NICHOLAS MONSARRAT
Grausamer Atlantik
ROMAN
EDUARD KAISER VERLAG
Die Männer an Bord der Korvette H. M. S. Compass Ro...
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NICHOLAS MONSARRAT
Grausamer Atlantik
ROMAN
EDUARD KAISER VERLAG
Die Männer an Bord der Korvette H. M. S. Compass Rose, deren Aufgabe es ist, die Geleitzüge auf ihren gefahrvollen Fahrten über den Atlantik zu schützen, sind aus allen Bevölkerungsschichten zusammengewürfelt. Obwohl sie alle zusammen nur als ein namenloser Verband von Seeleuten wirken, die der gleichen Gefahr, dem gleichen Schicksal unterworfen sind, bleiben sie dennoch unverwechselbare Charaktere. Wie sie sich einfügen in diese Männergemeinschaft, wie Freundschaften entstehen und tiefe Abneigung nicht zu verbergen ist, wie sie aufeinander angewiesen sind und füreinander einstehen müssen, wie sie gegen die Tücken der See und gegen die feindlichen Angriffe bestehen, das schildert Nicholas Monsarrat in diesem fesselnden Buch, dessen „Stars" eben diese Männer sind. Die wahren Helden dieser Geschichte aber sind die Schiffe, und der Schurke ist der grausame Atlantik selbst.
Digitale Version von Kaahaari und Balk der Spinner 1
Titel der englischen Originalausgabe THE CRUEL SEA bei Cassel & Co. Ltd. London 1951 Ins Deutsche übertragen von Dr. Arno Dohm Buchausstattung Werner Lössl TO PHILIPPA CROSBY Copyright © Nicholas Monsarrat 1951 Lizenzausgabe mit Genehmigung des Autors Druck M. Theiss, Wolfsberg
VOR DEM VORHANG Dieses ist die Geschichte – die lange und wahre Geschichte – von einem Ozean, zwei Schiffen und ungefähr hundertundfünfzig Männern. Es ist eine lange Geschichte, weil sie von einem langen und grausamen Kampf handelt, dem schlimmsten aller Kriege. Sie enthält zwei Schiffe, weil das eine versenkt wurde und ersetzt werden mußte. Sie spricht von hundertundfünfzig Männern, weil diese Zahl sich noch eben im Rahmen einer Geschichte halten läßt. Vor allem aber ist es eine wahre Geschichte, weil nur solche des Erzählens wert sind. Zunächst: der Ozean, der riesige atlantische Strom. Die Karte wird dem Leser zeigen, wie er aussieht: dreieckig, dreitausend Meilen im Durchmesser und tausend Faden tief; begrenzt durch die Küste von Europa und halb Afrika und den gewaltigen Kontinent Amerika auf der anderen Seite: oben breit offen wie ein Sektglas, und unten trichterförmig wie ein städtischer Abfalleimer. Was die Karte aber nicht erzählt, ist die Wucht und die Wut dieses Ozeans, seine Laune, seine Gewalttätigkeit, seine linde Luft, seine Tücke: was Menschen mit ihm anzufangen vermögen und was er mit den Menschen tut. Aber das wird Ihnen alles diese Geschichte sagen. Alsdann das Schiff: das erste der beiden, das zum Untergang verurteilt war. Anfangs scheint es noch fern von seinem Verderben: es ist neu, noch unerprobt, und liegt in einem Fluß, der nicht nach Salzwasser riecht, wo es auf die Männer wartet, die es mit hinausnehmen soll. Es ist eine Korvette, ein neuer Typ des Geleitfahrzeugs, noch ein Versuch, um einer sich erst ankündigenden kritischen Situation zu begegnen. Die Korvette ist nagelneu, es ist November 1939, der Name des Schiffes lautet H.M.S. Compass Rose. Und schließlich die Männer. Die hundertundfünfzig Mann. Sie kommen zu zweien oder dreien auf unsere Bühne: ein paar schon früh, andere später, und manche sind, wie ihr schönes Schiff, dem Verderben geweiht. Wenn sie alle beisammen sind, wirken sie als Verband von Seeleuten. Aber sie haben auch Frauen, mindestens hundertfünfzig Frauen, die sie lieben oder an die sie gebunden sind, oder Frauen, die sie nur zu gern zurücklassen, als sie in den Krieg ziehen. Dennoch sind die Männer die ›Stars‹ dieser Geschichte, ihre wahren Helden die Schiffe, und der Schurke ist die grausame See selbst. Alle Personen in diesem Buch sind frei erfunden. Falls ich versehentlich die Namen der Männer benutzt habe, die tatsächlich während des Krieges auf dem Atlantik eingesetzt waren, dann entschuldige ich mich hiermit bei ihnen. 3
Wo ich wirklich kriegsmäßige Ernennungen erwähnt habe, wie zum Beispiel einen Seebefehlshaber in Liverpool oder Glasgow, haben die geschilderten Persönlichkeiten keinerlei Beziehung zu den Trägern dieser Funktionen in jener Zeit. Und falls da eine freiwillige Marinehelferin im Jahre 1942 die Position des S.O.O. 2 beim Stabe der Station Clyde innegehabt hat, dann ist sie nicht mein ›Zweiter Stabsoffizier Hallam‹. Und vor allem ist mein Leitender Admiral des Ausbildungshafens ›Ardnacraish‹ nicht gedacht als Porträt des energischen Offiziers, der eine ähnliche Aufgabe im Kommando der ›Western Approaches‹ so wirksam erfüllt hat.
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I 1939 SCHULUNG Kapitänleutnant George Eastwood Ericson, R.N.R. saß in der eiskalten, zugigen Wellblechbaracke beim Ausrüstungskai der Schiffswerft Fleming am Clyde. Ericson war groß, breit und kräftig; eine Vertrauen erweckende Erscheinung, die man so leicht nicht vergaß. Er war zwei- oder dreiundvierzig, hatte blondes, leicht angegrautes Haar und blaue Augen, die waagerecht standen wie mit dem Lineal ausgerichtet. In den Augen winkeln saßen Fältchen, geprägt von Humor und dem angestrengten Blick auf tausend Horizonte, die er in zwanzig Seefahrtsjahren beobachtet hatte. Jetzt waren diese Fältchen noch durch ein paar senkrechte Stirnfalten vermehrt. Es waren keine Sorgenfalten, denn persönlichen Kummer ließ Ericson sich nach außen nie anmerken. Die finstere Stirn war ein Ausdruck starker Konzentration, ein Zeichen, daß er sich mit einem Problem beschäftigte. Auf dem Schreibtisch vor ihm lag ein schmuddliges, schon von vielen blätternden Fingern gezeichnetes Aktenstück mit der Aufschrift »Position Nr. 2891: Bewegliche Vorräte«. Blickte Ericson durchs Fenster über die Pier, dann fiel sein sachlich prüfendes Auge genau auf ein Schiff: ein ruppig aussehendes, graues, mit roten Mennigklecksen gesprenkeltes Fahrzeug, auf das die Niethämmer prasselten und auf dem Haufen von Sägespänen, Putzwollefetzen und leeren Farbkanistern herumlagen. Dem Aktenstück und dem Schiff galten die Furchen auf Ericsons Stirn in gleicher Weise, denn es war sein Schiff: er hatte den Auftrag, H.M.S. Compass Rose in Dienst zu stellen und in See zu führen – eine Vorstellung, die ihm noch nicht ganz in den Kopf wollte. Seine Abneigung und auch gewisse Zweifel hatten vielerlei Gründe, um die er sich sonst kaum Sorgen gemacht hätte. Mit dem Namen des Schiffes jedenfalls hatten sie nichts zu tun, denn wer zwei Jahrzehnte zur See gefahren war, bei der Royal Navy und nachher bei der Handelsmarine, dem sind schon die absonderlichsten Schiffsnamen der Welt begegnet. Den schwerfälligsten, an den er sich erinnerte, trug ein französischer Trampdampfer: ›Marie Josephe Brimonar de la Tour du Pin‹, und den komischsten ein Kohlendampfer von der britischen Ostküste: Jolly Nights’ – Lustige Nächte! Nein, Compass Rose war nichts Ausgefallenes: ein Blumenname, weil das Schiff zu den Korvetten der neuen Blumenklasse gehörte. Und wenn die Marine sich sogar – Ericson mußte lächeln – zu Na5
men wie Pansy, Stinkwort und Love-in-the-mist verstieg, brauchte bei Compass Rose niemand stutzig zu werden. Aber das war unwesentlich. Der tiefere Grund seiner Unruhe lag wohl in dieser besonderen historischen Stunde: dem Beginn eines Krieges. Im ersten Weltkrieg war er noch zu jung gewesen, um ernstlich in den Kampf verwickelt zu werden. Und jetzt fragte er sich insgeheim, ob er nicht schon zu alt sei, um in der zweiten Runde desselben Ringens eine bemerkenswerte Rolle zu spielen. Im Augenblick hatte er eine neue Aufgabe, für die er verantwortlich war: ein neues Schiff und eine neue Besatzung. Theoretisch war er auf all das stolz, aber die graue Wirklichkeit ließ ihn zweifeln, ob er den kommenden Anforderungen auch ganz gewachsen sein würde. Das Gefühl, nicht mehr in der Übung zu sein, beunruhigte ihn stark. Die Marine hatte ihn 1927 nach zehnjährigem Dienst abgebaut. Zwei harte Jahre hatte er dann wie ein Wrack auf Strand gesessen, die folgenden zehn war er auf Dampfern einer Fernost-Linie gefahren und dabei glücklich gewesen, angesichts der Wirtschaftskrise und des Verfalls des britischen Seewesens überhaupt noch zur See fahren zu können. Er liebte die See, allerdings nicht blind, sondern zynisch: wie eine Geliebte, der man zutiefst mißtraut, ohne sie entbehren zu können. Bei der Fernost-Linie ging es rücksichtslos zu: Beförderungen kamen nur langsam, und ständig drohte wie ein Damoklesschwert die Abmusterung. In den zehn Jahren hatte er nur einmal ein selbständiges Kommando gehabt: einen alten Frachter von zweitausend Tonnen, der sich in der holländischen Ostindienfahrt nach und nach kaputt stampfte. Das war keine gute Vorbereitung für ein Kriegskommando. Nun saß er hier – die Kapitänleutnantsuniform kam ihm fast wie eine Maskerade vor – und hatte ein Schiff Seiner Majestät in Dienst zu stellen, eine Besatzung von achtundachtzig Köpfen zu befehligen und hunderterlei Marinegebräuche neu zu lernen, ganz zu schweigen davon, daß er das Schiff in den Kampf führen und als Waffe gebrauchen sollte. Ein Kampfschiff – . Er hob den Blick von den Vorratslisten, die er genau nachprüfen mußte wie ein Kontorlehrling, und betrachtete wieder die Compass Rose. Ein eigenartiges Schiff, das von allen bekannten Typen abwich, auch wenn man ihre Entstellung durch die Werftarbeit außer acht ließ. Sie war einundsechzig Meter lang, verhältnismäßig breit und klobig, einzig und allein zur Abwehr von Unterseebooten gebaut und eigentlich nur ein Ponton für Wasserbomben, Prototyp einer Schiffsklasse, die fortan rasch und billig hergestellt werden konnte, um dem dringenden Bedarf für den Geleitschutz zu genügen. Ihr Mast war, entgegen den Gepflogenheiten des Kriegsschiffsbaus, nicht hinter, sondern hart vor die Brücke gesetzt, und ein kurzer dicker Schornstein stand dicht hinter der Brücke. Das hohe Vorschiff trug als Armierung nur eine Zehnzentimeterkanone, die der 6
Geschützführer eben richtete und überprüfte. Die Wasserbombenreling zog sich um ein Heck vom Walfängertyp, das scheußlich anzusehen, aber auf See von großem praktischem Wert war. Ericson kannte sich in Schiffen aus und vermochte zu beurteilen, wie diese Compass Rose sich in See benehmen würde: im Sommer ein Brutkasten – denn es gab weder Lüftung noch eine Kühlanlage – und zu allen anderen Jahreszeiten kalt, naß und höchst ungemütlich. Bei normalem Seegang schon ein ungefügter Bastard, tanzte sie in einem vollen atlantischen Sturm wahrscheinlich wie ein Stückchen Holz. Mehr ließ sich von ihr vorläufig nicht sagen – außer: daß sie nun ihm unterstand und er sie ungeachtet ihrer Nachteile und Unvollkommenheiten betriebsklar und kampffähig machen mußte. Über die Besatzung zerbrach er sich weniger den Kopf. Die bei der Royal Navy einmal erlernte Disziplin und Befehlsordnung gingen einem so leicht nicht verloren. Ericson wußte, daß er über beides noch verfügte. Ließ sich alles normal an, dann würde er schon mit der Mannschaft fertigwerden und sich Respekt verschaffen, vorausgesetzt, er schätzte sich selbst nie falsch ein. Die Schwierigkeit lag am ehesten an dem ›Material‹, das er zu bearbeiten bekam: in einer Marine, die so schnell vergrößert wurde, konnten rasch zusammengewürfelte Besatzungen eigentlich nie homogen sein. Ein Dutzend ausgebildeter Spezialisten hatte er schon an Bord, wo sie ihre Abteilungen übernahmen: Geschütze, Wasserbomben, Unterwasserhorchgerät, Funkanlage, Signalausrüstung und Maschinen. Sie waren als Kern des Ganzen zufriedenstellend, aber bei der weiteren Besatzung mußte er mit allem rechnen: mit abgebrühten, eben aus dem Straflager entlassenen Obermatrosen und ganz unerfahrenen, ›nur für den Kriegsfall‹ eingezogenen Bauernjungen, die frisch vom Acker kamen. Und seine Offiziere? Ein Erster Wachoffizier und zwei Leutnants, die aus dem, was er mit dem Schiff vorhatte, Hackfleisch machen konnten… Ericson zog wieder die Brauen zusammen, dann glättete sich seine Stirn. Zweifel hin, Zweifel her – er durfte sie nicht spüren lassen, das war eine Grundregel. Er war Seemann, und dies war eine seemännische Aufgabe, wenn es ihm im Augenblick auch nicht so vorkam. Wieder über den Schreibtisch gebeugt, wünschte er nur, dem ›Papierkram‹ mehr Geschmack abgewinnen und – sich auf seinen I.W.O. zu dessen Pflichten eigentlich auch die Bearbeitung dieser Akten gehörte, mehr verlassen zu können. Oberleutnant James Bennett, R.A.N.V.R. Erster Wachoffizier auf H.M.S. Compass Rose, stelzte über das mit Werftmaterial beladene Oberdeck, als sei das Schiff bis zum letzten Niet sein Eigentum. Tallow, der Bootsmann, folgte ihm in wenig respektvollem, sehr weitem Abstand. Bennett sah verwegen aus. Das wußte er, und genoß den Gedanken. Seine ganze Erscheinung: das 7
rote Gesicht, die stämmige Figur, die auffallend schief getragene Mütze, alles betonte eindeutig den waschechten Seemann. Das war der Eindruck, den er selbst von sich hatte, und so hoffte er, mit einigem Glück durch den Krieg zu kommen. Seine jetzige Position hatte er diesem Eindruck und ein paar schneidigen Redensarten vor einer Prüfungskommission zu verdanken, die noch Wichtigeres zu erledigen hatte als den Angaben über seine früheren Leistungen haargenau nachzugehen. Er war bei Kriegsausbruch zufällig in England gewesen statt in dem Schifffahrtsbüro in Sidney, bei dem er angestellt war. Seinen Dienst bei der Freiwilligen Marinereserve in Australien konnte er nachweisen, das Weitere war leicht gewesen: ein Kursus in Unterseeboots-Abwehr, eine Besprechung in London und dann: die Kommandierung als Erster Wachoffizier auf die Compass Rose. Es war nicht ganz das, was er sich erträumt hatte – schon allein die viele schriftliche Arbeit! Die konnte er freilich auf die Leutnants abwälzen, sobald sie da waren. Na, bis sich Besseres bot, mochte diese Stellung angehen. Solange jedenfalls blieb er I.W.O. auf diesem kleinen ulkigen Kahn, und das sollte sich jeder hinter die Ohren schreiben! »Bootsmann!« »Sir?« Er stand neben dem Zehnzentimetergeschütz und wartete, bis Tallow bei ihm war. Das dauerte ein Weilchen, denn Tallow – er war siebzehn Jahre bei der Marine, trug drei Winkel und stand kurz vor der Beförderung zum Oberbootsmann – war verstimmt. Für diesen Job hatte er sich nun freiwillig gemeldet! So ein kümmerlicher Schmarren von Boot anstatt ein ordentliches Schiff – er kam vom Schlachtschiff Repulse – ein I.W.O. wie aus dem Film, und Gott mochte wissen, was für ein Verein da nächste Woche als Besatzung antanzte! Aber Tallow war, wie der Kommandant, ein Produkt der Royal Navy, und das hieß in erster Linie, daß man sich mit den gegebenen Verhältnissen und den gestellten Aufgaben abfand. Nur ganz durch die Blume – und ohne je gegen die Disziplin zu verstoßen – pflegte er anzudeuten, daß er an so einen Betrieb nicht gewöhnt sei. Als Tallow vor ihm stand, sagte Bennett streng: »Dieser Mann hier« – er wies auf den am Geschütz beschäftigten Matrosen – »raucht im Dienst.« Tallow unterdrückte einen Seufzer. »Yes Sir. Es ist aber noch kein normaler Dienstbetrieb.« »Wer sagt das?« Der Seemann, um den es sich drehte, hatte seine Zigarette unauffällig verschwinden lassen und widmete sich sehr angelegentlich seiner Aufgabe. Tallow nahm noch einen Anlauf: »Ich hatte damit warten wollen, bis wir die volle Besatzung an Bord haben, Sir.« 8
»Da gibt’s keine Unterschiede«, sagte Bennett schroff. »Geraucht werden darf nur in der Freizeit, verstanden?« »Aye, aye, Sir.« »Merken Sie sich das!« ›Herrjeh, was mag Australien bloß für ein Land sein‹, dachte Tallow. Während er dem I.W.O. weiter auf seinem Rundgang folgte, wurde er noch resignierter. Dieser Kerl war ein Angeber, und die beiden anderen Offiziere waren unbefahrene Leutnants – er hatte schon einen Blick in die Besatzungsliste werfen können –. Abgesehen vom Kommandanten, der ja o. k. war, sah es aus, als ob man ihm das verdammte Schiff ganz allein aufgehalst hätte. Die Tür der Werftbaracke flog auf, heftig fegte der Wind hinein. Der Kommandant sah auf und drehte sich im Stuhl um. »Herein«, sagte er, »und schließen Sie die Tür ganz fest.« Die beiden jungen Männer, die vor ihm standen, waren äußerlich starke Gegensätze, obgleich ihre Uniformen mit dem einzigen Ärmelstreifen ihnen eine oberflächliche Ähnlichkeit gaben. Der ältere von ihnen war groß, schwarzhaarig, hatte ein schmales Gesicht und einen aufmerksam prüfenden Blick: als taste er die Lage ab, die sich in Kürze klären mußte wie schon hundert andere Situationen, in die er sich mit Verstand und Umsicht hineingefunden hatte. Der andere wirkte farbloser: klein, blond, unreif, ein sehr junger Mensch, der noch unsicher war, ob er der Auszeichnung seiner stolzen Uniform auch würdig sei. Ericson, der sie musterte, fand, daß sie fast wie Vater und Sohn wirkten, und dabei betrug ihr Altersunterschied höchstens fünf oder sechs Jahre… Er wartete, bis einer das Wort ergriff, und wußte im voraus, welcher. Der ältere legte die Hand an die Mütze und sagte: »Melden uns auf Compass Rose kommandiert, Sir«, indem er Ericson einen Papierstreifen gab, den dieser flüchtig ansah. »Sie sind Lockhart?« »Yes, Sir.« »Und Sie also Ferraby?« »Yes, Sir.« »Erstes Schiff?« »Yes, Sir«, antwortete Lockhart als der gegebene Sprecher. »Wir sind eben vom King Alfred heraufgekommen.« »Wie lange waren Sie in Ausbildung?« »Fünf Wochen.« »Und nun können Sie alles, wie?« Lockhart grinste. »No, Sir.« »Na, immerhin etwas.« 9
Ericson betrachtete die zwei genauer. Sehr flott angezogen, alles erste Garnitur, so daß sie aussahen wie Modelle aus dem ›Diensthandbuch der Marine‹. Die Kleidungsfrage war auf ihrer langen Reise von der Südküste zum Clyde ein wichtiges Thema gewesen: weil auf ihren Marschbefehlen stand ›Meldung beim Aufsichtführenden Admiral Kontraktschiffbau‹, hatten sie es für taktisch klug gehalten, sich bestens anzuziehen. Das blaue Arbeitsjackett des Kommandanten mit der verblichenen Goldborte sah fast theaterhaft schäbig dagegen aus. Nach einer Pause fragte Ericson: »Was ist Ihr Zivilberuf?« »Journalist«, antwortete Lockhart. Der Kommandant lächelte und wies mit einer Handbewegung auf die Umgebung hin. »Und, wieso kommen Sie zur Marine?« »Ich habe viel gesegelt, Sir.« »Hm.« Er faßte Ferraby ins Auge. »Und wie steht’s mit Ihnen?« »Ich war in einer Bank tätig, Sir.« »Schon mal zur See gefahren?« »Nur eine Überfahrt nach Frankreich, Sir.« »Na, vielleicht wird Ihnen das von Nutzen sein… Also gut: sehen Sie sich das Schiff an und melden Sie sich dann beim I.W.O. Der ist irgendwo an Bord. Wo haben Sie Ihr Gepäck?« »Im Hotel, Sir.« »Da kann es noch eine Weile bleiben – wir werden erst in ungefähr acht Tagen einsteigen.« Mit kurzem Kopfnicken wandte sich Ericson wieder seinem Schreibtisch zu. Die beiden jungen Männer machten eine Ehrenbezeugung; ein bißchen unsicher steuerten sie zur Tür. Als Ferraby sie öffnete, sagte der Kommandant über die Schulter: »Das nächste Mal grüßen Sie mich in einem geschlossenen Raum nicht militärisch, wenn ich keine Mütze trage, sondern nehmen, wie Sie’s gelernt haben, beim Eintreten Ihre Mützen ab.« »Verzeihung, Sir«, sagte Lockhart. »Lebenswichtig ist das nicht gerade«, ergänzte Ericson in einem Ton, aus dem sie Freundlichkeit spürten, »aber besser, Sie machen es von Anfang an richtig.« Als sie gegangen waren, grübelte er eine Weile, bevor er sich erneut an die Schreibarbeit machte. Journalist, Bankangestellter, – Reise nach Frankreich – Sportsegelei – sehr seemännisch klang das nicht. Aber guten Willen schienen sie mitzubringen, und der ältere, der Lockhart, hatte offenbar gesunden Verstand. Damit konnte man in See viel ausrichten. Ohne ihn allerdings verflixt wenig… Er nahm wieder den Bleistift zur Hand. Lockhart und Ferraby gingen über die Pier und blieben in der Nähe des Schiffes stehen, um es zu betrachten. Sie sahen es mit verschiedenen Augen. Lockhart vermochte Linienführung und Bauart einigermaßen zu beurteilen, 10
während für Ferraby das Schiff in jeder Beziehung etwas völlig Neues war, was ihn ziemlich bekümmerte. Er war erst seit sechs Wochen verheiratet. Beim Abschied vor zwei Tagen hatte er seiner Frau nochmals eingestanden, wie unsicher er sich vor den übernommenen Pflichten fühlte. »Aber Liebling«, hatte sie mit ihrem verliebten Lächeln gesagt, das er so rührend schön fand, »du kannst doch alles. Ich weiß, daß du’s kannst. Sieh doch, wie glücklich du mich gemacht hast!« Das war zwar unlogisch, aber trotzdem tröstlich. Und so ähnlich war alles in ihrer Ehe. Sie hatten eben erst die Schüchternheit voreinander überwunden und fanden diesen Zustand aufregend schön. Ferraby hatte von einer jungen Frau Abschied genommen, Lockhart von nichts und niemandem. Er hatte dem Kommandanten geantwortet Journalist, ohne sich zu diesem Titel ganz berechtigt zu fühlen. Siebenundzwanzig war er jetzt: sechs Jahre hatte er sich als freier Mitarbeiter im Zeitungsviertel um Fleet Street ein Auskommen zusammengekratzt. Gelernt hatte er viel dabei, aber die Arbeit hatte ihm kein Quentchen Sicherheit und keine einzige sorgenfreie Stunde beschert. Er wußte auch nicht recht, ob das für ihn das richtige Leben war. Bindungen hatte er nicht, seine Eltern waren tot. Die einzige Frau, von der er sich verabschiedete, als er im kalten Londoner Morgendämmer aus dem Bett und in die Uniform stieg, hatte gesagt: »Warum haben wir das eigentlich nicht schon früher getan?« So war sein ganzes bisheriges Leben gewesen: unsicher, unbeständig, abhängig von stets wechselnden Interessen und Neigungen. Er hatte sich gemeldet, weil es Krieg gab; zur Marine, weil er von Schiffen – zumindest von kleinen – und von der Navigation etwas verstand. Jetzt fühlte er sich glücklich und frei, denn er traute sich einiges zu. Und die veränderte Umgebung gefiel ihm. Ferraby, der nach oben zeigte, fragte ihn: »Was ist das für eine Drahtgeschichte da am Mast?« »Eine besondere Funkeinrichtung, glaube ich. Laß uns jetzt an Bord gehen.« Sie schritten über die dicken Laufplanken und sprangen aufs Deck hinab, das noch Spuren von Rauhreif trug. Hunderterlei Dinge lagen herum: Ölfässer, Werkzeugkästen, Schweißapparate, Ausrüstungsstücke. An zehn, zwölf Stellen wurde gehämmert, oben im Bug machte eine Nietmaschine gewaltigen Lärm. Lockhart ging voraus zum Achterdeck, wo sie die Wasserbombenanlage betrachteten: sie entsprach genau dem Modell im Ausbildungslager. Dann gingen sie unter Deck und befanden sich sogleich zwischen den Kajütsräumen. Kammern gab es nur zwei, die einbettige trug ein Schild ›I.W.O.‹. Ferner eine winzige Messe. Das Ganze war furchtbar eng und hatte viele unbequeme Ecken und Winkel. »Hier wird’s ja verdammt voll werden«, sagte Lockhart sofort. »Wir müs11
sen wohl in der einen Kammer zusammen wohnen.« »Ich bin nur gespannt, wie der I.W.O. ist«, sagte Ferraby mit einem Blick auf das Türschild. »Das spielt keine Rolle – wir werden mit ihm auskommen müssen. Er kann sehr viel aus dem Schiff machen oder es ruinieren, ganz unabhängig von uns.« »Wieso?« »Indem er sich übel benimmt oder tadellos – wie er eben Lust hat.« »Oh – Der Kommandant gefiel mir aber.« »Und er mag dich leiden. Ja, der ist in Ordnung. Weißt du: wenn Reservisten gut sind, dann sind sie es auch in jeder Beziehung.« »Viele mögen uns aber nicht.« »Uns?« »Die Freiwillige Reserve.« Lockhart lächelte: »Warte nur, in zwei Jahren sind wir dran mit dem Vorschlagen und Auswählen… Zerbrich dir nicht den Kopf über die Reservefreiwilligen, mein Sohn. Letzten Endes wird dies unser Krieg sein, denn nur so werden sie die vielen Schiffe bemannen können.« »Du meinst, daß wir tatsächlich mal Kommandos bekommen?« Lockhart nickte zerstreut. Er musterte die Pantry neben der Messe, die unglaublich klein war. Da rief eine heisere Stimme über ihren Köpfen: »Sie da unten!« so laut, daß die leere Messe dröhnte. »Was für ein grober Kerl«, sagte Lockhart. Nach einer Weile wurde der Ruf in schärferer Tonart wiederholt. »Meint der uns?« fragte Ferraby unruhig. »Ich fürchte, ja.« Lockhart trat an den Fuß der Treppe und blickte nach oben. »Bitte?« Das rote Gesicht an Skylight flößte keine guten Gefühle ein. Bennett starrte finster auf ihn herab. »Warum, zum Donnerwetter, verstecken Sie sich da unten?« »Das tue ich gar nicht«, erwiderte Lockhart. »Ist Ihnen nicht gesagt worden, daß Sie sich bei mir zu melden haben, was?« »Nachdem wir uns das Schiff angesehen haben – jawohl.« »Sir!!« fuhr ihn Bennett ganz grob an. »Sir«, wiederholte Lockhart. Er konnte Ferrabys verängstigtes Gesicht hinter sich spüren. »Ist der andere Leutnant etwa auch da unten?« »Yes, Sir. Wir wußten nicht, daß Sie an Bord sind.« »Stellen Sie sich bei mir nur nicht wie ein Greenhorn an«, sagte Bennett 12
finster. »Kommen Sie ‘rauf jetzt, aber ein bißchen schnell!« Als ihm die beiden oben vor dem Niedergang gegenüberstanden, musterte er sie streng mit gefurchter Stirn. Mit seinem rauhen australischen Akzent sagte er scharf: »Es ist Ihre Sache, festzustellen, wo ich mich befinde. Ihre Namen?« »Lockhart.« »Ferraby.« »Seit wann sind Sie ernannt?« »Seit einer Woche«, antwortete Lockhart. Und fügte hinzu: »Zunächst außerplanmäßig.« »Das erkennt ein Blinder«, sagte Bennett in unsympathischem Ton. »Sticht ja bei Ihnen hervor wie – « Er lächelte zweideutig. »Schon mal zur See gefahren?« »In kleinen Booten«, sagte Lockhart. »Ich meine nicht, so in Jachten herum….« »Dann also noch nicht.« Bennett wandte sich an Ferraby: »Und Sie?« »No, Sir.« »Ist ja herrlich! Wer von Ihnen ist der Dienstältere?« »Wir haben zusammen die Prüfung bestanden«, sagte Lockhart. »Herrgott, das weiß ich! Aber einer ist doch dienstälter und steht entsprechend in der Rangliste.« »Wir stehen bis jetzt noch nicht in der Liste.« Bennett bemerkte, daß Lockhart ihn fest anblickte und abschätzte. Das mißfiel ihm. »Sie sind! überhaupt noch nicht aus dem Ei gekrochen, wenn man Sie so hört!« Lockhart erwiderte nichts. »Na, dann wollen wir lieber mal feststellen, was Sie können«, sagte Bennett nach kurzem Schweigen. »Sind Sie schon durchs Schiff gegangen?« »Jawohl.« »Wieviel Feuerlöschanschlüsse sind an Bord?« »Vierzehn, Sir«, antwortete Lockhart prompt. Er hatte keine Ahnung, ob das stimmte, war aber überzeugt, daß Bennett selbst es nicht wußte. Falls er es später kontrollierte, ließ sich schon eine Ausrede finden. »Sehr gut«, sagte Bennett und fragte Ferraby: »Was für ein Geschütz, führen wir?« »Zehnzentimeter«, antwortete Ferraby nach einigem Überlegen. »Zehnzentimeter was?« rief Bennett grob. »Hinterlader? Schnellfeuer? Mark IV? Mark VI? Einheitsmunition oder was sonst!?« »Zehnzentimeter – ich weiß nicht«, gab Ferraby kläglich zurück. »Stellen Sie’s fest«, fauchte Bennett. »Sobald Sie mir wieder über den Weg laufen, frage ich Sie danach. Und nun begeben Sie sich beide wieder in die Baracke und fangen mit der Kontrolle der G-Sachen an, klar?« 13
»Yes, Sir«, erwiderte Lockhart. Er wandte sich zum Gehen, Ferraby gleichfalls. »Grüßen!« rief Bennett. Sie legten die Hand an die Mütze. »Hier an Bord bin ich I.W.O. das merken Sie sich gefälligst!« schloß Bennett. »Ein liebenswerter Charakter«, sagte Lockhart unterwegs. »Ich sehe schon: der Kerl wird uns anständig die Hölle heiß machen. Aber ich hoffe, er wird auch selbst ganz schön dabei schmoren.« »Was mögen denn G-Sachen sein?« fragte Ferraby kleinlaut. »Geheimsachen.« »Und weshalb sagt er das nicht?« »Er hatte seinen Grund.« »Wieso? Was für einen?« Lockhart lächelte. »Es ist das Verfahren des impressement.« »Französisch?« »Ja. Die Franzosen sagen das feiner. Ordinär ausgedrückt heißt es ›Bluff besiegt Grips‹. Ich muß sagen: der versteht sich darauf!« »So hatte ich es hier nicht erwartet«, sagte Ferraby. »Hier an Bord sind Sie bloß kleiner Leutnant, das merken Sie sich gefälligst!« imitierte Lockhart ganz vorzüglich. »Aber wer von uns ist denn nun der Dienstältere?« »Ich glaube, am besten ich wohl.« Mit Anbruch der Dunkelheit kehrte auf der Compass Rose wohltuende Ruhe ein. Das lärmende Gehämmer, das Hin- und Herhasten hörte auf, der letzte Arbeiter eilte über den Laufsteg zur wartenden Straßenbahn. Es war noch nicht die Zeit, da in Nachtschichten pausenlos weitergearbeitet wurde. Der einsame Schiffswächter, der sich auf dem Achterdeck unter einem Segeltuch zusammenkauerte, schimpfte über die kalte Brise, die ihm den Holzkohlenrauch aus seinem Wärmebecken in die Augen blies. Das Schiff wiegte sich sanft in der schwachen Flußströmung, groteske Schatten fielen auf das Deck, bewegten sich und erstarrten wieder. Der ganze ungeheure Betrieb der ›Clydeside‹ verebbte vollkommen, löste sich auf, als sei er unwichtig für den Krieg. An den Ufern des Flusses lagen die halb fertigen Schiffe, verlassen waren die Werften, und starr ragten die untätigen Kräne gegen einen geisterhaften Himmel. Ein Tag ging zu Ende, der nicht besser und nicht schlechter gewesen war als die anderen Tage: die Schiffe waren ihrer Fertigstellung, die Arbeiten dem Abschluß ein wenig näher – andere Arbeiten würden sie ablösen in endloser Folge und mehr Geduld erfordern als handwerkliches Können, vor allem aber Ausdauer. Der Clyde hatte schon einmal solche Leistungen vollbracht und tat es jetzt, 1939, 14
wieder, selbstverständlich und unheroisch. Diesmal stand man erst am Anfang. Zu Beginn einer sechs Jahre dauernden Kraftanspannung kannte man noch Erholungspausen und hatte nachts Ruhe zum Schlafen. Der Nachtwächter, ein alter Rentner, kratzte sich brummend den Kopf und verfiel in Halbschlaf. Er hatte seinen Krieg hinter sich, – den vorigen – jetzt waren andere an der Reihe. Er wünschte ihnen alles Gute, aber man sollte nicht von jedem Wunder erwarten! Wunder vollbringen mochten die Jungen, für die Alten war es keine Schande, wenn sie ausruhten und sich das richtige Maß Schlaf gönnten. In einer Kneipe im belebtesten Teil der Argyll Street, unweit vom Bahnhof, saßen Bootsmann Tallow und der Leitende Ingenieur, Obermaschinist Watts, beim Bier. Schon seit acht Uhr abends saßen sie da, und jeder hatte sieben halbe Liter getrunken, ohne daß ihnen in Sprache oder Haltung etwas anzumerken war. Höchstens, daß Tallow zu schwitzen anfing und Watts dicke Augen bekam. Sie saßen dort eigentlich nur, weil sie jetzt nichts Besseres zu tun hatten, – fürs Kino konnten sie sich nicht begeistern, und ihr Zimmer an Land war schmutzig und unbehaglich – aber auch weil das Lokal ihnen gefiel und sie sich dort allmählich wie zu Hause fühlten. An der Bar herrschte großer Spektakel. Die beiden unterhielten sich gedämpft. Obwohl sie seit acht geknurrt und getrunken hatten, war ihre Stimmung davon nicht besser geworden. »Das Schiff hat keinen guten Stern, das laß dir gesagt sein.« Watts war Schotte, grauhaarig, kahl. Er hatte seine Dienstzeit bei der Marine fast ›herum‹. Seine breite schottische Sprache und der vollmundige LancashireDialekt des Bootsmanns mischten sich in rauher Harmonie. »Die Vorzeichen sind ungünstig. Will nicht behaupten, daß der Alte nicht o. k. ist, aber der I.W.O. taugt nichts. Heute abend war er noch bei mir in der Maschine und meckerte über unsere Wacheinteilung, und dabei hatte ich die verdammte Hauptwelle noch offen liegen. Mensch, je eher ich meinen Abschied kriege und mich auf meine Pension setzen kann, um so besser.« »Abschied gibt’s aber nicht, solange der Krieg dauert«, sagte Tallow, nahm einen Zug aus dem Henkelglas und wischte sich den Mund. »Wenn du erst warm geworden bist, sitzt du drin, bis es zu Ende ist.« »Na, dann gibt’s ja noch Posten an Land«, beharrte Watts, »leichten Dienst, hinten in Kasernen. Das könnte mir passen. Dies Schiff ist zu klein, und das gefällt mir nicht.« »Aber dafür wird es ordentlich zu Kehr gehen«, sagte Tallow. »Du könntest diesen ganzen Laden auf die Repulse packen, und kein Mensch merkt, daß etwas dazugekommen ist!« Watts lachte. »Hoffentlich ist deine geliebte Repulse zur Stelle, wenn’s uns mal brenzlich geht.« 15
»Und das wird’s, nach allem, was man hört. Ich verstehe nicht, wie die sich das vorstellen, mit so kleinen Schiffen ganze Geleitzüge zu sichern! Im vorigen Krieg brachten das kaum die Zerstörer zustande.« »Es gibt ja schließlich so etwas wie Taktik«, sagte Watts unklar. »Wird noch einiges mehr nötig sein als Taktik, wenn die Sache klargehen soll. Sieh dir bloß mal unsere kümmerliche Bewaffnung an: eine lausige Zehnzentimeterknallbüchse und zwei Reihen Wasserbomben. Die Gegner werden um uns spazieren fahren.« »Ich kann mich bloß über die Unterbringung ärgern«, unterbrach ihn Watts, wieder seine frühere Klage aufgreifend. »Alles krebst da durcheinander, wo sowieso schon zu wenig Platz ist. Die Heizer müssen zusammen mit den Seeleuten essen, und du weißt genau, daß sie das nicht mögen, die einen nicht und die andern nicht. Das Mannschaftsdeck ist wer weiß wie eng, keine Kantine gibt’s, keine Kühlanlage, keine Lüftung. Kannst nicht vom Mannschaftsdeck bis zur Brücke gehen, ohne quitschnaß zu werden, und die Kombüse liegt ganz achtern, so daß alles eiskalt wird, bis wir’s essen können. Wer dies Schiff gebaut hat, muß stinkbesoffen gewesen sein.« »Schade, daß der Kerl nicht drauf fahren muß!« Verdrossen trank Tallow sein Bier aus und blickte zur Bar, wo gerade Schankschluß angesagt wurde. »Na, wie ist’s, noch einen für den Weg?« »Nein, ich nicht. Muß morgen arbeiten.« Draußen lärmte das Nachtleben: aus sämtlichen Lokalen der Argyll Street strömten die Gäste und stolperten in der Verdunkelung kreuz und quer. Es war sehr kalt, an der Straßenecke pfiff ein so eisiger Wind auf sie los, daß sie den Mantelkragen hochschlugen und die Hände tief in die Taschen steckten. Auf dem Wege zu ihrer Straßenbahnhaltestelle sagte Watts fromm: »Der Himmel stehe den Seeleuten bei. Mann, heute nacht wird’s hundekalt draußen!« »Werden wir auch bald merken«, sagte Tallow. »Ein paar Wochen noch, dann werden wir uns nach der Argyll Street die Augen wundheulen, so wird sie uns fehlen – ob Sonnenschein oder Regen. Warte nur ab. – « Lockhart und Ferraby waren beide todmüde. Fast den ganzen Tag hatten sie in der Baracke auf der Pier verbracht, hatten Proviantlisten, Seekarten und Geheimsachen kontrolliert, während Bennett sie immerfort mit neuen Befehlen unterbrach, bis sie bald verrückt wurden. Die Proviantlisten schienen kein Ende zu nehmen, die Seekarten umfaßten sämtliche Ozeane der Welt, und ganz unten in der Kiste lag sogar eine vom Schwarzen Meer. Als Lockhart die sah, hatte er gemurmelt: »Das wird ja ein langer Krieg werden.« Bennett, der das hörte, war dazwischengefahren: »Der wird noch verdammt 16
