Heinz Erich Platte
Gespenst über dem Atlantik
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Heinz Erich Platte
Gespenst über dem Atlantik
Leider keine Beschreibung verfügbar A. H. Payne Verlag Leipzig 1936 Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Als der Schnellzug Paris-Warschau... Als der Schnellzug Paris-Warschau an einem klaren, sonnigen Morgen kurz nach acht Uhr in die Halle des Bahnhofs Zoologischer Garten in Berlin donnerte, gerieten die auf dem Bahnsteig versammelten Pressefotografen schier aus dem Häuschen. Wie ein aufgeschreckter Ameisenhaufen stoben sie auseinander, jeder bestrebt, den Wagen ausfindig zu machen, dem der Flugkapitän Herbert Vanhusen entsteigen würde. Es dauerte nicht lange, bis man den Gesuchten entdeckt hatte. In braunen Knickerbockern und gleichfarbiger Reisemütze, den hellgrauen Regenmantel aus Elefantenhaut über dem Arm, stellte er sich lachend in Positur und ließ sich geduldig fotografieren. Zwischendurch mußte er einige Dutzend Hände schütteln und Autogramme verteilen. Erst dann gelang es den offiziellen Persönlichkeiten, zu ihm vorzudringen und ihn namens der verschiedenen Körperschaften, die sie vertraten, willkommen zu heißen. Er mußte für den Rundfunk und für die Tonfilm-Wochenschau ein paar Worte ins Mikrophon sprechen und wurde, nachdem, das erledigt war, von Zeitungsreportern umringt, die ihn mit den unmöglichsten Fragen bestürmten. Etwa: »Wie hat man in englischen Fliegerkreisen die Tatsache aufgenommen, daß ein Deutscher das Luftrennen LondonKapstadt-London gewann? Was dachten Sie in dem Augenblick, als in der Nähe von Croydon plötzlich der Motor aussetzte und das Fahrgestell Ihres Apparates bei der Notlandung zu Bruch ging? Stand Ihre Reise nach Paris, wie ein hiesiges Mittagsblatt andeutete, mit dem Plan einer Weltumfliegung irgendwie im Zusammenha ng?« Vanhusen beantwortete bereitwilligst die an ihn gerichteten Fragen. Als es ihm aber zu bunt wurde, sagte er plötzlich: »Einen Augenblick, meine Herren!«, eilte auf die Straße, sprang -2-
in eine Autodroschke und machte dem Chauffeur hastig ein Zeichen, in Richtung Gedächtniskirche davonzufahren. »Schreckliche Menschen, diese Presseleute«, murmelte er, als der Wagen anfuhr. »Man muß sich rar machen. Je weniger man ihnen erzählt, desto mehr steht später davon in den Zeitungen.« Das Publikum, das sich trotz der frühen Sonntagvormittagsstunden ziemlich zahlreich auf dem Bahnhof eingefunden hatte, um den Rekordflieger zu begrüßen, zerstreute sich sehneil Die Neugierde war befriedigt. Man hatte, wenn auch nur für einen flüchtigen Augenblick, den schneidigen Piloten aus nächster Nähe gesehen, der den vom englischen Aerodub veranstalteten Wettflug nach Afrika gegen stärkste internationale Konkurrenz gewonnen und damit neben dem Siegeslorbeer den wertvollen Preis von fünftausend englischen Pfund eingeheimst hatte. Vanhusen öffnete das Schiebefenster und gab dem Chauffeur Anweisung, ihn zu seiner in Haiensee gelegenen Wohnung zu fähren. Als der Wagen in den Kurfürstendamm einbog, lehnte er sich weit zurück und streckte die Hände nach beiden Seiten aus, als ob er irgend etwas umarmen wollte. Alles erschien im freundlichsten Licht, weil er noch ganz unter dem Eindruck des großartigen Empfanges stand, den man ihm auf dem Bahnhof bereitet hatte. Er dachte zurück, gab sich Rechenschaft über sein sechsünddreißigjäh'riges Dasein und fand, daß er mit dem Ergebnis zufrieden sein konnte. Im Kriege Kampfflieger an der Westfront und in Italien, in der Nachkriegszeit Verkehrsflieger, Fluglehrer, dann wieder Verkehrspilot, und schließlich - in den letzten zwei Jahren - Kunstflieger, das waren die wichtigsten Abschnitte seiner bisherigen Entwicklung. Und nun, als vorläufiger Abschluß, sein Sieg im englischea Luftrennen, der ihn mit einem Schlage in die Klasse der Flieger von Weltruf -3-
eingereiht hatte. Die Erinnerungsbilder wurden von dem Kreischen der Bremsen von dannen gescheucht. Das Auto hielt vor dem von Vanhusen bezeichneten Hause in der Markgraf-Albrecht-Straße. Als er, eine lustige Melodie pfeifend, zu seiner im ersten Stock gelegenen Wohnung hinaufgehen wollte, begegnete er auf der Treppe dem Portier, der wie angewurzelt stehenblieb und vor Staunen beide Arme in die Seiten stemmte. »Ach nee, Herr Dokta« (der Portier sagte zu allen männlichen Bewohnern des Vorderhauses »Herr Doktor«), »schon wieda zurück von die jroße Afrikatour? Ick jratuliere von wejen hier und so und überhaupt.« Er machte die Bewegung des Geldzählens. »Danke, danke«, lachte Vanhusen und sprang an dem behäbigen Portier vorbei die Treppe hinauf. Hinter der halbgeöffneten Wohnungstür hörte er Stimmen. Seine Wirtschafterin sagte: »Wer sind Sie denn eigentlich? Im übrigen habe ich Ihnen doch bereits erklärt, daß Herr Vanhusen noch nicht hier ist. Soll ich was bestellen?« »Ja«, entgegnete eine tiefe, selbstbewußte Stimme, »sagen Sie ihm nur, Bruno Vanhusen wäre hier gewesen. Dann fällt er bestimmt auf den Rücken!« In diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen. Herbert Vanhusen stürmte herein, taumelte aber sogleich zurück, als er sich seinem um zwei Jahre jüngeren Bruder gegenübersah. Seine Überraschung war so groß, daß er seine Wirtschafterin erst gar nicht begrüßte, sondern nur unverwandt den Besucher anstarrte, der den auf ihn gerichteten bestürzten Blick mit einem eisigen und, wie es schien, triumphierenden Lächeln beantwortete. Die Wirtschafterin empfand unklar und einigermaßen verlegen, daß sie hier störte, und entfernte sich kopfschüttelnd. Bruno Vanhusen, der fast um einen Kopf kleiner war als Herbert, hatte beide Hände in die Rocktaschen gesteckt. Unrasiert, die Wäsche -4-
schon ziemlich schmutzig, die graukarierte Hose und das kurze Jackett aus braunem Manchesterstoff zerknittert und abgeschabt, machte er einen heruntergekommenen Eindruck. »Um des Himmelswillen«, stieß Herbert Vanhusen endlich hervor, »wo kommst du denn her?« Bruno trat einen Schritt näher und pflanzte sich breitbeinig vor seinem Bruder auf. In seinen blauen Augen blitzten helle, übermütige Lichter von Hohn und Spott. »Wo ich herkomme...? üirektemang von einer Tippeltour.« »Tippeltour - -?,Was heißt das?« »Werd' ich dir gleich erklären. Du fliegst, wie ich in den Zeitungen gelesen habe, in wenigen Tagen um den halben Erdhall und verdienst eine Menge Geld dabei. Ich lasse mir etwas mehr Zeit und sehe mir die Welt gewissermaßen im Zeitlupentempo an. Seitdem ich aus Amerika zurück bin, habe ich schon Österreich und den halben Balkan per pedes abgeklappert, wobei die Kröten, die ich bei den Yankees verdient habe, wieder draufgegangen si^d. Mein Landstraßentrip war in seiner Art sicher ebenso interessant wie deine Jagd nach dem Schnelligkeitsrekord, mit dem Unterschied freilich, daß die Sache nichts eingebracht hat. Im Gegenteil, ich bin mit meinem Zaster so ziemlich zu Ende.« »Wie ist es nur möglich, daß du seit damals so heruntergekommen bist?« »Teils aus Neigung, teils durch deine Schuld.« Herbert Vanhusen überhörte den Vorwurf. Er maß seinen Bruder mit einem abschätzenden Blick. »Und nun willst du natürlich Geld?« »Fabelhaft, wie du das so ruckzuckerraten hast.« »Du solltest dir eigentlich sagen«, erklärte Herbert kühl, »daß du nach allem, was zwischen uns vorgefallen ist, wohl kaum Veranlassung hast, auf meine Hilfe zu rechnen. Vor zehn Jahren -5-
bist du heimlich nach Amerika gegangen, hast ein einziges Mal von New York aus geschrieben und seitdem nichts mehr von dir hören lassen. Die Mutter hat der Gram über dich ins Grab gebracht. Vor drei Jahren, als V,ater gestorben war, habe ich dich suchen lassen. Du warst unauffindbar. Wer sich nicht um seine Angehörigen kümmert, muß sehen, wo er bleibt. Für mich und die deutschen Gerichte bist du tot und begraben.« »Ich wußte ja noch gar nicht«, lachte Bruno herausfordernd, »daß ich ein so reizendes Brüderchen habe. Ich habe es aber immer schon gesagt: Berühmtheit verdirbt den Charakter! Im übrigen mußt du dich schon damit abfinden, daß ich sozusagen von den Toten auferstanden bin und nicht eher Ruhe geben werde, bis ich meinen Anteil an der Erbschaft auf Heller und Pfennig erhalten habe.« »Es steht dir frei, eine Klage gegen mich anzustrengen.« Bruno schnippte ein imaginäres Stäubchen von seiner speckigen Manchesterjoppe. »Hör' mal mein Bester«, versuchte er einzulenken, »wäre es nicht gescheiter, wir würden die dumme Sache von damals endlich begraben? Wenn zwei so patente Jungen wie wir, die zufällig noch obendrein Brüder sind, sich bereits länger als ein Jahrzehnt wegen einer Frau böse sind, ist das doch eigentlich erheblich schlimmer, als auf diese Frau verzichten zu müssen.« »Dir ist der Verzicht leichter geworden als mir.« »So, meinst du? Vielleicht war ich damals wirklich der Ansicht, daß man nicht viel verlor, wenn man ein Mädel wie Thora Horwicz fahren ließ. Vielleicht war es aber auch nur Trotz und Verzweiflung, als ich eines Abends heimlich nach Hamburg fuhr.umden Sprungnach Amerika zuwagen unddort Vergessen zu suchen. Was ist übrigens aus Thora geworden?« »Sie hat den berühmten Komponisten Walter Mynius geheiratet.« »Schade. Wenn sie dich geheiratet hätte, wäre sie in punkto -6-
Berühmtheit mindestens ebenso ausgiebig auf ihre Kosten gekommen.« Herbert Vanhusen griff nach seiner Brieftasche und entnahm ihr eine Bankno te. »Ich habe keine Lust, mir deinen Spott anzuhören. Außerdem bin ich hundemüde und brauche Ruhe. Hier sind hundert Mark. Komm in einigen Tagen wieder und gib mir Aufklärung, was dich in Wahrheit damals nach Amerika trieb, weshalb du niemals nach Hause ge schrieben hast, undwas du in Zukunft zu tun gedenkst. Dann wollen wir sehen, ob wir uns in Güte einigen können.« Bruno ergriff mit spitzen Fingern das Geld, machte eine ironische Verbeugung und entfernte sich. Als seine Schritte im Treppenhaus verhallt waren, erschien die Wirtschafterin mit dem Frühstück. Herbert Vanhusen antwortete nur einsilbig auf ihre Fragen nach den Einzelheiten des Fluges. Die Lust zum Plaudern war ihm vergangen. »Ich lege mich gleich zu Bett, Frau Faßbender, um erst einmal gehörig auszuschlafen. Stellen Sie das Telefon ab und sorgen Sie dafür, daß ich in den nächsten acht Stunden von keinem Menschen gestört werde.« »Wie Sie wünschen, Herr Vanhusen. Wenn aber Frau Mynius - - -« Sie vollendete den Satz nicht, sondern warf einen vielsage nden Blick auf den riesigen Strauß bunter Orchideen, der in der Fensternische stand. Vanhusen wandte sich um. Er hatte die kostbaren Blumen bis jetzt noch gar nicht bemerkt. »War sie selbst hier?« »Ja, gestern abend. Sie nahm an, Sie wären schon gestern zurückgekommen.« »Scheint keine Zeitungen zu lesen. Hat sie sonst noch irgend etwas gesagt?« -7-
»Sie möchten anrufen.« »Weiter nichts?« »Nein, weiter nichts.« Vanhusen wartete, bis Frau Faßbender, die jetzt mit umständlicher Sorgfalt das Geschirr abräumte, gega ngen war. Dann schritt er langsam zum Fenster hin, wo die Orchideen standen, betrachtete nachdenklich die eigenartigen, farbenprächtigen Blüten und murmelte: »Hübsch, sehr hübsch, aber vergänglich. Wie alles!« *** In einer schmalen Seitenstraße, nicht weit vom Alexanderplatz entfernt, lag die Wirtschaft »Jardin Espanol«. Der Besitzer dieser Kneipe, ein mit Spreewasser getaufter Zweizentnermensch, hatte seinem Lokal diesen spanischen Namen gegeben, weil er sich von einer fremdländisch klingenden Bezeichnung eine besondere Zugkraft versprach. Dieser »Spanische Garten« war seiner Art und seinem Anstrich nach eine interessante Mischung von Bodega und Berliner Stehbierhalle. Die elektrischen Birnen waren von Lampions umkleidet, wodurch eine schummrige Beleuchtung zustande kam. An der einen Längsseite zogen sich Nischen hin, die durch Gitterwände, an denen sich Blumen und Blätter aus buntem Papier emporrankten, voneinander getrennt waren. Die gegenüber liegende Seite nahmen zum Teil aufeinander gestapelte große Weinfässer, zum Teil der breite Schanktisch mit den sich dahinter befindlichen Regalen ein, die in der Hauptsache Schnapsflaschen, daneben aber auch Fächer mit belegten Brötchen enthielten. Die blankgescheuerten Tische und Stühle waren aus derbem Eichenholz gefertigt, also echt deutsch, während die mit Reklametexten versehenen großen Wandspiegel wiederum das Bestreben deutlich machten, -8-
Spamen ein wenig nachzuahmen. Dann standen da noch rechts und links neben dem Schanktisch je eine kümmerliche Zimmerpalme, die nur unvollkommen die Vorstellung von Kastagnettenklang und sonnigem Süden weckten; und auch ein kitschiges Pastellgemälde »Abendstimmung in La Coruna«, das hoch über den Schnapsregalen an der Wand thronte, vermochte nicht über die Gewißheit hinwegzutäuschen, daß sich zwei Minuten von hier der Berliner Alexanderplatz befand. Etwas anderes war es mit dem Gitarrespieler, der als Kellner und gleichzeitig als spanischer Liedersänger tätig war. Schon auf den ersten Blick glaubte man in diesem großen, prachtvoll gebauten Menschen, der die malerische altspanische Volkstracht trug, einen echten Sohn Andalusiens zu erkennen. Man stutzte zwar, wenn er geschäftig an einen Tisch trat und mit einem verbindlichen »Noch eine Molle, der Herr?« das leere Glas mitnahm. Doch schließlich gibt es unter den Ausländern Ja viele Sprachtalente, die das Deutsche bei täglicher Übung im Laufe der Zeit wie ihre Muttersprache erlernen. Jedenfalls war, sobald dieser hübsche Kerl mit den funkelnden Augen und den blendend weißen Zähnen zur Gitarre griff, unter den Gästen niemand darüber im Zweifel, hier einen echten, heißblütigen Spanier die Lieder seiner Heimat singen zu hören. Uneinheitlich wie der Stil des Lokals waren nach Art und Herkommen die Gäste, die hier verkehrten. Sie bestanden zum großen Teil aus Jugendlichen beiderlei Geschlechts, Arbeitern und kleinen Angestellten; doch sah man auch biedere Gesichter aus der Provinz, ehrbare Familienväter aus Dingsda, die von ihren Berliner Verwandten oder Bekannten hierhergeschleppt worden waren, um sich den Betrieb anzusehen. Seit etwa acht Tagen hatte der »Jardin Espanol« einen neuen Stammgast aufzuweisen, der sich jeden Abend zu der gleichen Stunde einfand. Es war ein nachlässig gekleideter, untersetzter Mann Mitte der Dreißig, dessen Äußeres - Manchesterjoppe, Künstlerkrawatte und Schlapphut - auf einen Maler, Bildhauer -9-
oder auch Schauspieler schließen ließ. Er trank regelmäßig etliche Karaffen Rotwein, rauchte ununterbrochen selbstgedrehte Zigaretten dazu und wollte sich fast die Hände wundklatschen, wenn Don Pedro, wie der Spanier von dem Wirt und dessen besseren Hälfte gerufen wurde, mit seinem wohltönenden Bariton ein Lied zur Gitarre zum besten gab. Der Sänger war bald auf diesen Enthusiasten, dessen unordentliche Kleidung in seltsamem Widerspruch zu seinem klugen Gesicht stand, aufmerksam geworden und bedankte sich jedesmal durch eine Extraverbeugung für dessen lebhaften Applaus. Eines Nachts gegen drei Uhr, also kurz vor Eintritt der Polizeistunde, gab es im »Jardin Espanol« einen jener kleinen Zwischenfälle, die in Lokalen dieser Art nichts Ungewöhnliches sind. Zwei Gäste von wenig vertrauenerweckendem Eindruck, dufte Jungs, wie der Berliner sagt, hatten sich in einer Nische festgesetzt und waren bereits bei der sechsten Molle angelangt, als Pedro, der schon überall die Stühle auf die Tische gestellt hatte, unter Hinweis auf den Lokalschluß Bezahlung verlangte. Die beiden Zechkumpanen sahen sich einen Augenblick an und brachen dann wie auf Verabredung in ein rohes Gelächter aus. »Mensch«, sagte der eine und maß Pedro mit einem mitleidigverächtlichen Blick, »bei dir piepst's wohl, wat? Wohl lange nich bettläjerich jewesen? Zieh Leine, oder ick knall' dir enen uffs Hauptjebäude, du selten dämliche spanische Brummfliege!« Pedro, der sich auf seine riesigen Körperkräfte verließ, trat dicht an den Tisch heran, fuhr blitzschnell den beiden Burschen an die Brust und hielt sie mit seinen starken Fäusten fest. »Wollen Sie bezahlen oder nicht?« Als Antwort erhielt er einen Tritt gegen das Schienbein und einen wuchtigen Schlag ins Gesicht. Bei dem sich jetzt anspinnenden Handgemenge merkte er bald, daß er seine Gegner unterschätzt hatte. Sie hatten ihn in eine Ecke gedrängt, -10-
und da der Wirt, der sich gerade in seinem Büro befand, ihm nicht zur Hilfe kommen konnte, wäre es ihm wahrscheinlich schlimm ergangen, wenn ihm nicht ganz unerwartet in der Person des musikliebenden Stammgastes, der heute wie an jedem Abend zu den letzten Gästen zählte, ein Retter erstanden wäre. Auf den Lärm hin eilte er aus der letzten Nische, wo er schon eine ganze Weile, in tiefes Nachdenken versunken, in sein leeres Weinglas gestarrt hatte, herbei und brachte durch einen schnellen Jiu-JitsuGriff den einen der Raufbolde, der eben einen Stuhl erheben wollte, zu Fall. Mit vereinten Kräften wurde nun auch der andere überwältigt. Erst jetzt bequemten sich die beiden zur Bezahlung ihrer Zeche und verließen mit der Drohung, morgen wiederzukommen und alles kurz und klein zu schlagen, das Lokal. »So, das wäre erledigt«, sagte der seltsame Gast, der sich schon wieder in aller Gemütsruhe eine neue Zigarette drehte. »Gestatten Sie übrigens, daß ich mich vorstelle: Bruno Vanhusen.« Der Mann in der spanischen Nationaltracht blickte erst vorsichtig nach dem Schanktisch hin, wo jetzt die beiden Wirtsleute mit Gläserspülen beschäftigt waren, und sagte dann leise: »Ich heiße Peter Kramm. Wenn Sie draußen auf mich warten wollen -- ich bin hier in fünf Minuten fertig.« »Abgemacht!« Bruno Vanhusen bezahlte und verschwand. Draußen ging er in der dunk len Straße auf und ab. Es war eine warme Nacht. Als eine Sternschnuppe vom Himmel fiel, schoß es ihm durch den Kopf: Er soll sich bei seinem nächsten Fluge das Genick brechen! Nein, besser noch: Ein Gespenst soll sich an Bord seines Flugzeuges schleichen und ihm, während er am Steuer sitzt, den Hals umdrehen! Vanhusen war stehengeblieben und versuchte sich vorzustellen, wie das wohl sein würde, wenn sein -11-
Sternschnuppenwunsch in Erfüllung ginge: Ein nebelhaftes Gebilde taucht langsam hinter dem Führersitz des Flugzeuges auf, zwei riesige Hände mit gespreizten grauen Fingern, die wie die Krallen eines fliegenden Fabelwesens aussehen, legen sich vorsichtig und lautlos um die Gurgel des berühmten Fliegers Herbert Vanhusen und drücken ihm still und zuverlässig die Kehle zu. Und dann...? Was wird weiter geschehen? Dann rast das Flugzeug mit dem toten Flieger und dem Mordgespenst an Bord weiter durch die Luft, bis ihm die Puste ausgeht und es zu Boden stürzt... Während er sich dies alles ausmalte, lachte Vanhusen plötzlich laut auf. Er hatte heute abend erheblich mehr Rotwein getrunken als sonst. Daran mochte es wohl liegen, daß er sich mit solchen verrückten Gespenstergeschichten beschäftigte. »So, da bin ich!« ertönte es hinter ihm. Er drehte sich um. Vor ihm stand Peter Kramm, der einen eleganten Straßenanzug trug. Er sah gar nicht mehr wie ein Spanier, sondern schon eher wie ein an hohe Gagen gewöhnter Filmschauspieler aus. »Ich wohne hier gleich in der Nähe am Alex. Wenn Sie nichts zu versäumen haben, kommen Sie noch auf ein Stündchen mit. Ich werde Ihnen einen wundervollen exotischen Schnaps vorsetzen, den ich mir selber von seinem Ursprungsort mitgebracht habe.« »Schön«, sagte Bruno Vanhusen und schwenkte vergnügt seinen schwarzen, breitrandigen Schlapphut. »Für Schnäpse, die in exotischen Ländern gebraut worden sind, habe ich eine ganz besondere Vorliebe.« Peter Kramm führte seinen Begleiter quer über den Alexanderplatz und bog dann in die Kaiserstraße ein, wo er im dritten Stock eines Geschäftshauses zwei Räume bewohnte. Merkwürdig sah das Wohnzimmer aus. Vanhusen hatte den Eindruck, als sei er unversehens in eine Abteilung des Museums für Völkerkunde geraten. Der Boden war mit den Fellen wilder -12-
Tiere bedeckt. An den Wänden hingen in buntem Durcheinander die verschiedenartigsten Waffen primitiver Völker, wie Speere, Schwerter, Buschmesser, aus dunkelbraunem, steinhartem Amazonasholz geschnitzte Totschläger, ferner Tanzmasken, indianischer Kopfschmuck, Pfeile und Bogen, und zwei Lassos. Es fehlten in dieser eigenartigen Sammlung weder die schweren mexikanischen Silbersporen noch der texanische Cowboysattel oder der lederne Beinschutz des südamerikanischen Gauchos; und auch aus dem schwarzen Erdteil war manches von den Gegenständen vorhanden, die sich der Vergnügungsreisende, Forscher oder Abenteurer von dort mitzubringen pflegt. Kramm erklärte mit einigem Stolz die interessantesten Stücke. Vanhusen kam aus dem Staunen nicht heraus. Was war denn das bloß für ein Kerl, den ihm der Zufall da in den Weg geführt hatte? Ein Globetrotter, das schien sicher. Aber von welcher Art? Er, Vanhusen, war doch gewiß auch schon weit in der Welt herumgekommen, hatte über dem Hunger nach den« Lockungen fremder Zonen alle bürgerlichen Hemmungen vergessen und war in weiser Befolgung eine r gründlich zu Ende gedachten Lebensphilosophie ein Landstreicher geworden, ein Peer Gynt mit müde gewordener Sehnsucht und einer wohl nur noch in seiner Vorstellung vorhandenen Solveig. Doch dieser Kramm, der jetzt aus einer Kristallflasche eine farblose Flüssigkeit in zwei Likörschalen einschenkte, schien unbeschwerter, sieghafter und in mehr als einer Beziehung stärker zu sein als er. Dieses knabenhaft heitere Lachen, das von unbändiger Lebenslust zeugte, diese durch tausendfältiges Schauen und Erleben gestählte Kraft, die auf dem Sprung zu liegen schien, um überall zuzupacken, wo es etwas Neues, noch Unbekanntes zu erringen galt; und schließlich das geheimnisvolle Doppelleben, das Peter Kramm augenscheinlich führte, das alles deutete darauf hin, daß man es hier mit einem Abenteurer von besonderem Format und - im Sinne Vanhusens mit einem Lebenskünstler von vielen Graden zu tun hatte. -13-
»Prost!« sagte Kramm und erhob sein Glas. Vanhusen schnupperte erst genießerisch und taxierend, bevor er trank. »Ein guter Tequila«, stellte er sachlich fest. Nun war es Kramm, der sich wunderte. »Ich dachte es mir ja gleich, daß Sie mehr von der Welt als nur die deutschen Landstraßen gesehen haben. Unsereins hat einen ziemlich sicheren Blick dafür. Daß Sie allerdings sofort merken würden, wes Nam' und Art dieser Schnaps ist - alle Achtung, das hätte ich nicht geglaubt.« »Kein Kunststück weiter. Wer jahrelang als Bootlegger in den Staaten gelebt hat, bekommt mit der Zeit einen feinen Geschmack und umfassende Fachkenntnisse. Tequila - Gott, wenn ich daran denke, wird mir ganz wehmütig. Was waren das für herrliche Zeiten, damals, als ich von Philadelphia nach Texas heruntergekommen war und eines Tages in El Paso landete.« »Kenne ich«, unterbrach ihn Kramm. »Ich habe mal dreißig Meilen von der Stadt entfernt auf einer Ranch als Cowboy gearbeitet. Die Herrlichkeit dauerte aber nur sechs Wochen. Dann ging ich nach Frisko, weil ich Sehnsucht nach einem bestimmten Mädel hatte. Als die Sehnsucht gestillt war, machte ich mich wieder auf die Strümpfe, um mich zur Abwechslung als Apfelpflücker im Innern Kaliforniens zu betätigen. - Doch wir sprachen ja vom Alkohol. Sie kamen also nach El Paso und lernten da wahrscheinlich den mexikanischen Tequila kennen?« »Ja. Und plötzlich, ich weiß selbst nicht mehr wie, war ich Bootlegger geworden. Manches liebe Mal habe ich nachts am Ufer des Rio Grande gelegen, in jeder Faust eine Pistole, um mir im Notfalle die berittenen Zöllner vom Leibe zu halten, und habe auf das Motorboot gewartet, das plötzlich von der mexikanischen Seite her mit zwei braunhäutigen Kerlen herübergebraust kam, die mit affenartiger Geschwindigkeit ihre Tequilakanister bei mir abluden und dann wieder lospreschten, als sei der Satan hinter ihnen her. Die Sache lohnte sich, denn -14-
für mexikanische Spirituosen aller Art wurden von den durstigen Yankees sehr anständige Preise gezahlt. Leider ging der größte Teil des Verdienstes in den Spielsälen von Ciudad Juarez - Sie kennen doch sicher auch dieses gottlose Nest auf der mexikanischen Seite - wieder flöten.« »Ciudad Juarez«, sagte Peter Kramm gedehnt und leerte langsam sein Glas. Er schien in Erinnerungen versunken. »Eine tolle Stadt. Mischung zwischen südlichprimitiver Lebensfreude und nördlichnüchterner Dollarjägerei. Frauen aus allen Erdteilen, Männer von jeder Prägung, ehrbare Kaufleute, skrupellose Geschäftemacher, Abenteurer, Banditen, viel Klimbim, Radau und rauschendes Laster; aber Leben, Leben und das alles unter einem Himmel von unwahrscheinlich blauer Pracht oder unter dem weiche n Mantel flimmernder Tropennächte - o ja, an Ciudad Juarez erinnere ich mich noch gut.« Vanhusen spürte, wie seine Hochachtung und seine Sympathie für Kramm sich verstärkten. Da saß ein Mensch, dem er sein Herz erschließen konnte, weil jener ein Weltenbummler war, der gleich ihm die Fesseln des bürgerlichgeordneten Lebens gesprengt hatte, um frei und ungebunden das Dasein nach Schätzen zu durchsuchen, die nur dem echten Abenteurer zu finden beschieden sind. Er drehte sich eine neue Zigarette, tat einen tiefen Lungenzug und sah Kramm forschend ins Gesicht. Langer Germanenschädel, in seltsamem Widerspruch dazu pechschwarzes Haar und ebensolche Augen, der Ausdruck darin eine Mischung aus Offenheit, Humor, Willensstärke und ein wenig Dämonie, - das Ganze zweifellos ein Kerl, mit dem man Pferde stehlen konnte. Auf einen Menschen, der nicht so wie Vanhusen ins Innere zu schauen vermochte, hätte Kramm freilich wohl nur den Eindruck eines weltgewandten Mannes mit guten Umgangsformen und einem soliden Bankguthaben gemacht. -15-
»Ich begreife ja eigentlich nicht recht«, verwunderte sich Bruno Vanhusen, »wie Sie dazu kommen, in einem so finsteren Laden wie diesem »Jardin Espanol' Kellner und spanischer Bänkelsänger zu spielen. Sie haben das, wie mir scheint, doch.gar nicht nö tig. Auch daß Sie ausgerechnet in dieser Gegend wohnen, will mir nicht recht in den Kopf.« Kramm, der inzwischen seinen Sakko mit einer Russenjoppe aus schwarzer Seide vertauscht hatte, zündete sich eine Shagpfeife an und blies kunstvolle blaue Ringe in die Luft. »Meine Geschichte ist zu lang, als daß ich sie Ihnen zwischen Nacht und Morgengrauen mit wenigen Worten erzählen könnte. Aber vielleicht begreifen Sie mich, wenn ich Ihnen sage, daß ich schon in frühen Jahren dem Geheimnis des Lebens auf die Spur gekommen bin.« »Und dies Geheimnis wäre?« »Abwechslung!« Vanhusen nickte nachdenklich und pfiff leise durch die Zähne. »Es ist doch so«, fuhr Kramm fort, »daß die meisten Menschen Sklaven ihres Berufes und ihrer Gewohnheiten sind, eine unübersehbare Herde von Scheuklappenträgern, die arbeiten, kegeln, Bier trinken, heiraten, Kinder großziehen, sich über belanglose Dinge, die ihnen ihr belangloses Dasein. beschert, freuen oder ärgern und darüber total vergessen» daß in fünfzig bis siebzig Jahren doch alles vorüber ist. Sie ahnen nicht, was das Leben bereithält, wenn man seinen Standpunkt dazu gründlich und nach jeweiliger Lust und Laune verändert. Wenn wir, wie der selige Methusalem, neunhundert Jahre zu leben hätten, so wäre ja alles nicht so wichtig. Man hätte Zeit, könnte zunächst einmal zweihundert Jahre Beamter spielen, sich dann pensionieren lassen und - mit der sicheren Rente im Hintergrund - sich in den nächsten zweihundert Jahren ein bißchen in der Welt umtun. Zurückgekehrt, würde man -16-
allmählich ans Heiraten denken, sich in ein hübsches Landhäuschen zurückziehen und von seiner Pension und seinen Erinnerungen leben. Aber was ist schon diese irrsinnig kurze Spanne von drei bis vier Jahrzehnten, die uns für das Erlebnis des Frühlings und Sommers - vom Herbst rede ich nicht, weil ich mir nichts davon verspreche - zur Verfügung steht? Man muß sich höllisch beeilen, mein Lieber, um rechtzeitig mit dem Hamstern von Erinnerungen fertig zu werden.« »Wir sind wesensverwandt, Peter Kramm; aber Ihnen fehlt es an Konsequenz. Sie sind ein Abenteurer mit klassischen Bügelfalten, polierten Fingernägeln und bürgerlichen Ansprüchen. Ich war früher vielleicht einmal von ähnlichem Schnitt; als ich loszog, um mir ein blondes Weib aus dem Kopf zu schlagen. Als mir das endlich notdürftig gelungen war, merkte ich, daß sich ein Hohlraum in mir aufgetan hatte, in den ich seither alles mögliche hineinschütte: Sonne, fremde Länder, endlose Landstraßen, Musik, Alkohol - und Haß! Ich bin ein Landstreicher, der viel Zeit hat und wenig Ansprüche stellt, während es bei Ihnen genau umgekehrt ist. Wenn ich irgendwo in einer schönen Gegend am Straßenrand liege, mir stundenlang die Sonne in den Mund scheinen lasse und alles das, was Sie vielleicht erlebt haben oder noch erleben möchten, mir ga nz einfach vorstelle, als ob's mir leibhaftig widerführe, so ist dies ein viel bequemeres Verfahren und führt doch schließlich zum gleichen Ziel.« »Nämlich...?« »Glücklich zu sein!« Kramm, der aufmerksam zugehort hatte, füllte zum vierten Male die Schalen. Als sie getrunken hatten, stand er auf und trat ans Fenster. Im Osten, hinter den Hochhäusern, am Alexanderplatz, graute bereits der Tag. »Mir genügt die Vorstellung nicht«, sprach er, ohne sich umzudrehen. »Ich muß das Leben an seinen abertausend -17-
Quellen trinken, um es wirklich zu spüren. Ich möchte beispielsweise Eseltreiber in Cordoba sein oder in irgendeinem französischen Küstennest Langusten fischen. Vielleicht reizt es mich dann, in einer Luxuskabine nach New York zu fahren und abends auf dem Promenadendeck oder im Tanzsaal bei jungen Dollarprinzessinnen Süßholz zu raspeln. In New York würde ich mich dann vielleicht an irgendeinem Industrieunternehmen beteiligen, oder ich würde in einer plötzlichen Anwandlung von Fernweh und Menschenverachtung meinen Reisekreditbrief in den Hudson werfen und als Tramp nach Alaska gondeln. Es ist ja im Grunde genommen alles gleichgültig, was man tut, wenn man nur immer hübsch für Abwechslung sorgt.« »Ganz meine Meinung«, pflichtete Vanhusen bei. »Aber ich denke, nun wird es allmählich Zeit, daß wir unsere gemütliche Sitzung abbrechen.« Er griff nach seinem Schlapphut und wandte sich zur Tür. Kramm hielt ihn zurück. »Eine Frage noch, bevor Sie gehen. Brauchen Sie Geld?« »Nein, danke. Vor vierzehn Tagen habe ich eine Quelle entdeckt, die soviel Reichsbankscheine sprudelt, wie ich benötige. Ich habe nämlich einen Bruder, Herbert mit Namen, von dem Sie sicher schon in den Zeitungen gelesen haben.« »Nanu? Sie meinen doch nicht etwa den Flugkapitän Vanhusen, der den Wettflug Lo ndon-Kapstadt-London in Rekordzeit gewonnen hat?« »Genau denselben. Ein zuckersüßes Brüderchen, wie ein Schiller sagen würde. Hat mir vor zehn Jahren ein Mädel abspenstig gemacht, das ich so liebte, daß mich der Gedanke ans Verzichtenmüssen fast umgebracht hat. Ich ging nach drüben, um die Geschichte zu vergessen; aber ich hab's nur unvollkommen fertiggekriegt. Nun bin ich neulich ganz unerwartet wieder auf der Bildfläche erschienen - mein Bruder hielt mich längst für gestorben und verdorben - und habe zunächst mal meine Ansprüche an der elterlichen Erbschaft -18-
geltend gemacht. Mir liegt ja nicht viel an dem Mammon; die Rache ist mir bedeutend wichtiger. Was meinen Sie wohl, wie erstaunt der Junge war, als ich plötzlich in dieser schäbigen Aufmachung vor ihm stand! Einem so angesehenen und populären Helden der Luft kann es schließlich ja auch nicht gleichgültig sein, wenn hier in Berlin ein heruntergekommener Kerl herumläuft, der womöglich jedem Menschen seine verwandtschaftlichen Beziehungen zu dem Flugkapitän Herbert Vanhusen auf die Nase bindet. Erst vorgestern hat er mir eineeinmalige Zahlung von dreißigtausend Mark angeboten, wenn ich mich feierlich verpflichte, keinem Menschen zu verraten, daß ich sein Bruder bin, und wenn ich für immer aus Berlin verschwinde. Ich denke aber vorläufig nicht daran, auf dieses Angebot einzugehen,« Kramm, der seinen Besucher hinausbegleitete, war über das soeben Gehörte nicht wenig erstaunt. »Wenn wir demnächst wieder zusammenkommen, müssen Sie mir mehr von dieser Geschichte erzählen. Sie wissen ja, wo ich vorläufig noch zu finden bin. Lange werde ich meine Gastrolle im *Jardin Espanol* allerdings nicht mehr spielen. Ich mochte einmal etwas ganz Ausgefallenes unternehmen. Vielleicht denken Sie inzwischen darüber nach und geben mir mal einen Tip.« »Um das zu können, müßte ich erst mehr von Ihrer Vergangenheit hören.« Kramm drückte Vanhusen kräftig die Hand. »Sie sollen alles Wissenswerte erfahren, wenn wir uns wieder zu einem Schluck Tequila zusammenfinden.« *** Herbert Vanhusen saß in der Fensternische seines Arbeitszimmers. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und -19-
blickte hin und wieder zerstreut auf die Straße hinunter. Hinter sich hörte er seine Wirtschafterin hantieren, die den fahrbaren Teetisch anrichtete. Er sah nach der Uhr. »Hm, fünf Minuten nach vier. Um Punkt vier Uhr wollte sie hier sein; das heißt mit anderen Worten, um halb fünf. Da haben wir also noch etwas Zeit.« Plötzlich wandte er den Kopf zur Seite. »Frau Faßbender, kommen Sie doch mal her!« Die Wirtschafterin sah von ihrer Arbeit auf, stellte den Teller Teegebäck, den sie gerade in der Hand hielt, auf den Tisch und kam langsam angeschlurft. In ihren Mienen malten sich Erstaunen, Neugierde und ein wenig Mißtrauen. »Was gibt's denn, Herr Vanhusen?« »Setzen Sie sich erst mal hin... So.« Er zog einen Stuhl heran, auf den sich Frau Faßbender zögernd niederließ. »Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß ich Ihnen Ihre Stellung zum ersten Oktober kündigen muß. Ich verreise, und zwar höchstwahrscheinlich auf sehr lange Zeit.« Sie war sichtlich überrascht. »Schon bald?« »Ich weiß es noch nicht, möglicherweise schon bald, das heißt in einigen Wochen. Auf jeden Fall wollte ich Sie rechtzeitig von meinen Absichten in Kenntnis setzen, damit Sie sich in aller Ruhe nach einem anderen Wirkungskreis umsehen können.« »Darf ich denn fragen, wohin die Reise gehen soll?« »Nein, Sie dürfen nicht«, lächelte Vanhusen geheimnisvoll. »Wenn es soweit ist, werden Sie es schon rechtzeitig erfahren.« Frau Faßbender erhob sich kopfschüttelnd und ging wieder an ihre Arbeit. Zum ersten Oktober - das waren noch fast zwei Monate. Bis dahin ließ sich schon eine neue Stellung finden. -20-
Immerhin bedeutete diese Mitteilung eine unangenehme Überraschung für sie, denn sie war mit ihrem jetzigen Posten, den sie schon drei Jahre innehatte, sehr zufrieden. Es war fraglich, ob sie es später so gut haben würde wie bei ihrem derzeitigen Brotherrn, an dem sie, von kleinen Launen abgesehen, nichts auszusetzen fand. Vanhusen warf noch einen Blick auf die Straße. Dann erhob er sich und ging in das nebenanliegende Bibliothekzimmer. Er entnahm einem in die Wand eingelassenen Geheimfach ein Aktenbündel und begann darin zu blättern. Dieses Aktenstück enthielt Pläne und Zeichnungen von Wasserflugzeugen und einen umfangreichen Briefwechsel mit den Wennerwerken in Friedrichshagen. Die Verhandlungen mit dieser Firma, die bisher führend in der Herstellung kleiner einmotoriger Wasserflugzeuge gewesen war, vor etwa Jahresfrist aber einen neuen dreimotorigen Flugboottyp von beträchtlichen Ausmaßen herausgebracht hatte, zogen sich schon acht bis neun Monate hin. Sie waren allmählich auf ein totes Gleis gekommen, wurden dann jedoch von der Firma wieder neu aufgenommen, nachdem Herbert Vanhusen als Sieger aus dem von englischer Seite veranstalteten Wettflug nach Afrika, hervorgegangen war. Gerade als Vanhusen das Aktenstück wieder eingeschlossen hatte und in sein Arbeitszimmer zurückgehen wollte, wurde draußen zweimal hintereinander kurz geläutet. Frau Faßbender kam mit langsamen Schritten durch den Korridor und öffnete. Vanhusen hörte die Stimme Thoras und wurde sich bewußt, daß es großer Willensstärke bedürfe, um seinem Vorsatz treu zu bleiben. Er war sich schon seit längerer Zeit darüber im klaren, daß er dieses Verhältnis nun endlich lösen müsse, um für die Vorbereitung und Durchführung der großen Pläne, über die sein ehrgeiziger Sinn unentwegt grübelte, ein kühles Herz und einen klaren Kopf zu behalten. Zudem hatte er allmählich erkannt, daß seine Leidenschaft zu -21-
dieser Frau nur dann einen so hohen Preis, wie er ihn erlegt hatte, auf die Dauer rechtfertigen konnte, wenn seine Sehnsucht nicht nur nach dem äußeren, sondern auch nach dem inneren Menschen rief. Das war aber schon längst nicht mehr der Fall. Und welches war der Preis, den er bezahlt hatte, nachdem Thora - damals noch Thora Horwicz - in sein Leben getreten war...? Er bestand in der verzehrenden Unruhe des Liebenden, der um seinen Besitz bangt, in quälender Eifersucht, schlaflosen Nächten und in dem schlechten Gewissen gegenüber dem eigenen Bruder, den er aus dem Herzen Thoras verdrängt hatte und der wahrscheinlich nur dieser Geschichte wegen ein Vagabund und Abenteurer geworden war. Und doch war eines Tages alles zu Ende, als Thora ganz einfach erklärte: »Ich will nicht mehr! In drei Wochen werde ich mich mit dem Kapellmeister Walter Mynius verloben!« Als sie sich drei Jahre später auf einer Gesellschaft wieder begegneten, vermochte das unerwartete Wiedersehen Vanhusen Zu seinem Erstaunen nicht mehr aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er, der zu jener Zeit gerade Flugkapitän geworden war und im Dienste der Deutschen Lufthansa regelmäßig die Strecke Berlin- Amsterdam-London beflog, war nicht mehr der Werbende, sondern der nette, alte Bekannte, der mit Frau Mynius und ihrem Gatten liebenswürdig und unbefangen plauderte und mit keiner Gebärde und mit keinem Wort zu erkennen gab, daß die Begegnung ihn etwa im Hinblick auf das Vergangene irgendwie erregte. Sie schien enttäuscht und ließ alle Mienen springen, um ihn aufs neue zu betören. Daß ihn, den stattlichen Mann mit dem interessanten Beruf, die Frauen offensichtlich bevorzugten und er die goldenen Brücken, die sie ihm baute, nur zögernd und ohne inneren Antrieb betrat, bewirkte, wie sie ihm später selbst eingestand, daß sie sich vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben - regelrecht verliebte. Sie war gewohnt, schnell und mühelos zu siegen; daß man ihr mit Gleichgültigkeit begegnete, war so unerhört eigenartig und -22-
kühn, daß sie wahrscheinlich schon aus diesem Grunde Feuer gefangen hätte, auch wenn der Betreffende nicht gerade Herbert Vanhusen, ihr Herzensfreund aus vergangenen Zeiten, gewesen wäre. Vanhusen war mit dieser Liebesrenaissance einverstanden, ohne von ihr nun etwa überwältigt und begeistert zu sein. Er hatte moralische Bedenken. In fremde Wohnungen einzudringen, hielt er immer noch für weniger verwerflich, als in fremde Ehen einzubrechen; und daß.Thora ihrem Manne ganz freimütig über das unerlaubte Verhältnis berichtet hatte, machte ihm die verbotene Frucht nicht gerade schmackhafter. Wenn Mynius sich zu einer Scheidungsklage entschloß, konnte ein gesellschaftlicher Skandal entstehen, dessen Folgen gar nicht abzusehen waren. Hinzu kam, daß bei Vanhusen von einer großen, alle Bedenken besiegenden Liebe keine Rede mehr sein konnte. Er hatte erkannt, daß Thora nur ein gleißendes Spielzeug war, ein wunderbares Geschöpf von berückender Anmut und Schönheit, doch ohne den fraulichen Adel, den erst die Fähigkeit zu selbstloser Liebe und Herzensgüte verleiht. Thora Mynius war trotz ihres temperamentvollen Wesens im Grunde kalt, ein Vamp in Blond, der die Bewunderung der Männer brauchte, um immer und immer wieder seinen bezwingenden Reiz bestätigt zu finden. Langsam sich frei machen, hieß für Herbert Vanhusen die Losung. Als er nach siegreich beendetem Afrikaflug und anschließendem Abstecher nach Paris wieder in Berlin eingetroffen war, den Kopf noch voll von den erregenden Eindrücken, die auf ihn eingestürmt waren, wäre es ihm verhältnismäßig leicht gewesen, einen energischen Schlußstrich zu ziehen. Anstatt Thora einen Brief zu schreiben oder sich mit ihr auszusprechen, hüllte er sich jedoch einfach in Schweigen und ließ die Dinge auf sich zukommen. Sie überrumpelte ihn telefonisch, schmollte, schmeichelte und verabredete eine -23-
Zusammenkunft zum Tanztee im Adlon. Hinterher war dann alles wieder so wie früher. Nun hatte er sich abermals zu einem Entschluß aufgerafft und sie zu einem Stelldichein in seine Wohnung gebeten, um ihr endlich reinen Wein einzuschenken. *** Es klopfte. Ohne das »Herein!« abzuwarten, wurde die Tür ein wenig geöffnet, und ein von lockigem, goldgelb leuchtendem Blondhaar umrahmtes Frauengesicht, das nicht das wirkliche Alter von neunundzwanzig, sondern höchstens fünfundzwanzig Lebensjahren vermuten ließ, schob sich mit schalkhaftem Lächeln durch den Spalt. »Tag, Bertchen!... Bin ich nicht pünktlich?« »Pünktlich wie immer, das heißt, genau eine halbe Stunde später, als wir verabredet haben. Komm rein und laß dich anschauen.« Dann, als sie vor ihm stand in ihrem meergrünen Kleid aus leichter Seide, das alles an Formenschönheit des Körpers ahnen ließ, küßte er ihr beide Hände und sagte: »Du wirst immer schöner, Thora - und immer gefährlicher. Hoffentlich bleibt es mir erspart, mich aufs neue so unsinnig in dich zu verlieben. Ich habe vom erstenmal eigentlich genug.« »Galant bist du heute gerade nicht«, tadelte sie. »Wenn du es in den letzten drei Jahren nicht gelernt hast, mich so zu lieben, wie ich es verdiene, dann ist wohl Hopfen und Malz an dir verloren.« »Wollen wir uns nicht setzen?« lenkte er ab. Er wies auf zwei große Klubsessel, die rechts in der Ecke standen. »Schön, setzen wir uns.« Herbert Vanhusen, der inzwischen den Teewagen zwischen -24-
die beiden Sessel geschoben hatte, bediente seinen Gast mit fürsorglicher Höflichkeit, machte dabei allerdings einen zerstreuten Eindruck. Er wollte es vermeiden, Thora anzusehen, schielte aber trotzdem immer wieder zu ihr hinüber. Wie herrlich waren doch diese langbewimperten großen Augen, in deren tiefdunklem Blau jeder Widerstand der Vernunft zu schmelzen drohte! Wie rührend kindlich und doch bezaubernd sahen die weißen Arme in den kurzen Puffärmeln aus! Das Gesicht, ein äußerst ebenmäßiges Oval, wies alles an Widersprüchen auf, was das Wesen dieser Frau ausmachte: Eitelkeit, Selbstbewußtsein, Anschmiegsamkeit, Herzenskälte, ein wenig Kindlichkeit und ein wenig Teufelei. Der Anblick der schmalen, feinnervigen Hände, die an kühlen Marmor denken ließen, weckte das wilde Verlangen, von ihnen gestreichelt zu werden. Sie schob ein Stück Teegebäck in den Mund, sah Herbert Vanhusen plötzlich groß an, tätschelte ihm die Wange und sagte kauend: »Jungchen, du gefällst mir heute gar nicht. Willst du mir nicht verraten, wo dich der Schuh drückt?« Er gab keine Antwort, sondern rührte bedächtig mit dem Löffel in seiner Teetasse. »Geht etwa beruflich nicht alles nach Wunsch? Du hast doch nun als Flieger einen großen Namen. Willst du jetzt als Kunstflieger dein Leben weiter aufs Spiel setzen und womöglich Kunstflugmeister von Deutschland werden, oder was hast du vor? Weshalb sprichst du eigentlich nie mit mir über deine Pläne?« »Das will ich ja gerade heute tun, Thora.« »Endlich mal ein vernünftiges Wort, Bertie. Ich bin sehr neugierig. - Übrigens, ehe ich's vergesse: vorhin, auf dem Wege hierher, passierte mir etwas sehr Merkwürdiges. Ich glaube, Walter hat mich mit seinen Halluzinationen schon angesteckt. -25-
Als mein Wagen aus der Joachimsthaler Straße in den Kurfürstendamm einbog, sah ich in dem Menschengewühl vor dem Cafe Kranzler einen untersetzten, auffällig gekleideten Menschen, dem ich im Vorüberfahren einen Blick zuwarf. Er sah mich ebenfalls und schien überrascht. Ich war schon im Begriff, dem Chauffeur zu sagen, daß er langsam wieder zurückfahre, - denn jener Mann sah aus wie dein Bruder. Ist das nicht lächerlich? Bruno ist schon seit zehn Jahren im Ausland, und der liebe Himmel mag wissen, ob er überhaupt noch lebt. Ich gab es denn auch auf, der Sache auf den Grund zu gehen, weil... Nanu, Bert, was hast du denn?« Vanhusen war blaß geworden, und seine Hand zitterte ein wenig, als er nach seinem Feuerzeug griff, um sich eine Zigarette anzuzünden. »Du hast dich wahrscheinlich nicht geirrt«, sprach er ernst und nachdenklich. »Bruno ist schon längst wieder aus Amerika zurück und seit einiger Zeit in Berlin. Ich habe es dir bisher verschwiegen, ohne eigentlich einen triftigen Grund dafür zu haben.« Sie schlug vor Erstaunen die Hände zusammen. »Soll man es denn für möglich halten...? Bruno lebt und ist hier in Berlin, und du sagst mir kein Wort davon? Ich bin sprachlos! Wie ist es ihm denn ergangen, wo wohnt er, was treibt er? So erzähle doch! Ich platze ja vor Neugierde!« Herbert Vanhusen erzählte. Er holte weit aus, rief Erinnerungen an die Zeit vor zehn Jahren wach, als Bruno, damals Student an der Technischen Hochschule in Charlottenburg, ihm von einem fabelhaften Mädchen vorschwärmte, der neunzehnjährigen Tochter des tschechischen Großgrundbesitzers Doktor Horwicz, die er auf dem Kolonialball kennengelernt hatte. Es war die berühmte Liebe auf den ersten Blick. Herbert mußte mitkommen, um sich das Wunder anzuschauen. -26-
Das Ergebnis dieser »Besichtigung« war ein unerwartetes: Herbert verliebte sich ebenfalls Hals über Kopf in die reizende Blondine, die ihrerseits nicht lange zögerte, dem jungen Flieger den Vorzug zu geben. Bruno nahm sich die Gefahr, die dem Fortbestand seiner Liebe drohte, sehr zu Herzen. Wiederholt kam es zu stürmischen Auftritten zwischen den beiden Brüdern. Die Eltern, von dem Zerwürfnis unterrichtet, stellten sich auf die Seite Herberts, und da auch Thora nichts mehr von Bruno wissen wollte, blieb diesem nichts anderes übrig, als sich zu bescheiden. Er tat es mit stillem Ingrimm, verfiel einer dumpfen, verstockten Grübelei, vernachlässigte sein Studium und sprach zu Hause kaum noch ein Wort. Dann war er plötzlich verschwunden! Die Nachforschungen ergaben, daß er sich nach Amerika eingeschifft hatte. Eine Ansichtskarte aus New York, die nach sechs Wochen eintraf, war das letzte Lebenszeichen. Er blieb verschollen. Herbert Vanhusen rief sich und Thora erst alle diese Einzelheiten wieder insGedächtnis zurück, bevor er von seinem Zusammentreffen mit Bruno berichtete. Er schilderte sein maßloses Erstaunen, als er bei seiner Rückkehr nach Berlin dem Totgeglaubten in, seiner Wohnung begegnete. Bruno sei kaum wiederzuerkennen gewesen. Aus dem schmucken Studenten von damals sei ein Mensch geworden, der auf sein Äußeres keinen Wert mehr lege und nach seinem eigenen Eingeständnis am glücklichsten sei, wenn er auf unbekannten Landstraßen die weite Welt durchwandere. Die Meinung seiner Verwandten und Bekannten und der Menschen überhaupt sei ihm »piepegal«; das Abenteurerleben bekomme ihm ausgezeichnet, und er dächte gar nicht daran, wieder ins bürgerliche Dasein zurückzukehren. Thora hatte mit lebhaftem Interesse zugehört. Die Wandlung, die sich, nicht ohne ihre Schuld, an Bruno vollzogen hatte, schien sie stark zu beeindrucken. -27-
»Wovon lebt er denn eigentlich?« »Bisher besaß er wohl noch immer etwas Geld, das er drüben ersparte. Als er sich bei mir einfand, war er allerdings mit seinen Mitteln am Ende. Ich habe ihm zunächst ein Bankkonto eingerichtet, auf das ich hin und wieder einen bestimmten Betrag überweise.« »Und du glaubst nicht, daß es möglich sein wird, ihn zur Vernunft zu bringen? Es kann doch sehr unangenehm für dich werden, wenn die Öffentlichkeit erfährt, daß dieser Phantast, der offenbar mindestens hundert Jahre zu spät auf die Welt gekommen ist, sagen darf: Herbert Vanhusen, der bekannte Flieger, ist mein Bruder!« »Was will ich machen? Ich habe ihm erst kürzlich eine größere Summe, die ungefähr seinem Anteil an der elterlichen Erbschaft entspricht, angeboten, wenn er sich verpflichtet, Berlin auf der Stelle zu verlassen. Er ist aber nicht darauf eingegangen. Übrigens bin ich überzeugt davon, daß er über kurz oder lang von selbst wieder verschwindet. Sein Wandertrieb wird ihn schon beizeiten auf die Beine bringen.« »Soll ich dir noch eine Tasse Tee eingießen?« fragte Thora. Das Thema Bruno war anscheinend für sie erschöpft. »Danke«, sagte Vanhusen gedehnt und blickte Thora ganz merkwürdig an. Er stand auf, trat zögernd auf sie zu und setzte sich auf die Lehne ihres Sessels. Als er den Kopf etwas niederbeugte, spürte er den.aufreizenden Duft eines seltsamen, süßlichherben Parfüms. Er atmete tief auf, seine Hand fuhr dabei behutsam über ihre seidenweiche, glänzende Haarflut. Ganz langsam wandte sie den Kopf zurück, langsam senkten sich die Lider über ihre Augen, ihr Mund öffnete sich ein wenig, und alles an ihr schien zu sagen: Küß mich! Küß mich nur, soviel du magst. Ich liebe nur einen, und das bist du... Herbert Vanhusen! Er jedoch ließ die Gelegenheit, die sich ihm bot, ungenutzt. Er -28-
