcitcl. M iuag. der strenge, kocht aus Fcuusglul Das Meer, das Meer in stetem Ncubcginncn! o Lohn des Geisles, wenn nach manchem Sinnen Der Blick auf Gönemille lange ruht. Wie emsig rein die Suahlen hier zerglühen Des unfaßbaren Schaums demantnes Sprühen, Wie scheinl der Friede hier dem Geist bereit! Wenn Sonne überm Abgrund ausgegossen - 0 reine Werke ewigem Grund enuprossen -, W i rd Traum zu Wissen, funkelnd schwebt die Zeil. Minervas schlichler Tempel, fesle Truhe, Sichtbares Schatzhaus, dichter Hort der Ruhe. Kräuslung des Wassers, Auge immer wach, Soviel des Schlafs auch unlerm Schleier schwele. o d u mein Schweigen! Bauwerk in der Seele Und goldner First aus tausend Ziegeln, Dac h ! Tempel der Zeit, du Beute eines Hauches. Den reinen Punkl erklimm' ich neuen Brauches. Ganz eingehüllt in meinen Meeresblick. Und wie wenn Gönern ich die Gabe brächte. Steigt aus dem Funkeln heitrer Meeresprächle Mein königlicher Hohn auf das Geschick . .. in E . R. Curtius. Fr,,,,zö,;,,her Ge;" ,m zU·"I'J%'gstrl'Jj.hrh,,,,Jrn, �Bern/Munchen 1 960, S. )9)-)97.
Ü B E RTRAGUNG VON E RNST ROBERT CURTIUS Wie Fruchle schmd... en. wenn sie uns berauschen ; Wie sie ihr Nichtmehrsein in Wonne tauschen I n einem Munde. "·0 t.!ie Form erstirbt. So alm' ich hier mein künftiges Verweh e n ; D e r H i m m e l singl der Seele im Vergehen Den Sang der Wandlung, die den Strand zennürbt. Du wahrer Himmel ! sieh mich den vergänglichen! Nach so viel Hochmut. nach so überschwenglichem Und doch so machlcrfülltem Müßiggang Geb' ich mich hin den glanzerfülhen Weilen, Seh' über Graber meinen Schallen gleiten. Der mich bezähml mil seinem spröden Zwang. Und ob der Sonne Fackelbrand m i r sehre Die Seele. tragen will ich dich. du hehre Gerechligkeit aus mitleidlosem licht ! Ich geb' dich rein zurück dem Ursprungsorte. Betrachle dich! . . . Jedoch dem licht antworte Ich nur dank truben Schallens Sieuerpflicht. o für mich selbst. in mir. ohne Gesellen Bei meinem Herzen, an der Dichlung Quellen, Zwischen t.!er leere und des Werdens Drang Harr' ich des Echos meiner innern Prächle. I h r billern, finstern, widerhallenden Schächte Gebt in der Seele ewig hohlen Klang!
Kennsl du. im Laubwerk scheinbar eingefangen. Gefräßiger Golf an des Geheges Slangen, I n meiner Augen rätselvollem Schein Den Leib, der mich hinschleppt zum trägen Ende. Die Stirn. die mich 7.um erdigen Beinhaus wende-? Ein Funke drin get.!enkt der Toten mein. Um7.irkl. geweiht. siofflosem Feuer verwoben. Ein Erdenstuck zum Licht emporgehoben. Gefälh mir dieser On, den Flamme traf, Gefügl aus Gold, aus Slein und dunklen Bäumen, Wo soviel Marmor bebl auf soviel Traumen ; Das treue Meer hält über Gräbern Schlaf. Gleißende Hündin. scheuch den GOllverirnen! Wenn einsam mit dem L.ächeln wie des H i nen Ich lange meine Lämmer führ' zur Trift, Die seltsamen. der Gräber weiße Herde. Daß nichl der Tauben Sch"·ann hier sichlbar werde. Der Eng e l Fürwit7. eiller Träume G i f t ! H i e r ",ngelangt. w i r t.! alle Zukunft träge. I m durrrn Erdreich "'·eI7.t des Käfers Säge. Vrrbrannt. 7ersmben. hin iSl, was d a w a r ; Luft s o g es a u f in allerfeinstrn Stoffrn, Leben Wird ",Ieil. vom Rausch des Nichts betroffen. Und Billernis ""ird suß unt.l Geist "'ird klar.