viel länger dauern, wenn Sie nicht die Quasselei lassen und ihren Kram weitermachen.« Später hatte er sie an Bord geschickt, um den Raumverteilungsplan für Compass Rose auszuarbeiten, was fraglos die Aufgabe des I.W.O. war. Der Arbeitstag endete um sechs mit dem energischen Befehl Bennetts, pünktlich halb neun morgens wieder in der Baracke zu sein. Da sie vom Hotel bis zur Werft eine Stunde mit der Straßenbahn fahren mußten, hieß das: sehr früh aufstehen. Nach spätem Abendessen lagen Sie im Bett in ihrem gemeinsamen Hotelzimmer auf der Sauchiehall Street. Ferraby starrte zur Decke, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, Lockhart rauchte und blätterte im ›Handbuch des Seemanns‹. Auf der Straße ließ der laute Radau des nächtlichen Glasgow allmählich nach. Auf einmal rührte sich Ferraby, stützte sich auf den Ellbogen und fragte: »Was liest du da eigentlich?« »Die Bibel – unsere Bibel«, antwortete Lockhart. »Da ist vieles drin, was mit den nackten Tatsachen erst in Einklang gebracht werden muß.« »Du meinst den I.W.O.?« Lockhart lachte. »Ach der! Der ertastet sich erst seinen Weg, wie wir’s auch tun. Nur macht er mehr Gedöhns dabei.« »Das kann man wohl behaupten.« Ferraby legte sich wieder zurück. »Meinst du nicht, daß ich meine Frau hierher kommen lassen kann?« »Gute Idee. Für eine Weile werden wir ja noch nicht an Bord wohnen. Frag’ doch mal nach.« »Wen fragen?« »Bennett, sollte ich meinen. Oder den Kommandanten.« »Bennett würde es abschlagen… Und ich hatte mich gerade an die Ehe gewöhnt.« »Muß wirklich schön sein«, sagte Lockhart ohne Ironie. »Mehr als das.« Bei aller Begeisterung schüchtern, vermochte Ferraby den Brennpunkt seiner Gedanken nicht zu verschleiern. »Für mich hat das in den letzten Wochen alles bedeutet. Ich weiß nicht, wie ich sonst durchgekommen wäre. Sie ist so – weißt du: wenn man einen Menschen heiratet«, er verhedderte sich und nahm einen neuen Anlauf: »Hast du nicht schon mal das Gefühl gehabt, daß du jemand haben müßtest, dem du vollkommen vertrauen kannst, dem du alles erzählen könntest, ohne – ohne dich schämen zu müssen? Jemand, der deine zweite Hälfte ist?« »Nein«, sagte Lockhart nach einer Weile. »Ich habe wohl nie dieses Bedürfnis gehabt.« »So ist es bei mir aber gewesen. Bei ihr genau so, glaube ich. Deshalb ist es ja so scheußlich, getrennt zu sein.« 17
»Na, dann sieh doch zu, daß du sie herholen kannst.« Lockhart klappte sein Buch zu und drückte die Zigarette aus. »Fragen kostet ja nichts. Schließlich hat der Kommandant seine Frau ja auch hier.« »Das ist was anderes.« »Nicht unbedingt. Versuch’s mal, dann wirst du sehen.« Lockhart knipste das Licht aus und streckte sich lang. »Oh je, warum müssen wir bloß so früh raus!« »Es gibt noch schrecklich viel zu erledigen.« »Da hast du allerdings recht. Gute Nacht.« »Gute Nacht.« »Und laß dich nur nicht unterkriegen.« »Es ist alles so ganz anders, als ich’s erwartet habe.« »Wäre auch verdammt komisch, wenn’s nicht so wäre…« Im Vestibül desselben Hotels überlegte Bennett noch, ob er die verbissen dreinschauende ›Dame‹, die er an der Bar ›aufgetan‹ hatte, mit seiner Kundschaft beehren sollte. Ganz entschlossen war er noch nicht, aber warum sollte er sich nicht mit ihr amüsieren? Der Raum war überfüllt, laut und drückend heiß. Die Mütze über Bennetts verschwitztem roten Gesicht saß noch immer so disziplinwidrig schief. Die Frau hob zum fünften oder sechsten Mal ihr Glas und sagte: »Viel Vergnügen, mein Lieber.« Ihr Gesicht glich einem eingeschrumpften Totenkopf, so weiß und faltig war es. Der enge schwarze Rock platzte fast aus den Nähten und betonte das weiße Fleisch so sehr, daß es abstoßend wirkte. »Cheerio«, sagte Bennett jedesmal, trank und stierte sein Glas an. »Schon mal in Australien gewesen?« »Nein«, sagte die Frau, »das nicht gerade. Bißchen weit von hier, wie?« »Sehr richtig – ‘ne ganze Ecke. Von mir aus kann’s jenseits der Hölle sein: so wenig Aussicht habe ich, wieder hinzukommen.« »Ach, Sie werden schon wieder hinkommen. Sobald der Krieg aus ist.« »Kann mir gar nicht fix genug gehen.« Bennett trank mißmutig von seinem Bier. »Mögen Sie denn Schottland nicht, das schöne Schottland?« fragte sie. Sie konnte ihr Cockney nicht verleugnen. Ihre schottische Sprechweise mit dem Anklang ans Variete hatte etwas grotesk Unechtes. »›Glasgow ist mein!‹ – das Lied kennen Sie gewiß?« Sie trank geziert, den kleinen Finger gekrümmt, und setzte ihr Glas ab, als sei es ihr peinlich, ein so gewöhnliches Gerät benutzen zu müssen. »Oh, gegen Schottland habe ich nichts«, entgegnete Bennett nach einer Weile. »Aber Sie wissen ja, wie es ist – «, er machte eine die Bar umfassende 18
Handbewegung, schlug dabei sein Glas um und durchnäßte sich Rock und Beinkleid mit Bier. »Ach, Sch…!« rief er laut. »Seien Sie nicht ungezogen«, sagte die Frau mechanisch. Bennett wischte heftig an seinem Anzug. »Gutes Gesöff so zu verschwenden«, sagte er. »Schottland ist ja ganz nett, aber an Sidney kann es nicht klingeln, längst nicht.« »Das will ich glauben«, sagte die Frau, geziert die Beine kreuzend. »Haben Sie drüben in Australien ein Mädel?« »Klar. Massenhaft.« »Aha! ›Die Mädels, die ich verlassen mußte‹, wie’s in dem Schlager heißt, was?« »So ungefähr.« »Also – «, sagte die Frau ein wenig pikiert: »heute nacht ist für mich Hochbetrieb.« Damit nahm sie ihre Handtasche vom Bartisch. »Bleiben Sie doch noch«, sagte Bennett, allmählich zum Entschluß kommend, »trinken wir noch eins.« »Nein, danke.« »Ich bringe Sie dann nach Hause.« »Das ist aber weit«, sagte sie. »Kostet schon mit der Tram vier Pence.« »Wir nehmen ‘ne Taxe.« »Herrjeh, Sie gehen aber ran, was?« Sie stieg von ihrem Barhocker, stellte sich dicht vor ihn und versuchte, seine Stimmung zu ergründen. »Und was geschieht, wenn wir dort sind?« »Sie werden schon auf Ihre Kosten kommen.« »Ich habe schon mehr Seeleute kennengelernt.« »Aber keinen australischen.« »Nein«, gab sie zu. »Sie sind der erste Australier, den ich persönlich kennenlerne.« »Dann haben Sie noch einen Genuß vor sich.« Bennett erhob sich ebenfalls und nahm ihren Arm. »Also gehen wir – « Die Frau nickte dem Barkellner zu: »Auf bald, Fred.« »Wiedersehen«, antwortete der, »Gute Nacht.« »Für die gute Nacht sorge ich«, rief Bennett. »Die Kleinigkeit ist meine Sache.« Er schob die Mütze noch schiefer über das eine Auge und fügte lüstern feixend hinzu: »Wird aber nicht nur ‘ne Kleinigkeit werden, dafür garantiere ich!« »Sind Sie wirklich Offizier?« fragte die Frau beim Hinausgehen. Der Kommandant las einen schlechten Kriminalroman, den er sich vom Bücherboard in der Halle des Hotels auf Kelvinside genommen hatte. Ihm 19
gegenüber saß strickend seine Frau. Mrs. Ericson war um die Vierzig, etwas rundlich, ihr Gesicht zeigte ausgeprägte Gelassenheit. Abends strickte sie stets: Pullover und Shawls für ihren Mann, Wolljacken für sich selbst und die verschiedensten Kleidungsstücke für die verschiedensten Verwandten und deren Neugeborene. Ericson glaubte mitunter, sie müsse ihm die ganzen neunzehn Jahre ihrer Ehe pausenlos strickend gegenübergesessen haben. Dieses Bild hatte er immer vor Augen, wenn er auf See an sie dachte oder auf Urlaub nach Hause fuhr. Es vermittelte ihm sogleich eine besondere Wärme, doch die Wirklichkeit machte ihn oft ungeduldig und reizbar, vor allem gegen Ende des Urlaubs, wenn er wieder hinaus mußte. Sie lebten still und glücklich miteinander. Streit gab es nie. Er glaubte ein guter Ehemann und Vater zu sein, und sie hielt sich für eine ebenso gute Frau und Mutter. Nie hatte er sich ernstlich um andere Frauen gekümmert. Jetzt, als sie sich schweigend gegenübersaßen, spürte er, wie so oft, die bekannte Ungeduld. Er war wohl zu lange an Land. – Grace war ein liebes Mädchen, gewiß, doch diesmal hatte sein Urlaub über zwei Monate gedauert, und da begannen das Schiff und die See ihn von ihr und ihrer ganzen Umgebung fortzuziehen. Das war keine Untreue ihr gegenüber, es war Treue zu der anderen Liebe: der anstrengenden beruflichen, die stärker war als jede menschliche Bindung. Sie hatten nie darüber gesprochen, oder nur lachend, als sie jung verheiratet waren. Grace hatte sich gewöhnt, den Vorrang der anderen Liebe anzuerkennen und als vernünftige Frau alles Grübeln über die tiefere Bedeutung der Sache aufgegeben. Einige Tage von jedem Urlaub gab sie ihm alles, was er sich wünschte: die herzliche Begrüßung, Zärtlichkeiten, gelegentlich leidenschaftliche Stunden und Verwöhnung nach seinem harten Dienst in See. Dann zog sie sich, seiner Stimmung nachgebend, still und unauffällig in den Alltag ihres üblichen gemeinsamen Leben zurück und nahm – vielleicht war das ein Symbol – ihre Strickerei wieder auf. Sie pries sich glücklich und war, selbst Tochter eines Seemanns, stolz auf das berufliche Können und die Stellung ihres Mannes. Die Seefahrt lag in der Familie: ihr einziger Sohn, jetzt siebzehn, fuhr als Leichtmatrose bei der Holt Linie in Liverpool und war zur Zeit irgendwo im Atlantik. Und von ihrem Sohn sprachen sie gerade, als die Uhr gegen elf ging und die schäbige Hotelhalle sich langsam von Gästen leerte. »George«, fing sie an. Ericson legte sein Buch ohne Bedauern zur Seite. »Was denn, Liebe?« »Ich habe über John nachgedacht.« »Dem wird’s schon gut gehen«, sagte er nach einer Weile. »Ach, das meine ich eigentlich nicht.« Sie sprachen selten von den Aussichten für Leben und Tod in See und hatten dieses Thema seit Kriegsbeginn 20
überhaupt noch nicht erwähnt. Wieviel sie zu verlieren hatten, wußten sie beide, und sie als Mutter dachte daran wohl am meisten. »Aber«, fuhr sie fort, »wenn ihr beide fast immer unterwegs seid, kommt mir das Haus allmählich so einsam vor.« »Er wird ja seinen Urlaub bekommen, Liebe, genau so wie ich.« »Das kann aber noch lange dauern, und bis dahin muß ich ganz allein sein.« »Tja –.« Der Kommandant rückte sich im Stuhl zurecht, um eine leichte Verlegenheit zu verbergen. Er stellte sich vor, wie Grace monatelang allein und ewig strickend im Hause saß, und seltsamerweise bekümmerte ihn das wenig. Um diesen Mangel an Verständnis auszugleichen, setzte er besonders herzlich hinzu: »Du solltest dir wirklich jemand ins Haus nehmen, damit du ein bißchen Gesellschaft hast.« »Da wäre Mutter«, sagte Grace sinnend. Der Kommandant schwieg. Ja, gewiß, da wäre Mutter, und Mutter war ein ganz spezielles Kapitel: eine grantige, streitlustige alte Dame, die bei ihren seltenen Besuchen in dem kleinen Hause am Rande von Birkenhead nur immer geklagt und ihren einzigen Enkel unerhört verwöhnt hatte. Noch nie war Ericson so in Gefahr geraten, sich mit seiner Frau zu erzürnen, wie damals, als ihre Mutter, ohne zu fragen, alle Möbel im Wohnzimmer umgestellt und er das ›eine tolle Frechheit‹ genannt und sie alle wieder umgeräumt hatte. Es war eine Prachtszene gewesen, aber nach Wiederholung war ihm nicht zumute. Und auf keinen Fall wollte er seine Schwiegermutter als dauerndes Mitglied seines Haushalts sehen, wenn er auf Urlaub heimkam. Er suchte jetzt Zeit zu gewinnen. »Das ist eine Idee«, sagte er, »nur weiß ich nicht recht, ob dir das auch wirklich so ganz behagen würde. Wenn zwei Frauen ununterbrochen allein miteinander hausen. – Nun, es ist ja dein Haus«, schloß er ziemlich lahm, während er ihren Blick auf sich ruhen fühlte, »das sollst du nicht vergessen.« »Warum sollte ich das denn vergessen?« »Deine Mutter setzt doch gern ihren eigenen Kopf durch, oder nicht?« »Sie ist nicht anders als andere Leute«, sagte Grace Ericson ohne Erregung. »Eigener Kopf oder nicht – Gesellschaft für mich wäre sie schon, soviel weiß ich. Aber wenn du nicht magst, daß ich sie bei mir habe, werde ich natürlich nichts mehr darüber sagen.« »Das mußt du machen, wie es dir lieb ist«, sagte er ohne Begeisterung Zwar würde er ja weniger davon berührt werden als sie – vielleicht eine oder zwei Wochen alle paar Monate – , aber befreunden konnte er sich mit dem Gedanken nicht. »Wahrscheinlich dauert es diesmal lange, bis ich Birkenhead wiedersehe, und mit John geht’s ebenso, wenn ich mich nicht täusche. Daß 21
ich dich nicht die ganze Zeit allein wissen möchte, kannst du dir denken.« »Ich werde es mir überlegen«, antwortete sie zerstreut, während sie als Vorbereitung zum Schlafengehen ihr Strickzeug aufnahm. Das war ein ernstes Geschäft: die Muster, die Ersatznadeln, die Wolle, die Brille und das viereckige Seidentuch zum Einwickeln des in Arbeit befindlichen Stückes. »Wir wollen das nicht übereilt entscheiden. Du hast ja schon an genug zu denken, nicht wahr?« »Ja«, sagte der Kommandant. »Bist du mit deinem Schiff zufrieden, George?« fragte sie, als sie aufstanden. »Ja«, erwiderte er, »das Schiff wird sich schon machen.« Vierzehn Tage wohnten sie noch behelfsmäßig in einer überfüllten Baracke auf der Pier, bevor sie an Bord einziehen konnten, und weitere drei Wochen dauerte es, bis das Schiff fahrbereit war. Diese fünf Wochen mit den vielen Vorbereitungen verlangten intensive Arbeit. Ericson schien es zuweilen, als würden die Probleme und Fragen, die täglich neu aufkamen, nie ein Ende nehmen. Er mußte sich mit allem persönlich beschäftigen: die zwei Leutnants hatten zwar den besten Willen, waren aber noch grasgrün, und Bennett besaß, wie er feststellte, weniger Erfahrung und auch erheblich weniger Energie, als sein Auftreten erwarten ließ. So drängte sich alles beim Kommandanten zusammen: das Anfordern von Proviant und Munition, die Verhandlungen mit der Werft und der Admiralität, das Festlegen der letzten Änderungen und Einbauten im Schiff, Erfassen der technischen Einzelheiten von Schiff und Maschinen, Unterbringung, Beantwortung von Signalsprüchen, Nachprüfung von Listen, Meldungen über den Fortschritt der Bauarbeiten, den Zustand des Schiffes und so weiter. Nachdem er ein paarmal selbst zum Stabe in Glasgow gefahren war, stellte er fest, daß er sich auf den stillen, gewissenhaften Ferraby verlassen konnte, wenn es galt, eine mündliche Meldung zu übermitteln und auch mit der richtigen Antwort zurückzukommen. Doch damit war ihm von dem Berg Arbeit, der sich Tag für Tag in der Baracke neben der Compass Rose ansammelte, nur wenig abgenommen. Allmählich bekam er jedoch seinen Lohn: der Lärm an Bord wurde geringer, immer weniger Werkzeug und Werftgerät lag an Deck herum, die Unordnung ließ nach, Schmutzhaufen und Ölflecke verschwanden. Auch die Zahl der Arbeiter sank, bis morgens nur noch ein kleiner Trupp die Stelling hinaufkam. Die Vorräte wurden verstaut, die Kammern mit Läufern ausgelegt, in den Mannschaftsräumen die Hängematten und Spinde angebracht. Endlich nahm Compass Rose die Gestalt eines wirklichen Schiffes an und ward als solches empfunden. Es wurde Zeit, an Bord überzusiedeln, und 22
diesem Befehl folgten alle Mann gern. Als der Hauptteil der Besatzung – über sechzig Mann aus den Kasernen von Devonport – eintraf, begannen sie sofort, Tallows geringschätzige Bemerkungen über die Unterbringung auf ihre Art in allen Variationen wie ein Echo wiederzugeben. Die Mannschaftsräume waren klein und bis zur Unerträglichkeit überfüllt, alles war da zusammengewürfelt: Matrosen, Heizer, Signalgasten und Funker. Ihre Mahlzeiten mußten sie auf demselben Platz einnehmen, wo sie schliefen, und beim Briefschreiben behinderten sie sich gegenseitig, einerlei wo sie es versuchten. Und wenn das schon im Hafen so war, wie sollte es erst auf See werden, wenn das Schiff sich die Seele aus dem Leib schlingerte und alles quitschnaß wurde! Der Matrosenhumor, der nach echt britischer Tradition gerade im Mißgeschick seine schönsten Blüten treibt, bekam weiten Spielraum: in den ersten paar Tagen, bis die Neuen sich eingewöhnt hatten, wurde auf der Compass Rose so viel und so laut geflucht und gelästert wie kaum je zuvor in einem Schiffsraum von sechzig Meter Länge und zehn Meter Breite. Ericson spürte diese Unzufriedenheit sehr wohl, als er die Männer bei der Indienststellungsfeier musterte. Nicht daß sie mürrisch oder aufsässig ausgesehen hätten, nein: nur gleichgültig und vielleicht etwas verärgert, weil sie nicht einsehen wollten, warum sie sich so adrett anziehen und vielleicht noch Rügen für einen unsauberen Troyer einstecken sollten, bloß um über so ein komisches kleines Luder von Schiff feierliche Worte zu hören. Er war sich klar darüber, daß seine erste Sorge sein mußte, die Ungemütlichkeit an Bord auf ein Mindestmaß zu beschränken. Über die Verbesserung der Lüftung und der Kochgelegenheiten hatte er sich schon seine Gedanken gemacht, und ein tatkräftiger Kommandant konnte an einem neuen, noch unfertigen Schiff allerhand ändern lassen, solange ihm noch die Mitarbeit der Werft sicher war. Viel mehr aber als äußere Erleichterungen mußte später der Einsatz in See zuwegebringen: da sollte die Besatzung stolz werden auf ein hartes Leben und harten Kampf. Diese Vorstellung kam ihm am stärksten zum Bewußtsein, als die Bootsmannspfeifen das ›Stillgestanden!‹ trillerten und am Mast funkelnagelneu die britische Flagge und der Kommandowimpel emporstiegen. In ihrem frischen Farbkleid sah Compass Rose sauber und ordentlich aus. Am Bug war beiderseits ihre Gruppennummer aufgemalt, und fast war sie nun seeklar. Als er einen Augenblick später die Kriegsartikel verlas, entsprach die klare Festigkeit seiner Stimme ganz dem ersten Stolz auf sein Schiff. Und war Compass Rose auch nur eine Korvette, kaum besser als ein Hochseefischdampfer, so hatte sie doch das Zeug, sich in jeder Weise einen guten Ruf zu verschaffen, und das sollte von nun an sein Ziel 23
Die Mahlzeiten in der engen Messe schienen nie über das Stadium peinlicher Gezwungenheit hinauszukommen, wie sie bei Festessen zwischen Menschen herrscht, die einander wildfremd sind. Der Kommandant hatte den Kopf voll mit alten und neuen Sorgen. Er saß schweigend am oberen Ende des Tisches, starrte geradeaus und machte sich gelegentlich kurze Notizen. Ferraby, von Natur schüchtern, fühlte sich in seiner Lage noch unsicher, fragte nichts und beteiligte sich auch sonst nie unmittelbar am Gespräch. Lockhart, der wortgewandteste der vier, hielt eigentlich nur Monologe, die nur selten Anreiz zu Antworten boten. Bennetts Beitrag lag auf dem Gebiet des Essens. Er bekundete eine Vorliebe für die ordinärste Speise aus dem Vorratsschrank der Messe: Würstchen aus Dosen, die er snorkers betitelte: Sie erschienen fast täglich auf der Speisekarte, mittags oder abends, und seine ständige Begrüßung des Gerichts: ›Snorkers, vorzüglich!‹ konnte den andern mit der Zeit den Appetit verderben. Er pflegte sich dann händereibend niederzulassen, reichlich Worcestersauce auf die Würstchen zu spritzen und ordentlich reinzuhauen. – In Fischerkreisen wäre er als ›grober Fresser‹ bezeichnet worden. Der Obersteward, ein knurriger Mensch namens Carslake, betrachtete diesen ›Benimm‹ mit sardonischen Blicken. Er war natürlich bessere Manieren gewöhnt und stand damit nicht allein. Wenn Bennett überhaupt sprach, dann redete er bombastisch und widerspruchsvoll, in weinerlichem Ton, der ein Thema fast schon erledigte, kaum daß es angeschnitten war. Einer seiner Zusammenstöße mit Lockhart hatte ein ungewöhnliches Nachspiel. Lockhart hatte, als von Rettungsgeräten gesprochen wurde, die Bemerkung gemacht, man könne sich bei sehr kaltem Wetter mit einer Schwimmweste eher im Wasser am Leben erhalten als patschnaß der vollen Wucht des scharfen Windes preisgegeben im offenen Boot. Bennett hatte ihn, noch kauend, barsch unterbrochen: »Blödsinn! Warten Sie nur, bis Sie’s erste Mal gefischt werden, dann werden Sie verdammt anderer Meinung sein.« »Aber woher wissen Sie denn das?« fragte Lockhart sanft. »Sie können doch kaum schon torpediert worden sein.« Bennett warf ihm einen wütenden Blick zu, ohne zu antworten. Sobald der Kommandant die Messe verlassen hatte, sagte er zu Lockhart: »Reden Sie noch ein einziges Mal so mit mir, dann fahre ich mit Ihnen Schlitten.« Nach kurzer Pause sagte Lockhart ganz ruhig: »Das würde allerlei unangenehme Folgen für Sie haben.« »Nehmen Sie sich nur in acht – mehr sage ich nicht!« Um die Gelegenheit betrogen, den andern kleinzukriegen, änderte Bennett überraschend die Tonart, rieb sich die Hände und fragte: Na, wer gibt denn nun einen für mich aus? 24
Ferrabi – i?« »Jawohl«, sagte Ferraby, »selbstverständlich. Bitte nur zu bestellen.« »Müssen wir denn für ihn Schnäpse ausgeben?« fragte er Lockhart, als Bennett in seine Kammer gegangen war. »Er hat uns doch noch nie eingeladen.« »Gar nichts brauchen wir für ihn auszugeben«, antwortete Lockhart mit Entschiedenheit. »Das ist die reine Erpressung. Wenn er wieder damit kommt, laß ihm einschenken und reich’ ihm gleichzeitig sein Messebuch zum Abzeichnen, dann wird er sich vorsehen.« Ferraby schüttelte den Kopf. »Dann rächt er sich auf andere Art. Du weißt ja, wie der ist.« Er sagte das mit Bitterkeit, denn er hatte zu seinem Schaden erfahren müssen, wie Bennett war. Ein paar Tage vorher, als erkennbar wurde, daß bis zum Auslaufen ihres Schiffes noch gut zwei Wochen vergehen würden, hatte er um die Erlaubnis gebeten, seine Frau kommen zu lassen. Sie könne in Glasgow im Hotel wohnen, wo er sie nur jeden zweiten Abend besuchen wollte, sofern er nicht wachhabender Offizier war. Somit würden keinerlei Komplikationen entstehen und er seinen Pflichten voll nachkommen können. Bennett aber hatte diese Bitte abgelehnt nach einer Reihe besonders kränkender Fragen und Bemerkungen. »Frau?« hatte er angefangen, als Ferraby ihm in seiner Kammer diesen Wunsch vortrug. »Wußte gar nicht, daß Sie eine haben. Seit wann denn?« »Seit sechs Wochen.« Häßlich lächelnd sagte Bennett: »Dann wird’s Zeit, daß Sie’s mal unterbrechen.« Ferraby erwiderte nichts. Bennett tat, als überlege er den Fall ernsthaft, blickte mit gefurchter Stirn auf seinen Schreibtisch und schüttelte dann den Kopf. »Nein, Sub«, sagte er, »das gefällt mir nicht. Wir haben hier zuviel zu tun.« »Aber nach Dienstschluß – «, begann Ferraby. »Sie haben sich hier völlig zu konzentrieren«, sprach Bennett scharf weiter. »Was soll denn werden, wenn Sie jedesmal beim Glockenschlag zu einer Hochzeitsnacht wegschleichen? Das lenkt nur Ihre Gedanken vom Schiff ab.« Ferraby schluckte. Er haßte dieses Gespräch, hielt sich aber tapfer. »Ich möchte ja weiter nichts als –«, begann er noch einmal. »Was Sie möchten, weiß ich verdammt genau.« Das vulgäre Grinsen in Bennetts Gesicht war Kommentar genug, aber er schien noch gröberes Geschütz für angebracht zu halten. »Sie haben schon sowieso ihre liebe Not mit dem Dienst, ohne jede zweite Nacht an Land zu pennen und dann ausgemer25
gelt wieder an Bord zu kommen. Schlagen Sie sich das lieber aus dem Sinn.« Das aber vermochte Ferraby nicht. Als er Lockhart davon berichtete, war er völlig geknickt. »Daß er abgelehnt hat, empfinde ich nicht so schlimm«, sagte er, »aber so darüber zu reden, das ist – das ist tierisch.« Lockhart sagte kopfschüttelnd: »Ungefähr hättest du dir das denken können. Das ist typisch für ihn.« »Ich hasse ihn!« Lockhart versuchte, ihn von seinen verletzten Gefühlen abzulenken. »Übrigens glaube ich nicht, daß du dafür überhaupt Erlaubnis brauchst. Daß deine Frau nach Glasgow reist, kann ja wohl keiner verhindern. Geh doch mit deiner Bitte zum Kommandanten.« »Aber selbst wenn sie hier wäre, könnte Bennett mich daran hindern, sie in der Stadt zu besuchen.« »Nicht in deiner dienstfreien Zeit.« »Ich wette, der kann das.« »Allerdings«, nickte Lockhart, »da könnte man fast wetten. Er würde Mittel finden, vor allem, wenn du den Kommandanten fragtest, nachdem er selbst es dir abgeschlagen hat.« Er lächelte Ferraby über den Tisch zu. »Schlag’s dir lieber aus dem Sinn, wie der Schuft gesagt hat. Es wird später noch Gelegenheiten geben.« Als der Bootsmaat der Wache mit der Mütze in der Hand in der Tür zur Messe erschien, um zu melden, daß das Schiff klar zur Abendronde sei, erhob sich Lockhart, als wachhabender Offizier, und folgte ihm über die Treppe zum Vorschiff, um den vierundzwanzigstündigen Dienst abzuschließen. Die Abendronde gehörte zu dem täglichen Dienstablauf, der die Compass Rose nun Schritt für Schritt vom Werftobjekt in ein brauchbares Kriegsschiff verwandelte. Die Einteilung dieses Tagesablaufs hatte dem Bootsmann Tallow eine Menge Arbeit gemacht, und zwar mehr als er hätte übernehmen brauchen, wenn der I.W.O. seine eigene Arbeit genauer genommen hätte. Tallow war sich klar, mit Bennett als Ersten Wachoffizier mußten viele Lücken entstehen, die jemand anders auszufüllen hatte, wenn der Bordbetrieb gut funktionieren sollte. So hatte er selber in unaufdringlicher Weise, hier durch eine Andeutung, dort durch unmittelbare Maßnahmen dafür gesorgt, daß nichts von dem Notwendigen unterblieb. Mit der abendlichen Ronde des wachhabenden Offiziers, einem kurzen Gang durch die Mannschaftsräume und über Deck, um die Verdunkelung und die Vertäuungen des Schiffes nachzuprüfen, endete das Tagesprogramm, das alle Lebensphasen eines im Hafen liegenden Schiffes umfaßte. Morgens um sechs Uhr dreißig trat die Besatzung zum Dienst an, der mit dem Waschen 26
der oberen Decks begann – eine kalte Arbeit im Winter, wenn es noch halbdunkel war. Flaggenparade war um acht, dann Frühstück, und darauf begann der eigentliche Dienst, der vorläufig fast nur aus Reinschiff und Verstauen der Ladung bestand. Um zehn war ›Pause‹ und Schnapsempfang: Ausgabe des traditionellen Schluckes Rum an alle Mann. Nach dem Dienst, der bis vier Uhr nachmittags lief, durften die Urlauber an Land gehen, und die Bordwache richtete sich für den Abend ein. Nach dem Abendessen wurden in die Messe noch Briefe zum Zensieren gebracht. Um neun folgte die Ronde, und um zehn wurde ›Ruhe im Schiff‹ gepfiffen. Nachturlauber durften bis sechs Uhr dreißig morgens an Land bleiben. Tallow verwaltete auch die Bordkantine, die er alsbald eingerichtet hatte. Da gab es Zigaretten und Tabak zollfrei. Er betrieb sie in seiner winzigen, Kammer im Achterschiff und wurde manchmal bei dieser Tätigkeit von der Türklappe fast buchstäblich rückwärts durchs Bullauge gedrückt. Auch eine andere besondere Obliegenheit: das Vormerken der Straffälligen zum Rapport beim I.W.O. nahm er bereits wahr; es hatte angefangen mit einem Fall säuischen Benehmens, der Ferraby, der gerade W.O. war, in erhebliche Verlegenheit brachte. Er wurde an dem Abend um neun aus der Messe geholt, nachdem auffälliger Lärm an Oberdeck ihm schon angedeutet hatte, daß ein zurückkehrender Urlauber dort beträchtlichen Rabbatz machte. Oben an der Treppe fand er Bootsmann Tallow und neben ihm einen muffig blickenden Heizer, der merklich schwankte. »Heizer Grey, Sir«, meldete Tallow grimmig und fuhr den Schuldigen an: »Achtung! Mütze ab! Heizer Grey, Sir. Hat an Oberdeck uriniert.« »Was hat er!?« rief Ferraby, ehrlich entsetzt. »An Oberdeck uriniert, Sir«, wiederholte Tallow. »Ist soeben an Bord gekommen. Der Bootsmaat der Wache hat ihn gemeldet.« Ferraby schluckte. Er geriet allzu leicht in Verlegenheit, und das hier war der erste Übeltäter, mit dem er umzugehen hatte. »Was haben Sie dazu zu sagen?« fragte er nach einem Augenblick. Heizer Grey schwankte, Unverständliches murmelnd, hin und her. »Reden Sie!« brüllte Tallow. Grey versuchte es nochmals, es ging besser. »Muß ein paar getrunken haben, Sir.« »Ist ja wirklich ekelhaft«, sagte Ferraby. »Habe noch nie gehört, daß –« »Entschuldigen Sie, Sir«, brummelte Grey. »Seien Sie ruhig«, sagte Tallow. »Ekelhaft ist das«, wiederholte Ferraby schwunglos. »Sie sollten sich schämen. Meldung beim I.W.O. Bootsmann.« »Meldung beim I.W.O.«, echote Tallow. »Mütze auf, kehrt marsch! Beeilung!« 27
Der Mann torkelte davon, und gleich darauf erdröhnte das eiserne Deck von einem dumpfen Schlag. »Behalten Sie ihn lieber im Auge«, rief Ferraby. »Wird gemacht, Sir«, bestätigte Tallow. »Ich will hoffen, daß sowas nicht öfter passiert.« »Sie wissen ja, wie’s einem nach Bier geht, Sir.« »Aber trotzdem – «, begann Ferraby und ließ es dabei bewenden. Im Kriege gab es – darüber mußte man sich klarwerden – keine Zimperlichkeiten –. Zwei Tage vor Weihnachten fuhr der Kommandant zu einer letzten Besprechung zum Stabe nach Glasgow: er kam zurück mit einem neuen Packen Papiere, die er eine Weile in seiner Kajüte durcharbeitete. Dann ging er zur Messe hinunter, wo die andern versammelt waren. »Operationsbefehl«, sagte er kurz, während er Platz nahm. »Übermorgen gehen wir stromab und – falls Sie das vergessen haben sollten: das Datum ist der 25. Dezember.« »Ein feines Festgeschenk«, sagte Lockhart in der eintretenden Stille. »Das hoffe ich. Hier haben wir das Programm in großen Zügen.« Er zog eins der Papiere, die er in der Hand hatte, zu Rate. »Zur Ölpier, ungefähr fünf Meilen stromab, gehen wir im Schlepp. Nehmen Öl und laufen die restliche Strecke bis Greenock unter Dampf. Dort bleiben wir etwa vierzehn Tage vor Anker, um Proviant und Munition aufzunehmen und die Kompasse zu kompensieren. Dann laufen wir zur Maschinenerprobung aus, wahrscheinlich bis nach dem Ailsa Craig ‘runter und zurück. Unterwegs werden Geschütze und Wasserbombengerät ausprobiert. Damit hätten wir –« er blickte wieder in die Aufstellung – »den zwölften Januar. Dann, wenn das alles in Ordnung ist, laufen wir nordwärts nach Ardnacraish zu kriegsmäßigen Gefechtsübungen.« »Wie lange werden die dauern?« fragte Bennett. »Laut Vorschrift drei Wochen. Weniger werden’s nicht sein, aber wenn wir schlecht abschneiden, können sie uns dort so lange festhalten, wie es ihnen paßt. Also liegt’s bei uns.« »Hört ihr das, Subs?« warf Bennett überflüssigerweise dazwischen. »Daß wir da keine Versager bei Ihnen erleben.« Ericsons Stirnfalten zogen sich merklich zusammen. »Versager wollen wir bei niemand erleben, weder bei mir noch beim einfachen Heizer.« Zum ersten Male hatte der Kommandant eine Äußerung Bennetts in Gegenwart anderer gerügt, und Lockhart fragte sich sofort, ob das nicht auch schon einmal unter vier Augen geschehen sei oder ob der Kommandant für die Verhältnisse in der Messe und auch anderswo wirklich so blind war, wie es den Anschein hatte. Falls er aber Bennett kritisch unter die Lupe nahm, konnte man ja noch einige Hoffnungen haben… »Also das war’s«, beschloß Ericson seine Eröffnungen, »in achtundvierzig Stunden müssen wir seeklar sein.« Mit erhobener Stimme rief er: »Pantry!« 28
Obersteward Carslake, der draußen aufmerksam gehorcht hatte, ließ eine angemessene Zeit verstreichen, bevor er in die Tür trat: »Sie wünschen, Sir?« »Gin, bitte – oder was die Herren sonst trinken möchten.« Und nach der zweiten Runde sagte er: »Ich glaube, wir sollten morgen abend in der Messe ein kleines Fest veranstalten. Kann sein, daß wir dazu später eine ganze Weile keine Gelegenheit mehr haben.« Um zehn Uhr am Weihnachtsmorgen stand Lockhart in Wind und Kälte auf dem Vorschiff und wartete auf Dampf fürs Ankerspill. Er spürte Kopfschmerzen. Bei der Feier am Abend vorher hatte er mehr als gewöhnlich getrunken, sie wäre ihm sonst kaum erträglich gewesen. Mrs. Ericson als Gastgeberin hatte alles hübsch arrangiert, die übrigen Gäste waren sich mehr oder weniger fremd gewesen: einige Offiziere von einer andern Korvette, zwei Werftvertreter, ein Freund des Kommandanten vom MarineOberkommando und – Bennett, der gegen zehn durch sein Erscheinen mit einer schmuddlig wirkenden Frau, die er offenbar im erstbesten Hotel aufgegriffen hatte, einen Mißton in den Kreis trug. Das durch elf oder zwölf Glas Gin erzeugte Wohlbehagen, in dem die Umgebung ihm sanft vernebelt erschien, war Lockhart wirklich eine Erleichterung gewesen, aber jetzt merkte er, daß er den Preis dafür zahlen mußte: ein beißender Wind, der stoßweise den Schnee übers Schiff fegte, war kein Heilmittel für einen Kater. Bei der Einteilung der Posten und Stationen an Bord war ihm als dienstältesten Leutnant das Vorschiff zugefallen sowie die zwei interessantesten Aufgaben: Artillerie und Seekartenberichtigung. Ferraby, dem stets nur die zweite Wahl blieb, wurde dem Achterschiff zugeteilt: er war verantwortlich für die Wasserbomben. Im Hafen hatte er den Schriftverkehr, die Wehrsoldberechnung und die Messekonten zu führen. Lockhart war überzeugt, das beste Los gezogen zu haben. Er bedauerte Ferraby, der das Pech hatte, all die kleinen kniffligen Aufgaben erledigen zu müssen, bei denen man keine Lorbeeren ernten konnte. Während Lockhart auf der Back hin und her stampfte und nur den Wunsch hatte, bei diesem Job – von dem er nur eine ganz vage Vorstellung hatte – möglichst außer Sichtweite der Brücke zu bleiben, fragte er sich, wie wohl Ferraby – so schüchtern, unerfahren und wehrlos – die künftigen harten Zeiten bestehen würde. Gewiß konnte er ihm hier und da helfen, aber letzten Endes blieb doch jeder auf sein eigenes Können angewiesen, und das war bei Ferraby unleugbar mager. Der das Spill bedienende Oberheizer drehte an einem Ventil, Lockhart war froh, als jetzt endlich der Dampf aufzischte. Eisen klirrte gegen Eisen. »Fertig, Sir«, rief der Mann ihm zu. »Gut.« Lockhart trat in den Bug und machte sich daran, die entbehrlichen Leinen loswerfen und aufschießen zu lassen, wobei er möglichst zu verber29