nahm ihr Gesicht in seine Hände, näherte seinen Mund ganz dicht ihrem Ohr und sagte leise: »Wir müssen uns trennen, Thora!« Die Wirkung dieser Worte war verblüffend. Sie sprang auf, ihre dunkelblauen Augen blitzten voll empörter Glut, und ihre Lippen bebten. »Bist du wahnsinnig geworden?« Wie sie so dastand, wild und schön, bot sie ein Bild, das gewiß manchen Maler oder Bildhauer begeistert hätte. Herbert Vanhusen aber blieb nüchtern und sachlich. Er fühlte in diesem Augenblick, daß zwischen ihnen die letzte Herzensund Seelengemeinschaft nicht bestand, daß sie nie vorhanden war und sich auch wohl niemals einstellen würde. Das erleichterte es ihm, den einmal beschrittenen Weg weiter zu verfolgen. »Wahnsinnig bin ich nicht,Thora«, sagte er ruhig. »Ich finde aber, daß es richtiger ist, wenn wir dem gefährlichen Spiel, das wir treiben, endlich ein Ende machen. Damals, vor sechs Jahren, warst du so freundlich, mir kaltlächelnd zu erklären: Ich will nicht mehr! Dasselbe Recht wirst du auch mir zugestehen müssen, wobei noch zu berücksichtigen ist, daß du jetzt verheiratet bist und einen Mann hast, der dich irrsinnig gern hat, und den - wenn auch mit seinem Wissen zu betrügen eigentlich eine Gemeinheit ist. Doch selbst wenn man davon absehen wollte --« »Hör' mal, mein Bester«, unterbrach sie ihn gereizt, »seit wann macht es dir Vergnügen, mir die Rolle des Moralpredigers vorzuspielen? Hat es dich, als wir im vorigen Jahr in BadenBaden wären, etwa gestört, daß ich verheiratet war? Hat es dein zartes Gewissen irgendwie belastet, als du die Frau des Komponisten Mynius fast täglich in ihrer Wohnung besuchtest, während ihr Mann sich im Sanatorium aufhielt? Komm mir bitte nicht mit so fadenscheinigen Gründen, die nur die wahre Ursache deines plötzlichen Überdrusses verbergen sollen.« -29-
Die Hände auf dem Rücken, ging er im Zimmer auf und ab. Seine Augen waren auf den Teppich geheftet, als ob er dort irgend etwas suche. »Überdruß...«, sagte er gedehnt, »wer redet denn von Überdruß? Wir passen eben nicht zusammen, das ist alles. Du bist mir - verzeih! - zu oberflächlich. Laß mich einmal die Wahrheit sagen: Frauen wie du sind nur zu heller, rauschender Freude geschaffen; es ist bei ihnen kein stilles, friedvolles Ausruhen, sondern ewiger Aufruhr des Herzens und der Sinne. Man glaubt in glücklichen Stunden einen Klang zu vernehmen, der aus der Tiefe kommt; doch wenn man recht aufmerksam lauscht -- Was schaust du mich denn so groß und verständnislos an? Ich kann es auch anders sagen: Frauen wie du ziehen Herzen an, wie der Magnet das Eisen, doch sie strahlen nichts an Liebe zurück, was ihnen aus entflammten Seelen entgegenschlägt. Sie sind kalt, selbstsüchtig und unbarmherzig; die Natur betrog sie um die Fähigkeit, wahre Liebe zu geben, indem sie ihnen das Gefühl der Mütterlichkeit vorenthielt. Zu diesen Frauen gehörst auch du, Thora!« Sie hatte sich wieder in den Sessel gleiten lassen und lag, während er diese Worte sprach, in nachlässiger Haltung da, Kopf und Arme auf die Lehnen gestützt, die Beine weit von sich gestreckt. Ihre Finger trommelten nervös und gereizt auf dem Leder. »Sieh mal einer an« höhnte sie, »der Schopenhauer in der Westentasche, allerdings mit einem Schuß Wehleidigkeit und Toleranz. Der Ethiker mit einem erhobenen Zeigefinger steht dir übrigens gar nicht, Bertie. Komm her und bitte durch einen galanten Handkuß um Verzeihung, und deine stimmungtötenden Anwandlungen sollen vergessen sein.« »Mit Anwandlungen,« begehrte Vanhusen auf, »hat das wenig zu tun. Ich bin eben nicht dafür zu haben, auf unbeschränkte Zeit die würdelose Rolle eines Ehebrechers zu spielen. Der Kernpunkt liegt aber noch woanders: Du und ich, wir sind zwei -30-
verschiedene Menschen, die sich nie ganz verstehen werden, sobald die Herzen und nicht nur die Sinne sprechen. Verstehst du, was ich meine?« »Ich weiß gar nicht, was du willst. Ist es nicht große, selbstlose Liebe, wenn ich meinem eigenen Mann an den Rand der Verzweiflung treibe, nur weil ich dich nicht aufgeben will?« »Selbstlose Liebe«, lachte Vanhusen bitter, »selbstlose Liebe nennst du das? Wenn man das Kind mit dem rechten Namen bezeichnen soll, so ist das eine Niedertracht. Leider bin ich selber nicht schuldlos daran.« In einer plötzlichen Wallung trat er auf Thora zu, ergriff ihre Hand und sah ihr ernst ins Gesicht. Erstaunt und fragend begegnete sie seinem Blick. »Thora«, sprach er mit Wärme, »sei einmal recht vernünftig und versuche, zu deinem Mann wieder in ein erträgliches Verhältnis zu kommen. Ich habe oft eine dunkle Ahnung, als ob eines Tages über uns alle ein großes Unglück hereinbrechen würde. Du sagtest ja selber, daß dein Mann schon seit längerer Zeit Morphium nimmt. Er würde sicher nie auf diesen Gedanken gekommen sein, wenn seine Ehe nicht so unglücklich wäre. Laß uns daher wie gute Freunde auseinandergehen. Jeder folgt seinem eigenen Weg und behält den anderen und die gemeinsam verlebten Stunden in gutem Andenken. Es ist, von jeder Richtung aus gesehen» für alle Beteiligten das beste.« Sie hob müde die Hand und ließ sie wieder sinken. Es war etwas Überlegenes und Abweisendes in dieser Gebärde. »Sag' mal,« fragte sie lauernd, »was tatest du eigentlich in Paris? Ist dort vielleicht der Ursprung deiner Sinneswandlung zu suchen? Weshalb bist du nicht mit deinem Flugzeug direkt von London nach Berlin zurückgeflogen?« »Närrin«, entgegnete er, »was sollen diese Fragen? Ich habe dir schon neulich erzählt, daß ich meinen Apparat, der bei der Landung in Croydon erheblich beschädigt wurde, verkauft habe. -31-
Es hing mit meinen Plänen zusammen, über die ich heute mit dir sprechen wollte. Meine Reise nach Paris hatte überhaupt keinen besonderen Zweck; sie entsprang nur einer plötzlichen Laune. Eine Frau steckt bestimmt nicht dahinter. Darüber kannst du ganz beruhigt sein.« »Gib mir eine Zigarette!« Sie paffte wie ein Mann, sog den Rauch in die Lungen und blies ihn mit gespitzten Lippen wieder von sich. Eine kleine, eigensinnige Längsfalte auf der Stirn, genau über dem Nasenansatz, verriet deutlich ihren Unmut. Sie sah aus wie ein trotziges Kind, dem man etwas verboten oder einen geliebten Gegenstand fortgenommen hat. »Darf man denn nun endlich etwas über deine Pläne hören?« fragte sie barsch. Er ging sogleich ins Nebenzimmer und kam mit einem Aktenstück zurück. »Ein Beweis des Vertrauens und meiner ehrlichen Freundschaft, die niemals aufhören soll«, sagte er mit jungenhaftem Eifer, indem er sich Thora gegenüber setzte. »Auf deine Verschwiegenheit bauend, will ich dir etwas mitteilen, was ich bisher ängstlich geheimgehalten habe, und was die Öffentlichkeit vorerst noch nicht erfahren darf.« Dabei schlug er das Aktenstück auf und wies auf eine Federzeichnung, die ein dreimotoriges Flugzeug darstellte. Auf dem nächsten Blatt war der Querschnitt zu sehen. Thora, die nicht viel davon verstand, sah ihn fragend an. »Willst du so ein Ding etwa kaufen?« »Nein, nicht kaufen, sondern im Auftrage der Firma, die diese Riesenvögel herstellt, zu einem Rekordfernflug über weite Wasserstrecken benutzen. Das Ziel der Reise steht noch nicht endgültig fest. Ursprünglich war ein Nonstopflug nach New York geplant. Neuerdings besteht jedoch bei den Direktoren des Werkes größere Meinung für einen Flug nach Mexiko, und zwar soll die Reise vom Müggelsee direkt nach Veracruz gehen, eine -32-
Zwölftausendkilometertour ohne Zwischenlandung!« »Donnerwetter!« staunte sie. »Und der Zweck der Übung?« »Der ist doch einleuchtend! Wenn der Flug gelingt, woran ich bei der hervorragenden Konstruktion der Maschine nicht zweifle, so wird damit die Firma, die sich schon seit einiger Zeit um die Konzession zum Betrieb regelmäßiger Luftverkehrslinien zwischen Deutschland und einigen überseeischen Ländern bemüht, sehr gedient sein, während ich, für die Propaganda, die ein ge lungener Flug über die breiteste Stelle des Atlantik zwischen Europa und Amerika ohne Zwischenlandung bedeutet, ein entsprechendes Honorar erhalte, über dessen Höhe ich mit den Leitern des Werkes zur Zeit noch verhandle. Daß es meiner beruflichen Laufbahn nicht gerade abträglich ist, wenn ich diese gewaltige Strecke, an die sich bisher noch kein Flieger herangewagt hat, als erster bezwinge, wirst du dir denken können. Der betreffende Flugboottyp, der auf Langstreckenflügen noch gar nicht ausprobiert wurde, stellt geradezu einen Wendepunkt in der Entwicklung des Flugwesens dar. Ich kann dir das nicht so genau erklären, weil du die Materie nicht kennst. Soviel kann ich dir aber sagen, daß durch Verwendung besonders leichter und doch zäher Baustoffe, über deren Zusammensetzung ich vorläufig noch nichts verraten darf, das Eigengewicht des Apparates derartig herabgedrückt worden ist, daß die Mitnahme großer Betriebsstoffmengen möglich erscheint, wodurch sich nätürHch der Aktionsradius bedeutend erweitert.« »Und du willst ganz allein diesen sensationellen Flug wagen?« fragte Thora, die nun doch vor der Größe seines Vorhabens Respekt bekam. »Nein, nicht allein. Ein zweiter Flieger, der gleichzeitig den Posten des Bordmonteurs versehen soll, wird mich begleiten. Wer das sein wird, steht noch nicht fest.« »Interessant!« sagte Thora mit einem eigentümlichen Lächeln, -33-
»sehr interessant! Ich sehe ein, daß man angesichts einer so gewaltigen Aufgabe für Herzensbedürfnisse keine Zeit mehr hat.« Die Art, wie sie das sagte, ließ freilich erkennen, daß sie es durchaus nicht einsah. »Thora«, sprach er eindringlich, »weshalb so bitter? Ich werde ja nie ganz von dir loskommen; das ist gewiß, auch wenn ich dich nicht mehr sehe, deine Stimme nicht mehr höre und nichts mehr vom Zauber deiner Nähe spüre. Doch nun brauche ich zunächst die innere Freiheit, um das große Ziel, das ich mir gesteckt habe, zu erreichen. Laß uns also für's erste einen Strich machen. Es soll kein Schlußstrich, sondern sozusagen nur ein -Gedankenstrich sein. Wenn das, was jetzt vor mir liegt, geglückt ist, sehe ich vielleicht alles mit anderen Augen an. Vorläufig kann ich jedoch nichts anderes tun, als dich eindringlich bitten: laß mir meine Ruhe und meinen Frieden!« »Ist das alles, was du mir in den letzten zehn Minuten sagtest, tatsächlich dein Ernst?« fragte sie drohend. »Mein voller Ernst!« Nun schien sie doch einzusehen, daß der leichtfertige Zeitvertreib, der für sie seit langem Herbert Vanhusen hieß, sich rasch und unvermittelt seinem Ende zuneigte. Sie hatte sich schon zuviel vergeben, hatte schon zu offen das schmollende Gesicht der Verschmähten gezeigt, um nicht den Stachel des weiblichen Stolzes zu fühlen. Sie erhob sich wortlos, eilte auf den Korridor und griff wütend nach dem weißen Filzhut, den sie sic h eilig und unwirsch auf den Kopf stülpte. Vanhusen war ihr auf dem Fuße gefolgt. »Warum hast du es denn mit einemmal so furchtbar eilig?« fragte er verwundert. »Heute abend wird der Tonfilm *Verbrecher* uraufgeführt, zu dem Walter die Musik geschrieben ha t. Er geht natürlich hin. Ich denke, ich werde ihn begleiten.« -34-
»Ein vernünftiger Entschluß«, lobte Vanhusen, ohne sich etwas Arges dabei zu denken. Er kam gar nicht auf den Gedanken, daß sie das nur aus blindem, törichtem Trotz gesagt hatte. Sie sah ihn groß an, mit einem Blick voll Haß und Verachtung. »Aber Thora!« Ohne ihn noch weiter zu beachten, riß sie die Tür auf und eilte, so schnell sie konnte, die Treppe hinunter. ***
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Unten auf der Straße... Unten auf der Straße wartete der geschlossene hellgraue Mercedes. Die Lichter der Nachmittagssonne funkelten auf dem Verdeck und brachen sich in glitzernden Strahlenbündeln an den verchromten Stellen des vornehmen Gefährts. Heitekamp, der Chauffeur, ein Riese mit dunklem, hochgewichstem Schnurrbart und lustigen Augen, war auf seinem Sitz eingeschlafen. Thora trat auf ihn zu und schrie ihm in die Ohren: »Nach Hause!« Der Brave fuhr erschrocken zusammen, richtete sich auf und stotterte: »Jawoll, jnä' Frau!« Dann war er auch schon draußen, riß den Wagenschlag auf und knallte die Tür hinter ihr so forsch zu, als könnte er durch diese geräuschvolle Dienstbeflissenheit seinen pflichtvergessenen Schlummer wieder gutmachen. Mit wundervoller Leichtigkeit glitt der Wagen über den Kurfürstendamm dahin. Als die weniger belebten Vorortstraßen erreicht waren, setzte Heitekamp den Kompressor in Tätigkeit. Die Nadel des Tachometers, die bei der Zahl siebzig herumpendelte, begann vorwärtszuwandern. Mit neunzig Stundenkilometern brauste die schwere Limousine, von der starken, ruhigen Hand eines zuverlässigen Chauffeurs gesteuert, in der Richtung Zehlendorf-Nikolassee durch die grüne, von einem wolkenlosen Himmel überwölbte Sommerpracht. Thora, die es sonst liebte, mit hoher Geschwindigkeit zu fahren, pochte energisch gegen die Scheiben. »Heitekamp, sind Sie irrsinnig geworden?!... Fahren Sie doch gefälligst langsamer!« Die Jnädige hat heute schlechte Laune! dachte Fritz Heitekamp und schaltete den zweiten Gang ein. Der Geschwindigkeitsmesser ging auf vierzig herunter. -36-
»Was soll dieses Schneckentempo bedeuten?« kam es unwirsch aus dem Wageninnern. »Warum fahren Sie denn nicht schneller?« Die Jnädige hat heute sogar s e h r schlechte Laune! berichtigte Heitekamp im stillen seine Meinung. Er gab etwas mehr Gas und stellte Betrachtungen über das Leben der feinen Leute an. Sie waren fast immer unzufrieden; und mit der ehelichen Treue wurde es manchmal auch nicht so genau genommen. Er war erst seit vier Monaten auf diesem Posten; aber soviel hatte er schon herausgekriegt, daß bei seiner Herrschaft nicht alles in Ordnung war. Herr Mynius war ein guter Kerl, gewiß, sogar viel zu gut. Aber sie...? Wenn er »Hüh«! sagte, dann sagte sie »Hott!«, und dieses »Hott!« war meistens maßgebend. Wenn er, Fritz Heitekamp, mit diesem blonden Racker verheiratet wäre, er hätte sich längst eine derbe Hundepeitsche zugelegt und ihr damit klargemacht, daß nicht die Frau, sondern der Mann zu befehlen hat, wie sich das eben so gehört. Aber was ging ihn das alles schließlich an? Er war Gott sei Dank kein berühmter Komponist, der sich mit einer launischen und herrschsüchtigen Frau herumärgern mußte, sondern nur ein Chauffeur, dem im Grunde genommen alles ziemlich egal war, wenn er nur pünktlich seinen Lohn bekam. Und das war der Fall. In dieser Hinsicht konnte er wirklich nicht klagen. *** Die große zweistöckige Villa, die der Komponist Walter Mynius etwa ein Jahr vor seiner Verheiratung von einem namhaften Architekten nach eigenen Wünschen hatte erbauen lassen, lag am südwestlichen Rande des Vorortes Nikolassee in der Prinzregentenstraße. Die Häuser, durchweg prächtige, von großen Gärten und Parkanlagen umgebene Besitzungen, lagen -37-
hier alle an einer Seite, und zwar auf einer langgestreckten Anhöhe. Die gegenüberliegende Seite war unbebaut und gewährte einen freien Anblick auf Wiesen und Waldungen. In dieser vornehmen und ruhigen Gegend, die nichts von der Nähe der Riesenstadt Berlin ahnen ließ, konnte man sich schon wohlfühlen. Kein Lärm drang in diese Einsamkeit, selbst an den Sonntagen nicht, wenn die Wannseebahn - während der warmen Jahreszeit - Tausende und aber Tausende von Freibadbesuchern brachte. Die Prinzregentenstraße lag ziemlich weit vom Bahnhof Nikolassee entfernt, so daß die Anwohner nichts von dem regen Ausflüglerverkehr bemerkten. Das Mynius'sche Besitztum, das von dem Nachbargrundstück durch einen großen, nach der Straße zu schräg abfallenden Park getrennt war, lag am äußersten Rande der Ortschaft. Die weiße Villa des Komponisten, ein viereckiger, in strengen Linien gehaltener moderner Bau, der schon von weitem zwischen den Stämmen alter Buchen und Edeltannen sichtbar wurde, war das letzte Haus an der Straße. Was dahinter kam, war Neuland, noch unberührt und unbebaut, das aber schon darauf wartete, von dem Moloch Groß-Berlin verschluckt zu werden. Kein Mensch, der je unten auf der Straße seines Weges zog, hätte vermuten können, daß die Bewohner dieses prächtigen Wohnsitzes nicht glücklich waren. Alles sah nach Wohlstand und Zufriedenheit aus. Nur wer den Besitzer des weißen Hauses näher kannte - es waren ihrer nicht viele, denn Mynius vermied nach Möglichkeit jeden geselligen Verkehr -, der wußte, daß der Schein trog. Von Frau Thora konnte man allerdings nicht genau sagen, ob sie mit ihrem Schicksal haderte; aus ihr wurde man so leicht nicht klug. Wenn das Ehepaar Mynius eine Gesellschaft gab, was selten vorkam, war sie eine liebenswürdige, charmante Wirtin, jeder Zoll die Dame von Welt, die die Konversation leitete wie ein Feldherr die Schlacht, und deren Schönheit, Geist und Geschmack die männlichen Gäste mit Bewunderung, die weiblichen mit Neid erfüllte. -38-
Hätte man die Gattin des Komponisten Walter Mynius rundheraus gefragt, ob sie sich an der Seite eines so berühmten und geschätzten Künstlers glücklich fühle, so hätte sie wahrscheinlich geantwortet: »Gut, daß Sie mich daran erinnern. Ich habe mir bisher noch gar nicht die Zeit genommen, darüber nachzudenken.« Man hätte dazu nur verbindlich lächeln können und wäre so klug gewesen wie vorher. Vor dem Metropolpalast in der Kantstraße staute sich die Menge. Es war das gewohnte Bild, wie man es immer wieder an Premierenabenden vor den großen Berliner Kinotheatern zu sehen bekommt. Der riesige Andrang hatte das Eingreifen des Schupobeamten erforderlich gemacht, der mit Umsicht und Eifer den Verkehr regelte. Es war ein ständiges Anrollen und Abfahren von Automobilen, die sich in langer Kette mühsam vorwärtsschoben. Zwei Angestellte des Metropoltheaters, die sich in ihren dunkelblauen Livreen sehr schmuck und würdig vorkamen, waren den Autoinsassen beim Aussteigen behilflich und sorgten dafür, daß der Eingang freigeharten wurde. Auf dem Bürgersteig hatte sich eine große Zahl von Schaulustigen eingefunden, die in erster Linie gekommen waren, um die prominenten Heldinnen und Helden der tönenden Leinwand, die wie üblich der Uraufführung ihres Tonfilms persönlich beiwohnten, einmal aus nächster Nähe zu sehen. Jetzt kam eine schwere Limousine vorgefahren. Einer der Dunkelblauen eilte hinzu, öffnete den Wagenschlag und riß mit einer zackigen Bewegung die Mütze vom Kopf. »Das ist Walter Mynius«, sagte ein feschgekleidetes, blutjunges Mädel zu seinem Begleiter, der sich daraufhin auf die Zehenspitzen stellte, um besser sehen zu können. »Hm«, machte er enttäuscht, »den hab ich mir anders vorgestellt. Ich dachte immer, wer so schmissige Schlager komponiert, müßte wie Adolf Wohlbrück oder Viktor de Kowa -39-
aussehen. Aber der ist ja lang und dünn, hat 'n dreieckiges Gesicht, dazu 'ne Stirn wie 'n Wolkenkratzer, 'n Kopp wie 'ne Billardkugel und Lippen wie 'n Neger. Du, wenn ich 'ne Frau wäre, mein Geschmack wäre das nicht.« »Der Mann ist eben ein Genie«, belehrte ihn die Kleine. »Genies brauchen nicht hübsch zu sein. Jedenfalls versteht er etwas von Musik. Du siehst doch, wie die Leute, sogar jetzt mitten im Sommer, ins Kino rennen, seitdem er zu allen großen Tonfilmen die Musik schreibt.« Walter Mynius hatte in der großen Seitenloge im zweiten Rang, die für die Hauptdarsteller reserviert war, Platz genommen. Außer ihm saßen noch elf Personen dort, drei Damen und acht Herren, darunter die Drehbuchverfasser. Man begrüßte sich, äußerte Genugtuung über das volle Haus und war sich einig darüber, daß der Abend ein Bombenerfolg werden würde. »Wenn die Leute diese Musik hören«, sagte der dicke Alois Patermann, der in dem Film die Rolle eines Kneipenwirtes spielte, »dann sind sie platt.« »Die Musik ist nicht das Entscheidende«, bemerkte Mynius in seiner feinen, stillen Art. »Die Hauptsache ist die Idee und ihre Verkörperung durch die Darsteller. Sie alle haben bedeutend mehr Anteil als ich. Ich habe nur meinen musikalischen Senf zu diesem ausgezeichneten Gericht beigesteuert.« Ria Orczy, Trägerin der weiblichen Hauptrolle, eine hochgewachsene, graziöse Blondine, die mit ihrem bürgerlichen Namen Franzke hieß, wandte sich um. Eine Sekunde lang sah sie Mynius fest in die Augen. Bewunderung, gemischt mit ein wenig Koketterie, lag in diesem Blick. »Unser allseitig verehrter Meister stirbt nächstens noch an Bescheidenheit!« Die anderen schmunzelten beifällig. Paul Eckwerth, der Held und Frauenliebling, der neben der Orczy saß, flüsterte ihr zu: -40-
»Und unsere allseitig verehrte Rita stirbt nächstens noch an Einbildung.« »Frechdachs!« kam es leise zurück. »Auf was bilde ich mir denn so viel ein?« »Auf deinen Augenaufschlag, dem du zum Teil deine hohe Gage verdankst. Ich nehme aber an, daß du damit auf einen Mann wie Walter Mynius schwerlich Eindruck machen wirst. In seiner Villa in Nikolassee sitzt nämlich ein ähnliches süßes Ding wie du und weiß, wie ich auf dem letzten Presseball festgestellt habe, auch nicht übel mit seinen dunkelblauen Pupillen umzugehen. Du bist die große Orczy, gewiß, fabelhaft in jeder Hinsicht; aber wenn ich an Thora Mynius denke - ich weiß nicht, da steckt etwas drin, was die blasiertesten Männer toll macht. Wenn diese Frau zum Film käme, ich bin überzeugt, in einem Jahr hätte die Welt ihre deutsche Greta Garbo.« Ria Orczy begann sich zu ärgern, aber sie ließ sich nichts merken. Paulchen Eckwerth, dieses Scheusal, schwärmte ihr natürlich nur deswegen so viel von der Gattin des Komponisten vor, um sie in Harnisch zu bringen. »Das Äußere tut's nicht allein, mein Junge, man muß auch Talent haben«, sagte sie mit selbstbewußter Betonung der letzten Worte. »Im übrigen möchte ich bloß wissen, weshalb Walter Mynius seine Frau nicht mitgebracht hat. Ich denke, bei einem so festlichen Anlaß müßte sie doch eigentlich mit dabei sein.« »Wird schon seine Gründe haben. Vielleicht will er sie nicht den Blicken der vielen Gaffer aussetzen, die alles, was in dieser Loge sitzt, mit ihren Operngläsern bestaunen, als wären wir Zooinsassen auf Urlaub. Vielleicht hat aber auch s i e ihre Gründe. Man weiß ja nie ---.« In Wirklichkeit war es so, daß Thora ihre Weigerung, mit zur Premiere zu fahren, mit Migräne begründet hatte. Ein wuchtiger Gongschlag unterbrach die im Flüsterton -41-
geführte Unterhaltung, während gleichzeitig in dem weiten Zuschauerraum die Lichter erstarben. Es ging los. Erst kam die Tonfilmwochenschau, dann, nach einer kurzen Pause, begann die seit langem mit Spannung erwartete deutsche Uraufführung des Großfilms »Verbrecher«. *** Während alles den eigenartigen Melodien der Ouvertüre lauschte, entnahm Mynius, der allein in der letzten Reihe der Loge saß, einem kleinen Lederetui eine Morphiumspritze. Er kannte schon gut genug die Stelle am linken Unterarm, um sich auch im Dunkeln zurechtzufinden. Zu seinem Ärger mußte er aber feststellen, daß er zu Hause vergessen hatte, das Instrument mit dem für ihn unentbehrlich gewordenen Beruhigungsmittel zu füllen. Er überlegte schon, ob er nicht schnell heimfahren sollte, entschloß sich dann aber, zu bleiben, weil er befürchtete, daß sein Verschwinden Aufsehen erregen würde. Den Kopf in beide Hände gestützt, starrte er mit müden unbeweglichen Augen zur Leinwand hin. Sein blanker Schädel leuchtete im matten Licht, das von den Vorgängen auf der weißen Fläche in das Dunkel des Zuschauerraums strahlte, so auffällig, daß man auf dem gegenüberliegenden Rang darauf aufmerksam wurde. »Sieh, drüben in der Loge, vierte Reihe rechts, sitzt der Komponist Mynius und läßt sein Licht leuchten. Bei dem helfen auch keine Haarwuchsmittel mehr.« Als die Ouvertüre verklungen war, begann die eigentliche Handlung, eine seltsame Geschichte aus der internationalen Verbrecherwelt. Walter Mynius hatte zu diesem Film, der sich in mehr als einer Hinsicht von der modernen operettenhaften Unterhaltungsware unterschied, eine Musik geschrieben, die jeder Szene bis ins kleinste gerecht wurde. Alles war neu und unbedingt originell. Man staunte, woher der Mann die Ideen -42-
nahm. Hätte man das Innenleben des Künstlers gekannt, so würde man verstanden haben, weshalb ihm die musikalische Untermalung gerade dieses Werkes so gut gelingen mußte. Die Schlager, die Mynius sonst schrieb, die ungezählte Musik-, kapellen. Schallplatten, Orgeldreher und Hofsänger zum Ruhme des Komponisten langsam zu Tode schleiften, waren gekonntes Handwerk eines schmerzlich lächelnden Bajazzos, der erst das wahre Gesicht zeigte, wenn er allein in seiner Villa am Flügel saß und den Tasten schwermutige Melodien entlockte, die aus der Stimmung des Augenblicks geboren wurden und ebenso schnell und für immer wieder verklangen. Als Myn'us die Musik zu dem Tonfilm »Verbrecher« schrieb, konnte er ganz aus sich herausgehen. Der Stoff packte ihn so sehr, rührte so stark an Problemen des eigenen Lebens, daß er zunächst erschrak, dann aber sich mit heißem Herzen an die Arbeit machte. Er brauchte sich nicht erst in die Figur der Heldin zu vertiefen; was hier gezeichnet war, kannte er bereits zu gut. Er sah, während er neue Melodien ersann, nur immer Thora vor sich, seine schöne, unvergleichliche Thora, Engel und Teufel in einer Person. Und während seine langen, nervösen Finger über die Tasten glitten, fühlte er so stark die Tragik seiner Ehe, daß er - erklärbar aus seiner feinen, weichherzigen Künstlernatur - oft dem Schluchzen nahe war. Denn so standen die Dinge: Walter Mynius war seit sechs Jahren mit Thora Horwicz, der ältesten Tochter eines tschechischen Großgrundbesitzers, verheiratet. Er, der körperlich Benachteiligte, Häßliche, hatte eines der schönsten, klügsten und begabtesten Mädchen der Berliner Gesellschaft heimgeführt. Und was wurde daraus? Es wurde nach einer kurzen Spanne Glück ein stiller, zäher Kampf um die Vorherrschaft in der Ehe, ein Kampf, den er verlieren mußte, weil seine Liebe um ein Vielfaches größer und stärker war als die ihre. -43-
Als die Fronten klar abgesteckt waren und Thora erkannt hatte, daß er rettungslos im Netz ihrer Anmut und Süße gefangen saß, begann sie, jenes grausame weibliche Spiel zu treiben, das den Betroffenen wüns chen läßt, zum Haß fähig zu sein, um damit alle Regungen der Liebe, die keinen Widerhall findet, zu ersticken. Erst heimlich, dann immer dreister und offenkundiger nahm sie die Beziehungen zu ihren früheren Verehrern wieder auf. Er hielt das zunächst für ein harmloses Spiel mit dem Feuer, dazu bestimmt, ihn eifersüchtig zu machen. Als er aber merkte, daß sie ihm wirklich mehr und mehr entglitt, begann er, alle Anstrengungen zu machen, sich den köstlichen Besitz zu erhalten. Es war ein Kampf mit untauglichen Mitteln. Alle Zärtlichkeit, jedes geduldige Eingehen auf ihre Launen und alle Beteuerungen seiner Liebe erreichten nur das Gegenteil von dem, was er davon erhoffte. Es kam zu erregten Szenen, die jedoch stets damit endeten, daß er sich aufs Betteln verlegte. Der Erfolg war der, daß sie dann aus dem Zimmer rauschte und tagelang kein Wort mit ihm sprach. Er wußte sich nicht zu helfen und stand vor einem Rätsel. »Daß ich kein Adonis bin«, sagte er im Selbstgespräch vor dem Spiegel, »wußte sie doch schon damals, bevor wir uns heirateten. Habe ich mich seither denn so verändert? Habe ich alte Eigenschaften abgelegt und neue angenommen? Wie ist es möglich, daß ich ohne Schuld um etwas geprellt werde, was ich mir ehrlich erwarb, daß etwas unter meinen Händen zerrinnt, was ich für unverlierbar und beständig hielt?« Walter Mynius war ein guter Musiker, aber ein schlechter Frauenkenner. Er ahnte nicht, daß es Frauen gibt, für die der Begriff Liebe in landläufigem Sinne überhaupt nicht existiert, die alles vom Standpunkt ihrer eigenen Wünsche und Bedürfnisse aus betrachten und dementsprechend handeln. Sie verachten, was sie gestern noch bewundert haben; und je mehr man ihnen seine Liebe zu erkennen gibt, desto einsilbiger wird -44-
die Sprache ihres Herzens, wenn sie nicht gar zum Schweigen kommt. Eines Tages fand Mynius auf dem Schreibtisch seiner Frau einen Brief, der die Unterschrift »Herbert« trug. Er erriet sofort, daß niemand anders als der Flugkapitän Vanhusen der Absender sein könne, jener Herbert Vanhusen, mit dem Thora vor ihrer. Ehe ein Verhältnis hatte, das sie einige Wochen vor der Verlobung loste, später aber, etwa zwei Jahre nach der Hochzeit, wieder aufnahm. Mynius, von Eifersucht gepeinigt, ließ durch Detektive ihr Tun und Treiben überwachen. Die Feststellungen ergaben, daß ihr Lebenswandel nicht einwandfrei war. Auf Grund schlüssiger Beweise wäre eine Scheidung mühelos zu erreichen gewesen. Mynius konnte sich zu diesem letzten Schritt jedoch nicht entschließen, auch dann nicht, als Thora ihm auf seine Vorhaltungen erklärte: »Du weißt, daß ich Bert geliebt habe, bevor ich dich kannte!« Er bat, beschwor, wurde weich, doch sie sagte nur: »Was ist schon dabei? Laß mir doch mein harmloses Vergnügen!« Seinen grimmigen Zorn, der nun doch endlich - in ihm aufwallte und Tätlichkeiten befürchten ließ, wußte sie auf ihre Art schnell und gründlich zu beschwichtigen, und so blieb alles beim alten. Mynius, seiner, unentrinnbaren Hörigkeit dieser Frau gegenüber sich qualvoll bewußt, begnügte sich hinfort mit dem bescheidenen Platz an ihrer Seite, den sie ihm noch zugestand, und nährte im stillen einen verzehrenden Haß gegen Herbert Vanhusen, den er als den Räuber seines Glückes betrachtete. Er vermied es aber, einen Skandal zu entfachen, weil er befürchtete, Thora dann ganz zu verlieren. Im Widerstreit der Empfindungen behielt das Herz regelmäßig über den Verstand, der eine gewaltsame Entscheidung forderte, die Oberhand. Walter Mynius brachte es nicht fertig, sich zu einem Verzicht durchzuringen. Er fühlte deutlich, daß ihn diese Frau seelisch langsam zugrunde richtete; aber er klammerte sich mit verbissener Zuversicht an die Hoffnung, daß sie eines Tages doch wieder den Weg zu ihm -45-
finden würde. Der erwartete Umschwung blieb jedoch aus; und so kam es, beschleunigt durch stärkste berufliche Inanspruchnahme, zu einem regelrechten Nervenzusammenbruch. Mynius suchte Heilung in einem Sanatorium. Als er einige Wochen später nach Hause zurückkehrte, fand er das Nest leer. Thora war mit Bekannten nach Nizza gefahren. Der beklagenswerte Strohwitwer stürzte ach in die Arbeit; aber es wollte ihm nichts Rechtes gelingen. Erst als er in einer Stunde tiefster Niedergeschlagenheit seine Zuflucht zum Morphium genommen hatte und auch in der Folgezeit regelmäßig dem verführerischen Gift erlag, wurde es wieder besser. Es gab jetzt viel zu tun, denn der Tonfilm brauchte musikalische Talente; die großen Filmgesellschaften rissen sich förmlich um die Mitarbeit des beliebten Schlagerkomponisten. Walter Mynius aber, dessen wunderbare Melodien die Menge entzückten, war körperlich und seelisch schon ein todkranker Mann. Er war gereizt, launisch, schwermütig und litt an Wahnvorstellungen. Zuweilen fuhr er nachts aus tiefem Schlafe hoch, rief gellend irgendeinen Unsinn oder schrie mit vor Entsetzen bebender Stimme nach der Polizei. Ein Schuß hallt durch den weiten Zuschauerraum des Metropolpalastes. Das Publikum folgt mit gespanntester Aufmerksamkeit den Vorgängen auf der Leinwand, wo sich soeben Albrecht Wolfram, der Gatte der schönen, blonden Lisa in feinster Herausarbeitung des Dämonischen trefflich dargestellt durch Ria Orczy - erschossen hat. Da - was ist das?... In der Prominentenloge wird es lebendig. Walter Mynius, der schon eine ganze Zeitlang mit offenem Münde in seinem Sessel hockte und, von den übrigen unbeachtet, bisweilen wild mit den Händen durch die Luft fuhr, ist lärmend aufgesprungen. Man dreht sich nach ihm um. Er windet sich durch die Reihen -46-
vor ihm nach vorn, lehnt sich weit über die Brüstung und schreit so laut, daß sein Gesicht blau und rot wird vor Erregung: »Blödsinn! B l ö d s i n n!! Total verrückt der Mann! Weshalb erschießt er sich...? Weshalb erschießt er nicht die Frau!?« Man bemüht sich um den Aufgeregten, der offenbar plötzlich in geistige Umnachtung gefallen ist. Der dicke Scha uspieler Patermann, der Regisseur Lengerken und Doktor Hauschild, einer der Drehbuchverfasser, umdrängen Walter Mynius, reden begütigend auf ihn ein und wollen ihn hinausführen. Da fällt sein Blick auf die blonde Frau neben Paul Eckwerth, der sich im Film soeben erschoß, in Wirklichkeit aber seinen Arm in den der Orczy geschoben hat und die Verstörte durch zärtliches Händestreicheln zu beruhigen versucht. Mynius, der am ganzen Körper zittert, will sich mit wutverzerrtem Gesicht auf die zu Tode erschrockene Filmdiva stürzen, wird aber überwältigt und aus der Loge hinausgedrängt. Draußen hört man noch seine keuchende Stimme: »Weshalb bringt man solche Frauen nicht einfach um?« Im Publikum hat der Zwischenfall starke Beunruhigung hervorgerufen. Aus dem Stimmengewirr, das sich erhoben hat, werden vereinzelte Rufe laut, die eine Unterbrechung der Vorführung fordern. Es dauert auch nicht lange, bis diesem Wunsche entsprochen wird. Die Lichter flammen auf, ein hagerer Herr im tadellosen Smoking erscheint vor dem Vorhang und hält eine kleine Ansprache: »Meine sehr geschätzten Damen und Herren! Im Namen der Direktion richte ich die Bitte an Sie, den peinlichen Vorfall, der Ihren Kunstgenuß auf so unliebsame Weise unterbrochen hat, rasch wieder zu vergessen. Unser verehrter Mitarbeiter, Herr Walter Mynius, dem wir den ausgezeichneten musikalischen Teil unseres neuen Tonfilms verdanken, ist einer Nervenüberreizung, wie sie bei schaffenden Künstlern ja bisweilen vorkommt, zum Opfer gefallen. Er befindet sich -47-
bereits in ärztlicher Obhut. Wir bitten, den unliebsamen Zwischenfall zu entschuldigen und unserem Tonfilm, mit dessen Vorführung wir jetzt fortfahren, mit derselben Aufmerksamkeit wie bisher zu folgen.« Hier und da hört man noch erregtes Getuschel, dann tritt Ruhe ein. Der Film läuft weiter. In der Prominentenloge ist es mit der festlichen Stimmung allerdings vorbei. Der Fall Mynius wird leise besprochen. Man ist wie vor den Kopf geschlagen. Am ratlosesten ist noch immer die Orczy, die sich den gegen ihre Person gerichteten plötzlichen Wutanfall des Komponisten gar nicht erklären kann. Erst als es wieder hell wird und die Menge mit lautem Beifall die Hauptdarsteller ehrt, weicht die allgemeine Beklemmung. Man hattn der Loge der Prominenten, wo sich alles immer und immer wieder lächelnd verneigt, in diesen erhebenden Minuten nur die eine beglückende Empfindung: Ein Erfolg wie noch nie! Die Sache mit Mynius ist vergessen. *** »Haben gnädige Frau sonst noch Wünsche?« »Nein. Sie können schlafen gehen, Martha.« Thora lag auf der Couch, ein aufgeschlagenes Buch in der Hand. Vor ihr, auf einem niedrigen Tischchen, standen Zigaretten. Nachdem sie kaum eine halbe Stunde gelesen hatte, klappte sie das Buch wieder zu. Es interessierte sie nicht, die weitere Entwicklung und den Schluß dieser. Liebesgeschichte zu erfahren. Das war nun ein Schriftsteller, dessen Werke man kennen mußte, wenn man nicht rückständig erscheinen wollte. Dabei war manches, was in diesem Buche stand, in ähnlicher -48-
Form schon dagewesen, sowohl in bezug auf die Fabel als auch auf die Art, wie hier boshafte Wahrheiten und Lebensweisheiten zum besten gegeben wurden. Das alles hatte ein Oscar Wilde schon vor fünfzig Jahren viel besser gesagt. Thora zündete sich eine Zigarette an, drehte sich auf den Rücken, zog die Knie hoch und dachte, angeregt durch das soeben beendete Lesen, über den Sinn ihres Lebens nach. Wenn sie allein war und die Gewißheit hatte, von keinem Menschen gestört zu werden, konnte sie sich gelegentlich recht ernsthaft mit derartigen Gedankengängen beschäftigen. Es kam freilich nie eine neuartige Nutzanwendung dabei heraus, weil sie der Ansicht war, daß alles in schönster Ordnung sei. Wo sie auch in Erscheinung trat, war sie Mittelpunkt. Damit war der Zweck ihres Daseins eigentlich schon erfüllt. Einer war gewesen, ein einziger nur, der mit der selbstbewußten Kraft des Siegers die Tore ihres Herzens geöffnet hatte: Herbert Vanhusen. Sie hatte sich schon auf der Fahrt nach Hause, dann im Bade und später noch einmal während des Lesens dabei ertappt, daß sie an ihn dachte. Nach einigem Überlegen stellte sie ganz sachlich fest: Du zappelst im Netz, hast eine Liebesaffäre wie ein Pensionatsmädchen, das um den verlorenen Anbeter trauert. Schäm dich, Thora! Ist es nur verletzter Stolz, oder bist du neuerdings wirklich so unmodern geworden, den Ballast einer unglücklichen Liebe mit dir herumzuschleppen? Je mehr sie über diesen Punkt nachdachte, desto greifbarer wurde die Gewißheit, daß sie tatsächlich ihr Herz, den Mittelpunkt ihres sonst so kühlen und selbstsücht igen Empfindens, an den Flieger verloren hatte. Was war es nun, was sie jetzt, in dieser Stunde, für ihn empfand? War sie, nachdem er sich von ihr losgesagt hatte, noch imstande, ihm Gutes zu wünschen? - Nein! Wenn er demnächst mit seinem Flugboot ins. Meer stürzen und ertrinken -49-
würde, so würde sie diese Nachricht wahrscheinlich mit tiefer Genugtuung aufnehmen. Verwundert schüttelte Sie den Kopf. Also wirklich ein ernster Fall...? Es schien wohl so. Der aufkeimende Haß, der mancher echten Liebe so sicher fo lgt wie der Donner dem Blitz, war das Barometer, von dem sie die Stärke ihres Gefühls für den abtrünnigen Geliebten ablesen konnte. In ihrer Grübelei wurde sie durch ein Geräusch unterbrochen. Sie war so sehr in Gedanken versunken, daß sie gar nicht das Nahen des Autos gehört hatte, das soeben unten vorgefahren war. Jetzt wurde die Tür zur Diele geöffnet. Thora vernahm zu ihrem Erstaunen eine fremde Stimme: »Melden Sie mich bitte der gnädigen Frau!« Mit schweren Schritten kam jemand nach oben gestapft. Es war der Chauffeur Heitekamp. Die Tür zum Salon stand offen. Heitekamp näherte sich zögernd. »Jnädige Frau, unten ist ein Herr, Doktor Kalasch oder so ähnlich, der jnädige Frau sprechen möchte.« »Ein Arzt...? Um Gottes willen, ist etwas passiert? Wo ist denn mein Mann?« »Der sitzt unten in der Diele und sagt keinen Ton.« »Sagen Sie mal, Heitekamp, sind Sie verrückt geworden, oder was ist los?« »Das werden sich jnädige Frau wohl besser von dem Doktor erklären lassen. Ich weiß auch nicht genau, was da eigentlich passiert ist.« »Machen Sie mal die Tür zu!« Heitekamp schloß die Tür und drehte seine Mütze verlegen in der Hand. »So, nun erzählen Sie mal!« »Tja, das ist nämlich so gewesen. Ich warte auf dem Parkplatz -50-
vor dem Kino und denke noch, es wird ja nun wohl bald aus sein, da kommen ein paar Herren direkt auf meinen Wagen zu. In der Mitte geht Herr Mynius, und ich staune nicht schlecht, als ich sehe, daß er von den anderen gestützt wird. Nanu, denke ich, ist ihm bei der Hitze am Ende schlecht geworden? Der Herr, der jetzt unten sitzt, nennt mir eine Adresse, Ansbacher Straße 114, und steigt mit Herrn Mynius ein. Ich will noch fragen, wieso - da sagt er: ,Wir haben keine Zeit! Beeilen Sie sich!' und ich fahre denn also los. Vor dem Hause 114 in der Ansbacher Straße steigt er mit Herrn Mynius aus. Nach einer Viertelstunde kommen sie wieder, und dann sagt der Doktor: ,So, nun schleunigst nach Nikolassee!' Na, und dann bin ich gefahren, was der Motor hergab.« »Das ist ja alles im höchsten Grade merkwürdig. Sagen Sie dem Herrn, ich lasse bitten!« Der Fremde war ein älterer Mann von stattlicher Erscheinung. Er trug einen weißen Spitzbart, war sehr sorgfältig gekleidet und machte einen würdigen und vertrauenerweckenden Eindruck. Er stellte sich als Doktor Karrasch vor, bat wegen der späten Störung um Entschuldigung und schilderte, was sich während der Uraufführung im Metropolpalast zugetragen hatte. Da man bei dem Patienten eine Morphiumspritze vorgefunden habe, sei die Annahme nicht von der Hand zu weisen, daß es sich hier um eine zeitweilige Funktionsstörung des Bewußtseinskomplexes handelte, hervorgerufen durch unregelmäßigen Morphiumgenuß. Es sei dem Mediziner längst bekannte Tatsache, daß bei Rauschgiftsüchtigen willkürliche Dosierungen oft zu seelischen Erschütterungen führten, die in schwereren Fällen ähnliche Erscheinungsformen zeigten, wie man sie hier beobachtet habe. Ob der vorübergehend auftretendenGeistesstörung etwa noch andere Krankheitsursachen organischer Art zugrunde lägen, könne erst nach eingehender Untersuchung gesagt werden. Er, Doktor Karrasch, habe auf alle Fälle zunächst eine Morphiüminjektion -51-
vorgenommen und ein starkes Schlafmittel verabreicht, so daß für diese Nacht nichts zu befürchten sei. Er empfehle jedoch, gleich morgen früh die Unterbringung des Kranken in ein Sanatorium zu veranlassen. Thora war über das Gehörte sichtlich erschrocken. Nur mit Mühe vermochte sie ihre Fassung zu bewahren. »Sie verlangen doch nicht im Ernst von mir, Herr Doktor. diese Nacht mit einem Geisteskranken unter eine m Dach zu verbringen?« Der Arzt hob beschwichtigend die Hand. »Bitte nur keine Aufregung, gnädige Frau. Es besteht nicht die geringste Gefahr. Das Schlafmittel wird bestimmt seine Schuldigkeit tun. Ich werde, wenn Sie es wünschen, mich morgen früh beizeiten wieder einfinden, um alles Weitere zu veranlassen.« »Wollen Sie nicht lieber die Nacht hierbleiben? Ich lasse sofort ein Fremdenzimmer --« »Sehr gütig, aber es geht leider nicht«, unterbrach Doktor Karrasch mit einem bedauernden Achselzucken. »Ich habe heute abend noch eine dringende Verabredung, die ich unter allen Umständen einhalten muß.« Als er sah, wie sehr sie von seiner Ablehnung betroffen schien, fügte er hinzu: »Sie brauchen sich, wie gesagt, wirklich nicht zu fürchten, gnädige Frau. Ihr Herr Gemahl wird so fest schlafen, daß er selbst von einem Kanonenschuß nicht aufwachen würde.« Sie rang verzweifelt die Hände. »Eine schreckliche Situation«, jammerte sie. »Wie ist es denn nur möglich, daß jemand plötzlich den Verstand verliert?« »Sie sehen zu schwarz, gnädige Frau. Von Verstandverlieren kann hier wirklich nicht die Rede sein. Heruntergewirtschaftete Nerven und Morphium - das läßt sich schon wieder kurieren. Wußten Sie übrigens, daß Ihr Gatte morphiumsüchtig war« -52-
»Ja, das war mir bekannt.« »Ist Ihnen sonst noch irgend etwas an ihm aufgefallen?« »Er war in der letzten Zeit sehr unruhig und aufgeregt und sprach zuweilen nachts aus dem Schlaf. Mit den Nerven hat es wohl immer bei ihm gehapert. Vor einigen Jahren war er schon einmal in einer Heilanstalt.« »Das ist ja interessant! Welche Anstalt war das, wenn ich fragen darf?« »Er war bei Herrn Professor Sonnenborn in Schmargendorf.« In diesem Augenblick wurde draußen leise an die Tür gepocht. Thora zuckte zusammen. Es war der Chauffeur, der meldete, daß Herr Mynius unten in der Diele eingeschlafen sei. »Sehen Sie«, beruhigte sie der Doktor, »wie gut das Schlafmittel schon gewirkt hat! Sie brauchen sich um gar nichts zu kümmern. Ich werde, um Ihnen jede weitere Aufregung zu ersparen, jetzt mit Hilfe Ihres Chauffeurs Ihren Gatten zu Bett bringen und morgen frühzeitig wieder zur Stelle sein.« Thora dankte dem Arzt und ging, nachdem dieser sich verabschiedet hatte, in ihr Schlafzimmer hinüber, das im gleichen Stockwerk auf der entgegengesetzten Seite lag. Kaum hatte sie sich eingeriegelt und auch die Tür zum Badezimmer, das sowohl von ihrem als auch vom Schlafzimmer ihres Mannes zugänglich war, verschlossen, als Schritte auf der Treppe laut wurden. Es waren Doktor Karrasch und Heitekamp, die mit vereinten Kräften den Schlafenden nach oben trugen. Thora saß auf dem Bettrand, starrte vor sich hin und überlegte, was zu tun sei. Sich ins Bett zu legen, hatte natürlich keinen Sinn. Sie war jetzt viel zu aufgeregt, um schlafen zu können. Obwohl sie die Türen sorgfältig verriegelt hatte, war ihr zumute wie einem Verfolgten, der in seinem Unterschlupf von unsichtbaren Feinden belagert wird. -53-
Wenige Schritte entfernt, nur durch den Baderaum von ihr getrennt, lag ihr Mann, bei dem es nicht mehr ganz richtig im Kopfe war. Wenn er nun doch mitten in der Nacht erwachte und womöglich zu schreien und zu toben anfing? - Verlockende Aussichten! Ob es nicht doch zweckmäßiger war, in irgendeinem Hotel zu übernachten? Wenn nur jemand dagewesen wäre, mit dem sie sich hätte aussprechen können! Plötzlich kam ihr der Gedanke, Herbert Vanhusen anzurufen. Sie eilte ins Arbeitszimmer ihres Mannes, nahm den Hörer und ließ sich die Verbindung geben. Niemand meldete sich. Verstört und entmutigt legte sie den Hörer aus der Hand. Gab es denn keinen Menschen, mit dem sie reden konnte; war sie denn ganz sich selbst überlassen? Niemals zuvor hatte sie empfunden, wie quälend die Einsamkeit sein kann, wenn man sich in einer Gemütsverfassung befindet, daß man vor dem eigenen Wort erschrickt. Sie wußte, daß sie allein war, allein und ohne Hilfe in diesem weiter Hause, dessen drohende Stille sie mit Grauen erfüllte. Von Furcht gepeinigt, lief sie in ihr Zimmer zurück. Rasch hatte sie den Pyjama mit einem grauen Kostümkleid vertauscht, zu dem sie eine hellrote Baskenmütze als Kopfbedeckung wählte. Wie ein Dieb huschte sie aus dem Hause. Der Chauffeur, der hinter der Garage seine Wohnung hatte, schlief bereits. Er war nicht wenig erstaunt, als ihn ein heftiges Klopfen an der Tür wieder munter machte. »Heitekamp, geben Sie mir die Schlüssel! Ich will noch ein bißchen spazierenfahren.« Zunächst kam keine Antwort. Heitekamp mußte erst verdauen, was er da soeben gehört hatte. »So spät noch, jnä' Frau?« ließ er sich nach einer geraumen -54-
Weile vernehmen. »Und ganz allein?« »Ganz allein!« Es verging eine halbe Minute; dann wurde ein Fenster geöffnet. »Soll ich den Wagen auf die Straße runterbringen?« »Nein, nur her mit den Schlüsseln. Ich finde mich schon allein zurecht.« *** Stunde um Stunde verrann. Das graue Auto, das mit Thora am Steuer in der Richtung Berlin davongefahren war, kam nicht zurück. Die Villa Mynius lag still und verträumt auf ihrer einsamen Höhe. Gespensterhaft leuchtete im fahlen Licht des Mondes ihre helle Fassade zwischen den Bäumen des Parks. Nirge nds war ein Laut zu hören. Nun ein leises, fernes Brausen kam aus den Wipfeln der alten Baumriesen, deren Kronen sich in einer leichten Brise, die vom Wannsee herüberwehte, langsam bewegten. Mit einemmal wurde es im Innern des weißen Hauses lebendig. Ein dünner, beweglicher Lichtstrahl, der quecksilbrig wie ein aufgescheuchtes Irrlicht bald hier, bald dort auftauchte, geisterte durch die Räume. Es war kurz nach zwei Uhr. Das Irrlicht wanderte durch die Diele, steckte seine Nase in den Salon der gnädigen Frau, hüpfte wieder die Treppe hinauf, machte in ihrem Schlafzimmer eine kurze Visite und erlosch. Geraume Zeit später tauchte es im Musikzimmer wieder auf, stand still, bewegte sich und ließ sich dann auf dem Deckel des Flügels nieder. Noch war alles ruhig. Dann, urplötzlich, wurden tönende Stimmen laut. Das stumme Instrument, von langen, beweglichen -55-
Fingern aus dem Schlaf geweckt, begann in machtvollen Akkorden ein gewaltiges Lied. Liszts Meisterrhapsodie, die Zweite Ungarische, klarig durch die Stille der Nacht. Als der letzte Ton verhallt war, blieb es eine Weile still. Dann begannen sich wiederum die Tasten zu bewegen. Unter den beiden Händen, die mit ruhelosen Fingern auf- und niederglitten, entstand ein wilder Tanz der Töne, ein Hexensabbat von Melodien. Im wechselnden Takt, bald langsam und feierlich, bald im kraftvollen Stakkato einer flotten Tanzmelodie, spielte der unermüdliche nächtliche Pianist, bis der große Bernhardiner, der hinter dem Hause angekettet lag, anschlug, und von dem zwiefachen Lärm die Dienstboten erwachten. Das Konzert wurde noch eine Zeitlang fortgesetzt und endete mit einem disharmonischen Geklimper in den hohen Lagen. Die elektrische Taschenlampe leuchtete weiter. Ihr Lichtkegel streifte den Mann im schwarzen Schlafanzug, der vor dem Flügel hockte. Sein Oberkörper war vorn übergesunken, Kopf und Arme ruhten auf den Tasten. Er schlief ganz fest. Vielleicht war er nicht einmal richtig wach gewesen, während er musizierte. Hatte Doktor Karrasch nicht behauptet, das verabreichte Schlafmittel sei so stark gewesen, daß Walter Mynius selbst von einem Kanonenschuß nicht aufwachen würde? Der Patient war aber trotzdem mitten in der Nacht aufgestanden, hatte aus dem Nachttischkästchen eine Taschenlampe genommen und war damit durchs Haus gewandert. Schließlich hatte er sich an den Flügel gesetzt und fast eine halbe Stunde lang gespielt. Entweder war sich der Arzt über die Wirkung des von ihm verabfolgten Mittels nicht richtig klar gewesen, oder der Kranke hatte im Dämmerzustand des Schlafwandlers gehandelt. *** -56-