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ÜBERTRAGUNG VON ERNST ROBERT CURTIUS Die TOlen ruhn 50 wohl in diesem Grunde; Er wännl sie an und trocknet ihre Wunde. Mittag dort oben. Mittag unb�C'gl Denkt sich in sich und wird sich sdbst 7.um Lohne. Vollkommnc5 Haupt und makellose' Krone, I n dir bin ich Geheimnis. das sich fegt! Nur ich bin da, um deine Furcht zu fassen! Mein Müsscn, meine Rcu, mein Untcrlassen Ist Makel deinem großen Diamant. Aber in ihrer Nacht mannornCf Schwefe An Baumcswurzdn namenlose' Hure Haben gemach dein Recht schon anerkannt. Sie schmolzen hin in dichtcm Nichlrnehrscin. Dcr rOlt' Ton trank auf den weißen Schein. Dcs lebens Gabe ward der Blumen Sol d ! W o sind d e r TOlcn ahvenraulc Sätze, Erlcsnc Seelen, scllnc Künstlcrschälzc? Die Larve spinnt, wo sonsl die Träne rolli. DC'r MädchC'n grcllC'r SchrC'i beim Griff dC'r G l iC'dC'r, DiC' AugC'n, ZähnC', diC' benetztm Lider. DC's BusC'ns Reiz, dC'r gC'rn die Glut enrug. Die Lippen. die zu Lippen gern sich kC'hren. Die letzte Gih. die FingC'r. diC' sie wehrC'n. Zur Grube fährt es nach dC's Spirles Fug. Und du. 0 große Seele. kannst du hoffen Auf einrn Traum, dC'r nicht aus LügC'nstoffC'n. Die Gold und Woge irdischen SinnC'n braut ? Wirst du noch singC'n, wrnn sir dir zerrannen? Mrin DasC'in bröckelt. Allrs flirht! Von dannrn! Es stirbt des heiligrn Eifers letztrr Laut! UnsterblichkC'it. düstC'rgrschmückte, kargC'. Du TröstC'rin. lorbeC'rumranktC'. argC', Dir uns den Tod zum Multrf5choßC' mach t ; Die frommrn Listen und d i C' anigen LügC'n, Wer kennt siC' nicht und wer läßt sich betrügen, Wo 1C'C'rm Schädels C'wige FratzC' lacht? Ihr unbewohnten Häupter, tirfe Ahnen. Die Erde wurden und die uns grmahnen: So vieler Schaufeln Wurf euch ward Gewicht. Drr wahre Wurm, der unrrbiltlichr Nager, Ist nicht bri ruch in eurrm dunkeln Lager. Er Irbl von Lehen. und er läßt mich nicht! I st's LiC'br, ist C's Haß. was ich hier wähnr? So tief zuinnrf5t nagC'n srinr Zähne, Daß jC'drr Name ihm grhorig ist. Was tut's? Er sieht, er will, er denkl, er rührrl, Mein Fleisch gefällt ihm. und mein Leben spürC'1 Noch auf dem LagC'r, wiC' er an mir frißt.
Ü B E RTRAGUNG VON R A I N F. R MARIA R I L K E Zenun ! Grausamer Zenu n ! Eleate! Dun:hbohrst du mieh mit dieses Pfeiles Grate, Der zittert. fliegt und doch nicht fliegen kann! M ich zeugt der Ton, mich tötet diese' Spin:e! Sonne ! Schildkrötenschatten meinem Witze. Achille� unbeweglich schreitet OIn! Nein, nein! . . . Steh auf! Tritt in der Zeiten Dauer! Zerbrich, mein leib. d ieser Gedanken Mauer! Trink, meine Brust, des neuen Windes Wehn! Aus Meerestiefe dünsten frische Säfte. Schenken die Seele wieder . . . Salzige Kräfte! I n s Wogennaß tauch ein, neu zu entehn ! J a ! Großes Meer, trächtig m i t W a h n u n d Rausche. Du POIntherfell! Chlamys, i n deren Bausche Sich tausendfältig spiegelt Sonnenreich. Hydra. von deinem blauen Fleische trunken, Pu schlägst den Zahn in deines Schweifes Funken In einem Tosen, das dem Schweigen gleich. Jetzt heißt es lebe n ! . . . Wind erhebt sein Brausen! Mein Buch weht auf und zu im luftigen Sausen. Der Wogenstaub sprüht aus der Felsenwand. So fliegt denn hin. ihr überglänzten Seiten, Flut, brande! Brich mit Wasscr-Scligkeiten Dies stille DOlch, der Segel UnterstAnd.
1 1 1 3 Obenragung von RAINF.R MARIA RIl.KE
D E R f R I F. DH O F AM M EE R � Pies stille Dach. auf dem sich Tauben finden, ,cheint Grab und Pinie �chwingend 7U verbinden. Gerechter Mittag überflammt es nun. Pas Meer, dils Meer. ein immer neues Schenken! 0, die Belohnung, nach dem langen Denken ein langes Hinschaun auf der Götter Ruhn! Wenn Diamanten aus den Schiumen tauchen. wie rein die feinen Blit7.e sie \·erbrauchen. ein Friede, scheint.!;. besinnt sich �emer Kraft ! StUl7t sich die Sonne auf des Abgrunds Schwingung. al� reines Werk der ewigen Bedingung wird Zeit zum Glanz und Traum zur Wiuen�chaft .