gen versuchte, wie wenig sicher er seiner Sache war. Vom längsseit liegenden Schlepper beobachtete ihn ein Mann mit breitem rotem Gesicht, dem er die beruhigende Bereitschaft anmerkte, ihm notfalls bei Fehlern oder Schwierigkeiten zu helfen. Vielleicht wurde das nötig. Als gepfiffen wurde ›Alle Mann klar zum Manöver‹, begab sich Ferraby, innerlich ganz durcheinander, aufs Achterdeck, um dort ein Kommando, dessen Sinn er kaum verstand, nach bestem Vermögen auszuführen. ›Alle Leinen los bis auf Achterleine‹ hatte Bennett gesagt, ohne Erklärung, aber nicht ohne abschließend mit Nachdruck hinzuzufügen: »Wickeln Sie mir eine Leine um die Schraube, dann gnade Ihnen Gott!« Das Kommando bedeutete doch gewiß, alle Leinen loswerfen bis auf eine, die das Schiff noch an der Pier hielt? Doch welches die Achterleine war, das ließ sich nur durch Aussortieren ermitteln, und dazu fehlte ihm im Augenblick völlig die notwendige ruhige Überlegung. Er fühlte sich ganz verwirrt und fast krank. Alles, was er über die Marine gelesen, alles was er in der Ausbildung gelernt hatte, sein ganzer eifriger Wille, der ihn dazu getrieben, sich schon am Tage des Kriegsausbruchs freiwillig zu melden – alles war ihm hier jetzt zerstört oder vergiftet worden. Wie stolz war er auf seine Beförderung gewesen: bereit, widerspruchslos und als unzerreißbare Bindung die starre Disziplin und die Tradition des Dienstes, von der er gelesen und gehört hatte, hinzunehmen, aber: in den Lehrbüchern gab’s keinen Mann vom Schlage Bennetts. Und Bennett war offenbar die Wirklichkeit hinter den schönen Redensarten. Er hatte vorher genau gewußt, daß er sich, sobald er von seiner Frau getrennt war, unglücklich fühlen würde. Er war ganz entschlossen, das tapfer zu tragen, aber der Schmerz über das Getrenntsein war für die Unterwerfung unter die dumme Tyrannei hier an Bord ein hoher, allzu hoher Preis. Wenn Bennett der Maßstab für die Navy war und dessen Manieren und Methoden Geltung haben durften, dann hatte man ihn von Anfang an betrogen und verraten –. Abends bei der Feier hatte er sich aus der Messe verdrückt, um seine Frau in London anzurufen. Als er in dem zugigen Barackenbüro die Fernverbindung erwartete, hatte ihn die hochgespannte Erwartung fast erstickt. Sobald er jedoch ihre Stimme hörte, die weiche zaghafte Stimme, wich dieses freudige Gefühl der Erwartung, und er empfand nur die vielen vielen Meilen, die zwischen ihnen lagen und die sie noch Wochen und Monate getrennt halten würden. Diese Minuten waren Ihr Abschied – keinerlei festes Versprechen bot ihnen die Zukunft – und dafür – dafür – mußte er sich wie ein geistesschwaches Kind behandeln oder wie ein Zuchthäusler herumjagen lassen? Aber er hatte sich ja um ihretwillen so besonders große Mühe gegeben. »Hallo«, fing er an, »hallo, Liebste, kannst du mich hören?« 30
»Ja«, sagte sie, »das ist ja großartig. Wo bist du denn?« »Am selben Ort noch. Ich wollte dir frohe Weihnachten wünschen.« »Ich dir auch. Was machst du denn gerade?« »Wir haben eine kleine Feier.« »Schau mal an –« »Nicht besonders schön. Eigentlich sogar scheußlich. Ich wünschte, ich könnte bei dir sein. Geht es dir denn gut?« »Ja, Liebling. Dir auch?« »Ja.« »Bist du auf dem Schiff?« »Nein. Im Büro auf der Pier. Was hast du an?« »Den gestreiften Hausmantel – Ach, Liebster, wenn du doch hier wärst! Ist denn gar keine Aussicht?« »Ich glaube nicht. Leider wohl nicht.« »Kann ich denn nicht dorthin kommen?« »Dazu ist’s zu spät.« »Wieso? Was ist denn los?« »Ich –« Eine Vorschrift über ›unvorsichtige Äußerungen‹ fuhr ihm durch den Kopf, und er zögerte. »Das kann ich dir wirklich nicht sagen.« »Ist euer Schiff denn fertig?« »Ja.« »Oh –« Die Drähte zwischen ihnen summten. Sehr geglückt war ihr Gespräch nicht. Er sagte wieder: »Ich wollte dir ja nur frohe Weihnachten wünschen. « Und dann plötzlich konnte er es nicht mehr aushaken und sagte: »Jetzt muß ich gehen, leider. Leb wohl, du – alles, alles Gute.« Er legte den Hörer auf. Gänzlich zerknirscht stand er in dem Büro, mindestens fünf Minuten, bis er sich überwinden konnte, wieder zum Schiff zu gehen. Und an Bord schlüpfte er sofort in seine Kammer, ohne mit jemand ein Wort zu wechseln, und warf sich auf die Koje. Wie Wellen denen er sich hilflos ausgeliefert fühlte, flutete das Elend über ihn hin. Jetzt, an diesem sonderbaren Weihnachtsmorgen, trat er aufs Achterdeck und wiederholte seinen Leuten: »Alle Leinen los bis auf Achterleine«, daß es klang wie ein heidnischer Kampfruf. Die sechs Mann der Achtergruppe unter Führung Bootsmaat Tonbridges standen, auf seine Befehle wartend, bei der Wasserbombenreling angetreten. Als er herankam, grüßte Tonbridge und fragte: »Auch Achterspring einholen, Sir?« »Einen Moment.« Ferraby sah sich an, wie die Leinen verliefen. Es waren vier: zwei liefen achteraus, eine voraus und eine kurze im rechten Winkel zur Pier. Er zauderte noch, während Tonbridge, ein kräftiger selbstbewußter junger Mann, der mit diesen Dingen im Schlaf fertigwerden konnte, sich die 31
dicken Lederhandschuhe überstreifte, die von jedem Leinenkommando benutzt werden. Inzwischen kam Ferraby eine Idee, eine echt Bennettsche Idee, die zu benutzen er sich fast schämte. Er nickte Tonbridge zu und sagte nur: »Alle Leinen los, bis auf Achterleine.« Tonbridge erwiderte: »Aye, aye, Sir«, rief den nächststehenden Matrosen zu: »Schamfilungsmatten abnehmen da drüben!« und den auf der Pier bereitstehenden: »Querleine und Achterspring los!« Die Männer beeilten sich, die Drahttrossen klatschten ins Wasser und wurden eingehievt, und schon hatte sich die Vertäuung auf höchst simple Weise vereinfacht: nur eine achteraus laufende Trosse verblieb. So leicht war das also! Selbst so erstaunt, daß er sich plötzlich stark fühlte, ging Ferraby an das zur Brücke führende Sprachrohr. Auf sein Klingeln antwortete der Signalgast. Ferraby sagte kurz: »Achtern ist vereinzelt. An I.W.O. melden.« Er fühlte sich zufrieden, ohne gleich übermütig zu werden. Hatte er nicht sozusagen gemogelt? Aber jedenfalls wußte er nun mit den Leinen soweit Bescheid, daß er nicht wieder zu mogeln brauchte. In der Kajüte berichtete Obermaschinist Watts dem Kommandanten über die ihm anvertrauten Maschinen. Watts als Typ war ebenso unverkennbar wie seine Tätigkeit: sein weißer Overall war fleckig und ölig, seine Hände unglaublich schmutzig. Nachdem er fast die ganze Nacht an einem widerspenstigen Ventil gearbeitet hatte, war er müde, sein Gesicht grau und faltig. »Maschine ist klar zum Manöver, Sir«, sagte er ohne viel Begeisterung. »Das heißt: so gut ich sie klarmachen konnte, wenn mir zwanzig Werftheinis kreuz und quer zwischen den Beinen herumrennen. Ich habe sie eben eine Stunde mit zehn Umdrehungen laufen lassen. Geht noch ‘n bißchen unregelmäßig, aber das gibt sich.« »Wie sieht’s mit der Rudermaschine aus?« fragte Ericson. Da hatte es kürzlich Störungen gegeben, und man hatte Ersatzteile beschaffen müssen. »Scheint jetzt zu funktionieren, Sir.« Watts kraulte sich den kahlen Schädel. Ein Fettstreifen wie eine angemalte Locke blieb ihm auf der Stirn haften. »Im Ruderraum liegt noch viel loses Material herum, Draht und Trockenproviant – das müßte noch verstaut werden, wenn wir in See gehen. Aber die Rudermaschine habe ich ein dutzendmal ausprobiert, auf hart Backbord und hart Steuerbord – sie läuft einwandfrei. Und wenn wir das Handruder nehmen wollen, das ist ja einfach. Vielleicht sogar zu einfach.« Von der Maschinenanlage, die ihm unterstand, hatte er keine sehr hohe Meinung, da sie kaum moderne Verbesserungen aufwies und fast so primitiv war wie die kleine mit Methylalkohol betriebene Dampfmaschine, mit der er als Kind gespielt hatte. Korvetten wurden, soviel stand fest, möglichst billig und sparsam gebaut, eigentlich verdienten sie gar keinen Obermaschinisten 32
als Bedienung. »Ist gut so, L.I.«, sagte Ericson. »Genug damit. Das Programm kennen Sie ja: im Schlepp zum Ölponton und von da ab mit eigener Kraft. Für die Ölübernahme habe ich zwei Stunden veranschlagt. Sehr beeilen brauchen wir uns nicht, die Flut läuft den ganzen Nachmittag.« »Zwei Stunden reichen dafür, Sir. Wieviel Umdrehungen sollen wir dann laufen?« »Das können wir erst bestimmen, wenn wir eine Weile in Fahrt sind.« Ericson suchte zwischen den vielen Papieren auf seinem Schreibtisch. »Hier: die Richtlinien der Werft besagen: langsam voraus 35, halbe Fahrt 100 Umdrehungen. Am besten versuchen wir es erst so. Wenn’s zu schnell ist oder zu langsam, gebe ich Ihnen die Änderungen durchs Sprachrohr.« »Aye, aye, Sir.« Ober Watts Gesicht huschte vor dem Abtreten der Anflug eines Lächelns. »Komischer Weihnachtsmorgen eigentlich«, bemerkte er. »Macht einen etwas nachdenklich.« »Wird nicht das letzte Weihnachten an Bord sein, L.I.« »Meinen Sie, daß der Krieg so lange dauert wie der vorige, Sir?« »Länger wahrscheinlich.« Ericson streckte die Hand nach der Klingel zur Brücke aus. »Jedenfalls müssen wir uns darauf gefaßt machen.« Watts schüttelte beim Hinausgehen zweifelnd den Kopf. Seine heimatliche Sonntagszeitung hatte erklärt, der Krieg werde in einem Jahr vorbei sein, und das wollte er nur allzugern glauben, gerade an diesem Weihnachtsmorgen. Der Matrose, der auf das Klingelzeichen des Kommandanten rasch erschien, war der wachhabende Signalgast, Signalgefreiter Wells, der dienstälteste der drei Mann, die auf der Compass Rose den Signaldienst machten. Er war älter als seinem Dienstgrad entsprach. Ericson hatte, als er vor ein paar Tagen sein Führungsbuch gelesen hatte, auch festgestellt, warum: Wells war bis vor zwei Monaten bereits Signalmeister gewesen, aber degradiert und zu achtzehn Tagen Arrest verurteilt worden wegen – nach dem Wortlaut der Königlichen Reglements und Instruktionen der Admiralität –: ›der Ordnung und Marinedisziplin zuwiderlaufenden Verhalten‹, insofern als er a) einen Urlaub um 76 Stunden und 35 Minuten überschritten hatte, b) betrunken an Bord gekommen war, c) dem Bootsmaat der Wache, der ihn bewachen sollte, Widerstand geleistet hatte, und d) durch Feuer zerstört hatte: 9 Signalflaggen im Wert von 27 Shilling. Ericson hatte zwischen den Zeilen gelesen, daß es damals sehr lebhaft zugegangen sein mußte. Die Folgerungen, die er für Wells hieraus ziehen konnte, waren nicht gerade ermutigend, auch wenn er schließlich mildernde Umstände gelten ließ; so recht konnte er sich das freilich nicht vorstellen: vielleicht eine ausgeartete Geburtstagsfeier, eine allzu hingebungsvolle Freundin oder eine untreue Frau, Merkwürdig war nur, daß 33
man Wells seinem Äußeren nach derartige Eskapaden nie zugetraut hätte. Er war klein, trat sicher und mit sachverständiger Miene auf und hatte seine Signalmatrosen fest in der Hand. Ericson hatte schon mehrfach seine Vorschläge als praktisch und richtig anerkennen müssen, ebenso seine absolute Zuverlässigkeit. Jetzt bot er, wie er abwartend in der Kajüte stand, seine Mütze adrett unter den Arm geklemmt, Signalblock in der Hand, Bleistift gezückt, das erfreuliche Bild eines tadellos ausgebildeten, intelligenten Signalgasten – eines der Männer, die für jedes Schiff sozusagen ihr Gewicht in Gold wert sind. Ericson hoffte, daß dieses Bild sich auch fortan als richtig erweisen würde, denn eine Geschichte wie die im Führungsbuch konnte auf einem so kleinen Schiff wie Compass Rose zu einer ziemlich kritischen Situation führen. »Ich will unser Auslaufen melden«, begann Ericson. »Nehmen Sie auf und geben Sie es telefonisch von der Baracke aus durch.« »Yes, Sir«, sagte Wells, schon zum Schreiben ansetzend. »An Seebefehlshaber Glasgow«, diktierte der Kommandant, »von Compass Rose: Ausgelaufen gemäß Ihrem 0945 – Strich – 23 – Strich – 12. Voraussichtliches Eintreffen Greenock 1600 Uhr.« Wells wiederholte sofort nach der Niederschrift genau und sagte: »Soll dasselbe an Seebefehlshaber Greenock gegeben werden, Sir? Von dem müssen wir ja unsern Ankerplatz bekommen, sobald wir einlaufen.« »Ja«, stimmte Ericson zu und merkte, wie in letzter Zeit häufig, daß in seinem Gedächtnis die Gepflogenheiten der Kriegsmarine eingerostet waren und immerfort aufgefrischt werden mußten. »Ja, tun Sie das lieber. Und natürlich setzen wir, wenn wir stromab laufen, unser Bezeichnungssignal.« »Yes, Sir«, bestätigte Wells. »Bezeichnungssignal, Lotsenflagge und Schleppsignal. Werde ich alles klarmachen, Sir.« Als der Signalgefreite gegangen war, blieb Ericson noch in der Kajüte sitzen. Er erwartete den I.W.O. Bei korrektem Dienstablauf hätte Bennett ihm das Schiff seeklar melden müssen, so wie der Obermaschinist ihm die Maschinen betriebsklar gemeldet hatte. Doch obwohl der genaue Zeitpunkt ihres Auslaufens schon überschritten war, wollte er keine Rüge erteilen, solange sich das vermeiden ließ. Ihm war aber jetzt deutlich geworden, daß er mit Bennett einen schlechten Griff getan hatte: ein fauler Mensch, der eigentlich wenig wußte und den man keinesfalls zum Ersten Wachoffizier hätte machen dürfen. Er war sich noch nicht schlüssig, ob er schon jetzt Ersatz für ihn beantragen sollte oder ob Bennett sich noch zu einwandfreier Pflichterfüllung anhalten ließ, wozu er ihm alle Chancen geben wollte. Die persönlichen Komplikationen: daß Bennett den kleinen Ferraby fortgesetzt schikanierte und jeden Moment in ernstlichen Krach mit Lockhart geraten konnte – moch34
ten sich von selbst lösen oder auch nicht. Das war eine Frage der Zeit. Da wollte er jedenfalls nicht eingreifen, solange die Leistungsfähigkeit des Schiffes und die Ordnung nicht gefährdet wurden, und das war bisher nicht der Fall. Zehn Minuten nach der befohlenen Auslaufzeit drückte er auf die Klingel zur Brücke. Die Antwort kam vom wachhabenden Signalgasten: »Brücke! Sir?« »Ist der I.W.O. oben?« »Befindet sich auf der Back, Sir. Spricht gerade mit Leutnant Lockhart.« »Bitten Sie ihn, zu mir in die Kammer zu kommen.« »Aye, aye, Sir.« Gleich darauf klopfte Bennett an die Tür und trat ein. Er trug einen Wachmantel, dessen Kragen er mit schauspielerhaftem Schwung hochgeklappt hatte. »Sie haben mich verlangt, Sir?« »Ja«, sagte Ericson. »Sind wir klar zum Ablegen, I.W.O.?« »Yes, Sir, jederzeit, wann Sie wollen.« »Dann hätten Sie kommen und mir das melden sollen. Erraten kann ich das ja wohl nicht.« »Oh. Bitte um Entschuldigung, Sir.« »Sind alle Mann an Bord?« »Eh – ja, ich denke doch, Sir.« Auffallend kalte Augen musterten ihn. »Also: ist alles an Bord oder nicht? Haben Sie sich keine Meldungen machen lassen?« »Es war nur noch die Postordonnanz an Land. Ich weiß, daß die wieder an Bord ist.« »Wie ist es mit den Proviantholern? Und dem Obersteward? Ich hatte ihn für mich zum Einkaufen geschickt. Und das Leinenkommando?« Bennett sah so niedergeschmettert aus, wie ihn Ericson noch nicht erlebt hatte. Der Anblick konnte einem Spaß machen. »Ich werde es feststellen, Sir.« Ericson stand auf und griff nach Mütze und Fernglas. »Stellen Sie das fest und machen Sie mir Meldung auf die Brücke. Und ein andermal denken Sie rechtzeitig daran, mir das Schiff seeklar und die ganze Besatzung an Bord zu melden. Das gehört zu Ihren Pflichten.« Bennett hatte sich schnell wieder gefaßt. »Vielleicht besser, wenn ich Ferraby einteile für –« »Gar keinen werden Sie einteilen«, sagte Ericson so schroff, wie er sonst nie sprach, »es sei denn, daß Sie mit ihm den Dienst tauschen wollen.« Er ging ohne weitere Worte aus der Kajüte. Mochte Bennett sich diese deutliche Warnung vor gewissen Folgen auslegen wie er wollte. Vielleicht war es nötig gewesen, ihn so hart an die Kandare zu nehmen – die Rüge hatte jedenfalls 35
den richtigen Punkt getroffen. Als Ericson auf die Brücke ging, entschwand die ärgerliche Szene rasch seinem Gedächtnis. Andere Gedanken schoben sich in den Vordergrund, wirkliche Befriedigung erfüllte ihn: daß die Monate des Wartens, die vielen Sorgen um die Ausrüstung und Indienststellung und das hetzende Hin und Her vor dem Auslaufen nun endgültig vorüber waren und Compass Rose – jetzt sein eigenes Reich in Befehlsgewalt und Verantwortung – endlich fertig war zu ihrer ersten Fahrt. Besonders imposant war sie freilich nicht, diese erste Fahrt zum Ölübernehmen, im Kielwasser eines Schleppers; doch ein Erlebnis am Rande machte dabei auf Ericson – und viele andere an Bord – tiefen Eindruck. Als Compass Rose sich schräg von der Pier absetzte und, achtern und vorn von Schleppern bugsiert, Fahrt aufnahm, Bootsmann Tallow am Ruder, Lockhart mit der Vorschiffsgruppe korrekt beim Spill aufgebaut – da ertönte von den Werftarbeitern, die auf der Pier standen, ein etwas holpriges ›Hurra!‹. Es hörte sich weder harmonisch noch sehr gewaltig an, sicherlich war es auch nicht verabredet, aber gerade weil es spontan aus den Herzen rauher Männer kam, war es so ergreifend. Auch Arbeiter von anderen Werften unterbrachen ihre Tätigkeit und winkten der Compass Rose zu, als sie flußab vorbeizog; Männer, die Schiffe gebaut hatten, die auch jetzt an Schiffen bauten und noch zahlreiche andere zu bauen hatten, unterbrachen ihre Arbeit, um diesem Schiff, dem neuesten Kind des Clyde, glückhafte Fahrt zu winken. Der Moment des Abschiednehmens ward nicht in die Länge gezogen: es war zu kalt, um stehenzubleiben, und der über die Kais und Docks stäubende Schnee erinnerte schmerzlich an die Herrschaft des Winters. Doch diese Kundgebung, die sich auf ihrem Wege bis zur offenen See noch vielfach wiederholen sollte, blieb ihnen im Gedächtnis, als letzter brüderlicher Gruß der Männer, die das Schiff erbauten, an die Seeleute, die auf ihm leben, arbeiten und kämpfen sollten. Fünf Stunden später verließ Compass Rose unter eigener Kraft den letzten schmalen Abschnitt des Flusses und schob ihren Bug stromabwärts der ›Sandbankspitze‹ entgegen, dem Marine-Ankerplatz vor Greenock. Die frühe Winterdämmerung begann schon und verbarg die fernen Ausläufer eines der schönsten Häfen der britischen Inseln: die Hügelkette, die ihn umschloß, färbte die violetten Schatten schwarz, Leuchtbojen und Uferlaternen blinkten auf, um das schwindende Tageslicht abzulösen. Es war sehr kalt jetzt, obgleich der Wind kurz nach Mittag abgeflaut hatte. Ihr Ankerplatz war ihnen bereits durch Signal angewiesen worden und auf der Hafenkarte genau markiert. Nur noch wenige hundert Meter hatten sie bis dahin. Der Kommandant, der sich jetzt etwas Zeit gönnen durfte, musterte währenddes die anderen Schiffe, die dicht beieinander im weiten Bogen der Clydemündung lagen. 36
Es waren sehr viele. Ein Schlachtschiff, ein schnittiger neuer Kreuzer, eine Zerstörerflottille, ein Flugzeugträger, zahlreiche Minensucher. Und hinter ihnen, auf der Reede für Handelsschiffe, lagen reihenweise die sich zu einem Geleitzug sammelnden Fahrzeuge, beherrscht von zwei riesigen Passagierdampfern im grauen Frontkleid der Truppentransporter. Ericson hörte, wie Signalgefreiter Wells laufend Erklärungen zu den in Sicht kommenden Schiffen gab, Kommentare, die besser als alles andere den bei der Royal Navy herrschenden Korpsgeist beleuchteten. »Das Schlachtschiff ist’ die Royal Sovereign, mit der waren wir in Gibraltar, im vorigen Frühjahr. Da drüben ist der alte Argus, einer der ersten Flugzeugträger – und das da muß die 6. Zerstörerflottille sein – was will die bloß hier oben? – und da hinten: ein Kreuzer von der neuen Städteklasse – wußte gar nicht, daß die schon in Dienst gestellt sind…« Der Lotse, ein barscher Mann vom Clyde, sagte plötzlich: »Gleich haben wir unsere genaue Peilung, Captain.« Und Ericson widmete sich dem Ankermanöver. Die Telegraphen schrillten: »Stop Maschine!«, dann »Langsame Fahrt zurück!« Ericson rief Lockhart auf dem Vorschiff zu: »Achtung, klar bei Backbord Anker!«, und eine Minute später, als das Schiff langsam rückwärts ging, kam sein lautes »Fallen Anker!« Donnernd rauschte die Kette aus. Compass Rose lag vor Anker, ihre erste Fahrt war beendet. Die Uhr zeigte, wie Ericson zufrieden feststellte, fünf Minuten nach vier. Es war schon fast dunkel, die Luft von schneidender Schärfe, doch der Lichterkranz am Ufer und die zahlreichen Schiffe, in deren Gesellschaft sie lagen, schienen ihm und der Compass Rose ihr Willkommen zu entbieten. Es gab jetzt noch einmal einen Aufenthalt, der allerdings leichter zu ertragen war, weil er den unmittelbaren Vorbereitungen für die Seefahrt diente. Vierzehn Tage lagen sie in Greenock, einige Tage vor Anker zur Aufnahme von Munition und Vorräten, mit Hafenübungen zwischendurch, die übrige Zeit diente der Erprobung des Schiffs, der ersten Prüfung ihrer Waffen: der Geschütze und Wasserbomben. Für diese ersten Übungen hätten sie keine schönere Umgebung haben können: in der Gewalt des harten Winters, der sogar die Vorgebirge in Schnee hüllte und den höheren Gipfeln eine feierliche, unantastbare Reinheit verlieh, war der Firth of Clyde, vor allem von See aus, von atemraubender Schönheit. Freilich hatten sie jetzt weder Zeit noch Lust, das Bild der Landschaft zu genießen, auch wenn diese noch schöner gewesen wäre. Ihre Blicke richteten sich jetzt in die Nähe: auf ihr Schiff und auf das, was sie mit ihm leisten sollten. Es war erstaunlich, wie Compass Rose, ob sie allein auf ihrem Ankerplatz lag oder zu Übungen aus- und einlief, immer mehr den lebendigen 37
Charakter eines Schiffes annahm und ihr ganz eigenes Gesicht bekam. Das allmähliche Eintrimmen der Besatzung von über achtzig Mann war schon weit gediehen, die nächste Stufe mußte erreicht werden: das Zusammenschweißen dieser Männer zu einer geschlossenen Mannschaft: ihre letzte Vorbereitung für den Kampf. Das galt nicht nur für die Offiziersmesse, wo es am stärksten zutage trat, weil von dort der unmittelbare Einfluß ausging, sondern galt für die gesamte Mannschaft, die nun begann, sich auf ihre Aufgabe einzustellen und dabei immer deutlicher spürte, daß die Erfüllung dessen, was sie und ihr Schiff zu tun hatten, den Einsatz lohnte. Mochte vorerst noch mancher unerfüllte Wunsch der Vater des Gedankens sein, mochten die geringschätzigen Reden der Matrosen, wenn sie die Compass Rose als die schlimmste Mißgeburt eines seegehenden Schiffes bezeichneten, diesen Fortschritt anscheinend leugnen – er war da: ein starkes, wenn auch unausgesprochenes Gefühl des Bereitseins. Es wurde von außen her verstärkt: durch die ersten, teils wahren, teils übertriebenen Berichte und Gerüchte von angegriffenen Geleitzügen und durch Überlebende von versenkten Frachtern, die im nahen Greenock ausgeschifft wurden: denn nun konnte sich jeder ausrechnen, daß schon vom ersten Kriegstage an Unterseeboote operationsbereit in See gewesen sein mußten. Um das also, um diesen Kampf ging es auch für Compass Rose. Den gab es wirklich, und es lohnte sich, ihn aufzunehmen. Und er mußte gewonnen werden! Je schneller das Schiff zum Einsatz bereit stand, um so besser. Lockhart kam diese Erkenntnis besonders stark zum Bewußtsein, als sie am Ende der ersten Woche in Greenock zu ihren Schießübungen ausliefen. Die waren im Grunde sehr einfach: sie feuerten je ein paar Schuß aus der Zehnzentimeter auf der Back, dem Zweipfünder auf dem Achterdeck und den MG’s auf der Brücke. Denn das war ihre ganze Armierung, wahrhaftig bescheiden in jeder Hinsicht. – »Gott stehe uns bei, wenn wir der Scharnhorst begegnen, dann können wir uns höchstens hinter sie schleichen und sie in den…«, sagte ein phantasiebegabter Matrose sehr drastisch. – Bei seinen Geschützbedienungen, die er schon im Hafen gut einexerziert hatte, und besonders bei dem Geschützführer Phillips, dem die Pflege der Geschütze und die Lagerung der Munition oblag, bemerkte Lockhart erfreuliche Dienstwilligkeit. Die meisten Männer an den Geschützen waren natürlich unerfahrene, frisch und ›nur für den Kriegsfall‹ eingezogene Leute, die aber den Spott der aktiven Marine überleben und eines Tages bei weitem die Mehrheit in der Royal Navy bilden sollten. Sie lernten immerhin rasch, und einzelne ließen schon bald durch Anzeichen besonderer Intelligenz oder Wendigkeit erkennen, daß sie nach der nötigen Grundausbildung Beförderung verdienten. Bootsmaat Phillips, der auch die Vorschiffsgruppe unter 38
sich hatte, war ein großer Mensch mit bedächtigen Bewegungen, der im Mannschaftsdeck eine ziemliche Nummer hatte. Er war es auch, der beim Übungsschießen eine Bemerkung machte, die Lockhart zu denken gab. Der Ladekanonier hatte beim Einschieben der Granate schlecht angesetzt, so daß das Geschoß nur halb im Rohr steckte, die Feuergeschwindigkeit nicht eingehalten wurde und ungefähr dreißig Sekunden verlorengingen, bis die Granate herausgezogen und richtig geladen war. Phillips, der Richtschütze, drehte sich vom Zielgerät herum und sagte ironisch: »Wenn du das im Kampf tust, Bursche, und sie uns bei der Fummelei ein paar Achtunddreißiger verpassen, werde ich dir das nie verzeihen.« Lockhart machte diese an sich unmögliche Idee deshalb Freude, weil die Äußerung zeigte, daß Phillips vorausdachte, an die Zeit, da Compass Rose in den Kampf mußte und nicht nur übte, und weil er hinter der Nachlässigkeit des Ladekanoniers, die jetzt nur ein kleines Ärgernis war, den vielleicht einmal todbringenden Fehler sah. Ein ermutigendes Anzeichen, denn dieser Geist trug später gewiß reiche Früchte, weil er Können und Energie entwickelte. Ferraby, achtern bei den Wasserbomben auf sich allein gestellt, hatte bei der Ausbildung seiner Männer wenig Glück, bis er anständige Durchschnittsleistungen erzielte. Die älteren Dienstgrade, denen die wesentlichen Funktionen zufielen, waren in Ordnung: der Mechanikersgast Wainwright, der auf die Sicherheitsbolzen zu achten und im Ernstfall die Wasserbomben zu werfen hatte, und Bootsmaat Tonbridge, dem die Bedienungsmannschaft unterstand, waren energisch und zuverlässig, die übrigen aber weit unter dem Durchschnitt. Das Wichtigste war schleuniges Nachladen der Wasserbombenwerfer, eine schwere Arbeit, die geschicktes Zusammenspiel erforderte. Und für diesen Job hatte Ferraby eine zusammengewürfelte Bedienung von wachfreien Heizern und Funkern, denen sehr wenig daran lag, wie Matrosen im scharfen Wind an Deck zu arbeiten, da sie von Rechts wegen in einen warmen Kesselraum oder eine gemütliche ›Funkbude‹ gehörten. Und manche waren schlechtweg dämlich, wie zum Beispiel der Heizer Grey, der durch die erste und bisher weitaus schwerste Disziplinverletzung so unliebsam aufgefallen war. Und Ferraby, der sich schon unsicher fühlte, wenn er sich in Höchstform befand, war kaum der geeignete Mann, diese Männer sachgemäß zu drillen oder auch scharf anzufassen, wenn sie ihren Dienst absichtlich schlecht versahen. Das Ergebnis entsprach denn auch den Erwartungen. Es gab Irrtümer, Fehler, Verzögerungen. Klappte alles, dann waren die Männer selbst überrascht. Ging es schief, wurden sie verdrießlich und gleichgültig. Wäre Ferraby sich weiter allein überlassen geblieben, dann hätte er vielleicht bald mehr. Selbstvertrauen gewonnen und seine Bedienung allmählich ›auf Draht gebracht‹, aber – es gab ja einen Bennett! Der spürte Ferrabys schwache Punkte schnell heraus 39
und begrüßte sie mit höhnischer Freude, da der Mann ihm eine bequemere Zielscheibe bot als Lockhart. Ständig kam er nach achtern, lehnte sich auf die Reling des Achterdecks und zerstörte mit einer wahren Flut bissiger Bemerkungen und Gegenbefehle das bißchen innere Sicherheit, das Ferraby sich mühsam errungen hatte. So fürchtete Ferraby die Wasserbomben-Übungen, die im Hafen täglich angesetzt wurden, jedesmal mehr. Es schien kaum noch lohnend, die Leute schon vor Beginn der Übung zu instruieren, wenn jeden Moment an der Reling über seinem Kopf das verhaßte rote Gesicht auftauchte und eine rauhe Kehle brüllte: »Ferrabi – i! Erst die Sicherheitsbolzen einsetzen, bevor die Zurrings entfernt werden! Oder, ganz einfach: »Ferrabi – i, was ist das wieder für ein Mist! Nochmal anfangen!« Er hatte niemanden, bei dem er sich beschweren konnte, und richtig besehen hatte er auch keinen einwandfreien Grund zur Beschwerde, denn er beging tatsächlich Fehler, und seine Männer waren nachlässig und untüchtig. Und so schien es bleiben zu wollen, bis er entweder von seinem Posten abgelöst oder die Compass Rose in den Grund gebohrt wurde. Aber Bennett konnte dieser so hartnäckig ausgeübten Kritik längst nicht soviel Befriedigung abgewinnen, wie er sich gedacht hatte. Es war ja ganz nett, so einen ›tumben Jüngling‹ wie Ferraby zu zwiebeln, aber wenn das der einzige Ausgleich für eine Tätigkeit sein sollte, die dem Menschen immer mehr Verantwortung aufpackte, dann besten Dank! Er hatte es fertiggebracht, fast sämtliche Aufgaben, die jeder I.W.O. selbst erfüllen mußte, andern zuzuschanzen, aber trotzdem blieb noch allerlei Unumgängliches, das ihn ärgerte: so insbesondere die ständigen präzisen Eintragungen im Wachbuch, da die Dienstgrade öfters ausgetauscht oder auf Grund ihrer Erfahrungen neu eingeteilt werden mußten. Nahm er dazu noch die mißlungene Einwirkung auf Lockhart – mit dem er allerdings längst noch nicht fertig war! – und das peinliche Gefühl, dem Kommandanten doch nicht so leicht imponieren zu können wie er anfangs geglaubt hatte, so begannen diese unangenehmen Tatsachen ihm allmählich das Kommando, das er sich als so bequem ausgemalt hatte, zu verderben. Er konnte sich noch nicht entschließen, ob er es jetzt schon aufgeben und ein besseres anstreben sollte – es gab ja vorläufig, da der Krieg sich erst entwickelte, eine Menge freier Druckposten und sehr gemütliche Sonderstellungen – oder ob er noch eine Weile abwarten sollte, bis es vielleicht besser wurde. Denn hier konnte er sich immerhin für eine Kommandantenstellung qualifizieren, und das war natürlich das einzig Richtige, wenn man in See ein erträgliches Leben führen wollte. Aber sich darum ein Jahr oder noch länger als I.W.O. abrackern, war vielleicht doch zu viel. Seine Wahl mußte er bald treffen. Inzwischen blieben ihm Lockhart, sozusagen als Fernziel, und Ferraby, über den er sich ab und zu lustig machen konnte. 40
Von allen Männern an Bord besaß der Kommandant, obgleich auf ihm die meisten Sorgen lasteten und ihn hin und her rissen, das stärkste Selbstvertrauen. Es sah der Zukunft am ruhigsten entgegen und faßte immer größere Zuneigung zu dem Schiff, schon allein weil es ›ihm lag‹ und weil es gute Leistungen zeigte, ganz abgesehen von dem Besitzerstolz, der im Unterbewußtsein mitspielte. Compass Rose hatte bewiesen, daß sie sich leicht manövrieren ließ und – so lächerlich gering ihre Geschwindigkeit im Vergleich zu der eines Zerstörers, ja überhaupt zu jedem ihm bekannten Kriegsschifftyp war – große Anpassungsfähigkeit und Wendigkeit besaß. Ihre geringe Geschwindigkeit konnte allerdings noch zu einem schweren Nachteil werden: mit den kümmerlichen fünfzehn Seemeilen, die der L.I. ihr bei aller Mühe als Höchstleistung abzuringen vermochte, war sie langsamer als die meisten Handelsschiffe und lag nur etwa um eine Meile über der durchschnittlichen Marschfahrt der Geleitzüge, während sie eigentlich kreuz und quer im Geleit herumflitzen und alle Wunder an Tapferkeit und Schnelligkeit vollbringen sollte, die den Sicherungsfahrzeugen in den Taktischen Befehlen zugeschrieben wurden! Mit fünfzehn Meilen erwies sie sich wahrscheinlich nur als ein ›Zwergpinscher des Ozeans‹, nicht aber als der Windhund, der sie sein sollte. Ihr zweiter großer Nachteil – von seinem Standpunkt aus gesehen – war auch schon offenbar geworden, nämlich ihr Verhalten in See. Compass Rose schlingerte in jedem Seegang ganz schauderhaft. Schon auf einer der ersten Fahrten in offener See hatte sie davon ein erschreckendes Zeugnis gegeben: als sie nur von Greenock bis zur Insel Arran hinunterliefen bei einem Seegang, den sie kaum hätte spüren dürfen, war es ihr gelungen, bis zu vierzig Grad zu schlingern, wobei außer Schäden an beweglichem Gut unter Deck sogar eines der Boote überspült wurde und beinah über Bord ging. Ericson, der sich auf der Brücke krampfhaft festhalten mußte – während Compass Rose wie betrunken ihren Achtziggradbogen auspendelte, war erstaunt und hatte sich ausgemalt, wie das wohl in atlantischem Wetter werden mochte, wenn sie außerdem Kurs und Geschwindigkeit durchhalten mußten. Dieses muntere Getänzel war nicht gerade das beste Vorzeichen für die Zukunft. Aber mit dieser Prüfung hatte es ja noch Zeit, und an dem Tage, da Compass Rose sich nach der abschließenden Probefahrt heimwärts wandte und ins glatte Fahrwasser des geschützten Firth of Clyde einlief, hatte Ericson nur das wohltuende Gefühl der Befriedigung über gelungene Arbeit. Das Schiff lief mit zehn Meilen, denen der Flutstrom noch ein paar zugab, auf ebenem Kiel. Im prächtigen Rot und Orange der sinkenden Wintersonne erglühte das Farnkraut auf den Hügeln ringsum wie Feuer. Während sie so durch den stillen Abend glitt, die scharfe kalte Luft durchschneidend, schien Compass Rose einen ganz eigenen Lebenszweck zu haben, eine gleichsam 41