Peter Kramm hatte einen Brief... Peter Kramm hatte einen Brief aus Berchtesgaden erhalten. Er las ihn zweimal, schüttelte lächelnd den Kopf und steckte das Schriftstück in die Tasche. Eine Musterung vor dem Spiegel überzeugte ihn davon, daß der äußere Mensch in Ordnung war. Tadelloser blauer Anzug, blütenweiße Wäsche, die Krawatte aus dunkelblauer Seide mit grauen Tupfen, nach Maß gearbeitete schwarze Halbschuhe aus der Werkstatt eines zünftigen Meisters - alles an ihm war tiptop. Kramm nickte seinem Spiegelbild wohlgefällig zu. Es saß doch entschieden mehr Schmiß und Selbstbewußtsein hinter allen Lebensäußerungen, wenn man gut angezogen war. Darauf hatte er schon immer Wert gelegt, ob er nun als normaler Mitteleuropäer gekleidet ging oder in seinen ungezählten Gastrollen als Cowboy, Andalusier, Kaukasier, orientalischer Hausierer, kanadischer Pelztierjäger, südamerikanischer Gaucho oder als was sonst nicht alles auftrat. Merkwürdig, daß ein Mensch wie Bruno Vanhusen, der doch angesehenen bürgerlichen Kreisen entstammte, sich so sehr verlieren konnte, daß er Seele und Körper, Äußeres und Inneres gleichermaßen so arg vernachlässigte. Vanhusen hatte ihm, als Sie neulich wieder beisammen waren, noch eingehender als bei ihrer ersten Begegnung von seiner Vergangenheit erzählt. Dabei trat eigentlich erst mit voller Deutlichkeit die verhängnisvolle Rolle zutage, die jenes blonde Mädel, Thora mit Namen, im Leben dieses ruhelosen Wanderers gespielt hatte. Das hübsche, aber gefühlsarme junge Ding, das damals dem Studenten Bruno Vanhusen Herz und Seele lichterloh in Brand gesteckt hatte, war der Wegweiser geworden, der dem Enttäuschten fürderhin die Richtung wies. Sie führte zu den seltsamen Abwegen hin, die Vanhusen beschritt, ein Abenteuer ohne Schwungkraft und -57-
Willen, der das Glück seiner zigeunerhaften Ungebundenheit sich nur vorgaukelte, weil ihm die Freuden eines geordneten Daseins mit einer geliebten Frau als Mittelpunkt versagt blieben. Es gab Leute, die schössen sich aus unglücklicher Liebe tot. Andere, die dem Übel mit Verstandesgründen zu Leibe rückten und sich sagten, daß Liebe nur das Produkt von Zufall, Gewohnheit und getrübtem Urteilsvermögen sei, trösteten sich früher oder später mit einer anderen. Vanhusen ging den dritten Weg, den dümmsten, den man beschreiten konnte. Er lief, das Bild der Geliebten im Herzen, mit wunder Seele durch die Welt, ein beklagenswerter Ritter Toggenburg, dem die Bürde schmerzlichsüßer Erinnerungen im Nacken saß, so daß er den Blick nicht mehr frei erheben und nicht mehr sehen konnte, daß er sich im Kreise bewegte. Fraglich, ob es heute noch gelang, ihm die Augen zu öffnen und seinem Leben Sinn und Ziel zu geben. Er, Peter Kramm, war auch ein Abenteurer, gewiß; aber die Voraussetzungen sahen denn doch etwas anders aus. Was sein Handeln bestimmte, war Freude am bunten Spiel des Zufalls, war gigantischer Lebenshunger, den unbeschwerter Tatendrang zu stillen trachtete. Was an ihm lag, sollte geschehen, um Bruno Vanhusen, mit dem er sich innerlich irgendwie verbunden fühlte, seinem verderblichen Trübsinn zu entreißen. Er hatte sich heute abend mit ihm in ein vornehmes russisches Restaurant in der Lutherstraße verabredet, um dort gemeinsam zu Abend zu essen. Vanhusen hatte nur widerstrebend zugesagt. Es behagte ihm nicht, sich »wie ein Affe in Schale zu werfen« und beim, Essen von einem Kellner bedient zu werden, der wie ein unerbittlicher Zeremonienmeister darauf zu achten schien, ob sich der Gast auch richtig benehme. Kramm hatte ihm lachend auf die Schulter geklopft und gesagt: »Hören Sie zu, Vanhusen, was Ihnen Peter Kramm hiermit kund und zu wissen tut: wir sind wir, unbekannt und -58-
nichtig zwar, und doch sind wir die Herren der Welt, denn wir kennen den Globus und tragen das Wissen um die Seligkeit mit uns herum, die das vielgestaltige Erleben fremder Zonen spendet. Wir wollen uns einen guten Tropfen einverleiben und dabei beratschlagen, auf welche Weise wir die Erde, diesen krummbuckligen Planeten, aus den Angeln heben können!« Auf die im ernsthaften Ton hinzugefügte Erklärung, daß es so mit Vanhusen doch unmöglich weitergehe und irgend etwas geschehen müsse, vermochte dieser nichts zu entgegnen. Er versprach, für die erforderliche Umwandlung seines Äußeren Sorge zu tragen und, auch innerlich genügend vorbereitet, sich rechtzeitig im »Russenhof« einzufinden. In aufgeräumtester Stimmung betrat Kramm das Lokal. Der Geschäftsführer, ein ehemaliger zaristischer Oberst, der in seinem schwarzen Gehrock wie ein vielgebietender Generaldirektor aussah, eilte dienstbeflissen herbei, führte den Gast über rote, schwellende Teppiche zu einem freien Tisch in der Nähe der Musik und winkte mit einem befehlenden Blick den Kellner herbei. Bruno Vanhusen ließ reichlich auf sich warten. Kramm bestellte inzwischen Sekt und gab sich dem musikalischen Genuß hin, den die in rascher Folge vorgetragenen schwermütigen und lustigen Weisen der Zigeunerkapelle bereiteten. Er rief dem Primas, einem großen, stämmigen Burschen, etwas auf Ungarisch zu. Ein verträumtes Lächeln glitt über das dunkelhäutige Gesicht des Pußtasohnes, während er eifrig nickte und zugleich den Fiedelbogen hob, um das gewünschte Stück, ein hinreißendes Geigensolo, anzustimmen. Es war ein ungarisches Schäferlied - der zweite Geiger sang den Text leise mit -, worin von der Liebe zur Puß ta, aber auch von der geheimen Sehnsucht nach der fernen Zauberstadt Budapest mit ihren schönen Frauen die Rede war. -59-
Als der Vortrag beendet war, ertönte rauschender Beifall, wobei sich Kramm besonders hervortat. Er war so begeistert, daß er dem Primas ein Glas Sekt bringen ließ. Der Dank wurde durch einen wilden Csardas abgestattet, und Kramm, der allmählich in Stimmung kam, ließ nun für die ganze Kapelle Sekt anfahren. Während er die teils neugierigen, teils achtungsvollen Blicke der übrigen Gäste auf sich gerichtet sah, dachte er an seine erst vor wenigen Tagen beendigte Tätigkeit als spanischer Kellner und Liedersänger im »Jardin Espanol«. Der Gegensatz kam ihm so spaßig vor, daß er laut auflachte. Nun war er wieder einmal der unabhängige, vermögende Mann, der er stets hätte sein können, wenn ihm das auf die Dauer erträglich erschienen wäre. Er fand es jedoch fad und insbesondere im Hinblick auf seine vielseitigen Fähigkeiten seiner durchaus unwürdig, den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen und faul und sorglos mit der ihm von seinem Vater ausgesetzten Rente in den Tag hinein zu leben. Wie recht hatte doch der alte Herr gehabt, der ihn damals, kaum zwanzigjährig, in die Lebensschule genommen und ihm eingetrichtert hatte,.daß menschliches Glück ein recht schwankender Begriff sei. Man müsse, so wurde ihm empfohlen, sich künstlich gewisse Höhepunkte schaffen, indem man - das Rezept gelte freilich nur für reiche Leute - die Lebensformen nach Gefallen ändere, sich Zufälligkeiten überantworte und gewissermaßen von Zeit zu Zeit aus seiner Haut herausschlüpfe, um hinterher desto stärker zu fühlen, wie sehr man mit sich und seinem Los zufrieden sein könne. Daß er, Peter Kramm, diese Lehren allzu wörtlich nahm und sich eigentlich schon seit vielen Jahren fast ständig auf Urlaub von seinem wirklichen Ich befand, war das einigermaßen verblüffende Ergebnis dieser Ratschläge, über das der alte Kramm denn doch zuweilen den Kopf schüttelte, wenn er auf seinem Landsitz bei Berchtesgaden gelegentlich von den tollen -60-
Streichen seines Sprößlings erfuhr. In jungen Jahren war Albrecht Kramm einmal ein Buch in die Hände gefallen, das er gierig verschlungen hatte. Es war das Werk eines gewissen Lord Chesterfield, der in Briefen an seinen Sohn praktische Wege zur Lebensweisheit und Weltkunst wies. Kramm hatte sich damals vorgenommen, die Ratschläge des Engländers Wort für Wort zu befolgen, falls es ihm einmal vergönnt sein sollte, einen Sohn zu haben. Sein Wunsch ging später in Erfüllung. Da er sich in Südamerika ein großes Vermögen erworben hatte, war er in der Lage, die Erziehungsmethoden des Lords in vollem Umfange anzuwenden. Bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr wurde Peter Kramm nach einem genau festgelegten Plan, der kaum eine freie Stunde ungenutzt ließ, mit gründlichem Wissen ausgestattet und von sorgfältig ausgesuchten Lehrern auf den verschiedensten Gebieten unterrichtet. So kam es, daß der junge Kramm, der alles spielend aufnahm, mit der Zeit ein richtiger Tausendsassa wurde. Es gab keinen Sportzweig, in dem er nicht bestens bewandert war. Er war ein vorzüglicher Reiter, Fechter und Pistolenschütze, und einen Rennwagen wußte er ebenso geschickt und kaltblütig zu steuern wie ein Flügzeug. Auch die geistigen Anlagen waren sorgfältig ausgebildet. Er beherrschte fünf Sprache n absolut sicher und konnte sich in drei weiteren recht gut verständigen. Seiner musikalischen Veranlagung, Erbgut der Mutter, wurde dadurch Rechnung getragen, daß man seine Stimme durch einen erstklassigen Gesangpädagogen schulen ließ und ihn die Handhabung verschiedener Musikinstrumente lehrte. Wenn ein Geigenkünstler ein schwieriges Solo spielte, konnte Peter Kramm mit Fug und Recht behaupten: »Das mache ich ebensogut!« -61-
Der geistigen und körperlichen Ausbildung folgte die Schafffung eines Weltbildes, das sich der Jüngling nach den Richtlinien der väterlichen Lebensphilosophie Stück für Stück zusammenfugte. Die Nutzanwendung daraus ließ sich etwa auf die Formel bringen: tue recht und scheue niemand, genieße die Schönheiten dieser Erde und denke daran, daß mit dem Tode zum mindesten dein individuelles Menschenleben endgültig vorüber ist. Hüte dich also, irgend etwas zu versäumen, was dir erlebenswert erscheint! Es gab so viel, was Peter Kramm erlebenswert dünkte, daß sein Vater aus dem Staunen gar nicht herauskam. Er kannte zwar aus eigener Erfahrung den unbezähmbaren Drang nach Abenteuern, fand aber, daß Peter denn doch ein wenig aus der Art schlug. Es war nicht notwendig, mit schmutzigen südamerikanischen Viehhirten in halbverfallennen Lehmranchos zu schlafen, auf den Straßen Kairos in der Tracht eines abessinischen Händlers exotische Reiseandenken zu verkaufen oder in einer Hafenschenke von Schanghai betrunkenen Matrosen aus aller Herren Länder auf einem verstimmten Klavier zum Tanz aufzuspielen. Peter Kramm, der zwischen seinen Kreuzundquerfahrten durch die Welt immer noch Zeit fand, wenigstens einmal im Jahr seinem Vater einen kurzen Besuch abzustatten, hörte stumm und artig zu, wenn dieser ihm sanfte Vorhaltungen machte. »Laß mich doch, Vater«, meinte er schließlich, wenn der alte Herr schon glaubte, ihn überzeugt zu haben. »Ich fühle mich bei dem Leben, wie ich es führe, sehr wohl; und das ist doch die Hauptsache.« Gegen diesen Einwand ließ sich nicht viel sagen. Es blieb dem Alten nichts anderes übrig, als seinem Jungen, auf den er im stillen doch mächtig stolz war, auf die Schulter zu klopfen und ihn mit den besten Segenswünschen wieder ziehen zu lassen. Nun hatte er es mit einem anderen Mittel versucht. Er hatte -62-
seinem Sohn einen längeren Brief geschrieben und ihm auseinandergesetzt, daß es für einen zweiunddreißigjährigen Mann allmählich an der Zeit sei, unter den Töchtern des Landes Umschau zu halten. Ein Lebensbund mit einer passenden Frau sei das beste Mittel, seinen Tatendrang ein wenig einzudämmen. Er möge bedenken, daß nicht nur in der Ungebundenheit eines einspännigen Weltenbummlers, sondern auch in einer guten Ehe bedeutende Lebenswerte steckten, die man nicht unterschätzen dürfe. Wie er über den Vorschlag dächte. Peter Kramm war überrascht und belustigt, dachte weder ja noch nein. Die Frau war ihm in der ganzen weiten Welt noch nicht begegnet, die imstande gewesen wäre, ihn so zu fesseln, daß er ihr zuliebe sein unstetes Abenteurerleben hätte aufgeben mögen. Weil er daran zweifelte, daß es eine solche Frau überhaupt gab, hatte er den Brief seines Vaters, nachdem er ihn zweimal gelesen, lächelnd in die Tasche gesteckt. Nun saß er im Russenhof, trank ein Glas Sekt nach dem anderen und bestellte sich, da Bruno Vanhusen gar zu lange auf sich warten ließ, aus Ärger über diese Unpünktlichkeit ein besonders üppiges Nachtmahl. *** Bruno Vanhusen war am Vormittag bei seinem Bruder Herbert gewesen. Die Wirtschafterin hatte ihm in schnippischem Tone erklärt, daß Herbert Vanhusen schon am frühen Morgen nach Friedrichshagen gefahren sei. Im übrigen habe sie Anweisung, ihn, Bruno, nicht mehr in die Wohnung hineinzulassen. Um zu zeigen, daß sie diesen Auftrag auch strikt zu befolgen gewillt sei, hatte sie ihm ganz einfach die Tür vor der Nase zugeschlagen. Am späten Nachmittag gelang es ihm, Herbert telefonisch zu -63-
erreichen. Er teilte ihm mit, daß er bereit sei, auf sein Angebot einzugehen: gegen eine Zahlung von dreißigtausend Mark auf alle weiteren Ansprüche zu verzichten, Berlin sofort zu verlassen und die verwandtschaftlichen Beziehungen nach jeder Richtung hin zunächst auf mehrere Jahre hinaus ruhen zu lassen. Was das zu bedeuten habe. Das bedeute, daß er wieder ins Ausland gehe und frühest in fünf Jahren zurückkehren werde. Das sei doch zweifellos im Sinne Herberts, der dann ja endlich die Befürchtung los sei, durch ihn gesellschaftlich bloßgestellt oder sonstwie in seinem Fortkommen behindert zu werden. Herbert, der die Berechtigung der Erbschaftsansprüche seines Bruders im stillen durchaus anerkannte und ihm gerade heute einen ansehnlichen Betrag als vorläufige Abschlagszahlung überwiesen hatte, erklärte sich grundsätzlich zu der vorgeschlagenen Einigung bereit. Er ersuchte Bruno, sich am Nachmittag des nächsten Tages gegen fünf Uhr bei dem Rechtsanwalt und Notar Wendiggensen, Kurfürstendamm 38, zwecks Erledigung der notwendigen Formalitäten einzufinden. Wahrscheinlich werde sich wohl ein Weg finden lassen, trotz der noch bestehenden Todeserklärung, deren Aufhebung beim Gericht zu beantragen sei, die ganze Restsumme sofort zur Auszahlung zu bringen. Es kam jedoch nicht zu der verabredeten Zusammenkunft beim Notar. Das Ereignis, das noch am Abend desselben Tages eintrat, warf alles über den Haufen. Aus der Bereitschaft Brunos, sich mit seinem Bruder zu vertragen und still seiner Wege zu gehen, wurde mit einem Schlage tödlicher Haß. Bruno war, nachdem er von einer Fernsprechzelle aus mit Herbert telefoniert hatte, in sein möbliertes Zimmer in der Höchstestraße zurückgekehrt, um sich umzuziehen und dann nach dem Westen zu fahren. Seine Wirtin machte große Augen, als sie bei seinem Fortgehen die äußere Veränderung wahrnahm. -64-
War denn das ihr Mieter, der arme Schlucker, der nur einen Anzug hatte und immer unrasiert herumlief? Jetzt sah er Ja auf einmal wie aus dem Ei gepellt aus, »schnieke« von oben bis unten wie ein richtiger Kavalier! Unlustig schritt Vanhusen zur nächsten Autobushaltestelle. Wie dumm, sich zu einer bestimmten Stunde nach einem bestimmten Ort zu verabreden! Er war schon so sehr jedem äußeren Zwang entwöhnt, daß es ihm einfältig erschien, seine Zeit einzuteilen und im voraus zu bestimmen, wann man aß, schlief oder spazierenging. Der neue Anzug, die glänzenden Schuhe, der saubere, steife Kragen, der kleidsame Haarhut, das waren alles Dinge, die ihm fremd und irgendwie verdächtig vorkamen, weil sie darin zu wetteifern schienen, den Menschen Bruno Vanhusen zu verfälschen. Er war das, was Schicksal und eigener Wille aus ihm gemacht hatten: ein einsamer und harmloser Vagabund von geradezu orientalischem Gleichmut, der nicht in seine frühere Welt zurückkehren konnte, weil die Brücke fehlte. Die sorgfältige Kleidung paßte so schlecht zu ihm wie ein breiter Goldrahmen zu einem schlichten Holzschnitt von Dürer. Jetzt, da er auf Kramms Veranlassung einen zagen Anlauf genommen hatte, um die Kluft, die ihn von seinem früheren Leben trennte, zu überspringen, sah er, daß es nicht möglich war. Es hätte ein Wunder geschehen müssen, um ihn emporzuheben in jene Welt der Vergangenheit, als deren Sinn und Inbegriff eine liebliche Mädchengestalt selbst heute noch bisweilen durch seine Träume huschte. Der gellende Ton einer Hupe ließ ihn zusammenfahren. Dicht vor ihm knatterte der Autobus heran. Verdutzt sprang Vanhusen vom Fahrdamm auf den Bürgersteig zurück und blieb dort wie angewurzelt stehen. Er sah die Leute ausund einsteigen, hörte das Klingelzeichen des Schaffners - und rührte sich nicht. Eine große Müdigkeit war über ihn gekommen, eine Müdigkeit, die aus dem Innern kam und ihn dazu verleitete, -65-
seine Absicht zu ändern. Anstatt auf den nächsten Autobus zu warten, ging er in der Richtung zum Friedrichshain davon. In der Nähe des Friedhofs fand er eine leere Bank. Er holte Tabak und Papier aus der Tasche, drehte sich eine Zigarette und tat ein paar kräftige Züge. Dann trat der von ihm gewünschte Zustand ein, jene Gedankenträgheit, zu der er sich bewußt erzogen hatte, um die raunenden Stimmen einer fernen Vergangenheit zum Schweigen zu bringen. Als die Zigarette aufgeraucht war, lehnte er sich zurück und schloß die Augen. Schon nach wenigen Minuten war er eingeschlafen. Im Traum marschierte er rüstig eine Straße entlang. Es war viel Sonne um ihn, die weite Landschaft bis hin zu den bläulich schimmernden Bergen am Horizont prangte im ersteh Schmuck des Frühlings. Herrlich, so dahinwandern zu können, immer weiter und weiter, ohne Wunsch und ohne Ziel! Es war deutscher Boden, über den er schritt. Doch dann waren mit einem Male die Dörfer mit ihren roten Dächern und den kleinen Kirchtürmen verschwunden, die bewaldeten Höhen hatten sic h in grasbestandene Ebenen verwandelt, und die Landstraße war zu einem schmalen Eisenbahndamm geworden. Geblieben war nur der Sonnenschein, und was er jetzt beschien, war die weite Prärie des nördlichen Texas. Der Träumer wanderte zwischen den Schienen nach Süden, wo irgendwo am Ufer des Rio Grande die Stadt El Paso lag. Hin und wieder spähte er zurück, ob nicht bald ein Frachtzug des Southern Railway Limited auftauchen würde, mit dem er die Reise als blinder Passagier fortsetzen könnte. Aber es kam kein Zug; und als der Wanderer im fernen Texas endlich neben dem Bahndamm müde ins Präriegras sank, waren Schlaf und Traum verflogen.
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*** Bruno Vanhusen sah nach der Uhr. Es war kurz nach Mitternacht. Noch schlaftrunken erhob er sich und ging langsam durch den Friedrichshain zurück, in dem es längst ruhig geworden war. Nur aus der Ferne, vom Alexanderplatz her, drangen Geräusche der nächtlichen Großstadt herüber. Als er die Friedenstraße überqueren wollte, fuhr eine graue Limousine langsam an ihm vorüber. Am Steuer saß eine hellgekleidete Dame. Wiewohl er ihr Gesicht nicht genau erkennen konnte, hatte Vanhusen sofort das Gefühl, als ob er diese Frau vor nicht langer Zeit schon einmal irgendwo gesehen hätte. Eine unerklärliche Unruhe erfaßte ihn. Er wäre am liebsten dem Gefährt, das sich in gemächlichem Tempo entfernte, nachgelaufen, um - Ja, zu welchem Zweck denn wohl? Was ging ihn das graue Auto an, was kümmerte ihn diese Frau, die er nicht kannte, und die wohl nur deshalb seine Aufmerksamkeit erregt hatte, weil sie allein zu so später Stunde in dieser wenig belebten Gegend spaziererifuhr. Und nun, da Bruno Vanhusen im Begriff stand, in sein armseliges möbliertes Zimmer zurückzukehren, um dort weiterzuschlafen und vielleicht weiter von schon begangenen oder noch unbekannten Landstraßen zu träumen, geschah das Wunder, das die Tore zu einem neuen Dasein öffnete. Wie aus dem Boden gewachsen, war plötzlich wieder die graue Limousine da. Er stand mitten im grellen Licht der Scheinwerfer, als der Wagen wenige Schritte vor ihm zum Stehen gebracht wurde. »Bruno?!« Es war eine wohltönende Frauenstimme, die das leise rief, mit einem Unterton von Zweifel und freudiger Überraschung. Ihm erschien diese Stimme wie eine dunkle, geheimnisvolle -67-
Lockung, die ihn seltsam erregte und zugleich mit Mißtrauen erfüllte. War das Wirklichkeit, was hier vorging? Wenn er nicht träumte, mußte es ein Märchen sein; und Märchen gab es doch nicht. Ganz still und reglos stand er da im gleißenden Licht, die Augen nach der Windschutzscheibe des Autos gerichtet, hinter der im Dunkeln die Frau saß, die seinen Namen gerufen hatte. Dann trat er hastig näher, öffnete den Wagenschlag - - und erkannte staunend und wie erstarrt, daß es keine Sinnestäuschung war, was er hier erlebte. Diese Frau im hellen Kleid mit der kecken Baskenmütze, unter der das blonde Haar lockig hervorquoll, war niemand anders als Thora, jene Thora Horwicz, die der Student Bruno Vanhusen so irrsinnig geliebt hatte. Er wollte etwas sagen, wollte wenigstens ihren Namen aussprechen, aber es kam kein Laut über seine Lippen. Er streckte nur beide Hände aus, eine hilflosdemütige Gebärde, die sie damit beantwortete, daß sie rasch seinen Arm ergriff und ihn zu sich in den Wagen zog. Ihre weißbehandschuhten Hände ruhten auf dem Steuerrad. Sie wand te den Kopf zur Seite und sah ihn aus halbgeschlossenen Augen an, ein abwartender, ermunternder, triumphierender Blick. »Thora«, sagte er nun endlich, und seine Hand berührte leise ihre Schulter, »welch ein seltsamer Zufall!« »Es gibt keine Zufälle«, entge gnete sie mit einem merkwürdigen Lächeln. »Ist es kein Zufall, wenn wir uns nach so langer Zeit mitten in der Nacht in einer abgelegenen Straße am Friedrichshain in Berlin wiedersehen? Ich kann es noch gar nicht begreifen.« »Hast du mich denn sofort erkannt?« »Sofort!« -68-
»Freust du dich?« »Ich weiß nicht, ob das Freude ist. Wenn man etwas verloren hat und, während man noch darüber jammert, es wiederfindet, so kann man sich freuen. Wenn man aber den Verlust fast verschmerzt hat und dann plötzlich, wenn man gar nicht daran denkt, das Verlorene wiedersieht, so muß man sich erst zurechtfinden. Es ist ja alles inzwischen so anders geworden. Von Herbert hörte ich, daß du verheiratet bist.« »Stimmt. Und zwar, wie es scheint, mit einem Wahnsinnigen. Ich werde dir das alles erzählen. Erst möchte ich wissen, wie es dir ergangen ist, was du augenblicklich treibst, und welche Pläne und Ziele du hast.« »Sag' mir zunächst das eine«, bat Bruno Vanhusen, »weshalb fährst du hier nachts mutterseelenallein am Friedrichshain entlang?« »Das hat bestimmte Gründe, die du später noch erfahren wirst. Gibt es ein anständiges Lokal in dieser Gegend, wo man sich ein Stündchen hinsetzen kann?« »Ich glaube kaum. Man müßte schon zum Zentrum oder nach dem Westen fahren.« Während er dies sagte, fiel ihm Kramm wieder ein, den er so schnöde im Stich gelassen hatte. Die Aussicht, ihn womöglich mit Thora, über die er ihm so viel erzählt hatte, persönlich bekannt zu machen, erfüllte Vanhusen mit jäher Freude. »Eigentlich«, fügte er rasch hinzu, »hatte ich mich heute abend mit einem Bekannten in ein russisches Restaurant in der Lutherstraße verabredet, ging aber nicht hin, weil ich gar nicht in Stimmung war. Vielleicht sitzt er noch dort und wartet auf mich. Wenn es dir nichts ausmacht, - -« »Gut«, willigte Thora ein, »wir können ja langsam hinfahren und unterwegs schon ein bissel plaudern. Was ist das denn für ein Mensch, dein Bekannter?« -69-
Bruno Vanhusen begann von Peter Kramm zu sprechen. Er tat es mit soviel Wärme und Bewunderung, daß Thora sogleich beschloß, sich diesen Herrn nachher recht genau anzusehen. Dabei war sie weit davon entfernt, etwa an ein Abenteuer zu denken. Es kam ihr nur darauf an, sich Helfershelfer zu schaffen, deren sie sich im Bedarfsfalle bedienen konnte. Sie wollte noch einmal den Versuch machen, den Flieger Herbert Vanhusen umzustimmen, indem sie ihm anbot, sich von ihrem Manne scheiden zu lassen und ihn zu heiraten. Ging er darauf nicht ein, so würde von da ab ihr Sinnen und Trachten nur noch darauf gerichtet sein, ihm Schaden zuzufügen. Ihre Gefühlswelt war ein Irrgarten, aus dem nur zwei Wege ins Freie führten: Liebe oder Haß! Erstaunlich, wie dicht diese beiden Wege beisammen lagen und wie sehr sie einander glichen. Während Thora den schweren Wagen langsam durch die nur noch spärlich belebten Straßen steuerte und gleichzeitig mit Bruno plauderte, dachte sie flüchtig daran, was wohl aus ihr geworden wäre, wenn sie damals Bruno geheiratet hätte. Es wäre vermutlich ein ähnlicher Fehlgriff wie im Falle Mynius gewesen, denn er hätte sie gewiß ebenso falsch behandelt, wie es ihr Mann stets getan hatte. Der einzige, dem sie die Kraft zutraute, sie unter seinen Willen zu zwingen, war Herbert Vanhusen, - sofern überhaupt ein Mann imstande war, sie dauernd an sich zu fesseln. *** Im Russenhof waren Publikum und Musiker gehobener Stimmung. Es klang noch etwas von der lauten Fröhlichkeit nach, die der freigebige Gast, der den Durst der Kapelle mit Sekt bekämpfen ließ, zurückgelassen hatte. Bruno Vanhusen war sehr enttäuscht darüber, daß er Kramm, der eine halbe Stunde vorher fortgegangen war, nicht mehr -70-
antraf. Thora meinte, die Bekanntschaft ließe sich ja nachholen. Sie setzten sich an einen kleinen Tisch, der zwischen zwei Ledersesseln stand. Thora wünschte einen Cocktail zu trinken, während Vanhusen für sich eine Karaffe Wodka bestellte. »Als Ritter der Landstraße bekommt man mit der Zeit wohl eine ausgepichte Kehle?« fragte sie mit einem Anflug von Spott, als er mit ihr anstieß. Er sah sie groß an und lachte gezwungen. »Weshalb so bissig, Thörchen?« (So hatte er sie früher häufig genannt.) »Du kannst dir doch denken, daß ich augenblicklich noch etwas durcheinander bin. Da muß man eben mit Alkohol ein wenig nachhelfen, um das seelische Gleichgewicht wiederherzustellen.« »Hat dich unser Wiedersehen denn so sehr aus dem Gleichgewicht gebracht?« Wie einfältig sie fragte. Er hatte überhaupt den Eindruck, als sei sie etwas zerstreut und nervös. Die verstohlenen Blicke, die von den Nebentischen kamen, erschienen ihr offenbar wichtiger als die Unterhaltung mit ihm. Welch eine merkwürdige Frau! Er dachte angestrengt nach, suchte sich Wesen und Charakter der neunzehnjährigen Thora Horwicz ins Gedächtnis zurückzurufen und das junge Mädchen von damals mit Frau Thora Mynius, die neben ihm saß, zu vergleichen. Er entdeckte kaum neue Züge. Geblieben waren Schönheit, Gefallsucht und Freude am Spiel mit dem Mann, dem sie nie die offenen Karten zeigte. Geblieben war auch das deutlich zur Schau getragene Wissen um die Macht, die sie auf Herzen und Sinne auszuüben verstand. So schien sie im Kern unverändert. Was sich im Wesen« gewandelt hatte, war wohl dem Einfluß der Ehe zuzuschreiben, die sie wissender, überlegener und merkwürdig genug - wohl noch kühler gemacht hatte. -71-
»Du antwortest mir ja gar nicht«, riß sie ihn aus seiner Grübelei. »Gewiß, ja, entschuldige nur«, stammelte er. »Mir war soeben eingefallen, daß du mir noch sehr wenig von dir erzählt hast. Ich weiß eigentlich nur, daß es Herbert nicht besser erging als mir, und daß du den Komponisten Walter Mynius geheiratet hast. Liebst du ihn denn, oder, besser gesagt, liebst du ihn noch?« »Wen? Meinen Mann?« »Natürlich!« »Du bist neugierig, Bruno; aber schließlich hast du ja ein gewisses Recht, nach solchen Dingen zu fragen. Ob ich meinen Mann liebe oder je geliebt habe? Ja, wer kann das wissen! Ich habe mir selber schon oft genug den Kopf darüber zerbrochen. Er wird übrigens morgen in eine Nervenklinik gebracht.« Sie sagte das so nebenher ohne innere Bewegung, wie man beiläufig etwas erwähnt, was man ebensogut verschweigen kann. Erst als Vanhusen in sie drang, erzählte sie von dem Nervenzusammenbruch ihres Mannes und ihrer Angst vor dem Geisteskranken, die sie bewog, mitten in der Nacht das Haus zu verlassen. »Und wie kamst du auf den Gedanken, gerade nach dem Friedrichshain zu fahren?« Vanhusen stürzte rasch einen Wodka hinunter, als könnte er damit den furchtbaren Gedanken verscheuchen, der ihm plötzlich gekommen war. »Weshalb ich gerade zum Friedrichshain fuhr?« Sie lächelte ihn eigentümlich an, so daß ihn eine Wärme überkam, die ihn vollends verwirrte. »Ich habe dich intelligenter im Gedächtnis, als du anscheinend bist. Was soll ich dort wohl gesucht haben? Ich hörte, daß du in der Gegend wohnst und dachte mir: wenn es der Zufall will, läuft er dir in die Arme. Es hat ja auch wirklich geklappt.« -72-
»Und wer«, forschte er leise, »hat dir gesagt, daß ich hier in Berlin bin? Woher wußtest du, daß ich am Friedrichshain wohne?« »Wer soll es mir gesagt haben...? Herbert natürlich!« Bruno Vanhusen sah einen Himmel einstürzen, der sich erst kurz vorher für ihn aufgetan hatte. »So, so«, sagte er bitter. »Ich hätte es mir denken können. Du stehst also noch immer mit ihm in Verbindung?« »Wir sehen uns zuweilen.« »Weiß es dein Mann?« »Das ist es ja. Herbert, der mich auch jetzt noch dauernd mit seinen Anträgen verfolgt, ist eigentlich an dem seelischen Zusammenbruch meines Mannes schuld.« Es kam ihr nicht darauf an, die Tatsachen ein wenig nach ihren Bedürfnissen umzubiegen. Jedes Mittel, darunter auch das einfache und bequeme der Lüge, war ihr recht, um das Zerwürfnis zwischen den beiden Brüdern in offene Feindschaft zu verwandeln. Vanhusen war erschüttert. Die klare Vernunft sagte ihm, wie gering doch, bei Licht besehen, diese Frau im Werte stand. Das Herz aber wollte von diesem Urteil nichts wissen. Es blieb taub gegenüber den Einflüsterungen des Verstandes, der ihm riet, gleich morgen sein Ränzel zu schnüren und den Namen Thora für immer aus seinem Gedächtnis zu streichen. Doch selbst dann, wenn er das vermocht hätte, wäre immer noch der Haß geblieben, der Haß auf seinen Bruder, der ohne sein Wissen jahrelang als Wilddieb durch das Revier seiner Träume geschlichen war. »Herbert hat mir kein Sterbenswort davon gesagt«, erklärte er grimmig, »daß zwischen euch noch eine Verbind ung besteht. Es ist klar, daß damit das Tischtuch zwischen ihm und mir für alle Zeiten zerschnitten ist!« -73-
Da Thora schwieg, tastete er nach ihrer Hand. »Sag' mir«, bat er eindringlich, »weshalb hast du mich gesucht? Was wolltest du eigentlich von mir?« »Ich wollte dich wiedersehen. Herbert sagte mir nämlich, du liefest wie ein richtiger Landstreicher herum. Ich kann das aber gar nicht finden. Im Gegenteil, du siehst in jeder Beziehung recht gut aus.« »Im allgemeinen gab ich in den letzten Jahren nicht viel auf Äußerlichkeiten. Ich lebte mein eigenes Leben.« »Du bist ein Träumer, Bruno!« »Es ist gut, Thora, wenn man etwas hat, wovon man träumen kann.« In diesem Augenblick kam ein Page vorüber, der den Gästen für die Zubringung der im Lokal ausliegenden Zeitungen und Zeitschriften zur Verfügung stand. Thora hielt ihn an. »Bringen Sie mir doch die Morgenausgabe des Berliner Anzeigers.« »Sofort, gnädige Frau.« Die Morgenausgabe dieser Zeitung erschien bereits kurz nach Mitternacht. Thora wollte nachschauen, ob vielleicht schon ein Bericht über den Zwischenfall im Metropolpalast darin veröffentlicht war. Sie suchte vergeblich. Die Meldung hatte bei Redaktionsschluß wahrscheinlich noch nicht vorgelegen. Aber sie fand etwas anderes, was sie im hohen Maße interessierte. Vanhusen, der ihr Erstaunen bemerkte, beugte sich zu ihr hinüber, um ebenfalls einen Blick in die Zeitung zu werfen. Thora wies mit dem Finger auf eine fette Überschrift. Die Notiz lautete: Deutscher Ozeanflug nach Mexiko geplant. Wie wir aus zuverlässiger Quelle erfahren, beabsichtigt die Wenner A.-G. in Friedrichshagen, einen Ozeanflug von Berlin -74-
nach Veracruz ohne Zwischenlandung zu veranstalten. Für die Durchführung dieses Planes, der der Einrichtung eines regelmäßigen Fracht- und Passagierverkehrs nach verschiedenen überseeischen Ländern vorangehen soll, soll ein dreimotoriges Flugboot vom Typ WW 3 Verwendung finden. Mit den Probeflügen wird bereits in den nächsten Tagen begonnen werden. Der Apparat wird auf seinem Fluge nach Mexiko mit zwei Piloten bemannt sein. Als Führer ist der Flugkapitän Herbert Vanhusen, der Sieger des in diesem Jahre erstmalig vom englischen Aeroclub veranstalteten Schnelligkeitswettfluges, in Aussicht genommen worden. Wer der zweite Pilot sein wird, steht noch nicht endgültig fest. Es ist aber als wahrscheinlich anzusehen, daß der Werkpilot Beßler, der den Apparat eingeflogen hat, Vanhusen begleiten wird. Über den Zeitpunkt des Starts läßt sich noch nichts Bestimmtes sagen. Er hängt in erster Linie von der Wetterlage ab. Thora legte das Blatt aus der Hand und sah Bruno Vanhusen überrascht an. Der Plan, den ihr Herbert geschildert hatte, wurde nun also doch Wirklichkeit. »Nun«, fragte sie lebhaft, »was sagst du dazu?« Bruno sagte gar nichts. Er blickte auf die Zeitung, sah die Buchstaben vor seinen Augen tanzen, sah einen Funken, ein atn Nachthimmel dahinschießendes weißes Licht, - - die Sternschnuppe, die er beobachtet hatte, als er vor dem Jardin Espanol auf Peter Kramm wartete! Er dachte an seinen seltsamen Wunsch, der damals mit Blitzesschnelle in ihm erwacht war: ein Gespenst sollte sich an Bord des von Herbert gesteuerten Flugzeuges schleichen und ihm hoch oben in der Luft den Hals umdrehen. Ein törichter Wunsch, phantastisch und verwerflich zugleich. Merkwürdig, daß er in diesem Augenblick wieder daran denken mußte. »Was ich dazu sage?« kam er, aus seinen Gedanken auffahrend, erst jetzt auf ihre Frage zurück. »Ich glaube nicht, daß er es schaffen wird.« -75-
»Weshalb denn nicht?« »Ich habe so eine Ahnung!« »Es wird keine Ahnung, sondern eben dein Wunsch sein. Du wünschest ihm im wahrsten Sinne des Wortes Hals- und Beinbruch. Ist es nicht so?« »Warum soll ich es leugnen? Wenn er auf diesem Fluge umkommen sollte, so würde ich das als eine gerechte Strafe der Vorsehung ansehen. Er hat mich damals bestohlen undbestiehlt mich selbst heute noch, wenn es auch nur eine Illusion ist, um die er mich ärmer macht.« Thora wurde nachdenklich. Was ihr durch den Kopf ging, war die Frage, wie sie das Eisen, das jetzt am heißesten war, schmiedete. Als sie sich ihren Plan zurechtgelegt hatte, bat sie Bruno, nach der Uhr zu sehen. »Es ist gleich drei!« »Zeit, daß wir aufbrechen. Ich fahre dich noch nach Hause und sause dann nach Nikolassee. Kein Widerspruch! Wozu habe ich denn meinen schnellen Wagen da? Du meldest dich in den nächsten Tagen telefonisch, damit wir etwas verabreden können. Vergiß nicht, deinem Freund zu sagen, daß ich sehr gespannt darauf bin, ihn kennenzulernen.« Bruno kramte in der Tasche, fand aber nicht sogleich, was er suchte. »Er ist ja ein feiner Kerl«, sagte er, während er in seinen Papieren wühlte, »aber einen Spleen hat er doch. Wenn ein Mensch, der seinem Herkommen nach durch und durch bürgerlich ist und über ein sicheres Einkommen verfügt, derartige Neigungen zeigt und auf so groteske Art die Abhängigkeit sucht, nur weil er hofft, auf diese Weise Erkenntnisse und Eindrücke zu sammeln, die ihm sonst versagt bleiben würden, so ist das kaum zu verstehen. - Aha, hier hab' -76-
ich's! Sieh dir bloß diese Anzeige an. Sie stand heute früh gleichzeitig in fünf verschiedenen Berliner Zeitungen.« Thora nahm den Ausschnitt und las: »Ich verpachte mich! Wer will über mich und meine Fähigkeiten unbeschränkt verfügen? Ich bin 32 Jahre alt, ledig, kerngesund und arbeitsfreudig. Ich kann reiten, autofahren, ein Flugzeug führen, musizieren, singen und noch vieles andere, denn ich war in allen fünf Erdteilen, beherrsche acht Sprachen und habe bisher schon annähernd dreißig verschiedene Berufe ausgeübt. Wer mich anstellt, kann bei gegenseitiger monatlicher Kündigung frei über mich verfügen. Ich übernehme jeden Auftrag und führe alles, was im Rahmen meines Könnens liegt, durch, soforn es nicht mit den Strafgesetzen im Widerspruch steht. Angebote unter P. K. 13 an die Expedition dieses Blattes erbeten.« »Ein tolles Inserat«, stellte Thora fest. »Es ist ja nichts anderes als eine neue moderne Form der Leibeigenschaft, die dieser Herr Kramm an sich selber ausprobieren möchte. Ich kann mir nicht denken, daß es ihm tatsächlich im Ernst darum zu tun ist. Er wirdsich nur den Spaß machen wollen, einmal festzustellen, welche Ansinnen auf diese Anzeige hin an ihn gestellt werden.« »Du irrst. Es ist ihm mit diesem Stellengesuch völlig ernst.« »Wirklich? Na, dann scheint er allerdings ein ziemlich verrücktes Huhn zu sein. Immerhin, - Courage muß er schon haben. Ich hätte nicht übel Lust, ihn anzustellen.« »Du...?« staunte Bruno Vanhusen. »Wozu könntest du ihn denn wohl gebrauchen?« »Ich weiß es noch nicht. Jedenfalls wäre es kein schlechter Gedanke, sich einen so scharmanten und vielseitigen Leibeigenen zu halten.« -77-
*** Herbert Vanhusen war erst gegen zwei Uhr nachts aus dem Pilotenklub nach Hause gekommen. Er hatte dort mit Direktor Wenner, einem älteren Herrn mit verschmitzten Augen und rötlichem Qesicht, der eine Vorliebe für gut temperierte Burgunderweine besaß, noch einmal alle Einzelheiten des geplanten Ozeanfluges durchgesprochen. Es war vereinbart worden, daß Vanhusen nach glücklich verlaufenem Flug ein Honorar von fünfundzwanzigtaüsend Mark erhalten sollte. Außerdem hatte man ihm einen fünfjährigen Vertrag als Leiter der im nächsten Frühjahr einzurichtenden Luftverkehrslinie Hamburg-Southampton-New York in Aussicht gestellt, der abgeschlossen werden sollte, sobald die Verhandlungen mit den zuständigen Stellen, die aussichtsreich standen, zu dem gewünschten Ergebnis geführt hatten. Es mochte gegen sechs Uhr früh sein, als der Flieger durch das Läuten des Telefons, das neben ihm auf dem Nachttisch stand, aus dem Schlaf geweckt wurde. Wer konnte ihn jetzt, um diese ungewöhnliche Zeit, zu sprechen wünschen? Langsam tastete seine Hand nach dem Hörer. »Hallo?« »Wer spricht da?« Er erkannte die Stimme sofort. Es war Thora. »Ist dort Uhland 7786?« »Sag' mal, Thora«, polterte er los, »bist du von Sinnen? Wie kannst du mich denn in dieser Herrgottsfrühe aus dem Schlaf holen?« »Schimpf nicht so, Bertle. Ich muß dich unbedingt sprechen!« »Das hat doch wohl noch ein paar Stunden Zeit.« -78-
»Nein, es ist dringend. Ich bin in zehn Minuten mit dem Wagen bei dir und - -« »Herr des Himmels, was ist denn los? Wo steckst du denn jetzt?« »In einer Telefonzelle am Bahnhof Zoo. In zehn Minuten bin ich vor deinem Hause und gebe Hupzeichen. Dann machst du mir die Tür auf. Ich muß dich unbedingt sofort sprechen, unbedingt, hörst du?« »Läßt es sich denn nicht telefonisch sagen?« »Ausgeschlossen!« »Also gut. Ich werde unten sein.« Es war doch toll! Warum hatte er nicht einfach den Hörer angehängt, als er ihre Stimme erkannte? Was hatte es für einen Sinn, sich noch weiter mit dieser Frau abzugeben, für die er nichts mehr empfand? Sie hatte ihn im Schlaf überrumpelt, um ihn noch einmal zu einer Zusammenkunft zu übereden, die, von ihm aus gesehen, völlig zwecklos war. Mißmutig stieg er aus dem Bett. Durch einen schmalen Spalt des Fenstervorhanges lugte die Morgensonne ins Zimmer. Ein dünner Lichtstrahl lief quer durch den Raum, kletterte an dem Körper Vanhusens empor und streifte seine über den Knien gefalteten Hände. Er beugte sich nieder und ließ die Finger im Sonnenlicht spielen. »Mit diesen Händen«, murmelte er sinnend, »werde ich die ,Alemania' über den Ozean steuern!« Er ging ins Nebenzimmer, wo ein kleines Modell des Flugbootes, das für den Flug nach Mexiko ausersehen war, auf dem Tisch stand. Alice Wenner, die achtzehnjährige Tochter des Werkdirektors, hatte den Apparat auf den Namen ,Alemania' getauft. Er sollte ursprünglich ,Deutschland' heißen, doch entschied man sich später, nachdem das Ziel des ersten großen Überseefluges endgültig feststand, aus Höflichkeit gegenüber -79-
den Mexikanern für die spanische Bezeichnung. Herbert Vanhusen trat mit dem Modell ans Fenster und hielt es in die Sonne. So etwas ist wichtiger und wertvoller als Weibergeschichten, dachte er aus tiefer Überzeugung. Gute, prächtige ,Alemania', ich fange schon an, dich zu lieben. Du wirst mich über die weite Wasserwüste des Atlantik tragen, fünfzig lange Stunden, bis am Horizont der weiße Gipfel des Pic de Orizaba sichtbär wird und die Sirenen der Schiffe im Hafen Veracruz uns, den Siegern, den Willkommengruß entgegenheulen. Er stellte das Modell wieder auf den Tisch, ging ins Badezimmer und nahm eine kalte Dusche. Dann kleidete er sich hastig an und verließ die Wohnung. Schon auf der Treppe hörte er die langgezogenen Töne der Autohupe. Ich bin ja verrückt, sagte er sich, daß ich mich so mir nichts dir nichts aus dem Bett holen lasse. Was soll das alles? Ich bin doch schließlich noch Herr meiner eigenen Entschlüsse! Weshalb habe ich mich nur nicht auf die andere Seite gelegt und weitergeschlafen? Thora, die sich erst zwei Stunden vorher von Bruno getrennt hatte und inzwischen, um sich die Zeit zu vertreiben, kreuz und quer durch den Tiergarten gefahren war, empfing Herbert Vanhusen mit strahlendem Lächeln. Es war ihr durchaus nicht anzumerken, daß sie überhaupt nicht geschlafen hatte. - Sie sah frisch und rosig aus wie immer. »Komm, steig' ein. Wir wollen eine Morgenfahrt durch den Grunewald machen.« »Deshalb hast du mich so früh gestört?« »Nein, Bertchen, deshalb nicht. Ich werde dir schon erzählen, was los ist. - Bitte!« Sie öffnete die Tür auf der anderen Seite. Er ging kopfschüttelnd um den Wagen herum und nahm den Platz neben -80-
ihr ein, auf dem erst kurze Zeit vorher sein Bruder gesessen hatte. »Willst du mir nicht erklären, was dieser Streich zu bedeuten hat?« fragte er ungeduldig; »In einer Viertelstunde, mein Schatz, wenn wir draußen sind. Ich muß mich jetzt mit ungeteilter Aufmerksamkeit der edlen Kunst des Autofahrens widmen, damit es keinen Verkehrsunfall gibt.« Herbert Vanhusen zündete sich eine Zigarette an und ließ sie gewähren. Es mußte sich ja bald zeigen, worauf das alles hinauslief. Fast lautlos glitt der Wagen durch die Straßen von Haiensee. An den Kreuzungen heulte das Warnungssignal auf. Es klang wie ein Alarm durch die morgendliche Stille. Thora saß etwas vornüber gebeugt hinter dem Steuerrad, die großen Augen mit dem feinen, dunklen Strich darüber starr geradeaus gerichtet. Vanhusen, der sie stumm betrachtete, mußte unwillkürlich an eine Katze denken, die auf dem Sprunge liegt, ihr Opfer mit einem plötzlichen, unerwarteten Tatzenhieb, anzugehen. Wenige Minuten später war der Grunewald erreicht. Vanhusen empfand den raschen Übergang aus der Stein wüste Berlin in dieses von Sonnenschein und Vogelgezwitscher erfüllte Stück Natur als überaus wohltuend. Der Anblick von Butterbrotpapier und anderen Oberresten lärmender Familienpicknicks, die daran erinnerten, daß dieses dicht vor den Toren der Weltstadt gelegene Waldparadies nicht immer einen so friedlichen und erhebenden, Anblick bot, störte ihn nur wenig. Die Stille ringsum, die so recht die Schönheit dieses strahlenden Augustmorgens empfinden ließ, wirkte beruhigend und belebend zugleich, so daß er darüber seine Mißstimmung über das ihm listig abgerungene Frühaufstehen ein wenig vergaß. »Ist es hier nicht hübsch?« rief Thora aus, indem sie den -81-
Wagen zum Stehen brachte. »Ja, es ist sehr schön«, bestätigte er. »Aber nun sag' mir bloß, Kind, was denn nun eigentlich der Zweck dieser merkwürdigen Frühtour sein soll.« »Laß uns hier ein bißchen durch den Wald bummeln«, schlug sie vor. »Dann will ich es dir sagen.« »Ich verstehe dich wirklich nicht!« Er stieg aber doch aus, als sie mit einer schalkhaftkindlichen Gebärde bittend die Hände hob. Sie gingen noch ein Stück die asphaltierte Straße entlang und bogen dann in einen Seitenweg, der zu einer kleinen Anhöhe führte. Dort stand eine niedrige Bank, schon etwas morsch und verwittert, auf die sie sich setzten. »Kannst du dir vorstellen«, begann sie, »daß ich heute nacht überhaupt nicht zu Hause gewesen bin?« »Daß du irgendeine Dummheit ge macht hast, habe ich mir schon gedacht. Also nur schnell heraus mit der Sprache. Wenn ich dir helfen kann, wird es natürlich geschehen. Wo hast du denn gesteckt?« Thora erzählte, was sich in den letzten Stunden zugetragen hatte, verschwieg aber ihr Zusammensein mit Bruno. Herbert Vanhusen machte ein bedenkliches Gesicht. »Das sind ja reizende Neuigkeiten! Wir hätten schon viel früher unsere Beziehungen lösen sollen, dann wäre es wahrscheinlich nicht zu dieser Katastrophe gekommen. Es ist doch klar, daß bei deinem Mann nur das Wissen um deine Untreue zu dem seelischen Zusammenbruch geführt hat. Ich kann auch nicht finden, daß du dich richtig verhalten hast, weder ihm noch mir gegenüber. Du hättest natürlich zu Hause bleiben müssen, anstatt den Kranken einfach seinem Schicksal zu überlassen; und mich hättest du nicht gerade in aller Frühe aus dem Bett zu holen und nach dem Grunewald zu schleppen -82-
brauchen, um mir hier diese Hiobsbotschaft mitzuteilen. Du hast anscheinend völlig die Nerven verloren.« Wie kühl und unbeteiligt das alles klang, was er sagte. War es dehn nicht möglich, noch einmal eine Saite in ihm anzuschlagen, nach deren Klang ihr Herz sich sehnte? »Es tut dir wohl gar nicht leid, daß mir dies widerfahren ist?« »Dir, Thora?« Er schien recht verwundert. »Ich dächte, dein Mann wäre es, der Mitleid verdient. Du scheinst wirklich nicht eine Spur von Liebe für ihn zu empfinden.« »Nur weiter im Text, Herr Moralprediger«, fuhr sie auf. »Ich weiß schon, was du sagen willst: kaltherziges Weib, selbstsüchtig, oberflächlich, seelenlos. Die Melodie ist mir bekannt. Ich bin so, wie ich bin; und wenn mal das Wunder geschehen sollte, daß mich ein Mann von Grund auf umkrempelt - Walter Mynius hat es nicht gekonnt, und du hast es nicht getan -, dann soll's mir recht sein. Bis dahin bleibe ich so, wie ich immer war.« »Dich wird kein Mann jemals ändern, Thora! Ich hab es versucht, aber es war vergeblich.« »Soll ich dir mal etwas sagen, Bert?« Sie ergriff ungestüm seinen Arm und fuhr leise fort: »Du hast das Rennen dicht vor dem Ziel aufgegeben.« Vielleicht wäre er jetzt noch einmal schwankend geworden, wenn er sie in diesem Augenblick angesehen hätte. So aber, den Blick aufwärts gerichtet, wo auf einem Fichtenzweig ein Buchfink sein Morgenlied schmetterte, sagte er nur: »Ich glaube nicht, daß ich das Ziel je erreicht haben würde.« Thora sah zu ihm auf, das erste Wetterleuchten des Hasses im Blick. Er bemerkte es nicht, weil er noch immer den Vogel betrachtete, der sich durch die Menschennähe durchaus nicht stören ließ. »Laß uns weiterfahren«, sagte sie brüsk. -83-
Vanhusen erhob sich wortlos und schritt sinnend neben ihr her. »Ich werde, wenn die Wetterlage weiter so günstig bleibt, schon in allernächster Zeit zu meinem Ozeanflug nach Mexiko starten«, erklärte er, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben. »Bist du sicher, daß dir der Flug auch gelingen wird?« Spöttisch, fast feindselig klang es, wie sie das sagte. »Ich glaube nicht«, entgegnete er ruhig und selbstbewußt, »daß es schiefgehen kann. Das Material ist in jeder Be ziehung hervorragend, und ich habe als, Flieger die nötigen Erfahrungen.« »Und wer ist dein Begleiter?« »Ein erprobter Pilot, der seit Jahren im Dienst der Wennerwerke steht. Er wird auch den Bordfunk bedienen.« »Kennst du ihn denn näher?« »Nein, nur flüchtig. Es scheint aber ein famoser Bursche zu sein, groß, kräftig und draufgängerisch, dem Dialekt nach ein waschechter Berliner. Ich habe volles Vertrauen zu ihm.« »So. - Na, dann wird ja wohl alles klappen. Jedenfalls wünsche ich dir einen recht guten und... hm - interessanten Flug!« »Danke.« Als sie wieder bei dem Wagen angelangt waren, stellte sie sich dicht vor Vanhusen hin und legte ihm beide Hände auf die Schulter. Ein bärtiger Förster, der auf seinem Fahrrad vorüberkam, lächelte still für sich und freute sich neidlos an dem vermeintlichen Glück der beiden. »Herbert«, fragte sie mit leiser Stimme, »warum liebst du mich nicht mehr?« Auf diese oder eine ähnliche Frage war er längst vorbereitet. »Aber, Thora!« Er tat einen halben Schritt rückwärts, so daß -84-
ihre Hände von seinen Schultern herabglitten. »Wir wollen hier doch nicht auf offener Straße eine kitschige Kinoszene aufführen!« Nun war es mit ihrer Selbstbeherrschung vorbei. Sie sah, daß nichts mehr zu verlieren war. »Dein unsinniger Ehrgeiz«, schrie sie ihn an, »hat dir ganz und gar den Kopf verdreht. Gib acht, daß er dir nicht auch das Genick bricht!« »Nun sei doch vernünftig! Ich will -« »Es interessiert mich nicht mehr, was du willst. Das eine aber sollst du bald erfahren, daß du mich in der Fähigkeit, einen Menschen zu hassen, gewaltig unterschätzt hast. Du wirst noch an mich denken!« Sie sprang ins Auto, schlug die Tür zu und fuhr davon. Herbert Vanhusen trat auf den besonnten Fahrdamm und blickte ihr verwundert nach. So hatte er sich das Ende der gemeinsamen Fahrt nicht vorgestellt. Er faßte sich schnell, sah nach der Uhr und schritt rüstig aus, um ein Cafe zu suchen, wo er frühstücken konnte. Wieder schallte ihm helles Vogelgezwitscher in die Ohren. In der Ferne zwischen den Bäumen schimmerte die blaue Fläche eines Sees. Von der Avus, durch die Entfernung gedämpft, klang das Knattern und Brüllen einiger Rennwagen herüber, die zur Vorbereitung auf das am nächsten Tage stattfindende internationale Automobilrennen die ersten Proberunden herunterrasten. Für Herbert Vanhusen war das eine liebliche Musik. Er dachte an den bevorstehenden Ozeanflug und daran, daß er Thora Mynius nun endlich los sei. »Gott sei Dank!« lachte er befreit und beschleunigte seine Schritte.