., in
R. M. R . l k e . Uberrr.lgungrn. hgg E. Z i n n/K. Wais, Frankfurt 1 9 7�. S. 247-2 '; 1 .
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ÜBERTRAGUNG VON RAIN ER MARIA RI LICE SlcligcrSchal7., Mincrvcns Tcmpdhüllc. Vorrat der Ruh und alks Schaums Fülle, hochmütiges Wasscr, Aug, das flammend wach. bedenkt, wie cs 50 großen Schlaf verhehle, o meine Stille! . . . Bau in meiner Seele. doch First aus Gold mil lauscnd Zicgeln. Dach! Tempel der Zeit. im Seufzen gleich versöhnter. zur reinen Anhöh Sleig ich schon gewöhnter, um mich mein Meerblick. welcher alles tränkt. und w ie ich oben nun den Göttern spende. iSI mir. als ob der Schimmer rings verschwende ein Oberheben. völlig unumschränkt. So wie die Frucht sich auflöst im Genusse, Abwesenheit Entzücken wird zum Schlusse in einem Mund. drin ihre Form verschwand. 50 alm' ich hier von meinem Zukunftsrauche, der Himmcl singl der Seele im Verbrauche von den Geräuschen beim venauschten Land . Sieh. schöner wahrer Himmel. mich verwandelt. nach 50 viel Hoffan. 50 viel ungehandeb Verlorenem. das doch voll Mächte war. hab ich mich diesem Lichtraum angeboten. mein Schalten geht über das Haus der Toten, sein zanes Wandeln zähmt mich sonderbar. Die Seele, Sonnwendfackeln preisgegeben. hab ich dich aus mit meinem ganzen Leben. Gericht des Lichts, das keine Gnade kennt ! Und du kommst rein an deine erste Stel le! o Eintagsspiegel! . . . Doch wer schenkte Helle. der sie als HäUte nicht vom Schallen trennt ! Für mich. bei mir nur. in mich eingerichtet, an einem Her7.en. das mich doch gedichtct. 7wischen dem Nichts und dem, was rein geschicht. wan ich. ob innre Größe widerhalle. Zisterne. finstfC, billre -. draus vor alle, nie eingeholt, ein Ton des Hohlen zieht! Weißt du, des Blallwerks falsche Kerkerschwelle, gieriger Golf der klappernden Gestelle. wenn ich die Augen schließe. glan7.vol l blind. was für ein Leib mich zieht ins träge Ende. 7.U welcher Stirn ich mich nach abwärts wend e ? Ein Funken d r i n denkt d i e . die nicht m e h r sind. Geheiligt. 7.U, voll Feuer rein von Stoffen. ein Erdenstück erstauntem Lichte offen. wie mir. 50 flammend. dieser On gefällt -. aus Baum und Gold und Marmor sich verwe�nd. und 50 viel Stein auf so viel Schallen bebend. das Meer schläft treu auf meiner Gräberwelt.
Ü B E RTRAGUNG VON RAINER MARIA RILKE Hündin a u s Glanz, verjill g m i r d e n Beirru:n! siehst du mich so. mit Mildigkeit des Hinen, bei meinen Lämmern stehn, wie eingepflockt; liII 6 mich iII n meine Herde Gräber glill u ben, hill i t von ihr ferne die zu klugen Till u ben, die Grübelei'n, die Engel. die es lockt! Kommt sie hierher, so wird die Zukunft träge. Der hill ne Käfer ist des Trocknen Säge; ill i les ist iII u fgebrill n nt, verzehn -. geht ein in irgend wie gestrengere Essenzen . . Der Rill u sch des Nicht-Seins sprengt des Lebens Grenzen, und Binernis ist süß, und Geist ist rein. Die Toten hillbens gut in diesen Brocken. sie werden will rm und ihr Geheimnis trocken. Mittill g don oben. Mittillg ohne Schwung, denkt in sich selbst und ist sich selbst zum Lohne . . Hill u pt ohne Rest und gill nz geschlossne Krone. ich bin in dir die Spur Veränderung. Du hills t nur mich. die Ängste zu enthill h en, den ZWill ng. den Zweifel -, ill l le die Gewill hen sind wie ein Fleck in deines Demants Wen! . . . Doch unterm Mill rm or. finster überlistet, hu sich ein Volk, dillS um die Wurzeln nistet, iII l 1mählich Iill ngsam schon zu dir bekehn. Sie sind zergill ngen in des Nicht-Seins Dichte. Die rote Erde trill n k du Andre. Lichte, du Leben weiß. dillß es in Blumen soll! Wo sind die Wone, die den Toten fehlen, wo ihre Künste, die besondren Seelen? Die Larve spinnt. wo einst die Träne quoll. Der Mädchen Schrei und Kiuhgsein der G lieder. die Au!:en. Zähne. feuchte Augenlider. die süße Brust. die glüht und sich erfrischt. du Blut. dill S glänzt in Lippen. die sich geben, und Finger. die sich vor das Letzte heben, hinab mit ill l lem und ins Spiel gemischt! Großartige Sn:le, hoffst du noch. dir füge sich eines. das nicht Fill rben dieser Luge besäße, die hier Gold und Woge leihn? Wirst du noch singen, an die Luft verloren? Geh, alles flieht! Mein Dasein ist voll Poren, und auch die heilige Ungedu l d gC'ht cin! SchwillT z - goldnes Zerrbild der Unsterblichkeiten, mill g uns die schnöde Trösterin bereiten den Tod zum Munerschooße unsres Sinns, o schone Lüge, listig frommes Steigern! WC'r kC'nnt siC' nicht und muß sie nicht vC'I'WC'igC'rn. den Schadel und sein " ...·iges Gegrins?
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Ü B E RTRAGU N G VON
RAINF.R MARIA RILKE
Die tiefen Väter, Köpfe ohne Gäste, die das Gewicht von so viel Schaufeln preßte. nur wie auf Staub wirkt uoser Schritt auf sie. der W u rm , dem keiner widerspricht. der Nager, ist nicht für C'uch und euer Grab und Lager. er leht vom Leben, cr verläßt mich nie! Die Liche zu mir selber - oder Hauen? Ihr Zahn greift tief und weiß 50 nah 1.U fancn. daß ihm kein Name wirklich widerstrebt ! Diesem Gefühl -: es sieht. es "'i l l , C's nimmt m i c h ! Ihm schmeckt mein Fleisch, und selbst mein B e l l bC'stimmt m i c h lebend ig ihm. d;as i m m e r v o n m i r Icht! Grausamer Zeno, ZC'no, deine Worte! Ob mich :lm Ende jener Pfeil d u rchbohrte. der schwirrt und fliegt und doch nicht fliegt zulet7t? Der Ton gebien -, der pfeil w i l l mich btostatten� Ach. Sonne, ach ! Und da . . . Schildkrötenschatten. Achilleus. unbeweglich und geheut ! Ncin. nein! . . . Auf, auf! I n s großc Nachcinand ... r ! . . Nicht dcnkcn, leib, - ergieb dich dem Gewander. Irink. mcinc Brust, dcn Wind, der aus sich dringt! Das weht vom Mccr. und in dem Wehn enthal tcn ist meine Seele . . . Salzigc Gcwalten! . . Zur Wcllc h i n . aus der man lebend springt! Ja. Mccr! d u großes. dein ist alles Wütcn, du Pantherfell. d u Mantd. drin dic Mythcn der Sonne flimmcrn. tausendc viellcicht -. von Bläuc trunknc, unbeschränkte Schlange. die sucht. wie sic ihr eignes G leißen fange in cincm A u fruhr. dcr der Ruhe gleicht. Dcr Wind crhebt sich! l.chc n ; ich versuch e\! Riesige luft im Blättern mcincs Buches. und Wasscr. dort zu Staub zersplittcn siehs! Ihr Seiten flicgt bcglänzt aus mcincm Sehooße. und Woge, du! mit frohcm Wcllcnstoßc.