persönliche Kraft und Leistungsfähigkeit. Ericson mußte achtgeben, als er jetzt die Ruderkommandos für den Weg durch die Balkensperre gab, am Klang seiner Stimme nicht die frohe Ungeduld merken zu lassen. Denn Compass Rose war jetzt ›klar‹: ihre Maschinen und ihre Waffen in bester Verfassung. In wenigen Tagen sollten sie zur letzten Gefechtsausbildung nach Norden laufen, und dann war sie einsatzbereit. An diesem Abend übernahm Ericson in seiner Kajüte durch Unterschrift offiziell das Schiff von der Bauwerft. Er war sehr zufrieden. Natürlich hatte es anfangs mancherlei Fehler und Versager gegeben, wie bei einem ersten Schiff von neuem Typ nicht anders zu erwarten: Fehler mit Positionslaternen, die schlecht sichtbar waren, die übliche Anzahl undichter Nieten und so weiter, aber nach und nach war alles in Ordnung gebracht worden, sodaß er jetzt nichts mehr zu beanstanden fand. Und nun war die Stunde da, in der er das unmißverständlich zum Ausdruck bringen mußte. Der Vertreter der Werft, ein kleiner beweglicher Herr, der sich von seinem ›Dienstabzeichen‹, einem steifen runden Hut, nie länger als Sekunden trennen konnte, breitete das gedruckte Freigabeformular vor Ericson aus; der las es durch und unterschrieb am Schluß. Dann lehnte er sich zurück. »So, das hätten wir«, sagte er. »Und jetzt möchte ich Ihnen danken für alles, was Sie für uns getan haben. Sie haben uns sehr schön geholfen.« »Freut mich, zu hören, Captain.« Der kleine Herr ergriff das Papier, faltete es zusammen und schob es rasch in die Brusttasche, alles in fast einer einzigen Bewegung, als fürchte er, Ericson könne sich noch anders besinnen. »Ich hoffe, das Schiff wird Sie nicht enttäuschen, und wünsche Ihnen allen glückliche Reise.« »Danke«, nickte Ericson. »Wie denken Sie über einen Schnaps?« Der kleine Herr schüttelte den Kopf, sagte dann aber ganz überraschend: »Aye.« Als eingeschenkt war, erhob er förmlich sein Glas und sagte: »Es ist wohl nicht zu spät, Ihnen ein gesundes Neues Jahr zu wünschen, Captain.« Ericson trank ihm schweigend Bescheid. So vieles hing von Compass Rose ab: im Grunde alles. Vielleicht sogar, ob sie mit dem nackten Leben aus dem Jahre 1940 hervorgehen würden. Aber das waren Gedanken, die er an diesem Abend, an dem endlich das Schiff ihm rechtmäßig unterstand, vor niemand aussprechen wollte. Auf dem Marsch nach dem weiter nördlich gelegenen Ardnacraish erlebte das Schiff seine erste Nacht in See. Mit dem Wetter hatten sie Glück: als Compass Rose am Spätnachmittag aus der Balkensperre lief, regnete es heftig, und alle Anzeichen deuteten auf starken Wind, doch sobald sie die kegelförmige Felsmasse der Insel Alsa Craig passiert hatten und wieder nördlichen Kurs nahmen, hatte es aufgeklart 42
und der Wind sich fast gelegt. Später hatten sie bei hellem Mondschein eine Sicht von mehreren Seemeilen, und um Mitternacht pflügte Compass Rose das Meer mit einer gleichmäßigen Fahrt von zwölf Meilen, während die Landmassen an Steuerbord deutlich wie bei Tage zu sehen waren. Wenn das Schiff nicht gegen die See anlaufen, sondern nur eine lange weiche Dünung überwinden mußte, hatte es leichte Bewegungen: außer dem Rhythmus der Maschine und gelegentlichem Vibrieren des Vorschiffs erinnerte nichts daran, daß es wirklich fuhr und nicht mehr auf Reede um den Anker schwojte. Es wurde für die Besatzung die erste wirklich friedliche und geruhsame Nacht. Lockhart, in Kapokmantel und Seestiefeln gegen die Kälte gewappnet, ging mit Bennett zusammen die Mittelwache von Mitternacht bis vier Uhr früh. Die Stunden verrannen ohne besondere Vorkommnisse. Von Interesse war nur, daß sie um zwei Uhr nachts einem nach Süden steuernden Geleitzug begegneten und von einem der Sicherungsfahrzeuge wie verrückt angerufen wurden, und – daß Bennett fast seine ganze Wachzeit schlafend im Horchraum auf der Brücke zubrachte und eigentlich Lockhart die Wache allein überließ. Den rührte das wenig: er hätte mit gewissem Recht Bennetts Passivität als Kompliment nehmen können, wußte aber genau, daß es bei ihm reine Faulheit war und nicht etwa besonderes Vertrauen auf Lockharts Fähigkeiten. Und doch stärkte schon diese kurze Zeitspanne, in der das Schiff allein seiner Befehlsgewalt und Verantwortung unterstand, sein Selbstvertrauen, abgesehen von dem Wert, den die Erfahrungen der ersten Kriegswache sowieso hatten. Er war unsicher gewesen, wie weit er die Dinge beherrschen würde, wenn ihm Compass Rose zum erstenmal anvertraut wurde. Jetzt wußte er es, die Frage war beruhigend beantwortet. Ferraby und der Kommandant kamen um vier Uhr zur Morgenwache zusammen auf die Brücke. Lockhart bemerkte belustigt, wie Bennett die Übergabe seiner Wache vollzog: mit wichtigtuerischer, verantwortungschwerer Miene, als habe er die ganzen vier Stunden in schärfster Aufmerksamkeit gewacht und werde auch jetzt kaum wagen, die Augen zu schließen. In den ersten zwei Stunden nahm Ericson alles, was anfiel, selbst wahr und ließ Ferraby nur zuschauen oder den Horizont anstarren und gelegentlich eine Boje oder ein Leuchtfeuer auf der Karte markieren. Doch gegen sechs Uhr, als das Schiff einen störungsfreien Kurs vor sich hatte, der für ungefähr dreißig Meilen keine Änderung notwendig machte, fand er, es müsse auch ohne ihn gehen. Er hatte tags vorher vom Nachmittag bis Mitternacht auf der Brücke gestanden – rund acht Stunden hintereinander – und brauchte dringend etwas Schlaf. Er gähnte, reckte sich und rief Ferraby, der sich gerade in die andere Brückennock postiert hatte. »Meinen Sie, daß Sie jetzt übernehmen 43
können, Sub?« fragte er. »Hier sehen Sie unsern Kurs bis zum Ende der Wache, und im Wege liegt uns nichts. Na, was meinen Sie?« »Yes, Sir, ich will – ich möchte gern übernehmen.« »Wenn’s was Besonderes gibt, können Sie mich ja durchs Sprachrohr anrufen. Achten Sie ganz scharf auf die Fischerboote, und wenn Sie Kurs ändern müssen, weichen Sie seewärts aus, nicht nach Land zu. Treffen Sie aber auf mehrere, dann rufen Sie mich lieber. Klar?« »Aye, aye, Sir.« »Na schön, dann –« Ericson blieb noch ein Weilchen stehen, blickte auf die an Steuerbord noch immer gut sichtbaren Hügel und das eben querab verschwindende Blinkfeuer, nach dem er den neuen Kurs abgesetzt hatte, und sagte dann: »Jetzt haben Sie das Schiff in der Hand, Sub.« Damit wandte er sich zum Gehen. Seine Seestiefel klapperten die Brückentreppe hinab, dann war es still und Ferraby auf sich allein gestellt. Einen so bedeutsamen Moment hatte es in seinem ganzen Leben noch nicht gegeben, und er vermochte daher kaum, dem Kommenden ohne Schrecken entgegenzusehen. Das ganze Schiff mitsamt seiner Bewaffnung, mit den aufmerksamen Matrosen der Kriegswache und den über sechzig Mann, die da unten schliefen, gehörte nun ihm. Er konnte die ganze komplizierte Maschinerie dieser Compass Rose in beliebige Tätigkeit setzen, den Kurs und die Geschwindigkeit ändern, konnte in den offenen Atlantik steuern oder das Schiff auf eine Klippe jagen. So kam er sich klein und verlassen vor, obgleich die Brückenposten, ein Signalgast und der Mann am Ortungsgerät die Wache mit ihm teilten. Ein leises Zittern überlief ihn, er konnte sein Herz klopfen hören und begann zu grübeln, wie er die Lage meistern sollte, wenn sie einem Geleitzug begegneten oder eine plötzliche Störung – etwa ein Versagen der Ruderanlage – unvermutet zu einer Krise führte. Eigentlich war er für all das hier doch gar nicht geschaffen: er war doch nur Bankangestellter gewesen, war eben zwanzig Jahre alt und seit knapp acht Wochen erst Offizier! Doch die Minuten der Unsicherheit vergingen, da Compass Rose gleichmäßig ihren Kurs verfolgte und nichts ihren glatten Lauf störte. Also war das Schiff doch wohl in jeder Hinsicht zuverlässig, und sein eigenes Können reichte zur Not gewiß aus, um es ohne katastrophale, nicht wiedergutzumachende Fehler führen. – Auf einmal machte ihm die Sache Freude. Über die Brückenreling gelehnt, konnte er im Mondschein das Vorschiff in allen Einzelheiten erkennen, über ihm schwankte der Mast in einem langsamen, weich wiegenden Bogen gegen den Nachthimmel, und das weit achteraus sichtbare Kielwasser war von dünnen leuchtenden Rändern begrenzt – ein klares und schönes Bild. Er fühlte sich gleichsam im Brennpunkt der kraftvoll vorwärtsdrängenden Gewalten des Schiffes: hier war die Brücke, 44
das Nervenzentrum, wo die Kompaßlampe ihren schwachen Lichtschimmer ausstrahlte, wo in den Nocken wie dunkle Blöcke die Ausguckposten standen, und hier stand er selbst, der das alles beherrschte und bei dem sämtliche Nervenstränge zusammenliefen. »Leutnant Ferraby, Wachoffizier!« Er lächelte still vor sich hin und kam sich für einen Augenblick beinah wie ein Held vor. In der Bank würde das kein Mensch für möglich halten. Aber Mavis mußte er es gleich mitteilen, im nächsten Brief: sie würde es glauben. Die halbstündige Ablösung des Brückenpersonals unterbrach seine Gedankenkette und setzte das Siegel auf seine Verantwortlichkeit. »BackbordAusguck abgelöst, Sir.« »Danke, gut.« »Steuerbord-Ausguck abgelöst, Sir.« »Danke, gut.« Und aus dem Sprachrohr vom Ruderhaus, wo die Rudergänger sich ablösten: »Kurs Nord, ein Viertel West, Sir. Maschine halbe Fahrt voraus – Rudergänger Matrose Dykes.« »Danke, gut.« In diesen Augenblicken hätte er mit keinem andern Ort der Welt tauschen mögen… Auf einmal nahm der Signalgast neben ihm, der mit dem Fernglas den Himmel absuchte, mehr Haltung an und sagte: »Blinkfeuer an Steuerbord, Sir.« Als Ferraby das Feuer gefunden hatte, zählte er sorgfältig die Blinkfolge. »Das ist das nächste Feuer auf unserem Kurs«, sagte er, nachdem er sich überzeugt hatte. »Liegt aber noch weit voraus.« Der Signalgast trappelte mit den Füßen auf der hölzernen Gräting und sagte: »Bißchen kalt hier oben, Sir.« Es war die erste persönliche Bemerkung, die er sich seit dem Antritt der Wache erlaubt hatte. Ferraby blickte ihn aus den Augenwinkeln an. Das Gesicht kannte er schon. Der Mann, erst kürzlich an Bord gekommen und eben zum Signalgasten befördert, hieß Rose und war noch jünger als er selbst. Auch im Auftreten war er ihm ähnlich: schüchtern, unsicher und leicht geneigt, alles zu glauben, was ihm in neuer Umgebung erzählt wurde. Beim Wachwechsel hatte Ferraby gehört, wie Signalgefreiter Wells ihm den Dienst übergeben hatte: in ermunterndem, fast väterlichem Ton, der für einen unerfahrenen Matrosen auf seiner ersten Nachtwache eine große Stärkung bedeuten mußte: »Also nun drehen Sie ja nicht durch«, hatte Wells gesagt: »Das E. S. kennen Sie, und die Antwort auch, und mehr gibt’s da kaum zu beachten, solange wir selbständig in Fahrt sind. Wenn aber ein Schiff in Sicht kommen sollte und uns anruft, purren Sie mich sofort raus, dann komme ich Ihnen helfen.« Der Gegensatz zwischen dieser freundschaft45
lichen Unterstützung mit Worten, wie wenn schützende Arme sich einem um die Schultern legten, und dem, was er selber von Bennett hinnehmen mußte, war so kraß, daß Ferraby sich bei dem Wunsch ertappte, lieber gewöhnlicher Signalmatrose mit einem Wells zur Seite zu sein als ein Leutnant, der von dem groben I.W.O. fortwährend geschurigelt wurde. Doch nachdem er nun bereits eine halbe Stunde das Kommando führte, fand er jenen Wunsch nicht mehr so angebracht. Wenn es doch immer so bliebe wie jetzt. Er erwiderte: »Ja, es ist verdammt kalt« und fügte hinzu, weil er meinte, auch im Gespräch die Führung behalten zu müssen: »Wie ist es denn bei Ihnen im Deck?« »Ganz schön warm«, antwortete Rose, »aber mächtig überfüllt. Und die Wände« – er verbesserte rasch: »die Schotts – schwitzen ständig Wasser. Alles wird ganz durchnäßt, daran kann man sich so schnell nicht gewöhnen.« »Ist dies Ihr erstes Schiff?« »Yes, Sir.« »Wie lange sind Sie schon bei der Marine?« »Einen Monat, Sir. Nur Ausbildung bisher.« »Was waren Sie im Zivilberuf?« Rose zögerte mit der Antwort. »Lieferwagenbegleiter, Sir.« Ein Laufjunge vom Lieferauto! Und jetzt Signalgast auf einem Schiff, das in jeden Winkel der Welt steuern mochte und weiß Gott welchen Fährnissen ausgesetzt war! Bei so auffallenden Parallelen zwischen Roses Stellungswechsel und seinem eigenen fühlte Ferraby sich ihm verständlicherweise kameradschaftlich verbunden. Aber war das auch die richtige Kameradschaft, wie sie in der Royal Navy angestrebt wurde? Diese Überlegung schreckte ihn schon wieder ab, und er sagte, die vor Kälte steif gewordenen Schultern hochziehend: »Ob wir nicht etwas Tee herauf bekommen können?« »In der Kombüse ist noch Kakao, Sir«, erlaubte sich Rose vorzuschlagen. »Soll ich den Bootsmaat mal fragen?« »Ja, tun Sie das.« Der Kakao, der dann heraufkam, war süß, stark und wohltuend. Sie tranken beide davon, dicht nebeneinander unter dem kalten nächtlichen Himmel, während unter ihnen die Bugwelle leicht das Schiff hob und, unter dem Steven zurückfallend, in meilenlangen Furchen seitwärts nach achtern lief, bis sie sich in der Finsternis verlor. Später wurde Ferraby während seiner Wache durch eine Traube von niedrig über dem Wasser schaukelnden Lichtern darauf aufmerksam gemacht, daß sie wieder einer Gruppe von Fischerbooten zusteuerten, die diese Nacht überall an der Küste zu finden waren. Die Boote lagen genau im Kurs der Compass Rose. Sollte er den Kommandanten auf die Brücke bitten? Nein, 46
diese Stunden der Schiffsführung hatten ihm schon größere Sicherheit gegeben. Entschlossen neigte er sich übers Sprachrohr und gab sein erstes Ruderkommando durch: »Backbord zehn.« Die Stimme des Rudergängers antwortete ihm: »Backbord zehn, Sir. Ruder liegt Backbord zehn, Sir.« »Mittschiffs.« »Mittschiffs –. Ruder liegt mittschiffs, Sir.« »Recht so.« »Recht so, Sir –. Kurs Nord, 25 West, Sir.« Den neuen Kurs hielten sie fünf Minuten, bis sie die Fischerboote in gutem Abstand querab hatten. Dann ließ Ferraby das Schiff wieder auf den alten Kurs legen und wollte eben das Manöver mit ein paar Worten in die Logkladde eintragen, da ertönte plötzlich aus dem Sprachrohr von der Kajüte der Ruf: »Brücke!« »Brücke! Sir?« meldete sich Ferraby. »Weshalb haben Sie Kurs geändert, Sub?« »Ein Fischerboot, Sir,« sagte er, nicht ganz wahrheitsgetreu. »Wir sind schon von ihm klar.« Erstaunt fügte er hinzu: »Wie können Sie das denn wissen, Sir?« Er hörte den Kommandanten lachen. »Na, die Rudermaschine macht hier unten einen ganz schönen Radau. Sonst alles in Ordnung?« »Jawohl, Sir. Wir haben gleich das nächste Feuer querab.« Er lauschte noch eine Weile, ob weitere Bemerkungen kamen, doch es blieb still. Und alsbald zeigte sanftes Schnarchen ihm an, daß er nicht mehr zu warten brauchte. Er meinte, auf dieses Schnarchen ziemlich stolz sein zu können, denn es war das deutlichste Lob, das er an Bord bisher empfangen hatte. Es wurde heller. Fast unmerklich wurde der Himmel bleicher, das Land im Osten bekam schärfere Konturen, und hinter den Hügeln an der Küste wurden weitere Höhenzüge sichtbar, ihre schneebedeckten Kuppen warteten auf die ersten Strahlen der Sonne. Wie der Himmel, wurde auch das Meer heller, sein Schwarz ging in lichtes Grau über. Das Feuer eines fernen Leuchtturmes, der ihnen über die Kimm zugeblinkt hatte, kämpfte gegen das aufstrebende Tageslicht und wurde bald so schwach, daß sein Lichtbalken nur noch dünn und blaß vor dem Dunst des dahinterliegenden Landes flackerte. Das Schiff war wieder in ganzer Länge zu erkennen: aus dunklen Umrissen wandelte es sich zu einem kompakten, dreidimensionalen Körper. Reif glitzerte an allen Aufbauten. Auf der Brücke wurden die Gestalten und bald auch die Gesichter der Männer scharf und klar: faltige Gesichter, grau vor Kälte und Müdigkeit, die sich nun im aufheiternden Frühlicht entspannten. Unter Deck rührte sich das Leben, die Mannschaften begrüßten die bevorstehende Wache oder sahen 47
ihr gleichgültig entgegen. Der Rauch aus dem Kombüsenschornstein wurde stärker und trug einen groben, aber angenehmen Bratgeruch übers Schiff. Schritte erklangen auf den Treppen und den eisernen Decksplatten: aus einem achteren Aufgang blinzelte das bestoppelte Gesicht des Obermaschinisten Watts in den jungen Tag, als bezweifle es dessen Vorhandensein. Die erste Nacht in See war vergangen. Kurz vor acht kam Lockhart zur Ablösung auf die Brücke. Er hatte fast vier Stunden geschlafen und fühlte sich frischer als er vorher gedacht hatte. »Ganz allein?« fragte er nach einem forschenden Rundblick. »Ja«, erwiderte Ferraby und konnte sich nicht versagen, betont zu ergänzen: »Die letzten zwei Stunden habe ich allein das Kommando geführt.« Lockhart lächelte. »Tatsächlich? Wenn ich bedenke, daß ich dabei seelenruhig geschlafen habe –!« Er blickte nach der Küste. »Wie weit sind wir denn gekommen?« Ferraby zeigte ihm auf der Karte die Position und fragte: »Willst du jetzt übernehmen? Wo ist denn der I.W.O.?« »Der frühstückt«, antwortete Lockhart. »Snorkers – vorzüglich!« Eine Weile standen sie nebeneinander in der Morgenfrische. Die Sonne kam eben hinter den Hügeln empor. Es war ein herrlicher Morgen. Gleichmäßig und ruhig zog Compass Rose nordwärts, vorbei an magisch beleuchteten Inseln. Lockhart schnupperte in die leichte Brise. »Macht Spaß, was?« sagte er. »Ja«, gab Ferraby zurück, »ja, das tut’s –« Vizeadmiral Sir Vincent Murray-Forbes, K.C.B. D.S.O Royal Navy, saß an seinem Schreibtisch im Stabsgebäude von Ardnacraish – die Fenster blickten über den Hafen – und spielte mißlaunig mit einem silbernen Papiermesser, das folgende Gravierung trug: »Gewidmet Herrn Kapitänleutnant V. MurrayForbes beim Abschied als Kommandant H.M.S. Dragonfly von der Schiffsbesatzung, Oktober 1909, mit den besten Wünschen.« Er sah nicht die eingravierten Sätze, die er seit vielen Jahren nicht mehr gelesen hatte, aber sie standen in engster Beziehung mit seiner trostlosen Stimmung, vor allem das Datum, denn das war unumstößlich und ging ihm nie aus dem Sinn, blieb haften wie ein böses Omen. Denn es sagte ihm indirekt: du bist sechzig und zu alt für die See. In dem Gesicht des Admirals war deutlich zu lesen, was er darstellte: einen ergrauten Seemann, der nach einem Leben tadelfreien Dienstes bei der Marine seinen Ruhestand wohl verdient hatte. Gefurcht und kraftvoll war dieses Gesicht, um die Augen lagen dichte Netze winziger Fältchen. Die breiten goldenen Ärmelstreifen wirkten imposant, und die Reihen der Ordensbänder an seiner Brust schienen nicht zu lang 48
für das, was ein Menschenkenner aus den Mienen des Mannes lesen konnte. Der D.S.O. stammte aus der Skagerrakschlacht, der Orden des K.C.B. verbürgte eine ganze Serie hervorragender Leistungen von seiner Zeit als Befehlshaber des Fernostgeschwaders in China bis zum Posten des Oberbefehlshabers der Home Fleet und einem späteren bedeutenden Landkommando. Die übrigen Bänder zeigten an, daß es ihm gelungen war, viele Jahre in den abgelegenen Meeresgebieten des Erdballs zu überstehen. Zu viele – wenn es nach seiner jetzigen Stimmung ginge! Das Jahr 1918, als er Kapitän zur See geworden war und das Kommando über eine Zerstörerflottille erhalten hatte, war der Höhepunkt seiner Kriegsteilnahme gewesen, und nun war dieser neue Krieg ausgebrochen, zu spät für ihn, um alles noch einmal mitzumachen. – Denn, obgleich es ihm geglückt war, die längst fällige Verabschiedung hinauszuschieben, geschah das nicht unter der Begründung, die er sich erhofft hatte. Sie wollten ihn nicht wieder zur See fahren lassen – NICHT WIEDERHOLEN! BIN NICHT zu ALT! schrieb er in festen Blocklettern auf das vor ihm liegende Signalheft und strich dann ebenso energisch die Worte wieder aus. Aber innerlich vermochte er diese trotzig hingeworfenen Worte nie zu streichen. Vor drei Monaten wäre es ihm, nach klug berechneten Schachzügen, um ein Haar gelungen, das begehrte Seekommando zu bekommen, jedoch – neunundfünfzig Jahre ließen sich nicht wegleugnen: der Erste Seelord, ein persönlicher Freund von ihm, hatte ihn übergehen müssen. Statt dessen gaben sie ihm, wie nachdrücklich versichert wurde, ›ein sehr verantwortungsvolles Kommando, ein sehr wichtiges, auf dem Ihre Erfahrungen von entscheidender Bedeutung sein werden‹. Und damit war ihm die einzige Sphäre, in der er diese Erfahrungen allerbestem hatte verwerten wollen – die See – endgültig verschlossen. Besseres hatten sie ihm nicht anbieten können als dieses Ardnacraish, das vorgesehen war als Ausbildungsplatz für alle zum Einsatz in den ›Western Approaches‹ bestimmten neuen Geleitfahrzeuge. Das war wichtig, ganz verdammt wichtig sogar, aber es war nicht das, was er gewollt hatte! Und während er jetzt den Blick über Ardnacraish schweifen ließ und dabei in Wirklichkeit wieder, und immer noch, jenes Seekommando vor sich sah, verwünschte er diesen Ort in Grund und Boden. Ardnacraish hätte ihm die ›Komplimente‹ erwidern können, wenn auch mit weniger Berechtigung: was der Admiral mit dem Ort gemacht hatte, war sanktioniert nur durch den Krieg, der alle Schranken überrennen konnte. Der Ort war, weiß Gott, nicht wenig verändert. Wenn einer ein winziges schottisches Fischerdorf von zweihundert Einwohnern in den abgelegenen Highlands nahm, wo es eine Kneipe, drei Läden, eine kleine Bootswerft und einen kleinen, von Land umschlossenen Hafen gab, und sich entschloß, diesen Ort 49
zu einem Ausbildungszentrum der Marine zu machen und alles dafür notwendige Material heranzuschaffen: Baracken, Lagerhäuser, Wohnhäuser, Gerät und Ausrüstungen jeder Art, wenn er einen Signalturm und eine Funkstation errichten, eine Balkensperre auslegen, den Hafen ausbaggern und Ankerbojen aussetzen ließ; wenn er hier einen Verwaltungsapparat und einen Ausbildungsstab von siebzig Offizieren und Mannschaften unterbringen und dazu ständig wechselnd zweihundert bis dreihundert Mann der jeweils einlaufenden Schiffe organisatorisch betreuen mußte – wenn er all dieses tat, mußte er zu einem gewissen Ergebnis kommen. Vermutlich zu dem Resultat, das ihm vorgeschwebt hatte. Dann konnte allerdings von einem freundlichen, bisher unberührten Dorf in den Highlands kaum noch etwas übrig bleiben. Ardnacraish war idyllisch schön gewesen und konnte es wohl auch wieder werden, wenn die Heimsuchung durch die Fremden vorbei war. Jetzt jedoch mußte der Ort einer dringenden kriegswichtigen Aufgabe dienen und wirkte daher zusammengeflickt, häßlich und vollkommen entstellt. Die ganze Verantwortung lag bei ihm allein. – Der Admiral blickte in den Hafen, hinweg über eine Reihe von Wellblechdächern, unter denen sich der U-Boot-Erkennungsdienst und die Signalschule befanden. Wie gewöhnlich wehte eine scharfe Brise: er konnte hören, wie der Wind die schlecht schließenden Türen der andern Büros im Stabsgebäude zum Klappern brachte, konnte sehen, wie im Hafen das Wasser sich kräuselte und kleine kabbelige Wellen an die Ankerbojen klatschten. Zur Zeit waren keine Schiffe im Hafen außer dem Ölponton und dem zum Stützpunkt gehörigen Schlepper. Das letzte Schiff war vor zwei Tagen ausgelaufen, und ein neues wurde, für den Nachmittag erwartet. Eins von dem nagelneuen Typ, das erste seiner Klasse: eine Korvette mit theatralischem Namen, der aber in der Marinegeschichte schon einen ehrenvollen Vorgänger hatte. Den Ausbildungsplan für das Schiff hatte der Admiral bereits festgelegt: die Ausbildung mußte unverzüglich beginnen. Und dieser Dienst verlangte sehr viel, obgleich vorläufig eigentlich alles noch praktisch unerprobt war, denn das ganze Geleitzugwesen befand sich noch im embryonalen Stadium, und eine klare Voraussage über Umfang und Eigenart der Aufgaben, für die die Geleitfahrzeuge gewappnet sein mußten, war einstweilen unmöglich. Aber es gab gewisse Dinge, die jedes Schiff beherrschen, und Eigenschaften, die jedes Schiff haben mußte, einerlei, wie es schließlich eingesetzt wurde. Die fundamentalen Forderungen waren: Sauberkeit, Gefechtskraft und Schnelligkeit. In dieser Hinsicht hing fast alles von den Offizieren ab, und der Admiral war sich – nach den Erfahrungen des vorigen Krieges – bewußt, daß er noch mit mancherlei merkwürdigen Offizierstypen rechnen mußte, ehe alles vorüber war. Dieses neue Schiff hatte, wie er feststellte, als Kommandanten einen Reserveoffizier. 50
Immerhin tröstlich, daß ein Seemann es führte. Die übrigen Offiziere waren noch unbeschriebene Blätter, konnten sehr viel oder nichts wert sein. Der Admiral zog die Stirn in Falten: was sie wert waren, wollte er rasch herausfinden, denn das war ja seine Aufgabe. Mochten sie glauben, er sei zu alt, ein Schiff in See zu führen: ein sicheres Urteil, wie ein Schiff auszusehen und sich zu benehmen hatte, konnte ihm niemand absprechen. Und der Krieg mochte dauern, so lange er wollte, und man mochte ihm von oben noch soviel Druck zur Beschleunigung geben: aus seinem Befehlsbereich kam kein Schiff in den Einsatz, das nicht vollauf den Ansprüchen genügte, die zu stellen ihn ein langes Leben bei der Marine berechtigte! Es klopfte an die Tür, ein Signalgast trat ein. Der Admiral blickte hoch: »Na?« »Compass Rose läuft ein, Sir. Meldung von Oberleutnant Haines.« »Hat er ihr einen Ankerplatz zugeteilt?« »Yes, Sir.« Der Admiral stand auf und ging wieder zum Fenster. Ein Schiff glitt eben durch die enge Einfahrt, in ganz langsamer Fahrt und etwas seitlich ausscherend, um dem quer einfallenden Wind entgegenzuarbeiten. Er beobachtete, wie ein Boot zu Wasser gelassen wurde und auf eine der Ankerbojen in der Mitte des Hafens zusteuerte. Von dem Boot ging sein Blick wieder zur Compass Rose, deren Bauart er sorgfältig studierte. Sie war klein, noch kleiner, als er erwartet hatte; ziemlich klobig, aber nicht ohne Linie, bis auf das plump wirkende Heck und den hart vor die Brücke gesetzten Mast. Sah sonst sauber aus, was man verdammt verlangen konnte, wenn sie frisch von der Werft kam – die Mannschaften vorn und achtern waren ordnungsgemäß im Arbeitszeug angetreten. Sie führte ihr Bezeichnungssignal und eine blitzneue britische Flagge an der Gaffel. Ein Geschütz auf der Back, achtern leichte Flakwaffen, die Wasserbomben, das war wohl schon alles. Machte nicht mehr her als ein etwas größer geratener Fischdampfer. Aber zu leisten haben würde sie mehr als ein Fischdampfer. Er beobachtete noch, wie das Schiff an die Boje gelegt wurde, – ein sauberes Manöver – dann wandte er sich an den Signalgasten: »Geben Sie ‘rüber: An Compass Rose von Seebefehlshaber: ›Gut gemacht.‹ Und Oberleutnant Haines soll meine Barkasse klarhalten: ich will gleich an Cord gehen.« Drei Wochen lang machten sie wirklich schweren Dienst. Von dem Moment ab, da die Barkasse des Admirals nach einem trügerisch schwungvollen Bogen unterm Heck der Compass Rose festgemacht hatte, so daß der Kommandant kaum rechtzeitig Meldung bekam, wurden sie pausenlos in Atem gehalten. Wenn sie nicht draußen mit dem U-Boot zusammen Übungen fuhren, 51
hatten sie Geschützexerzieren oder machten im Hafen Gefechtsdienst; wenn sie nicht bei Feuerlöschübungen waren oder den Anker Hand über Hand einhievten, befahlen eilige Signale, ein Boot zu fieren und am nächstgelegenen Strand einen bewaffneten Landungstrupp auszusetzen. Und zwischen all dem mußten die Mannschaften gruppenweise an Land exerzieren und an Kursen teilnehmen, und manchmal, wenn auf diese Art die halbe Besatzung von Bord und ihre normale Diensteinteilung über den Haufen geworfen war, kam irgendeine schreckliche Anweisung vom Admiral zur Ausführung von Manövern, bei denen jeder verfügbare Mann, ohne Rücksicht auf seinen Dienstgrad oder seine sonstige Funktion, die erste beste Aufgabe anzupacken hatte. Heizer fanden sich als Kanoniere wieder, Matrosen mühten sich, richtige Flaggensignale zu heißen. Funker, sonst äußerlich die Kavaliere, mußten das rauhe Handwerk der Öler übernehmen und schmierige Ölrohre neu verbinden. »Der Teufel soll den alten Kerl holen!« sagte Bennett mit saurer Miene, wenn er in einer dieser kritischen Lagen mit an einem Tau holen mußte, anstatt nur andere dabei zu beobachten. »Nächstens werde ich noch die Latrinen reinigen müssen.« Und Lockhart dachte: ›Wenn das nur wahr würde.‹ Die drei Wochen dieser harten Prüfung erwiesen sich als heilsame Ermunterung und waren von unschätzbarem Wert für das Schiff, zumindest für die Ausbildung, aber zuweilen war es so anstrengend, daß alle einen freien Tag verdient zu haben glaubten, sich aber kaum Hoffnung machten, ihn rechtzeitig zu bekommen. Und Feiertage gab es jetzt auch nicht, denn jetzt wurde ›aufgedreht‹ und alles auf Höchstleistung getrimmt, weil später dazu keine Gelegenheit mehr war. Stufe um Stufe erhöhten sich die Anforderungen: Unebenheiten wurden abgeschliffen, die Ungeschicklichkeit der Anfänger wurde überwunden und war bald vergessen. Ein Fortschritt wurde sichtbar, den alle erkannten und gern anerkannten: ihr Schiff erwachte erst jetzt zum Leben und wurde ihnen als ›fahrbarer Untersatz‹ lieber und als Waffe verläßlicher. Sie sahen ein, daß einmal der Tag kommen mußte, an dem sie durch schnelles exaktes Handeln in gefährlicher Lage vielleicht das Leben aller retteten; und wenn sie dafür vorher mit Überanstrengung und manchmal unverdient grober Behandlung bezahlen mußten, so lohnte es sich, diesen Preis aufzubringen und ihn sofort, wenn er bezahlt war, zu vergessen. Müdigkeit, Langeweile und der Groll gegen die Vorgesetzten verblaßten angesichts dieses höchsten Zieles: den Krieg zu bestehen. – Das Ausmaß ihrer Fortschritte wurde nie deutlicher als an ihren Seetagen, wenn sie draußen mit dem der Station zugeteilten Unter52
seeboot gefechtsmäßig übten. Hauptzweck dieser Übungen war die Erprobung ihres ›Asdic‹, des Unterwasserhorchgerätes zur Ortung der U-Boote – die Hauptwaffe ihres Schiffes – und die Verfeinerung der Zusammenarbeit zwischen den Unterwasser-Horchern, der Wasserbombengruppe und dem Kommandanten, denn das mußte für ihre spätere Leistung ausschlaggebend sein. In jener ersten Kriegszeit war das Horchgerät noch kaum mehr als ein übertrieben gepriesenes Echolot, das statt senkrecht in die Meerestiefe horizontal rings um das Schiff messen konnte. Immerhin war es ein Präzisionsgerät, das bei richtigem Gebrauch auch befriedigende Resultate erzielen konnte. Und bestimmt waren diese Jagden auf ein Unterseeboot, also auf eine echte, sich kriegsmäßig und mit aller List bewegende Beute, die sie durch noch größere List ausmanövrieren mußten – ganz anders als bei den Übungen an Land mit künstlichem Ziel – der erregendste Teil ihrer Ausbildung. Anfangs war ihnen wenig Erfolg beschieden. Bennett, Lockhart und Ferraby übernahmen bei diesen Jagden abwechselnd die Schiffsführung, und alle drei machten die gleiche Erfahrung: die größte Schwierigkeit lag darin, daß im selben Augenblick an zu viele Einzelheiten gedacht werden mußte. Das Schiff mußte manövriert werden, manchmal bei so schwerem Wetter, daß der Mast beim Schlingern ausholte wie ein Metronom; das Unterseeboot mußte entdeckt und während des ganzen Anlaufs im Ziel behalten werden, die Männer am Horchgerät mußten kontrolliert und in größter Eile wieder auf das Ziel gehetzt werden, sobald sie es verloren hatten; die richtigen Signale mußten geheißt, die Wasserbombengruppe rechtzeitig alarmiert werden, im rechten Moment mußte überall auf den richtigen Knopf gedrückt werden. Und wenn sie nur etwas vergaßen, mißlang der ganze Anlauf und mußte als Versager gebucht werden: eine unsinnige Zeitverschwendung und obendrein eine traurige Blamage vor aller Augen. Da war es kein Wunder, wenn bei den ersten Manövern dieser Art einer wie der andere das Lampenfieber bekam und bemüht war, diese Schwäche durch eine Mischung von Bluff und gespielter Gleichgültigkeit einigermaßen zu verdecken. Das verstand, seinem Wesen entsprechend, am besten Bennett: wenn man ihn hinterher hörte, hatte während seiner Schiffsführung nichts, was sich unter oder über Wasser bewegte, die geringste Chance gehabt, zu entkommen. Nach und nach aber schnitten sie besser ab: sie lernten die ›Marotten‹ des Schiffes und des Horchgeräts kennen und die Streiche, die beide ihnen spielen konnten; lernten, im voraus die vermutlich nächsten Bewegungen eines gejagten Unterseebootes abzuschätzen und wann sie sich bei einem Vorstoß in bestimmter Richtung allein auf ihr Gefühl und wann nur auf genaueste Erkundung verlassen durften. Dabei schärfte sich ihr Verstand und nicht weniger ihre praktische Gewandtheit. Und endlich kam ein Tag, an dem 53
Compass Rose in sechs Anläufen hintereinander jedesmal das U-Boot ›auffaßte‹ und im Ziel behielt bis zum gefechtsmäßigen ›Versenken‹ – der Tag, an dem sogar das U-Boot selbst, nachdem es bei Abschluß dieser Kämpfe – in denen es vergeblich jeden Trick und jedes Ausweichmanöver probiert hatte – aufgetaucht war, ihnen signalisierte: »Sie sind zu tüchtig. Fahren Sie los und versuchen Sie sich lieber an den Deutschen.« War diese Aufforderung im Augenblick auch nichts weiter als ein erfreuliches Lob, so traf sie doch genau den Kern. Alles übrige hielten sie jetzt nur noch für Kraftvergeudung. Sehr nahe war nun der Zeitpunkt, in dem sie endgültig das Schulzimmer verlassen und ihre Rüstung in der Welt der Erwachsenen erproben sollten. Und diese Rüstung – davon waren sie überzeugt – konnte etliche Beulen vertragen. Sogar Obermaschinist Watts gab zu, – wenn man ihn unverblümt fragte – daß Compass Rose sich sehr anständig zu bewegen wisse und daß zumindest die von ihm betreuten Maschinen sich als stark, leistungsfähig und zuverlässig erwiesen. Und von Bootsmann Tallow vernahm man jetzt weniger Worte über den Ruhmesglanz der Repulse, denn – in bescheidenerem Rahmen – hatte sich Compass Rose nun seine Liebe erworben. Eins freilich sollte nicht besser werden, wenn es sich auch bei der angespannten Tätigkeit zumeist vergessen ließ: die Situation in der Messe. Ericson, der seine Offiziere beim Dienst überwachte, war mit ihren beruflichen Leistungen zufrieden, doch die Reibereien gab es ja nicht im Dienst, sondern wenn sie an Bord unter sich waren, zumal sie an Land nichts unternehmen konnten außer Spaziergängen, die sie trotz der winterlichen Kälte unternahmen, nur um sich einmal abzulenken. Als es schließlich zu einem Krach kam, konnte Ericson das nicht übergehen, sondern mußte eingreifen. Es war ihm unangenehm, besonders weil er aus Gründen der Disziplin diesmal dem Falschen eine Rüge erteilen mußte, doch einen offenen Streit zwischen Bennett und den beiden andern Offizieren konnte er beim besten Willen nicht schweigend übergehen. Der Anlaß war wie meistens Ferraby, der nun ein für allemal als der wunde Punkt galt, als das schwache Glied, das die Kette unsicher machte. Mühe gab er sich nach wie vor genug, denn er wollte so gern das Beste leisten, aber das half ihm wenig: sein Pflichteifer wurde fortwährend verdorben und vergiftet durch die Gewißheit, daß Bennett ihn doch wieder tadelte, ganz einerlei, um was es ging. Bei nur ein paar ermutigenden und gelegentlich anerkennenden Worten hätte er wahrscheinlich den neuen Leistungsstand erreicht, der insgesamt jetzt auf Compass Rose vorherrschte, denn er war ja keineswegs dumm, sondern anpassungsfähig und leicht zu begeistern, und hatte vor allem viel guten Willen. Da er aber trotzdem immer wieder nur hören mußte, daß alles falsch sei, was er machte, und ihm das in den rüdesten Ausdrücken unter die 54