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Ist die gnädige Frau zu sprechen? »Ist die gnädige Frau zu sprechen?« Es waren drei Herren, die vor dem Eingang der Villa Mynius standen. Unterhalb der Freitreppe warteten zwei Autos, ein Kabriolett und ein geschlossener Wagen. »Die gnädige Frau ist in der Nacht fortgefahren und bis jetzt noch nicht zurückgekommen«, sagte das Mädchen, das diese Neuigkeit dem Chauffeur verdankte. Es blickte ziemlich ratlos von einem zum anderen. »Wollen die Herren warten?« »Schläft Herr Mynius noch?« fragte jemand aus der Gruppe, ein großer, breitschultriger Mann mit zahlreichen Schmissen in dem vollen, glattrasierten Gesicht. Es war Professor Sonnenborn. »Bitte, treten Sie näher. Ich werde nachsehen.« Nach einer Weile kam das Mädchen verstört zurück und meldete, die Tür zum Schlafzimmer stehe weit offen; das Bett sei leer. »Sonderbar«, sagte Doktor Karrasch. »Ich hatte Morphium und Veronal verabreicht. Er kann also unmöglich schon aufgestanden und fortgegangen sein.« »Vielleicht«, mutmaßte Professor Sonnenborn, »ist er schlafwandelnd durchs Haus gegangen und hat sich irgendwo hingelegt. Man müßte alle Zimmer durchsuchen lassen.« Da wurde langsam eine der Türen, die zur Diele führten, geöffnet. Eine bleiche, hohlwangige Gestalt im schwarzen Schlafanzug erschien auf der Schwelle. »Guten Morgen, Herr Mynius«, sagte der Professor so freundlich und unbefangen wie möglich. Er schritt auf den Komponisten zu und schüttelte ihm die Hand. »Mein Kollege Doktor Karrasch hat mich über die Vorfälle von gestern abend -87-
unterrichtet. Es ist alles nicht so tragisch. Was sie brauchen, ist Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe. Kommen Sie mit mir nach Schmargendorf. Ein paar Wochen in der Klinik, anschließend eine nette Erholungsreise in die Schweiz, an die Adria oder sonstwohin, und Sie werden wie neugeboren sein. - Nun, wie denken Sie darüber?« Walter Mynius stand noch immer auf dem gleichen Fleck. Seine Augen, die langsam durch den Raum wanderten, hatten einen leeren Ausdruck. Nun ging er mit zögernden Schritten auf die beiden anderen Herren zu, um sie zu begrüßen. Doktor Karrasch schien er wiederzuerkennen; der andere war ihm fremd. »Doktor Graven, mein Assistent«, stellte der Professor vor. »Er war damals, als Sie das erste Mal in der Klinik weilten, noch nicht bei mir.« »Und was, bitte«, fragte Mynius mit müder Stimme,, was verschafft mir die Ehre?« Während noch die Herren betreten schwiegen und sich fragend ansahen, fügte er hinzu: »Setzen wir uns doch.« »Gestatten Sie mir«, nahm der Professor wieder das Wort, »einige Fragen an Sie zu richten. Haben Sie eine genaue Erinnerung an die Vorgä nge, die sich gestern abend im Metropolpalast und später hier im Hause abspielten?« Walter Mynius blickte nach der Glastür hin, die ins Freie führte. Sein Gesicht sah aus, als ob ihn dieser unerwartete Besuch unendlich langweile. So mochte auch ein Mensch dreinsehen, der Zeuge einer Unterhaltung ist, die in einer ihm unverständlichen Sprache geführt wird. »Gestern abend - - Metropolpalast - -?... Ach so, der Film! Ein guter Film, meine Herren. Waren Sie dort?« »Herr Doktor Karrasch war anwesend«, sagte Professor Sonnenborn. »Erinnern Sie sich nicht, daß Sie plötzlich zu schreien anfingen und eine Schauspielerin bedrohten?« -88-
»Ich...?« Mynius lächelte ungläubig, wodurch sein breiter, wulstiger Mund noch häßlicher wirkte als sonst. »Das wird wohl nicht stimmen.« »Wohnten Sie denn der Vorführung bis zum Schluß bei?« »Warum, fragen Sie mich nur so viel, Herr Professor? Bis zum Schluß -, ja, warten Sie mal... bis zum Schluß? Nein, ich glaube nicht. Es wird irgend etwas mit mir passiert sein, ein Ohnmachtsanfall oder sonst etwas. Fragen Sie doch hier den Herrn Doktor. Er war doch mit mir zusammen und muß es ja wissen.« Nun hielt ihm Professor Sonnenborn alle Einzelheiten vor, wie sie ihm von Doktor Karrasch geschildert worden waren. Mynius, der nicht gerade den Eindruck eines Geisteskranken machte, wenn er auch müde und teilnahmslos aussah und nicht ganz bei der Sache zu sein schien, hörte sich das alles ruhig an. Plötzlich sprang er auf und rief: »Wo ist meine Frau?« Der Professor wechselte mit seinen Begleitern einen raschen Blick. »Ihre Gattin?... Sie hat in der Frühe, kurz bevor wir hier eintrafen, das Haus verlassen. Vielleicht hat sie infolge der Aufregung schlecht geschlafen und wollte sich durch einen Spaziergang erfrischen.« Mynius war das Mienenspiel des Professors nicht entgangen. Er ging zur Tür und rief nach draußen: »Heitekamp!« Als der Gerufene sich nicht sofort meldete, schrie er nochmals mit heiserer Stimme: »Hei - te - kamp!!« Der Chauffeur kam im Trab angelaufen. »Haben Sie meine Frau gesehen?« Heitekamp bemerkte nicht die wilden Zeichen, die ihm die drei Herren machten. Er sagte: »Die jnädige Frau ist gestern abend um halb zwölf mit dem Wagen fortgefahren.« »Und - wo ist sie jetzt?« Der Chauffeur zuckte die Achsein. »Weiß nicht; die Garage -89-
ist noch leer.« Mynius fuhr zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Das einzige, was er in diesem Augenblick klar zu denken vermochte, war die Vermutung, daß sie am späten Abend das Haus verlassen hatte, um zu dem Flugkapitän Herbert Vanhusen zu fahren. Alles andere war ihm vorläufig noch ziemlich unklar, aber auch sehr gleichgültig. Er kannte nur einen Gedanken: Thora! Es war selbst jetzt, da er sich mühsam aus den Niederungen seines seelischen Zusammenbruchs erhob und wie ein Trunkener langsam ins Bewußtsein zurücktaumelte, nur ein Gefühl in ihm lebendig, das mit allen Stimmen seines wunden Herzens nach der Frau rief, die seinem Leben und seinem künstlerischen Schaffen das nämliche bedeutete wie dem Fisch das Wasser. Und sie hatte ihn verlassen, hatte sich wieder und wieder dem anderen in die Arme geworfen? Wie kläglich, ein Leben fortrühren zu sollen, das seinen Sinn verloren hatte. »Was wünschen Sie von mir, meine Herren?« wandte er sich schroff an die Ärzte. »Daß Sie sich ankleiden und uns folgen«, entgegnete Professor Sonnenborn sachlich. »Alles, was mit Ihnen geschieht, dient nur dem Zweck, Sie wieder gesund zu machen.« »Kommen Sie, Heitekamp«, sagte Mynius, »Sie müssen meine Koffer packen. Ich werde wohl so bald nicht hierher zurückkehren.« Eine Viertelstunde später kam der Komponist im dunklen Sakko und steifen schwarzen Hut wieder die Treppe herunter. Heitekamp keuchte mit zwei schweren Koffern hinterdrein. Die rechte Hand hatte Mynius in derTasche. Seine Finger hielten dort ein zierliches Taschentuch aus hellblauer Seide umspannt, das er bei einem raschen Rundgang durch das Schlafzimmer seiner Frau gefunden und eingesteckt hatte. Es roch stark nach jenem Parfüm, das er früher einmal in -90-
glücklichen Stunden die duftende Versinnbildlichung ihres Wesens genannt hatte. Doktor Karrasch nahm den Chauffeur beiseite. »Die gnädige Frau ist über alles unterrichtet. Bestellen Sie ihr, ich würde heute im Laufe des Tages anrufen.« »Ich denke, wir brechen gleich auf«, sagte der Professor. Draußen verabschiedete sich Doktor Karrasch, der sein Kabriolett bestieg. Die anderen nahmen im Wagen des Professors Platz. Während der Fahrt versuchten die beiden Ärzte, Walter Mynius durch eine harmlose Unterhaltung das Peinliche der Situation vergessen zu machen; doch scheiterte dieses Bemühe n an dem beharrlichen Schweigen des Patienten. *** Gegen neun Uhr früh kam Thora zurück. Heitekamp, der damit beschäftigt war, die Kieswege mit der Harke zu säubern, erstattete ihr ausführlich Bericht. Als sie hörte, daß er ihrem Manne in Gegenwart der Ärzte erklärt hatte, sie sei mitten in der Nacht mit dem Auto davongefahren, nannte sie ihn einen Schafskopf und ging wütend ins Haus. Heitekamp fuhr den Wagen in die Garage, schloß ab, überlegte einen Augenblick und kratzte sich hinter den Ohren. Dann stelzte er entschlossen zum Herrschaftshaus hinüber. »Was wollen Sie denn noch?« herrschte Thora ihn an. »Kündigen, jnädige Frau! Die Behandlung paßt mir nämlich nicht.« »Großartig.« Mehr sagte sie nicht. Aber sie ging schnurstracks in das Arbeitszimmer ihres Mannes und kam zwei Minuten später mit den Papieren Heitekamps und dem Lohn für zwei Monate zurück. -91-
»So, hier haben Sie alles. Sie können sofort aufhören.« Als Heitekamp gegangen war, ließ Thora ihre schlechte Laune an dem Dienstmädchen und an der Köchin aus. Die beiden waren das aber schon gewöhnt und nahmen sich die Schimpfereien nicht weiter zu Herzen. Nach dem Frühstück legte sich Thora zu Bett, um erst einmal richtig auszuschlafen. Obgleich sie sehr müde war, vermochte sie zunächst keine Ruhe zu finden. Die.Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden tanzten wie wilde Kobolde durch ihr Bewußtsein und zwängen zu ernstem Nachdenken. Sie überlegte, ob es nicht ratsam erschien, einen Weg zur Scheidung zu suchen. Sie wußte, daß sie den Bogen überspannt hatte, und ahnte, daß diese Ehe kein gutes Ende nehmen würde. Der Zeitpunkt war gekommen, der drohenden Katastrophe vorzubeugen. Bei Licht betrachtet, tat sie sogar ein gutes Werk, wenn sie sich von Walter Mynius trennte. Ihrer Nähe und ihrem Einfluß entrückt, würde er vielleicht Vergessen finden und sein Selbstbewußtsein und seine Schaffenskraft.zurückgewinnen. Ein letzter Rest von Einsicht und Gerechtigkeitssinn sagte ihr, daß sie sich an diesem Menschen, der ihr von jeher nur Gutes erwiesen, doch arg versündigt hatte. Nun sollte und mußte es genug sein. Sie hätte sich vielleicht sogar dazu entschließen können, das Unrecht durch geheuchelte Liebe gutzumachen, wenn nicht Herbert Vanhusen gewesen wäre, der ihr Inneres gänzlich mit Beschlag belegte, so daß kein Ra um für echte oder unechte Empfindungen blieb. Ihm gegenüber versagte die Lust am frevelhaften Spiel mit Gefühlen, seitdem sie eingesehen hatte, daß er ein Mann war, der sich nicht durch noch so köstliche Geschenke an die Sinne blenden ließ. Er hatte sie zu der Erkenntnis gebracht, daß sie noch zu wirklicher Liebe, wie sie jede brave Bürgersfrau und jedes einfache Mädchen vom Lande auffaßt, fähig sei, und daß es gelingen konnte, aus ihr eine Frau mit heißem Herzen und vorbehaltloser seelischer Hingabe zu machen - wenn er nur -92-
wollte. Die Tragik lag darin, daß sie zu dieser Einsicht kam, als es schon zu spät war. Er hatte lange Zeit vergeblich darauf gewartet, daß die Sprache seines Herzens recht verstanden und erwidert werde; und als es endlich geschah, glaubte er an eine Täuschung und blieb kalt. Wäre nicht der Plan des Ozeanfluges gewesen, wer weiß, ob dann die Dinge nicht eine andere Entwicklung genommen hätten. Herbert Vanhusen gehörte zweifellos zu jenen Menschen, denen Ruhm und Volkstümlichkeit als Inbegr iff alles irdischen Glückes erscheint, und die erst dann wieder an andere Werte des Daseins glauben, wenn ein Mißgeschick ihren Aufstieg hemmt und sie in ihrer Enttäuschung nach einem Rückhalt suchen läßt. Wenn der Ozeanflug mißlang, so mußte die Wendung eintreten, die sie ersehnte. War seinem Ehrgeiz dieser Stoß versetzt, dann würde Aussicht bestehen, daß er sich wieder auf sie besann. Ein neues Spiel bot sich hier, die nie wiederkehrende Gelegenheit, in unerhörter Weise Schicksal zu spielen. Ob es gelang, war freilich eine andere Frage. Immerhin - der Versuch sollte unternommen werden. Es war gut, daß sie Bruno Vanhusen gefunden und in weiser Voraussicht Vorbereitungen getroffen hatte, ihn zu ihrem Verbündeten zu machen. Nun war unversehens ein zweiter und wahrscheinlich noch weit nützlicherer Helfer in ihrer Vorstellung aufgetaucht: Peter Kramm, den sie unbedingt für ihren Plan gewinnen mußte, selbst wenn er... Nun, es würde sich ja zeigen, welchen Preis er zu fordern berechtigt war. Thora nahm sich vor, Bruno Vanhusen noch heute einen Rohrpostbrief zu schicken und ihn zu bitten, am Nachmittag des nächsten Tages zusammen mit Peter Kramm nach Nikolassee zu kommen. Dann verwarf sie diesen Gedanken wieder, weil ihr die Anzeige einfiel, die Kramm in mehreren Ze itungen hatte -93-
erscheinen lassen. Wenn sie sich auf diese Anzeige meldete, bestand die Möglichkeit, ihn allein zu sprechen. Ließ er nichts von sich hören, so konnte sie noch immer auf Brunos Vermittlung zurückgreifen. *** Peter Kramm war umgezogen. Er fand, daß es nicht zu seinem derartigen Lebensstil passe, am Alexanderplatz zu hausen. Augenblicklich war er wieder einmal er selbst, das heißt, der Sohn seines Vaters, ausgerüstet mit Frohsinn, Lebenshunger und einer wohlgefüllten Brieftasche. Da schien es ihm doch richtiger, nach dem Westen überzusiedeln. Er mietete eine prunkvolle Junggesellenwohnung in der Uhlandstraße, packte seine Reiseandenkensammlung und seine sonstigen Siebensachen zusammen und nahm Abschied vom »Alex«. Der Wohnungswechsel erschien ihm noch aus einem anderen Grunde zweckmäßig. Er nahm an, daß dieses Beispiel durch Bruno Vanhusen Nachahmung finde, dem nur zu helfen war, wenn man ihm gar keine Zeit ließ, Grillen zu fangen. Wenn dieser treuherzige Kerl mit der unzeitgemäßen empfindsamen Seele wieder auf die Walze ging, bestand die Gefahr, daß er eines Tages irgendwo am Straßenrand endete. Das wäre schade gewesen. Andererseits war bei Bruno Vanhusen, der Kramm in heller Begeisterung von seiner Begegnung mit Thora Mynius erzählt hatte, das Rezept, den Teufel durch Beelzebub auszutreiben - in diesem Falle also die neunzehnjährige Thora Horwicz durch die um zehn Jahre ältere Frau Thora Mynius zu entzaubern -, nicht am Platze. Schon deshalb nicht, weil es hier anscheinend nichts zu entzaubern gab. Nach den Schilderungen Vanhusens war sie noch immer so schön und gefährlich wie früher. Peter Kramm -94-
kannte diese Art von Frauen zur Genüge. Wer sich in sie vergaffte, den ließen sie zappeln, bis der Betreffende auf den Knien um Liebe bettelte. Es war mithin das beste, wenn Bruno Vanhusen dem Gegenstand seiner unentwegten Schwärmerei hübsch aus dem Wege ging und sich nach einem anderen weiblichen Wesen umsah, das solche dauerhafte Verehrung besser zu schätzen wußte. Nur wenn ein neues, erreichbares Ziel dieser Art winkte, konnte es gelingen, ihn von seinem Hang zur Einsamkeit und Grübelei, der ihn aus seiner Lebensbahn geworfen hatte, zu befreien. In diesem Zusammenhang mußte Kramm an seine eigene Lebensweise und an das Inserat denken, das er vor einigen Tagen losgelassen hatte. Der Plan, sich zu »verpachten«, war für deutsche Verhältnisse denn doch wohl ein bißchen spleenig. So etwas hätte vielleicht in New York, Buenos Aires oder in anderen Weltstädten des Auslandes, nicht aber im nüchternen deutschen Lande, zu interessanten Erlebnissen führen können. Überhaupt - die Ferne. Sie lockte schon wieder so stark, daß er eine muntere Stimme zu vernehmen glaubte, die ihm aus seinem Unterbewußtsein zurief: Gemach, alter Junge, in einigen Wochen bist du abermals draußen in der weiten Welt, wo noch immer die herrlichsten Abenteuer auf dich warten! Er wollte freilich nicht auf und davongehen, bevor er nicht Bruno Vanhusen, dem er herzlich zugetan war, in guten Händen wußte. Auf alle Fälle schien es ratsam, ihn dem Einfluß der Frau Thora Mynius zu entziehen. Über die Mittel und Wege war er sich allerdings noch keineswegs im klaren. Die Briefe, die ihm auf seine Anzeige hin zugegangen waren, begann er jetzt einzeln zu zerreißen. Es war eine stattliche Anzahl. Einige las er schmunzelnd. Zum Teil waren es recht eigenartige Zumutungen, die an ihn gestellt wurden. -95-
Das vernünftigste Angebot machte ein Detektivbüro, das ihn für größere In- und Auslandsrecherchen anstellen wollte. Aber die anderen...? Da war zum Beispiel eine sechzigjährige Dame, die nie in ihrem Leben aus Berlin herausgekommen war und jetzt noch schleunigst eine Reise um die Welt machen wollte. Ob er nicht Lust hätte, sie zu begleiten, gegen gutes Gehalt und gute Behandlung natürlich. Da war ferner ein junges Mädchen aus vornehmer Familie, das sich über die elterliche. Tyrannei beklagte und ihn als Entführer zu verpflichten wünschte. Auch Werkspionage und ähnliche bedenkliche Leistungen wurden von ihm verlangt. »Nichts für mich«, sagte Kramm bei jedem Brief, zerriß die Bogen säuberlich in kleine Stücke und streute sie in den Papierkorb. Aber dann stutzte er doch, als er auf einem hellgelben Bogen aus duftendem Bütten den Namen »Thora Mynius« las. Er hatte, als ihm Bruno Vanhusen sagte, sie werde sich möglicherweise auf seine Anzeige melden, nicht im entferntesten daran gedacht, daß sie im Ernst beabsichtigen könnte, ihn zu engagieren. Der Brief enthielt nur zwei Sätze. »Bitte, besuchen Sie mich. Es ist möglich, daß ich Sie gebrauchen kann.« Darunter stand ihr Name. Kramm pfiff leise vor sich hin. Hallo, dachte er, ein Abenteuer in Sicht! Aber Sie werden sich verrechnen, schöne gnädige Frau. Peter Kramm ist nicht der Mann, den Sie suchen, es sei denn, daß er die Aufgabe erfüllen soll, Ihrem Gatten die Methode beizubringen, wie man solche kleinen, launenhaften Weibsteufelchen wie Sie behandeln muß, damit sie hübsch brav und fügsam werden. Vermutlich dürfte das aber wohl kaum der Zweck Ihres Briefes sein. Wollen sehen, um was es sich dreht. Vielleicht springt etwas dabei heraus, was sich für Bruno Vanhusen als nützlich erweist. Er legte das Schriftstück beiseite, zerriß ungelesen die übrigen -96-
noch ungeöffneten Briefe und ging, nachdem er Thoras Fernsprechnummer festgestellt hatte, zum Telefon. Sie war persönlich am Apparat. Er nannte seinen Namen und fragte, wann ihr sein Besuch genehm sei. »Heute nachmittag gegen fünf Uhr«, schlug sie vor. »Out, ich komme.« »Noch eins, Herr Kramm«, schallte es ihm aus dem Hörer entgegen. »Gleichgültig, ob wir uns einigen oder nicht: Fahren Sie doch vorher nach Friedrichshagen hinaus und schauen Sie sich das Flugboot ,Alemania', das demnächst zum Ozeanflug nach Mexiko starten wird, recht genau an. Soviel ich weiß, ist es seit gestern zur Besichtigung freigegeben. Ich möchte sehen, ob Sie über eine gute Beobachtungsgabe verfügen.« »Sozusagen ein Probeauftrag?« »Hm - ja.« »Wird erledigt.« Kramm hielt noch eine Weile den Hörer in der Hand, bevor er ihn auf die Gabel zurücklegte. Dann trat er einen Rundgang durch das Zimmer an. Er sollte also das Flugboot, mit dem Herbert Vanhusen schon in den nächsten Tagen nach Mexiko starten würde, recht aufmerksam besichtigen. Was stak dahinter? Von Bruno, hatte er erfahren, daß zwischen dessen Bruder und Frau Mynius noch immer Beziehungen bestanden. Hier gab es natürlich irgendeinen Zusammenhamg; aber was der Auftrag zu bedeuten hatte, ließ sich trotzdem nicht erkennen. »Allright«, knurrte Kramm, »sehen wir uns die Kiste an. Wird sich schon herausstellen, wohin der Hase läuft.« Als er schon in der Tür stand, läutete der Fernsprecher. Es war Bruno Vanhusen, der sich erkundigte, ob Thora ihre Absicht, an Kramm zu schreiben, wirklich ausgeführt habe. »Eben habe ich den Brief aufgemacht und mich telefonisch -97-
mit ihr unterhalten«, sagte Kramm. »Ich soll mir das Flugboot Ihres Bruders ansehen und heute nachmittag zu persönlicher Vorstellung nach Nikolassee kommen. Haben Sie nicht Lust, jetzt zusammen mit mir nach Friedrichshagen zufahren?« »Geht leider nicht. Ich fürchte nämlich, daß mir die Galle überläuft, wenn ich meinem Bruder begegne, und daß ich dann irgendeine Dummheit mache.« »Gut, dann fahre ich allein, und wir treffen uns mittags im Bürgerbräu am Bahnhof Friedrichstraße zu einem Imbiß. Einverstanden?« »Wann?« »Sagen wir um zwei Uhr.« »Abgemacht.« Peter Kramm nahm eine Taxe, die ihn nach einstündiger Fahrt an den Gestaden des Müggelsees absetzte. Schon von weitem sah er den silbergrau schimmernden Riesenvogel, dessen hechtförmiger Rumpf dicht am Ufer lag, so daß der rechte Flügel in seiner ganzen Länge über festem Boden schwebte. Das Boot war als sogenannter Hochdecker gebaut. Auffallend waren die beträchtliche Spannweite und die Breite der Flügel, an deren Vorderseite je ein Motor von 800 PS eingebaut war. Der dritte Motor befand sich in der Mitte dicht über dem Bug. Eine große Schar von Neugierigen, die sich mit dem Anblick von außen begnügten, drängte gegen den Laufsteg, der ins Innere des Flugbootes führte. Es waren zumeist Arbeitslose, die es sich nicht leisten konnten, den geforderten Preis von einer Mark für die Besichtigung zu zahlen. Kramm schloß sich einer Gruppe von acht Schaulustigen an, die unter Vorantritt des Werkfliegers Beßler über den Laufsteg in den Rumpf kletterten. Er war bemüht, sich alle Einzelheiten der Innenausstattung genau einzuprägen; aber sein Blick wurde -98-
immer wieder von dem Mann im Fliegerdreß angezogen, der ihm sonderbarerweise in der Gestalt und im Gesichtsschnitt so sehr ähnlich sah, daß Kramm verstohlen einen Blick in seinen Taschenspiegel warf, um einen genauen Vergleich anzustellen. Auch Beßler schien diese Ähnlichkeit aufzufallen, denn er blickte zu Kramm hinüber und lächelte plötzlich, wie man es einem Bekannten gegenüber tut, den man in einer Versammlung mit einem raschen Augenzwinkern begrüßt. Bevor der Rundgang durch die einzelnen Räume des Flugbootes angetreten wurde, hielt Beßler einen kleinen Vortrag. »Ich zeige Ihnen jetzt«, begann er im behäbigen Tonfall des echten Berliners, der sich bemüht, hochdeutsch zu sprechen, »die Inneneinrichtung des Flugbootes ,Alemania', das in der ersten Hälfte der kommenden Woche unter der Führung des Flugkapitäns Vanhusen zu einem direkten Flug von Berlin nach Veracruz ohne Zwischenlandung starten wird. Ich werde als zweiter Pilot und Bordfunker mitfliegen. Es handelt sich bei dieser Maschine um eine neuartige Konstruktion, deren Einzelheiten noch geheimgehalten werden müssen. Soviel darf ich aber verraten, daß wir Benzin und Öl für eine Strecke von annähernd fünfzehntausend Kilometern mitnehmen können. Der Treibstoff wird etwa zur Hälfte in den Flügeln und Schwimmern, zur anderen Hälfte in den im unteren Teil des Rumpfes eingebauten Tanks untergebracht. Bei den Probeflügen haben wir eine mittlere Geschwindigkeit von zweihundertvierzig Stundenkilometern erzielt. Der Start zum Ozeanflug soll gegen zehn Uhr abends erfolgen. Wir würden also bei Zugrundelegung der eben erwähnten Durchschnittsgeschwindigkeit am Nachmittag des übernächsten Tages, und zwar gegen sechzehn Uhr, in Veracruz ankommen.« Anschließend erklärte Beßler die Einrichtungen. Kramm interessierte sich vor allem für die Führerkabine, die mit den modernsten Apparaten ausgestattet war. Die beiden Führersitze -99-
lagen nebeneinander; dahinter war der Navigationsraum. Von hier aus führte eine Treppe schräg nach oben zu einer Luke, die vom Führersitz aus mittels Preßluft geöffnet werden konnte. Durch diese Luke, die einen Durchmesser von sechzig Zentimetern hatte, konnte man auf den oberen Teil des Rumpfes gelangen, von wo aus wiederum zwei Leitern zu den beiden Flügelmotoren führten. In dem eigentlichen Passagierraum, der für zwölf Personen berechnet war, fehlten noch die Sitzgelegenheiten. Sie sollten erst später, wenn der Ozeanflug geglückt war, eingebaut werden, und zwar waren sogenannte Pullmansessel mit Fußbänkchen und Kopfpolster in Aussicht genommen, die sich durch einen einfachen Hebeldruck in horizontale Ruhelager verwandeln ließen. An Stelle der Sessel hatte man die Passagierkabine mit Tanks und Kanistern angefüllt, die Reservetreibstoff enthielten. Auf jeder Seite befanden sich sechs Bullaugen von etwa vierzig Zentimetern Durchmesser, die Schiebefenster enthielten. Man konnte sie durch eine Kurbel mühelos öffnen und schließen. Zwischen Navigationsraum und Passagierkabine lag rechts ein Aufenthaltsraum für die Besatzung; links befand sich die Toilette mit Waschgelegenheit. Der hintere Teil der Passagierkabine mündete in den Wirtschaftsraum, wo Erfrischungen bereitgehalten wurden. »Alles ganz gut und schön«, sagte Kramm, »aber ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie einen Aktionsradius von fünfzehntausend Kilometern herausholen wollen. Wie kann denn bei dem Betriebsgewicht noch so viel Nutzlast mitgeschleppt werden?« »Das hat zwei Gründe, mein Herr«, belehrte ihn Beßler. »Unsere Motoren geben je 800 PS, verbrauchen aber nicht mehr als andere Fabrikate, die 600 bis 650 PS leisten. Das bringt schon eine Menge. Hinzu kommt, daß die ganze Maschine, so wie sie hier schwimmt, rund vierzig Prozent weniger wiegt als die Apparate gleicher Größe, die man bisher baute. Die -100-
Gewichtsersparnis ist durch Verwendung einer neuartigen Metallegierung und eines australischen Holzes, das trotz seines außergewöhnlich geringen spezifischen Gewichts eine große Festigkeit besitzt, erzielt worden.« Kramm sah sich alles noch einmal genau an. Dann ging er los. Ein hübsches Maschinchen, dachte er, als er einen Blick zurückwarf und das silbrige Ungetüm im Sonnenlicht glitzern sah. Da steht nun dieser Kerl, der mir so ähnlich sieht, und quatscht seine eingelernten Sprüche herunter und weiß gar nicht, wie sehr er zu beneiden ist. Gemächlich schlenderte Kramm durch den kleinen Ort zum Bahnhof. Da er noch viel Zeit hatte, machte er einen Umweg. Seine Laune stand im umgekehrten Verhältnis zu dem strahlenden Wetter. »Paß doch auf, du Lausejunge«, herrschte er einen kleinen Bengel an, der ihm im Eifer des Spiels mit seinem Roller gegen die Füße fuhr. »Mich zwickt etwas«, brummte er vor sich hin. Natürlich zwickte ihn etwas. Er kam auch bald dahinter, was es war. Da unten am Ufer des Müggelsees lag ein Flugboot. Bald würden die Motoren donnern... eine vieltausendköpfige Menge schreit wie besessen, zwei Menschen steigen mit dem silbernen Riesenvogel, den zwei ei nh albtausend Pferdekräfte durch den Äther reißen, in den nächtlichen Himmel hinauf, um unaufhaltsam über den Ozean nach Westen zu rasen, und er, Peter Kramm, der Abenteurer aus Beruf und Neigung, bleibt zurück und wischt sich, mit Verlaub zu sagen, das Maul. Ja, das war es. Nun wußte er, was ihn zwickte. Er hatte Fernweh. »Wissen Sie was«, sagte er zu Bruno Vanhusen, den er Zigaretten pfaffend im Bürgerbräu antraf, »ziehen Sie Ihre Manchesterjoppe und Ihre Wanderstiefel an und kommen Sie mit. Stülpen Sie sich meinetwegen auch getrost wieder Ihren malerischen Schlapphut auf den Schädel, wenn Ihnen dann das -101-
Herumzigeunern mehr Freude macht. Jedenfalls müssen wir hier raus, so bald wie möglich. Bedenken Sie doch. Menschenskind, was wir hier alles versäumen.« »Noch in jüngster Zeit suchten Sie mich von der Landstreicherei zu heilen«, bemerkte Vanhusen gelassen. »Ich versäume nichts, wenn ich hierbleibe. Das könnte, im Gegenteil, der Fall sein, wenn ich Berlin den Rücken kehrte.« Kramm machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie sind ein Schwärmer«, ereiferte er sich, »der nicht begreifen will, daß es töricht ist, ein ganzes Leben lang seine Gedanken an eine Frau zu verschwenden, die einem mittlerweile unerreichbar geworden ist. Denn erstens ist die betreffende Dame verheiratet, zweitens ist da noch Ihr Bruder...« »Reden wir von etwas anderem«, fiel ihm Vanhusen ins Wort. »Es wäre schade, wenn unsere Freundschaft dadurch in die Brüche, ginge, daß wir uns über Dinge streiten, die naturgemäß jeder von einem anderen Gesichtspunkt aus beurteilt. Waren Sie in Friedrichshagen?« »Ja.« »Haben Sie meinen Bruder zu Gesicht bekommen?« »Nicht ihn, aber den Piloten, der den Ozeanflug mitmachen wird. Der Kerl sieht mir merkwürdigerweise verteufelt ähnlich. Ist das nicht komisch?« Bruno Vanhusen ging gar nicht auf diese Bemerkung ein. Er säbelte umständlich an dem Beefsteak herum, das der Kellner inzwische n gebracht hatte. Dabei dachte er, während er seine gepflegten Hände betrachtete, an die äußere und innere Verwandlung, die sich seit der Begegnung mit Thora an ihm vollzogen hatte. Er wunderte sich, daß er noch vor wenigen Wochen Geschmack daran finden konnte, Tag für Tag bei Regen und Sonnenschein durch Wald und Feld und über einsame Landstraßen zu wandern, nur die Sehnsucht nach der Ferne im Herzen, in schlechten Gasthäusern zu essen und nachts -102-
in Herbergen oder gar unter freiem Himmel zu schlafen. »Und weshalb«, wandte er sich an Kramm,»wollen Sie jetzt auf einmal wieder fort?« »Ich habe eine Unruhe im Blut, die sich immer einstellt, wenn irgendein Ereignis, ein bestimmter Eindruck oder ein plötzlich aufschießender Gedanke mich daran erinnert, daß ich in sträflicher Faulheit auf der Bärenhaut liege, anstatt mich draußen in der Welt umzutun. Ich kenne das schon und weiß, daß es dann Zeit ist, meine Koffer zu packen. Wenn ich erst sechzig bin und von Rheuma und sonstigen lieblichen Beschwerden des Alters geplagt werde, ist es zu spät. Ich werde mir also erst noch in aller Ruhe anhören, was diese Frau Thora Mynius eigentlich von mir will; und wenn es nichts Gescheites ist, was sie mir vorzuschlagen hat, dann ade, Berlin!« *** Professor Sonnenborn hatte Thora einen Brief geschrieben, ein kluges, mit feinstem Takt abgefaßtes Schriftstück, das einen Bericht über den Zustand des Patienten darstellte und zwischen den Zeilen den Wunsch erkennen ließ, ihr die eigentliche Ursache der Krankheit klarzumachen. Sie war gescheit genug, aus diesem Schreiben einen leisen Vorwurf und die Mahnung herauszulesen, zu ihrem Teil dazu beizutragen, die Genesung zu beschleunigen. Es wurde ihr nahegelegt, ihren Mann möglichst häufig im Sanatorium zu besuchen. Thora kniff die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Aber es war nur ein flüchtiges Aufbäumen gegen den Gedanken, sich zu Verständnis und Güte aufzuschwingen. Sie war gestern bei einer Freundin gewesen, Frau von Hersfeld, eine zierliche Brünette, mit der sie von Zeit zu Zeit zusammenkam, wobei man sich gegenseitig die kleinen Sorgen und Nöte vom Herzen redete. -103-
Frau von Hersfeld hatte ihr ganz gehörig die Leviten gelesen. »Mein Kind, du verdienst eigentlich Prügel«, so lautete die Strafpredigt. »Ich verstehe nicht, wie man einen Mann wie Walter, der dich doch vergöttert, so behandeln kann. Es wäre prüde, gegen einen kleinen Flirt etwas einzuwenden. Aber du treibst es denn doch entschieden zu bunt. Laß den Flieger laufen oder meinetwegen - fliegen, schenke seinem Bruder klaren Wein ein und suche den Weg, der zu Walter zurückführt. Das ist das einzig richtige.« Thora hatte reiflich über alles nachgedacht. Sie fand sich nicht frei von Schuld, wenngleich sie ihr Gewissen damit zu beschwichtigen suchte, daß alles triebhaften Ursachen entstammte, wofür sie keine Verantwortung traf. Sie wußte, daß es unrecht war, Tag und Nacht darüber zu grübeln, wie sie es anstellen konnte, den Ozeanflug Herbert Vanhusens zu verhindern; aber sie wäre nicht imstande gewesen, diesen Plan nur deshalb aufzugeben, weil er undurchführbar schien. Sie sah ein, daß Walter Mynius durch sie um sein Lebensglück betrogen war; aber sie wehrte sich wie ein trotziges Kind gegen die Vorstellung, daß sie aus böser Absicht seinen seelischen Zusammenbruch verschuldet habe. Ich werde ihn besuchen, sagte sie sich. Natürlich werde ich das, wenn ich auch eine große Abneigung gegen Sanatorien und Krankenhäuser habe. Warum soll ich ihm nicht die Freude machen? Neben ihr auf dem Teppich lag der große Bernhardiner. Er blickte unverwandt zu ihr auf und bewegte die zottige Rute langsam hin und her. »Wo ist Herrchen?« fragte Thora und kraulte dem gutmütigen Tier den Kopf. Das Hundegesicht mit den klugen Augen nahm einen fast menschlichen Ausdruck an. Die Rute schlug aufgeregt nach rechts und links, dann richtete sich der schwerfällige Körper auf, der Kopf drehte sich wie suchend nach beiden -104-
Seiten herum und verharrte lauschend. Dann legte er sich, als ob er Schutz und Zuspruch suche, aufThoras Schoß. Plötzlich sprang der Hund auf, rannte zur Tür, lief wieder zurück und schlug an. Das Mädchen erschien und meldete, ein Herr Kramm wünsche die gnädige Frau zu sprechen. Thora ging ihm entgegen. »Es freut mich, daß Sie Wort gehalten haben.« Peter Kramm war einen Augenblick befangen, faßte sich aber schnell. Er wurde sich kaum bewußt, daß eine Frau von seltenem Liebreiz vor ihm stand. Er dachte nur an die eigenartige Situation, die nicht ohne weiteres erkennen ließ, wie er sich verhalten sollte. Schließlich war er ja nicht gekommen, um einen gesellschaftlichen Besuch zu machen, sondern - war es nicht zum Lachen? - um sich und seine Fähigkeiten wie ein Handelsobjekt zum Kauf anzubieten. Er entschloß sich sofort, diese nun einmal übernommene Rolle auch mit peinlichem Ernst weiterzuspielen. »Sie wünschten mich zu sprechen, gnädige Frau«, begann er verbindlich. »Darf ich fragen, um was es sich handelt?« Ein selbstbewußter Kerl, groß, hübsch und auch wohl verwegen, stellte Thora im stillen fest. Wäre ich eine kleine, dumme Gans, so würde ich mich wohl auf der Stelle in ihn verlieben. Der Bernhardiner legte sich quer vor Thora hin und blickte den Fremden, der ihr zwei Schritte entfernt gegenübersaß, ruhig an. Es sah aus, als ob er sie beschützen wollte. »Waren Sie draußen in Friedrichshagen?« »Natürlich. Ich habe mir das Flugboot von innen und außen genau angesehen. Eine fabelhafte Konstruktion«. Er schilderte alle Einzelheiten. Ein Fachmann hätte nicht besser seine Beobachtungen wiedergeben können. »Sind Sie mit meinen Erkundungen zufrieden?« fragte er -105-
lächelnd. »Durchaus. Ist Ihnen sonst noch irgend etwas aufgefallen? Haben Sie den - den Führer des Flugzeuges gesehen?« »Den Flugkapitän Vanhusen? Nein, aber den Piloten, der ihn auf dem Ozeanflug begleiten wird.« »Was ist das für ein Mann? Welchen Eindruck ma cht er, wie sieht er aus?« »Das ist mit vier Worten klar gesagt. Er sieht mir ähnlich!« Thora fuhr mit jähem Ruck in die Höhe. »Verzeihen Sie meine Neugierde, gnädige Frau«, bemerkte Kramm, »aber ich möchte doch gern wissen, weshalb Sie mich eigentlich nach Friedrichshagen -. Ah, jetzt verstehe ich, Flugkapitän Vanhusen -. Sie wissen, ich kenne seinen Bruder und bin über die Zusammenhänge einimaßen unterrichtet. Sie verfolgen die Vorbereitungen zu dem beabsichtigten Ozeanflug natürlich mit einem gewissen Interesse, weil es sich hier um einen guten Bekannten - -« »Sie haben recht, Herr Kramm, und sind trotzdem auf dem Holzwege. Vielleicht reden wir sehr bald noch einmal darüber. Erzählen Sie mir lieber etwas von sich. Ich möchte sehen, ob Bruno Vanhusen nicht übertrieben hat. Er hält Sie nämlich für einen Mordskerl; ich halte Sie vorläufig nur für ein verrücktes Huhn, was aber unter Umständen dasselbe ist.« Peter Kramm legte los, berichtete so schlicht und ungezwungen von seinen Abenteuern, als ob das alles die harmlosesten und natürlichsten Dinge wären. Er habe sich schon viel zu lange in Berlin aufgehalten. Wenn sie ihm nicht etwas ganz Besonderes zu bieten habe, müsse er leider auf das Vergnügen verzichten, seine Dienste einer so bezaubernden Frau zur Verfügung zu stellen. »Stolz will ich den Spanier«, lachte Thora, aber sie ärgerte sich doch ein wenig über die vollendete Kaltschnäuzigkeit -106-
dieses hundertprozentigen Abenteurers, auf den schöne Frauen anscheinend nicht den geringsten Eindruck machten. »Ich denke, es wird eine Sache sein, die ganz Ihren Wünschen entspricht. Nebenbei hätte ich Ihnen für's erste - erschrecken Sie nicht, aber ein Mann wie Sie erschrickt ja wohl grundsätzlich nie - fürs erste also hätte ich Ihnen den Posten eines Chauffeurs anzubieten. Das würde den Vorteil haben, daß Sie immer sogleich zur Hand sind, wenn ich Sie brauche.« »Chauffeur...? Hm.« Kramm faltete die Hände und drehte die Daumen mit solcher Geschwindigkeit umeinander, das Thora zu lachen anfing. »Das ist mir eigentlich nicht aufregend genug. Man erlebt nichts dabei, es sei denn, Sie hätten die Absicht, sich von mir im Rekordtempo durch ein Dutzend fremde Länder kutschieren zu lassen.« »Ich will ganz offen sein«, sagte Thora entschlossen. »Als mir Bruno Vanhusen von Ihnen erzählte, hatte ich gleich das Gefühl, daß Sie der Mann sein würden, den ich suchte. Die Zeit drängt. Ich kann nicht warten, bis ich durch gründliches Kennenlernen die Gewißheit erlangt habe, daß Sie durchaus zuverlässig und verschwiegen sind. Wenn ich Ihnen also schon heute sage, um was es sich eigentlich handelt, so gehe ich damit ein Risiko ein, das von mir denselben Mut verlangt, den ich bei Ihnen voraussetzen muß, wenn das Vorhaben - unser Vorhaben gelingen soll. Sie brauchen nur ja oder nein zu sagen, müssen mir aber versprechen, in jedem Falle zu schweigen. Nur Bruno Vanhusen darf erfahren, worüber wir jetzt verhandeln. Es ist sogar möglich, daß er sich in unser Komplott einbeziehen läßt.« »Ein Komplott also?« Kramm zog die Augenbrauen hoch. »Da bin ich neugierig.« »Sie wissen, daß Herbert Vanhusen einen Ozeanflug nach Mexiko plant. Ich habe ein bestimmtes Interesse daran, daß dieser Flug auf irgend eine Weise zum Scheitern gebracht wird. Sind Sie bereit, sich für diese Aufgabe zur Verfügung zu -107-
stellen?« Also aus d e r Richtung pfeift der Wind, dachte Kramm. Er erkannte sofort mit völliger Klarheit die Hintergründe der geplanten Verschwörung. Natürlich würde er es ablehnen, sich daran zu beteiligen. Die günstige Gelegenheit, Thora ein wenig auf die Probe zu stellen, wollte er sich allerdings nicht entgehen lassen. Deshalb beugte er sich etwas vor; in seinen dunklen Augen flammten Begehrlichkeit und pfiffige Schurkerei, als er lauernd fragte: »Der Preis, gnädige Frau?« Thora sah ihn prüfend an. »Sie meinen Geld?« »Davon besitze ich selber genug. Es gibt noch eine Menge anderer Zahlungsmittel, die sich in keine Geldwährung umrechnen lassen. Schließlich müßte ich doch für diese Tat, falls sie überhaupt durchführbar wäre, auf irgendeine Weise entlohnt werden.« Noch einmal blickte sie ihm forschend ins Gesicht. Da brach der Schalk aus seinen Augen hervor, sprang zu den Mundwinkeln herab, und Kramm und Thora lachten gleichzeitig laut und herzlich. »Ein Glück«, sagte sie, »daß sich Ihre Kühnheit als Scherz entpuppt. Wir wären sonst geschiedene Leute gewesen.« »Ich fürchte, wir sind es auch so.« »Weshalb?« »Weil ich es ablehnen muß, an einem derartig bedenklichen Unternehmen mitzuwirken. Doch abgesehen von der moralischen Seite der Sache - - ich glaube auch nicht, daß es ein Mittel gibt, den Ozeanflug zu verhindern. Es scheint alles sehr sorgfältig vorbereitet zu sein; Herbert Vanhusen ist ein Flieger von Ruf - ich bitte Sie, was soll man da tun, um ein bißchen böse Vorsehung zu spielen? Ich sehe jedenfalls keinen Weg.« -108-
»Ich dachte, für einen Teufelskerl wie Sie gibt es überhaupt keine Schwierigkeiten.« Peter Kramm verneigte sich. »Ein schmeichelhaftes Lob, aber es ändert nichts an den Tatsachen. Ich kann und ich will nicht.« »Und wenn ich Sie schön bitte?« »Das würde mir meinen Entschluß vielleicht erschweren, ihn aber nicht zunichte machen.« Sein unerwarteter Widerstand hatte zur Folge, daß Thora nun erst recht entschlossen war, an ihrem Vorhaben festzuhalten. Wenn Kramm, der doch mit Flugzeugen Bescheid wußte und gerade deshalb für die Durchführung des Planes besonders geeignet schien, nicht wollte, so mußte eben Bruno Vanhusen veranlaßt werden, ihn so lange zu bearbeiten, bis er seine Mitwirkung zusagte. »Überlegen Sie sich die Sache«, schlug sie vor. »Ich gebe Ihnen vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit.« Kramm schien gar nicht gehört zu haben, was sie sagte. Ihm war mit einemmal ein berauschender Gedanke gekommen. Auf seiner hohen, schmalen Stirn erschienen kleine Falten; er kämpfte sichtlich mit einem Entschluß. Die Idee, die ihn beschäftigte, war so einmalig, phantastisch und ungeheuer, daß die Vorstellung, diese Krönung all seiner Abenteuer könnte Wirklichkeit werden, ihn wie ein Fieber ergriff. »Ich will eine Nacht darüber schlafen«, sagte er hastig. Seine Stimme klang anders als sonst. »Morgen gebe ich Ihnen Bescheid.« Er verabschiedete sich, als hätte er es plötzlich sehr eilig. Als er in der Wannseebahn saß, und die grünen Felder und Gärten der Vororte im Abendschein vorüberzogen, schloß er die Augen. Donner und Doria, das gab einen Spaß! Im Anfang war die Idee. Was wäre die Welt ohne diesen göttlichen Funken, der imstande war, ein Menschenhirn zu großen Taten zu bestimmen. -109-
Nun stand sie plötzlich vor ihm, die große, einzigartige Tat, die eine ganze Welt bestaunen, belachen, bewundern sollte. Klang ihm nicht bereits das Donnern der Motoren im Ohr? Sah er nicht durch Wolken und Nebelfetzen unter sich das bleigraue Gewoge der großen Wasserwüste, auf der das weiße Gekräuse der Wellen tanzte? Und neben ihm, den Steuerknüppel in den Fäusten, saß der Flugkapitän. Vanhusen, den Blick abwechselnd auf die Instrumente und in die Ferne gerichtet. Dann und wann beugt sich Vanhusen zur Seite, brüllt ihm, dem Piloten Beßler - haha, es ist natürlich gar nicht Beßler, sondern er, Peter Kramm - ein paar Worte zu, und er brüllt irgendetwas zurück. Und dann, angesichts der weißen Stadt Habana vielleicht, vielleicht auch erst über dem blauen Golf von Mexiko - falls dem ändern bis dahin noch kein Licht aufgegangen ist wird Kramm sich die Fliegerkappe vom Kopf reißen und Herbert Vanhusen ins Gesicht lachen: Mahlzeit! Ich bin eigentlich gar nicht ich, das heißt, ich bin es doch, mein Name ist nämlich Kramm, Peter Kramm, nicht etwa Beßler, wie Sie bisher gedacht haben. Herr Beßler sitzt irgendwo am Müggelsee und tobt über die Lausbüberei, die man an ihm begangen hat. Was sagen Sie zu diesem Witz, mein Herr? Vanhusen wird zunächst wohl gar nichts sagen. Der Schreck wird ihm in die Glieder fahren. Aber dann wird er lostoben und behaupten, das wäre eine Schweinerei, er werde ihn in Veracruz sogleich der Polizei übergeben. Das wird ihm Kramm jedoch ausreden, indem er ihm einen Browning unter die Nase hält und ihm dabei ganz laut und vernehmlich in die Ohren schreit, daß er Frau Thora Mynius und Herrn Bruno Vanhusen kenne, die ihn beauftragt hätten, mit dem Flugkapitän ein ernstes Wörtchen zu reden. Wenn Vanhusen die Polizei mobil mache, so werde sich später noch immer einmal die Gelegenheit ergeben, mit ihm abzurechnen; tue er es nicht, so werde ihm kein Härchen gekrümmt. Tausend gegen eins zu wetten, daß des, Herr Flugkapitän klein beigeben und ihn nicht verraten wird. Sollte -110-