ll,1\ Dach unter dem K l uversehwarm -. 7.crbrichs!
SAC H R E G I STE R
..\bw.i g u n l: I 58 ff .. I ft9. 1 72 f. AJ.lpulI ..n 78 .:X�1he1ik 25. 1 9 f . . 65. 68. 1 1 1 I .. 1 8Hf.. l B6 ff .•
1 9 0 1 . . 200 1 . . 1 1 9 1 . . 122. 2 5 2 . 256. 265. 27" ' . • 2RO. 2f1J. 29 1 . J07 . .. 6 0 . .. 6 8 f . . .. 7 1 . 5 8 2 . 5 8 5 A H h C1 i \ ie r u n g 78
.Ili1hell�h,· Erfahrung J I . J 3 1 . 3 " 2 . 35". -480. 5 5 1 - F u n k u on 47". 5 4 1 - RefleJion 2H". 30J. J07, J09 RO:7eplion�ä�1hetik 462. 577 A'�1h ... ,i� ( � . u . Rezeplion; änh ... usche Wahrneh munR) 254. 268. 270, J07, J I J, 346. 35J, 4 7 4 1 . , "80, 575 Ak1uali1a1 (Ak1uali Sierunl:l 45. 47. 286, 47J A l lego r i e 28. 80. 256, J49 ff., 358. "63. 56 1 A l l eg o r ese 2 5 1 . 348. 358. "67. 475, 567. 570
i\ lteri1ä1 Andt'r�hc:u (Frtm,th"" 1) 27f . • 70, 97. 468 f . • 478 d ... r A n .l er t' 46ft. "79. "99, 51 H , 528 An ei g nun g J 1 1 . 505 Ans.:hauung 256. 352, 354 A n t h rupolog,o: 1 8 . 20. 26, 28, 46. 5 1 . 57, 66 f . , 73,
8�i.. 95. 1 02 . 1 2 1 , 1 3 8 ff . , 1 4 3 1 . . 2 9 1 f .
.1nukl\ler,·n 29J H . • 299
Anlwun ( � . u. I'r.l g... und A nl.,on) Appl i k at i un ( A n �'c:ndunK) 2 0 f . • JO. 53. 5 7 . 66, 69 1 . . 4 3 1 f . . .. 40 1l . . .... 7 I f . . 5 5 1 . 585 iLJri�mche - 39 1 . 409 f .. 4 J 7 f f . . .. 5 1 lueurJ\ch ... - JO. 250. 2 5 2 . 280. 2 8 2 . J05. JJ9. 429ff . • "32, 4 .. o f f .• 4 .. 4 H . • 4 " 8 1 . . 460 1 . . 4 7 J f.. 4 7<1 f . . 548, 5771. l h .·olugl'lc: h.· - 20 1 . , 5 .. . 57. 101 f . . 1 07 1 . , 265, .\'1 1 . 4 1 4 1 . , 439, 4 5 0 1 ( . l\rb .. n 22 . 2' H . • J2, 5 1 . 77, 1 02 Au"lugie 1 8 1. , 28. 74 f . , 115 A u l kl.irung 1 1 1 . I I J I . . 5M6
( \ . u . I n lc:rprelaUon) "u�'.IKe (.Ipophan'l\) 265. 275. 277, 3 0 1 . 475, 500,
A u ,lcl:ung
551 ..\ m o r 9 8 , J 2 3 f t. . 32M. HK
A U lUrll.i1 15. 2 7 . 2 .. :l 1 . . 2 76
Code 586 C redo ( lk kennln i � 1 4 1 9 f . • 424 ff., "52 Deulung (s. u . I nlerpre'l.ll l on ) Di aleklik 2 1 , 2 5 7 D i a l o g ( D i alogi 7. i m ) 97. 1 00 . 1 0 J , 2 & 6 , 3 1 1 , 4113 • "92. "97, 502 1 . . �C7. 509. 5 4 0 1 . . 5 8 1
Diskurs 1 99 ff . , 5JC, 5"0 Dilemma 1 00. 1 02 Dogma1ik (5. u. Henneneutik. no rm ati v ) 16, 1 20, JJ8, 390 fl., 4 1 8 If.
Dunkelheil (obscurim) 265, 29J, J48, 576 Emanzipation 20, �4. 57. 59, 6 1 . 78, 95, 269. 55 1 Epist('l11 e 96 Erinnerung (auc h : Rem i ni� z en 7. l 3 1 9 , 562, 564 Erklärung 521 H. Erlebnis 5 1 6. 526 Erwanung ( Erwa"ung�hurizonl) 25. 79, 473. 4 76 Erzählung 2 5 . 4 ... 75. 1 1 4 1 . • 250. 376. J 8 6 H .• J90 f., 435 11 .. .. 5211.