Nase gerieben wurde, konnte es niemand wundern, wenn seine Hemmungen immer stärker zutage traten. Schließlich erfüllten ihn Ekel und Furcht schon, wenn er diese grobe Stimme nur hörte, die jeden Moment »Ferrabi-i!« brüllen konnte, um sofort das, was er gerade zu tun im Begriff war, rücksichtslos lächerlich zu machen. Und seine durch Abscheu und Angst vergrößerten Hemmungen konnten natürlich weder ihn selbst noch dem Dienst am Schiff förderlich sein. Lockhart beobachtete klar die Entwicklung und tat, was irgend möglich war, um Bennetts bösesten Angriffen vorzubeugen, aber gerade sein Bestreben, Ferraby in Schutz zu nehmen, führte zum unverhüllten Bruch. Das passierte eines Abends in der Messe, als Ferraby, der wachhabender Offizier war, nach der Abendronde wieder hereinkam. Obwohl er auch auf der Brücke kontrolliert hatte, hatte er versäumt, die Ankerpeilung ins Logbuch einzutragen, was zur Zeit eine reine Formsache war, da kein Wind ging und Compass Rose in dem geschützten Hafen höchstens bei einer Sturmflut an ihrer Ankerkette gezerrt hätte. Bennett jedoch ergriff, wie stets, die Gelegenheit, ihn in einer langen ›Ansprache‹ mit brutalen Worten herunterzumachen, was Ferraby ohne Protest über sich ergehen ließ. Nachdem Bennett ihn endlich in verächtlicher Weise wieder nach oben geschickt hatte, murmelte Lockhart, der den Vorgang miterlebt hatte, etwas durch die Zähne, was freilich nicht unhörbar blieb. Bennett, der vor der Anrichte stand und sich einen Schnaps einschenkte, fuhr herum. »Was sagten Sie eben?« fragte er scharf. Lockhart faßte einen Entschluß. »Ich sagte«, wiederholte er deutlich, »weshalb lassen Sie ihn eigentlich nicht in Ruhe? Er ist ja fast noch ein Kind und versucht immer nur sein Bestes.« »Das ist aber nicht gut genug.« »Wäre es aber, wenn Sie ihm eine Chance ließen.« Bennett klotzte sein Glas auf den Tisch. »Das reicht mir«, sagte er barsch. »Mischen Sie sich da gefälligst nicht ein! Ich habe nicht nötig, darüber mit Ihnen zu diskutieren!« »Sie brauchen mit niemand zu diskutieren«, sagte Lockhart so ruhig wie möglich. »Aber können Sie denn nicht sehen, daß es nur von Schaden ist, wenn Sie Ferraby so zusetzen? Dadurch wird er nur noch unsicherer als er schon ist. Er ist nun mal nicht anders veranlagt.« »Dann wird’s höchste Eisenbahn, daß er sich ändert!« rief Bennett höhnisch. »Er gibt sich die größte Mühe.« »Tut er nicht! Taugt keinen Pfifferling mehr, seit ich ihn in Glasgow gehindert habe, seinen Pinsel einzutauchen! Seitdem ist überhaupt nichts mehr los mit ihm!« 55
Lockhart sah ihn noch einen Moment fest an und sagte betont geringschätzig: »Was sind Sie bloß für ein greulicher Mensch.« Bennett straffte sich mit einem Ruck, er wurde förmlich stocksteif vor Wut. »Was bilden Sie sich eigentlich ein, mit wem Sie reden, zum Henker nochmal!« schrie er. »Bei Gott, nehmen Sie sich nur in acht, sonst werde ich Ihnen verdammt die Hölle heiß machen! Zunächst mal sorge ich dafür, daß Sie bis Kriegsende nicht befördert werden!« Lockhart, der gerade ein Glas mehr getrunken hatte, als er vertragen konnte, ohne die Grenzen seiner kühlen Reserve zu überschreiten, sagte, indem er anzüglich auf Bennetts zwei Ärmelstreifen blickte: »Ich weiß gar nicht, ob ich jetzt noch Oberleutnant werden möchte.« Bennett, nun außer sich vor Zorn, trat drohend an Lockharts Stuhl. »Noch eine solche Frechheit, und ich mache dem Kommandanten Meldung!« »Versuchen Sie’s«, sagte Lockhart, dem es jetzt gleichgültig zu werden begann, welche Folgen diese Szene haben mochte. Sie fortsetzen, konnte Selbstmord bedeuten, aber wenn er sich jetzt unterkriegen ließ, verlor er sofort wieder den eben gewonnenen festen Grund. »Versuchen Sie’s«, wiederholte er. »So dumm, wie Sie denken, ist der Kommandant nicht. Der weiß bestimmt, wie Sie Ferraby behandeln, darauf können Sie sich verlassen.« »Er weiß, daß ich Ferraby so behandle, weil Ferraby ein faules Schwein ist und zu nichts taugt!« Bennett fixierte ihn giftig, um neue Widerrede herauszufordern. »Und dasselbe gilt auch für Sie!« zischte er. »Das verbitte ich mir!« sagte Lockhart scharf, nun doch aus seiner Beherrschung gerissen. »Wir tun beide immerhin hier an Bord verdammt viel mehr als Sie!« Nach diesen Worten gab es einfach keine andere Wahl, als die Mütze aufzusetzen und Bennett zur Kommandantenkajüte zu folgen. Der respektvolle Blick des Stewards Carslake, der vorher mit diebischer Freude gelauscht hatte und jetzt wie zufällig aus der Pantry trat, als die beiden mit verkniffenen Mienen vorbeischritten, war ein ausreichender Kommentar zur Schwere dieses Falles. Der ließ sich wohl nur durch scharfe disziplinarische Maßnahmen bereinigen. – Die Gegenüberstellung in der Kajüte verlief jedoch eigenartig und brachte nicht die endgültige Klärung, die Bennett oder Lockhart erwartet hatten. Ericson hörte sich Bennetts Erklärungen an, gegen die wenig zu sagen war, da sie auf unverrückbaren Tatsachen beruhten, konnte sich aber selbst nach den Eingeständnissen beider nicht recht schlüssig werden, wie die Sache am besten zu behandeln sei. Auf einen Zwischenfall dieser Art war er schon seit langem gefaßt gewesen, und nun stand er ihm gegenüber. Lockhart hatte die Dummheit begangen, sich nicht zu beherrschen, während Bennett nur seine übliche Manier gezeigt hatte. Er als Kommandant mußte nun die 56
richtige Lösung finden und dabei die Wahrung der Disziplin obenan stellen. Aber: wie sollte man denn hier die Disziplin am besten aufrechterhalten? Die ideale Lösung wäre gewesen, Lockhart zu mehr Zurückhaltung zu ermahnen und Bennett ein weniger barsches Benehmen zu empfehlen, doch das stand nicht ohne weiteres im Einklang mit der Marinedienstvorschrift, und hier ging es darum, dem Buchstaben des Gesetzes zu genügen. Am besten wollte es Ericson erscheinen, zunächst auf negative Weise die Angelegenheit zu regeln, und dazu bot sich ihm ein Anknüpfungspunkt, als Lockhart auf die Frage nach dem Anlaß des Krachs sagte: »Ich glaube, Ferraby wird zu schroff behandelt, Sir.« »Es ist nicht Ihre Sache, ob ein Dritter schroff behandelt wird oder nicht«, fiel Ericson streng ein. »Sie haben Ihren eigenen Dienst zu machen, ohne sich darum zu kümmern, wie der I.W.O. seine Offiziere behandelt.« »Das sehe ich ein, Sir.« Lockhart, der straffe dienstliche Haltung angenommen hatte, verlor trotz der inneren Erregung nicht sein feines Gefühl für die Atmosphäre und spürte genau, in welchem Zwiespalt der Kommandant sich befand. Doch er wollte, einmal so weit gekommen, die Situation nicht verwässern lassen durch nichtssagende Hinweise wie den, daß jeder sich um seinen eigenen Kram zu kümmern habe oder dergleichen. »Wenn Sie aber der Meinung sind, Sir, daß einer Ihrer Freunde ungerecht behandelt wird, dann ist es doch eigentlich selbstverständlich, daß Sie versuchen, ihm zu helfen«, sagte er. »So, meinen Sie?« fragte Ericson ironisch. »Ich finde, in solchem Fall ist es bei weitem besser, sich aus der Sache herauszuhalten und ihn selbst für sein Seelenheil sorgen zu lassen. Dann gibt’s nicht solchen Krach, und« – er blickte Lockhart grimmig an – »Streit zwischen Ihnen und dem I.W.O. dulde ich unter gar keinen Umständen!« »Das weiß ich, Sir. Ich hatte mich ein bißchen aufgeregt dabei, und« – er wollte eine Entschuldigung anfügen, aber es gelang ihm nicht, die passenden Worte zu finden. Statt dessen schloß er: »Ich will nicht versuchen, mich den Folgen zu entziehen. Trotzdem bin ich der Überzeugung, daß diese Art der Behandlung« – er machte eine Geste zu Bennett – »auf Ferraby verheerend wirkt. Der hat ja jetzt keinen Funken Selbstvertrauen mehr.« Bennett sagte, ohne ihn anzusehen: »Ich wünsche von Ihnen keine Belehrung, wie ich mit Ferraby umzugehen habe.« Ericson blickte von einem zum andern: in Lockharts ernstes, entschlossenes, unter dem elektrischen Licht bleich wirkendes Gesicht, und in Bennetts eingebildetes, rotes. Seine innere Stimme sagte ihm: hier gibt es keine glatte Lösung, diese beiden Charaktere sind zu grundverschieden. Dann ertappte er sein eigenes Gesicht im Spiegel zwischen den beiden: es wirkte derb und 57
quadratisch, eine geeignete Barriere zwischen den zwei feindlichen Gewalten. Es sah aber viel überzeugender aus als seinen wahren Gefühlen entsprach: er spürte, daß er die Angelegenheit nicht gut regelte, und sie mußte aufs beste geklärt werden, sollte es später keinen Rückschlag geben. Das Leiden war bei ihm die große Übermüdung: in der Kajüte war die Luft, da die Bullaugen schon seit dem Befehl ›Schiff abblenden‹ vor fünf Stunden geschlossen waren, verbraucht und muffig. Tags vorher waren sie lange in See gewesen, und ein anstrengender Tag stand ihnen wieder bevor. Die Gewohnheit des Admirals, ganz unvermutet an Bord zu schlüpfen, um einmal ›nach dem Rechten zu sehen‹ – diese jähen, nur durch blitzschnelles Ablaufen seiner Barkasse von der Pier angekündigten Besuche schufen fortwährend Nervosität an Bord. Heute abend hatte Ericson nur noch einen Rest unverbrauchter Kraft, und schon gar keine für so ein Theater zwischen den eigenen vier Wänden. Dennoch versuchte er jetzt, die Sache kurz und bündig zu erledigen, ohne noch bis ins einzelne darauf einzugehen, als handle es sich gar nicht um eine so tiefgehende Spaltung. »Also jetzt hören Sie zu«, begann er. »Die Geschichte ist nun weit genug gegangen, aber damit ist auch Schluß! So etwas schadet Ihnen selber und schadet dem Schiff.« Er sah Lockhart an. »Ich möchte nicht, daß Sie sich noch einmal in dieser Weise in Dinge mischen, die Sie nichts angehen. Haben Sie mich verstanden?« »Yes, Sir«, sagte Lockhart. In diesem Sinne war er jetzt bereit, nachzugeben: er hatte zwar nicht gesiegt, aber Bennett auch nicht – es sei denn, daß der Kommandant sich noch weiter äußerte. Es schien jedoch nichts mehr zu folgen. »Also denken Sie daran«, sagte Ericson. »Ich wünsche keinerlei Beschwerden über Sie mehr zu hören, sonst werde ich handeln müssen, und zwar so, daß es Ihnen keinen Spaß machen dürfte. Und nun begraben Sie die ganze Geschichte. Es gibt schon sowieso genug zu tun, auch ohne diese Zankereien.« Er schwieg und wandte sich zur Seite, wohl um anzudeuten, daß sie entlassen seien. Bennett öffnete den Mund, um etwas zu sagen, weil er einfach nicht zu fassen vermochte, daß die Sache damit erledigt sein sollte. Wo blieb denn die Bestrafung der Unverschämtheit, der bissigen Bemerkungen Lockharts und der Untergrabung der Autorität? So durfte das nicht sein Bewenden haben! Er wollte jedoch nicht in Lockharts Gegenwart noch einmal anfangen. Das mußte er weniger offiziell einleiten. Deshalb sagte er: »Darf ich noch ein paar Worte mit Ihnen allein sprechen, Sir?« Ericson, der damit gerechnet hatte, sagte: »Ja, gut, I.W.O.« Er nickte Lockhart zu, der die Kajüte verließ. »Na, was gibt’s denn nun noch?« fragte er nicht ganz so freundlich, wie seine letzten Worte geklungen hatten. 58
»Sir«, erwiderte Bennett, »nun hat Lockhart wohl doch seinen Kopf durchgesetzt.« Ericson, in Versuchung zu antworten »Ganz recht«, – denn das war ungefähr seine Einstellung jetzt – unterdrückte das und sagte: »Sie müssen da schon gewisse Konzessionen machen. Er ist als Offizier noch jung, und ich finde, wir sind alle jetzt hart ‘rangenommen worden. Es war ein ziemlich starkes Stück, dergleichen wird nicht wieder vorkommen.« »Ich habe mit Lockhart viel Ärger gehabt«, sagte Bennett gekränkt. »Daher hoffte ich, Sie würden ihn mal hochnehmen. Er hat’s nötig, ordentlich eins auf den Hut zu kriegen.« Ericson, der in der stickigen Luft schwitzte, dachte: ›Eines schönen Tages wirst du mal buchstäblich eins auf den Hut kriegen, und das bedeutet dann: Kriegsgericht, und nur durch deine eigene Schuld, weil du so ein ungehobelter Klotz bist und das immerfort zeigen mußt.‹ Er erinnerte sich aus seiner Fahrenszeit im Fernen Osten an einen Ersten Steuermann, dem Bennett glich: ein ewig fluchender Bursche, der immer gleich mit den Fäusten zuschlug, nie nachgab und nie ein lobendes Wort sprach. Der hatte schließlich auch ein Opfer gebraucht und einen chinesischen Matrosen getötet, der so unklug war, sich über die Verpflegung zu beschweren. Er wurde zwar nur für Totschlag, nicht für Mord verurteilt, hatte sich aber sein Leben völlig verpfuscht. Bennett würde gewiß in ähnlicher Weise scheitern, wenn auch vielleicht nicht ganz so tragisch, oder er brachte andere in solche Situationen. Es gab eben Leute, die sich durch ihre eigene Sturheit, ihre plumpe Art der Menschenbehandlung, selbst ins Verderben rissen. Pech, daß so einer gerade auf Compass Rose landen mußte. Er sagte knapp: »Ich möchte nicht, daß Leute schikaniert werden, Bennett. Es gibt andere Mittel, sie zu korrekter Pflichterfüllung anzuhalten.« Er meinte, noch etwas hinzufügen zu sollen über Ferraby und die Notwendigkeit, ihn milder anzufassen, doch vielleicht hatte Bennett für heute abend genug deutliche Winke bekommen. So ergänzte er nur noch: »Stellen Sie sich zu Lockhart ganz neu ein und warten Sie ab, wie er sich dann führt.« Damit wandte er sich so brüsk ab, daß sogar Bennett mit seinem dicken Fell sich nicht länger dagegen stemmen konnte. Sonst ging es womöglich in dieser Tonart noch weiter, und davon hatte Ericson zunächst genug. Nachdem Bennett abgetreten war, noch voller Entrüstung, die er kaum hatte auslassen, geschweige denn dramatisch steigern können, verließ auch Ericson seine Kajüte, trat durch den dicken Verdunkelungsvorhang an die Treppe zum Oberdeck und stieg hinauf. Die frische Luft, so bitterkalt sie war, brachte ihm willkommene Erleichterung. Die Nacht war klar, der kleine Hafen deutlich zu erkennen, leichte Wellen schlugen gegen den Schiffsleib, endlose 59
Begleitmusik zu ihrer unaufhörlichen Bewegung. Er betrachtete den Himmel: Federwolken um den Mond stellten für die Nacht noch Wind in Aussicht, aber das Wetter für morgen schien so gesichert zu sein wie ihr Ankerplatz. Rings um sich vernahm er die vertrauten Bordgeräusche, die so beruhigend wirkten: das Brummen der Lichtmaschinen, das Kreischen eines Grammophons im Vorschiff, das Stapfen der schweren Seestiefel, in denen der B.d.W. weiter achtern seine Runde machte. Das alles gehörte einem Leben und einer Stunde an, die er voll auskostete. Eine Nacht im Hafen nach hartem Tageslauf: konnte es Schöneres geben –? Aber so ganz zufrieden war er doch nicht: die eben beendete Szene mit Bennett und Lockhart hatte einen schlechten Geschmack hinterlassen. Zuviel war ungeklärt geblieben, aber wenn er alles bis ins Kleinste untersucht hätte, wäre die Sache schließlich für Lockhart ernster verlaufen. – Und da war dieser Ferraby, fast hilflos in Verhältnissen treibend, die er kaum recht begriff, und verwundbar wie ein Baby, das nie größer wurde. – Er zuckte die Achseln und ging wieder in seine Kajüte, froh, sich bis morgen damit nicht mehr beschäftigen zu müssen. Im übrigen gab es nur ein wahres Heilmittel für die Streitenden: Schluß mit der gegenseitigen Bekämpfung, und dafür: Kampf gegen den Feind… Bald war ihre letzte Woche in Ardnacraish gekommen, das Ende ihrer Lehrzeit. Das Kampfinstrument Compass Rose war schon fast auf den rechten Klang gestimmt, und ein Vertrauen in das eigene Können verbreitete sich bei allen Männern an Bord, ausgenommen die wenigen gar keiner Regung zugänglichen Elemente. In ihrem Dienst fühlten sich nun alle ganz sicher: sie kannten ihr Schiff, und jeder kannte seine Aufgabe. Jetzt mochte von ihnen verlangt werden, was wollte: es spielte keine Rolle mehr, ob der Admiral oder sein Stab sie gewissermaßen beschlichen, keine Rolle, welche ungewöhnlichen Signale den Gefreiten Wells veranlaßten, die Luft hörbar durch die Zähne zu ziehen, oder Bennett zum Fluchen und Brüllen brachten – sie hatten die Gewißheit, mit allem prompt fertigzuwerden. Manchmal kamen noch Fehler vor, die der neuen Würde Abbruch taten: wenn zum Beispiel ein Mann von der Vorschiffsgruppe den falschen Schäkel an der Ankerkette löste und den Anker mit zwei Meter Kette glatt über den Bug in den Hafen fallen ließ – doch das waren nur vereinzelte Rückschläge in einer stetig fortschreitenden Entwicklung, kleine Klippen im großen Strom. Im großen ganzen hatten sie in Ardnacraish günstig abgeschnitten: sogar Ferraby begann jetzt, da Bennett sich zu mäßigen schien und nicht mehr so laut schimpfte, Fortschritte zu machen: in unvermuteter Frische packte er das Leben neu an und versuchte wieder, 60
sich wirksam einzuordnen. – Compass Rose war jetzt, acht Wochen nach ihrer Indienststellung, ein funktionierendes Ganzes Während der Schlußwoche war eine andere Korvette zu ihnen gestoßen, das zweite Erzeugnis vom neuen Typ. Sie trug den Namen Sorrel, und ihr Kommandant Ramsay war ein alter Bekannter von Ericson. Ihre Ankunft war ein Anlaß zur Freude, da sie die wenigen Reize eines im Grunde öden Erdenwinkels um einen vermehrte. Als sie zu Übungen mit dem Unterseeboot ausliefen, jagten Sorrel und Compass Rose gemeinsam auf die Beute, und auch das war ein Vorteil, der das erlahmende Interesse an den Übungen neu anfachte. Abwechselnd fuhren sie Angriffe auf das U-Boot, während das nicht jagende Schiff weiter in See stand und ihnen Kreuzpeilungen, Ratschläge und manchmal auch respektlose Kritiken signalisierte, wenn es selbst erfolgreicher gewesen war. Das Ganze war ein nützlicher Vorgeschmack auf die bei den Geleitzügen zu erwartenden Ereignisse. Dann war vielleicht eine ganze Anzahl von Sicherungsfahrzeugen an der Jagd beteiligt, und sie alle mußten diese Einzelheiten erlernen, um wirksam zusammenarbeiten zu können, ohne einander zum Hindernis zu werden. Die Schlußübung für Compass Rose bestand im Nachtgefechtsschießen, eine wichtige Angelegenheit. Bei Dunkelwerden verabschiedete sie sich von Sorrel, die in den Hafen zurückkehrte, und kreuzte dann eine Stunde in Höhe der Südspitze der Insel, wo sie die Ankunft eines Scheibenschleppers und den Anbruch der Nacht erwartete. Es war einer der Abende, an denen die schottischen Highlands am schönsten sind. So erlebten sie zum Glück als Abschied von der friedlichen Umgebung ein herrliches Bild, an das sie noch lange gern zurückdachten. Die untergehende Sonne warf rotgoldene Streifen über den Himmel, die Dämmerung ließ die umliegenden Inseln Mull, Jona und Colonsay vor einem zart getönten Hintergrund erscheinen, und die Dunkelheit senkte sich mit tiefen purpurnen Schatten von den Bergen herab, die sich rings um das Schiff im Wasser widerspiegelten und es in königliche Farben hüllten. Und dann, als es ganz Nacht wurde, waren die Berge verschwunden: das einzelne kleine Blinklicht an der Hafeneinfahrt stand noch immer, zehn Meilen oder noch weiter entfernt für sie Wache, das einzige, was sie noch mit dem Festland verband. Allein auf dunkler, geräuschloser See, unter einem Himmel, an dem eben die ersten Sterne erschienen, zog Compass Rose, von der Dünung gewiegt, langsame Kreise und wartete auf die Schleppscheibe. Die Aufmerksamkeit der wenigen Männer auf der Brücke war besonders konzentriert: vorn stand der Kommandant mit Lockhart als Wachoffizier neben sich. Signalgefreiter Wells, gegen seine Morselampe gelehnt, suchte mit dem Fernglas die See ab, in den Brückennocken standen wie zur Abrundung des Bildes die 61
beiden Ausguckposten. Die Kälte war scharf: sie spürten sie im Gesicht, an ihren klammen Händen, spürten sie von den Füßen bis zu den Hüften, wenn sie stampften, um sich aufzuwärmen. Die Segeltuchverkleidung der Brücke war kein Schutz gegen die Kälte: auf ihrer hohen Plattform wirkten die wartenden Gestalten wie feste Bestandteile des Schiffes, unter freiem Himmel offen dem Wetter ausgesetzt. Plötzlich richtete Wells, der querab etwas entdeckt hatte, sich auf und sagte: »Er ist da, Sir, rot acht-null.« Der verschwommene Fleck an Backbord nahm mehr Form an: unter dem aufgehenden Mond hob sich der Schlepper als harte Silhouette vom Horizont, hinter ihm als schwarze Fläche die Scheibe. Wells sprach wieder: »Anruf, Sir.« Rasch drehte er sich zum Signalgast der Wache um, der hinter ihm stand: »Rose, schreiben Sie auf: ›An Compass Rose, von Basher…‹« »Interessanter Name für einen Schlepper«, sagte Lockhart. »Lassen Sie sich ihn zur Warnung dienen«, sagte der Kommandant. Lockhart lächelte in sich hinein. Dann und wann machte der Kommandant solche Bemerkungen, die seine angebliche dienstliche Unmenschlichkeit Lügen straften. Wenn das so unerwartet kam, war es besonders erfrischend. Die abgedunkelten Signallampen blinkten sich über eine Meile stillen Wassers zu. »Morsesprüche, Sir«, meldete Wells. »Vom Schlepper: ›Mein Kurs zwosieben-null, Geschwindigkeit vier Meilen. Trossenlänge zur Scheibe neunzig Meter. Bin klar‹« »Gut so«, sagte Ericson. »Geben Sie ‘rüber: ›Erster Anlauf. Feuereröffnung bei dreitausend Meter Entfernung. Drei Schuß. Bitte Treffer melden‹.« Wieder blinkten die kleinen Scheinwerfer, ihre Morsezeichen zuckten durch die Finsternis, als seien sie froh, einander zu finden. »Antwort, Sir: ›Wenn’s Treffer gibt‹«, meldete Wells unerschüttert sachlich. »Witzbold«, sagte Ericson kurz, neigte sich übers Sprachrohr: »Steuerbord zwanzig, Kurs Nord.« Und zu Lockhart: »Alarm geben: Gefechtsstationen. Wir wollen das gleich gründlich machen.« Die Alarmglocken, aus den unteren Decks nur schwach und doch schrill hörbar, erregten im ganzen Schiff, in der Länge und Breite, ein hastiges Hin und Her, dessen Geräusche auch auf der Brücke deutlicher wurden. Gestalten erschienen auf der Geschützplattform und wimmelten um das Rohr. Bootsmann Tallow meldete sich als Rudergänger, aus dem Sprachrohr vom Achterdeck kam die Meldung, daß Leutnant Ferraby mit der Wasserbombengruppe gefechtsklar sei. Wie so oft in den letzten Wochen, erwachte Compass Rose auf einen Schlag zum Leben. Die Lücken in der Gefechtsbereitschaft schlössen sich schnell, indem sich das Oberdeck mit Männern anfüllte, die 62
keine falschen Griffe mehr machten und sich in dem Durcheinander nicht behinderten, sondern so flink wie im hellsten Tageslicht auf ihre Stationen fanden. Die Tage des Drills und der Übungen machten sich bereits bezahlt: wenn die Zukunft es in kritischer Stunde erfordern sollte, waren sie bereit. Lockharts Platz für den Gefechtsfall war die Back, das Kommando am Geschütz. Kaum war er dort, im Finstern die Treppe hocheilend, und hatte vom Bootsmaat Phillips die Klarmeldung der Geschützbedienung entgegengenommen, da fühlte er schon, wie Compass Rose unter den zunehmenden Umdrehungen der Schraube zu beben begann: der starke Fahrtwind schlug ihm kalt ins Gesicht, als zwänge er ihn zu sofortigem Handeln. Die Bedienung lud und wartete auf den Feuerbefehl, während das Schiff über die dunkle See glitt und die Entfernung zum Ziel sich verkürzte. Da kam von der Brücke der gebrüllte Befehl: »Ziel peilt rot vier-fünnef – Entfernung dreitausend – Feuer eröffnen!« – und von diesem Moment an lag die Entscheidung bei Lockhart. Compass Rose hatte keine automatischen Richtanlagen, im Gefecht wie jetzt mußte alles mit ein paar gebrüllten Kommandos und direktem Richten am Geschütz gemacht werden. Lockhart stellte die Entfernung ein und wartete, bis der Richtschütze, der angespannt in die Dunkelheit schaute, ihm meldete: »Ziel aufgefaßt!« Dann gab er den Befehl: »Feuern!« Er hatte noch kein Nachtschießen erlebt. So aus der Nähe betäubte es ihn fast: der harte Knall, die vorschießende lange Stichflamme, die ihn für Sekunden blendete, und der Rauch, der ihm den Atem nahm. Durch sein Glas suchte er nach dem Einschlag der Granate – da war er! Eine hohe Wassersäule, eine Fontäne, die leuchtend im Mondschein zersprühte – in Linie mit dem Ziel, aber erheblich zu kurz. »Vierhundert mehr – Feuer!« schrie er. Wieder der krachende Abschuß, wieder die Stichflamme, das Warten auf den zweiten Aufschlag. Diesmal konnte er bereits, den Krach weniger beachtend, das Geschoß durch die Finsternis pfeifen und jaulen hören. Jetzt lag der Schuß hinter dem Ziel, also mußte sich die Entfernung schneller verringert haben, als er gedacht hatte, oder der erste Schuß war schlecht gewesen, bei steigendem Bug abgefeuert. »Zweihundert weniger – Feuer!« Das war eine gute Gabel! Jetzt lag die Wassergarbe vor dem Ziel. Aber es war der letzte Schuß des Anlaufs gewesen. Der Gong zum Feuereinstellen erklang, und Lockhart rief »Stopfen! Stopfen, stopfen!«, um ihn zu bestätigen. Dann trat er zurück, während das Rohr ausgewischt wurde. Er hatte den Geruch des Mündungsqualms in der Nase, als er Phillips murmeln hörte: »Mit dem nächsten hätten wir ’n Volltreffer gehabt.« Da spürte er auf einmal freudige Genugtuung. Der Lärm, die Feuerzungen und die verschärfte Spannung waren für ihn noch erregend neu. Noch nie hatte er so etwas mitgemacht, aber es schien ja, – wirklich, es sah so aus – als hätte er’s gut ge63
macht. Wie als Antwort auf seinen Gedanken rief der Kommandant von der Brückenreling über ihm: »Nicht schlecht, Lockhart! Klarmachen zum zweiten Anlauf!« Daß Bennett im Hintergrund in unangenehmer Weise laut über Bord spuckte, glaubte er nicht als Kommentar werten zu müssen. Der zweite Anlauf wurde dagegen ein mächtiger Versager, der kaum ein Ruderboot bange gemacht hätte. Der erste Schuß fiel kurz, und zwar um soviel zu kurz, daß Lockhart überzeugt war, der Richtschütze müsse den Kopf verloren und bei vorn einstampfendem Schiff gefeuert haben, so daß das Rohr abwärts lag. Der zweite lag aus nicht erkennbarem Grunde außerhalb der Zielrichtung. Dieser Versager ließ sich einwandfrei auf den Rudergänger zurückführen, der das Schiff im kritischen Moment aus dem geraden Kurs gebracht hatte. Den dritten Einschlag, der alles wiedergutmachen sollte, konnte er überhaupt nicht entdecken. Nach dem Augenschein zu urteilen, der ihm nichts zeigte, schien der Schuß gar nicht gefeuert worden zu sein, aber vermutlich hatte er weit hinter der Scheibe gelegen, die ihn verdeckte. Und damit war der Anlauf zu Ende. – Die nachfolgende lärmende Tätigkeit war schon weniger interessant als das erstemal, und das diesbezügliche Schweigen auf der Brücke wirkte geradezu beleidigend. Er sagte leise zu Phillips: »Das müssen wir aber besser machen.« Und Phillips antwortete energisch: »Werden wir auch!«, um dann seine Geschützbedienung mit ganzen Serien saftiger Schimpfwörter auszuzählen. Lockhart, der sich in diesem Fall auf die ›beschränkte Haftung‹ zurückzog, wanderte wie zufällig außer Hörweite. Er hatte seine Autorität um eine Stufe weitergegeben, offenbar in beste Kompetenz. Phillips’ Schimpfkanonade mußte gute Wirkung gehabt haben, denn der letzte Anlauf wurde bei weitem der beste. Ein Richtungsschuß, etwas zu kurz, und dann: »Zweihundert mehr – Feuer!« Und noch einmal zwei Einschläge dicht am unteren Rande der Scheibe! Vom Schlepper, auf den das Eindruck gemacht hatte, flackerte ein Signal herüber, der Kommandant rief diesmal: »Sehr gut, Lockhart!«, und aus Bennetts Kehle kam kein abfälliges Räuspern. »Versenkt mir das Schiff, Meisterschütze«, zitierte Lockhart laut, ein wenig übermütig. »Versenkt es, zersplittert es, zersplittert es in zween! Laß fallen es in Gottes Hand und nicht in Spaniens Klauen!« »Wie bitte, Sir?« fragte Phillips diensteifrig. »Poesie«, sagte Lockhart. »Rohr auswischen, Verschluß sichern, und dann sagen Sie dem Steward, er soll Ihnen sieben Flaschen Bier geben.« Nie im Leben hatte er sich wohler gefühlt: in diesem Augenblick, da er auf der Geschützplattform stand; indes die Bedienung noch beschäftigt war und in der Dunkelheit schwatzte, hätte er sogar Bennett die Hand reichen oder sich der 64
Marine für zwölf Jahre verpflichten können… Es war nach Mitternacht, als sie wieder in den Hafen einliefen: da es die letzte Übung nach ihrem Ausbildungsprogramm und der nächste Tag dienstfrei war, spielte die späte Stunde keine Rolle. Als Compass Rose ganz langsam durch die Hafeneinfahrt glitt, wirkte sie wie ein graues Gespenst, das in sein Versteck zurückschlüpft, vor dem ersten Hahnenschrei, am Schluß der Geisterstunde, die ein Gespenst nicht ungestraft überschreiten darf. Die Balkensperre war für sie geöffnet, nichts rührte sich, als sie die Lücke passierten und in langsamster Fahrt ihrer Boje zusteuerten. Lockhart zielte mit dem Strahl seiner Taschenlampe nach unten, bis er das weiße Gesicht des auf der Boje hockenden Matrosen entdeckte und die Drahttrosse mit dem gefederten Schnapper am Ende sich zu dem Mann hinabschlängelte. Dann drehte er sich um und rief zur Brücke hinauf: »Eingeschäkelt, Sir!« Nun waren sie in Ruhestellung, sein Anteil an diesem Tage war geschafft. Wenige Minuten später war das Festmachmanöver beendet, die Glocke zum Maschinenraum erklang, schwach vernehmbar: »Maschine abstellen!« – das Schlußsiegel auf ihre Ankunft. Die Lose der Trosse lief geräuschvoll aus und rief an den Klippen ein hohles Echo hervor, so daß Phillips in der Dunkelheit sagte: »Ich wette, das weckt den Admiral.« Bei den Männern auf der Back erhob sich ein leises Gelächter; vielleicht hatte Phillips sein Bier schon intus. Lockhart warf noch einen letzten Blick auf die Vertäuung, dann sagte er: »Gut so – genügt« und folgte seiner Gruppe übers dunkle Vorschiff den Niedergang hinab. Er war steif und müde, doch dieser letzte Tag war sein schönster gewesen, und Compass Rose, die sich jetzt friedlich unter dem Mond an ihrer Boje wiegte, war ein Etwas, das er nun – ohne es genauer erklären zu können – liebte… Wieder saß Vizeadmiral Sir Vincent Murray-Forbes an seinem Schreibtisch im Stabsgebäude oberhalb des Hafens. Diesmal schrieb er einen Bericht, einen der Hunderte von Berichten über Schiffe und Besatzungen, die er noch Monat um Monat, bis zum Ende des Krieges, ausfertigen sollte: über Schiffe, die vom Schicksal zur Versenkung oder zum Überleben bestimmt waren, und über Männer, denen der Tod bevorstand oder persönliche Auszeichnung durch den König. Er wußte nicht, was diesen Schiffen und Männern beschieden sein würde, und es wäre auch völlig belanglos gewesen, ob das, was er schrieb, schon ein Epitaph war für Männer, die morgen im Meer ertranken, denn er hatte sich nur mit den Tatsachen zu befassen, und davon hatte er in diesen letzten drei Wochen eine Menge gesammelt. »H. M. S. Compass Rose«, schrieb er in altmodischen, ein wenig schwerfälligen Zügen, »hat ihren 65
Ausbildungsgang am 2. Februar 1940 beendet, dessen Erfolg insgesamt als befriedigend bezeichnet werden darf. Besonderer Wert sollte noch gelegt werden a) auf die Feuerlöschübungen, bei denen die Leistungen unter dem zu fordernden Durchschnitt lagen, und b) auf das Manöver ›Schiff versenken‹, das bei der einzigen durchgeführten Probe nicht stockungsfrei verlief. Von diesen Einschränkungen abgesehen, ist H. M. S. Compass Rose jetzt als einsatzfähig für die hohen Ansprüche zu bezeichnen, die an ein Schiff bei Erfüllung der schwierigen Aufgaben im Geleitschutz gestellt werden.« Der Admiral nahm einen Packen einzelner Berichte seines Stabes zur Hand, setzte als Untertitel auf sein Schriftstück das Wort ›Artillerie‹ und unterstrich es. »Das eine 10-cm-Geschütz, die einzige stärkere Armierung dieser Schiffsklasse, wird nur ausreichen, wenn das Geschützexerzieren und die Munitionszufuhr ständig verbessert werden. H. M. S. Compass Rose hat sich bei den Schießübungen gut bewährt, das Nachtschießen zeigte ein gutes Ergebnis, sowohl was die Führung des Schiffes als auch die artilleristische Leistung betrifft. Das Flakschießen nach der Flugscheibe war im Ergebnis schlechter. Es wird empfohlen, die Wirksamkeit der Feuerkontrollen für Flugzeugabwehrwaffen zu erhöhen, vielleicht durch Einbau eines auf der Brücke zu bedienenden Lautsprechers.« »Asdic, Unterwasserhorchgerät«, schrieb er weiter und unterstrich. »Bis zum Einlaufen hier war H. M. S. Compass Rose auf diesem Sektor noch mangelhaft ausgebildet: der Kontrolloffizier für die U-Boot-Abwehr und die Bedienung des Geräts benötigen noch wesentliche praktische Erfahrung. Sobald für entsprechende Maßnahmen gesorgt war, steigerte sich die Leistung des Schiffes sehr rasch, so daß eine leistungsfähige Gruppe für die UBoot-Abwehr entwickelt wurde. Der Verbindungsdienst zwischen Brücke und der achtern operierenden Wasserbombengruppe ist bei diesem Schiffstyp noch ungenügend entwickelt. Es darf hierzu verwiesen werden auf diesseitige Aktennotiz Nr. 242/17/1/40 an Aufsichtführenden Admiral Kontraktschiffbau, – in Gleichschrift an Oberbefehlshaber W.A. – worin verschiedene Verbesserungsvorschläge enthalten.« »Wasserbomben-Organisation«, schrieb er. »Nur durch unentwegte Übungen kann die Wasserbombengruppe auf den für ihren Einsatz erforderlichen hohen Grad der Ausbildung gebracht werden. Die Uhrzeitproben für das Nachladen wie für das Abfeuern waren durchweg enttäuschend, und es muß betont werden, daß gerade hier im Ernstfall die Schnelligkeit und Exaktheit von entscheidender Bedeutung sein können.« Er schrieb noch die folgenden drei Untertitel mit sehr kurzen Angaben: »Maschine und Personal: zufriedenstellend« – »Funkwesen und Entschlüsselung: ausreichend« – »Signalgruppe: hervorragend« –, dann nahm er einen neuen Bogen zur Hand. 66