man aber in Mexiko inzwischen per Kabel von dem Sachverhalt unterrichtet worden sein - nun gut, was kann ihm schon passieren? In ihrer Begeisterung über den geglückten Flug werden die Mexikaner gar nicht auf den Gedanken kommen, den Tatbestand des groben Unfugs zum Anlaß einer Staatsaktion zu machen. Man wird über ihn lachen, wird ihm die Hände schütteln und ihn laufen lassen. *** Der Zug hielt in der Halle des Potsdamer Bahnhofs. Kramm war der letzte, der ausstieg. Er hatte mit offenen Aug&n geträumt und daher gar nicht bemerkt, daß das Ziel der Fahrt schon erreicht war. Er rannte durch die Sperre und steuerte auf eine Autotaxe los. »Höchstestraße vier. Etwas dalli, Verehrtester! Lassen Sie die Pferdekräfte munter traben!« »For'n jutet Trinkjeld tun wa, wat wa könn'!« brummte der Chauffeur und fuhr los wie das Donnerwetter. Kramm machte das Tempo Spaß. Dabei fiel ihm ein, daß er es eigentlich gar nicht so eilig hätte. Es war nur seine vorwärtsstürmende Phantasie, die unaufhörlich arbeitete und ihn mit Hast und Unruhe erfüllte. Es dauerte eine Weile, bis er sich in der großen Mietskaserne zu Bruno Vanhusen durchgefragt hatte. Er ging über einen schmutzigen Hof, erkundigte sich in beiden Hinterhäusern vergeblich und erwischte schließlich den Portier, der ihn an die Witwe Pachnike im vierten Stock des Vorderhauses verwies. Da wohne der Herr. Vanhusen saß in seiner armselig ausstaffierten Bude am Fenster und schrieb einen Brief. Als gegen die Tür gepocht wurde, bedeckte er das Geschriebene rasch mit einem großen Löschblatt. -111-
»Nett, daß Sie kommen«, begrüßte er den Besucher. »Was bringen Sie für Nachrichten aus Nikolassee?« »Erst einen Schnaps«, schnaufte Kramm. »Man keucht sich ja die Seele aus dem Leib, wenn man in diesem Wolkenkratzer herumkriecht.« »Sie haben mich damals, als Sie noch am Alexanderplatz wohnten, mit Tequila bewirtet. Zum Glück kann ich mich heute, wenn auch nur mit ganz gewöhnlichem Korn, revanchieren.« Er füllte zwei Gläser und dichtete aus dem Stegreif: »Weshalb denn Kummer, warum Zorn? Wer Sorgen hat, der hat auch Korn. Prost!« »Was haben Sie schon für Sorgen?« Vanhusen trank noch ein Glas, dann öffnete er die beiden Fenster, um frische Luft ins Zimmer zu lassen. Es war immer ein übler Duft in diesem Raum, wie es überhaupt in der ganzen Wohnung ständig nach Küchendünsten und altem Plunder roch. Von'der Straße her drang der Lärm spielender Kinder nach oben. »Was ich für Sorgen habe? Komische Frage. Sie kennen mich doch. Ich bin ein Mensch, dem alles egal war, bis zu dem Augenblick, wo er Thora Horwicz - ich meine Thora Mynius, wiedersah. Nun ist es mir mit einemmal nicht mehr schnuppe, wie ich aussehe; ich mache mir plötzlich Gedanken darüber, was morgen, in einem Monat, in einem Jahr wird. Können Sie das nicht begreifen?« »Sie sind, ich sagte es früher wohl schon mal, entschieden zu spät auf die Welt gekommen.« Kramm paffte dicke Rauchwolken vor sich hin, dann warf er den Zigarettenstummel im hohen Bogen aus dem Fenster. »Das Rezept, Sie zu kurieren, sieht so aus: raus aus dieser Dreckbude, eine anständige Umgebung, Leben, Tempo, Zerstreuung. Die Sache mit Thora Mynius - du lieber Gott, das muß überwunden werden. Es gibt schließlich doch noch andere Frauen in Berlin. Bloß nicht wieder auf die Walze gehen! Ein anderer, auch ich -112-
beispielsweise, könnte das ohne weiteres; aber Sie finden nicht den Weg zur Kultur und Zivilisation zurück.« Bruno Vanhusen lächelte müde. »Sie ändern Ihre Ansichten reichlich schnell, Mister Kramm. Heute mittag machten Sie mir noch den Vorschlag, mit Ihnen loszuziehen, und jetzt soll ich wieder hier bleiben. Das will ich ja auch.« »Amen.« Kramm zündete sich eine neue Zigarette an und griff nach der Flasche. »Ich habe einen Plan, der Sie im höchsten Grade interessieren wird. Hören Sie zu!« Vanhusen vernahm mit wachsendem Erstaunen, welcher Art die Aufgabe war, der sich Kramm unterziehen sollte. Eine große Unruhe erfaßte ihn, weil er vergeblich nach Gründen suchte, die das Vorhaben Thoras erklären konnten. Kramm, der nicht auf den Kopf gefallen war, half in dieser Hinsicht ein wenig nach. »Merken Sie was?« platzte er heraus. »Ist es Ihnen noch immer nicht klar, wohin der Hase läuft? Die schöne Frau Thora Mynius möchte dem Flugkapitän Herbert Vanhusen etwas am Zeuge flicken. Nun gut. Wenn eine Frau einem Manne eins auswischen will, dann ist es immer die Sprache des Herzens, die da ihr Wörtchen mitredet. Wo der Haß befiehlt, hat vorher meistens die Liebe kommandiert. Ich rate Ihnen noch einmal: schlagen Sie sich diese Frau endgültig aus dem Kopf!« »Sie wissen nicht, was das heißt, Kramm.« »Ist ja alles Unsinn! Schenken Sie noch mal ein... So, danke. Und nun zurück zu unserem Thema. Versprechen Sie mir, niemandem, auch Ihrem blonden Heiligenbild in Nikolassee nicht, ein Sterbenswörtchen von dem zu verraten, was ich Ihnen jetzt anvertraue. Geben Sie mir Ihre Hand darauf.« Vanhusen tat es. Kramm fuhr fort: »Ich sagte Ihnen schon, daß mir der zweite Pilot der ,Alemania' sehr ähnlich sieht. Da müßte es sich doch einrichten -113-
lassen, ihn durch List oder Gewalt von dem Betreten des Flugbootes abzuhalten, während ich mich selber zum Start, der spät abends stattfindet, im Fliegerdreß einfinde. Kein Mensch wird in der Dunkelheit auf den Gedanken kommen, daß ich nicht der Pilot Beßler bin. Es wird einen Heidenspaß geben, wenn das Husarenstückchen bekannt wird. Nun möchte ich ja den Wunsch meiner Auftraggeberin ausführen - von Motoren und den sonstigen technischen Einrichtungen eines Flugzeuges verstehe ich eine ganze Menge - und dafür sorgen, daß wir bald nach dem Überfliegen der Küste auf das Wasser niedergehen müßten. Das wäre aber eine lahme Sache, ein Abenteuer ohne Pointe sozusagen. Was werde ich also tun? Ich werde jeden Sabotageversuch unterlassen und ganz einfach nach Mexiko mitfliegen, vorausgesetzt natürlich, daß es mir gelingt, mich anstelle des Piloten Beßler an Bord zu schmuggeln. Was sagen Sie zu dieser großartigen Idee?« »Ja, ja, das ist ein ganz lustiger Gedanke.« Kramm horchte auf. Er merkte, das war die Sprache eines geistig Abwesenden, der ja ja oder nein nein sagt und sich dabei in Seelenqualen windet. Verflixtes Frauenzimmer!, dachte er grimmig, schon deshalb möchte ich dir diesen Streich spielen, damit ein bißchen für die Gerechtigkeit getan wird. »Sieh' mal einer an, eine Gitarre haben Sie auch.« Kramm nahm das Instrument, das neben dem Sofa stand, und begann ein mexikanisches Liebeslied zu singen, zu dem er mit der Meisterschaft eines echten Charros die Begleitung spielte. »Veni, veni, mi negra, Veni mi negra que te quiero decir, Al compas de este dulce tango Lo que yo siento por ti...« Das Lied hatte vier Strophen. Kramm sang den Schluß absichtlich lauter: »... tu sabes que te quiero con el alma -114-
Y en la puerta del olvido yo te ire a buscar.« »Und an der Schwelle des Vergessens werde ich dich suchen«, übesetzte Vanhusen. »Haben Sie das nicht auch im ,Jardin Espanol'gesungen?« »Stimmt. War sehr lustig da. Aber nun lassen Sie nicht länger den Kopf hängen und kommen Sie mit. Ich brauche Musik und Betrieb. Wie wär's mit Treptow? Treptow in Flammen. Musik von allen Seiten. Oder der Wintergarten. Nichts für Sie? Dann vielleicht Skala oder ein anständiges Tanzlokal. Auch nicht das Richtige? Dann erlaube ich mir ganz ergebenst den Vorschlag, sich begraben zu lassen.« »Sie haben schon recht, Kramm, mit mir ist heute nichts Rechtes anzufangen. Es ist am gescheitesten, wenn Sie mich allein lassen.« »Na, denn Gott befohlen!« Kramm verabschiedete sich durch einen etwas theatralisch ausgeführten Abrazo, eine flüchtige Umarmung, wie sie in romanischen Ländern unter guten Freunden und Bekannten Sitte ist. »Von morgen ab bin ich für einige Tage Chauffeur bei Frau Mynius. Besuchen Sie mich recht bald, damit wir beratschlage n können, wie ich es am besten anstelle, Ozeanflieger zu werden.« Vanhusen führte seinen Besucher durch den dunklen Korridor und öffnete die Wohnungstür. »Viel Spaß heute abend!« »Danke, danke!« Die Flurbeleuchtung funktionierte nicht. Kramm tastete sich Vorsichtig die finsteren Treppen hinunter, die entsetzlich knarrten. »Armer Kerl«, murmelte er, als er ins Freie trat. »Reiß dir deine Seele aus dem Leib und leg' einen Steinklumpen hinein. Du wirst es dann immer noch leichter haben als jetzt.«
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Der diesjährige Sommer... Der diesjährige Sommer hatte die Menschen verwöhnt. Soviel Windstille, Wärme und Sonnengeflimmer, Tag um Tag, Woche um Woche, war lange nicht dagewesen. Mancher schimpfte schon weidlich auf die ewige Hitze und Trockenheit und wünschte einen ausgiebigen Regen herbei. Der Wettergott hatte ein Einsehen und traf Anstalten, den erschlafften Erdenpilgern den Gefallen zu tun. Dieser Tag war gewesen wie alle anderen. Doch in den Abendstunden zogen dunkle Wolken empor, ein Wind tat sich auf, der zuerst still und bedächtig über Straßen und Plätze schlich, dann aber sich darauf besann, daß er es eigentlich sehr eilig habe und heulend und brausend durch alle Gassen und Winkel fegte. Es regnete zwar noch nicht, doch sah es ganz danach aus, als ob der feuchte Segen nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Bruno Vanhusen saß am Fenster, die selbstgedrehte Zigarette zwischen den Lippen, und blickte auf die Straße hinab. Eben bog Peter Kramm um die Ecke und verschwand in der nächsten Querstraße. Wie groß und verhängnisvoll konnten doch die Wirkungen sein, die sich oft aus den kleinsten Ursachen ergaben. Hätte er damals nicht den Namen seines Bruders in der Zeitung gelesen, er hätte ihn nie aufgesucht, und Thora wäre nie ein zweites Mal in sein Leben getreten. Sie wäre das Traumbild und Symbol geblieben, das ihn auf seinen Wanderungen begleitet hatte, ein köstliches Phantom, das hinter allen Dingen schwebte und sie mit einem geheimnisvollen Glanz umwob. Das Wiedersehen, wiewohl ein beglückendes Erlebnis, hatte ihn aus seinem Frieden aufgestört. Was vorher fern, unwirklich und ungreifbar schien, stand plötzlich da als Mensch von Fleisch -117-
und Blut; und diese Nähe schaffte Aufruhr und Bestürzung. Zerrissen war der Schleier, den die Jahre der ruhelosen Wanderschaft immer dichter um die Bilder der Vergangenheit geschlungen hatten. Er konnte, wie ehedem, Thora sehen, sprechen, konnte ihr Lachen hören und ihren Atem spüren. Alles war wieder klar, wirklich und faßbar. Unklar war nur das eine, was nun werden sollte. Er war vom Wege, den er damals eingeschlagen, abgedrängt. Nun ging er scheu die neue Richtung und wußte doch, daß sie nie zum Ziel führen würde. Was war denn schon zu hoffen? Er hatte es jetzt nicht mehr mit einem Mädchen, sondern mit einer Frau zu tun, die seit Jahren verheiratet war. Und, wie damals, stand auch heute noch Herbert zwischen ihnen. Wie hatte Kramm doch gesagt? Wo der Haß befiehlt, hat vorher meistens die Liebe kommandiert. Wenn Thora wirklich die Absicht hatte, einen Mann zu dingen, der den Ozeanflug zum Scheitern brachte, dann gab es hierfür nur die eine Erklärung, daß sie Herbert haßte. Der Haß einer Frau entsprang in neunundneunzig von hundert Fällen der gleichen Ursache. Hier gab es nichts zu drehen und zu deuteln. Er nahm den Brief, der an Thora gerichtet war, und las ihn noch einmal langsam durch. Dann zündete er ein Streichholz an und ließ den vierseitig beschriebenen Bogen in Flammen aufgehen. Die Asche warf er aus dem Fenster. »So, das wäre erledigt«, sagte er aufatmend. »Die Hauptsache kommt freilich noch«. Er steckte die kleine schwarze Selbstladepistole zu sich, die im Nachttischkästchen lag, setzte den Hut auf und verließ das Haus. Ein scharfer Wind brauste ihm entgegen. Er zog den Hut tiefer ins Gesicht und marschierte rüstig vorwärts. Einmal stieß er mit einem dicken Mann zusammen, der mitten auf dem Bürgersteig stand und sich mit einem weiblichen Wesen, das -118-
irgendwo im ersten Stock aus dem Fenster sah, unterhielt. »Paß doch auf, oller Dussel«, rief der Dicke ihm nach. Bruno Vanhusen nahm keine Notiz davon. Er stapfte weiter, bis er zu einer Autobushaltestelle gelangte. Es wurde eine länge Fahrt quer durch Berlin. Einmal mußte er umsteigen. In Zehlendorf war die Reise zu Ende. Es regnete in Strömen. Vanhusen schien es gar nicht zu bemerken. Er ging mit langen Schritten dahin, tappte durch Wasserpfützen und sah weder rechts noch links. Das Vorbeirollen der Wannseebahn erinnerte ihn daran, daß er sich diese Wanderung durch Nässe und Dunkelheit eigentlich sparen könnte. Es war noch ein weiter Weg bis Nikolassee. Trotzdem verzichtete er darauf, zum Bahnhof zu gehen. Vielleicht lag das daran, daß er in diesem Augenblick schon wieder in der Vorstellung lebte, ein Landstreicher zu sein, der jedes Verkehrsmittel grundsätzlich verschmäht. In Nikolassee fragte er sich zurecht. Man gab ihm nicht ohne mißtrauisches Verwundern Auskunft, denn in seinem völlig durchnäßten Zustand sah er nicht gerade vertrauenerweckend aus. »Die Villa Mynius? Hier gleich um die Ecke. Das letzte Haus auf der linken Seite.« Vor einem großen schmiedeeisernen Tor blieb er stehen. Rechts davon war ein großes Messingschild angebracht, in das in gotischen Buchstaben der Name Mynius eingraviert war. Vanhusen wollte auf die Klingel drücken. Dann besann er sich eines anderen. Er blickte vorsichtig nach allen Seiten. Die Straße war menschenleer, nur in weiten Abständen von Laternen erhellt. Im Nu hatte er das Tor überklettert. Er ging nicht den Fahrweg entlang, sondern schlich sich quer durch den Park die Anhöhe hinauf. Der Regen hatte aufgehört, aber es war noch immer sehr -119-
stürmisch. Der Wind rüttelte an den Baumkronen, aus denen dicke Tropfen zur Erde fielen. Aus der Nachbarschaft wehten zerrissene Klänge eines Grammofons herüber. Vanhusen, den Hut tief in die Stirn gedrückt, setzt sich auf eine Bank und beobachtet das Haus. Im Souterrain ist noch Licht. Er vernimmt die gedämpften Stimmen der Dienstboten, die in eine eifrige Unterhaltung vertieft sind. Hin und wieder springt ein kurzes Lachen auf. Plötzlich verstummt das Geplauder. Das Licht wird ausgelöscht, eine Tür leise geschlossen. Die dunkle Gestalt auf der Bank sitzt regungslos da und starrt die weiße Fassade der Villa an. Was soll denn nun werden, was hat denn das alles für einen Sinn? Vanhusen greift in die Tasche, wo die Pistole steckt, zieht aber nur das Taschentuch hervor, um sich die Stirn abzutrocknen. Sie ist feucht, vom Regen oder vom Schweiß, wer kann das sagen? In ziemlich regelmäßigen Abständen löst sich ein Wassertropfen von einem Baumzweig dicht über ihm und fällt klatschend auf seinen Hut. Er blickt nach oben. Am Himmel jagen Wolken daher, die aus westlicher Richtung kommen. Es ist vorbei mit dem schönen Wetter, denkt Vanhusen. Viel Vergnügen, teurer Herbert, auf deinem Ozeanflug. Du wirst noch dein blaues Wunder erleben. Der Kopf sinkt ihm auf die Brust, er überläßt sich widerstandslos dem dumpfen Gefühl, das auf Haß und Rache gegen den eigenen Bruder sinnt. Herbert hat frech genommen, was ihm nicht gehörte; er hat Brunos Glück zerstört, ohne sich um die Folge n zu kümmern. Wenn Herbert nicht gewesen wäre, dann säße er jetzt nicht hier, durchnäßt bis auf die Haut, den Kopf voll wirrer Gedanken, die Seele voll Qual. Er malt sich aus, daß er heute Ingenieur sein könnte, und daß die Frau, die da in dem prunkvollen Hause wohnt, nicht Thora -120-
Mynius, sondern Thora Vanhusen heißen würde, wenn - -. Ach, es ist ja so zwecklos, ewig rückwärts zu blicken und sich immer wieder jammernd zu fragen, weshalb denn alles so und nicht anders gekommen ist. Man muß mit den Tatsachen rechnen und sich dazu entschließen können, das Unvermeidliche zum Ausgangspunkt seiner Entscheidungen zu machen. Die Tatsachen sind so und so. Nun gut. Was bleibt da für ihn zu tun? Er weiß es noch nicht. Er muß erst Thora noch einmal gesehen haben, muß aus ihrem Mund hören, wie sich die Sache mit Herbert verhält. Erst dann... Der Gedanke stockt, als wäre er gegen ein Hindernis angerannt. Vanhusen hebt mit einem Ruck den Kopf und krümmt sich lauernd zusammen. Er glaubt die Schläge des eigenen Herzens zu vernehmen, das rasch und heftig gegen die Rippen pocht. Da oben ist eine Tür geöffnet worden. Eine schlanke Gestalt erscheint, verharrt einen Augenblick auf der Schwelle und schreitet dann langsam die Freitreppe hinunter. Ein großer Schatten springt tapsig voraus und wieder zurück, tollt abermals davon und kommt geradewegs auf Vanhusen zu. Der fährt auf und will die Pistole ziehen, um sich nötigenfalls seiner Haut zu wehren, denn Tell, der Bernhardiner, kläfft wütend los und macht Anstalten, ihm an die Kehle zu springen. »Tell, hierher«, schreit Thora und eilt ohne Furcht der Stelle zu, wo der Hund noch immer bellend hin- und herspringt. Als sie in der Dunkelheit die Umrisse eines Mannes erkennt, glaubt sie, einen Einbrecher vor sich zu haben und will fliehen. Da hört sie ihren Namen rufen. Erstaunt wendet sie sich um. Sie hat die Stimme sofort erkannt. »Du hier, Bruno?« Ihre Überraschung ist groß. Aber sie faßt sich schnell und fordert Vanhusen auf, mit ihr ins Haus zu kommen. -121-
Nun steht er vor ihr in der Diele, naß, erschöpft, verwirrt, und weiß nicht, was er sagen soll. Er schaut ihr nur immer ins Gesicht, als hätte ihn einzig und allein die Absicht hergeführt, sich diesen Anblick zu verschaffen. »Was ist denn eigentlich los, Bruno?« Sie legt ihm die Hand auf die Schulter, fühlt die Nässe und schüttelt den Kopf. »Du siehst blaß aus und hast so merkwürdige Augen. Bist du krank?« Er schweigt und denkt: Wenn ich sie Jetzt erschieße und mir dann selber das Leben nehme, so ist das auch keine Lösung. Was soll ich nur tun, mein Gott, was soll ich denn nur tun? Weshalb bin ich überhaupt hierhergekommen? »So antworte doch,« drängte sie. »Wo kommst du jetzt her, weshalb bist du so spät hier eingedrungen?« »Ich mußte dich sprechen, Thora.« »Na, Gott sei Dank, er hat wenigstens die Sprache wiedergefunden. Ein Glück, daß die Mädchen schon schlafen. Komm mit hinauf, aber recht leise. Oben hört es niemand, wenn wir sprechen.« Sie geht voran; sein umschleierter Blick saugt sich fest an ihrer lieblichen Gestalt, die sich kaum verändert hat gegen früher. Nur die Formen sind etwas fraulicher geworden. Er wankt hinter ihr drein wie im Traum. Dies ist nun ihr Heim, das sie mit einem anderen Manne teilt, den sie womöglich gar nicht liebt, der vielleicht nicht glücklicher ist als er, der Eindringling, der hier eigentlich gar nichts zu suchen hat. »So, da setz' dich hin. Ich werde Tee mit Rum bereiten, damitwir den unausbleiblichen Schnupfen im Keime ersticken.« Er blickt sich in dem behaglichen Raum um. Es ist das Zimmer einer verwöhnten Dame, die jeden Luxus als eine Selbstverständlichkeit betrachtet. Thora hat das blaue Licht eingeschaltet. Ihr Gesicht und ihr schlanker Hals, der hell aus dem schwarzen Taftkleid ragt, sehen in dieser Beleuchtung wie -122-
Marmor aus. »Erzähle.« Er nimmt die dargebotene Zigarette, ihre Augen begegnen sich, er wendet den Blick langsam zur Seite - und schweigt. »Es ist eigentlich gut, daß du gekommen bist,« plaudert sie drauflos, um ihn zum Sprechen zu bringen. »Herr Kramm war heute hier. Ich hatte ihm geschrieben und ihn um eine Unterredung ersucht.« »Ich weiß es.« - »Du weißt es schon? Dann wird dir auch der Inhalt unserer Unterhaltung bekannt sein.« »Kramm hat mich über alles unterrichtet.« »Glaubst du, daß er bereit sein wird, die ihm zugedachte Aufgabe zu übernehmen?« »Möglich. Ich weiß es nicht. Es interessiert mich auch nicht.« Er greift nach der Tasse, um einen Schluck Tee zu trinken. Seine Hand zittert. »Aber das eine«, fährt er mit leiser, unsicherer Stimme fort, »das eine möchte ich wissen: weshalb ist dir so sehr daran gelegen, Herberts Ozeanflug zu verhindern? Ich bin eigentlich nur gekommen, um dich danach zu fragen.« Thora lacht laut auf. Es ist ein helles, betörendes Lachen, das ihn schmerzt und zugleich merkwürdig erregt. »Das ist es also...? Du bist einfältig wie ein Kind, Bruno. Ich will ihn bestrafen, weil er mich nicht in Ruhe läßt. Die Sache mit meinem Mann, der sehr zur Eifersucht neigt, ist schließlich auch nur auf ihn zurückzuführen.. Und was dich betrifft: ich dächte, dir könnte es nur recht sein, wenn man ihm, bildlich und beinahe auch wörtlich gesprochen, ein wenig die Flügel beschneidet.« »Ja, ja, es ist mir sehr recht«, murmelt Vanhusen und denkt: Sie sagt nicht die Wahrheit! Alle Frauen lügen, wenn es sich um Geheimnisse handelt, die sie nicht preisgeben können, ohne daß sich ihr Bild in den Augen des Mannes zu ihrem Nachteil -123-
verändert. »Nun also, dann sind wir uns doch einig.« Thora lächelt, wobei ihre prachtvollen Zähne zum Vorschein kommen. »Und deshalb kommst du extra in Dunkelheit und Sturm und Regen hierhergelaufen?« Vanhusen drückt bedächtig seine Zigarette aus. Es ist ihr nicht beizukommen. Er muß das Problem von einer anderen Seite anfassen, muß von sich selber sprechen, um den Panzer zu durchbrechen, hinter dem sie sich verbirgt. »Ich wollte Gewißheit haben, ob du Herbert nicht deshalb übelgesonnen bist, weil du ihn vorher, vielleicht bis vor kurzem noch, geliebt hast. Aber ich bin natürlich auch gekommen, weil ich dich sehen und mit dir sprechen wollte. Es gibt Dinge, die unaufschiebbar sind. Man glaubt eine Zeitlang, es wird sich schon irgendeine Lösung finden, und plötzlich hält man es nicht mehr aus und rennt los, selbst wenn es stürmt und regnet, weil man unbedingt Klarheit haben muß.« Thora nagt an der Unterlippe. Sie weiß, worauf das alles hinausläuft. Die Situation ist unbequem, aber sie muß ertragen werden. Sie kann ihm doch nicht gut sagen: Spar dir deine Worte, unsere Wege können sich nicht ein zweitesmal kreuzen, denn ich habe einen Mann, und wenn ich ihn nicht hätte, so wäre da noch immer dein Bruder Herbert, d.en ich liebe oder hasse, ich weiß es nicht genau. Du kommst ganz zuletzt, stehst auf einem aussichtslosen Platz. Das kann sie ihm doch nicht sagen, denn ihr Instinkt wittert bei ihm Entschlossenheit, die zu jeder Torheit fähig ist. Außerdem ist es möglich, daß sie ihn noch braucht. Man weiß ja nicht, ob Kramm allein imstande ist, das Unternehmen Herberts zu durchkreuzen. Bruno wäre als Dritter im Bunde der Verschwörer die geeignetste Persönlichkeit; denn daß er Herbert haßt, ist keine Frage. »Ich weiß«, fährt Bruno fort, »daß ich dir ziemlich gleichgültig bin. Du sollst jedoch wissen, daß die Zeit für mich -124-
an einem bestimmten Punkt stehengeblieben ist. Es sind fast auf den Tag genau zehn Jahre her, daß du mir versprochen hast, du würdest mich heiraten, sobald ich mit meinem Studium fertig wäre. Dann kam mein Bruder - es war zu schwer für mich, das alles zu ertragen, und so ging ich nach Amerika. Ich hüllte mich in Schweigen und wollte verschollen bleiben, damit du nicht denken solltest, es laufe noch irgendein Mensch in der Welt herum, der dich eines Tages an dein Versprechen erinnern konnte. Ich hatte mich schon fast damit abgefunden, dich nie im Leben wiederzusehen. Es kam indessen anders - und nun stehe ich an demselben Punkt wie damais und weiß nicht, was werden soll.« »Laß uns vernünftig darüber reden«, sagte Thora. Vanhusens Worte sind nicht ohne Eindruck auf sie geblieben. Ein warmes Gefühl steigt in ihr auf, das sie sich selber nicht erklären kann. Vielleicht ist es nur Mitleid, vielleicht auch Dankbarkeit für diese zähe Liebe, die ihrem Selbstgefühl schmeichelt, wenn sie auch nichts damit anzufangen. weiß. Sie war damals ein dummes Ding, das leichtfertig sein. Wort gab. Es wäre ihr jetzt lieber, sie hätte es nicht getan. Er ist so schlicht, gerade, ehrlich und klug. Was soll sie nur mit ihm beginnen? Soll sie ihm die Wahrheit sagen? Das wird für ihn schmerzlich sein; aber es ist wohl der beste Dienst, den sie ihm erweisen kann. Mag er dann tun, was er will. Sie fürchtet ihn jetzt nicht mehr. »Du mußt fort von Berlin und mich vergessen. Eine andere Lösung gibt es nicht.« Vanhusen blickte sie fassungslos an. Das kann sie doch nicht im Ernst gesagt haben. »Es sprechen zwei Gründe dafür«, fährt Thora unbeirrt fort, »und einer ist so zwingend wie der andere. Ich bin verheiratet, und wenn diese Ehe auch anscheinend ein Fehlgriff war, so besteht sie immerhin und hindert mich daran, mein vor zehn -125-
Jahren gegebenes Wort einzulösen. Ich weiß nicht, ob eine Scheidung so leicht zu erreichen sein würde. Wäre es aber der Fall, dann würde ich nicht dich, sondern Herbert heiraten!« Vanhusen fährt zurück, ballt die Fäuste und springt auf.. Auch Thora erhebt sich, tritt auf ihn zu und blickt ihm fest in die Augen. Es ist wieder dieses Gefühl in ihr, das sie dazu verleiten möchte, seinen Kopf in die Hände zu nehmen und ihn auf Stirn und Wangen zu küssen. Sie rührt sich jedoch nicht; ihre Miene bleibt undurchdringlich. »Nun gut denn«, bringt Vanhusen mühsam hervor, »jetzt weiß ich, woran ich bin.« Es klingt wie der unumstößliche Entschluß zu einer Tat. Thora begleitet ihn hinaus. Sie gehen langsam durch den Park, ohne noch ein Wort zu sprechen. Über ihnen ist das Brausen des Windes, der die ersten fahlen Blätter von den Bäumen reißt. Unten am Tor reicht sie ihm die Hand. Er spürt nicht den leisen Druck, weil jedes Gefühl in ihm erstorben ist. Ohne Abschiedswort eilt er davon. Thora blickt ihm sinnend nach. Dann schließt sie die Augen und bleibt sinnend stehen, bis das Geräusch seiner Schritte in der Ferne verhallt. *** Das Sanatorium von Professor Sonnenborn war für Nervenkranke ein idealer Aufenthaltsort. Der langgestreckte dreistöckige Bau war rings von einem großen Park umgeben, den eine hohe Sandsteinmauer von der Außenwelt abschloß. Den Patienten standen ein Tennisplatz, verschiedene Turngeräte und ein Billard zur Verfügung; doch war jedwede sportliche Betätigung, die nur im Beisein einer Krankenschwester ausgeübt werden durfte, von der ärztlichen Erlaubnis abhängig. Auf der Südseite, im ersten Stock gelegen, zog sich über die, ganze Breite des Hauses eine Liegehalle hin, die dem -126-
Promenadendeck eines Ozeandampfers ähnelte. Man sah von hier aus allerdings, abgesehen von dem großen Goldfischteich, der dreißig Schritte geradeaus im Park lag, kein Wasser sondern Bäume, gepflegte Rasenflächen und Blumenbeete. Jeder Patient hatte sozusagen seine eigene Wohnung, bestehend aus Salon, Schlafzimmer und Baderaum, doch waren ihm daneben noch die gemeinsamen Aufenthaltsräume, wie Speisesaal, Lesezimmer und der schalldicht abgeschlossene Radioraum zugänglich. Die Heilmethode des Professors, der in seinem Sanatorium Rauschgiftsucht, alle Arten von Nervenleiden und leichtere Fälle von Geistesstörungen behandelte, beruhte häuptsächlich auf den Erkenntnissen der modernen Seelenkunde. Er hatte mit dieser Behandlungsweise, die auf psychoanalytischem Wege den Krankheiten zu Leibe ging, recht gute Erfolge aufzuweisen. Auch Walter Mynius war damals, als er zum ersten Male in dem Schmargendorfer Sanatorium Heilung suchte, vier Wochen später verhältnismäßig frisch und elastisch nach Hause zurückgekehrt. Daß es dann sehr schnell weiter mit ihm bergab ging, lag an den häuslichen Verhältnissen. Es war nicht zu verhindern, daß er aufs neue einer seelischen Krankheit zum Opfer fiel, gegen die es keine vorbeugenden Mittel gab. Der Zufall hatte es gefügt, daß Mynius dieselben Zimmer erhielt, die er bei seinem ersten Aufenthalt bewohnt hatte. Es gehörte zur Behandlung, daß man ihn möglichst wenig allein ließ. Fast immer war jemand in der Nähe, der sich mit ihm beschäftigte. Bald wurde er von Professor Sonnenborn in eine Unterhaltung gezogen, bald war es der Assistenzarzt, ein Mann von umfassender Bildung, der mit ihm über scheinbar willkürlich aufgegriffene Fragen sprach, die in Wirklichkeit jedoch nach einem bestimmten Plan zur Erörterung gestellt wurden. In den ersten Tagen war es kaum möglich gewesen, Walter Mynius zum Sprechen zu bringen. Er saß am liebsten in seinem -127-
Zimmer am Fenster und blickte unentwegt in den Park hinaus. Wenn jemand erschien und mit ihm plaudern wollte, so antwortete er einsilbig und gab deutlich zu verstehen, daß ihn die Anwesenheit eines Menschen störe. »Herr Mynius macht mir Sorgen«, sagte der Professor zu Doktor Graven. »Ich werde mit Schwester Hedwig reden, damit sie ihn in ihre Obhut nimmt. Sie versteht sich auf diese Art der Krankheit wie keine andere.« Schwester Hedwig war erst sechsundzwanzig Jahre alt, für diesen Posten also noch reichlich jung. Sie war klein und schmächtig; das Gesicht konnte man weder hübsch noch häßlich nennen. Von dem üppigen braunen Haar, das sie glatt gescheitelt trug, war nur ein schmaler Streifen unter der Schwesternhaube sichtbar. Auffallend waren die großen, grauen Augen, die dem Durchschnittsgesicht eine eigenartige Note gaben. In diesen Augen spiegelten sich menschliches Verstehen und ein Wille von geradezu männlicher Kraft. »Ich werde Schwester Anna veranlassen, daß sie Ihnen den Patienten Walter Mynius abtritt«, erklärte ihr der Professor. »Sie kennen die Art seiner Krankheit besser, denn Sie haben ihn ja früher schon einmal betreut.« Nach vierzehn Tagen ließ er sich Bericht erstatten. Die Beobachtungen der Schwester deckten sich im großen und ganzen mit seinen eigenen Wahrnehmungen. Die Morphiumentziehungskur hatte sich bisher ohne nachteilige Folgen durchführen lassen. Mynius schien sich mit der abgleitenden Dosierung zufrieden zu geben, ohne daß sein, Gemütszustand merklich darunter litt. Er blieb zwar schweigsam und grübelte viel; aber das war schon vom ersten Tage an so gewesen. Der Plan, die Gattin des Komponisten gewissermaßen in den Behandlungsprozeß einzuschalten, indem sie ihn möglichst häufig besuchte, hatte Professor Sonnenborn rasch wieder -128-
aufgegeben. Seinem Brief an Thora war schon wenige Tage ein zweiter gefolgt, worin er ihr dringend nahelegte, ihrem Manne weder zu schreiben noch ihn im Sanatorium aufzusuchen; denn er habe seine zuversichtliche Ansicht über die Wirkung solcher Besuche aufgeben müssen, nachdem sich gezeigt habe, daß der Patient wiederholt bei der bloßen Erwähnung seiner Ehe in starke Erregung geraten sei. Solchen Gemütsaufwallungen seien Erschöpfungserscheinungen gefolgt, die sich in Zerstreutheit, unzusammenhängenden Reden und sinnlosen Verrichtungen geäußert hätten. Es sei das beste, jede Erinnerung an die jüngste Vergangenheit vorläufig von ihm fernzuhalten. Nur so könne es gelingen, sein seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Mynius selber empfand alles, was um ihn her vorging, wie in einem Dämmerzustand. Nur manchmal hatte er das Gefühl, als würde plötzlich ein Schleier fortgezogen. Dann war es ihm, als wehe frische Luft, wo es vorher dumpf und stickig gewesen war. Er sah Fesseln von sich niedergleiten, die jeden seiner Schritte gehemmt hatten, sein Kopf wurde klar, sein Empfinden stark und lebendig, sein Denken von unheimlicher Schärfe und Logik. Das dauerte aber nur kurze Zeit; dann versank alles wieder in den Abgrund einer dunklen, lähmenden Gleichgültigkeit. Mit der Zeit wurde es besser mit ihm. Er schien oft einen ganzen Tag lang ziemlich normal. Dann ging er summend umher, suchte in der Liegehalle mit anderen Patienten Fühlung zu gewinnen und war heiter und gesprächig, wenn Schwester Hedwig sich zu ihm gesellte und mit ihm plauderte. Die Ärzte glaubten schon, nun sei die Krise überstanden, der gesunde Kern, der in diesem produktiven Künstlerhirn stecke, beginne sich durchzusetzen, - da zog ein Wort, eine Geste, ein unbedeutender Vorgang abermals den Schleier um sein Bewußtsein, und er sah alles wieder aus seiner veränderten Perspektive, verwirrt, verzerrt und ohne vernünftigen Zusammenhang. Dann kam der Tag, an dem sich eine innere Wandlung vollzog. Mynius wurde lebhaft und umgänglich; und -129-
wenn er zwischen gescheiten Bemerkungen auch noch recht viel dummes Zeug schwatzte, so sahen die beiden Ärzte die Veränderung doch als ein gutes Zeichen an. Mit der Melancholie war es vorbei. In den Augen lag ein frischer Glanz, die Bewegungen wurden elastischer, der ganze Mensch schien bewußter zu leben. Professor Sonnenborn war geneigt, dies alles darauf zurückzuführen, daß er Mynius das Musizieren erlaubt hatte. Der Komponist saß jetzt täglich zwei bis drei Stunden am Klavier, das sich im Radiozimmer befand, spielte das tollste Zeug herunter und warf hin und wieder auch einige Noten aufs Papier. Schwester Hedwig stand ihm gegenüber, ihre Augen leuchteten ihn an, er spielte und spielte und wurde sich nicht einmal bewußt, daß es nur dieser Augen wegen geschah. Er liebte wie alle Künstler die Schönheit und bewunderte sie, wo er sie fand. Doch das Musizieren und die Augen von Schwester Hedwig waren es nicht, was die Wandlung herbeigeführt hatte. Niemand im Sanatorium ahnte, daß eine Zeitungsnotiz die Ursache war. Sie bewirkte, daß die Ärzte sich über den wahren Zustand des Patienten gründlich täuschten, denn es war keine Besserung, die sich hier geltend machte, sondern das wiedererwachte Erinnerungsvermögen, das vorübergehend noch einmal einigermaßen Klarheit schuf, bevor sich dieser Geist auf alle Zeit umnachtete. Mynius ging eines Tages ins Lesezimmer, das er vorher noch nie betreten hatte. Es war lediglich Neugierde, die ihn dort eintreten ließ. Lesen wollte er nicht, obgleich ihm Professor Sonnenborn geraten hatte, sich hin und wieder mit leichter Lektüre zu beschäftigen. Er ging hierhin und dorthin, nahm Bücher aus den Regalen, stellte sie wieder an ihren Platz undwandte sich dann den Zeitungen zu, die in gerader Reihe an der Wand hingen. -130-
Eine Weile las er in diesem und jenem Blatt, ohne daß er sich recht bewußt wurde, um was es sich im einzelnen handelte. Schon im nächsten Augenblick hätte er nicht mehr sagen können, was er soeben gelesen hatte. Doch dann sprang ihm ein Name in die Augen, groß und fett gedruckt, und dieser Name streifte alle Müdigkeit von ihm ab. Die Dämmerung zerteilte sich, das Wort »Vanhusen« riß ihn aus seinem Traumzustand und schärfte seinen Blick, so daß er klar erkennen konnte, was hinter der dunklen Grenze lag, die bisher kein rückwärtstastender Gedanke überschritten hatte. Die Buchstaben flimmerten ihm vor den Augen. Er al s den Artikel mehrere Male, um sich den Sinn genau zu verdeutlichen. Ein gewiegter Journalist hatte auf der Jagd nach interessantem Stoff das Flugboot ,Alemania' aufs Korn genommen und in Form eines Interviews mit dem Piloten Vanhusen eine Plauderei über den beabsichtigten Ozeanflug veröffentlicht. Es hieß da, das Unternehmen hätte wegen schlechten Wetters abermals verschoben werden müssen. Es bestehe jedoch die feste Absicht, den Nonstopflug Müggelsee-Veracruz trotz der vorgeschrittenen Jahreszeit unter allen Umständen noch im Oktober durchzuführen. Wenn sich die Wetterlage in den nächsten vierzehn Tagen nicht ändere, so werde trotzdem gestartet werden. Mynius hängte die Zeitungen wieder an die Wand und ging nach draußen. Schwester Hedwig, die ihn während des Lesens unbemerkt beobachtet hatte, folgte ihm wie ein Schatten. An dem Goldfischteich blieb er stehen. Ein Sonnenstrahl, der durch die vorübereilenden Wolken brach, huschte glitzernd über die stille Fläche. Jetzt kam eine Wespe angeflogen, zog summend einige Kreise und machte sich über den Teich davon. Mynius blickte dem Insekt nach; seine Augen bekamen einen stechenden Ausdruck. »Nur zu«, murmelte er, »streng dich an! Unter dir ist ein weites Meer. Wenn du nicht mehr fliegen -131-
kannst, stürzt du hinunter und ertrinkst. Es wäre ja nicht so schlimm, denn deine Tage sind gezählt. Sterben mußt du auf alle Fälle. Immerhin ist es bitter, wenn man vorzeitig durch einen Unglücksfall ums Leben kommt.« Schwester Hedwig, die bis jetzt in einem schmalen Seitenweg gestanden hatte, näherte sich langsam. Sie berührte vorsichtig seine Hand. »Wollen wir nicht einen kleinen Spaziergang machen?« Er sah sie groß an. Der stechende Ausdruck war noch nicht aus seinen Augen gewichen. Sie begegnete seinem Blick und bemühte sich, zu erraten, was in diesem kahlen Schädel» der von weitem sp aussah, als sei er mit hellem Ziegenleder überzogen, wohl vor sich ging. »Es hat keinen Zweck«, begehrte er auf. »Sie haben schöne Augen; aber ich kann doch nicht von schönen Augen leben. Immerhin, machen wir einen Rundgang.« Er sprach weiter drauflos, sprunghaft, ungereimt und oft verletzend. Schwester Hedwig machte sich nichts daraus. Sie war es gewöhnt, mit solchen Kranken umzugehen. »Sie sind immer so gut zu mir«, sagte Mynius plötzlich. »Was steckt dahinter? Ich glaube nicht an Güte. Es gibt nur Eigennutz, Treulosigkeit und Haß. Haß ist etwas Herrliches. Haben Sie schon einmal richtig gehaßt?« Schwester Hedwig schüttelte den Kopf. »Dann sind Sie eben nicht normal. Sie haben nur schöne Augen. Das ist alles. Normal sind Sie nicht. Wenn Sie es wären, würden Sie sich nicht um mich kümmerm« »Aber das ist doch meine Pflicht!« Mynius lachte auf. Er öffnete den Mund weit, doch sein Lachen fuhr nicht hell heraus, sondern klang heiser und gedämpft. »Pflicht...? Ein komisches Wort. Davon verstehe ich nichts. -132-
Aber nur zu; tun Sie mit mir, was Sie wollen. Was kann mir schon passieren? Nichts kann mir passieren, gar nichts; begreifen Sie das?« Es war eine fruchtlose Unterhaltung. Wenn Schwester Hedwig glaubte, sie hätte den Faden zu einem vernünftigen Gespräch gesponnen, so griff er tapsig dazwischen und sprach von etwas anderem, ohne Sinn und Verstand. Sie gab trotzdem den Versuch nicht auf, ihn zu klarem Denken zu bestimmen. Es war eine mühevolle Arbeit, die nur Schritt um Schritt zum Erfolg führen konnte. Mynius musizierte nur noch selten. Dagegen war er jetzt täglich im Lesezimmer anzutreffen, wo er sämtliche Zeitungen durchstöberte. Er nahm sich Zeit dabei, und wenn die Schwester oder gar der Professor selber ihm anrieten, seinen Geist nicht zu sehr anzustrengen, gab er eine Antwort, die durch ihre klare und verbindliche Art geradezu verblüffte. Das Lesen, so pflegte er dann zu sagen, strenge ihn nicht im mindesten an. Er brauche Zerstreuung und müsse sich doch schließlich darüber unterrichten, was draußen in der Welt vorgehe. Man möge ihn ruhig gewähren lassen. Professor Sonnenborn, Doktor Graven und Schwester Hedwig fanden sich zu einer Beratung zusammen. Man konnte sich diese plötzliche Wendung zum Besseren nicht erklären. Die Tatsache bestand und ließ sich nicht wegleugnen: Walter Mynius machte den Eindruck eines geistig gesunden Menschen, der nicht in einem Sanatorium, sondern als Gast in einer ruhigen Fremdenpension lebt. Er war höflich und aufgeräumt, sprach über dieses und jenes und gab zu verstehen, daß er den Wunsch habe, nicht länger als Gefangener behandelt zu werden. Der Professor stellte noch einmal eine eingehende Untersuchung an, die Jceine deutlichen Anhaltspunkte für das Vorliegen geistiger Defekte ergab. Er sprach von der Gattin des Komponisten, von seinem Heim in Nikolassee, von der beruflichen Arbeit, die auf ihn warte, - alles war darauf -133-
abgestellt, den Gemütszustand des Künstlers einer Belastungsprobe zu unterziehen. Walter Mynius hielt stand. Eine ungeheure Energie war in ihm aufgestanden, die sein Denken zusammenriß, als gelte es sein Leben. »Ich möchte eine größere Reise unternehmen«, äußerte er. »Was halten Sie davon, Herr Professor?« »Ein guter Gedanke. Fahren Sie irgendwohin, wo Sie Erholung und gleichzeitig Zerstreuung haben. Für die Riviera ist es noch zu früh. Vielleicht wäre Sankt Moritz das richtige.« »Weshalb ein festes Ziel ins Auge fassen? Ich fahre ins Blaue, das ist doch heutzutage modern. Am liebsten möchte ich schon heute abend abreisen.« »Sagen wir - übermorgen.« »Morgen!« »Nun gut«, willigte der Professor ein. »Ihre Gattin lassen Sie aber hübsch zu Hause. Nachher ist die Freude des Wiedersehens desto größer.« »Ich fahre selbstverständlich allein«, sagte Mynius heftig. Professor Sonnenborn stutzte; doch dann nickte er beifällig. »Sie müssen frei werden, frei nach jeder Richtung. Das ist für Künstler noch wichtiger als für andere Menschen. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, begrüße ich Ihren Entschluß, allein ein bißchen durch die Welt zu streifen.« Schon vierundzwanzig Stunden vor der Abreise begann Mynius mit dem Kofferpacken. Schwester Hedwig, die ihm behilflich war, protestierte dagegen, daß er alles wahllos verstaute. »Unsereiner hat keinen Ordnungssinn«, entschuldigte er sich lächelnd. Als er allein war, eilte er ans Fenster und blickte in den Regen hinaus, der in feinen Strichen niederrieselte. Ein Glück für ihn, daß niemand seine Augen sah, denn sonst hatte er seine Koffer -134-
wohl wieder auspacken müssen. In diesen Augen war der Wahnsinn! Er sprang aus einem Winkel des Hirns, wo er sich bislang versteckt hatte, hervor, um sein Allotria zu treiben. Nun huschte er über das fahle Gesicht, das er zu höhnischen Grimassen zwang, hüpfte in die Kehle und preßte ihr ein Kichern heraus, daß Schwester Hedwig, die leise eingetreten war, zusammenschauderte. Mynius drehte sich um - - sein Gesicht war ruhig, die Augen blickten still und freundlich wie sonst. Der Wahnsinn war in sein Versteck zurückgekrochen. Die Schwester entfernte sich kopfschüttelnd. Sie überlegte, ob sie dem Professor nicht Meldung erstatten sollte, entschloß sich dann aber zu schweigen, weil sie das Lachen für einen Ausbrüch der Freude über die bevorstehende Reise hielt. Mynius stand schon wieder am Fenster. Der Regen gefiel ihm nicht. »Nun kann es schön werden«, sprach er vor sich hin. »Ich brauche gutes Wetter für meine große Reise.« Sein Geist arbeitete wieder unbehelligt. Er schmiedete Pläne, überlegte, verfolgte diesen und jenen Gedanken, verwarf ihn wieder - und kam schließlich zu einem Entschluß. *** Im Direktionszimmer der Wennerwerke herrschte ziemliche Ratlosigkeit. Das anhaltend schlechte Wetter hatte allen Beteiligten einen bösen Strich durch die Rechnung gemacht. Es regnete nun schon seit Wochen, der Wind blies fortgesetzt aus westlicher Richtung, an einen Start zum Fernflug nach Mexiko war unter diesen Umständen gar nicht zu denken. Herbert Vanhusen, Beßler, Direktor Wenner und Oberingenieur Lorentz saßen um einen großen Tisch und beratschlagten, was zu tun sei. Vanhusen, der erst kürzlich Pressevertretern gegenüber erklärt hatte, er würde auf jeden Fall -135-