EschalOlogie 76 f . • 1 1 6 . J 5 7 1. , 464, 562 1. Exegese (s. u . Inl("rprC1aliun) F.l1I 1 6 f. , 60. 7 1 , 1 22. 3J4. 376 R«hlsfall J 7 1 1 . . ..4 . 7 1 . 1 22 . J74, J 7 8 1 . . 38 1 11 . • J87. 395. "09 f igu ra l ( s. u . Typol.lgle) Fiklion 4"' . • 56. 220 f . • 250, 4 1 5 . .... S H. , 5 1 7, 5 5 1 , 567, 573. 584 Fonn 2 8 1 . 294, 34 1
Fuge und An1l•...,n 53, 74. 79. 9 1 . 94 1 . • 97 1 . . 4 7 6 f f . . 479, 5 8 I ff . - i u ri�li5c-h 1 "9 ff . . 1 6 1 , 199, 222. 2J". 24 1 . 409 - li lt'rari ��·h 1 8, 2 5 ff . . 3J. 7", 2 1 7. "4611., 4 7 1 , 478, 5 5 1 ff.. 556 ff. - philo�ophl�ch JO . 971., 1 1 1 . 1 1 7, J92, "67 fl.. 5CO, 5 5 1 1 . , 5 8 I ff.
- tht·ulogi'\{"h 1 8, 2 5 f f , JO, 33, 1 0 1 , 1 05. I 'l9. 4 I J ff .. 450. "68 H . . 55 1 ff . Freiheil l 3 2 f .. I " 1 ff .. I " 4 1 .
- d t' r 1 65 ff . .
R.·d ... ulung 34 . .. 8. 4 8 7
�h·hrd,·u1Igkc-u 2 1 , 90 . 249. 2 5 5 , 2 75. 3 4 5 1 . . 4HO Ro:,,·hrc-lbung " J II: f f . . 4 7 K r hc-mpd ; C'lIC'mpl.ui '\{" h l 1 0 5 . 2 J 7 11. . .. ::: 3 11 . . .. 06 1 . • 529. 55 .. . 5 6 1 B i l J u n g 3�. " 2 9 1 f . . " " 5 f f . Bnc-" I.lgc: 3 1 1 Su.·hmC'l.lpher 356 S eu p ,d
K u n M I H , 1 4 4 f f . • 1 5 2 f t . • 1 58 H . , 1 6 1 f f . , 1 7 I ff . . l 79 ff . . I S2 ff . , 1 8S f f , 1 9 1 1f. .
I 99 H. , 2 2 5 1 .. 229 f . - d e r Mei nung 1 3 4 1 . . 1 4 .. ff . . 1 6 7 ff . • 1 71 . 1 8 0 , 1 8 8 f . • 1 9 J f. , I 99 I1.
G au ung 2 5 GenuH 3 06 . " 7 5 GC'tChichle 1 9. 30 . ..... S7 f . , &4 1 . • 87. 911. 1 0 1 off . , 1 1 2 . 1 1 .. . 1 1 6 . 1 1 9 . 272. 306, 4"Off..
511C, 587
SACHREG I ST E R
648 G�schi(hdi(hk�1I 487, 502, 525, 579, 583 Gcsc hichlsphilmnphio: 30, 77, 11&, 95 f . • 1 1 2 Hcil�!:t'\CllII:hlc 5". )79ff . • "" l ff . . "51 f. • 4M Rc;r.epüon,,,cM:hichu: 1&, 19, 3 1 . 78 Gc�e17. 5 1 } . 522 GnosIs 20. 97 Han d lun,. (H.:mJd n . Th�"Uric Jn H . ) "8, lJ8. -4804, SOS. 5 1 6 ff . , 52 1 . 5l&. 5 1 7 f . , S.... HC'i l �gC'M: hi c h ll� ( s. u . G CK hi c hl C ) HC' rm cneul i k ,lIl g m1ci n : Teil V, ferner 1 5 . 1 02 , 1 20, 1 2 2 . }.fl, ..&O ff . . .. 76 . .. 711 . .. 'l. 522 . 5J2 f . . S"7. 5 8 1 T n ;ul c : VerSlC'hcn. Auslt'gcn. Anwendcn ( s . u . Vemehen. Inl('rpret�tiun. Applik,lItion) 1 4 9 f f. • 4 8 C f f. • S " 7 , 5 8 2 norm ,n i ,' ( .l uc h : d ogm,uisc h ) : T... il I V ; fcrncr 1 0 1 , 504. 553, 5804 theo l o,: i iC h : Teil I; ferner 15, 2 5 1 , 260. 26J, 4 1 8 ff,, "69. 569 jur; sl i '>("h : Tcil l l ; ferner 1 5 . 1 22, 2J&ff., 259 lil,·r.ui�ch: T"il l l l ; fnnc:r 25. 1 20. 1 2 2 . 249, 254, 121. 459, 4&9, 479, 577, 582 - des H.Jnddn, : 24 1 . 5 1 l ff .. 521 .Jnliherm'·neun)ch 274 ff. p hilou,phlKh &8, 252, 279. 459 HC'rmC'lik 28. 278. 291, }21. }}7 Heuri,u k -4'1. !i 1 Hi§lorik ( s . u . Hi\lUrismu�) .... 0 1 . • 444 H i �lUri,mu, 1 1 1 . -429ff., -4l2. 4& 1 . 478. 4'17, 5 1 5 H om i h.· li k (.JII.:h r r ed i�l) 1 & . 1 0 5 1 . • 108. -4&2. 465 Htlm�unt ( � . u . I- r w .Jrlun�) 7 1 , 98, 1 1 1 , -468, 4 71 f . , 479. 502 . !'I 1 6 . Sl5, 519 1,lenUl.Jt
17. 21
I d C'Ol o KIC'k rm k