»H.M.S. Compass Rose, Bericht über Offiziere«, schrieb der Admiral, indem er wieder seine Notizen zu Hilfe nahm. »Kapitänleutnant George Eastwood Ericson, R.N.R.: Kommandant. – Dieser Offizier zeigte hohe Leistungen und eine vollendet gute Schiffsführung. Erachte ihn für einen gewissenhaften und energischen Offizier, der, sobald er mit diesem Schiffstyp mehr Erfahrungen gesammelt hat, aus seiner Einheit das Letzte herausholen wird. Sein Verhältnis zu den unterstellten Offizieren schien befriedigend, das Vertrauen, mit dem er sie zu erfüllen weiß, kam klar zum Ausdruck, und sie werden ihm bedingungslos Gehorsam leisten.« »Oberleutnant James Bennett, R.A.N.V.R.: Erster Wachoffizier und Kontrolloffizier für U-Boot-Abwehr«, schrieb der Admiral. »Dieser Offizier besitzt auffallendes Selbstbewußtsein. Vielleicht kommt bei größerer Erfahrung und Praxis seine tatsächliche Leistungsfähigkeit auf gleiche Höhe. Offenbar neigt er dazu, sich bei Durchführung seiner Pflichten zuviel auf seine jüngeren Offiziere zu verlassen und läßt sie in manchen Fällen sogar selbst Anordnungen treffen. Im Anfang der hiesigen Ausbildung waren in der Bordorganisation von H.M.S. Compass Rose ernstliche Mißklänge festzustellen, die ihren Ursprung zweifelsohne in der Unerfahrenheit dieses Offiziers hatten. Ein gerader, etwas ungestümer Charakter mit Anlagen zu einem guten Ersten Wachoffizier, sofern er lernt, ein Musterbeispiel der Selbstdisziplin zu geben.« »Leutnant Keith Laing Lockhart, R.N.V.R.: Artillerie- und Navigationsoffizier«, schrieb der Admiral. »Von der Tüchtigkeit dieses Offiziers, bewiesen in ihm noch neuer Umgebung und auf verantwortungsvollem Platz, für den er kaum praktische Erfahrung mitbringen konnte, war ich beeindruckt. Seine Geschützbedienungen waren gut in Form, und er scheint in den Männern seiner Division das Selbstvertrauen zu entwickeln. Wird vermutlich einen guten Offizierstyp abgeben, wie er für diese Schiffsklasse besonders benötigt wird. Nur sollte er mehr auf die für Offiziere im Dienst geltenden Bekleidungsvorschriften achten.« »Leutnant Gordon Perceval D’Ewes Ferraby, R.N.V.R.: Wasserbombenund Schriftoffizier. Diesem Offizier fehlt es an Erfahrung und Selbstvertrauen. Er scheint beim Befehlerteilen Hemmungen zu haben, aber es liegt kein Grund vor, warum er nicht ein brauchbarer Offizier werden sollte. Er muß lernen, seinem eigenen Urteil mehr zu trauen und den unterstellten Mannschaften den Eindruck zu vermitteln, daß er auch weiß, was er von ihnen will. In seiner Abteilung waren während der letzten Ausbildungsperiode von H. M. S. Compass Rose Fortschritte zu verzeichnen.« Der Admiral zog unter seinen Bericht einen dicken Strich und trocknete ihn sauber mit dem Löscher. Dann schrieb er unten an den Rand: »Zu Händen 67
Oberbefehlshaber Western Approaches, in Abschrift an Seebefehlshaber Glasgow. Betr. Admiralität – Abtlg. C.W. –: H.M.S. Compass Rose.« Dann lehnte er sich im Sessel zurück und klingelte nach seinem Schriftführer. Ericson empfand, als er später, einmal bequem in seiner Kajüte sitzend, diesen Bericht las, Befriedigung und stilles Vergnügen. Der Admiral hatte sich in dieser schriftlichen Verabschiedung des Schiffes nicht verleugnet: sein Bild vom ›I.W.O.‹ war auch in dem begrenzten Wortschatz des Amtsstils glasklar, und besonderen Spaß machte ihm der Lockhart erteilte Seitenhieb über Bekleidungsvorschriften, denn Lockhart hatte einmal in einem höchst brenzlichen Moment seine Mütze verlegt gehabt und war dem Admiral mit einem merkwürdigen Gruß, halb Winken und halb Verbeugung, entgegengetreten. Als er gerade den Bericht wieder zusammenfaltete, klopfte es, und herein trat Signalgefreiter Wells mit einem versiegelten Kuvert in der Hand. »Geheimmeldung, Sir«, sagte er, nicht ganz so tonlos sachlich wie sonst. »Eben vom Depeschenboot an Bord gebracht.« Ericson riß den Umschlag auf und las den Inhalt langsam und genau. Es war, was er erwartet hatte. »H.M.S. Compass Rose«, so stand auf dem schmalen rosa Papier, »Auslaufen zum Einsatz. Anschließen an Geleit A. K. 14 von Liverpool, Leuchtschiff Sandbank, 12.00 Uhr, 6. Februar 1940. Geleitführer Kommandant H.M.S. Viperous. – Bestätigen.« Ericson las den Text noch einmal, dann sagte er: »Schreiben Sie: ›An Oberbefehlshaber Western Approaches von Compass Rose: Dortiges 0939 Strich 4 Strich 2 bestätigt.‹ Und schicken Sie es sofort los.« Und so zog das Schiff in den Krieg…
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II 1940 GROSSER ATLANTIK Der Krieg, in den sie hinausfuhren, hatte bisher – selbst in großen Umrissen – noch keine klar erkennbare Form angenommen. Am 3. September, dem ersten Kriegstage für England, war der Passagierdampfer Atbenia mit einem Verlust von 128 Menschenleben torpediert und versenkt worden: die erste Versenkung eines Unterseeboots, als Ausgleich für diesen rücksichtslosen Schlag, erfolgte am 14. September. So begann das Tempo gleich scharf: vierzig Schiffe sanken in diesen ersten Septembertagen auf den Meeresgrund, und noch vor Jahresende zwei wertvolle Kriegsschiffe: Courageotts und Repulse. Bei diesem Tempo blieb es jedoch nicht. Versenkt wurden vorwiegend unabhängige Schiffe, die bei den Kriegserklärungen zufällig in See waren – wie die Atbenia, die zur unrichtigen Zeit am unrichtigen Ort war – aber diese Zufallsverluste konnten mit dem Ausbau des Geleitzugsystems vermieden werden, und die Kapitäne und Reeder begannen bald einzusehen, daß sich jede Mühe lohnte, im Geleitzug zu bleiben – anstatt hinterherzuhängen oder stolz vor dem langsameren ›Feld‹ einherzurauschen. Die Unterseeboote waren im Angriff, wie es ihrer Rolle entsprach, doch die Angriffe waren nicht planvoll und nicht einmal sehr wirksam. Wahrscheinlich befanden sich in diesem Stadium des Krieges kaum jemals mehr als ein Dutzend U-Boote in See, so daß jedes für sich operieren mußte. Sie lauerten vor den Küsten Schottlands und Irlands und in der Biskaya, um vereinzelte Schiffe aufzustöbern, die sie in aller Ruhe angreifen konnten, manchmal mit Erfolg, manchmal nur mit Zeitvergeudung. Planung und Kontrolle sollten erst später kommen, einstweilen war das ganze Verfahren noch unberechenbar und unerprobt. Großbritannien besaß zu wenige Sicherungsfahrzeuge, Deutschland zu wenige Unterseeboote, der Atlantik war ein sehr großer Ozean und bei Winterwetter der beste ›Schlupfwinkel‹ der Welt. So war dieser Krieg ein Versteckspiel, wie es Kinder in einem riesigen, halb verwilderten Garten treiben, wo es stellenweise ein bißchen düster ist und die Erwachsenen immerfort Ratschläge geben. Und wenn manche Kinder sich bösartig und grausam benahmen und sich beim Finden in die Beine kniffen, nun, so war das in der Kindergartenwelt nicht ungewöhnlich. Das war das Bild des Kampffeldes im Atlantik, als das Jahr 1940 heraufzog. Die Gefahr war da, aber die Gegner hatten sich 69
noch nicht ineinander verbissen. Die U-Boote lagen ständig im Anschlag, jagten aber mehr auf gut Glück als mit Geschick. Nun lief Compass Rose im Frühjahr aus, um an diesem unübersichtlichen Kampf teilzunehmen. Mit ihrem ersten Geleitzug erlebten sie eine unblutige Kriegsfahrt wie so viele andere in dieser täuschend flauen Periode. Aber sie erwies sich als nützliche Einführung in kommende Ereignisse und zur Erprobung des Schiffes in dem bislang schlechtesten Wetter, das es mitgemacht hatte. Als sie an jenem schönen Februarmorgen in die Bucht von Liverpool liefen, um zu ihrem Geleitzug zu stoßen, schien hell die Sonne. Sie hatte den Frühnebel durchbrochen, den auf der kalten Nachtfahrt angesetzten Reif abgetaut und durchwärmte den Männern angenehm die Kleidung. Ericson kannte diesen Hafen genau: er hatte zehn Jahre in Liverpool gewohnt und war hier sehr oft ein- und ausgelaufen. Wie immer kam als erste Landmarke der hohe Blackwall Tower im Norden der Stadt in Sicht, dann das Feuerschiff Sandbank, ungemütlich in den kreuz und quer laufenden Strömungen reitend, die die Merseymündung kennzeichnen; und schließlich, nur schwach durch den Dunst und Rauch weiter flußaufwärts sichtbar, die Doppeltürme des Liver-Gebäudes im Herzen der Stadt. Irgendwo weiter draußen, in einem kleinen Haus nach Birkenhead zu, saß Grace, wahrscheinlich bei ihrem Strickzeug – Einen Augenblick empfand Ericson schmerzlich, daß sie einander so nahe waren und doch nicht zusammenkommen konnten, aber er vergaß es rasch wieder: fünf Meilen voraus kamen ›ihre‹ Schiffe zum Vorschein, an der Spitze ein Zerstörer der alten V&W-Klasse, – die Viperous mußte es sein – der sofort, wie im Ansprung, mit dem Scheinwerfer das Erkennungssignal verlangte. Während Wells den Anruf beantwortete, indem er die Nummer von Compass Rose durchgab und anschließend eine lange Meldung über die Organisation des Geleitzuges aufnahm, studierte Ericson die Reihe der sich nähernden Schiffe. Sie waren von allen Typen und Größen: Tanker, große Frachter und kleine Schiffe, die besser in den Küstenverkehr gepaßt hätten als in die Fährnisse einer Atlantiküberquerung. Einige waren tief geladen, andere fuhren in Ballast und lagen bedenklich hoch aus dem Wasser. In Kiellinie dampften sie aus dem engen Fahrwasser des Mersey herauf, ihre Wimpel flatterten im Sonnenschein, fast als wären sie froh, daß es wieder in See ging. – Das war aber gewiß nicht der Fall, dachte Ericson lächelnd, denn er sah die tränenschweren Abschiede vor sich, die zu jeder Ausreise gehörten, dachte an das triste leere Gefühl, das zurückblieb, und das »O Gott, nun geht es schon wieder ‘raus.« Und doch verkörperte diese lange Reihe Schiffe – sechsundvierzig waren es – ein zähes Vertrauen auf guten Verlauf der großen Fahrt. 70
Natürlich lagen auf ihrer Route U-Boote auf der Lauer – zumindest wurde es behauptet, da die meisten Schiffe und Männer dieses Geleitzuges bisher noch keinem U-Boot begegnet waren. Jedenfalls bestand die drohende Möglichkeit eines Angriffs. So wichtig es für diese Schiffe war, nach Boston und New York, nach Halifax und nach Rio zu gelangen – das Wesentliche blieb, sowohl grundsätzlich wie wegen der Werte, die sie repräsentierten: daß sie ›durchkamen‹. Der Atlantik war nie ein rein britischer Ozean gewesen, aber noch weniger ein deutscher, und jetzt war gewiß nicht die geeignete Zeit für einen Wechsel seiner ›Nationalität‹. Ferraby, der sich im Hintergrund der Brücke aufhielt – er hatte wachfrei – begeisterte sich am Anblick der vielen Schiffe wie noch nie im Leben. Alles an diesem Konvoi gefiel ihm: der Eindruck des Zielbewußten, als die Schiffe nach der vorsichtigen Passage aus dem Hafen ihre Geschwindigkeit steigerten. Und einige Schiffe gefielen ihm ganz besonders: die kräftig wirkenden, schnittigen Tanker und die Männer auf ihnen, die so lustig zur Compass Rose hinüberwinkten, als sie an der Reihe entlangzog, um ihren Platz am Schluß des Geleitzuges einzunehmen. Ja, dieses hier – dieser bedeutungsvolle, entscheidende Augenblick, die Kameradschaft, dieses Zusammengehörigkeitsgefühl der Seeleute – das war es, was ihm vorgeschwebt hatte, als er sich während der Ausbildung im Lager freiwillig zu den Korvetten gemeldet hatte. Und dabei hatte es zeitweise ausgesehen, als werde ihm dieser Wunsch abgeschlagen und er abgespeist werden mit einer drittklassigen Kommandierung, hinter der nicht viel steckte, wenn sie noch so wichtig klang. Und nun wußte er, daß alle seine Wünsche wahr werden sollten… Hier waren die Schiffe und sammelten sich für die lange Reise ins Ungewisse – hier war Compass Rose, zu ihrem Schutz bestimmt, und: hier war Ferraby, ein Offizier, der Kriegswache ging – darauf lief es doch wohl hinaus – und einen Teil dieses Schutzes zu übernehmen hatte! Sein blasses Gesicht bekam Farbe, es formte sich neu mit Linien fester Entschlossenheit. Ferraby blickte stolz und mit dem Gefühl uneingeschränkten Besitzerrechts über das Geleit. ›Unsere Schiffe‹, dachte er, ›unsere Ladungen, unsere Männer…‹ Nichts davon würde an den Feind verlorengehen, von diesem Geleit nicht und von keinem andern, wenn es nach ihm ginge. Ferrabys Augen waren jung und nahmen vieles in gutem Glauben auf, andere – wie Ericsons Augen – jedoch nicht: auf ihn machte, das muß zugegeben werden, der Geleitzug mehr Eindruck als die ihn zur Sicherung begleitenden Schiffe, weil sie ihm nur zu deutlich zeigten, in welcher beklemmenden Lage sich die Royal Navy zu jener Zeit befand. Zum Schutz dieser sechsundvierzig Schiffe auf ihrer Reise durch Gewässer, die ihnen wie kein anderes Meer alle erdenklichen Tücken bieten konnten, waren detachiert: ein 71
fünfzehn Jahre alter Zerstörer aus einer Klasse, bei der selbst eine tapfere Besatzung und schneidige Führung wenig nützen konnte, weil sie für den atlantischen Seegang viel zu schlank und rank gebaut war, ferner: zwei Korvetten, eine groblinige, vor dem Kriege erbaute, und Compass Rose; ein Fischdampfer und ein Bergungsschlepper, der schon in den geschützten Gewässern der Liverpooler Bucht tanzte wie eine Erbse auf der Trommel. Fünf Kriegsschiffe also – besser gesagt: vier und ein halbes – um sechsundvierzig langsame Frachtdampfer zu verteidigen, das war für erfahrene Seeleute beider Kategorien keine rosige Aussicht –. Aber es mußte hingenommen werden, weil es sich besser nicht machen ließ. Und da eben mehr Geleitfahrzeuge nicht zu haben waren, anderes sie ersetzen: geschickte Führung und Glück nur konnten zustande bringen, was, rein sachlich gesehen, kaum zu erhoffen war. Compass Rose war den ganzen Nachmittag beschäftigt. Für den Kommandanten wurde es ein langer Tag, da er seit Sonnenaufgang auf der Brücke stand. Und jetzt konnte er sie schon gar nicht verlassen, weil er niemand an Bord hatte, dem er das Schiff im geschlossenen Verband mit anderen Schiffen anvertrauen konnte. So blieb er oben, in eine Brückennock geklemmt, trank eine Tasse Tee nach der andern und gab endlose Ruderkommandos, während das Schiff angestrengt die vielfältigen Aufgaben erfüllte, die Viperous ihm stellte. Kontrollieren, ob alle zum Geleitzug gehörenden Schiffe auch ausgelaufen waren; ihre Namen und Nummern mit der langen Liste vergleichen, die ihnen durch Signale übermittelt worden war – dann die Nachzügler heranholen und sie zu dichterem Aufschließen veranlassen. Und endlich mußten sie noch – die größte Geduldsprobe – jedem einzelnen der sechsundvierzig Schiffe eine mündliche Meldung durch Lautsprecher geben und sich, da die Meldung eine wichtige Änderung des Kurses für die folgende Nacht betraf, mit aller Gewißheit bestätigen lassen, daß sie auch richtig empfangen war. Unzählige Male mußten sie diese Meldung wiederholen: zuerst schrie sie der Kommandant selbst, dann Lockhart, – der die Nachmittagswache ging – dann der Signalgefreite Wells, dann wieder der Kommandant. Manche Schiffe waren so taub, daß die Wiederholungen kein Ende nehmen wollten: bei einigen ausländischen mußte erst aus den Tiefen der Kesselräume jemand aufgeklaubt werden, der fähig war, den Wortlaut zu begreifen. Auf andern lag man offenbar im Nachmittagsschlaf und glaubte wohl, die dröhnende Stimme da draußen gehöre zu einem bösen Traum. »Allmächtiger!« rief Ericson, als sie einmal nach vollen fünf Minuten der Brüllerei auf einem dicken Tanker nichts weiter erreicht hatten als den unkla72
ren Gruß eines mit steifem Hut auf der Brücke stehenden Mannes. »Ich glaube, die wollen mit aller Gewalt heute nacht verlorengehen! Probieren Sie’s nochmal, Sub.« »Hallo – Nummer zwo-und-dreißig!« rief Lockhart ermattet in den Lautsprecher. »Hallo – Nummer zwounddreißig. Ich habe eine Nachricht für Sie. Bitte aufschreiben!« Der Tanker pflügte weiter die See, während Compass Rose sozusagen munter neben ihm hertrabte wie ein Dackel, der Absichten auf einen Windhund hat. »Können wir nicht die Sirene benutzen, Sir?« fragte Lockhart. »Die menschliche Stimme scheinen die einfach nicht zu hören.« »Gleich werden wir unsere Kanone benutzen!« Ericson packte den Draht zur Sirene und ließ sie einmal gewaltig aufheulen. Der Mann mit dem steifen schwarzen Hut trat in die Nock seiner Brücke und starrte hinüber. »Nummer zwo-und-dreißig: ich habe eine Nachricht für Sie!« rief Lockhart rasch. »Bitte auf-schrei-ben!« Der Mann auf dem Tanker legte eine Hand ans Ohr. »Lieber Gott, der Kerl ist stocktaub«, sagte Lockhart verzagend und vergaß, daß der Lautsprecher auch das übertrug. So dröhnte seine scharfe Bemerkung über die dreißig Meter Wasser zwischen den Schiffen, und diese Worte trafen anscheinend ins Schwarze: denn der Mann drüben nahm die Hand vom Ohr und schüttelte drohend die Faust. »Den müssen Sie gekränkt haben, Sub«, sagte der Kommandant. »Ein Versehen, Sir – Entschuldigung.« Lockhart war wirklich über seine leichtsinnige Bemerkung erschrocken. Er versuchte, den faux pas wieder auszugleichen, indem er nun seinen Worten einen liebenswürdigen Ton gab, was durch den Lautsprecher schauderhaft klang, wie wenn der Sänger einer Jazzkapelle in wimmernden Tönen um Beifall wirbt: »Nachricht für Sie, Nummer zwo-und-dreißig! Betrifft wichtige Kursänderung! Bitte auf-schreiben!« Zur Antwort erhob der Mann auf dem Tanker ein Sprachrohr und schrie hindurch. Schwach kamen übers Wasser die Worte: »Werden Sie hier bloß nicht frech, sonst melde ich Sie dem Handelsminister!« Damit verschwand er im Brückenhaus und knallte die Tür hinter sich zu. Also mußten sie warten, bis der Wachwechsel auf dem Tanker einen andern Mann auf die Brücke brachte, denn eher konnten sie drüben keine Aufmerksamkeit erregen. Diese erste Nacht am Geleitzug wurde ruhelos und ließ ihnen nur sehr wenig Schlaf. Sie hatten noch das System der zwei Wachen, das heißt: der Kommandant mit Ferraby und Bennett mit Lockhart hatten abwechselnd vier Stunden Wache, vier Stunden Ruhe. Das war selbst in ruhigen Zeiten schon 73
anstrengend, verlangte Ausdauer und Geduld, denn auch wenn sie gleich nach der Ablösung einschlafen konnten, mußten sie sich bereits wieder anziehen und zur Brücke hinaufklettern, bevor sie sich recht herumgedreht hatten. Und man war ja jetzt nicht in ›ruhigen Zeiten‹: Compass Rose bot den wachfreien Männern alles Andere als Ruhe zum Schlafen. Der Wind wuchs, und mit ihm die Irische See: das Schiff reagierte darauf mit beklagenswerter Bereitwilligkeit, es schlingerte und stampfte, als würde es für diese Arbeit stundenweise bezahlt. In dem lärmenden Tumult unter Deck konnte man, selbst wenn man hundemüde war, kaum Schlaf finden. Und es gab noch andere Annehmlichkeiten. Ein Flugzeug, das niedrig über den Konvoi hinwegbrauste, brachte um zwei Uhr früh alle Mann unnötig auf Gefechtsstationen; einer der Dampfer, der immer wieder zurückfiel – Compass Rose fuhr als Schluß-Sicherung – mußte immer wieder gehetzt und getrieben werden, den Anschluß zu halten. Sie kamen nur quälend langsam voran; das Leuchtfeuer auf Chicken Rock am Südende der Insel Man blieb so lange für sie sichtbar, daß sie manchmal schon glaubten, sie kämen nie von ihm los und in die offene See hinaus. Wie sie es auch nahmen – die erste Nacht in Erfüllung der ihnen übertragenen Pflichten versprach nicht viel Gutes: wenn es schon ohne Feindberührung und mit nur so wenigen Zwischenfällen so anstrengend sein konnte – wie sollte es erst werden, wenn es hart auf hart ging? Auf diese Frage gab es keine Antwort, nicht in jener Nacht und auch nicht an den folgenden siebzehn Tagen, denn so lange dauerte ihre Reise. Aber sie hörten sowieso bald auf zu spekulieren, denn der gewöhnliche Tageslauf beschäftigte sie genug. Am zweiten Tage kamen sie schon merklich rascher vorwärts, auf Nordwestkurs zwischen Schottland und Nordirland, und der Abend schenkte ihnen als letzten Blick auf festes Land das schöne Bild der vom Regen klargewaschenen Berge des Mull of Kintyre und des weiter nördlich liegenden Islay. Dann ging das Geleit auf direkten Westkurs, in die offene See und dem Wind in die Fänge: die Hochseefahrt nahm ihren Anfang. Als endgültige ›Einführung‹ in den Atlantik bekamen sie Meldungen über die Anwesenheit feindlicher U-Boote in den dicht vor ihnen liegenden Planquadraten. Sie begegneten diesen U-Booten nicht, die vermutlich froh waren, getaucht fahren zu können, statt sich der Wut des Wetters auszusetzen, denn jetzt war das Wetter zum grimmigsten Feind geworden. Acht Tage lang preschten sie gegen einen Weststurm an: fünfhundert Seemeilen in zermürbend geringer Geschwindigkeit, geknebelt von einem Winddruck, der jeden Schlag in persönlichem Haß auszuteilen schien. Der Geleitzug war über eine Fläche von mehr als fünfzig Quadratmeilen zerstreut, und die Sicherungsfahrzeuge konnten fast nie die Fühlung miteinander halten. Es war unmöglich, eine ›Geleitgeschwindigkeit‹ festzusetzen, denn sie waren ja kein ge74
schlossener Verband mehr, sondern nur noch eine Anzahl Schiffe, die, so gut sie vermochten, einzeln dem niederträchtigen atlantischen Wetter trotzten. Die großen Dampfer an der Spitze mußten die Fahrt bis fast auf ein Nichts verlangsamen und versuchen, eine Art Ordnung zu halten, die kleineren aber zuckelten ungeordnet weit hinterher, wurden im Höhepunkt des Sturmes glatt zum Beidrehen gezwungen und mußten oft um viele Grade vom gegebenen Kurs abweichen, um sich nicht vom Seegang zertrümmern zu lassen. Am achten Tage signalisierte die vom Sturm schwer mitgenommene Viperous – zwei Mann waren über Bord gewaschen worden –: »Geleit zerstreuen, Reise selbständig fortsetzen.« Unter diesen Umständen lag in dem Signal eine Ironie, an der sie freilich wenig Spaß finden konnten. Die Sicherungsfahrzeuge vereinigten sich: Viperous mit beschädigtem Brückenaufbau, die alte Korvette nach Verlust eines ihrer Boote, Compass Rose intakt, aber fürchterlich schlingernd, der Fischdampfer in gutem Trimm, der Schlepper von den Seen mit geradezu lachhafter, um nicht zu sagen hysterischer Vehemenz auf und ab geschleudert, während er mühselig mit den andern Fahrt zu halten versuchte. Sie hatten sich nun mit dem einkommenden Geleit zu treffen, und sie fanden den Treffpunkt auch: in dieser Wildnis von Wasser, Wind und Regenböen, bei einer Sicht, die selten mehr als fünfhundert Meter betrug, fanden sie den winzigen Punkt im Mittelatlantik, an dem sie die Schiffe trafen, die sie zu erwarten hatten. Das war erstklassige Navigation, für die Viperous verantwortlich zeichnete, und Ericson mit seinen langjährigen Erfahrungen ertappte sich dabei, wie er die Brücke des Zerstörers betrachtete, die durch einen Bogen von sechzig Grad rollte, und sich erstaunt, nein: in hoher Bewunderung fragte, wie in aller Welt der Kommandant der Viperous das zuwege gebracht hatte! Denn Besteck aufnehmen und die Position feststellen war bei dieser Wetterlage nahezu unmöglich: und doch war es irgendwie geschafft worden, und zwar mit der absoluten Präzision, die bei Flottenmanövern in ruhiger See üblich ist. Sie nahmen Kurs zur Heimreise, mit dem neuen Konvoi von einigen dreißig Schiffen, die, unter den weiter westlich herrschenden besseren Wetterbedingungen, verhältnismäßig gut ihre Marschordnung hatten wahren können. Jetzt jedoch, als sie vor dem schweren Sturm laufen mußten, wurde es noch ungemütlicher. Und ein neuer U-Boot-Alarm, der die ›Ausweichroute‹ erforderte, zog sie viele Meilen vom richtigen Kurs ab und verlängerte die Reise um zwei Tage. An Bord der Compass Rose waren die Zustände unbeschreiblich. Sie schlingerte entsetzlich, geradezu boshaft, und ließ keinen Mann der Besatzung zur Ruhe kommen. Kochen wäre unmöglich gewesen, selbst wenn sie ihr letztes Frischfleisch und Gemüse nicht schon vor Tagen verbraucht hätten. Das ›Einheitsessen‹ bestand jetzt aus kaltem Corned Beef und Tee, 75
morgens, mittags und abends, fast vierzehn Tage lang. Alles war völlig durchnäßt, durch einen Ventilator war Wasser in die Messe gedrungen und hatte sie überschwemmt. In den Mannschaftsdecks vorn herrschte ein höllisches Chaos von klitschnassen Kleidungsstücken, umgekipptem Essen und Ausrüstungsgegenständen, die ihnen um die Füße schwammen – und die ganze Zeit der Lärm, das Stöhnen, Klappern und Knallen der Schotts in einem kleinen Schiff, das sich gegen gewaltigen Seegang stemmt. Die Quälerei wollte kein Ende nehmen: Compass Rose, von einem Sturm erfaßt, der sie buchstäblich packte und schüttelte, bis ihr fast die Nieten abplatzten, der sie wütend ankreischte und keinen Augenblick nachließ, bis sie wieder in Landschutz kamen – Compass Rose, auf diesem bösartigen Ozean treibend, schien verdammt, ihn auf ewig befahren zu müssen. Bennett, dem diese harten Erfahrungen, die sie alle gemeinsam machen mußten, mißfielen, sprach das mit anerkennenswerter Hartnäckigkeit aus. Er hatte in der Messe den größten Mund und beklagte sich in übler Laune, die in verschiedenen Nuancen deutlich seine Unruhe verriet, über alles: das elende Schiff, das lausige Geleit, das verdammt gemeine Wetter – das waren die Leitmotive seines nicht endenwollenden Klageliedes, aus dem im Grunde nichts anderes sprach als Angst. Wie die übrigen hatte er so ein Wetter noch nicht erlebt und überhaupt nicht für möglich gehalten. Er verstand immerhin so viel von Schiffen, um erkennen zu können, daß Compass Rose eine Prüfung auf Biegen oder Brechen durchmachte, aber doch nicht genug, um zu erkennen, daß sie bei ihrer Bauart diese Prüfung aushalten konnte und auch aushalten würde. Er bezweifelte ihre Seetüchtigkeit, und der Zweifel setzte sich ganz natürlich in Ärger um. Außerdem hatte er sich bei einem Versuch, den Schiffsort zu ermitteln, lächerlich gemacht, und zwar so sehr, daß der Kommandant ihm den Sextanten aus den Händen genommen und gesagt hatte: »Lassen Sie das, I.W.O. ich mache es schon lieber selbst.« Das hatte seine Laune nicht verbessert. Er hätte sich darum kümmern müssen, daß in das furchtbare Tohuwabohu im Vorschiff einige Ordnung gebracht wurde, aber damit wollte er nicht belästigt werden. Er hätte irgendwie für wenigstens eine warme Mahlzeit am Tage sorgen müssen, und wären es nur aufgewärmte Konservenbohnen gewesen. Der Herd in der Kombüse war unbenutzbar, aber mit ein bißchen Erfindungsgabe hätte sich das im Maschinenraum machen lassen. Auch das war ihm wohl zuviel Schererei, die ihm nicht in den Kram paßte. Statt dessen hatte er schlechte Laune und drückte sich und sehnte sich insgeheim fort von dem Schiff. Das mache ich nicht mehr lange mit, beschloß er. Schließlich gab es noch andere Wege, den Krieg zu gewinnen! Auch so ermüdend war das 76
alles: hätte er nicht immer mal wieder seine Wachpflichten auf Lockhart übertragen und sich ein Nickerchen erlauben können, er wäre längst von den Füßen gekommen. Lockhart war zum Verzweifeln müde und wie abgestumpft fast während der ganzen Reise. Sein hagerer, drahtiger Körper war nicht zum Widerstand gegen Kälte geschaffen, auch war er noch nicht gewöhnt, wach und aufmerksam zu bleiben, wenn in ihm jeder Nerv förmlich nach Schlaf schrie und ihm kein Tag etwas anderes bieten konnte als bittere Kälte und angestrengtes Wachen. Mochte Bennett sich um seine Wache drücken und den größten Teil der Zeit im Horchraum hocken: er brachte das jedenfalls nicht fertig. Vier Stunden Wache, vier Stunden wachfrei, siebzehn Tage hintereinander, das war sein Anteil, und die Wachstunden waren eine pausenlose Strapaze, die seine Sehkraft und seinen erschöpften Körper aufs äußerste beanspruchten. Und wenn er am Schluß seiner Wache den Niedergang hinabstolperte, gab es wenig Erholung: Tee und Corned Beef im Trümmerfeld der Messe, wo das Wasser überall hin und her platschte und die Möbel in einer Ecke festgelascht waren. Und dann die Mühe, in Schlaf zu kommen: festgerammt in der Koje, um dem unaufhörlichen Schlingern des Schiffes zu widerstehen, wobei das Licht für den Alarmfall eingeschaltet blieb, und dabei der ewig bohrende Gedanke, daß er in wenigen Stunden wieder hoch sein mußte und sich erneut der See und dem Sturm aussetzen. Und wenn es wieder so weit war, wenn er den Sturm auf sein Gesicht peitschen und an seinem Zeug zerren fühlte und Compass Rose unter seinen Füßen dahinschlingerte, als sei die ganze Erdkugel betrunken, dann waren alle Gefühle in seinem Körper, außer dem dumpfen Instinkt, aushallen zu müssen, erstorben. An eine Nacht gegen Ende der Fahrt, als der Wind nach Norden gedreht hatte und der Sturm die äußerste Stärke erreichte, sollte er sich ganz besonders erinnern. Eine Riesensee lief von der Seite her auf Compass Rose zu, das Schiff hob sich, als sause es in einem Fahrstuhl aufwärts, balancierte wackelnd auf dem Kamm und sackte dann mit einem tückischen Schlingern seitlich weg in das Wellental. Manchmal wurde Compass Rose schon von der folgenden See erfaßt, wenn sie noch schwerfällig schwankend im Tal lag, und erlitt einen Schlag, bevor sie sich wieder aufrichten konnte. Das waren die Augenblicke, da das Herz stehenzubleiben schien: wenn Wassermassen von Tonnengewicht mit donnerndem Getrommel auf Brücke und Oberdeck krachten und der Gischt in Wolken, vom Sturm gepeitscht und schneidend scharf, darüber hinbrauste. Der Sturm machte unglaublichen Lärm, die See preßte sich malmend und polternd gegen die Schiffswände, der Wind fuhr heulend aus der Finsternis über Deck, als übe er ganz bewußt Terror aus. Ringsum war nichts als eine Wüste wilder Wasser, bleiernes Grau mit Fle77
cken zerquirlten weißen Schaumes, und dahinter, wie eine dräuende Mauer, die Finsternis, das Chaos und die Unrast der Nacht. Während Bennett drinnen döste, hing Lockhart festgeklammert an der Reling im Brückenwinkel und stierte durchs beschlagene Fernglas auf den einzelnen Frachtdampfer, mit dem Compass Rose Fühlung halten mußte. Er war naß bis auf die Haut und fror bis in die Knochen, seine Füße in den schmierig nassen Seestiefeln quatschten eisig, sobald er sich rührte, über seine verkniffene Gesichtshaut rann das Wasser und verkrustete ihm Augen und Lippen mit Salz. Er hegte keinen großen Zorn auf Bennett, der eigentlich jetzt an seiner Stelle hätten stehen müssen: zwar hatte er allgemein nur Verachtung für sogenannte Vorgesetzte, die sich damit zufrieden gaben, in solchen Stunden ihrer Verantwortung auszuweisen, war aber jetzt allem Persönlichen viel zu weit entrückt, um das wichtig zu nehmen. Für ihn hatte sich die ganze Welt in einen einzigen Sturm verwandelt und in einen kleinen trüben Fleck in Lee von Compass Rose: dieser Fleck war ein Schiff, das er nicht aus Sicht verlieren durfte. Und so hielt er Compass Rose, ihr gleichsam zuredend wie einem Kind, auf ihrer Position, indem er die Maschinen schneller oder langsamer laufen, indem er anluven ließ, wenn der trübe Fleck verschwinden wollte, oder abschor, wenn er zu groß wurde, einmal wurde er jäh aus dieser ungeheuren Nervenanspannung gerissen, als ihn jemand anstieß und er, sich umdrehend, eine Gestalt in der Dunkelheit neben sich fand. »Wer ist das?« fragte er. Bennett konnte es wohl kaum sein. »Bootsmann, Sir«, kam die Antwort. »Hallo, Bootsmann? Sich den Spaß hier ansehen?« »Nur ein bißchen Luft schnappen, Sir.« Sie mußten beide schreien, da der Wind ihre Worte schon an den Lippen ergriff und sie in die Nacht wegpeitschte. »Habe Ihnen eine Muck Tee ’raufgebracht, Sir«, fuhr Tallow fort. Und nachdem Lockhart das Gefäß dankbar angenommen hatte: »Ist ‘n Schuß drin.« Tee mit Rum –! Als Lockhart, in den Schutz der Brückennock gebeugt, einen Schluck trank, rann ihm das Getränk wie Feuer durch den Leib: das Schönste, was er je getrunken hatte. Es rührte ihn seltsam, daß Tallow sich um zwei Uhr nachts die Mühe gemacht hatte, Tee zu bereiten, von seinem eigenen Rum dazuzutun und den schwierigen Aufstieg zur Brücke damit zu unternehmen. Tallows Gesicht konnte er nicht sehen, spürte aber in dessen Wesen eine Sympathie, die fast ebenso wärmte wie das Getränk. »Danke schön, Bootsmann«, sagte er, als der Becher leer war, »das hatte ich nötig.« Er hob wieder sein Fernglas, überzeugte sich, daß Compass Rose noch die Fühlung hielt, dann entspannte er sich ein wenig. »Wie sieht’s unten 78
denn aus?« »Fürchterlich, Sir. Schlimmer geht’s nicht. Eine ganze Woche werden wir brauchen, uns wieder aufzupulvern, nach dieser Bescherung.« »Viel länger sicher nicht«, sagte Lockhart, obwohl er nicht ganz davon überzeugt war. »Na, in zwei bis drei Tagen sind wir wieder in Landschutz.« »Mir kann’s gar nicht schnell genug gehen, Sir. Ist ja ‘n richtiger Aufruhr hier. Viele von den Jungs bereuen schon, daß sie nicht lieber zur Infanterie gegangen sind.« Sie unterhielten sich noch bis zum Ende der Wache, indem sie gegen den Sturm anbrüllten. Lockhart war froh, Gesellschaft zu haben: das brachte ein Fünkchen Wärme in diese wüste, unmenschliche harte Attacke des Sturmes. Und solche Wärme mußten sie künftig wohl viel haben, wenn der Atlantik weiter so mit ihnen umsprang wie jetzt. Körperlich litt Ferraby am bittersten. Fast die ganze Reise war er heftig seekrank, ohne sich davon unterkriegen zu lassen; jedenfalls, wenn es Zeit für ihn wurde, auf Wache zu gehen, schleppte er sich schwer die Treppe hinauf, das Gesicht grau wie ein schmutziges Taschentuch, und hielt mit aller Mühe die vier Stunden auf der Brücke durch. Dann stolperte er wankend unter Deck, zwang sich zum Essen, erbrach alles wieder und legte sich in die Koje, den Schlaf erwartend, der das Toben des Sturmes und sein eigenes Elend auslöschen sollte. Aber der wollte oft nicht kommen, und dann lag er während seiner ganzen Freizeit wach. Das waren die allerschlimmsten Stunden: wenn der Zweifel, ob er überhaupt noch seinen Dienst versehen konnte, wie das lebendige Gewicht einer Schuld auf ihn drückte. Gegen Ende der Fahrt brachten ihn die Strapazen doch noch fast in die Knie, vor allem, wenn er nachts auf die Brücke mußte, nachdem es ihm kaum gelungen war, eine Stunde Schlaf in der Stickluft der schaukelnden Kammer zu finden. Dann zwängte er sich in Seestiefel und Bordjacke, lauschte dabei auf die Geräusche des Sturms, den dumpfen Anprall der Wassermassen gegen die Schiffswand und auf das Deck und blickte auf das dunkle Himmelsviereck schräg über sich: ob nicht endlich der Sturm weniger heulte. In seiner äußersten Schwäche hatte er noch Willenskraft für den einen einzigen Gedanken: du mußt diese Wache durchhalten und die nächste und noch ein paar andere bis zum Hafen. Einmal blieb er auf halber Treppe stehen und merkte, daß er weinte. »Mavis –«, sagte er, und kletterte weiter, als habe seine Frau von irgendwo da oben geantwortet. Ferraby trug seine schwere Prüfung tapfer allein: sein verschlossenes Gesicht zeigte jedem, daß er von niemand mehr verlangte als die Rücksicht, nicht bemerkt zu werden. Er gab sich nicht auf, weil ihm ein Versagen, die Nichterfüllung seiner Pflicht, das Eingeständnis seiner Nieder79