noch in diesem Monat zum Ozeanflug aufsteigen, war entschieden dafür, das Unternehmen auch bei schlechtem Wetter durchzuführen. »Haben Sie sich überlegt«, gab der Oberingenieur zu bedenken, »was es heißt, bei einem Gegenwind von vierzig Stundenkilometern, mit dem Sie nach den vorliegenden Wettermeldungen für mindestens die Hälfte der Strecke zu rechnen haben, den Flug zu wagen? Das bedeutet, daß Sie auf rund sechstausend Kilometern eine Geschwindigkeitsverminderung von vierzig Kilometern pro Stunde haben.« »Was will das besagen?« widersprach Vanhusen lebhaft. »Wir können fünfzehntausend Kilometer zurücklegen; die Strecke Berlin-Veracruz beträgt aber nur zwölftausend. Wir haben also einen Spielraum von dreitausend Kilometern. Der Gegenwind nimmt uns höchstens ein Drittel davon weg. Wir würden also nicht mehr riskieren, als mit einer Verspätung von vier bis fünf Stunden in Veracruz anzukommen. Was meinen Sie dazu, Beßler?« Der Gefragte zuckte die Achseln. »Ich bin ganz Ihrer Meinung. Von mir aus kann's schon heute abend losgehen.« Direktor Wenner hob beschwichtigend die Hand. »Sachte mit die jungen Pferde«, sagte er. »Ihr jungen Leute denkt immer, ihr müßt mit dem Kopf durch die Wand gehen, das übrige fände sich dann schon von selbst. Ihr riskiert schließlich nicht viel dabei, denn die ,Alemania' schwimmt wie der seetüchtigste Ozeansteamer. Außerdem habt ihr ein Funkgerät an Bord und könnt die aufhorchende Mitwelt sofort davon verständigen, wenn ihr irgendwo auf dein Atlantik schwimmt und Magenknurren habt. Für uns steht aber mehr auf dem Spiel. Wenn der Flug mißlingt, ist's mit den Konzessionen zunächst Essig.« Vanhusen biß sich auf die Lippen. Er war nervös und gereizt, -136-
weil er das ganze Unternehmen in Frage gestellt sah. »Der Flug kann doch gar nicht mißlingen«, suchte er Direktor Wenner zu überzeugen. »Die Motoren arbeiten ausgezeichnet, die Sichtverhältnisse sind auf dieser Route ungleich günstiger als auf der Strecke nach New York, Beßler und ich haben uns glänzend aufeinander eingespielt, - was kann uns dann schon groß passieren? Wenn wir den Flug bis zum nächsten Frühjahr aufschieben, kommt uns vielleicht ein anderer zuvor, und wir haben uns in der Öffentlichkeit blamiert, was auch nicht gerade angenehm ist.« Direktor Wenner wandte das runde Gesicht Vanhusen zu. In seinen verschmitzten Augen leuchteten Zustimmung und Anerkennung. Der Mann gefiel ihm. Er hätte keinen Besseren für den Ozeanflug finden können. »Was meinen Sie dazu, Herr Lorentz?« wandte er sich an den Oberingenieur. Herr Lorentz war ein vorsichtiger Mann. Die Maschine sei prima prima, meinte er, Vanhusen und Beßler seien Zierden ihres Berufes; aber bedenklich bleibe es doch, bei diesem Sauwetter zu starten. Das sagte er, und dabei bleibe er. Im übrigen hätte er so eine Ahnung, als ob... »Nun unkt er schon wie ein altes Weib«, lachte Vanhusen gezwungen. »Die echte deutsche Gründlichkeit: Wenn nicht alles bis ins kleinste vorbereitet und in Rechnung gestellt ist, dann nimmt man lieber Abstand. Wo kämen wir hin, wenn wir nicht auch einen Schuß Wagemut beisteuerten.« »Sie haben recht«, entschied der Direktor. »Die Voraussetzungen sind, im ganzen gesehen, nicht ungünstig. Wenn wir auf gutes Wetter warten wollen, dann sitzen unsere beiden Ozeanflieger womöglich noch Weihnachten hier, und die ,Alemania' friert uns auf dem Müggelsee ein. - Wann wollen Sie starten?« Vanhusen überlegte keinen Augenblick. »Übermorgen abend punkt zehn Uhr!« -137-
Direktor Wenner drückte auf einen Knopf. Eine Stenotypistin erschien. »Schreiben Sie: Wie wir aus zuverlässiger Quelle erfahren, wird das dreimotorige Flugboot ,Alemania' übermorgen, Freitag, um zweiundzwanzig Uhr bestimmt zum Ozeanflug nach Mexiko starten. Der Aufstieg wird ohne Rücksicht auf die Wetterlage unter allen Umständen stattfinden, da die vorgeschrittene Jahreszeit einen weiteren Aufschub nicht mehr erlaubt. - So, das geben Sie sofort an die Presse!« Damit war der Bann gebrochen. Die Zeit des untätigen Wartens war vorüber und man konnte mit Eifer an die letzten Vorbereitungen gehen. Das Flugboot wurde gründlich von oben bis unten untersucht, die Tanks wurden mit Betriebsstoff gefüllt, die Motoren ließ man noch einmal zu einem kurzen Probelauf anspringen. Alles war in bester Ordnung. Herbert Vanhusen verbrachte die letzten vierundzwanzig Stunden in einem fieberähnlichen Zustand. So mußte es einem Menschen zumute sein, der das große Los gewonnen hat und vor Aufregung nicht weiß, was er beginnen soll. Vergessen war alles, was sich in den letzten Wochen und Monaten ereignet hatte. Er dachte nicht mehr darüber nach, weshalb sich sein Bruder damals nicht beim Notar eingefunden und es überhaupt seit jenem Telefongespräch vorgezogen hatte, sich in Schweigen zu hüllen. Vanhusen wußte nicht einmal, ob er sich überhaupt noch in Berlin befand. Mochte er tun und treiben, was er wollte, es war bedeutungslos. Für ihn gab es nur eins, was wichtig war... den Ozeanflug! Wie fern lag auch die Erinnerung an Thora Mynius. Es schien ihm jetzt, als seien Jahre vergangen, seitdem sie frühmorgens mit ihm zusammen zum Grunewald gefahren war und ihn da draußen wie einen dummen Jungen hatte stehen lassen, weil er nicht länger den Störenfried in ihrer Ehe spielen wollte. Sie hatte ihm haßerfüllte Worte ins Gesicht geschleudert und drohend -138-
erklärt, er würde noch einmal an sie denken. Das stimmte schon, denn er dachte jetzt an sie. Ihr Bild tauchte noch einmal vor ihm auf, flüchtig und farblos wie die Erinnerung an einen bedeutungslosen Vorgang, den man zufällig im Gedächtnis behalten hat. Sie war eine große Dame, zugleich aber auch die holde Einfalt in Person, denn sonst hätte sie nicht von ihrem Haß gesprochen, den er verlacht hatte, weil er sich darunter beim besten Willen nichts vorstellen konnte. Es gab nichts, was er fürchtete, die Menschen nicht und nicht die Elemente, nicht die Gefahr und nicht einmal das Grauen, am wenigsten aber die Rachsucht einer Frau. Das alles waren Gedanken, die ihn nebenbei beschäftigten, wenn er sich eine kurze Ruhepause gö nnte. Er kam nicht mehr viel zum Nachdenken. Sein Kopf war voll von Dingen, die mit dem Ozeanflug im Zusammenhang standen. Er saß über Karten gebeugt, überprüfte die Wettermeldungen, stellte Berechnungen an, verfolgte wieder und wieder längst festgelegten Kurs und faßte alles, was sich während des Fluges an Zwischehfällen ereignen könnte, ins Auge. Er fuhr zur Mexikanischen Gesandtschaft und sprach mit dem Geschäftsträger, der ihm zu seiner freudigen Überraschung mitteilte, daß er bereits per Kabel seiner Regierung den Zeitpunkt des Starts und der voraussichtlichen Landung in Veracruz mitgeteilt habe. Als Vanhusen schon auf der Straße war, wurde er noch einmal zurückgerufen. Eben war auf gleichem Wege die Antwort aus Mexiko eingetroffen. Man begrüße den kühnen Entschluß der deutschen Piloten und werde alles tun, um die Bezwinger des Ozeans würdig zu empfangen. Falls die Ankunft am Sonntag nicht bis zum Einbruch der Dunkelheit erfolgt sei, würden starke Scheinwerfer, die man in Veracruz und längs der Küste nördlich und südlich des Hafens innerhalb eines Abschnittes von zwanzig Kilometern aufstellen werde, in Tätigkeit treten. Überdies würden die im Golf von Mexiko stationierten Kriegsfahrzeuge Anweisung erhalten, nach dem Flugboot auszuschauen und -139-
gegebenenfalls jede Hilfe zu leisten. Vanhusen kehrte hocherfreut nach Friedrichshagen zurück. Seine rosige Stimmung wurde allerdings etwas gedämpft, als er Beßler erblickte. »Nanu, was ist denn mit Ihnen passiert?« erkundigt er sich besorgt. Beßler schimpfte wie ein Viehtreiber, aber die Worte kamen nur undeutlich aus seinem Munde. Ein breites Pflaster das von der Nasenwurzel bis zum Mundwinkel quer über die rechte Wange lief, behinderte ihn beim Sprechen. Es stellte sich heraus, daß ihm ein Unfall zugestoßen war, der ihm zum Schaden auch noch den Spott aller derer eingetragen hatte, die Zeugen dieses kleinen Malheurs gewesen waren. Bei dem Versuch, die Leiter zum linken Flügel hinaufzuklettern, war er ausgerutscht und ins Wasser gefallen. Im Sturz hatte er mit dem Gesicht den Rumpf des Flugbootes gestreift und eine klaffende Wunde davongetragen. Der Zwischenfall war noch glimpflich verlaufen. Beßler hätte sich ebensogut den Schädel einschlagen können. »Sie haben Glück gehabt«, tröstete ihn Vanhusen. »Wenn Ihnen diese Sache über dem Atlantik passiert wäre, dann würden sich jetzt schon die Haifische um ihre sterblichen Überreste balgen.« Beßler brummte etwas und ging nach Hause, um einige Stunden zu ruhen. Die Wunde schmerzte ihn beträchtlich. Er war aber auch ein Prachtexemplar von einem Pechvogel. Das mußte ihm ausgerechnet jetzt passieren, einen Tag vor dem Start! Dabei konnte er noch von Glück sagen, daß er sich nicht den Arm oder die Hand gebrochen hatte. In dem Falle wäre es für ihn mit dem Ozeanflug wohl endgültig vo rbei gewesen. *** -140-
Die letzten Wochen... Die letzten Wochen hatten in das eintönige Leben, das Thora Mynius führte, wenig Abwechslung gebracht. Peter Kramm, der seine Rolle als Chauffeur mit vorbildlicher Korrektheit spielte, war aalglatt und schwer zu durchschauen. Sie selber war nicht dazu aufgelegt, ihn durch einen Flirt aus seiner Reserve zu locken. Seitdem ihr Mann sich im Sanatorium befand, hatte sich auch bei ihr allmählich eine schwermütige Stimmung breitgemacht, die sich nach der Affäre mit Bruno Vanhusen noch verstärkte. Es schien ihr fast, als laste ein Fluch auf dem schönen Besitztum. »Man wird verrückt zwischen diesen unseligen vier Wänden«, tobte sie und bedachte gar nicht, daß es nur an ihr lag, eine Wendung herbeizuführen. »Wo steckt eigentlich Bruno Vanhusen?« fragte sie Kramm. »Man hört und sieht nichts mehr von ihm.« »Der liebe Himmel mag wissen, was in ihn gefahren ist. Ich war kürzlich in seiner Wohnung. Die Wirtin sagte mir, er sei ausgezogen.« »Ausgezogen?« »Auf Reisen abgemeldet.« Er sah sie lauernd an. »Auf Reisen abgemeldet!« wiederholte er, jedes Wort scharf betonend. Seine Stimme klang barsch, fast feindselig. Kein Muskel bewegte sich in ihrem Gesicht. Auch später blieb sie kühl und verschlossen, nachdem sie den Brief von Professor Sonnenborn erhalten hatte, worin dieser bat, sie möchte doch lieber davon absehen, ihren Mann im Sanatorium zu besuchen. Es war eine große Leere in ihrem Leben, ein immer quälender werdender Zustand, der beendet werden mußte, wenn sie nicht -141-
trübsinnig werden wollte. Sie hatte sich nie viel aus ihrem Mann gemacht; jetzt begann sie allmählich einzusehen, daß sie sich auf einem falschen Wege befand. Vielleicht ließ es sich erreichen, ihre Ehe wieder erträglich zu gestalten. Das schien das einfachste und vernünftigste Mittel zu sein, um endlich zur Ruhe zu kommen. Es entsprach durchaus ihrer weiblichen Logik, daß sie Herbert Vanhusen als die alleinige Ursache ihrer Unzufriedenheit betrachtete. Obwohl sie sich kaum noch irgendeinen Nutzen davon versprach, hielt sie mit zäher Hartnäckigkeit an dem Vorhaben fest, seinen Ozeanflug zu verhindern. Das lag zum Teil freilich daran, daß sie in Peter Kramm einen begeisterten Bundesgenossen gefunden hatte, der ihr immer wieder versicherte, die Durchführung der Sabotage sei ein Kinderspiel. Der Zufall habe die denkbar günstigsten Voraussetzungen für das Gelingen geschaffen. Dank seiner Ähnlichkeit mit dem zweiten Piloton, der Vanhusen auf dem Flug begleite, werde Kramm das Flugboot ungehindert betreten können. Sein Plan gehe nun dahin, sich einige Stunden vor dem Start an Bord zu begeben und die Steuerung, sowie sämtliche Instrumente, unbrauchbar zu machen, so daß der Aufstieg in diesem Jahr nicht mehr stattfinden könne. Ein einfaches und gefahrloses Verfahren, wie sie zugeben müsse. Es war einleuchtend, was er sagte. Merkwürdig war nur, daß Kramm sich jetzt mit so regem Interesse diesem Plan widmete, an dem mitzuwirken er bei ihrer ersten Unterredung glatt abgelehnt hatte. Über die plötzliche Sinnesänderung machte sie sich jedoch keine weiteren Gedanken. Das Vorhaben kam zunächst nicht zur Ausführung, weit der Flug infolge der ungünstigen Witterungsverhältnisse immer wieder verschoben wurde. ***
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Herbert Vanhusen ahnte nicht, daß es außer ihm und Beßler noch einen Menschen in Berlin gab, der dem Start des Flugbootes ,Alemania' mit der gleichen Ungeduld und Spannung wie die beiden Ozeanflieger entgegenfieberte. Er konnte nicht wissen, daß sich am Müggelsee in den letzten Tagen ein Mann in den verschiedensten Verkleidungen herumtrieb, der ihm an Mut, Intelligenz und Kaltblütigkeit zum mindesten ebenbürtig war, und der nichts Geringeres im Schilde führte, als ihm, anstelle seines Begleiters, auf dem Ozeanflug Gesellschaft zu leisten. Peter Kramm war, seitdem der Zeitpunkt des Starts endgültig feststand, ebenso stark beschäftigt wie Herbert Vanhusen. Auch er traf seine Vorbereitungen. Er hatte schon vorher alles genau überlegt und entsprechende Maßnahmen ergriffen. Sein Herz hüpfte vor Freude, als er endlich glaubte sagen zu können, daß kein Fehler mehr in seinen Berechnungen war. Das Abenteuer konnte beginnen. Er hatte schon viel erlebt, hatte manchen wilden Streich vollbracht, der den vollen Einsatz seines Mutes und seines Könnens erforderte. Dies hier war das Tollste, was man sich denken konnte. Es war der Gipfelpunkt seiner unsteten Abenteurerlaufbahn. Unmöglich, später noch einmal etwas zu ersinnen, was diesem verwegenen Unternehmen auch nur annähernd gleichkam. Der Einsatz lohnte sich nach jeder Richtung. Ein Ozeanflug war schließlich doch noch keine alltägliche Sache. Hinzu kam, daß es Kramm ein Bedürfnis war, Herbert Vanhusen eine gründliche Lektion zu erteilen. Das glaubte er dessen Bruder schuldig zu sein, der sich aus eigenem Antrieb wohl nie dazu entschließen konnte, die alte Rechnung glattzustellen. Es würde sich ja zeigen, ob es nicht gelang, selbst einem mutigen Ozeanflieger, der allen Gefahren auf dem weiten Wege über den Atlantik trotzte, das Gruseln beizubringen. Und dann war da noch Thora Mynius, die einfältig genug war zu glauben, daß er den Flug zu verhindern trachtete. Sie mußte sich eigentlich doch -143-
sagen, daß er sich zu einer solchen Tat, die jedem sportlichen und patriotischen Sinn zuwiderlief, nie bereitfinden würde. Außerdem wäre in einem solchen Falle der Start einige Tage später zweifellos wiederholt worden. Es bereitete ihm Vergnügen, ihr diesen Schabernack zu spielen, weil er überzeugt war, daß sie mit dem plötzlichen Verschwinden Bruno Vanhusens irgendwie im Zusammenhang stand. Daß Vanhusen sich ohne Abschied aus dem Staube gemacht haben sollte, konnte er nicht glauben. Leider war keine Zeit mehr dazu, ihm nachzuspüren. Kramm hatte jetzt andere Sorgen. Wieder schlenderte er durch die Straßen von Friedrichshagen, diesmal in der Verkleidung eines arbeitsscheuen Gesellen, die Ballonmütze tief in die Stirn gezogen, die Hände in den Taschen, den Rockkragen hochgeschlagen. Er döste scheinbar vor sich hin; in Wirklichkeit hielt er Augen und Ohren offen. Vor den Auslagen eines Schuhwarengeschäftes blieb er stehen, blickte unauffällig nach beiden Richtungen die Straße entlang und ging dann quer über den Fahrdamm auf die andere Seite, wo er in einem Hause verschwand. Im ersten Stock links läutete er. Eine hagere Frau mit weißen Haaren öffnete. »Ist Herr Weinbeck zu Hause?« Herr Weinbeck war der Untermieter, der hier vor vierzehn Tagen eingezogen war. Er wohnte sehr billig, denn die Miete bezahlte Kramm. Man sah es auf den ersten Blick, mit was für einem Burschen man es hier zu tun hatte. Darüber täuschten weder der Anzug, der anscheinend erst vor kurzem von der Stange gekauft worden war, noch die übrigen Kleidungsstücke, die von billiger Eleganz waren, hinweg. Herr Weinbeck war, um es kurz zu sagen, in der Gegend am Schlesischen Bahnhof zu Hause. Dort hatte ihn Kramm aufgelesen und, nachdem er ihm durch sachverständige -144-
Behandlung - wozu auch die Duzfreundschaft gehörte Vertrauen eingeflößt und ihn mit der ihm zugedachten Aufgabe nach und nach vertraut gemacht hatte, diesen Wohnungswechsel in die Wege geleitet, der sich für das reibungslose Zusammenarbeiten als zweckmäßig erwies. »Es geht alles glatter, als ich dachte«, begann Kramm. »Der Start ist um zwei Stunden verschoben worden. Wahrscheinlich werden die beiden Flieger vorher noch ein paar Stunden schlafen. Desto besser. Beßler läuft mit einem dicken Pflaster und einer geschwollenen Backe herum und kann den Mund kaum auftun. Ich habe das entsprechende Verbandszeug gleich mitgebracht. Im übrigen bleibt alles so, wie wir verabredet haben: ich ziehe mich morgen hier um, klebe mir das Pflaster ins Gesicht und gehe gegen elf Uhr abends zum Startplatz. Du läßt Beßler nicht aus den Augen und sorgst dafür, daß er mir nicht ins Gehege kommt. Wir haben nun alles genügend ausbaldowert und wohl jede Möglichkeit berücksichtigt. Es muß klappen, wenn jeder aufpaßt.« »Uff mir kannste dir verlassen«, versicherte Weinbeck. »Wir werden det Kind schon schaukeln!« Kramm zog seine Brieftasche und legte ohne Besinnen fünf Hundertmarkscheine auf den Tisch, die als Honorar vereinbart waren. Er kannte den Begriff der Ganovenehre und wußte genau, daß er sich auf seinen Helfershelfer unbedingt verlassen konnte, auch wenn er im voraus bezahlte. Mit einem kräftigen Händedruck verabschiedete er sich und ging noch einmal zum Müggelsee hinunter. Es war schon dunkel geworden. Die ,Alemania' deren Bullaugen sämtlich geöffnet waren, lag ganz still, obwohl eine steife Brise wehte. Das Wetter hatte sich aufgeklärt. Hin und wieder kam der Mond hinter den Wolken hervor und warf sein gelbes Licht auf die unruhige Wasserfläche. An der Uferböschung und am Rumpf der ,Alemania'brachen sich plätschernd kleine flinke -145-
Wellen. Kramm wunderte sich, daß kein Wächter zu sehen war. Er näherte sich, um der Sache auf den Grund zu gehen. Weit und breit war keine Menschenseele. Kramm ging weiter. Etwa zweihundert Schritte von der Stelle entfernt, wo die ,Alemania' vertäut lag, stieß er auf ein Pärchen, das unter einem Baume stand und sich stumm in die Augen blickte. Aha, der Wächter! Frühling im Herbst, dachte Kramm und beschleunigte seine Schritte. Er lächelte über den pflichtvergessenen Sünder. Das Vergehen schien nicht groß, die ,Alemania' durfte man schon auf ein Stündchen allein lassen. So ein Flugboot war schließlich kein Ding, das man einfach stehlen konnte. *** Der Wettergott hat sich wohl in der Zeit verrechnet. Er schickt einen kalten Wind durch die Lande und verhängt den Himmel mit grauen Wolken, als wäre schon der November da. Man schreibt aber erst den einundzwanzigsten Oktober. Die Menschen eilen mit mürrischen Gesichtern durch die Straßen, der Sturm braust ihnen um die Ohren und zerrt an den Kleidern. Abends geht der Tanz erst richtig los. Es regnet. Doch das ist diesmal kein Regen, es ist eine Sintflut. Es gießt, als hätte ein böser Geist alle Schleusen des Himmels geöffne t. Und gerade heute, in dieser vom Regen durchtobten Nacht, soll draußen auf dem Müggelsee ein deutsches Wasserflugzeug zum Ozeanflug nach Mexiko aufsteigen? Man hält es nicht für möglich. Zwar bringen die Abendzeitungen in großer Aufmachung noch einmal die sensationelle Meldung und bezeichnen den Aufstieg, der pünktlich um Mitternacht stattfinden soll, als unumstößliche Tatsache; doch man glaubt noch immer nicht recht daran. Man kann sich nicht denken, daß -146-
die beiden Flieger das Wagnis unternehmen werden, sich in diesen aussichtslos scheinenden Kampf mit den Elementen einzulassen. Im Rundfunk wird bei Bekanntgabe der Tagesnachrichten spät abends mitgeteilt, daß die Vorbereitungen für den Aufstieg im Gange sind. Also doch! Mancher schüttelt den Kopf, als er diese Nachricht vernimmt; doch jeder zollt den kühnen Fliegern im stillen Anerkennung und hofft auf ein glückliches Gelingen. Auf dem Startgelände haben sich nur wenige Zuschauer eingefunden. Es sind die Unentwegten, die bei jedem sportlichen Ereignis unbedingt mit dabei sein müssen. An offiziellen Persönlichkeiten sind Vertreter des Luftfahrtministeriums, der Stadt Berlin und der Mexikanischen Gesandtschaft anwesend. Zahlreiche Reporter und Pressefotografen eilen geschäftig hin und her; die letzteren sind in Sorge, wie sie bei diesem Hundewetter ein vernünftiges Bild auf die Platte bekommen sollen. Herbert Vanhusen ist aufgeregt. Es fällt ihm sichtlich schwer, Haltung zu bewahren. Er hat noch am Nachmittag einen Zusammenstoß mit dem Oberingenieur gehabt, der ihm mit erhobenem Zeigefinger prophezeite, die beiden Flieger würden die Stadt Veracruz überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Der Flug werde entweder mit einem Unglück oder mit einer Blamage enden. Vanhusen hat den einfältigen Miesmacher einfach stehengelassen; Das Ärgerliche an der Geschichte ist nur, daß Lorentz auch den Direktor mit seinem Pessimismus angesteckt hat. Der läuft herum wie ein Leidtragender, der soeben von einer Beerdigung gekommen ist, und bedauert aus tiefster Seele, daß er den Start nicht mehr abblasen kann. Dafür ist es glücklicherweise zu spät. Die Behördenvertreter sind da, die Presse ist vollzählig erschienen, die mexikanische -147-
Regierung ist benachrichtigt und trifft Vorbereitungen für den Empfang, die Öffentlichkeit wartet mit Spannung auf den Aufstieg, - diesmal muß man bei der Stange bleiben und B sagen, nachdem man mit so großer Bestimmtheit A gesagt hat. Vanhusen wirft einen Blick auf die Armbanduhr. Punkt elf. Wo Beßler nur bleibt? Es wird doch allmählich Zeit, in einer Stunde sollen bereits über Berlin die Motoren donnern. *** Beßler, der am Rande der Ortschaft ein kleines Häuschen bewohnt, hat den Wecker auf zehn Uhr dreißig gestellt. Er liegt im Wohnzimmer auf der Couch und schnarcht. Seine gesunden Nerven und sein Phlegma erla uben es ihm, gewissermaßen auf Kommando zu schlafen. Er hat sich um sechs Uhr aufs Ohr gelegt und ist schon nach wenigen Minuten eingeschlummert. Der Wecker tickt laut und geschäftig, als sei er sich seiner wichtigen Aufgabe bewußt. Er muß um zehn Uhr dreißig mit seinem Geklingel dem Schlaf des Fliegers ein Ende bereiten. Das Zimmer ist dunkel. Draußen heult der Sturm und peitscht den Regen gegen die Scheiben. Eine vermummte Gestalt, unsichtbar durch die Tarnkappe der Finsternis, die sie umhüllt, tastet sich an der Hauswand entlang. Ein dünner Lichtstrahl zuckt auf, schießt durch das Fenster und läuft an den Wänden des Zimmers entlang. Nun hat er den Schläfer erfaßt. Der rührt sich nicht. Der Lichtstrahl erlischt. Jetzt streicht eine Hand über die Scheibe, überzieht sie mit einer dicken Seifenschicht. Dann tritt ein Glasschneider in Tätigkeit. Die Hand fährt durch das kreisrunde Loch und öffnet das Fenster. Auf Zehenspitzen schleicht sich die Gestalt näher, beugt sich -148-
über den Schlafenden und hält ihm eine Chloroformmaske vors Gesicht. Langsam fallen die Tropfen auf die Gaze. Die Prozedur gelingt, ohne daß der Flieger erwacht. Das ist gut für ihn, denn so entgeht er jeder Gewaltanwendung. Zwei Minuten später wird die Chloroformmaske entfernt. Sie hat inzwischen bestimmt ihre Schuldigkeit getan. Ruhe sanft!, denkt der Eindringling, stellt zur Sicherheit noch den Wecker ab und verschwindet auf dem gleichen Wege, auf dem er gekommen ist. Draußen zieht er auf Posten, den er nicht eher verlassen wird, bis der Donnerhall der Motoren zu ihm herüberdröhnt. *** Peter Kramm steht vor dem Spiegel und hält kritisch. Musterung ab. Er trägt Ledergamaschen, Breeches und Lederjacke, darüber einen grauen Overall. Der Kopf und die Hälfte des Gesichts stecken in der Fliegerkappe, die rechte Wange ist bepflastert. So wird es gehen, denkt er und tritt zur Tür, wo er lauschend stehenbleibt. Weinbeck hat ihm gesagt, daß seine Wirtin meistens schon zeitig schlafen gehe. Er hat diesen Umstand in seine Berechnungen einbezogen und steht jetzt auf dem Sprung, die Wohnung zu verlassen. Es gelingt ihm, unbemerkt hinauszuschlüpfen. Das schlechte Wetter kommt ihm sehr zustatten. Er stapft schwerfällig durch den Regen und spürt die wunderbare Ruhe, die stets über ihn kommt, wenn er sich einer Gefahr oder einer großen Aufgabe gegenübersieht. Er weiß, seine Nerven sind wie aus Stahl, sein Kopf ist klar, die Gedanken sind aufmarschiert wie Soldaten, die sich zum Angriff rüsten. Dort rechts auf dem kleinen Platz steht eine Normaluhr. Es ist -149-
elf Uhr fü nfzehn. Wird Weinbeck seinen Auftrag ohne Zwischenfall ausgeführt haben? Daran ist wohl nicht zu zweifeln. Der Bursche ist zuverlässig; er hat ihn eingehend studiert, bevor er ihn ins Vertrauen zog. Die Straßen sind nur wenig belebt. Wer trotz des strömenden Regens, dem Start beiwohnen will, ist schon unten am See. Kramm nähert sich dem Ufer. Er sieht im trüben Schein der elektrischen Birnen, die das Gelände erleuchten, einige hundert Regenschirme; dahinter erhebt sich der silbergraue Rumpf der ,Alemania'. Vor dem Laufsteg stehen Herbert Vanhusen und Direktor Wenner nebst Frau und Tochter, umringt von den offiziellen Persönlichkeiten und den Vertretern der Presse. Die Fotografen haben offensichtlich nur noch auf das Erscheinen des zweiten Piloten gewartet, denn sie hantieren schon an ihren Apparaten herum. Wenige Sekunden später flammen die Blitzlichtlaternen auf. Es werden kümmerliche Aufnahmen geworden sein; aber die Redaktionen wollen nun einmal Bilder haben. Erst jetzt wird Kramm begrüßt. Direktor Wenner klopft ihm auf die Schulter und erkundigt sich nach seinem Befinden. Kramm öffnet kaum den Mund, während er ein undeutliches »Danke, ganz leidlich!« von sich gibt. Man lacht und scherzt und hilft sich mit Galgenhumor übsr die böse Stimmung hinweg, die das scheußliche Wetter verursacht. Mit den feierlichen Ansprachen wird es nichts. Der Regen, der nun seit Stunden mit unverminderter Heftigkeit niedergeht, hat das ganze Startprogramm über den Haufen geworfen. Man begnügt sich damit, den Fliegern die Hände zu schütteln und ihnen gute Reise zu wünschen. Peter Kramm spielt ein gewagtes Spiel. Erst jetzt kommt ihm recht zum Bewußtsein, wie sehr doch eigentlich alles an einem -150-
seidenen Faden hängt. Er sieht Beßler ähnlich, gewiß, aber er ist doch schließlich ein anderer. Man muß den Unterschied bemerken, wenn man aufmerksam sein Gesicht betrachtet. Das tut freilich niemand, denn alle sind aufgeregt und denken nur an den Start. Plötzlich steht Herbert Vanhusen vor ihm. Kramm fühlt die durchdringenden Augen des Fliegers auf sich gerichtet, sieht, wie der andere den Kopf etwas vorbeugt... Ja, ist denn dieses Pech denkbar, sollen denn alle Anstrengungen umsonst gewesen sein? Wird er nun doch noch in letzter Minute entlarvt? Er weicht dem Birck dadurch aus, daß er sich mit den Händen über die Augen fährt, als wolle er die Müdigkeit verscheuchen. »Sagen Sie mal«, kommt es langsam aus dem Munde Vanhusens, »Sie sind ja gar nicht...« Aus!, denkt Kramm. Der Streich war zu frech, die Götter sind erzürnt und lassen ihn diesmal im Stich. »Sie sind ja gar nicht richtig in Stimmung«, hört er da Vanhusen den Satz vollenden. »Haben Sie jetzt nun glücklich auch noch Bedenken gekriegt?« Kramm dankt seinem Schöpfer. Der andere hat keine Ahnung, er hält ihn tatsächlich für Beßler. Ob es weiterhin gut gehen wird? Wenn er doch nur erst an Bord wäre! »Wir schmeißen den Laden«, murmelte er, ohne die Lippen mehr als unbedingt notwendig zu öffnen. »Ich bin nur noch etwas verschlafen, außerdem macht mir die Wunde zu schaffen.« Er steht mit dem Rücken zum Licht, sein Gesicht liegt im Schatten. Vanhusen drückt ihm die Hand. »Recht so! Zähne zusammenbeißen! Wir müssen durch, und wir kommen durch!« Nun werden die beiden starken Scheinwerfer, die dicht am -151-
Ufer aufgestellt sind, eingeschaltet. Sie tauchen das Flugboot in gleißende Helle und werfen ihre Strahlenbündel weit auf den See hinaus. Es wird ernst. Auf den Flügeln laufen Monteure herum. Sie prüfen die Höhen- und Seitensteuerung, klettern in den Rumpf, machen sich in der Führerkabine zu schaffen, kommen an Land und melden: Alles klar! Kramm geht als erster an Bord. Vanhusen, der noch mit dem Vertreter der mexikanischen Gesandtschaft spricht, ruft ihm nach, er möge inzwischen noch einmal nachsehen, ob alle Bullaugen geschlossen sind. Die Scheinwerfer tauchen Kramm in ein Meer von Licht, während er mit festen Schritten über den Laufsteg geht. Es läuft ihm noch einmal kalt über den Rücken - - ohne Grund übrigens, denn eben dieser Rücken ist der Menge zugekehrt. Die Gefahr des Erkennens ist vorüber. Kramm geht durch den Passagierraum, sieht nach den Bullaugen und begibt sich dann in die Führerkabine. Das Flugboot hat natürlich Doppelsteuerung. Kramm setzt sich rechts und betrachtet aufmerksam die Instrumente. Es ist ihm alles bekannt, was er hier sieht; er hat vor fünf Jahren in München sein Pilotenexamen gemacht und während der Unterrichtszeit und auch später verschiedene Typen, darunter auch ein Wasserflugzeug, geflogen. Auch von Navigation versteht er genügend. Er würde sich anheischig machen, diese schwere Kiste ganz allein über den Ozean zu steuern. Jetzt erscheint der Flugkapitän Vanhusen. Er trägt wie Kramm eine Fliegerkappe und über der Lederkleidung den imprägnierten Overall. Die Taue werden gelöst, ein Motorboot schleppt die ,Alemania' vom Ufer ab, so daß sie mit dem Bug in der Richtung der Scheinwerferstrahlen zu liegen kommt. Die Lichtkegel bilden eine breite Straße auf dem Wasser, die der -152-
große Vogel entlangrasen wird, bevor er sich in die Lüfte erhebt. Fast zu gleicher Zeit springen die drei Motoren an. Es ist ein tosender Lärm, ein Brüllen und Donnern, welches das Hochund Hurrageschrei der Menge am Ufer vieltausendfach übertönt. Die beiden Flieger hören nicht mehr das Rufen und Schreien der Zurückgebliebenen. In ihren Ohren ist der Gesang der Motoren, der ihre Herzen höherschlagen läßt. Sie sitzen dicht nebeneinander in ihrer von abgeschrägten starken Qlasfenstern umgebenen Kabine, zwei stumme Ritter der Lüfte, die todesverachtend in Sturm und Finsternis den Weg suchen, der über den weiten Ozean führt. Vanhusen hält den Steuerknüppel umspannt, Kramm sitzt weit vorgebeugt neben ihm mit verschränkten Armen. Beider Augen starren geradeaus auf den leuchtenden Weg, den ihnen die Scheinwerfer bereiten. Das Boot rast fünfhundert Meter dahin, dann hebt es sich mehr und mehr aus dem Wasser. Jetzt ist es nur noch ein Hüpfen und Gleiten, dann schwebt es frei in der Luft, Der Start ist geglückt. Schon nach wenigen Minuten ist das Zentrum der Reichshauptstadt erreicht. Unten liegt im dunstigen Licht die City, dahinter der etwas hellere Westen. Vanhusen, in dem die ungeheure Spannung der letzten Stunden nach Entladung drängt, geht tollkühn auf hundertundfünfzig Meter herunter. Er will den Berlinern ein Nachtlied in die Ohren brummen, daß ihnen Hören und Sehen vergeht. Während die ,Alemania' durch Wind und Regen über Berlin dahinbraust, unterbricht der Rundfunk seine musikalischen Darbietungen mit der Mitteilung von dem erfolgten Start. Der Ansager macht darauf aufmerksam, daß sich das Flugboot in diesem Augenblick über der Reichshauptstadt befindet. Eine gute Stunde später teilt der Hamburger Sender mit, daß -153-
das Flugboot die Stadt in etwa vierhundert Meter Höhe überflogen habe und, dem Lauf der Elbe folgend, Kurs auf die Nordsee halte. *** Im Direktionszimmer der Friedrichshagener Flugzeugwerke herrschte beträchtliche Aufregung. Direktor Wenner, der sich schon frühzeitig ins Büro begeben hatte, um dort die ersten Nachrichten über den Verlauf des Fluges zu erwarten, staunte nicht schlecht, als er auf telefonische Anfragen bei verschiedenen Zeitungsredaktionen die Mitteilung erhielt, daß die ,Alemania' in unregelmäßigen Zeitabständen SOS-Signale gefunkt habe. Das erste SOS-Zeichen sei morgens um vier Uhr dreißig aufgefangen worden. Eine halbe Stunde später und dann wieder um sieben Uhr fünfzehn seien die Notsignale wiederholt worden. Zwischendurch habe das Flugboot unverständliche Zeichen gefunkt. Man könne sich diese Vorgänge nicht erklären, denn an Bord scheine alles in Ordnung zu sein. Die ,Alemania' sei an verschiedenen Stellen über dem englischen Kanal in niedriger Höhe gesichtet worden und nähere sich mit einer Geschwindigkeit von zweihundertzwanzig Stundenkilometern dem offenen Meer. Oberingenieur Lorentz erschien, um sich zu erkundigen, was man von den Fliegern gehört habe. »Beßler scheint verrückt geworden zu sein«, polterte der Direktor los. »Er funkt fortwährend SOS-Zeichen, und was er sonst noch gibt, kann kein Mensch entziffern. Dabei macht die Maschine ausgezeichnete Fahrt. Sie ist an verschiedenen Stellen über dem Kanal gesichtet worden und hält mit zweihundertzwanzig Kilometern Kurs auf den Atlantik. Wie erklären Sie sich das mit den SOS-Rufen?« »Das ist unheimlich«, meinte der Oberingenieur und traf -154-
damit den Nagel auf den Kopf. Doch was sich dann ereignete, war noch unheimlicher. Es war ein Spuk am hellichten Tage, der den beiden Herren den Atem verschlug und sie erbleichen ließ, als sei der Teufel persönlich ins Zimmer getreten. Es war aber nur der Flieger Otto Beßler, der mit stockender Stimme berichtete, was ihm in der vergangenen Nacht widerfahren sei. Man habe, während er schlief, das Fenster demoliert, sei zu ihm ins Zimmer eingedrungen und habe den Wecker abgestellt. Er sei erst am frühen Morgen aufgewacht und wisse noch immer nicht recht, ob er nun eigentlich wache oder träume. Die ,Alemania' sei inzwischen gestartet, das stehe ja wohl fest. Alles andere jedoch sei ihm vorläufig noch reichlich unklar. Direktor Wenner und der Oberingenieur sahen sich an, als hätten sie nicht recht begriffen, was hie r eigentlich gespielt wurde. Da stand der Flieger Beßler vor ihnen, den sie gestern abend mit eigenen Augen das Flugboot besteigen sahen, und dieses Flugboot war vor ihren Blicken gestartet, war heute früh über dem Ärmelkanal gesichtet worden und befand sich jetzt wahrscheinlich schon über dem Ozean auf dem Wege nach Mexiko. Man versuchte, Beßler das klarzumachen und erwähnte auch, daß die ,Alemania' SOS-Zeichen gegeben habe, während alles übrige, was sie sonst noch funke, völlig unverständlich sei. Beßler kam nach einigem Nachdenken auf die richtige Spur. Er erinnerte sich an jenen Mann, der das Flugboot besichtigt hatte und ihm nicht nur durch seine sachverständdigen Fragen, sondern vor allem durch die große Ähnlichkeit mit ihm aufgefallen war. Der Betreffende hatte sich die Funkeinrichtung genau erklären lassen und sich sogar nach dem Sendezeichen der ,Alemania' erkundigt. Es war hundert gegen eins zu wetten, daß dieser Kerl ihn durch einen elenden Streich übertölpelt und -155-
sich an seiner Stelle an Bord geschmuggelt hatte. »Das ist denn doch ungefähr das Tollste«, schimpfte der Direktor los, »was ich je erlebt habe! Die ganze Welt wird sich über uns lustig machen.« Oberingenieur Lorentz hatte inzwischen seine Fassung wiedererlangt. »Ich hab es ja gleich gesagt«, triumphierte er, »es gibt entweder ein Unglück - oder eine Blamage. Mir scheint, ich habe recht behalten.« Die Öffentlichkeit, die mit regem Interesse den Ozeanflug verfolgte, erfuhr sehr bald von der Köpenickiade, welche die Veranstalter des Mexikofluges zum Opfer gefallen waren. Es begann ein großes Rätselraten, wer wohl der geheimnisvolle Unbekannte sei, der jetzt mit dem Flugkapitän Vanhusen über den Atlantik dahinrase. Nicht minder groß war die Ungewißheit über die Vorgänge, die sich inzwischen an Bord der, Alemania'abgespielt haben mochten. Diedauernden SOS-Rufe wirkten allmählich beklemmend. Man ahnte ein Verbrechen, ohne eine bestimmte Vorstellung damit verbinden zu können. Außer dem Arbeitslosen Emil Weinbeck gab es nur noch einen Menschen in Be rlin, der wußte, wie der Mann hieß, der sich an Stelle des Fliegers Beßler an Bord des Flugbootes befand: Thora Mynius. Sie war empört, daß Kramm ihr gegenüber mit falschen Karten gespielt hatte, doch hütete sie sich wohlweislich, ihr Geheimnis preiszugeben. Die Tatsache, daß Kramm mitgeflogen war, anstatt verabredungsgemäß die Instrumente und die Steuerung unbrauchbar zu machen, deutete sie auf ihre Art. Sie nahm an, daß er mit Bruno Vanhusen gemeinsame Sache gemacht und mit ihm zusammen den Plan ausgeheckt hatte, an Stelle des zweiten Piloten mitzufliegen, um auf diese eigenartige und abenteuerliche Weise an Herbert Vanhusen Rache zu üben. Für -156-
sie stand es fest, daß Kramm gegen Herbert - angestiftet durch dessen Bruder - etwas im Schilde führte und daß sich über dem Ozean zwischen den beiden Insassen des Flugbootes eine dramatische Auseinandersetzung abspielen würde. Wahrscheinlich standen damit auch die Notsignale im Zusammenhang, für die es eigentlich gar keine andere Erklärung gab. Wenn Herbert Vanhusen unterwegs ermordet wird, fragte sich Thora, was dann? Es war eine rein theoretische Betrachtung, die für sie zu dem eigenartigen Ergebnis führte, daß sie den Tod Vanhusens als die beste Lösung ansah; denn, so sagte sie sich, ich liebe ihn noch immer, mein Gerede von Haß ist Kinderei, ich kann nur ohne ihn leben - wenn er stirbt. Er wird ja nicht sterben, denn Kramm ist zwar ein toller Kerl, der Abenteurer schlechthin, der nach Sensationen giert, aber nicht der Mensch, der einen Mord begeht. Der Gedanke ist mithin ohne Bedeutung, ist nur ein Beitrag zur Theorie der Liebe. Er zeigt, daß Liebe immer eigensüchtig ist. Wenn ich für einen Mann entflammt bin, und er erwidert meine Neigung, dann wünsche ich ihm Gutes, und alles ist in schönster Ordnung. Man zieht am gleichen Strang und lebt wie die Turteltauben. Wendet er sich jedoch von mir ab, so werde ich von Unruhe erfaßt. Ich weiß nicht, ob ich ihm weiter gut oder gram sein soll, ob ich ihn zurückgewinnen kann, oder ob er mir für immer verloren ist. Dann bin ich geneigt, seinen Tod als den besten Ausweg anzusehen, denn ich bin gewiß, daß alsdann für mich keine Tat oder Unterlassung mehr in Betracht kommt, die mich meinem verlorenen Besitz näherbringt oder mich weiter von ihm entfernt. Ich kann mich getrost zufriedengeben, weil es für mich nichts mehr zu versäumen gibt. - Über diesen philosophischen Erwägungen vergaß Thora ihren Groll gegen Peter Kramm. Sie machte sich auch keine Gedanken mehr darüber, weshalb ihr Mann nach Verlassen des Sanatoriums auf Reisen gega ngen war, ohne sich im geringsten um sie zu -157-
kümmern. Mochte er tun, was er für gut befand. Sie war bereit, ihre Ehe mit dem Fundament des guten Willens neu zu untermauern. Wenn er in eine Scheidung willigte, so war ihr auch die Trennung recht. Nur dieser Zustand, gemischt aus Einsamkeit und Schuldbewußtsein, sollte aufhören. Sie sträubte sich nicht mehr gegen die beginnende Wandlung, die sie zuerst zaghaft gespürt hatte, als sie Bruno Vanhusen in Nacht und Regen davoneilen sah. *** In zweitausend Meter Höhe jagt das Flugboot ,Alemania' mit Westsüdwestkurs über den Atlantik. Es ist zwölf Uhr mittags. Die Flieger befinden sich jetzt genau zwölf Stunden und zehn Minuten in der Luft. Herbert Vanhusen steht im Navigationsraum und arbeitet am Besteck. Er ist sehr zufrieden. Der Gegenwind hat nachgelassen, es regnet nur noch strichweise, die Motoren arbeiten völlig einwandfrei. Die Standortberechnung ergibt, daß die bisherige Durchschnittsgeschwindigkeit zweihundertdreißig Kilometer beträgt. Wenn sich das Wetter nic ht abermals verschlechtert, werden sie am Nachmittag des nächsten Tages gegen sechs Uhr in Veracruz eintreffen. Die ,Alemania' fliegt jetzt über den Wolken, die wie groteske Gletscherformationen in der Sonne leuchten. Hier oben ist der Gegenwind kaum zu spüren. Vanhusen hat die verschiedensten Höhen ausprobiert. Er ist bis auf viertausend Meter gegangen, fand aber überall starke westliche Luftströmung vor und hat die Maschine schließlich bis auf zwanzig Meter heruntergebracht, so daß die Schwimmer fast die Wogen berühren. Hier war es aber am ungemütlichsten, der Gegenwind über dem Wasser betrug mehr als dreißig Kilometer. -158-
Nun brausen sie in zweitausend Meter Höhe dem fernen Ziel entgegen. Kramm sitzt am Steuer. Das Knattern der Motoren, für ihn seit langem ein ungewohnter Ohrenschmaus, hat ihn schon halb taub gemacht. Er blickt abwechselnd auf Kompaß und Höhenmesser und dann wieder in die Ferne, wo die Wolken, die wie Eisberge aussehen, den blauen Horizont umsäumen. Plötzlich kommt es ihm so vor, als ob eine Stimme im Chorgesang der Motoren schwächer würde. Das Donnern ist längst nicht mehr so eindringlich wie bisher. Nun wird es ihm klar, daß einer der drei Motoren sein gewaltiges Lied unterbrochen hat. Vanhusen erscheint und schreit ihm in die Ohren: »Der linke Flügelmotor ist ausgefallen! Sie müssen sofort hinauf und nachsehen. Halten Sie sich aber fest. Der Ozean ist kein Müggelsee!« Kramm steigt die Leiter hinauf und kriecht durch die Luke, die Vanhusen durch Betätigung des Preßlufthebels öffnet. Hier draußen weht ein Lüftchen! Es ist schlimmer als ein Orkan. So muß ein Wirbelsturm rasen, der in wenigen Minuten Städte und Dörfer in Trümmer legt. Kramm klettert die zweite Leiter hinauf, die oberhalb des Rumpfes zum Flügel führt. Seine Fauste halten mit eisernem Griff die Sprossen umklammert, damit ihn der Luftzug nicht in die Tiefe fegt. Erst nach geraumer Zeit gelingt es ihm, die Ursache der Störung festzustellen. Die Benzinzuleitung, die den Motor mit dem im Innern des Flügels untergebrachten Brennstoff versorgt, ist defekt geworden. Er kriecht zurück und veranlaßt, daß auf die Zuleitung aus dem Haupttank, der sich im vorderen Teil des Rumpfes befindet, umgeschaltet wird. Dann muß er noch einmal hinaus, um das Rohr zu reparieren. Eine Viertelstunde später ist der Schaden -159-