.!l . H4 I ma g i n.Jl l olI (dol' Inl.J�in.Jre ; ' . u . Ph.Jnl.uiC'. hkliun) 2 1 f. I n d i v i d u a l i l ;i l ( I n lI I V l tl ll u m ) 1 7 . 25. -4 7 , 88 I nstilutiun 5 1 9 , 52 I , !i-40. 581 Inu�nliun !'I I 6 , 528 1. IntC'rC's�e 25. 4&8. 50ft Interpreuuun (olurh: I' xege�l', DC'ulung. Au�le jl;unj;,) 1". 69. 1 02 . 1 1 7. 1 -4 3 1 . , 324 1f., 4&2, 489. 4 1 8 1 . . 529 - tht"ulu!;iK h : 1'cll I; IC'rnt"l 15, 1 S f., 76, 1 02, 1 0 7 , 261, 4&6. 567. 579 - IUfl\t i 'l: h : TC'I I 1 1 ; 'C'rner 1 02. 2-49. 3 8 1 . 195, 409ff . • 4 1 2 - htC'r.Jri",·h� Tt"il 1 1 1 ; It"rnt"r 1 7 . 1 9 1 . , 1 20. 1 2 2 , 2271., 2 7 3 f . . 1 2 5 H. • 471 Inter�u h,ekl l\·I I.J1 !'I 1 8 I ntC'nC'lilualiuI 256 f . . 3 1 2 . -4 6 0 . -4 7 9 I nluition ( .Ju�·h � Elnluhlunr:) 404 1 . • 4&6. 526 1 . Ironie 1 6 . 1 8 . 25. 2 8 1 . . 15, 56 1
K.Jnon 467, 505. 5&9 K.J�ulslik 29, 219. 401 H .• -4Oft I . , 554 K.Jlh.Jrsi\ 579 K l.Jnik -4 7 1 . 501 KommC'nl.Jr 1 1 , 2n, 510. 537. 576 Kommunik.Jlion ( :luc h: M m t"l l unr:) loe, 199IL 27&, 286. H -4 , -498. 5 1 5. 518. 520, 5 1 8 K o mposition 1-4l �komposit i on 1 1 1 . l}} lRkonstruklion 150 Konkreli ,iC'rung 1 0 4 1 . . 1 4 1 . <1 79 Konlnnp!.Jlion 251, 279 f., 30ft, -468 Konlcxt 51, &&, 6 8 f . , 80, 89, 2 3 8 1 f . , 2 5 1 . 25&. 2&9 _ 519, 5-47 Konu.Jlak lur 5&8 Kontraposl 78 KorrC'�pond cn7. 129 Krilik 1 0 1 , 1 08, 150, -4 59, 547, 579 Kun,1 ( s . u . Werk; heihcit der K.) 1 l 1 ff . • 1 4 5 11 . . 1 & 1 . 1 70 1 f . , 1 8 2 . 1 8 5 1f . , 1 9 0 1 . • 2 2 5 1 . , 510 - hiswrisch 1 4 7 f . . 1 80 ff . , 1 8& ff . , 495, 509 - i n d C'r R C'chm p rechung IS}. 1 8 7 1. , 1 9 6 . 20311 . • 2 2 5 1 1 . , 2 1 1 1 . . 2.\4 legil im.Jl i nn 78. 280 leklun:- (.luch: Le,er) 249 1 . , 34 1 . 1-48 1 . • 351. 4 n , 4 76. 480. 543, 5& 1 Leser 98, 469. 4 7 7 1f.. 585 ZweidC'klu fl' l 5 1 . 154. 471 1. literatur 20. 25. 28. 1 00 . 4&7
Med ll.Jl i un 570 Meuphufl k 92 1 . •
'BI
Wo.
292. 3.H , H 2 , 38-1 " , 390 1 . .
M euphp i k 102, 1 1 9 Methud,· 481, 500 Melonymie l } } Miml'si� (:Iuch : N acluh mll n jl; ) 117. 2 & 4 . 1 4 S Monu lu� 97. 2 7 9 MUf.JI (,. u . Sittlichkeit) M �'lhm 1 7, 1 9 , 2 5 , -4 5 . 7 3 1 . , 7&, 95. 99. DI, I I !', 1 1 7. 270. 28& 1 . . 1 1 9 M)'lhl�ierunjl; 1 0 1 Enlm�'lhtllujl;l'lt'runr: 1 7 . 46. 74, 86. 8 R Remyt lm i nung 1 9 . 74. 8& N.J.:h.Jhmunj; (s. u. M i me,.,) N.Jlur 19, 79. 82, 87. 90, 94. 156, 491 N.Jlur.JI.\mu\ 71. 9 5 f . NC'u�ier 27, 81 Norm 60, 79. 8 1 . 92. 1 0 1 ff . . 250. 435 11., 51] - theuluJ:l"h 7&, 1 0 1 1 1 . , -4 1 6 ff . . 4 2 1 1 f . . 415ft
"0
•
649
SAC H R I·. G l sn.R _ iuri)ti ....- h 16, .0, 048 1., 1 2 2 , 1 l2 f . , 1 15, 1 37 , 2 } 7 f f. , 204 I , } U , }95ff. , 0409, 04 l 8 1 . _ liter.ui!>C.·h 1 22 , 2046, 04 2 9 H . , 04 99
Offt'nb.uunl: 1 1 6 Onhll..ltlxie I 1 5, 1 20 Paradl"mol 22, 79, 804, HIi, 9 1 , 1 02, 1 0 7 , 1 2 1 Paroldi"menwe..:h�d 0462 P.u...dmm· 299 PoIn;"ip... u .. n 0469 Ph ... nu.\ie 26, 049. 1 2 1 I'uc)ie 2 2 I . , 290, H 8 Ponik 2 I , 28 , 35, }25, }29, Hl
Pm(')i) ( ...u..:h: Konstruktion, Produkuon) 2504, 278, 2 8 5 f f . , 29l, l29, }0404 1 . , 0466, 0489, 049 1 , 0493, 0495, 527
!'nrnOlOuphie (auch : d u Ob�1.onc) 1l04f., 1 8 7 f . , 207 1 . , l I O H. , 2 1 6 ff., 220ff., 2 2 5 f f . . 2 l 0 1 f .