lage, schlimmer erschien als die böseste Seekrankheit, als die tiefste Erschöpfung, als aller Sturm und Regen und alles Toben der Elemente. Jeden Ausweg hielt er für eine Schande und eben deshalb gab es keinen. Der Kommandant trug die Last der gesamten Besatzung. Für ihn gab es keine regelmäßige Wache, keine Zeit, da er nach Belieben ruhen oder, wäre es ihm geglückt, schlafen durfte, denn er mußte alles im Auge behalten, das ganze Schiff persönlich bewegen: er mußte den Signalen gehorchen, den Schiffsort bestimmen, seinen Abschnitt des Geleitzuges zusammenhalten und sein ganzes seemännisches Können aufbieten, um Compass Rose die schwere Prüfung soweit wie nur möglich zu erleichtern. Er war geradezu ein Turm der Kraft, der alles mit unerbittlicher Energie zusammenhielt. Der Anblick seiner großen kräftigen, in eine Brückennock gedrückten Gestalt schien jetzt ihnen allen der Kern ihres Daseins: sie brauchten die Ruhe einflößende, unerschütterbare Sicherheit dieses Mannes, und er gab sie ihnen uneingeschränkt, mochten seine schlaflosen Stunden auch zu einer fast unglaublich hohen Zahl anwachsen. Er war müde, – konnte sich nicht erinnern, je so müde gewesen zu sein – aber er wußte auch, daß er nicht zu müde war: es gab immer noch verborgene Kräfte –. Das gehörte eben zu seiner Stellung als Kommandant, es war die Kehrseite der Medaille, das Gegenstück zu dem Prestige, dem Respekt und der Achtung, die man seinem Rang erwies. Das kleine Schiff, die noch unerfahrenen Offiziere, das unerhört schlechte Wetter – das alles hatte er auf sich genommen, und es sollte ihn nicht umwerfen. So nahm er alles hin, was kam, alle Sorgen mit seiner überschüssigen Kraft bewältigend. Er war Seemann von Beruf, der einzige zwischen noch seefremden Offizieren, die ihm vielleicht später einmal sehr wertvoll wurden, jetzt aber noch keine nennenswerte Hilfe waren. Und der Seemannsberuf gab einem am Ende doch einen Ausgleich: den berechtigten Stolz auf die Leistung. Jedenfalls mußte, so oder so, die Aufgabe gemeistert werden, und er war der Mann dazu, da gab es keine Wahl und keine Ausflüchte. Die Besatzung liebte ihn fast schon am Ende ihrer ersten Kriegsfahrt: diesen starken, gelassenen und wunderbar zuverlässigen Mann, der nie klagte. So einen Kommandanten mußte man haben! Compass Rose hätte mit keinem Geringeren bestehen können, und Compass Rose, die jetzt, geduldig die Schläge der grausamen See ertragend, der Heimat entgegenstampfte, konnte sich glücklich preisen, einen Ericson zu haben… Keine Reise dauert ewig, nur die der versenkten Schiffe. Auch diese Fahrt ging vorüber und gab sie auf einmal frei. Es kam ein Nachmittag, – der des sechzehnten Tages – an dem der Horizont vor ihnen nicht flach, sondern 80
uneben aussah und nicht das bleiche Grau des Himmels, sondern die dunklere Farbe festen Landes hatte. Schottlands Vorberge kamen plötzlich in Sicht und winkten ihnen, näherzukommen. Das Schlingern wurde schwächer, während sie in den Windschutz der nördlichen Küsten gelangten, und als es zu dunkeln begann, waren sie ohne Übergang dem Winde entrückt und liefen in ruhiger Fahrt dem Heimathafen entgegen, der ihnen endlich friedvolles Ausruhen versprach. Sie vermochten nur schwer zu begreifen, daß das Schlimmste vorbei sein sollte und die Compass Rose, nun stetig ihren Kurs verfolgend, je wieder warm und trocken werden konnte. Und kaum mochten sie an die Erholung glauben, die ihnen so lange erbarmungslos vorenthalten worden war. Das mußte Illusion oder Schwindel sein: vielleicht tat sich die Irische See sogleich am anderen Ende weit auf, und sie befanden sich wieder auf dem Atlantik, mitten in der nächsten Runde desselben zermürbenden Ringens? Der Atlantik hatte so lange mit ihnen scharf zu Gericht gesessen, daß der Freispruch für sie einen unechten Tonfall hatte. So endete ihre erste Geleitzugfahrt. Es war eine Strapaze gewesen, nicht zuletzt auch, weil ständig der verborgene Zweifel sie gequält hatte: wie sie sich wohl bei einem Gefecht gegen Unterseeboote bewähren würden, wenn zu ihrer schweren Prüfung auch noch ein Kampfeinsatz gekommen wäre. Aber daran dachten sie jetzt zunächst nicht mehr: in dieser Nacht, als sie am Ölponton festgemacht hatten, nach siebzehn anstrengenden Tagen, waren alle Mann so hundemüde, daß sie zu nichts mehr taugten als zu einem tödlich festen, traumlosen Schlaf. Es schien, als sollten sie ständig in Liverpool stationiert werden. Also richteten sie sich dort ein, als Teil der Geleitgruppe Liverpool, die im Aufbau begriffen war. Den Mittelpunkt des Marinebetriebes bildete das flußabwärts und ziemlich weit von der Stadt gelegene Gladstone Dock: es war schon mit Zerstörern und Schaluppen und mit den Korvetten, die jetzt in beträchtlicher Zahl von den Werften abliefen, überfüllt. Der Wald von Masten, das viele Marinepersonal auf der Pier, die für ihre Zwecke errichteten Baracken und Vorratshäuser waren ermutigende Anzeichen der wachsenden Geleitflotte, doch dafür stiegen auch Zahl und Ausmaß der Geleitzüge stetig und stellten Ansprüche an die Leistungen der Marine, die fast unerfüllbar genannt werden mußten. Kein Zweifel, daß hinsichtlich der Sicherheit der Handelsschiffe noch für lange Zeit große Risiken in Kauf zu nehmen waren. Unter den in Liverpool eintreffenden Korvetten befand sich Sorrel, die, nachdem Compass Rose den zweiten Konvoi hinter sich hatte, zu ihr stieß. Sorrel war in Ardnacraish zurückgehalten worden nach einem Krach mit dem Admiral, über den zu reden die Besatzung wenig geneigt war. Ericson war nicht allzusehr davon erbaut, daß Compass Rose in Liverpool 81
stationiert wurde, sondern schien sich eher noch darüber zu ärgern, ohne genau zu wissen, warum. Theoretisch war das wunderschön: er kam von der Geleitfahrt heim, und schon war er bei seiner Frau, die eifrig strickend in dem kleinen Hause jenseits des Flusses auf ihn wartete. Aber das war, verhehlte er sich nicht, eine Ablenkung zu einer Zeit, da er sich ganz auf sein Schiff konzentrieren wollte, und es erschien ihm auch – ohne daß er klar formulieren konnte, wieso – als eine Art Betrug: er hatte sich einem harten Leben und einer strengen Aufgabe verschrieben, und hier umfing ihn nun etwas ganz Anderes, was ihm letzten Endes alles angenehm machen wollte. Er hätte nicht zu sagen vermocht, warum er das als unrecht empfand, und selbstverständlich machte er ihr gegenüber keinerlei Andeutung davon, aber es blieb die Tatsache, daß er, wenn sie im Hafen lagen, lieber an Bord wohnen wollte, und es irritierte ihn etwas, dafür jedesmal eine Entschuldigung finden zu müssen. Der Mann, der Liverpool am freudigsten begrüßte, war Tallow, denn auch er war in Birkenhead zu Hause, vom Gladstone Dock aus gleich hinter dem Fluß, und er zog keine falschen Vergleiche zwischen dem diesbezüglichen Komfort auf Compass Rose und dem Hause Dock Road Nr. 29. Da hatte er ein Heim, das er mit seiner verwitweten Schwester Gladys teilte, die ihm seit dem Tode ihres vor vier oder fünf Jahren verstorbenen Mannes den Haushalt führte. Stets wenn er auf Urlaub kam, wurde er freudig begrüßt und fand sein Zimmer bereit. Gladys Bell – ihr Mann war Briefträger gewesen – arbeitete in einem Büro in der Innenstadt und ergänzte so ihre winzige Pension. Sie war in den Vierzigern, eine schlichte gutmütige Frau, und die beiden Geschwister verstanden sich sehr gut. Er hatte gehofft, sie werde sich wieder verheiraten, obgleich es für ihn Nachteile haben würde, hatte aber nie ein Anzeichen bemerkt, so daß er sich schließlich darüber keine Sorgen mehr machte. Wenn ihr ein anständiges Witwentum behagte, war ihm das sehr recht. Als er am zweiten Hafentag abends um das Haus ging und mit einem »Na, Gladys?« in die sehr kleine Küche mit der Gaslampe trat, – er begrüßte sie mit diesen zwei Worten schon so lange sie zurückdenken konnte – leuchtete ihr schlichtes blasses Gesicht freudig vor Überraschung: sie hatte ihn ein halbes Jahr nicht gesehen. »Bob! Woher kommst du denn angebraust, Bengel?« »Wir bleiben ‘ne Weile hier«, antwortete er. »Sind hier jetzt stationiert – was Besseres konnte gar nicht passieren.« »Na, das ist ja fein.« Sie hatte sofort an die Speisekammer gedacht und überlegte, was sie ihm an seinem ersten Abend an Land vorsetzen sollte. »Hast du schon was gegessen?« 82
»Gegessen?« Er lächelte spöttisch. »Hast du schon mal erlebt, daß ich nachmittags an Bord esse, wenn ich bloß übern Fluß zu gehen brauche, um was von dir Gekochtes zu kriegen?« Hinter ihm im Türrahmen hustete jemand zaghaft. »Oh«, sagte Tallow verlegen, »habe einen Freund mitgebracht, Obermaschinist Watts, von unserem Schiff.« »Kommen Sie bitte durch die Vordertür«, sagte Gladys Bell, als sie ihm die Hand gegeben und er etwas gemurmelt hatte, »die Küche kann sich gar nicht sehen lassen.« Sie zündete vorn im Wohnzimmer das Gas an: der vollgestopfte Raum bekam sofort Leben, als sei das Zischen des Gases gleichsam sein Stichwort. Es war das beste Zimmer in dem schäbigen alten Hause, stets gründlich gereinigt und in Ehren gehalten: die quietschenden Lehnsessel waren gemütlich, der Mahagonitisch hatte seinen Platz genau in der Mitte, überall standen Erinnerungsstücke herum, die Tallow selbst mitgebracht hatte: aus Gibraltar und Hongkong und Alexandria. Die Spitzengardinen gaben dem Zimmer eine bürgerlich geruhsame Abgeschlossenheit, nahmen aber dafür bei Tage drei Viertel des Lichts. Vom Kamin blickte ein Photo des Briefträgers Tom Bell sie gravitätisch an, als trage er für jeden der Anwesenden eingeschriebene Briefe bei sich. Gladys wandte den Blick von dem flackernden Gaslicht und betrachtete erfreut die beiden Männer. Sie sahen sehr flott aus: die Jacketts mit den goldenen Rangabzeichen waren blitzsauber, die Hosen so messerscharf gebügelt, daß sie sich nicht zum ersten Mal erstaunt fragte, wie sie es in der Enge des Bordlebens nur fertigbrachten, ihr Zeug so tadellos in Ordnung zu halten. »Wie ist denn das neue Schiff?« fragte sie ihren Bruder. Die Männer wechselten einen raschen Blick, bevor Tallow antwortete: »Sehr alt wird es nicht werden, nach meiner Ansicht.« Watts kratzte sich lachend den kahlen Kopf. »Da kann ich ihm eigentlich nur recht geben, Mrs. Bell. Wir haben vielleicht ‘ne Reise hinter uns, das kann ich Ihnen flüstern!« »Schlechtes Wetter?« »So schlimm, wie ich’s noch nie erlebt habe«, sagte ihr Bruder. »Wir sind ‘rumgeschmissen worden wie – wie«, ihm wollte kein passender Vergleich einfallen. »Ich schrieb dir doch damals, wie klein das Schiff ist, weißt du? Damit habe ich noch viel zu wenig gesagt. Wir haben glatt auf dem Kopf gestanden die meiste Zeit.« »Und wie war’s mit den U-Booten?« »Wir waren ein U-Boot, das können Sie mir glauben«, warf Watts mit bei ihm seltener Fixigkeit ein. »Tagelang haben wir nicht die Köpfe über Wasser 83
gekriegt! Das muß eine neue Geheimwaffe sein: die Korvette, die unter Wasser schwimmt!« Gladys schnalzte mit den Lippen. »Nein, so was! Da brauchen Sie ja nun bestimmt Ruhe.« »Ich brauche erst mal’n halben Liter«, sagte Tallow lebhaft. »Wie denkst du darüber, Gladys? Hast du’n Buddel in der Speisekammer?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte dich doch nicht erwartet, Bob. Aber du könntest vielleicht mit deinem Freund in die ›Drei Tonnen‹ ‘rübergehen, während ich das Essen mache?« Tallow blickte Watts an, listig ein Auge schließend: »Was meinst du?« Watts nickte: »Machen wir.« »Eine halbe Stunde«, sagte Gladys entschieden, »keine Minute länger, sonst wird’s kalt.« »Was willst du uns denn auftischen?« »Warte nur schön ab.« Die beiden nahmen ihre Mützen und näherten sich so langsam der Tür wie kleine Jungens, die die Schule schwänzen wollen und so tun, als hätten sie ganz andere Absichten. Belustigt beobachtete sie, wie sie sich schräg hinausschoben. Diese Männer! – Aber nach dem, was sie angedeutet hatten, verdienten sie ein Glas. Sie ging in die Küche und begann glücklich ihre Vorbereitungen zu einer Heimkehr, wie die zwei sie verdienten. Und später, als sie vor einem tüchtigen Feuer in dem gemütlichen Wohnzimmer saßen, waren alle vergnügt: die Männer sprachen von ihrer Geleitfahrt und von anderen Reisen, während sie still zurückgelehnt zuhörte und nur ab und zu eine Bemerkung einstreute. Was sie von Compass Rose erfuhr, gefiel ihr nicht, aber als sie das unumwunden sagte, bemühten sich beide Männer merkwürdig schnell, für das Schiff ein gutes Wort einzulegen, indem sie Mißstände durch Entschuldigungen und Erklärungen bagatellisierten. Wieder ›typisch Mann‹! Aber es war so schön, sie hier zu haben und zu wissen, daß sie sich glücklich fühlten und nach den Strapazen ausruhen konnten. Gleich nach dem Einlaufen von der ersten Fahrt hatte Ericson einen weiteren Offizier für sein Schiff angefordert, denn jeder mußte einsehen, daß es an Bord viel zu viele Pflichten für einen I.W.O. und zwei Leutnants gab, ganz abgesehen davon, daß sie durch einen Unfall oder durch Krankheit noch mehr in Bedrängnis kommen konnten. Ericson brachte seinen Antrag wirkungsvoll vor und unterbreitete seine Gründe – nachdem er sich zunächst mit einem etwas überheblichen Stabsoffizier hatte streiten müssen, der zu glauben schien, Korvetten dienten zum Heimatküstenschutz oder dergleichen – in 84
einem formellen Gesuch der Admiralität. Das Dokument mußte wohl Gewicht haben, denn Ihre Lordschaften gaben ihm bereits innerhalb von drei Tagen statt. »Auf Schiff Compass Rose«, so teilten sie mit, »wird ab sofort der Leutnant Morell als zusätzlicher Wachoffizier kommandiert.« Morell kam an, frisch vom Ausbildungslager und begleitet von einem erstaunlichen Berg Gepäck: ein äußerst penibler junger Mann, so korrekt und so selbstsicher, daß es beinah märchenhaft erschien, wie er sich herablassen konnte, ein so knorriges Schiff wie eine Korvette mit seiner Person zu beehren. Im Zivilberuf war er angehender Rechtsanwalt, Produkt eines anderen London, das zu der Boheme, in deren Milieu Lockhart gelebt und gearbeitet hatte, in krassem Gegensatz stand: Lockhart vermochte ihn sich einfach nicht anders vorzustellen als im schwarzen Sakko und seriös gestreiften Hosen, wie er sich durch die Juristenräume von Lincoln’s Inn bewegte, um nachher in würdevoller Gesellschaft den Lunch im Hotel Savoy einzunehmen, und später, im untadeligen Cut, ritterlich die temperamentloseste Debütantin der neuen Theatersaison ins ›Ciro‹ oder in die ›Embassy‹ geleitete. Morell, ernst und sehr gemessen in seinen Bewegungen, war außerordentlich höflich: mit seiner nagelneuen, sehr gut geschnittenen Uniform schien er weit besser in einen Diplomatensalon zu passen als in die recht primitive Messe der Compass Rose. Er personifizierte geradezu die schroffe Ablehnung der unziemlichen menschlichen Schwäche, Gefühle offen zur Schau zu tragen. Es durfte kaum erwartet werden, daß er mit einem Mann wie Bennett harmonieren würde. Schon beim ersten Abendessen beobachtete er mit einem Ausdruck der Ungläubigkeit, den Lockhart sehr komisch fand, wie Bennett die vom Steward gebrachten Dosenwürstchen mit der üblichen Begrüßung entgegennahm, die Serviette unters Kinn schob und sich auf dieses beklagenswerte Gericht förmlich stürzte. Morell sagte kein Wort dazu, aber die Szene hatte zweifellos Eindruck auf ihn gemacht, denn als er später mit Lockhart allein in der Messe war, sagte er: »Wenn ich richtig orientiert bin, stammt der I.W.O. aus einem der Dominions?« Seine völlig ausdruckslose Miene dabei besagte mehr, als das größte zur Schau getragene Entsetzen vermocht hätte. »Australien«, erwiderte Lockhart, ebenfalls ganz unverbindlich. »Aha –! Ich habe mit ein oder zwei Australiern zu tun gehabt – sie waren Schwindlern in die Hände gefallen. Wir werden ihnen nie klarmachen können, daß sie in London damit rechnen müssen, auf Leute zu stoßen, die ihnen geistig überlegen sind.« »Es ist erstaunlich, daß noch jemand auf alte Gaunertricks hereinfällt.« »Erstaunlich ist das nicht«, sagte Morell nach kurzer Überlegung, »aber es bleibt uns zumindest immer wieder schleierhaft. – Bekommen wir übrigens 85
oft Dosenwürstchen zum Dinner?« »Sehr oft.« »Ob dieser Krieg kurz oder lang wird«, sagte Morell wieder nach einer kleinen Pause – »er wird uns jedenfalls lang vorkommen.« Das war seine einzige Bemerkung, aus der man eine Art Kritik lesen konnte, aber er mußte trotz seiner feinen Reserve schon bald mit Bennett in Kollision gekommen sein, denn am folgenden Nachmittag bei Dienstschluß suchte er Lockhart auf und bat ihn, nicht ohne Formalitäten, um eine gewisse Auskunft. »Der I.W.O. gebrauchte einen Ausdruck, der mir neu ist«, begann. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir die Bedeutung erklärten.« »Und was war das?« fragte Lockhart mit der gleichen Würde. »Er sagte – ›kommen Sie mir bloß nicht sauer‹.« Morell zog die Augenbrauen sehr hoch. »›Sauer kommen‹ – ich muß gestehen: das habe ich noch nicht gehört.« »Über was hatten Sie denn vorher gesprochen?« »Wir hatten darüber diskutiert, auf welche Weise sich der Leitstab des Horchgeräts am einfachsten abmontieren ließe.« Morell machte eine Pause. »Das ist Ihnen doch technisch nicht zu hoch?« »Nein«, sagte Lockhart. »Aber vielleicht war es für Bennett technisch zu hoch. Er hat eine rauhe Erziehung genossen.« »Das könnte ich mir ungefähr vorstellen. Daher wohl auch dieses ›sauer kommen‹ – « »Es bedeutet: Sie haben ihn korrigiert, ohne das genügend zu verbrämen.« Morell lächelte. Lockhart sah ihn jetzt zum ersten Mal lächeln. »Diplomatischer als ich vorging, hätte man kaum sein können.« »Vielleicht haben Sie dann ihre Diplomatie zu sehr übertrieben.« Morell seufzte: »Wie sonderbar, mitten in atlantischen Gewässern der Scylla und der Charybdis zu begegnen –! Vielleicht sollte ich diese Anspielung näher erklären? Da gab es nämlich im Altertum –.« »Halt«, sagte Lockhart, Bennett’s Aussprache recht gut imitierend: »Jetzt kommen Sie mir bloß nicht sauer!« »Ach so!« rief Morell. »Nun habe ich’s verstanden.« Sie lachten beide. Lockhart freute sich, daß dieser Morell zu ihnen gekommen war: er versprach eine Belebung in die Messe zu bringen, – wenn er auch eine ›diesbezügliche Absicht‹ kaum erkennen ließ – und diese Messe konnte viel Aufmunterung gebrauchen. Lockhart hatte auch kurz danach seinen Zusammenstoß mit Bennett. Ein neuer Flottenbefehl der Admiralität bestimmte, daß Leutnants im Alter von 86
mehr als achtundzwanzig Jahren mit mindestens drei Monaten Seezeit in die Wahl zum Oberleutnant kommen konnten, falls für sie die notwendige Empfehlung von ihrem Kommandanten vorlag. Als Lockhart nun, zum offiziell richtigen Zeitpunkt, sein Gesuch auf dem üblichen Wege – über Bennett als den Ersten Offizier – einreichte, stieß er auf solch ein Sperrfeuer von Hohn und Sarkasmus, daß er kaum an sich zu halten vermochte. »Herrgott, Sub!« rief Bennett. »Bei Ihnen piept’s wohl? Wer sollte Sie wohl zum Oberleutnant vorschlagen, nach den zwei Geleitfahrten!?« »Ich hoffe, der Kommandant«, antwortete Lockhart ruhig. »Es entspricht den Bestimmungen – nach Alter wie auch nach Seefahrtszeit.« »Sie halten sich wohl gar für befähigt, meine Position einzunehmen, was?« Lockhart antwortete nichts. »Na, ich nicht«, fuhr Bennett nach einer Pause fort. »Das käme erst nach höllisch langer Zeit in Frage.« Er fingerte an dem Blatt Papier herum, auf das Lockhart sein Gesuch in der für diese Fälle verlangten offiziellen Form geschrieben hatte. »Ich kann diesen Wisch nicht unterzeichnen«, sagte er knurrig. »Das ist zu verfrüht. Lassen Sie es noch eine Weile ablagern.« »Ich möchte, daß es zum Kommandanten weitergeht«, sagte Lockhart beharrlich. »Und ich möchte das nicht! Klar?« »Sie können es nicht verweigern.« »Ich kann verdammt genau machen, was ich für richtig halte«, flammte Bennett auf. »Ihr verflixten Halbstarken könnt einen krank machen. Kaum habt ihr die Uniform an, verlangt ihr schon Beförderung! Da wird mir der Ferraby wohl auch gleich noch kommen und meine Stellung haben wollen, was?« »Immer eins nach dem andern«, sagte Lockhart, jetzt auch vom Zorn gepackt. »Dies ist mein Gesuch, es entspricht dem Flottenbefehl. Werden Sie es weitergeben oder nicht?« Bennett versuchte, Zeit zu gewinnen. Er war tatsächlich nicht berechtigt, das Gesuch aufzuhalten, wollte die Sache aber dem Anwärter so unangenehm wie möglich machen. Er sagte jetzt: »Werde sehen, was sich machen läßt. Zur Hetzjagd ist kein Grund.« »Ich möchte, daß es zur Admiralität gelangt, bevor wir wieder auslaufen.« »Wie kommen Sie eigentlich auf den kühnen Gedanken, daß der Alte Sie vorschlagen würde?« fragte Bennett hämisch. »Bißchen Stiefelsohlen geleckt, wie?« »Nicht mehr als Sie«, sagte Lockhart knapp. In diesem höchst unerfreulichen Stil katzbalgten sie sich noch eine weile, bis Bennett in peinlich ungnädiger Weise seine Bereitschaft, das Gesuch 87
weiterzuleiten, zu erkennen gab. Es ging dann auch durch, mit der Empfehlung von Ericson. Lockhart wurde befördert. Von dem Tage ab sprach Bennett ihn mit dick aufgetragener Ironie nur noch als ›Oberleutnant‹ Lockhart an. Doch damit konnte er ihn nicht ärgern: er war einen Schritt vorwärts gekommen, und der Weg vor ihm schien sich deutlicher abzuzeichnen. Die nächsten Geleitfahrten verliefen ganz nach dem Muster der ersten. Viperous hatte weiter die Führung ihrer durch Sorrel verstärkten Gruppe. Den Verband im Kampf zu erproben, bot ihnen der Feind noch keine Gelegenheit. Es waren Unterseeboote draußen – andere Geleitzüge liefen ihnen fortgesetzt in die Quere – aber ihnen war bisher das Glück treu geblieben: im Logbuch stand noch kein Vermerk über einen Schuß auf den Feind, sondern nur die regelmäßigen Eintragungen über das Wetter. Das jedenfalls hörte nicht auf, Compass Rose auf schwere Proben zu stellen: einerlei in welcher Jahreszeit sie fuhren – es sah aus, als könne der Atlantik seine wütende Stimmung überhaupt nie ändern. Aber die längeren Tage im Frühling und zu Beginn des Sommers brachten ihnen immerhin fühlbare Erleichterung: der Wachdienst bei Tage war längst nicht so anstrengend, mochte das Schiff sich noch soviele Kapriolen leisten. – Sie waren jetzt in drei Wachen eingeteilt, je vier Stunden Dienst und acht wachfrei: Bennett und Lockhart gingen einzeln Wache, Morell und Ferraby bekamen die dritte. Die Entlastung in den acht freien Stunden war so groß, daß sie sich kaum noch vorzustellen vermochten, wie sie bisher mit der Hälfte zurechtgekommen waren. Und Ericson hatte gewiß nichts gegen die neue Regelung einzuwenden, da er nun wenigstens den größten Teil des Tages schlafen und daher, verhältnismäßig gut ausgeruht, nachts jederzeit auf dem Posten sein konnte. Über seine Wachoffiziere ließ sich sagen: Bennett war solange brauchbar wie nichts Unvorhergesehenes geschah, Lockhart war absolut zuverlässig und scheute sich nicht, ihn im rechten Augenblick aus der Koje zu holen, wenn eine schwierige Situation entstand. Auf Morell und Ferraby gemeinsam konnte er sich letzten Endes auch schon einigermaßen verlassen. Mehr durfte er von dieser ›Kollektion munterer Amateure‹ einstweilen nicht erwarten. Die Nächte jedoch waren weiterhin eine Strapaze und beanspruchten sie alle, ob der Feind nah oder fern war. Jeden Tag bei Sonnenuntergang wurde ›Abblenden‹ gepfiffen, und von diesem Moment an durfte kein Lichtschimmer mehr gezeigt werden, weder im Geleit noch bei den Sicherungsfahrzeugen, da der schwächste Lichtstrahl ein U-Boot anlocken konnte, das sonst vielleicht auf die Schiffe gar nicht aufmerksam wurde, die sein Gebiet kreuzten. So war der Augenblick des Verdunkelns immer von schwerwiegender Bedeutung, denn meistens waren schon in irgendeiner 88
Form tagsüber U-Boot-Warnungen durchgegeben worden; und weil andere Geleitzüge Zusammenstöße erlebten, mußte früher oder später auch die Reihe an sie kommen. Daher herrschte bei Einbruch der Dunkelheit stets wieder dieses Gefühl der Ungewißheit, der wachsenden Angriffsgefahr, denn in diesen Minuten mochte bereits ein U-Boot sie aus wenigen Meilen Entfernung beobachten, mochte schon die Blasenbahn eines Torpedos auf sie zulaufen und mochten sie urplötzlich durch eine Detonation im eigenen Schiff alle in die Luft gesprengt werden. Vor sämtliche Eingänge und Türen wurden die Segeltuchvorhänge gezogen, innen wurde jedes Licht abgedunkelt, das Herdfeuer in der Kombüse nur noch ganz klein gehalten, und durch die Abendkälte dampfte Compass Rose als grauer Schatten, gleichsam angeklammert an andere Schattengestalten, die sie nicht verlieren durfte, einem kaum vom Himmel unterscheidbaren Horizont entgegen. Bei unsichtigem Wetter, wenn kein Mond schien und der Konvoi mit gesteigerter Geschwindigkeit durch die für ihn so wichtige Finsternis lief, verlangte das Halten der korrekten Position am Geleitzug von den Wachhabenden so große Anstrengung aller Sinne, vor allem der Augen, daß jeder nach den vier Stunden vor Erschöpfung nur noch blinzelte. Verloren sie aber den Konvoi aus den Augen oder fielen weit von ihrer Position ab, dann war das nicht mit einem roten Kopf abgetan: ein U-Boot konnte durch die Lücke gestoßen sein, und sie hatten dann Schiffe und Menschenleben auf dem Gewissen. Es gab noch andere Sorgen nachts, die ihre ganze seemännische Tüchtigkeit erforderten. Nach den gültigen Befehlen mußten die Sicherungsfahrzeuge Zickzackkurse fahren, um größere Geschwindigkeit zu entwickeln und nicht so leicht selbst torpediert zu werden. Die Anordnung war vernünftig, und jeder sah das ein: aber ein Zickzackfahren bei pechschwarzer Nacht, wenn dreißig Dampfer ganz in der Nähe liefen und zur Schwierigkeit des Fühlunghaltens noch die Kollisionsgefahr kam, das bedeutete mehr als ein paar Zeilen in einem Flottenbefehl. Lockhart, der jetzt ständig die Mittelwache von Mitternacht bis vier Uhr morgens ging und die Hauptlast dieser dunklen Stunden zu tragen hatte, wandte folgende Methode an: er ließ Compass Rose einige Minuten lang schräg vom Konvoi ablaufen – verlor dann allerdings die andern Schiffe sehr schnell aus den Augen und steuerte dahin, als habe er den ganzen Atlantik für sich allein – doch genau nach einer bestimmten Zeit wendete er das Schiff und lief dieselbe Anzahl von Minuten auf entsprechendem schrägen Kurs wieder in Gegenrichtung, so daß er in fast genau derselben Höhe, in den er Fühlung zu halten hatte, wieder an den Geleitzug herankam. Zu diesem System mußte man Vertrauen haben, und es bewährte sich in seinem Fall auch, ging aber ziemlich an die Nerven. Einmal hatte er einen 89
schweren Traum, den er später wie ein Märchen erzählte: da hatte Compass Rose auf dem Rückweg den Geleitzug verfehlt: sie dampfte weiter und weiter über ein leeres düsteres Meer, bis der bleiche Morgen anbrach, und nirgendwo war ein Schiff zu sehen. Einmal war der Kommandant auf die Brücke gekommen, als das Schiff auf dem Auswärtskurs gerade am weitesten vom Konvoi entfernt lag, und hatte ihm einen Blick zugeworfen, als könne er kaum seinen Augen trauen. »Wo stehen wir, Lockhart?« hatte er grimmig gefragt. »Hier, Sir«, zeigte ihm Lockhart auf der Seekarte. »Wir haben gerade den Zickzack-Kurs nach außen abgelaufen«, fügte er hinzu, um den leeren Horizont zu rechtfertigen, »aber in sieben Minuten stehen wir wieder am Geleit.« Ericsons Knurren nach dieser Erklärung klang nicht beruhigend, und Lockhart zählte beklommen die Minuten. Was sollte er sagen, wenn sein Alptraum zur Wahrheit wurde? Als endlich die Schiffe wieder in Sicht kamen, groß und schwarz, atmete er so hörbar auf, daß der Kommandant es wohl bemerkt haben mußte. »Laufen Sie denn Zickzack nach der Uhr?« fragte er barsch. »Yes, Sir.« »Kontrollieren Sie bei jeder Änderung selbst Ihren Kurs nach: überlassen Sie das nicht dem Rudergänger, der kann Fehler machen.« Ericson verließ ohne weiteren Kommentar die Brücke. Das schätzte Lockhart an seinem Kommandanten: wenn er einem vertraute, dann zeigte er es auch, er fummelte einem nicht hinter dem Rücken herum, als habe er da etwas zu tun, um in Wirklichkeit nur wie ein Kindermädchen aufzupassen. Und Ericson hatte allen Grund, sich Sorgen zu machen und Fragen zu stellen, wann es ihm beliebte, denn: wenn sie vom Geleitzug abkamen, wurde dieser Versager – einerlei wer ihn bewirkt hatte – im offiziellen Bericht doch immer dem Kommandanten angekreidet. Was Lockhart jedesmal verärgerte, war die Übergabe seiner Wache an Bennett. Traditionsgemäß hatte der I.W.O. die Morgenwache: von vier bis acht. Bennett hielt diesen Brauch hinsichtlich der Uhrzeit zwar ein, doch sein sonstiges Benehmen entsprach wohl kaum der Pflichtauffassung eines Ersten Wachoffiziers. Für Lockhart war es sehr kränkend, wenn er während der ganzen Mittelwache vorschriftsmäßig die Fühlung hielt und die rasche Zickzackfahrt so präzis durchführte, daß er Compass Rose dem Nachfolger in haargenau korrekter Position übergeben konnte – wenn er dann noch beim Verlassen der Brücke Bennett sagen hören mußte: »Signalgast, sehen Sie das Schiff da drüben? Melden Sie mir, wenn es uns aus Sicht kommt!« – und Bennett es sich sogleich im Ortungsraum bequem machte. ›Eines schönen Tages‹, dachte Lockhart dann, ›werden wir alle unser Leben verwirkt haben, 90
nur weil Bennett eine Abneigung gegen frische Luft hat.‹ Aber offiziell hätte er sich über Bennett kaum beschweren können. Es war auch besser, der Kommandant merkte das selbst. In diesem Stadium, das noch immer eine unkriegerische Lehrzeit war, empfand die Besatzung am schlimmsten das ewige Schlingern des Schiffes und die plötzlichen Erschütterungen, wenn es hart in eine steile See stieß. Von dem Schlingern wurde jede Beschäftigung in und außer Dienst betroffen. Oft mußten sich die Wachgänger stundenlang fest an die Brückenreling klammern, während Compass Rose sich schändlich benahm, pausenlos um vierzig Grad hin- und herrollend, und wenn sie wachfrei und angeblich Ruhe hatten, mußten sie beim Essen jedesmal gewärtig sein, daß ihnen die Speisen auf den Schoß klatschten, indes die Möbel der Messe quietschend im Raum umherfuhren oder sich manchmal aus den Befestigungen losrissen und krachend auf einen Haufen polterten. Fortwährend verletzten sie sich irgendwo, trotz aller Aufmerksamkeit: eine Tür schlug ihnen ins Kreuz, wenn sie ihre Kammer verließen, sie flogen aus der Koje, sobald ihnen im Schlaf die Muskeln locker wurden, nachdem sie sich fest eingekeilt hatten. Auf dem Fußboden sahen sie ihre Bücher und Papiere, ihre Stiefel und ihr Zeug hin und her rutschen, das bei besonders wildem Schlingern des Schiffes aus den Kästen und von den Haken geschleudert wurde. Niemals zum Ausruhen zu kommen, ohne daß etwas schiefging, etwas nach ihnen schlug, etwas sich losriß oder stundenlang abscheulich klapperte, das war entsetzlich anstrengend. Und all das geschah in einem elenden ›Rhythmus‹: sie wurden es leid, sich immerfort irgendwo anklammern zu müssen, die kleinste Unachtsamkeit mit Beulen an den Beinen oder Schultern, mit aufgebissenen Lippen oder verrenkten Knöcheln bezahlen zu müssen. Aber entgehen konnten sie dem nicht: es war bei der Seefahrt auf Korvetten unvermeidlich. Manchmal beobachteten sie von der Brücke aus die Sorrel, die vom Seegang wie ein Kork hin und her geworfen wurde und unter breit sprühenden Gischtfächern ihren Weg durch die grobe See stampfte. Dann fanden sie den Anblick schneidig, und schön das Bild dieser Energie des kleinen Schiffes. Ein Jammer nur, daß die Wirklichkeit, auf Sorrel wie auf Compass Rose, so gräßlich unangenehm war. Eine ihrer Geleitfahrten zu dieser Zeit bot ein klassisches Beispiel dafür. Nach neun Tagen Westreise hatten sie kehrt gemacht in der Hoffnung, schnelle Fahrt machen und in weniger als sieben Tagen im Heimathafen einlaufen zu können. Es sollte jedoch anders kommen. Dem Sturm, der plötzlich losbrach, gelang mehr als die Zerstreuung des Konvois: er zwang alle Schiffe, ohne Ausnahme, zwei volle Tage beigedreht zu liegen und auf Besserung des Wetters zu warten. In jenen zwei Tagen wurde Compass Rose ganze achtzehn Seemeilen seitlich vom Kurs nach Süden versetzt, in Gesell91