behoben. Als er zurückkommt, gibt ihm Vanhusen Anweisung, den gegenwärtigen Standort zu funken. Er soll hinzufügen, daß die ,Alemania' weiterhin gute Fahrt mache und an Bord alles wohl sei. Kramm geht in den Navigationsraum, wo sich gleichzeitig die Radioanlage befindet, und setzt den Morsetaster in Tätigkeit. Vom Telegraphieren versteht er nur so viel, wie er einst vom Postmeister einer südamerikanischen Estanzia gelernt hat, wo er eine Zeitlang als Gaucho-Capataz tätig war. Er kennt das internationale Notsignal SOS - drei Punkte, drei Striche, drei Punkte -, daneben hat er noch ein knappes Dutzend Buchstaben behalten. Das genügt, um die Chiffre AMA, das Rufzeichen der ,Alemania', in die Welt hinauszufunken. Nun jagt er lustig seine SOS-Zeichen durch den Äther, ohne sich Gewissensbisse über den Mißbrauch dieses Notsignals zu machen. Er sagt sich, daß sein Streich inzwischen längst bekanntgeworden ist. Die ,Alemania' wurde, während er die ersten SOS-Zeichen funkte, von zahlreichen Schiffen beobachtet. Alle Welt weiß mithin, daß das Flugboot nicht in Gefahr ist, und daß die SOS-Rufe einen anderen Sinn haben müssen, der nur auf die Vorgänge an Bord Bezug haben kann. Man wird in höchster Spannung auf die Landung warten, um zu erfahren, was diesen ge heimnisvollen Zeichen zugrunde lag. Dann wird er allen ins Gesicht lachen und sagen, er habe SOS gefunkt, weil er damit im Sinne des Flugkapitäns Vanhusen zu handeln glaubte. Man möge diesen nur einmal fragen, ob ihm nicht die Haare zu Berge gestanden hätten, als sich plötzlich draußen über dem Atlantik sein Kamerad Beßler in einem wildfremden Menschen verwandelte. Kramm geht, nachdem er wiederum eine Reihe unverständlichen Zeichen gefunkt hatte, in die Passagierkabine, um dort ein wenig zu ruhen. Um fünf Uhr soll er Vanhusen am Steuer ablösen, damit dieser durch einen kurzen Schlaf für den -160-
bevorstehenden zweiten Nachtflug Kräfte sammeln kann. Das Ruhelager, bestehend aus Matratze, Kopfkissen und Decken, befindet sich zwischen den Reservetanks, die im Passagierraum aufgestapelt sind. Die mitgeführten Nahrungsmittel - Brot mit Aufschnitt, Konserven, Früchte, Schokolade, Kaffee und Trinkwasser - sind in greifbarer Nähe. Kramm, der bisher die Fliegerkappe noch nicht einen Augenblick abgenommen hat, reißt sich das schwere lederne Ding vom Kopfe und greift tüchtig zu. Wenn Vanhusen ihn jetzt sehen könnte, würde er staunen, wie man mit einem bepflasterten Gesicht und einer schmerzenden Wunde so herzhaft kauen kann. Nachdem Kramm sich gestärkt hat, streckt er sich la ng aus, zieht die Decke über die Ohren und schließt die Augen. Eine Handvoll Schlaf wird ihm gut tun. Er muß frisch sein und quicklebendig, wenn es an Bord der ,Alemania' zu spuken beginnt... Die sieghafte Melodie der Motoren, die unaufhörlich ihr donnernd es Lied in den Äther brüllen, hat Kramm in den Schlaf gesungen. Es geht ihm bereits wie dem Müller, der noch einmal so gut schläft, wenn das Geräusch des niederstürzenden Wassers seinen Schlummer begleitet. Als Kramm erwacht, umgibt ihn tiefe Finsternis. Er hätte wohl noch länger geschlafen, wenn ihn nicht die Kälte, die durch Decken, Overall und Lederwams kriecht und ihn fröstelnd zusammenschauern läßt, geweckt hätte. Er knipst das Licht an, um nach der Uhr zu sehen. Zehn Minuten vor Mitternacht! Potztausend noch eins, das war ein ergiebiges Nickerchen! Vanhusen wird schön fluchen. Fluchen...? Ach was, dazu wird er gar nicht erst kommen. Er wird zeigen müssen, ob er ein ganzer Kerl ist und starke Nerven hat - weiter nichts. »Es ist gleich Mitternacht«, brummt Kramm und entfernt das -161-
Pflaster aus seinem Gesicht. Die Fliegerkappe nimmt er in die Hand. Dann knipst er das Licht aus und tastet sich zwischen Ölund Benzintanks zur Führerkabine. *** Herbert Vanhusen sitzt mit brennenden Augen am Steuer, Er ist müde zum Umsinken. Nur seine ungeheure Energie, die immer wieder das drohende Gespenst des Schlafes verscheucht, hält ihn aufrecht. Schlaf - das bedeutet Untergang, bedeutet Ende und Tod. Draußen ist tiefe Finsternis. Nui die Sterne flimmern. In zweitausend Meter Höhe zieht die ,Alemania' am nächtlichen Himmel dahin; ihre unermüdlichen Motoren dröhnen in das weite Schweigen. Wäre nicht noch ein Mensch an Bord, mit dem man reden kann, dies wäre die vollkommenste Einsamkeit, die sich denken läßt. Wo steckt denn nur Beßler? Warum kommt er nicht? Er sollte ihn doch um fünf Uhr nachmittags ablösen, und nun ist es gleich Mitternacht, und er läßt sich noch immer nicht sehen. Ob ihm etwas zugestoßen ist? Vanhusen weiß es nicht, er kann es nicht wissen und kann es auch nicht feststellen, denn er darf seinen Platz nicht verlassen. Er muß ausharren und weiter diesen doppelten Kampf gegen die Elemente und gegen die Müdigkeit führen, bis Beßler kommt und ihn aus dieser Not befreit. Vanhusen reckt sich auf. Seine Arme sind wie erstarrt; er hat das Gefühl, als rolle anstatt Blut flüssiges Blei durch seine Adern. Rechts neben ihm ist die Karte mit dem eingezeichneten Kurs. Die ,Alemania' befindet sich jetzt mitten über dem Ozean; mehr als die Hälfte des Weges ist schon bezwungen. Das Schlimmste ist überstanden. Der Erfolg rückt schon -162-
näher, wird greifbarer von Stunde zu Stunde... wenn ihn nicht noch jener heimtückische Feind zunichte macht, mit dem Vanhusen am wenigsten gerechnet hat; die Müdigkeit! Wenn Beßler doch endlich käme, denkt er verzweifelt, dann wäre ja alles gut. Da schiebt sich eine Gestalt in die Führerkabine, ein Mann im grauen Overall. Er nähert sich dem Piloten und legt ihm vorsichtig beide Hände auf die Schultern. Vanhusen hat es gespürt, daß jemand den Raum betrat. Sein Zorn und seine Ungeduld sind zerronnen, er schreit und brüllt vor Freude in den Lärm der Motoren, - doch die Worte ersterben ihm auf den Lippen, als er sich umdreht und in das lachende Gesicht eines Menschen blickt, der ihm fremd und unheimlich erscheint. »Beßler!« heult er nach Sekunden starren Schreckens auf, »Beßler!« Mehr bringt er nicht heraus; das Entsetzen schnürt Ihm die Kehle zu. Ist das ein Traum, oder ist es ein Spuk, der ihn ängstigt? Sind seine Nerven soweit herunter, haben ihn die Aufregungen. und Strapazen so arg mitgenommen, daß er Gespenster sieht? Dies hier ist doch Beßler, kann nur Beßler sein, und doch ist es ein anderer, denn die Wunde im Gesicht - die Wunde ist ja weg! Nicht einmal eine Schramme ist zu sehen. Außerdem hat die Stimme, die jetzt an sein Ohr dringt, einen fremden Klang. »Mein Name ist Kramm, Peter Kramm!« schreit ihm der andere entgegen. »Ich werde Ihnen alles erklären, wenn wir in Veracruz sind, vorausgesetzt, daß wir heil dort ankommen.« Vanhusen blickt sein Gegenüber fassungslos an und zermartert sich den Kopf. Er bemüht sich, zu ergründen, ob es Wirklichkeit ist, was er hier erlebt. An Schlaf ist jetzt natürlich nicht zu denken. Wie kann man schlafen, wenn einem das Grauen im Nacken sitzt! -163-
Kramm läßt sich vor der zweiten Steuerung nieder und weidet sich an dem Entsetzen seines Nachbarn. Warte nur, denkt er grimmig, es kommt noch besser. Freue dich, Bruno Vanhusen! Du bekommst jetzt ratenweise deine alte Rechnung bezahlt. »Ich habe mich in diesen Transozeanluftexpreß eingeschlichen«, ruft er Herbert Vanhusen zu, »weil ich mit Ihnen einiges zu besprechen habe. Ich kenne Ihren Bruder, und ich kenne Frau Mynius. Ich denke, es wird eine interessante Unterhaltung zwischen uns geben, immer wieder vorausgesetzt, daß wir heil in Veracruz ankommen.« Vanhusen betrachtet mit weit aufgerissenen Augen seinen Nebenmann. Er kann jetzt wieder einigermaßen klar denken. Das hier ist nicht Beßler, soviel steht fest, wenn sich der Verstand auch noch so sehr dagegen sträubt, diese ungehe uerliche Tatsache anzuerkennen. Er ist zu müde, sein Kopf ist zu verwirrt, um eine Erklärung dafür zu suchen, wie es möglich ist, daß jetzt nicht Beßler, sondern ein anderer neben ihm sitzt, der Böses gegen ihn plant. Er weiß nur, daß er sich in Gefahr befindet und darüber nachdenken muß, wie er sich gegen das drohende Unheil schützen kann. Der geheimnisvolle Mensch, den er bisher für Beßler gehalten hat, und der aus Gott weiß welchen Gründen es doch nicht ist, scheint ebenfalls ein Flieger zu sein. Genau wie Beßler! Man könnte den Verstand verlieren, wenn man sich das vor Augen hält. Jetzt kommt ihm ein rettender Gedanke, der es ihm wenigstens ermöglicht, Zeit zu gewinnen. »Steuern Sie weiter Kompaskurs 248 Grad und halten Sie nach Möglichkeit die gegenwärtige Höhe«, ruft er seinem unheimlichen Gefährten zu. »Ich muß unbedingt ein paar Stunden schlafen.« Kramm nickt und übernimmt die Führung, während sich -164-
Vanhusen, den Rücken zur Tür gewendet, zurückzieht. In der Passagierkabine ist es stockfinster. Vanhusen sucht den Lichtschalter, seine Hand beginnt zu zittern, als er ihn nicht sogleich findet. Er hat sich nie im Leben gefürchtet. Jetzt lernt er zum ersten Male das Gefühl der Angst kennen, der Angst vor dem Unbekannten, Lauernden, Geheimnisvollen, das man nicht sehen und nicht begreifen kann. Die Dunkelheit erscheint ihm wie ein Hinterhalt, in dem der Feind lauert, der ihm an die Kehle springen will. Nur Ruhe jetzt, Ruhe! Die Dunkelheit beherbergt keinen Feind, sein Gegner sitzt vorn in der Führerkabine, ein Mensch von Fleisch und Blut, der wie Beßler aussieht und ein Flugzeug führen kann, wenn er auch nicht Beßler, sondern ein anderer ist. Es wird sich schon alles aufklären. Er ist vollkommen übermüdet, seine Phantasie ist erhitzt, es würde ihn nicht wundern, wenn sich jetzt unversehens eine Gestalt aus der Dunkelheit löste und vor ihn hinträfe, um ihn bis auf den Tod zu erschrecken. Gott sei Dank, nun hat er endlich den Lichtschalter gefunden! Die elektrischen Birnen an der Decke flammen auf, der Raum ist in strahlende Helligkeit getaucht. Vanhusen geht noch ein paarmal im Mittelgang auf und ab, dann legt er sich zum Schlafen nieder. Obwohl er totmüde ist, dauert es noch ziemlich lange, bis er endlich in einen unruhigen, von wilden Träumen erfüllten Schlummer sinkt. Ihn deucht, er ginge einen schmalen Pfad entlang, der über ein steilaufragendes Gebirge führt. Rechts und links gähnt die Tiefe. Hinter sich hört er plötzlich ein Geräusch. Er dreht sich um und erblickt Beßler, der keuchend angelaufen kommt. Doch nun sieht Vanhusen, daß es gar nicht Beßler, sondern ein wildfremder Mensch ist, der mit einem Gewehr in der Hand hinter ihm herläuft. Vanhusen rennt und rennt, er kann den Mann mit dem -165-
Gewehr nicht von sich abschütteln. Mit einemmal taucht eine Frau vor ihm auf. Sie steht unbeweglich mit weit ausgebreiteten Armen da, ihr blondes Haar weht im Winde. »Mach Platz, Thora!« schreit er ihr entgegen, doch sie fängt ihn auf und flüstert ihm etwas zu, was er nicht versteht. Er will sich hastig befreien, gleitet aus und reißt Thora, die einen gellenden Schrei ausstößt, mit sich in die Tiefe... Herbert Vanhusen erwacht. Obwohl in der Kabine eine beträchtliche Kälte herrscht, ist seine Stirn mit lauter kleinen Schweißperlen bedeckt. *** Das Wetter hat sich geändert. Die Nacht ist völlig klar und windstill. Ein deutscher Dampfer, der sich auf der Heimreise von Venezuela nach Hamburg befindet, zieht ruhig seine einsame Straße über den Atlantik. Der wachhabende Zweite Offizier hört Motorengeräusch, blickt nach oben und sieht durch das Nachtglas schräg über sich in großer Höhe einen flimmernden Punkt, der sich langsam in südwestlicher Richtung entftrnt. Fünf Minuten später gibt der Dampfer ,Senator' unter genauer Angabe seiner derzeitigen Position die Funkmeldung, daß er soeben das Ozeanflugzeug ,Alemania' in großer Höhe gesichtet habe. An Bord scheine alles wohl zu sein. *** Veracruz, sonst einer der langweiligsten Hafenplätze der mittelamerikanischen Ostküste, hatte sein Aussehen gründlich geändert. Die ganze Stadt war in Aufregung. Man traf Vorbereitungen für den feierlichen Empfang der deutschen Ozeariflieger, deren Flugboot bereits am Vormittag über Habana -166-
und später von verschiedenen Dampfern in etwa sechshundert Meter Höhe über dem Golf von Mexiko gesichtet worden war. Schon am frühen Morgen hatte der Fremdenzustronrnach Veracruz eingesetzt. Die Stadt wimmelte von berittenen Charros, mexikanischen Indios, Mestizen und Kreolen, die zum Teil von weither gekommen waren, um sich das interessante Schauspiel anzusehen. Die Eisenbahngesellschaften hatten Sonderzüge bereitgestellt, die von Mexiko City und von den übrigen größeren Städten des Landes große Massen von Neugierigen nach Veracruz brachten. Auch die deutsche Kolonie war zahlreich vertreten. Sämtliche Gebäude der weißen Tropenstadt prangten im Flaggenschmuck. In väterlicher Sorge um das Wohl und Wehe seiner Landsleute, die schon so leicht von ihrer eigenen Begeisterung berauscht wurden, hatte der Polizeikommandant von Veracruz ein allgemeines Alkoholverbot erlassen, das aber nur bis abends um zwölf Uhr Gültigkeit hatte. Bis dahin, kalkulierte der Polizeigewaltige, hatten sich der Enthusiasmus und der damit verbundene Durst wohl einigermaßen gelegt. Es war alles aufs beste vorbereitet. Man wollte nicht hinter dem nördlichen Nachbar zurückstehen, der früher bei ähnlichen Anlässen gezeigt hatte, wie man die wackeren Pioniere des zukünftigen Weltluftverkehrs gebührend ehrt. Unter Führung des Bürgermeisters hatte sich aus den angesehensten Bürgern der Stadt ein Komitee gebildet, das die Vorbereitungen für den Empfang traf. So arbeiteten amtliche und private Kreise zusammen, um auch nach außenhin zu dokumentieren, daß die Begrüßung der kühnen Ozeanbezwinger nicht lediglich eine offizielle Angelegenheit, sondern eine Sache des ganze n Volkes sei. Die traditionelle mexikanische Gastfreundschaft sollte bei dieser Gelegenheit einmal mehr in aller Öffentlichkeit unter Beweis gestellt werden. Das Komitee hatte ein großartiges Programm ausgearbeitet, -167-
Böllerschüsse, Feuerwerk, Begrüßungsreden, ein grandioses Festbankett im Freien auf der Plaza unter Palmen und Apfelsinenbäumen, Vorführung von Reitund Lassokunststücken, dazu wieder Reden, Böllerschüsse und Militärmusik, - also ein von echt südlicher Lärm- und Redefreudigkeit erfülltes Volksfest erwartete die beiden deutschen Flieger, die jetzt über dem Golf von Mexiko das Finish des großen Fluges bestritten. Am nächsten Tage sollte die Fahrt im Salonwagen des Ferrocarril Central Mexicano zur Hauptstadt stattfinden, wo ebenfalls eine feierliche Begrüßung durch die Behörden und abends ein Empfang im Deutschen Hause vorgesehen war. Zwar war es schon durchgesickert, daß an Bord der ,Alemania' nicht alles seine Richtigkeit hätte, doch das tat der allgemeinen Begeisterung keinen Abbruch. Über nordamerikanische Nachrichtenagenturen waren Mitteilungen in die mexikanische Presse gelangt, wonach sich ein blinder Passagier an Bord befinde, ein Abenteurer oder gar ein Wahnsinniger, der sich in der Maske des zweiten Fliegers an dessen Stelle zum Start eingefunden und auch tatsächlich, ohne daß jemand den Betrug gemerkt habe, mitgeflogen sei. Die ,Alemania' habe verschiedene Male funkentelegraphische Hilferufe ausgesandt und auch andere Zeichen gefunkt, deren Bedeutung man sich nicht erklären könne. Den Mexikanern war das ziemlich gleichgültig. Man lachte und nannte die ,Alemania' den »aeroplano espantoso«, das Gespensterflugzeug. Wer auch die Männer sein mochten, die im Hafen von Veracruz dem Flugboot entstiegen, das als erstes Luftfahrzeug die weite Strecke Deutschland-Mexiko ohne Zwischenlandung bewältigt hatte: es waren Helden, die gefeiert werden sollten, wie sie es verdienten.
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*** An Bord der ,Alemania' geht es entschieden nicht mit rechten Dingen zu. Peter Kramm sitzt jetzt geschlagene fünfzehn Stunden am Steuer. Die Nacht, diese unendlich lange Kette von Stunden der Einsamkeit, der Finsternis und des Motorenlärms, ist vorübergegangen, der dämmernde Morgen kam und ging, die Sonne stieg leuchtend im Osten auf und kletterte immer weiter an der blauen Himmelskuppel empor, - - doch Herbert Vanhusen, der doch nur ein paar Stunden schlafen wollte, ist nicht zurückgekommen. Kramm kennt nicht die Angst und nicht das Grauen. Er ist ausgezogen, um das Fürchten zu lernen; aber man hat es ihm in allen fünf Erdteilen nicht beibringen können. Er lacht jeder Gefahr, er verhöhnt das Wunderbare und würde selbst den Teufel zum Zweikampf fordern, wenn er seiner habhaft werden könnte. Er packt alles mit beiden Fäusten an und geht jeder Sache, die ihm unklar erscheint, sofort mit größter Entschlossenheit auf den Grund. Nun sieht er sich zu seinem Leidwesen in eine Lage versetzt, die, ihm dieses Zupacken und Aufdengrundgehen nicht erlaubt. Wie vorher Vanhusen, so ist jetzt er mit unsichtbaren Ketten an seinen Platz gefesselt. Er darf das Flugboot nicht steuerlos sich selbst überlassen, um nachzusehen, wo der Flugkapitän Vanhusen steckt. Er kann auch nicht auf das Meer niedergehen, das blau und ruhig tief unter ihm schimmert, denn das würde einen Zeitverlust bedeuten, der ihm leicht zum Verhängnis werden könnte. Jede Minute ist kostbar. Es ist jetzt schon fraglich, ob er noch vor Einbruch der Dunkelheit das Ziel erreicht. Auf jeden Fall muß er noch bei Tageslicht die mexikanische Küste sichten, damit er sich orientieren kann. Er kann ja nicht wissen, ob und wie weit das Flugboot durch -169-
seitliche Luftströmung von seinem Kurs abgedrängt worden ist. Wo mag jetzt nur Vanhusen stecken? Es ist doch kaum anzunehmen, daß er noch immer schläft. Er ist doch kein Murmeltier. »Es ist schon so«, brummt Kramm vor sich hin »wie der gute Shakespeare behauptet hat: Es gibt mehr Ding' im Himmel und auf Erden, als eure Schulweisheit sich träumt! Aber nicht nur im Himmel und auf Erden, sondern auch in dem dazwischen liegenden Raum passieren, wie mir scheint, die merkwürdigsten Sachen. Jedenfalls ist es mir völlig schleierhaft, weshalb mein Flugkapitän sich nicht mehr blicken läßt. Hat er Angst, hält er mich für ein Gespenst? Wie dumm von ihm, die Nerven zu verlieren!« ***
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Es wurde Abend... Es wurde Abend, die weiche, flimmernde Tropennacht brach herein, doch von dem Flugboot ,Alemania' war noch immer nichts zu sehen. Die Stadt und die Hafenanlagen von Veracruz erstrahlten in phantastischer Helle, Straßen und Plätze ertranken in einer Orgie von Licht. Unaufhörlich zischten Raketen zum nächtlichen Himmel hinauf, um den Fliegern ihr Ziel zu zeigen. Am Hafen und weiter nördlich und südlich längs derKüste spielten die Scheinwerfer. Gespensterhaft huschten ihre riesigen Lichtgarben über das Meer, stiegen hinauf und hinab und durchtasteten immer wieder im weiten Umkreis die Finsternis. Viele tausend Augenpaare blickten nach Osten. Man lauschte angestrengt, ob nicht bald Motorengebrumm in der Ferne ertönen würde; doch alles Lauschen und Warten blieb vergeblich. Von dem Flugboot war nichts zu hören und zu sehen. Die Geduld der wartenden Menge wurde auf eine harte Probe gestellt. Angesichts der erregenden Empfangsvorbereitungen, der dauernden Lichtsignale und der steigenden Ungewißheit über das Schicksal der Flieger ve rsagte die goldene Lebensregel der Mexikaner, die in dem Wörtchen »paciencia« zum Ausdruck kommt. Man wurde im Gegenteil sehr ungeduldig, und einige schimpften schon weidlich auf den Polizeikommandanten, der ihnen nicht einmal erlauben wollte, durch einige Gläschen Tequila oder Pulque die unerträgliche Spannung ein wenig zu dämpfen. Draußen am Hafen standen die Menschen Kopf an Kopf. Kleine braunhäutige Kerlchen liefen geschäftig mit ihren Wichskä sten umher, um die nie wiederkehrende Konjunktur auszunutzen. Mancher ließ sich schon aus purer Langeweile die -171-
Stiefel putzen. Auch Kaugummi- und Würstchenverkäufer waren zur Stelle und machten glänzende Geschäfte. Ein besonders aufgeweckter Indianerjüngling verkaufte selbstgefertigte kleine Flugzeuge aus Pappe mit der Aufschrift ,Alemania', die reißenden Absatz fanden. Bettler und Straßenmusikanten, die sogenannte Kamplieder zur Gitarre sangen, kamen nicht minder auf ihre Kosten. Im Golf kreuzten inzwischen sämtliche Kriegsfahrzeuge der mexikanischen Atlantikflotte, fünf an der Zahl, die laufend funkentelegrafisch Bericht erstatteten. Bis um elf Uhr abends hatte noch keines der Schiffe die geringste Spur von den Ozeanfliegern entdeckt. Es bestand wohl kein Zweifel mehr, daß sich die Deutschen in der Dunkelheit verflogen hatten. Hie und da wurde auch schon die Befürchtung laut, daß ihnen ein Unglück zugestoßen sei. Plötzlich geht ein Aufschrei durch die Menge. »Ahi vienen! Mire la luz!« jubelt und schreit es durcheinander. Ja, da kommen sie! Das Motorengebrumm, erst nicht lauter als das Gesumm eines Moskitos, wird stärker, schwillt an zu einem gewaltigen Brausen, kommt näher und näher und wird schließlich zu einem Brüllen und Donnern, das weithin die Luft durchzittert. Die Indios stehen mit ihren unförmigen Hüten am Ufer und starren dem riesigen Vogel nach, der auf breiten Schwingen über ihren Köpfen vorüberbraust. Die Führer- und Passagierkabine sind erleuchtet. Man unterscheidet deutlich die sechs runden Fenster, aus denen das Licht nach außen dringt. Während das Flugboot einen weiten Bogen beschreibt, sich tiefer und tiefer senkt und schließlich im hellen Licht der Scheinwerfer auf das Wasser niedergeht, bricht ein Spektakel los, wie ihn diese exotische Küstenstadt mit ihren durch das heiße Klima phlegmatisch gewordenen Bewohnern wohl noch niemals erlebt hat. -172-
Die Sirenen sämtlicher Schiffe beginnen fast gleichzeitig zu heulen, Böllerschüsse durchpeitschen die Luft, Tausende von Raketen steigen auf und explodieren mit lautem Geknall, und immer wieder mischen sich in diesen Höllenlärm die brausenden Vivarufe von Tausenden, die ihr Warten belohnt finden und nun aber auch zeigen wollen, daß sie die große Tat der beiden Ozeanflieger gebührend zu schätzen wissen. In den verwegenen Gesichtern der Charros, die zum Teil bis zu hundert Kilometer auf den Rücken ihrer Pferde zurückgelegt haben, um die Ankunft des deutschen Flugbootes zu sehen, leuchtet staunende Bewunderung. Einige reißen die Pistole aus dem Gurt und knallen rasch ein paar Schüsse in die Luft, um ihre Begeisterung in der landesüblichen Weise zum Ausdruck zu bringen. Allmählich läßt der Lärm nach. Der riesige Vorrat an Raketen ist verbraucht, die Kehlen sind müde geschrien. Der laute Jubel weicht der stummen, wartenden Neugier, was nun wohl kommen wird. Wie werden die Flieger aussehen, was werden sie sagen, welche Einzelheiten wird man über den Flug, über den blinden Passagier und über die geheimnisvollen Funksignale, die die ,Alemania' unterwegs ausgesandt hat, erfahren? Ein Motorboot geht längsseits, um die Flieger an Land zu holen. Unterdessen spielt eine Militärkapelle zuerst die deutsche und dann die mexikanische Nationalhymne. Pressevertreter und Fotografen stehen dicht am Ufer, wo sogleich das Motorboot anlegen wird. Der Vertreter der großen Morgenzeitung ,Excelsior' in Mexiko City, ein junges, hageres Bürschchen, hat mit Bekannten um hundert Goldpesos gewettet, daß er in spätestens einer halben Stunde seinem Blatte ein Interview mit den beiden Fliegern von mindestens fünfzig Zeilen telegrafieren werde. Doch es entwickelt sich alles ganz anders, als man gedacht hat. Der Berichterstatter des ,Excelsior' verliert glatt seine hundert Goldpesos, die Reden des Bürgermeisters von Veracruz und des Vertreters des Luftfahrtministeriums, die schon fein -173-
säuberlich hektografiert den Presseleuten übergeben worden waren, werden nicht gehalten, und das Festbankett auf der Plaza mit Militärmusik, Böllerschüssen und Reitund Lassokunststücken der Charros wird auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben. Es vergeht eine geraume Zeit, bis endlich die Tür des Flugbootes geöffnet wird. Kramm erscheint mit aschfahlem Gesicht. In seinen Augen, die blöde auf die Männer im Motorboot gerichtet sind, die ihm hilfreich die Hände entgegenstrecken, ist nicht nur alle Qual übermenschlicher Anstrengung, sondern auch das Entsetzen! Was ist geschehen? Er hatte sich tatsächlich verflogen, war weit nach Süden abgedrängt worden und war lange über dem Festland und über dem Meer hin und her geirrt, bis er schließlich in den Bereich der Scheinwerfer kam, die ihm die Richtung wiesen. Doch das ist es nicht, was ihn erschüttert. Sein Körper ist allen Anstrengungen gewachsen, er kann auch einmal vierundzwanzig Stunden lang am Steuer eines Flugzeuges sitzen, ohne zu essen und zu schlafen. Er vermag den größten Strapazen zu widerstehen, nur gegen das Entsetzen vermag er nichts. Es zwingt ihn in die Knie wie jeden Sterblichen, dem es seine teuflische Fratze zeigt. Nur schnell fort von diesem fliegenden Gespensterschiff! Er könnte den Mexikanern, die ihn fragen, wo denn der zweite Flieger steckt, in geläufigem Spanisch antworten, doch er schüttelt nur den Kopf und winkt mit der Hand, man möge abfahren. Senor Nieva, der Bürgermeister, präpariert sich auf seine große Rede. Die Fotografen stehen schnappschußfertig mit Blitzlicht und Kamera am Ufer und warten auf den Augenblick, wo die beiden Ozeanflieger den Kai besteigen. -174-
Es klettert aber nur ein Flieger im schmutzigen, ölbefleckten Overall die steinernen Stufen hinauf, und dieser Luftheld sieht gar nicht so aus, wie man sich einen kühnen Bezwinger des Ozeans vorgestellt hat. Er ist totenblaß, die Augen scheinen entzündet, die Lippen sind fest aufeinandergepreßt. Der Bürgermeister tritt auf ihn zu, schüttelt ihm kräftig die Hand und heißt ihn auf mexikanischem Boden willkommen. Dann will er seine Rede vom Stapel lassen; doch Kramm fällt ihm sogleich ins Wort. »Ich bin nicht der, für den Sie mich halten«, sagt er auf spanisch. »Der Flugkapitän Vanhusen befindet sich noch an Bord.« »Und warum ist er nicht mitgekommen?« Kramm zuckt die Achseln. Er spürt ein Zittern; doch es ist mehr ein inwendiges Beben, ein Erschauern der Seele, das den Umstehenden verborgen bleibt. »Er ist tot!« sagt er mit fester, ruhiger Stimme. *** Die Zuschauer, die gekommen waren, um die Ehrung der Ozeanflieger mitzuerleben, kamen nicht auf ihre Kosten. Ein unerwartetes Ereignis, bedrückend, phantastisch und grauenerregend, hatte das ganze Empfangsprogramm überflüssig gemacht. An seine Stelle trat eine polizeiliche Untersuchung, die sofort mit aller Gründlichkeit in die Wege geleitet wurde. Es hat sich schnell herumgesprochen, daß die Pressemeldungen tatsächlich auf Wahrheit beruhten, wonach es einem Unbekannten, der dem Funkermaschinisten Otto Beßler ähnlich sah, gelungen sein sollte, sich an dessen Stelle an Bord zu schmuggeln und den Flug mitzumachen. Ebensoschnell war aber auch bekanntgeworden, daß der Flugkapitän Herbert -175-
Vanhusen während des Fluges ermordet worden war. Die letztere Nachricht schlug wie eine Bombe ein. Alles drängte zu der Stelle hin, wo soeben das Motorboot mit einer Untersuchungskommission an Bord zur ,Alemania'. hinübergefahren war, um festzustellen, ob die unglaublich klingende Mitteilung des Unbekannten, dessen Papiere auf den Namen Peter Kramm lauteten, den Tatsachen entsprachen. Außer Kramm waren es sechs Personen, die mit neugierigen und erregten Mienen das Flugboot bestiegen: der Bürgermeister, der Polizeikommandant, ein Vertreter der deutschen Konsularbehörde in Mexiko City, zwei Kriminalbeamte und ein Arzt. In der Passagierkabine bot sich den Eintretenden ein grauenvoller Anblick. Auf der Matratze, in Decken gehüllt, das blutbespritzte Gesicht nach oben gekehrt, lag der Flugkapitän Vanhusen. Auf dem Boden, dicht neben seinem Kopf, befand sich eine große Blutlache. Die Stirn und die linke Schläfe wiesen nicht weniger als sechs Schußverletzungen auf. Die Schüsse, von denen jeder einzelne unbedingt todlich gewesen sein mußte, waren offenbar aus nächster Nähe abgegeben worden. Der Täter hatte sein Opfer anscheinend im Schlafe überrascht. Würgemale am Halse deuteten darauf hin, daß er Vanhusen an der Gurgel gepackt und gleichzeitig rasch hintereinander sechs Schüsse auf seinen Kopf abgefeuert hatte. Die Patronenhülsen, die auf dem Boden verstreut gefunden wurden, ließen erkennen, daß die Tat mit einer Selbstladepistole, wahrscheinlich mit einem Browning, verübt worden war. Der Arzt stellte fest, daß der Tod bereits vor etwa fünfzehn bis zwanzig Stunden eingetreten sein mußte. Das waren zunächst die einzigen Anhaltspunkte, die sich für die Aufklärung des Verbrechens ergaben. Der Tatverdacht richtete sich natürlich sofort gegen Peter Kramm, da er und Vanhusen die einzigen gewesen waren, die -176-
sich während des Fluges an Bord befunden hatten. Kramm, der ohne äußere Zeichen der Erregung zur Kennt nis nahm, daß er verhaftet sei, da nur er allein als Täter in Frage kommen könne, bat, einen Flugsachverständigen herbeizuholen. Das Motorboot brauste davon und kam bald darauf mit dem Vertreter des Luftfahrtministeriums zurück. Inzwischen wurde Kramm eingehend über seine Person und über die Beweggründe verhört, die ihm zu seinem Streich veranlaßt hatten. Zum Erstaunen der Mexikaner und des deutschen Konsulatsvertreters, der den Dolmetscher spielen wollte, gab er in fließendem Spanisch über alles Auskunft und verhehlte auch nicht, daß er den Bruder Vanhusens kenne und daß zwischen den beiden Feindschaft bestanden habe. Die Herren machten erstaunte Gesichter, als sie das hörten. Einer der beiden Kriminalbeamten wechselte mit dem Polizeikommandanten einen vielsagenden Blick. Der Vertreter des Luftfahrtministeriums, ein früherer Militärflieger, der sich bei der Bekämpfung der Yaquiaufstände im Staate Sonora einen Namen gemacht hatte, wurde von Kramm gefragt, ob er es für möglich halte, daß man das Steuer eines Flugzeuges, das sich in der Luft befinde, für eine Zeitspanne verlassen könne, die erforderlich sei, um in die Passagierkabine zu eilen und dort einen Menschen zu töten. Der Mexikaner verneinte mit großer Bestimmtheit diese Frage. »Man kann jedoch«, fügte er mit hochgezogenen Augenbrauen hinzu, »mit einem Flugboot auf das Meer niedergehen, den Mord verüben und dann wieder aufsteigen.« »Was sagen Sie dazu?« wandte sich der Bürgermeister an Kramm. »Dazu möchte ich bemerken, daß es vollendeter Wahnsinn wäre, den Führer des Flugbootes auf die eben angedeutete -177-
Weise draußen auf dem Ozean zu ermorden, mit der Leiche: an Bord nach Veracruz zu fliegen und hier zu erklären: Der Flugkapitän Vanhusen ist tot. Ich weiß nicht, wer ihn erschossen hat.« Es war einleuchtend, was Kramm sagte. Der Verdacht gegen ihn schien zwar begründet, doch stand der Indizienbeweis sowohl im Hinblick auf die psychologischen als auch auf die tatsächlichen Voraussetzungen auf recht schwachen Füßen. Wenn er wirklich den Mord begangen hatte und trotzdem mit dem Flugboot nach Veracruz gekommen war, so bedeutete das ganz einfach, daß er sich nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte befand. Dagegen sprach aber wiederum die ruhige und überzeugende Art, wie ersieh verteidigte. Das Verhör, das über eine Stunde dauerte, brachte das geheimnisvolle Verbrechen nicht eine Spur der Aufklärung näher. Man bewegte sich im Kreise, weil alles Fragen und Antworten immer wieder ergab, daß die Rechnung nicht stimmte. Es war ein Fehler darin, man suchte und suchte und konnte nicht ergründen, wo ersteckte. Sieben Augenpaare waren auf Kramm gerichtet. Sieben Köpfe suchten zu erraten, was in diesem Menschen, der aus verschiedenen Gründen verdächtig war und der doch kaum die tödlichen Schüsse abgegeben haben konnte, vorging. Hier mußte ein Geheimnis obwalten, das nur der seltsame Abenteurer kannte, der da vor ihnen stand. »Besteht denn die Möglichkeit«, nahm jetzt der Polizeikommandant das Wort, »daß sich noch eine dritte Person an Bord befand?« Kramm zwang sich zu einem Lächeln. »Eine dritte Person? Undenkbar. Das ganze Flugboot ist doch bereits von oben bis unten gründlich durchsucht worden. Wo sollte denn dieser geheimnisvolle Dritte geblieben sein?« »Dann meinen Sie also«, bemerkte der Kommissar sarkastisch, »daß sich ein Gespenst an Bord befunden haben -178-
muß?« »Ich meine gar nichts«, erwiderte Kramm schroff. »Ich kann nur immer weder sagen, daß mir für diesen rätselhaften Mord genau wie Ihnen jedwede Erklärung fehlt.« Die beiden Kriminalbeamten wollten noch einmal von vorn beginnen, indem sie über das Verhältnis zwischen den Brüdern Vanhusen und die Beziehungen Kramms zu Bruno nähere Einzelheiten zu wissen wünschten, doch Kramm machte nicht mehr mit; Seine seelische und körperliche Widerstandskraft hatte Grenzen, die nun endlich erreicht waren., Er schwieg beharrlich auf alle weiteren Fragen und kämpfte mit letzter Energie gegen die drohende Ohnmacht, die sich durch ein starkes Schwindelgefühl ankündigte. Man fuhr zum Kai zurück und brachte Kramm in einem geschlossenen Auto zur Penitenciaria, dem Stadtgefängnis, um ihn erst einmal ausschlafen zu lassen. Am nächsteh Morgen sollte das Verhör fortgesetzt werden. Nur langsam zerstreute sich die Menge. Das Alkoholverbot war inzwischen abgelaufen, und da es, wie in den meisten Städten Lateinamerikas, in Veracruz keine Polizeistunde gab, bevölkerten sich die Bars und Pulquekneipen mit unheimlicher Geschwindigkeit. War es einem vorher nicht vergönnt gewesen, die Spannung und Nervosität mit einem Gläschen Tequila, einem Becher Pulque oder gar einer Flasche Bier aus der Brauerei Orizaba zu beschwichtigen, so wollte man jetzt doch wenigstens noch schnell die Gelegenheit wahrnehmen, mit einigen Tropfen mehr oder weniger konzentrierten Alkohols die Bestürzung hinunterzuspülen, die dieses an Bord des Ozeanflugzeuges begangene rätselhafte Verbrechen ausgelöst hatte. Vor den Kneipen standen mit gesenkten Köpfen in langen Reihen die gesattelten Pferde der Charros und warteten auf ihre Reiter. -179-
Die hatten es aber nicht eilig. Sie saßen drinnen an blankgescheuerten Tischen, tranken, rauchten Zigaretten aus schwarzem Tabak und schwadronierten leidenschaftlich, daß der Nachtschutzmann an der nächsten Straßenecke, der sich im Halbschlummer auf seinen Karabiner stützte, zuweilen auffuhr und lauschend den Kopf hob, bereit zum Einschreiten, sobald der erste Schuß ertönen würde. Die Charros blieben jedoch merkwürdigerweise friedfertig. Es kam zu keiner Schießerei, weil sich ihre Gespräche diesmal nicht um Politik oder um Pferderennen, Viehpreise und sonstige persönliche Angelegenheiten, sondern neben der Bewunderung für die großartige sportliche Leistung der beiden deutschen Flieger vor allem um die Frage drehten, wer den Flugkapitän Vanhusen erschossen hatte. Mord - du lieber Gott, das war sonst kein The ma, das die hageren Gesellen mit den kühngeschnittenen bronzefarbenen Gesichtern besonders aufregte. Es war im Silberlande, besonders bei ihnen da draußen auf dem Kamp, keine Seltenheit, daß eine Pistole losging, daß jemand unversehens ins Gras beißen mußte, der noch kurz vorher nicht im Traum an diese Möglichkeit gedacht hatte. Der Fall, der hier zur Debatte stand, war allerdings geeignet, die braven Charros aus ihrem Gleichmut aufzurütteln. So etwas passierte denn doch nicht alle Tage. Der Führer des Ozeanflugzeuges, das den weiten Weg von Deutschland nach Mexiko glücklich zurückgelegt hatte, war unterwegs ermordet worden, und niemand wußte, durch wen. Der Gespensterglaube, dieses wohlbehütete Erbgut indianischer Vorfahren, regte sich. Die Sache war doch eigentHchsonnenklar. Zwei Personen waren in Deutschland mit dem Flugboot aufgestiegen, zwei waren in Veracruz gelandet. Muy bien! Der eine war ermordet; der andere konnte aus Gründen, die durchaus einleuchtend waren, nicht der Täter sein. Da blieb doch nur die eine Erklärung, daß sich ein »espanto«, -180-
ein Gespenst an Bord befunden und den Mord verübt hatte. Zum Beweise dafür, daß so etwas durchaus möglich sei,. machten jene zahlreichen Gespenstergeschichten die Runde, die man sich im Innern Mexikos abends in den Dörfern und auf den Ranchos beim flackernden Schein der Petroleumfunzel erzählte. Jedes unaufgeklärte Verbrechen und alle seltsamen Ereignisse, für die man keine vernünftige Erklärung wußte, wurden seit jeher auf das Treiben des Espantos zurückgeführt, der immer dann seine vielseitige Rolle als Mörder, Einbrecher, Brandstifter und als sonstiger Bösewicht spielte, wenn man des wirklich Schuldigen nicht habhaft werden konnte. So wurde noch stundenlang über den Fliegermord, über das Flugzeuggespenst und über sonstige Gespenster diskutiert, und die Besitzer der Hafenkneipen hatten alle Hände voll zu tun, um den immer stärker werdenden Durst der Gäste zu bekämpfen. Erst beim Morgendämmern klapperten Hufe der letzten Charropferde über das holprige Pflaster... Auch im Hinterzimmer des an der Plaza gelegenen Hotels ,Juarez', wo sich allabendlich die Mitglieder des ,Club Porteno' trafen, ging es noch lange Zeit recht lebhaft zu. Die Spitzen der Behörden, darunter der Gouverneur des Staates Veracruz sowie die sieben Herren, welche die ersten Ermittlungen an Bord des Flugbootes aufgenommen hatten, waren anwesend. Wiewohl in diesen gebildeten Kreisen der überlieferte Gespensterglaube nicht so überzeugte Befürworter fand, war allen etwas beklommen zumute. Ein solcher Fall war in der mexikanischen Kriminalgeschichte noch nicht dagewesen. Der Leiter der hauptstädtischen Geheimpolizei, der bereits verständigt worden war und am nächsten Abend mit zwei weiteren Beamten in Veracruz erwartet wurde, fand eine Aufgabe vor, die ihm gewiß noch manches Kopfzerbrechen verursachen würde. Man riet hin und her und stellte die gewagtesten Hypothesen -181-
auf. Der Polizeikommandant sprach die Vermutung aus, daß nach den Bekundungen, die der Verhaftete gemacht habe, der Bruder des ermordeten Fliegers mit der Tat unbedingt im Zusammenhang stehen müsse. »Denken Sie einmal nach, Senores«, entwickelte er eifrig seine Ansicht. »Das Flugboot war zuletzt um drei Uhr nachmittags im Golf auf halbem Wege zwischen Habana und Veracruz gesichtet worden. Es hätte also gegen acht Uhr hier eintreffen müssen. Wie erklären Sie sich die vierstündige Verspätung? Ich erkläre sie mir so, daß dieser Kramm, der sich auf so raffinierte Weise in der Verkleidung des Funkermaschinisten an Bord schmuggelte, es fertiggebracht hat, auch noch den Bruder des Ermordeten als blinden Passagier mitzunehmen. Dieser hat sich hinter einem der Tanks versteckt gehalten und, nachdem sich der Führer des Flugbootes zum Schlafen niedergelegt hatte, den Mord verübt. Kramm, der angibt, sich nach Süden verflogen zu haben, hat den Mörder irgendwo an der Küste abgesetzt und ist dann solange nördlich geflogen, bis er die Raketen und Scheinwerfer von Veracruz entdeckte. Ich glaube, eine andere Erklärung gibt es nicht.« »Ihre Vermutung hat viel Wahrscheinlichkeit für sich«, pflichtete ihm einer der Kriminalbeamten bei. »Sie läßt sich sogar noch dahin ergänzen, daß der Flugkapitän Vanhusen schon bald nach dem Aufstieg den blinden Passagier entdeckte, von diesem bedroht wurde und auf das Meer niedergehen wollte, jedoch von den beiden anderen daran gehindert wurde. In seiner Bedrängnis hat er sich nicht anders zu helfen gewußt, als funkentelegrafische Hilferufe und andere Zeichen auszusenden, die unverständlich blieben, weil er wahrscheinlich in der Aufregung den Morsetaster nicht richtig bediente. Da er sich weigerte, den Flug fortzusetzen, hat Kramm die Steuerung übernommen. Vanhusen ist dann in der folgenden Nacht durch seinen Bruder ermordet worden.« Die anderen nickten zustimmend. Diese Kriminalisten waren -182-
doch helle Köpfe. Sie lösten jedes unentwirrbar scheinende Knäuel und fügten Glied um Glied zusammen, bis die Kette des Beweises geschlossen war. Doch dieser junge Kriminalbeamte, den die übrigen Herren in diesem Augenblick als einen zweiten Sherlock Holmes anzusehen geneigt waren, war noch heller, als es bis jetzt den Anschein hatte. Er hatte das alles nämlich nur gesagt, um hinterher die Meinung des Polizeikommandanten auf verblüffend einfache Weise zu widerlegen. »Man könnte also glauben«, wandte er sich an seinen Chef, »daß sich der Mord so abgespielt hat, wie ich es eben schilderte. Das ist aber völlig ausgeschlossen. Kramm hätte den Täter irgendwo absetzen müssen, was aber an keiner Stelle der Küste unbemerkt geschehen konnte. Doch selbst dann, wenn es ihm gelungen wäre, würde er auf keinen Fall mit der Leiche an Bord hierhergekommen sein. Er hätte sie unter allen Umständen ins Meer geworfen und später erklärt, Vanhusen habe sich unterwegs in selbstmörderischer Absicht aus dem Flugboot in die Tiefe gestürzt,« Ein betretenes Schweigen folgte diesen von haarscharfer Logik zeugenden Worten. Man konnte dem Beschuldigten, der einen recht intelligenten Eindruck machte, eine solche Dummheit in der Tat nicht zutrauen. Jede Überlegung führte unweigerlich immer wieder ins Dunkle, Unfaßbare, Rätselvolle. Das Geheimnis, das man schon gelüftet zu haben wähnte, stand da und zeigte sein fahles Sphinxgesicht. Unten vom Hafen her, wo die Lichter längst erloschen waren, wo an Bord der ,Alemania' der Flieger Vanhusen einsam und starr zwischen Öl- und Benzintanks am Boden lag, kroch das Grauen heran. Es schlich durch die Straßen, stahl sich in die Häuser und legte sich jedem auf die Brust, dessen Gedanken sich um eine Lösung des Rätsels bemühten.