Produkti"n (s. u . Poi..�is) Pusiti\'i�mu ) 5 1 5 Pr"'l:m ..mk 0498
Pr... iudi/. 1 5 1 H . , 1 56, 161 f . . 2 l 7 1 1 . , 2.0, 0402, 04 1 1 , 04 19 1 .
I'r.ni) ( \ . u . Theurit" und P r...xi�) Prcdi"t ( \ . u . Homilt'tik) Prulckuun 045
P\�·rh{l.1noll�·sc 20, 27, 67, 8 1 , 93, H04, SB Kat '!: I ; 5 ; K e , h l ( Rc,ht\prechunl:) 1 6 , 1 7. 0404, 1 3 1 ff . , 1 3 5 , 1 04 9 1 f . , 1 5 l ff . , 1 57, 195, 2 3 6 f f . , 2 } 9 f . . 2 04 1 1f.. 04 1 1
Grundr\'i.·h" 1 5 2 ff . • 1 55 f . . 1 69, I 7 2 f . , 1 79 f f . , 1 9 ) 1.• 197f. Ke.ll· 049b. S l ll l . . ...04 0 1 . :\nn·.Ic 0470. 0498 A n\lHu,h 04 7 0 . 04911. 501 Rl'dukuun 04 5 , 047 Kl'fh�xlun .?SS, 2 6 l . 270. 2704. 21104, }Ol, l 0 7 U . , } 3 1 , H 2 1 . , 352 f . . o4 8 l , 5604. 579
K,kun\trukunn 20. 2 8 , S}, 70 Rl'I"J'lIun ( \ . u . Wirkung: RelepUOn).a\thtlik. -):e ...: hi.:hle) 1 6 , 1 9 . lOf., 78, 1 02 . 1 20, 202, 2n, 2 3 1 1 . , !S5, 258. } 1 2 . }047. 0462 f . , 0473, 04 7 6 1 . , 5042,
sn,
577 Kell" oIn" 5 1 6
Rh"lOnk 2 5 , }8}. 040}, 04046, 5604 Rumoln 1 7 3 1 1 . • 1 76 Kumolnlik 1 9 . 62, 1 1 3 SoI, h" erluh (oIu, h : T.atbesund) 38, 04 5 , 048, 1 9 3 , 250, .H04 I f .
'i.1kul.ari\lt'run): 704, 567 s.:hnh (s.:hrih ll,hkcil) 0426, 5 1 5, 504 1 , 555, 5115 s..: h n h \mn 046.\ 1 . , 568
!M:lb§lverstlindnis 27l Snniotik 0476ff.. 586 !M:m ...ntik 276, 29l, H5 Sinn (s.u. Wahrht'it: Schrihsinn) 88ff., 276. 286, 32l. 328, B7, 346. l5 1 , 0465. 0477. 0495. 5 1 5 ff . . 520 f., 528, 5l l , 5048, 555, 582
Sittlichkt'it (auch : Moral) 1 3 8 ff., 1 04 0 f . • 2 09 f f . . 2 1 2 H. , 2 1 5 ff.
Sitz i m Leben 98 Spr.JCht' 276f . . 282. 286. 29}, 04204, 0475. 525. 5}8.
m
Sub§umlion l7, 50. 397-<400, 0402, 04 l 8 1 . S)'mbol (Symboli,mus) 4 6 , 265. 329. 5042, 5 04 8 S)-·mpathn.isch 04 9 1 Syslnn 5 1 04 . 538, 5 7 8 Umbt'sn.lung (Umwt'nung) 1 5, 22, 85, 2 7 1 , 3204 T.lII bnt ...nd ( :.. u . Sachyt'rh ...lt) Tdt'Ologit' 395, 040401f. Throdiw:, 2 1 , 2 } . }O, 504 1 . , 59, 65, 1 2 1 Tht'Orit' und Pr.axis 29, 25}. 275, 280, l60, 527. 529. 5n, 587
Tt'lII t 5}. 68. 121 I .. 0465. 0469, 5004, 511, 522. 528, 537, 58 1 , 585 _ j u ri stisch 04 04 . 2 2 7 1 . • 2 04 2 1 . , 2 04 5 t . , l 7 7 I . , 04 } 7 1 . - theologisch 9 9 , 1 2 1 - limarisch 2704. I I 1 , }38 1 . • } 5 I , 0469. 04704. 5042 Tradition 1 7. 70. 99. 3048, }56, 500, 506. 5 1 04 , 5l l . 53}. 561 Typologie 7"1. l O S , 1 1 8. 2 5 1 . 379ff . . 388 1 . , 04 1 7, 04 l 9 f . . 0452 ff .• 04604
Ob.:-rblt'tun" 76, 30404 1 1 . Ob.:-rset l un): 704 . 35 7 f f . Unbl'stimmtheit 28 f . , 048, 9 b U n p ru n " ( A nbnge : U nprüngllchkcit) 2 b , 3 0 , 32, 57, 59, 76, 78, 87. 89. 1 1 5 1. , 320, 326, 558
Uncil ( Uneil\kr ... h ) 17. 048. }96 I f . , 199, 0402 1 .• 04 1 8, .. ,
Vl'uohnun" H I Ver§lchen ( ...u,h: Miß\'cr�tt'ht'n) 69. 280. 32l. HO, 0469 1 . , 049 1 . 50}, S07, 5047, 58l f.
Vorvcmand ni� ( ...u�h: Vt'nr...utht'it) 70, 1 1 04 , 0468 1 . , 04 7 } , 04 8 9 . 56 1 , 569. 587
w ...hrheil ( ) . u . Sinn)
Olf., 1 045, 1 04 7 f. , 192, 2 04 0 1 . ,
l 7 6 f . , 5 C9 . 5 8 5 W· ...hrnt'hRlung
(�. u . A i)tht'sls)
Werk 2049, 2504. 325, HO, 0460, 0462. 537, 5-4 3 Wiederholung 86 1., 277, 3504. 56 1 Wirkung ( �. u. RCll'ption) 19. 277. l07. 04 7 04 . 0477. '00
Zeit ( - ""ktur) 90. 96, H } f I . , H8f.. 04 5 0 1 1 . Zeitt'n.abu.and 04 8 6 . 04904
P E R S O N E N R E G I STE R
A J l e f, A . 6 7
B I � c k , M . 349
AJorno. Th. W. J I , 2 5 4 . 324. 329, 342 ' - . 345, 354,
B l a n k , W . 75
m
Blei, H . 3 8 1
A l a i n 2 7 3 f . , 277. 293, 342
Bloch, E . 3 0 , 5 9 , 1 2 1 , 508 f .
A lben. Henry 3 1 2
B l oom, H . 350
Alben. Han� 3 8 5
Blumenberg,
A l c hourr6n.
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H.
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Odebrechl. R . 493 OdmullC'r. W. Ob Oenmann. P. J8" OC'ltinger, K . 1 l2 ff .• 200 Ohl)', F. 390 Ommen, T. B . 1 8 1 Or.gincs 4·42, 4 6.. Ormius 442 (. Orwdl, G . 444 OIlC', G . l n Duu, E . ]'2 Ouo, W , I;, .f'O 0"i.1 4 3 1 Paepdc. F. 4 2 3 Paliavicino Storza, P. 209 P.Jnncnbc'l:. W . I S. 74U., 1 1 7- 1 22. 1 l1 ff . , 2 ; 1 f.. 4 1 4, 4 1 9, 4J6, 44 1 . 449, 4 S l . 4;3ff . • 463. 46;, 4701. Par;lu;d�u� 491 P,uc:nl. M . 346 PU('.JI, B . 304, ;42 Pat7ig, G . 48S rauli. H . A. 370 Pau linu� Mediolanensi, ]74 Paulu\ 15, 22, 1 0 1 , 1 1 6 f . . 1 2 1 , 380, -1 5 ] Pein:e, eh. S. 4 9 3 Pellcgrino, M . ] 7 " Perdman, Ch. ] 8 1 PClcn, W . A . 336 PClrarca, F. 34", 573, 576 Phaidrm 3 4 1 Pi ..h l , G . 5 09 Pindar 2 5 2 1 . , 256, 263, 269, 297, 3"9, 352, 356f. Plalon 283, 435 Pleuner, H . 1 2 1 Plinlus d . j . 423
Quinlillan 183 I , " 2 5 '·un R oI d , G. -1 5 , 7", 9 8 1 . , 1 0 1 I . , ]7-1, J92, -I5-4 Radbruch, G . " 7 , 377, ]83 Radnil1 k y . G . "9" Rahner, H . 26] R.Jhner, K . ]92 , " 1 " Ranke, L I U L. .. ..0 . 580 Raph.Jd 3" R.J\"e, P . O . 1 82 R.Jwl). j . 2"0 Re.Jd, H . 207 Read, J . 2 1 0 Rein.JI:h , A . 501 Reinhardl, K . 98. 390 von Rcnlhe. I:.nk, l . "87 Rich,mh, I . A . 3"9 Richh'r. L . 562 Ri"lleur, P. 9, 3]7. ])9, ]"6, -4 6 1 . 5 1 4 , 537, S K I Rlc\, C . 1 75 Rie\er, H 37fo Riffalt'ff\', M. " 7 3 1 . , -4761. Rllke, R.M. 26) 1 . , 327, 1 ..9. ]51. ]6 1 - lf, .. ""7_ 509, 557 RipolJ. R . 8 5 . 92 Riner, eh. ]96 1. Rilh'r, j. 69f., 359. " U , -491, .. 9 -1 r . . 511] Rivii.'rc, j. 32!1 Rubl.'\pit·rn· 61 Robiuille, L . 3117 Rllh, F. 1 82 Roper u , H . R . 1 79 Rmenmuller, J . G . ]80 Rmcn.w.. k - Hue\w, F.. 5 0 1 . 5 1 0 Ru,c:n1wclg, F. 1 0 8 . 5 1 0 Rml. I.. 1 7.. Rmhfult G . 384 L ROIha.. ker. E. 389, ]9] Rou.Jn -Valcry , A. 2 K I ROU\\eolU, J . . J . ] 1 , 5 " , 5 8 , 7 7 , ] H I . Ruiner, \'. "92 Rü�n, j. " ]6, 440f., .. 4.. R)· It', G . ]57, 507
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