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*** Peter Kramm; hatte eine unruhige Nacht verbracht. Es war nicht die Furcht vor dem Üntersuchungsverfabren, nicht die Besorgnis, man könnte ihn auf Grund von Indizien verurteilen, sondern es war das Entsetzen, das ihn trotz großer Ermattung kaum zum Schlafen kommen ließ. Es hielt ihn mit eisernem Griff umklammert und ließ sich nicht abschütteln. Der Ozeanflug sollte das größte Abenteuer seines Lebens werden. Das Schicksal, von ihm bis ins Groteske herausgefordert, hatte sich gerächt und aus dem Abenteuer einen Kriminalfall werden lassen, der ihm recht teuer zu stehen kam. Er sah sichln eine Lage versetzt, der gegenüber seine vielseitigen Fähigkeiten versagen mußten. Die Aufklärung des Mordes an Herbert Vanhusen war nicht allein eine Sache der Justiz, sondern auch seine eigene Sache. Er sah schon jetzt mit beängstigender Deutlichkeit voraus, daß er, an, diesem grauenhaften Rätsel innerlich zerbrechen würde, wenn sich nicht bald eine natürliche Lösung fand. Nach einem reichlichen Frühstück wurde Kramm gegen neun Uhr morgens zum Verhö r geholt. Ein Polizist mit umgehängtem Gewehr begleitete ihn. Die Sonne sandte schon um diese Stunde recht heiße Strahlen vom wolkenlosen Himmel auf dieses ungesunde Fleckchen Erde hernieder, das seinen Namen Veracruz - Wahres Kreuz - nicht zu Unrecht trug. Auf der Straße hüpften Aasgeier umher, die hier das Amt der Gesundheitspolizei ausübten. Zwischen Palmen und weißen Gebäuden leuchtete in der Ferne im dunkelblauen Schimmer der Golf von Mexiko. In Kramm, dem weitgereisten Weltenbummler und Abenteurer, der an allen Ecken und Enden der Erde zu Hause war, tauchten Erinnerungen auf. Dort auf der Plaza, direkt neben dem Standbild des mexikanischen Diktators Porfirio Diaz, hatte -184-
er vor Jahren einmal gesessen. Es war an einem glutheißen Juniabend gewesen. In dem Musikpavillon spielte eine Mititärkapelle, unter den Apfelsinenbäumen, vom weißen Licht der Bogenlampen überflutet, promenierten plaudernd und lachend glutäugige Mexikanerinnen mit ihren Freunden und Bekannten. Er ließ dieses anmutige Bild südlicher Lebensfreude auf sich wirken und lauschte nur mit halbem Ohr dem Wörtschwall des neben ihm sitzenden dicken Mestizen, den er im Hotel kennengelernt hatte. Dieser edle Caballero, der im Staate Guanajuato beheimatet war und dort ein großes Silbererzlager entdeckt hatte, wollte ihm aus reiner Menschenfreundlichkeit für einige tausend Pesos Anteilscheine überlassen, damit Kramm, wenn die Ausbeute in Angriff genommen wurde, sofort mit dem Scheffeln der Dividenden beginnen konnte. Kramm erinnerte sich auch, daß jenes langgestreckte weiße Haus, in das ihn jetzt sein Begleiter eintreten hieß, das Gerichtsgebäude war. Er hatte es damals freilich nur von außen kennengelernt. Bei dem alsbald beginnenden Verhör wurden alle Angaben, die er abends an Bord des Flugbootes gemacht hatte und jetzt wiederholen mußte, protokolliert. Er wurde noch einmal besonders eindringlich darüber befragt, aus welchem Grunde die funkentelegrafischen Hilferufe und die übrigen unverständlichen Zeichen während des Ozeanfluges ausgesandt worden seien. Seine Auskunft lautete dahin, er habe die Verwirrung, die nach Bekanntwerden der von ihm inszenierten Verwechslungskomödie entstanden sei, noch steigern wollen, indem er die SOS-Signale funkte, ein schlechter Scherz, wie er jetzt zugeben müsse. Er sei ohne Bedeutung und habe mit dem Mord nichts zu tun. Der Beamte - es war derselbe, der am Abend vorher im ,Club Porteno' die Ansicht des Polizeikommandanten widerlegt hatte fragte ihn rundheraus, ob sich nicht der Bruder des Ermordeten -185-
während des Fluges an Bord befunden habe. Kramm, der sofort merkte, worauf diese Frage hinauslief, gab prompt die Antwort, die der andere erwartete. »Wie ich gestern schon sagte, wäre es Wahnsinn, den Flieger Vanhusen zu ermorden oder an der Ermordung mitzuwirken und dann mit der Leiche an Bord der Polizei sozusagen direkt in die Arme zu fliegen.« »Wußte Bruno Vanhusen«, fuhr der Beamte nach kurzem Nachdenken fort, »daß Sie beabsichtigten, an Stelle des Bordfunkers den Ozeanflug mitzumachen?« »Ja.« »Wann haben Sie ihn zuletzt gesprochen?« »Das kann ich nicht so genau sagen. Es mag etwa fünf bis sechs Wochen vor dem Start gewesen sein.« »Und in der Zwischenzeit haben Sie ihn überhaupt nicht mehr gesprochen?« »Bruno Vanhusen gab plötzlich seine Wohnung auf und ließ nichts mehr von sich hören. Ich weiß nicht, wo er geblieben ist.« »Das ist ja merkwürdig. Auf alle Fälle wird es sich empfehlen, nach dem Verbleib dieses Herrn recht eingehend zu forschen. Wo hat er zuletzt gewohnt? Wie sieht er aus? Ich brauche eine möglichst genaue Personalbeschreibung.« Nachdem Kramm die gewünschten Angaben gemacht und die Frage, ob er sonst noch etwas auszusagen habe, verneint hatte, wurde er wieder ins Gefängnis zurückgeführt. Man ließ ihm jetzt bis zum Abend Zeit, über sein Schicksal und über die Frage, wer Herbert Vanhusen ermordet haben konnte, weiter nachzudenken. Wie bereits in der vergangenen Nacht, so spielte auch jetzt wieder der Draht zwischen Veracruz und Mexiko City. Die deutschen und die mexikanischen Polizeibehörden wechselten lange Kabeltelegramme. Der in der Nähe der Hauptstadt -186-
gelegene Großsender von Chapultepec verbreitete die bisherigen Ergebnisse der Untersuchung und wies auf die Möglichkeit hin, daß das Flugboot nachts an irgendeinem Punkte der Ostküste zu Wasser gegangen sei, um den Mörder des Fliegers Vanhusen abzusetzen. Wenn auch manches gegen die Wahrscheinlichkeit dieser Annahme spreche, so müsse sie immerhin in Betracht gezogen werden. Falls also Beobachtungen in dieser Richtung gemacht worden seien, so möge man sogleich entweder die nächste Polizeistation oder direkt die Kriminalpolizei von Veracruz verständigen. Der Tat verdächtig sei außer dem in Haft befindlichen Peter Kramm auch noch der Bruder des Ermordeten, der vierunddreißigjährige Bruno Vanhusen, letzter bekannter Beruf Student, der nach der Aussage Kramms vor. ungefähr sechs Wochen seinen Wohnsitz in Berlin aufgegeben habe und seit der Zeit spurlos verschwunden sei. Diese Angaben würden zur Zeit noch von den deutschen Behörden auf ihre Richtigkeit hin nachgeprüft. Der Verdächtige sei mittelgroß, dunkelblond, habe blaue Augen, eine breite und hohe Stirn Und spreche außer seiner Muttersprache ziemlich gut spanisch und englisch. Wenn er irgendwo im Lande auftauche, sei er sofort festzunehmen und der nächsten Sicherheitsbehörde zu übergeben. Aus zahlreichen Küstenorten südlich von Veracruz liefen noch am gleichen Tage seitens der zuständigen Polizeistation telegrafische Meldungen ein, die alle übereinstimmend besagten, daß man zwar in der fraglichen Nacht starkes Motorengeräusch gehört, von einem »Wassern« des Flugbootes jedoch nichts bemerkt habe. Diese Spur, von vornherein mit ziemlicher Skepsis verfolgt, schien also doch wohl falsch zu sein. ***
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Peter Kramm lag den ganzen Tag über in seiner Zelle auf der Pritsche, das Gesicht der Wand zugekehrt. Der freundliche Wärter hatte ihm auf seinen Wunsch Zigaretten besorgt. Nun rauchte er ununterbrochen, teils aus Nervosität, teils der Moskitos wegen, die durch das geöffnete Fenster in Scharen zwischen den Gitterstäben hereingefloge n kamen. Das Bewußtsein, an dem Tode Vanhusens unschuldig zu sein, gab ihm die Kraft, den kommenden Ereignissen furchtlos entgegen zu sehen. Das reichte aber allein nicht aus, um ihn wieder zu einem vernünftig denkenden Menschen zu machen. Wie würde diese unselige Geschichte wohl enden? Das Grauen - bei Gott, wenn doch nur dieses Grauen nicht wäre! Er wird nie die furchtbaren Minuten vergessen, die er, zu Tode erschöpft durch die übermenschlichen Anstrengungen des Ozeanfluges, nach der Landung in Veracruz durchlebte. Er sieht immer wieder dieses Bild vor sich: die hellerleuchtete Kabine, auf dem Boden die reglose Gestalt Vanhusens, den blutbefleckten Kopf von Schüssen durchbohrt. Etwas Merkwürdiges ist geschehen. Doch es ist beileibe kein himmlisches Märchen, sondern ein grausames Wunder der Hölle, von einem Teufel in Szene gesetzt, der die. Mittel kennt, selbst den Verwegensten das Zähneklappern zu lehren. Er, Peter Kramm, ist an Bord der ,Alemania' gegangen, um dem Flugkapitän Vanhusen das Gruseln beizubringen. Das ist ihm auch gelungen; doch ein anderer, den er nicht kennt, hat ihn übertrumpft und ihm ein eisiges Grauen durch Mark und Bein gejagt. Es sitzt ihm noch in den Knochen und läßt ihn nicht zur Ruhe kommen. Es muß eine Erklärung gefunden werden. Er kann doch nicht weiter, abgesehen von allem anderen, mit dem Bewußtsein durch die Welt laufen, daß er mit einem Gespenst an Bord über den Atlantik geflogen ist! Vielleicht hat sich doch ein blinder Passagier in das Flugboot -188-
eingeschlichen? Er erinnert sich, daß es mit der Bewachung nicht so genau genommen wurde. Bruno Vanhusen ist damals plötzlich verschwunden. Er haßte seinen Bruder aus ganzer Seele. Hat er den Mord Verübt? Unsinn! Man kann nur auf diesen Gedanken kommen, wenn ein Geschehnis so unbegreiflich ist, daß man selbst das Unmögliche für möglich hält. Der Täter kann nicht Bruno Vanhusen heißen, weil er sich bei der Ankunft in Veracruz nicht an Bord befand. Er müßte schon nach vollbrachter Tat, von Reue und Entsetzen gepackt, in die Tiefe gesprungen sein. Abermals unmöglich. Die Tür läßt sich bei dem gewaltigen Luftdruck, der während des Fluges herrscht, nicht öffnen. Die Bullaugen sind zu schmal, um einen so breitschultrigen Menschen durchzulassen. Haben sich denn böse Geister gegen ihn verschworen; gibt es noch Zauberspuk im aufgeklärten zwanzigsten Jahrhundert? Kramm springt plötzlich auf und fängt an zu toben. Der Wärter ercheint und redet begütigend auf ihn ein. Erst allmählich gelingt es ihm, den Wütenden zu beruhigen. Dem Erregungszustand folgt ein wohltuendes Gefühl der Teilnahmslosigkeit. Peter Kramm schließt die Augen und versinkt fast augenblicklich in einen tiefen Schlaf. ***
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Die Arbeit... Die Arbeit der hauptstädtischen Kriminalbeamten, die an Ort und Stelle die von ihren Veracruzer Kolle gen eingeleitete Untersuchung fortsetzten, hatte kaum neue Verdachtsmomente ergeben. Man war zwar geneigt, dem Umstand einige Bedeutung betzumessen, daß das letzte Bullauge auf der rechten Seite des Flugbootes geöffnet war; doch mußte diese Tatsache nach reiflicher Überlegung als unerheblich erscheinen, da anzunehmen war, daß Herbert Vanhusen selber dieses Fenster geöffnet hatte, um frische Luft hereinzulassen. Auf Wunsch der deutschen Konsularbehörde war beschlossen worden, Peter Kramm nach Mexiko City zu überführen. Da sich die Tat an Bord eines deutschen Flugbootes ereignet hatte, mithin der deutschen Gerichtsbarkeit unterstand, war mit einem Auslieferungsbegehren zu rechnen. Die Überführung nach der Hauptstadt erschien aus mehreren Gründen zweckmäßig, namentlich auch deswegen, weil Kramm alsdann der diplomatischen Vertretung seines Landes jederzeit zur Verfügung stand. Der Zug ging abends um neun Uhr ab. Kramm bedauerte es, daß man für seine Überführung den Nachtexpreß gewählt hatte. Er wäre lieber mit dem Tageszug gefahren, der morgens gegen acht Uhr Veracruz verließ. Die sechshundert Kilometer lange Strecke von der Küste zur Hauptstadt hinauf, die in mehr als zweitausend Meter Höhe auf der sogenannten »mesa central« von den Azteken errichtet worden war, galt nämlich als eine der malerischsten Eisenbahnstraßen der Welt. Sie führte durch die verschiedensten Vegetationsgebiete und zeigte dem Reisenden der es sich mit einem Klappstuhl auf der Aussichtsplattform des Pullmanwagens bequem machen konnte, die herrlichsten -190-
Gebirgslandschaften. Was die Mexikaner hier mit kühnem Geist und geschickter Hand geschaffen hatten, war ein Meisterstück der Eisenbahnbaukunst. Mit Dynamit und Spitzhacke hatte man dem Dampfroß seinen schnurrigen Weg gebaut. Bald brauste der Zug an schaurigen Abgründen vorüber, bald rumpelte er in dunklen Schächten durch die Berge, um plötzlich wieder über einen Viadukt von schwindelnder Höhe dahinzudonnern. Die Nacht verhängte alle Schönheit dieser wilden Landschaft mit ihren schwarzen Schatten. Man sah nicht die zahlreichen spitzen Bergkegel, die stummen Zeugen vergangener Schrecken, die in früheren Jahrhunderten Feuer und Verderben auf die fruchtbare Erde speiten. Man sah nicht den sechstausend Meter hohen Pic de Orizaba, den gewaltigen schneebedeckten König der mittelamerikanischen Alpen; man fuhr ahnungslos an den malerischen Indianerdörfern vorüber, deren Bewohner den Zug entlangliefen und geröstete Agavenwürmer und andere mexikanische Leckerbissen feilboten. Dafür lag man allerdings im weichen Bett des Pullmanwagens und; las vielleicht beim Schein eines kleinen Lämpchens, das über dem Kopfkissen brannte, eine spannende Abenteuergeschichte, ohne sich bewußt zu werden, wie abenteuerlich im Grunde diese nächtliche Fahrt durch das mexikanische Hochland war. Peter Kramm lag nicht in einem Pullmanbett. Er saß in einem Wagen erster Klasse zwischen zwei Soldaten, die der siebzehn Mann starken Zugeskorte angehörten. Die Musketiere staken in braunen Khakianzügen, die vortrefflich zur Farbe ihrer Gesichter paßten. Das indianische Blut verriet sich stark in den rehartigen braunen Augen, die in Sanftmut schimmern und in Haß und Wildheit funkeln konnten. Wie dieser Nachtexpreß, so wurde in Mexiko auch jeder andere Eisenbahnzug von einer militärischen Eskorte begleitet, um die Passagiere gegen etwaige räuberische Überfälle zu schützen. Mehr als fünftausend Soldaten waren auf diese Weise ihrer Garnison ständig entzogen. Sie trieben sich, -191-
nomadisierende Landsknechte eines sich ständig in seiner Sicherheit bedroht fühlenden Staates, auf allen Schienensträngen der Vereinigten Staaten von Mexiko umher, um den inneren Feinden der Republik, die sich meistens als Revolutionäre bezeichneten, in Wirklichkeit aber nichts anderes als Banditen waren und neben einsam gelegene n Haziendas mit Vorliebe Eisenbahnzüge überfielen, ihr verwerfliches Handwerk nach Möglichkeit zu verleiden. Gegenwärtig waren wieder einmal in verschiedenen Staaten Unruhen im Gange, die im Auslande nicht weiter ernst genommen, von der mexikanischen Regie rung jedoch mit einiger Besorgnis betrachtet wurden. Es handelte sich, wie meistens in derartigen Fällen, um eine Militärrevolte, die vom Staate Michocän ihren Ausgang genommen hatte und von da aus auf einige Mittel- und Südstaaten übergesprungen war. Auf der Strecke zwischen Morelia und Patzcuaro war ein Eisenbahnzug überfallen und die gesamte Eskorte überwältigt und niedergemacht worden. Nachdem die Attentäter den Reisenden ihr Geld und sämtliche Wertgegenstände abgenommen hatten, wurde der Zug mit Öl aus dem Lokomotivtender übergossen und in Brand gesteckt. Die Maschine koppelten die Banditen ab und schickten sie ohne Bemannung auf die Reise. Zum Glück war die Strecke bis Patzcuaro frei, so daß ein totes Gleis geöffnet werden konnte, an dessen Ende sich das rasende Ungetüm in einen Erdwall bohrte. Jedesmal, wenn ein Eisenbahnzug überfallen worden war, erfuhr der Wildwestgebrauch des öffentlichen Waffentragens insofern eine Einschränkung, als sich sämtliche Reisenden, bevor sie den Zug bestiegen, einer Revision unterziehen mußten. Wer im Besitz einer Pistole betroffen wurde und nicht einen vom Kriegsministerium ausgestellten Waffenschein vorweisen konnte, mußte das Schießeisen abliefern und außerdem eine Geldbuße zahlen. -192-
*** Auch die Leute, die den Nachtexpreß benutzten, der Peter Kramm von Veracruz nach Mexiko City bringen sollte, wurden von den siebzehn Soldaten, die sich auf die verschiedenen Wagen verteilt hatten, mit echt mexikanischer Sorgfalt und Gemütsruhe nach Waffen untersucht. So kam es, daß der Zug mit einer Verspätung von zwanzig Minuten den Bahnhof verließ. Die fünfmonatige Regenzeit hatte längst aufgehört. Die Nächte waren jetzt von jener kaum beschreiblichen funkelnden Klarheit, wie sie nur die tropischen Gebiete kennen. Peter Kramm bat den einen der beiden Soldaten, ihm den Fensterplatz zu überlassen. Das wurde gewährt. Der »alemancito« konnte ja nicht entwischen. Neben ihm hielten zwei in mehreren Revolutionen erprobte Vaterlandsverteidiger Wache, das geladene Gewehr zwischen den Knien; ihm gegenüber saß ein brauner Herr in Zivil, ein Hüne von Gestalt, unter dessen Rock sich die Umrisse einer respektablen Pistole abzeichneten. Es war einer der Kriminalbeamten aus Mexiko City, der fest entschlossen schien, den mutigen Ozeanflieger, der leider mordverdächtig war, wie seinen eigenen Augapfel zu hüten. Kramm drückte das erhitzte Gesicht gegen das Fensterglas und blickte in die Dunkelheit hinaus. Über dem Horizont tauchte soeben die orangefarbene Scheibe des Vollmonds auf. Wie ein Riesenlampion hing der stumme, getreue Erdentrabant über den endlosen Mais- und Bananenfeldern, an denen der Zug jetzt vorüberbrauste. Die Lokomotive stieß dicke Rauchwolken in den dunklen Himmel und eilte in so hurtigem Tempo dahin, als wollte sie das bald beginnende Hochland in einem einzigen gewaltigen Anlauf erklimmen. Der Maschinist, ein Caballero mit hohem Monatseinkommen, -193-
der unter dem blauleinen Kittel einen tadellosen Straßenanzug trug und alle schmutzigen Arbeiten seinem Heizer überließ, blickte unentwegt auf den Schienenstrang, der im Licht der starken Scheinwerfer kilometerweit zu übersehen war. Wenn ein ungesicherter Bahnübergang auftauchte, zog der Maschinist an einer Leine; dann stieß die Lokomotive einen langgezogenen, gellenden Pfiff aus. Auf den kleinen Stationen, die in Abständen von zwanzig bis dreißig Kilometern auftauchten, ging es sehr lebhaft zu. Das Eintreffen eines Eisenbahnzuges war für die braven Bewohner des »campo«, die nicht gerade ein abwechslungsreiches Dasein führten, jedesmal ein kleines Ereignis. Sie gingen zur Bahnstation, auch wenn sie nicht verreisen oder einen Bekannten oder Verwandten vom Zuge abholen wollten, denn dort gab es einmal etwas anderes zu sehen als nur immer ihre Ranchos, ihre Pflanzungen und ihre Pulquekneipen. Frauen in grellbunten Kleidern liefen den Zug entlang und verkündeten mit heller, monotoner Stimme, was sie feilzubieten hatten. Bettler, meist pockennarbige oder verkrüppelte Gestalten, wankten gabenheischend mit einer Hutruine an den erleuchteten Fenstern vorüber und murmelten von zehn Centavos aufwärts fromme Segenswünsche. Wer nur eine Kupfermünze hinunterwarf, konnte allerdings darauf gefaßt sein, daß der Empfänger das Geldstück sorgfältig bei Licht betrachtete Und dann mit lauter Stimme verkündete: »Ein Centavo, mein Herr! Vielen Dank!« Das sollte den erzieherischen Zweck verfolgen, den edlen Spender bei seinen Mitreisenden als Geizhals anzuschwärzen. Auf den einzelnen Stationen stiegen immer wieder neue Passagiere zu; und als die Lokomotive das Randgebiet der »mesa central« erreicht hatte und ihr Tempo verlangsamen mußte, weil jetzt der Aufstieg ins Hochland begann, war der Zug fast ganz besetzt. Die Bediensteten der beiden Pullmanwagen, freundliche -194-
flinke Neger in blauen Uniformen, unter dem Rock die Pistole griffbereit im Gürtel, hatten längst die Sessel der Salonwagen in bequeme Nachtlager verwandelt. Einige Reisende, denen es zum Schlafen noch zu früh war, saßen rauchend und plaudernd im Waschraum, wo bequeme Sessel und ein Ledersofa standen. In der Ersten Klasse befanden sich die Leute, die sich eine Reise im Pullman nicht leisten konnten, untere Beamte, kleine Farmer und Geschäftsleute, Handlungsreisende und dergleichen. Sie mußten, da der Zug voll besetzt war, auf den Schlaf verzichten und halfen sich durch Karten- und Dominospiel, durch Witze oder allerlei Allotria über die Langeweile der langen Nachtfahrt hinweg. Die Zweite Klasse war in der Hauptsache von Arbeitern bevölkert, dürftig gekleideten Indianern und Mestizen, die sich aus den in drei Sprachen angeschlagenen Ermahnungen, nicht auf den Boden zu spucken, nicht das geringste machten. Hier war nicht gut sein. Die Luft war angefüllt mit unappetitlichen Gerüchen, in allen Ecken und Winkeln lagen Papier, Streichhölzer, Tabakasche, Bananenschalen und sonstige Überreste herum, und dazu herrschte ein Lärm, der das Rattern der Räder beträchtlich übertönte. Verschiedene hatten weise vorgesorgt und sich für die lange Reise ein Fläschchen Tequila mitgenommen, um gewappnet zu sein, wenn sich der Durst, der sich stets auf einer längeren Eisenbahnfahrt einzustellen pflegt, bemerkbar machte. In jedem Wagen, zwischen den Reisenden verteilt, saßen zwei bis drei Soldaten. Die meisten hielten ihren Karabiner zwischen den Beinen und dösten vor sich hin, wenn sie es nicht vorzogen, untereinander oder mit den Zivilisten ein Spielchen zu machen. Die beiden Krieger, die den wichtigen Auftrag hatten, auf den Deutschen sorgfältig achtzugeben, hatten zwecks Verscheuchung der immer quälender werdenden Langeweile einen Knobelbecher aus dem Tornister geholt, um zu versuchen, sich gegenseitig einen Teil ihrer Löhnung wieder abzunehmen. -195-
Die Karabiner, die ihnen bei dieser Beschäftigung im Wege waren, hatten sie in die Gepäcknetze gelegt. Dem Kriminalbeamten, der Kramm in sicherer Obhut wußte, war der Kopf auf die Brust gesunken. Sein regelmäßiges Schnarchen ließ erkennen, daß er zu den Leuten gehörte, die einen guten Eisenbahnschlaf haben. Peter Kramm blickte wieder durch das Fenster. Er sah die vom Mondlicht überfluteten kahlen Berge, die Täler und Schluchten und die kleinen schlafenden Indianerdörfer; er hatte den Wunsch, in dieses Schweigen unterzutauchen, um die Erinnerung an die jüngsten Geschehnisse, die ihn wie eine Zentnerlast bedrückten, auszulöschen. *** Auf der Station Esperanza gibt es einen längeren Aufenthalt. Das Dampfroß wird durch eine schwere elektrische Lokomotive abgelöst, welche die nun bevorstehende steilste Strecke bis zur Erreichung des Hochplateaus zu bewältigen hat. Die meisten Reisenden sind ausgestiegen, um sich etwas Bewegung zu verschaffen. Viele gehen auch in den Wartesaal, wo es heißen Kaffee und frische Maispfannkuchen gibt. Draußen lungern wilde Hunde herum, struppige und magere Köter, die ewig hungrig sind. Sie haben etwas Scheues und Trauriges im Blick; man fühlt Mitleid mit diesen herrenlosen Geschöpfen, deren Dasein nur aus Nahrungssorgen besteht. Immer, wenn ein Zug die Station verläßt, laufen sie noch eine weite Strecke neben ihm her in der Hoffnung, daß ihnen vielleicht doch noch jemand einen Bissen zuwirft. Nach zwanzig Minuten geht es weiter. Der Zug schleicht in riesigen Serpentinen aufwärts; mit einem Nachtexpreß hat er jetzt nicht mehr die entfernteste Ähnlichkeit. Von Orizaba ab, wo das Plateau beginnt, wird wieder mit -196-
einer Dampflokomotive gefahren. Im Achtzigkilometertempo braust der lange Zug über die Ebene dahin. Rechts und links dehnen sich in unendlicher Weite die Agavenfelder. Es sind wichtige Pflanzungen, wichtig vom Standpunkt des Mexikaners aus. Was wäre er ohne die Agave, die ihm den Pulque liefert, deren Wurzelknollen den feurigen Tequila spendet...? Nichts. Das Leben wäre trostlos, wäre ohne Schwung und Schönheit, wenn es nicht diese köstlichen Getränke gäbe, die mehr gewähren als nur einen gewöhnlichen Alkoholrausch. Es ist ein Traumland, ein Paradies voller Wunder, zu dem namentlich der Pulque die Tore öffnet. Auf dem Beobachtungsstand der Lokomotive steht der Maschinist. Eine Zigarette wippt schräg zwischen seinen wulstigen Lippen. Seine Augen sind auf die Schienen gerichtet; die rechte Hand umfaßt einen Hebel. Gleich muß die Kurve bei Kilometer 203 kommen, die nur mit halber Geschwindigkeit passiert werden darf. Plötzlich beugt er sich vor, die Zigarette fällt ihm aus dem Munde, seine rechte Hand fährt nach der Pistole, während die linke den Hebel herunterdrückt. Auf dem Bahnkörper stehen überall dunkle Gestalten, die mit hocherhobenen Fackeln das Zeichen zum Halten geben. Es mögen fünfzig, siebzig, achtzig Personen sein; es läßt sich so schnell nicht abschätzen. Hier gibt es gar kein Überlegen. Der Zug muß zum Stehen gebracht werden, denn zweihundert Meter weiter sind selbstverständlich die Gleise aufgerissen. Es nützt nichts, daß der Maschinist, der rasch zu handeln und vorzüglich zu schießen versteht, einige Banditen über den Haufen knallt. Die Übermacht ist zu groß, und auf der Gegenseite weiß man mindestens ebenso gut zu treffen. Der Maschinist hatte sich schon so auf seinen dienstfreien Tag in Mexiko-City gefreut. Bummel auf den Avenidas, Stierkampf -197-
und abends Ballett im Teatro de la Capital. Nun greift er sich an die Brust, plumpst von seinem hohen Führerstand hinunter auf den harten Schotter des Bahnkörpers und hat nur noch den einen schwachen Gedanken, daß nun alles vorüber ist. Die Soldaten sind auf dem Posten, das muß man sagen. Sie brüllen den Reisenden zu, sich auf den Boden zu werfen, und eilen auf die Plattformen der Wagen hinaus, um die Zugänge zu sichern. Dort legen sie sich lang auf den Bauch und feuern, was die Karabiner nur hergeben wollen. Die Passagiere haben sich in panikartigem Schrecken unter die Sitze verkrochen und warten gottergeben auf die Beantwortung der Frage, die stumm in ihren Gesichtern geschrieben steht: werden die Soldaten den Angriff der Rebellen zurückschlagen oder nicht? Was im letzteren Falle geschehen wird, wagt niemand sich auszumalen. Um Peter Kramm kümmert sich niemand. Er ist ruhig am Fenster sitzengeblieben und blickt nach draußen, wie er es in dieser Nacht schon stundenlang getan hat. Was geht ihn die Schießerei an? Er hat andere Sorgen. Ist er nicht über den Ozean geflogen, mit einem Mordgespenst an Bord? Was ist dagegen ein mexikanischer Eisenbahnüberfall? Ihm ist alles gleichgültig, alles, was er auch denken kann. Es ist jämmerlich, daß es schon so weit mit ihm gekommen ist, aber er kann sich nicht dagegen wehren. Ihm ist wie einem Seekranken zumute, der mit dem Wanken des Schiffes auch seine Weltanschauung wanken sieht. Alles handeln ist sinnlos, solange nicht wieder das richtige Verhältnis zu den Menschen und Dingen und allen sonstigen Erscheinungsformen des Lebens hergestellt ist. Alles ist sinnlos!, denkt Kramm und zuckt wie unter einem leichten Streich zusammen. Auf seinen Hals erscheint ein rotes Rinnsal, das langsam in den Kragen sickert. Die Gedanken, von aller Logik weit entfernt, werden matter und verlieren sich in -198-
dunkle Nebel. Und wieder geht dieses Zucken durch seinen Körper, ein paarmal noch, aber er fühlt das alles längst nicht mehr. Er ist hintenüber gesunken und atmet nur noch schwach... Wie sich später zeigte, war Peter Kramm von sechs Schüssen getroffen worden. Der Tod hatte ihn, um ganz sicher zu gehen, sechsmal angefallen, - genau so oft, wie er nach dem Flugkapitän Herbert Vanhusen seine knöcherne Hand ausgestreckt hatte. *** Der Unglückszug traf mit zehnstündiger Verspätung in Mexiko-City ein. Auf dem Bahnsteig hatten sich viele Neugierige eingefunden, die nun in ehrfürchtigem Schweigen die wackere Zugbesatzung umdrängen, der es dank verschiedener glücklicher Umstände gelungen war, den Überfall abzuschlagen. Das helle Vollmond licht, das einen guten Überblick über das Gelände gewährte, sowie die weittragenden Karabiner der Soldaten, die den Pistolen der Angreifer erheblich überlegen waren, hatten dazu beigetragen, daß die Eskorte trotz mehrfacher Übermacht das Feld siegreich behaupten konnte. Als zusammen mit den Leichen von drei Soldaten, die im Kampf gegen die Banditen gefallen waren, auch der tote Ozeanflieger hinausgetragen wurde, nahmen die Umstehenden ihre Hüte ab. Sie sahen in ihm in diesem Augenblick nicht mehr den Untersuchungsgefangenen, der des Mordes verdächtig war, sondern den Helden, der den Atlantik bezwungen und nun auf ihren Heimatboden durch tückische Rebellenkugeln den Tod gefunden hatte. Durch dieses Mißgeschick war es mehr als fraglich geworden, ob es noch jemals gelingen würde, den sensationellen Mordfall aufzuklären. Der Ozeanflug war geglückt, doch die Vorgänge, -199-
die sich über dem Meere an Bord des deutschen Flugbootes abgespielt hatten, blieben weiter vom Schatten eines undurchdringlichen Geheimnisses umdunkelt. Der Flugkapitän Vanhusen, der dieses Geheimnis kannte, war tot; der andere, der vielleicht Auskunft hätte geben können, schwieg nun ebenfalls für alle Zeit. Das ferne Ziel, das die beiden Flieger erstrebt hatten, war in tragischer Weise die Endstation ihres Lebens geworden. Die Regierung setzte, wie es immer in solchen Fällen geschah, auf die Ergreifung der Eisenbahnattentäter Belohnung aus. Jeder Bandit, lebendig oder tot eingeliefert, wurde mit hundert Pesos, der Rädelsführer mit dem fünffachen Betrage bewertet. Etwa eine Woche später glückte es, vier Mitglieder der Bande in einer kleinen Dorfkneipe im Staate Aguascalientes festzunehmen. Es waren drei Landarbeiter und ein ehemaliger Großgrundbesitzer, dessen Ländereien infolge revolutionärer Umtriebe vor einigen Jahren enteignet worden waren. Die vier hatten dem Alkohol zu reichlich zugesprochen und im Rausch ausgeplaudert, daß sie an dem Überfall beteiligt gewesen waren. Die Vernehmung der verhafteten Banditen lieferte den Zeitungen, die ständig darauf bedacht waren, ihre Leser mit Sensationen zu füttern, einen dankbaren Stoff. Sie gab Anlaß, das Thema des mysteriösen Ozeanfluges wieder aufzunehmen, das über den politischen Wirren im Lande, die inzwischen zu harten Kämpfen zwischen Regierungstruppen und Rebellen geführt hatten, schon etwas in Vergessenheit geraten war. Die Verhafteten, durch ein zehnstündiges Dauerverhör mürbe gemacht, gaben schließlich zu, einem größeren Verbande von Aufständischen anzugehören, die einen Eisenbahnüberfall auf die Strecke Veracruz - Mexiko-City geplant hatten, um den Postwagen und die Reisenden zu berauben. Das für den Überfall gerade der Nachtexpreß gewählt worden war, mit dem der deutsche Ozeanflieger nach der Landeshauptstadt transportiert -200-
werden sollte, war kein Zufall gewesen. Es stellte sich heraus, daß der Führer der Bande die Parole ausgegeben hatte, den Deutschen zu befreien, weil er ein schneidiger »diabolo« wäre, der mit dem Mord nichts zu tun hätte. Hier müßte vielmehr ein Espanto seine Hand im Spiele gehabt haben. Was sich durch diese Aussagen enthüllte, war ein Bekenntnis zum alten indianischen Aberglauben, gleichzeitig aber auch ein blutiger Hohn des Schicksals. Um das Maß seines unheilvollen Wirkens vollzumachen, hatte es zugelassen, daß Peter Kramm durch die Kugeln eben jener verwegenen Gesellen getötet wurde, die in ihm nichts anderes als den überragenden Helden und großen Abenteurer sahen, dem sie die Freiheit verschaffen wollten. *** In der ganzen Welt, vor allem natürlich in Deutschland, hatten die rätselhaften Geschehnisse an Bord des Flugbootes ,Alemania' und das tragische Ende der beiden Ozeanflieger beträchtliches Aufsehen erregt. Die Polizei war ziemlich ratlos. Sie vernahm alle Personen, die mit dem Flugkapitän Vanhusen irgendwie in Verbindung gestanden hatten, um festzustellen, ob vielleicht jemand an der Ermordung des Fliegers ein Interesse gehabt haben konnte. Durch die Aussagen der Wirtschafterin wurde auch die Frau des Komponisten Mynius mit in den Kreis der Untersuchung gezogen. Zu ihrer Überraschung erhielt sie eines Tages von der Kriminalpolizei eine Vorladung. Sie fuhr selbst in ihrem Wagen - einen neuen Chauffetr hatte sie noch nicht - zum Alexanderplatz, fragte sich im Polizeipräsidium durch und wurde nach einigem Hin und Her in ein geräumiges Zimmer geführt, wo ein wohlbeleibter Herr an einem langen Tisch hinter Stößen von Akten saß. -201-
»Sie waren mit, dem Flugkapitän Herbert Vanhusen befreundet, gnädige Frau?« begann der Beamte nach Feststellung der Personalien. »Nicht befreundet«, widersprach Thora gereizt.- »Bekannt.« »Wußte Ihr Gatte von dieser Bekanntschaft?« »Natürlich!« »So, hm. - Haben Sie eine Vorstellung, wer Vanhusen ermordet oder ein Interesse an seiner Ermordung gehabt haben könnte?« »Ich bin völlig ahnungslos.« »So, hm.« Dieses »So, hm« machte Thora nervös. Der seltsame Tod Vanhusens und das tragische Ende seines Begleiters waren ohnehin nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Ihr Gleichmut versagte gegenüber diesen aufwühlenden Ereignissen, an denen ja auch sie beteiligt war. Doch diese Vernehmung dünkte sie zwecklos und grausam. Sie wollte nicht mehr an das Furchtbare denken, nicht an Herbert Vanhusen und nicht an Peter Kramm. Was geschehen war, ließ sich nicht ändern; es ließ sich nicht einmal erklären. Sie brauchte Ruhe und Sammlung, um einen neuen Blickpunkt zu gewinnen, der das Vergangene unbeachtet und nur das Morgen gelten ließ. »Kannte Ihr Gatte den Flugkapitän Vanhusen persönlich?« fuhr der Beamte fort. Thora bejahte diese Frage. »Es wird erforderlich sein, auch ihn in die ser Sache zu vernehmen.« »Das wird vorläufig nicht gehen«, wandte sie ein. »Er befindet sich zur Zeit auf einer Erholungsreise.« »So, hm. - Und wann kehrt er zurück?« »Das ist noch unbestimmt. Ich erhielt vorgestern von ihm einen Brief aus München, worin er mir mitteilt, daß er zunächst -202-
noch einige Plätze in der Schweiz besuchen will, bevor er nach Berlin zurückkehrt.« »Nun gut. Die Vernehmung Ihres Gatten erscheint mir auch nicht besonders wichtig. Wir können vielleicht darauf verzichten.« Damit war das Verhör beendet. Es hatte, wie alle übrigen Zeugenaussagen, nicht den geringsten Fingerzeig für die Aufklärung des Mordes gegeben. Auf der Heimfahrt war Thora so unaufmerksam, daß sie verschiedene Male die Verkehrzeichen nicht beachtete und deshalb von einem Schupobeamten eine gestrenge Verwarnung mit auf den Weg bekam. Sie hörte es gar nicht. Wirbelnd wie die Flocken des ersten Schnees, die aus dem grauen Novemberhimmel zur Erde tanzten, bewegten sich ihre Gedanken um das unerfreuliche Verhör. Sie wußte schon jetzt nicht mehr genau, was sie in dunkler Abwehr gegen die Einbeziehung ihrer Person in dieser Mordaffäre und gegen die amtliche Dürchstöberung ihres Innenlebens gesagt hatte. Jedes Wort, soweit es ihren Mann betraf, war von der Furcht diktiert, er könnt e nach seiner Rückkehr ebenfalls vernommen werden und über den wahren Charakter ihres früheren Verhältnisses zu Herbert Vanhusens Auskunft geben. Jedes Mittel, auch das der Irreführung der Untersuchungsbehörde, erschien ihr recht, um diese Vernehmung nach Möglichkeit zu verhindern. *** Im Gang des D- Zuges, der an einem trüben Spätherbsttag durch die Mark Brandenburg auf Berlin zueilte, ging ein Mann langsam auf und ab. Das volle, gesunde Gesicht, das trotz des blühenden Aussehens von einer stillen, nachdenk lichen Trauer -203-
umschattet schien, war von einem breiten Schlapphut überdeckt. Zuweilen blieb der Reisende an einem Fenster stehen und ließ die blauen Augen über Wiesen und Felder wandern, die mit einer, dünnen Schneeschicht überzogen waren. Der laue Regen, der unaufhörlich niederging, fraß sich in das weiße Kleid der Fluren und bedeckte die weite Landschaft mit einer grauen Melancholie. In der Ferne, gleichlaufend mit dem Schienenstrang, zog sich eine Landstraße hin. Sie führte lange geradeaus, machte dann plötzlich einen Knick und verschwand in einem Tannenwäldchen. Bruno Vanhusen war vor zwei Monaten jene Straße entlanggezogen. Sie führte hierhin und dorthin, wie es der Wanderer gerade wollte. Die Welt ist ja weit, und Landstraßen haben kein Ende. Es waren sonnige Herbsttage, die Bruno Vanhusen auf seiner Wanderschaft begleiteten. Die Natur hatte ihr farbenreichstes Kleid angelegt, die Erde duftete herb und frisch, es war eine Lust, rüstig auszuschreiten nach dem schönen Ziel, das immer lockt, weil es unerreichbar scheint: die Ferne. Bruno Vanhusen kümmerte sich um nichts. Er mied die Menschen, las keine Zeitungen und übte still für sich die Kunst, jeden Gedanken, der durch das Tor der Vergangenheit schlupfen wollte, zurückzurufen. Er war ständig in Bewegung, eilte immer weiter und weiter, denn er befand sich auf der Flucht vor sich selbst. Das Riesengebirge durchstreifte er nach allen Richtungen. Endlich ließ er es genug sein. Er sah ein, daß er sich selbst nicht entfliehen konnte, daß die Loslösung von allem schmerzlichen Geschehen der Vergangenheit nicht eine Frage der räumlichen Entfernung, sondern des inneren Abstandes war. Ein Mann im mehlbestaubten Kittel, der vor einer Mühle am rauschenden Wehr hantierte, nahm ihn auf. Er sollte dem Müller -204-
etwas zur Hand gehen, das Korn aufschütten, Mehl in die Säcke füllen, die wenige Schreibarbeit verrichten und dafür Obdach und Verpflegung erhalten. Das ließ sich hören. Es war ein schönes, weltentrücktes Fleckchen Erde, die Müllersleute waren prächtige Menschen, weshalb sollte er nicht ausruhen, sich besinnen und sehen, was sich weiter tun ließ? Da erreichte ihn die Nachricht - ein Forstgehilfe, der jeden Morgen vorüberging, trug sie ihm zu -, daß der Flieger Herbert Vanhusen über dem Ozean ermordet und sein Begleiter Peter Kramm bei einem Eisenbahnüberfall in Mexiko ebenfalls ums Leben gekommen sei. Er erfuhr weiter, daß er von den Behörden, die ihn in dieser Sache zu vernehmen wünschten, gesucht werde. Vanhusen lief Hals über Kopf zur nächsten Stadt und kaufte sich eine Fahrkarte nach Berlin. Nun wandert er unstet im D-Zug, der durch die verregneten Felder und Waldungen der Mark Brandenburg dahinbraust, auf und ab, und kann es nicht fassen, daß dies alles Wirklichkeit ist. Er denkt an jene Nacht im Juni, als er vordem »Jardin Espanol« auf Peter Kramm wartete. Eine Sternschnuppe zuckte auf, eilte als heller, feuriger Strich schräg am Himmel dahin, und ihn dufchfuhr im gleichen Augenblick der Gedanke, ein Gespenst sollte Herbert auf seinem nächsten Flug begleiten und ihm die Kehle zudrücken. Sein frevelhafter Wunsch hat sich erfüllt, das Gespenst ist wirklich gekommen. Es hat Herbert zwar nicht erwürgt, aber es hat ihm dafür sechs Kugeln in den Kopf gejagt. Ein Mensch also, der den Mord beging, und doch ein Spuk, weil alles so unbegreiflich ist. Die Vorstellung von dem Geschehen ist ein leise rinnender Quell der Trauer, das Denken wird zur Qual. Bruno Vanhusen sehnt sich nach Peter Kramm, dem scharmanten Abenteurer, den -205-
die Ferne verschlungen hat, die er so liebte. Er möchte jetzt seinem Bruder die Hand schütteln... aber es ist zu spät. Nun ist er wirklich ganz allein. *** In Mexiko-City liefen die Menschen in Mänteln, die Kragen hochgeklappt, die Hüte fest auf die schwarzhaarigen Köpfe gezogen, durch die Straßen. Das Thermometer war um fünfzehn Grad gesunken. Ein rauher Wind, hierzulande ein seltener Gast, kam aus dem Norden angefegt, um einen zweitägigen Besuch abzustatten. So lange dauerte es gewöhnlich, bis sich der rauhbeinige Geselle wieder verflüchtigt hatte. Er stellte sich ganz unerwartet während der regenlosen Jahreszeit ein und verübte zwei Tage lang allerhand Unfug. Die Mexikaner nannten ihn den »Norder« und wünschten ihn zu allen Teufeln. Er schüttelte die unreifen Früchte von den Bäumen, verwüstete, wenn er besonders schlecht gelaunt war, ganze Pflanzungen und inachte vor allem den Schiffen viel zu schaffen. Der Golf von Mexiko, sonst friedlich wie ein Karpfenteich, schien sich unter der Herrschaft des »Norder« plötzlich in einen sturmdurchtosten Hexenkessel verwandelt zu haben. Die Himmelskuppel färbte sich dunkelgrau, der bis dahin tiefblaue Golf folgte schleunigst diesem Beispiel. Der Wind blies von Texas und Florida her über das Wasser, hielt der Strömung grimmigen Widerpart und türmte das Meer zu hohen Wellenbergen. Die Seeleute, die sich zu dieser Zeit noch draußen befanden, hatten nichts zu lachen. ***
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Auf der Insel Cuba, etwa hundert Kilometer westlich von Habana, liegt das Dörfchen San Tomas. Es sind zum größten Teil Fischer, die hier wohnen, stämmige Gestalten mit hübschen, von Natur aus braunen Gesichtern, die Meerluft und Sonne noch nachgedunkelt haben. Die Fischer von San Tomäs sind einfache, harmlose Menschen. Ihr Verdienst ist gering, denn Fische sind billig, aber sie haben auch keine großen Bedürfnisse. Wenn das Wetter gut ist, fahren sie morgens mit ihren kleinen Fahrzeugen auf den Golf hinaus, kommen abends mit ihrer Beute zurück und ruhen sich bei einem Glase Zuckerrohrschnaps von den Strapazen des Fischfangs aus. Nun ist wieder einmal der »Norder« da, jener windige Gast aus dem Dollarlande, der so rauhe Manieren hat. Heimtückisch wie er ist, hat er sich plötzlich aufgemacht und viele Fischer draußen auf dem Meer überrascht. Der alte Gonzales, ein Mischling aus Indianer- und Negerblut, der noch immer mit dabei ist, wenn die Boote zum Fang hinausfahren, hat sich ziemlich weit vom Ufer fortgewagt. Nun betet er zu sämtlichen Heiligen, daß sie ihm helfen mögen, noch rechtzeitig nach Hause zu kommen. Gleichzeitig flucht er wie ein Heide, weil ihm so etwas eigentlich gar nicht passieren darf. Er »riecht« doch sonst jedes Unwetter schon einen ganzen Tag vorher. Jetzt schnell das Segel eingezogen, damit es der Sturm nicht zerfetzt, und dann hefßt es rudern. Als er sich gerade in die Riemen legen will, sieht er einen Gegenstand auf dem Wasser schwimmen. Es ist eine kleine Flasche aus farblosem Glas. Hier draußen schwimmt sonst nie etwas herum. Es lohnt sich schon, nach dem Ding zu greifen, um zu sehen, was darin ist. Er braucht sich gar nicht besonders zu bemühen, braucht nur die Hand über dem Bootrand auszustrecken. -207-
Was ist denn das...? Durch das helle Glas schimmert ja ein weißes Stück Papier! Der Alte reibt sich die grauen Stoppeln, die lang und stachlig aus seinem Kinn wachsen. Seine Neugier ist erwacht. Er muß doch sehen, was in dem Papier steckt. Kurz entschlossen haut er die Flasche in Scherben und sieht enttäuscht, daß gar nichts weiter darin ist als nur eben dieses Stück Papier, das auf der einen Seite mit Bleistift beschrieben ist. Eine Flaschenpost also. Was mag darin stehen? Er hält das Schriftstück dicht vor die Augen, kann aber kein Wort entziffern, weil es in einer ihm unverständlichen Sprache abgefaßt ist. Der alte cubanische Fischer ahnt nicht, was er hier in seinen Händen hält. Er weiß nicht, daß hier die Lösung eines Geheimnisses verzeichnet ist, über das sich seit vielen Wochen zahllose Menschen den Kopf zerbrechen. Auf dem Zettel steht: »Die Welt wird raten, darum sag' ihr dies: Walter Mynius war an Bord der ,Alemania'! Er ist nicht wahnsinnig gewesen, er konnte denken und - treffen! Er hat Vanhusen erschossen und ist in den Ozean gesprungen. Sic transit gloria Mundi! W. M.« Der Alte fährt mit dem Finger unter den Zeilen her und sucht vergeblich den Sinn zu erfassen - - da reißt ihm der Sturm das Papier aus der Hand. Er trägt es in weitem Bogen durch die Luft, läßt es niederflattern, wirbelt es abermals ein Stückchen hoch und überläßt es dann den Wogen. »Schade«, murmelt der alte Gonzäles und rudert drauflos. »Es war eine Flaschenpost. Ich hätte sie mitnehmen müssen. Vielleicht stand etwas Wichtiges drin.« *** -208-
Es war ein langer und strenger Winter gewesen. Nun strahlte wieder warmes Sonnenlicht. Der Frühling rieb der Erde den Schlaf aus den Augen und betupfte alles mit jungen Farben. Im Park der Villa Mynius waren Gärtner damit beschäftigt, neue Blumenbeete anzulegen. Thora stand in der Nähe und schaute ihnen zu. Neben ihr lag Tell, der Bernhardiner. Der Hund war nicht auf dem Posten. Er tollte sonst gera herum, war immer zum Spielen aufgelegt und benahm sich gar nicht so würdig, wie es einem Vertreter seiner Rasse eigentlich zukam. Nun ließ er schon lange den Kopf hängen und schien froh zu sein, wenn man ihn nicht beachtete. Vielleicht lag es daran, daß er seinen Herrn vermißte. Mehr als ein halbes Jahr war inzwischen vergangen und Walter Mynius war noch immer nicht zurückgekehrt. Was Thora damals dem Kriminalbeamten gesagt hatte, entsprach nicht der Wahrheit. Sie hatte nie ein Lebenszeichen von ihrem Mana bekommen; der Münchener Brief war eine Erfindung, um die beabsichtigte Vernehmung nach Möglichkeit zu verhindern. Nun war sie seit Monaten allein. Die Tage vergingen träge und ohne zweckvolles Beginnen, die Nächte waren von ihr gefürchtet, weil mit der Dunkelheit auch quälende Gedanken kamen, die ihr den Schlaf verscheuchten. Oft war es so, daß sie zu Tode erschrocken in ihrem Bett auffuhr, weil sie wähnte, ein Geräusch gehört zu haben. Hatte nicht soeben unten jemand die Tür geöffnet, wurde nicht eine Taste auf dem Flügel angeschlagen, ein hoher, wimmernder Ton, der leise verklang? »Nein, er kommt ja nicht zurück!« sagte sie in das tiefe Schweigen und erschrak vor ihrer eigenen Stimme. *** -209-
Eines Morgens läutete das Telefon. Thora fuhr in freudigem Erstaunen zusammen, als sie merkte, mit wem sie sprach. Bruno Vanhusen schien verlegen, die Worte kamen nur zögernd durch den Draht. Er sei schon seit Monaten in Berlin und habe sein Studium wieder aufgenommen. Wie es ihr gehe und was sie treibe. »Komm und sieh nach!« rief sie zurück. Am Nachmittag war er draußen. Auf beiden Seiten war Befangenheit zu überwinden. Sie standen sich erst sekundenlang schweigend gegenüber, bevor sie sich die Hände reichten und die ersten Worte wechselten. Doch dann saßen sie bald zusammen und tranken Tee wie damals, als Thora ihn verwirrt und durchnäßt draußen im Park gefunden hatte. Sie sprachen vom Ozeanflug, von dem rätselhaften Tod Herberts und dem abenteuerlichen Ende Peter Kramms. »Ich glaube nicht«, sagte Thora, »daß die Polizei diesen Fall jemals aufklären wird.« »Hast du einen bestimmten Verdacht?« »Er ist unbestimmt wie jede Vermutung über das Schicksal, das meinen Mann betroffen hat. Du weißt doch, daß er einige Tage vor dem Ozeanflug auf Reisen gegangen und bis jetzt noch nicht zurückgekehrt ist.« Bruno wußte es nicht. Er wartete gespannt darauf, daß sie weitersprechen würde, doch sie blickte an ihm vorbei und schwieg. Plötzlich sprang sie auf, ihre Augen weiteten sich, als spähten sie angestrengt in die Ferne. »Begreifst du das nicht?«, rief sie verstort. »Er hat ihn doch erschossen! Es gibt ja keine andere Erklärung!« Bruno Vanhusen saß da wie versteinert. Erst allmählich löste sich der starre Zug in seinem Gesicht. Er erhob sich und schritt langsam zum Fenster. Im -210-
Vorübergehen streifte er wie zufällig Thoras Hand. Im Park blühte ein alter Kastanienbaum. Ein toller Wind brauste durch die Äste und Zweige und bestreute die Wege und Rasen mit unzähligen Blüten. Alles kann er nicht abreißen, ging es Vanhusen durch den Kopf, viele werden auch Früchte. Es wird schon System darin liegen.
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