schaft eines kleinen Frachtdampfers, der wegen Maschinenschadens um Beistand gebeten hatte. Die ganzen achtundvierzig Stunden kreiste sie in langsamster Fahrt um den havarierten Dampfer – jeder Kreis dauerte drei Stunden! – in quälender Langsamkeit sich gegen die haushohen Seen pressend, und schlingernd, ewig nur schlingernd, als wolle sie sich mit Gewalt ihres Mastes entledigen. Sie verloren ein Boot, das glatt von einer Riesensee weggerissen und nicht mehr gesehen wurde; sie verloren oft und oft ihre Geduld, Geduld mußte immer wieder aufgebracht und alles bis zum bitteren Ende durchgestanden werden. Als der Sturm sich endlich ausgetobt hatte, waren sie vierundzwanzig Stunden mit dem Zusammensuchen der Geleitschiffe und der Neuordnung der Kolonnen beschäftigt. Zweiundzwanzig Tage waren sie auf dieser Reise unterwegs, und zum Schluß sahen Schiff und Besatzung gleichermaßen aus wie nach der Sintflut. Bei allen ihren Geleitfahrten mußten sie feststellen, daß das Essen an Bord ihnen durch die eintönige Zubereitung bald unerträglich wurde. Compass Rose bekam an Frischfleisch, Brot und Gemüse nur Rationen für fünf Tage. Nachher bestand der Speisezettel stets aus derselben trübseligen Prozession von Dosenwürstchen, Eintopf aus Dosen, hartem Schiffszwieback und Tee. Das konservierte Stew kam aus Büchsen mit einem schmuckreichen Etikett, das die Aufschrift trug: ›Old Mother Jamesons’ Farm House Dinner‹. – Morell sagte, als er diese dubiose Mischung auf seinem Teller studierte: »Ich muß mir doch merken, später nie bei Mrs. Jameson zum Dinner zu gehen.« – Zum Leben reichte die Ernährung aus, aber mehr ließ sich von ihr auch nicht sagen. Und da sie diese ihnen widerstehenden Speisen noch zwischen den feuchten Wänden einer Messe einnehmen mußten, in die immer wieder Wassermassen klatschten, waren die Tafelgenüsse auf Compass Rose nie dazu angetan, jemand von dienstlichen Pflichten abzulocken. Trotz allem aber machten sie die Erfahrung, daß es auch erholsame Zeiten gab und manchmal sogar begeisternd schöne Stunden. Nachmittagswachen auf der Brücke konnten zuweilen ein so ungetrübt schöner Zeitvertreib sein, daß sie es beinah lächerlich fanden, dafür besoldet zu werden: wenn der Geleitzug in sauberer Ordnung lief, keine U-Boote drohten, die Frühlingssonne aus wolkenlosem Himmel ihre Wärme über sie ergoß und die braven Schiffe hinter ihren geordneten Reihen, ebenso wie Compass Rose, ein breites, weißes, glitzerndes Kielwasser zurückließen, das eine glatte Reise bedeutete und einen Tag näher der Heimat. Auf der Brücke war nichts anderes zu tun als den Kurs nachzuprüfen, wenn im Zickzack gefahren wurde, und Viperous im Auge zu behalten: ob nicht der Zerstörer unvermutet rasch seine Siesta beendete. Sonst gab es nur: Sonnenwärme bei klarer kühler Luft, ein stabiles Schiff unter den 92
Füßen und gelegentliche Geräusche: ein Grammophon spielte, ein Wasserschlauch wischte über Deck, ein Eimer klapperte beim Ausschütten – nichts weiter ließ erkennen, daß Compass Rose auf dieser angenehmen Reise fast neunzig Männer in sich beherbergte. Sie erfuhren auch, daß manche Nächte geradezu von traumhafter Schönheit waren, die sie für hundert strapazenreiche Stunden entschädigte. Bisweilen, in geschützten Gewässern, bei Vollmond, zogen sie mit dem Konvoi an Bergen vorüber, deren Konturen scharf unter den leuchtenden Sternen standen, sie glitten sozusagen im Schatten dieser Berge dahin, ihr Schiff teilte die leuchtende See in ein glimmendes Kielwasser, das vom Mondlicht als lange Bahn festgehalten wurde. Wie angenehm verliefen die Wachen dann, wenn die Nachtluft wie mit Sphärenmusik sie umspielte. Morell und Ferraby erzählten sich gemächlich von ihrem Zuhause, während für Lockhart und Wells in der nachfolgenden Wache die Zeit schnell verging unter Erinnerungen und Zukunftsbetrachtungen. Diese magischen Nächte, die weder durch Übermüdung noch Alarm beeinträchtigt wurden, waren so selten, daß sie sie wie ein Geschenk hinnahmen, von dessen Schönheit sie lange Zeit zehrten. Ein paarmal fand Ericson, als er früh morgens auf die Brücke kam, das ganze Schiff so friedlich und zart von der schwindenden Dunkelheit umhüllt, daß es ihm schwer wurde, sich an den Zweck dieser Fahrt zu erinnern. Compass Rose bekam, wenn sie so auf ruhiger See sanft dahinzog, keins der Schimpfworte zu hören, mit denen sie sonst bedacht wurde: sie schien einzig dazu da, ihnen ein freundliches Obdach zu bieten. Sie stellten fest, daß sie jenen anderen Nächten, die so grausam und unvorstellbar lang waren, immer zähen Trotz zu bieten vermochten. Sie lernten immer geschickter die Folgen der nächsten schweren See zu vermeiden, weil sie ihre Wirkung besser beurteilen konnten, verstanden, sich beim Gehen auf schwankendem Deck in der richtigen Sekunde richtig Halt zu verschaffen, sich so in die Koje zu verkeilen, daß auch in der Entspannung des Schlafs nichts sie hinausschleudern konnte; sie verstanden, sich warm und ihr Zeug wasserdicht zu halten – all das lernten sie in Lektionen, die ihnen die See in harter Schulung so lange einhämmerte, bis sie ihnen in Fleisch und Blut übergegangen waren. Sogar der Mangel an Schlaf focht sie jetzt weniger an, denn sie entwickelten die Fähigkeit, jederzeit in passenden Augenblicken kurz einzuschlafen, und vermochten dann, wenn es darauf ankam, erstaunlich viele Stunden mit voller Aufmerksamkeit wachzubleiben. Freilich stumpfte die allmähliche Einstellung auf das harte Seeleben so manches feinere, bisher gehegte Gefühl ab: Lockhart ertappte sich eines Abends, wie er den Band Essays, den er sich vor der letzten Ausreise noch gekauft hatte, beiseite legte, um statt dessen ein ganz primitives, triviales Magazin zu lesen, und dachte mit leisem Entsetzen: ›O je, ich werde wohl auch schon so ein übler Kerl wie 93
dieser Bennett!‹ Und in gewissem Sinne stimmte das nicht nur, sondern es war notwendig, denn die Zeit für Empfindsamkeiten war vorbei, rücksichtsvolles Wesen war unmodern geworden, und feinere Gefühle hatten eben keinen Platz, bis das gefühllose Geschäft des Krieges erledigt war. Vor allen Dingen stellten sie fest, daß sie sich auf einen Teil jeder Reise wirklich freuen konnten: auf den letzten Tag, wenn sie in geschützte Gewässer kamen und sich für die Hafenzeit vorbereiteten. Jetzt war so ein Tag gekommen: sie liefen durch die Irische See auf dem letzten Törn der Heimreise und begannen das Schiff aufzuklaren nach dem Chaos, das der Atlantik angerichtet hatte. Lange verschlossene Bullaugen wurden geöffnet, um die erfrischende Brise einzulassen, nasses Zeug vom Leib gezogen und zum Trocknen aufgehängt, Bänke und Schemel in den Mannschaftsräumen wurden von ihren Halterungen befreit und wieder auf den richtigen Platz gesetzt. Die Sonne schien auf die klatschnassen Decks und trocknete sie rasch, so daß nur ein Niederschlag von Salz zurückblieb. Um den Bug spielten die Schweinsfische und kreisten die Möwen, immer wieder vor ihnen das Fahrwasser kreuzend, als wollten sie ihnen den Weg bereiten zu froher Begrüßung in der Heimat. Der Geleitzug, diese Reihe von Schiffen, die sie so lange geschützt hatten, legte die letzte Meile seiner Reise zurück, flußauf zu den Kais: tief beladen, bis ans Oberdeck vollgepfropft mit unberechenbar wertvollen Gütern, erweckte er in ihnen dankbaren Stolz, daß sie ihn sicher abgeliefert hatten. Die Sicherungsfahrzeuge verabschiedeten sich, dampften eins nach dem andern an ihren Schützlingen vorbei und weiter stromauf. Hier war endlich der Hafen, in den sie gehörten: während sie friedlich längsseit des Ölprahms lagen und die Post an Bord kam, genossen die Männer ein warmes Bad und sauberes Zeug, durften ruhen und schlafen nach vielen Tagen und Nächten, die ihnen all das vorenthalten hatten. Plötzlich war die Zeit da für ihren ersten Urlaub: sechs Tage für die halbe Besatzung und alle Offiziere bis auf einen, denn Compass Rose mußte ihre Kessel reinigen und ein paar kleine Reparaturen machen lassen. Es war die erste Pause seit der Indienststellung vor fünf Monaten, und die meinten sie durchaus verdient zu haben. Und ohne es sich anmerken zu lassen, gab Ericson zu, daß sie recht hatten. Er selbst konnte sich, als er nun sechs Abende hintereinander im bequemen Sessel seiner Frau gegenübersaß, an die Stille des Hauses nicht gewöhnen. An Bord war ständig Bewegung, auch wenn Compass Rose im Hafen lag: da brummten ruhelos die Ventilatoren und Lichtmaschinen, da stapfte der Wachhabende auf dem Oberdeck einher, da wurden Signale aufgenommen und nach unten gemeldet, aus dem Funkraum war das ›Tüt-Tüt‹ der Morsezeichen zu hören, und das Radio in der Messe 94
gab sich größte Mühe, den einsamen Seeleuten, die in den Tiefen des Gladstone Docks an Bord bleiben mußten, etwas Lustiges zu bieten. Und hier hörte er gar nichts, nur das Klimpern von Graces Stricknadeln und das Rascheln der Kohlen auf dem Kaminrost. Ihre Mutter hatte ihren Besuch noch aufgeschoben, konnte sie aber schon in allernächster Zeit heimsuchen. John, ihr Sohn, war draußen in See, Ericson hatte ihn seit Indienststellung der Compass Rose noch nicht wiedergesehen, obgleich sie beide stets denselben Hafen anliefen. So saßen die zwei sich in dem schweigenden Hause gegenüber. Für Grace war dieser Zustand nichts Ungewöhnliches, für ihn jedoch ein krasser Gegensatz zu dem, was jetzt sein eigentliches und tägliches Leben zu sein hatte. Es gab noch andere Dinge, an die er sich nicht gewöhnen konnte: dies war das Haus einer Frau, anheimelnd und voll von überflüssigen, zierlichen Kleinigkeiten. Auf dem Sofa machten sich immer mehr Kissen breit, der ganze Zimmerschmuck trug eine ausgesprochen lustige Note, das Tischtuch hatte ein Spitzenmuster, das ihm an den Händen hängenblieb, wenn er einmal darüberfuhr. Er kam sich hier deplaciert vor: als unterbreche er ein Training gerade zu der Zeit, in der harte Entsagung so wichtig war. Das Schlafen neben Grace, in dem großen Doppelbett oben, bedeutete im Grunde ein Wohlleben und eine Wärme, die er gar nicht genießen wollte. Sie war seine Frau, gewiß, aber: dieses Nebeneinanderliegen enthielt sogar im passiven Schlaf ein sinnliches Element, das ihn gewissermaßen um seine asketische Haltung betrog. Wenn Grace wirklich spürte, wie er sich ihr fast unmerklich entzog, so ließ sie es ihn jedenfalls nicht merken: so lange Jahre hatte sie das Leben zu nehmen gewußt, wie es kam, auch ihren Mann – und ein Krieg war nicht die Zeit, um danach zu fragen, was unter der Oberfläche einer vernünftigen Ehe stecken mochte. »Du bist so unruhig, George«, sagte sie eines Abends, als er sich bis nach Mitternacht im Bett umherwälzte und sie schließlich aus einem angenehmen Traum geweckt hatte. »Kannst du nicht einschlafen?« »Es liegt an dem Bett«, antwortete er gereizt. »Kann mich nicht mehr daran gewöhnen.« »Ich dachte, ein Seemann könnte überall schlafen.« So zwischen Wachen und Schlaf verflüchtigte sich ihre stets ruhige Vernunft ein wenig, und sie ließ sich dann auch einmal verleiten, schnippisch zu werden. »Dieser Seemann kann’s eben nicht«, knurrte er. »Soll ich dir Tee machen?« »Nein, danke.« Jetzt, da er sie wachgemacht hatte, wünschte er nichts sehnlicher, als daß sie wieder einschliefe und ihn sich selbst überließe. Je länger sie so vertrau95
lich miteinander sprachen, um so mehr nahm ihn diese angenehme Umwelt gefangen, die ihn vielleicht unnötig schwächen konnte. Sogar in Friedenszeiten hatte ihn dieses immer wiederkehrende Kapitulieren verstimmt: Seefahren war eigentlich nur ein Beruf für unverheiratete starke Kerle. Jetzt, im Kriege, kam ihm jede bequeme Erholung beinahe wie Hochverrat vor. Diese merkwürdigen, vielleicht exaltierten Gedanken verfolgten ihn weiter, als Grace sich schon längst umgedreht hatte und wieder eingeschlafen war. So deutlich hatte er das noch nie empfunden: vielleicht grübelte er doch zu viel und hatte wirklich diesen Urlaub nötig? Aber das hieß noch nicht, daß man einfach alles laufen ließ, wie es lief. Morgen wollte er wieder zur Compass Rose, nur einmal nachsehen, ob alles in Ordnung war. Bennett unterhielt sich in einem Hotelschlafzimmer mit einer Frau. Einer der üblichen Frauen, – eine grundverdorbene, ausgekochte Person – und auch das Zimmer war vom üblichen Muster. Das Hotel stand, nein: es lauerte förmlich in der Nähe der Hafenbassins: in ihm wurde so pausenlos und in so rascher Folge Unzucht getrieben, daß sich zeitweise mehr Menschen auf den Treppen bewegten als in den Schlafzimmern lagen. Einem schmutzigen Bienenkorb glich das Haus, einem laufenden Band von Ausschweifungen, und war ganz von diesem Treiben erfüllt. Hätte Bennett gewußt, daß während seiner Anwesenheit noch vier Mann von der Besatzung der Compass Rose im Hause waren, er hätte das als Disziplinwidrigkeit aufgefaßt. Daß er selbst nicht hierher gehörte, wäre ihm allerdings kaum eingefallen. Er löste soeben vor dem schmierigen Spiegel seine Krawatte, während hinter ihm die Sprungfedern des Bettes quietschten, als die Frau sich für die Begegnung zurechtlegte. Diese Beschäftigung leitete sie mit dem geziemenden Gesprächsstoff ein. »Hast du ‘ne gute Reise gehabt, Liebling?« »Lausig«, sagte Bennett knapp. »Wird jedesmal übler. Ich glaube, ich haue da bald ab.« »Das kannst du doch gar nicht – oder –?« »Werde schon Mittel finden. Mich kann man doch nicht ewig auf so einem kleinen Mistpott festbinden.« »Muß ja ulkig sein auf so ‘nem Dampfer – so ‘ne Masse Männer dicht auf’n Haufen. Von was redet ihr denn da?« Bennett, der gerade die Hose auszog, antwortete nicht gleich. »Na, was stellst du dir da so vor?« »Von Liebe, was? Immer bloß von Liebe, glaube ich.« »So ‘was Ähnliches.« »Na ja, die Seeleute sind wohl alle vom selben Kaliber.« Die Frau, die durch keine Brutalität und keine in ihrem Beruf vorkommende Gemeinheit 96
mehr überrascht werden konnte, erkünstelte einen sehnsüchtigen Seufzer: in seiner Art ein Meisterstück der Heuchelei. »Neulich stand drüber was im Mirror: wie sie sich immer nur nach Bettkameraden umsehen.« »Höre ich zum ersten Mal«, sagte Bennett, und machte mit Satyrlächeln eine obszöne Bewegung. Die Frau lächelte mechanisch. Für sie gab es keine unbekannten schweinischen Witze mehr, aber zur Anregung der Kundschaft waren sie schließlich ganz nützlich. Ein Kunde war ihr neulich beinah’ vor Lachen aus dem Bett gefallen, als er von einem seiner Freunde erzählte, der bei der Sache einen Krampf gekriegt hatte und im Wagen, zusammen mit seinem Mädchen auf derselben Bahre, ins Krankenhaus gebracht werden mußte. Über so ‘was konnte sie sich beim besten Willen kein Lächeln mehr abzwingen. »Na«, sagte Bennett, ans Bett tretend, »jetzt kommt das, worauf ich so lange gewartet habe.« »Herrjeh«, sagte die Frau fast im selben Moment, »du bist aber verdammt stürmisch. Bist doch nicht etwa Franzose?« »Bei mir ist nur ein Ding französisch«, sagte Bennett, in ein Heidengelächter ausbrechend. Jetzt lächelte das Weib wieder. Es war sehr ulkig –. »Ich glaube bestimmt, du bist Franzose. Die können ja angeblich vor Leidenschaft kaum Luft holen.« »Man kann ja nicht alles für ewig bei sich behalten«, sagte Bennett zur Erklärung. »Ich schleppe diese Portion schon vier Monate mit ‘rum.« »Sammelt sich ganz schön an, was? – Na nu aber – ‘n bißchen vorsichtig!« Morell, der sich sehr nach einem gemütlichen Abend zu Hause gesehnt hatte, sagte: »Selbstverständlich, mein Liebes. Wohin möchtest du denn gern?« Elame Morell antwortete nicht sofort. Es gab ja so viele prächtige Lokale, und sie hatten nur fünf Tage, um auszugehen. Sie konnte ja sowieso überall hingehen, ob er da war oder nicht, aber es war auch herrlich, sich mit ihm zu zeigen, wenn er wirklich einmal da war: er sah in seiner Uniform so hübsch aus, wenn auch der einzelne schmale Ärmelstreifen ein bißchen deprimierend wirkte. Sie schnitt sich selbst eine Fratze im Spiegel ihres Ankleidetisches, schob eine Locke im Nacken zurecht und sagte: »Bestimme du, wohin, mein Liebling. Es ist ja schließlich dein Urlaub.« Morell, der sich hinter ihr auf der gesteppten Bettdecke behaglich dehnte, wußte nicht, ob das wirklich ganz zutraf. Ja, er war nicht einmal sicher, ob ihm irgendetwas an seiner Frau ganz gehörte. Er fand sie so unglaublich hübsch und verführerisch, daß seine ganze Willenskraft und seine kluge Menschenkenntnis von ihr im Nu fortgeschwemmt wurden und er den schön97
schönsten Lieblingsplan fallen ließ, sobald sie nur mit dem kleinen Finger winkte. Die Welt sah in ihm das Bild eines seriösen jungen Mannes mit klugem Kopf und gab ihm wegen seines schon ziemlich reifen Urteils gute Aussichten als Jurist. Aber niemand ahnte, wie sehr sich dieses Bild durch den sinnlichen Einfluß seiner Ehe verändern konnte. Sie war eine unbedeutende Schauspielerin, die in Westendtheatern Nebenrollen spielte. Zur Zeit hatte sie kein Engagement, doch der Krieg schien sie auf andere Art vollauf zu beschäftigen. Als Morell sie heiratete, kam er sich selber fast wie ein Schauspieler vor, so widersinnig erschien ihm die Verbindung seiner Person mit dieser strahlenden Kreatur. Doch die Widersinnigkeit hatte sich dadurch verflüchtigt, daß er in jeder Beziehung ein völlig anderer Mensch wurde, sobald er bei ihr war. Er sprach mit ihr, wie er sonst mit niemanden zu reden vermochte, so zärtlich besorgt, daß wohl keiner seiner Freunde es für möglich gehalten hätte. Er hörte sich aufmerksam ihr Geplapper an und antwortete ihr dann so, als sei jedes spröde Geschwätz ihres entzückenden Mundes eine Ansprache des Oberstaatsanwalts an die Geschworenen gewesen. Und: er tat genau, was sie ihm vorschrieb. In diesem Augenblick zum Beispiel war er verzweifelt müde: es wäre nun der dritte Abend hintereinander, an dem sie auswärts essen und tanzen gingen, und er wollte so gern Ruhe und seine Frau nur für sich haben. Sie aber hatte ihm gleich bei seinem Kommen verkündet, daß sie ihn überall zur Schau zu stellen wünschte, und so waren denn die Fahrten zu Cocktail-Parties, Restaurants und Nachtklubs einander gefolgt: sogar an seinem ersten Abend waren sie bis vier Uhr früh unterwegs geblieben. Allerdings hatte sie dann Zuhause alles nachgeholt, und zwar mit einer raffinierten Intensität, die ihn, nach den drei Monaten der Trennung, vollkommen aus der Fassung gebracht hatte. Ihr ging es anscheinend ebenso. »Liebling«, hatte sie in dem tiefen Kehlton gesagt, der ihn stets innerlich aufwühlte, selbst in der Stunde der Übersättigung – »Liebling, du müßtest öfter von mir fortgehen oder so – das war ja einfach toll eben!« War es möglich, ihr angesichts dieser feurigen Begrüßung einen Wunsch abzuschlagen? Und falls er ihn abschlug – wie rasch mochte dann – das dachte er aber nur insgeheim – diese Glut versiegen! Sie war eine schöne Frau, nicht vom Typ der Unnahbaren, sondern mit einem Gesicht, das einem zuwinkte, einem Mund, der nur zum Küssen da war, und einem Körper, der so schmiegsam, so verführerisch und so voll Glut war, daß er für nichts anderes geschaffen zu sein schien, als sich mit einem sehnigen Männerkörper zu verschmelzen. Für Morell besaß sie eine sinnliche Anziehungskraft, die in zwei Ehejahren kein bißchen nachgelassen hatte: wenn sie nur ihre Glieder bewegte, konnte ihn das schon fast irrsinnig erregen – ihr Leib schien förm98
lich zu flackern, nur um ihn zu entzücken. Sogar wie sie sich jetzt anzog, sich Hals und Schultern parfümierte, ihre makellos schönen Brüste in einen Büstenhalter zwängte, war unerträglich aufregend. Jederzeit wenn sie wollte, konnte sie in ihm diese halb wahnsinnige Gier entzünden, und wenn sie nicht wollte, spürte er diese wilde Lust nur noch quälender. Natürlich verlangte sie zuviel Rücksichten von ihm und beherrschte ihn, der so kühl sachlich zu sein glaubte. Doch ein einziger lockender Blick von ihr, eine einzige Bewegung glich alles wieder aus. Er fand es dann selbstverständlich und wichtig, ihr jeden Gefallen zu tun, und jede Weigerung wäre ihm tölpelhaft vorgekommen. Andererseits war es gefährlich, ihr Wünsche nicht zu erfüllen oder sich nicht in allem von ihr dirigieren zu lassen. Er wagte keinen Widerstand. Es gab ja noch so viele andere Männer… Einer dieser ›anderen Männer‹ hatte ausgerechnet telefoniert, als er den ersten Abend zu Hause war. Elaine hatte aus dem Badezimmer gerufen: »Nimm mal das Gespräch an – ich bin noch naß.« Und als er den Hörer aufnahm, fragte aus einem Hintergrund von Musik und Stimmengewirr eine Männerstimme ohne Gruß: »Elaine? Wir haben einen ganz phantastischen Abend, aber uns fehlt dabei dein prächtiger Körper. Willst du nicht ‘rüberkommen?« Morell sagte ziemlich töricht: »Hallo?« »Oh, Pardon«, kam es zurück, »wer spricht denn dort?« »Morell.« »Wer?« »Morell.« »Ach so, ja.« Ein merkwürdiges Lachen. »Pardon, lieber Freund: ich wußte gar nicht, daß Sie wieder hier sind.« »Ich werde meiner Frau Ihren Anruf ausrichten«, sagte Morell. »Mit wem spreche ich, bitte?« »Spielt keine Rolle – lassen Sie nur. ‘N Abend.« Die Stimme klang zwar angetrunken, aber dieses Benehmen war nicht allein der Trunkenheit zuzuschreiben. Und sie gingen wieder einmal bis in die Morgenstunden in einem Nachtklub tanzen, in dem es so frivol, so laut und so völlig zwanglos zuging, daß Morell sich fast in einen Zoo versetzt glaubte. Es war gräßlich voll dort. Elaine kannte offenbar sehr viele von den Gästen, darunter ein halbes Dutzend Piloten von der Air Force, die sie prompt einer nach dem andern zum Tanz engagierten. Und einmal, als sie mit ihm selbst tanzte, in der gedämpften Beleuchtung der Tanzfläche eng an ihn geschmiegt, strich sie über seinen Ärmel und murmelte: »Liebling, wie lange dauert’s noch, bis du befördert wirst?« Und er war plötzlich nicht mehr stolz, ihren schönen Kopf an seiner 99
Schulter zu sehen, sondern kam sich recht dumm vor. Doch wie gewöhnlich verjagte sie alle seine trüben Gedanken, sobald sie wieder in der Wohnung waren: als sie endlich ins Bett gingen, ertränkte sie, durch Alkohol aufgepeitscht, ihn förmlich mit ihrer Sinnlichkeit: sog alle Glut aus ihm, bis er vollkommen erschöpft einschlief. Schließlich war es ja ›sein‹ Urlaub. Ferraby verlebte mit Mavis eine schöne, harmonische Zeit. Sie wohnte jetzt bei ihrer Mutter, und die Verhältnisse – ein enges Vorstadthaus in Purley, wo sie weder beim Essen noch abends allein sein konnten – waren nicht gerade ideal. Aber er fand es herrlich, Mavis wiederzusehen und eine Persönlichkeit zu sein, auf die Rücksicht genommen und der Achtung bewiesen wurde. Welcher Unterschied zu der unwürdigen Behandlung auf Compass Rose! Da waren ihm alle sonstigen Nachteile des Urlaubs nebensächlich. Frei von Zwang zu sein, von den durch das ständige enge Zusammensein an Bord bedingten Spannungen – das empfand er als echtes Glück. Und wenn er mit ihr allein war, empfand er ihre Zärtlichkeiten als einen so schroffen Gegensatz zum Bordleben, daß er zuerst kaum daran glauben konnte. »Das muß ja ein ganz ekelhafter Kerl sein«, sagte Mavis empört, als Ferraby ihr einige Proben von Bennetts Manieren und Methoden gegeben hatte. »Wie kann so etwas nur erlaubt sein?« »Das ist die Disziplin«, sagte Ferraby wenig aufschlußreich. Er glaubte es ja eigentlich selbst nicht und hatte ihr auch, weil er sich schämte, nicht die ganze Geschichte erzählt. Und trotzdem wollte er nicht nur die geschilderten Schattenseiten bestehen lassen. »Der I.W.O. ist schließlich für das ganze Schiff verantwortlich, und das betrifft auch die Offiziere.« »Aber er braucht doch dabei nicht so abscheulich zu sein!« »Der ist eben so.« »Das dürfte nicht erlaubt werden«, wiederholte sie. »Dem möchte ich mal ordentlich die Meinung sagen!« Die gute Mavis war so süß und reizend anzusehen in ihren langen weiten Hosen und dem blauen wollenen Jersey, wie ihr Gesichtchen sich vor Kummer und Zorn richtig in Falten legte! Er küßte sie und sagte: »Wollen nicht daran denken. Was hältst du von einem Spaziergang?« »Ja, wenn du nicht zu müde bist.« Er blickte sie an und lächelte. »Wieso, komme ich dir denn zu müde vor?« Sie errötete, ohne ihn anzuschauen: »Gordon Ferraby, du bist schändlich… du weißt ganz gut, was ich meine.« Als er jetzt ihren Arm nahm, kam er sich sehr männlich vor. Doch die Erwähnung des Namens Bennett mußte eine Gedankenkette in Bewegung gesetzt haben, deren Klirren ihn weiter verfolgte. In der folgenden Nacht träum100
te er von Compass Rose auf stürmischer See und von Bennett, der ihn anschrie und ihm verbot, die richtigen Ruderkommandos zu geben, so daß das Schiff in Gefahr kam, zu scheitern: er wachte auf, aus Leibeskräften schreiend und in Angstschweiß gebadet, gerade als das Schiff durch eine sprühende Brandung auf ein langes Riff zulief – … Mavis, die ihn gleich in die Arme nahm, war entsetzt, als sie seinen zitternden Körper so naß fühlte, und erschüttert, daß seine innere Erregung so überwältigend groß sein konnte. Als er sich bei ihr für den Lärm entschuldigte, den er gemacht hatte, klang das, als müsse er sich für einen körperlichen Makel entschuldigen, für den er ihr ganzes Mitleid verdiente. »Ich muß geträumt haben«, murmelte er heiser. »Sei nicht böse, Liebling.« »Von was handelte denn dein Traum, Gordon?« »Von dem Schiff.« »Erzähle.« »Ich hab’s vergessen«. Aber gleich darauf begann er doch, den Traum zu schildern, während sie ihn umschlungen hielt und ihm in banger Sorge zuhörte, mit neuem Verständnis, das sie ganz erfüllte. Denn er erzählte ihr schließlich immer alles: von seinen Ängsten und seinen Versagern, von dem wie eine Schuld empfundenen Zweifel an seiner Eignung für den Dienst, den er tat – die ganze wahre Geschichte der letzten paar Monate. Das fiel ihm im Dunkeln leichter, während ihr Kopf an seiner Schulter lag, und wie stets vermochte er ihr alles zu sagen, ohne sich zu schämen. Ja, als er zu Ende berichtet hatte, war sie mehr mitgenommen als er, hatte sie seine eigene Furcht vor der Rückkehr auf das Schiff durchlitten und die böse Lage wie eine eigene Note empfunden. Vor allem war sie deshalb von seinen Enthüllungen so erschüttert, weil er in keinem seiner froh klingenden Briefe hiervon die kleinste Andeutung gemacht hatte. Das war doch nicht mehr der Mann, den sie zu kennen geglaubt und geheiratet hatte! Was hatte das Schiff nur aus ihm gemacht? Sie sprachen bis tief in die Nacht miteinander. Ach, warum konnte sie ihm außer ihrem vollen Vertrauen in sein Können, das sie ihm immer wieder versicherte, so wenig mit auf den Weg geben! Und was ihn beruhigen sollte, klang so jammervoll unzulänglich gegenüber den entsetzlichen Umständen, die er ihr skizziert hatte! Noch lange erinnerte sie sich an einen einzigen hartnäckigen Satz, den er jedesmal wiederholt hatte, wenn sie ihm riet, doch um Versetzung zu bitten: »Ich kann nicht etwas aufgeben, für das ich mich freiwillig gemeldet habe.« Sie vermochte ihn nicht zu überzeugen, daß sein Dienst unendlich viel schwerer sein müßte, als er ihn sich vorgestellt hatte, und daß er ihn daher in Ehren aufgeben könne, um so mehr, als dieser Bennett ihm das Leben so sehr erschwerte! Aber tief in seinem Innern war ein 101
hartnäckiger Wille zur Selbstaufopferung, der ihm verbot, nachzugeben. Nach dieser Nacht hoffte sie aus ihr selbst nicht ganz klaren Gründen, daß sie recht bald ein Kind bekäme. Lockhart, auf den das Los gefallen war, mußte als Offizier vom Dienst an Bord bleiben. Er sollte dafür beim nächsten Mal seinen Urlaub haben, doch es war ihm zur Zeit sowieso unwichtig, daß er nicht an Land gehen konnte. An Bord hatte er jetzt gerade die Ruhe, die er brauchte, und in seiner freien Zeit beschäftigte er sich fast genau so, wie er es im Urlaub getan haben würde: er las, hörte Radio und spann die in den letzten Monaten zurückgehaltenen Gedanken weiter. Compass Rose, ohne Feuer unter den Kesseln und ohne das Summen der Ventilatoren, war kühl und still. Es war ein merkwürdiges Gefühl für ihn: daß das bisher so emsige und lebhafte Schiff in diesen Zustand vorübergehender Untätigkeit verfallen war, der ganz seinem eigenen glich. Zu tun gab es an Bord kaum etwas, jedenfalls nichts, was von ihm eine Konzentration der Gedanken verlangt hätte: er war zugegen, wenn die Mannschaft nach dem Frühstück antrat und gab dem Bootsmaaten Phillips Anweisungen, was zu scheuern oder frisch zu malen sei. Er öffnete die Post, um gegebenenfalls eilige Sachen zu erledigen; kontrollierte nachmittags die täglichen Landurlauber, ob sie sauber und ordentlich im Zeug waren, und machte abends um neun die Ronde durchs Schiff, um sich zu überzeugen, ob alles für die Nacht klar war. Die Mahlzeiten waren nur provisorisch: denn sowohl der Kochsmaat wie Steward Carslake waren auf Urlaub, so daß sein leibliches Wohl vom zweiten Steward Tomlinson abhing, der früher in London auf der Edgware Road eine Kaffeebude gehabt hatte und sich gewiß besser darauf verstehen mochte, warme Würstchen oder Frikadellen im Eiltempo gegen bar und unter dem Motto ›Friß oder stirb‹ über die Theke zu schieben, als die gepflegteren Ansprüche einer Offiziersmesse zu erfüllen. Da jedoch Lockhart, seitdem er dort allein war, seine liebe alte Gewohnheit, zugleich zu essen und zu lesen, wieder aufgenommen hatte, störten ihn das schlampige Servieren und die gleichgültig angerichteten Speisen nicht sonderlich. Sie hatten längsseit Viperous festgemacht, deren Kessel ebenfalls gereinigt wurden. Zum erstenmal konnten sie einen Zerstörer aus nächster Nähe besichtigen, und Lockhart nahm die Gelegenheit dieser Nachbarschaft wahr, um mehrmals drüben an Bord zu gehen. Sein dienstliches Gegenstück war ein junger aktiver Leutnant, der ebenfalls für die Urlaubszeit an Bord festgehalten war und trotz seines geringeren Ranges einen Oberleutnant der Reserve kaum ganz für voll anzusehen vermochte. Lockhart beobachtete mit Vergnügen seinen inneren Kampf zwischen dem geziemenden Respekt vor zwei Ärmelstreifen und der natürlichen Mißachtung eines ›Amateurs‹. Viperous freilich hatte nicht ein bißchen Amateurhaftes: die strenge Disziplin eines 102
›aktiven Schiffes‹ verband sich mit dem fast selbstverständlichen Zauber des Zerstörers zu einem imposanten Bild. Viperous und Compass Rose mochten für gleiche Aufgaben eingesetzt und den gleichen Strapazen unterworfen sein, es blieb dennoch kein Zweifel, welcher von beiden der ›große Bruder‹ war. Allerdings schien der Unterschied ihrer Stellung in der Hierarchie der Marine schon nicht mehr so kraß zu sein wie anfangs. Nicht nur Lockhart, auch andere begannen die Korvetten mit Respekt zu bewerten, denn sie waren die kleinsten regelmäßig in atlantischen Konvois laufenden Geleitfahrzeuge, – die Fischdampfer und Schlepper waren inzwischen als ungeeignet zurückgezogen worden – und der Kriegsdienst auf Korvetten galt bereits als Zeugnis zäher Leistung und durfte mit Recht Anerkennung verlangen. Lockhart bekam in dieser Urlaubsperiode zweimal Besuch: einmal war es Kapitänleutnant Ramsay, Kommandant der Sorrel, der morgens an Bord kam und den Kopf in die Tür der Messe steckte. »Jemand hier?« fragte er laut. Er war eine fröhliche Natur, rotbäckig und stämmig, und sprach den rollenden Akzent Westenglands. In puncto Disziplin auf dem eigenen Schiff sollte er ein wahrer Tyrann sein, aber davon merkte man nichts, sobald er über die Stelling von Bord schritt. »Hallo, Sir!?« Lockhart tat seine Zeitung beiseite. »Bitte treten Sie ein.« »Ist Ihr Kommandant an Bord?« »Nein, noch auf Urlaub. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« »Aye. Gin, bitte –. Ich sehe, Sie haben jetzt Ihren zweiten Streifen. Wie ist eigentlich Ihr I.W.O.?« Lockhart grinste. »Der macht sich.« »Läßt Sie ganz schön herumspringen, wie?« »Er – hm – er hält scharfe Disziplin, – jawohl«. Jetzt lächelte Ramsay. »So kann man’s auch ausdrücken. Na, zum Wohl!« Sie unterhielten sich eine ganze Weile, vorwiegend über ihren Dienst und die Aufgaben der Korvetten, und zeigten dabei mit leichtem Humor die Resignation, die unvermeidlich schien, sobald Männer von Korvetten zu fachsimpeln begannen. Ramsay berichtete in allen Einzelheiten von einem Malheur, das Sorrel bei der letzten Geleitfahrt betroffen hatte: eine Riesensee war direkt auf die Brücke niedergestürzt, hatte zwei Fenster vom Kartenhaus zerschlagen und die Brückenreling um einen guten viertel Meter aus der Richtung gebogen. Von Compass Rose konnte Lockhart derartige Erfahrungen nicht berichten, obwohl er förmlich in seinem Gedächtnis wühlte, nur in dem fast krankhaften Wunsch, Compass Rose zuliebe ähnliches auftischen zu können. Ramsay sagte beim Verabschieden ganz unvermittelt: »Na, vielleicht fahren Sie selbst schon bald als I.W.O.« Diese Bemerkung erfreute Lockhart, und er dachte später noch lange dar103
über nach, denn bisher war ihm der Gedanke noch gar nicht gekommen. Aber bei näherer Überlegung schien ihm die Sache jetzt nicht mehr so phantastisch wie sie ihm noch zu Beginn des Jahres vorgekommen wäre. Der zweite Besucher von Belang war Ericson selbst, der eines Tages kurz vor Urlaubsschluß an Bord kam und bei einem Rundgang durchs Schiff ein so verdächtiges, vom Besitzerstolz gezeichnetes Gesicht machte, daß Lockhart sich gleich einbildete, allerlei Pflichten schlecht erfüllt oder gar vergessen zu haben. Doch der Kommandant schien ganz befriedigt, daß auf Compass Rose alles in Ordnung war: er blieb zu Mittag an Bord und ließ nun, als wolle er den außerdienstlichen Charakter dieser Gelegenheit betonen, die Förmlichkeiten fallen, stellte sich sozusagen mit Lockhart auf das gleiche Niveau und entpuppte sich dabei als sehr angenehmer Gesellschafter. Äußerst fesselnd wußte er von seiner Fähnrichszeit bei der Royal Navy zu erzählen, von der Notwendigkeit einer schnellen Ausbildung im Kriege im Gegensatz zu dem ermüdenden jahrelangen Drill und Trott der Seeausbildung in Friedenszeiten und der verzweifelt langsamen Beförderung damals. Lockhart gewann den Eindruck, daß Ericson jetzt allmählich von bestimmten Dingen überzeugt war, von denen er früher absolut nichts hatte wissen wollen: nämlich von der Leistungsfähigkeit der ›Amateure‹, zu denen er sich zählen mußte. Alles in allem erlebte er mit Ericson eine der bisher erfreulichsten Mahlzeiten auf Compass Rose: es blieb davon eine an Heldenverehrung grenzende Hochachtung vor Ericson zurück, die er noch kurz vorher als ›Aufgeben der Individualität‹ empfunden und abgelehnt hätte. Gewisse Überzeugungen, die er vor dem Kriege vertreten hatte, mußte er umstoßen, wie es schien, doch wenn die neuen gewonnene Erfahrung, sollte es ihm schon recht sein. Am Abend ihrer Rückkehr vom Urlaub saßen Lockhart, Morell und Ferraby in der Messe, als Bennett den Niedergang herabstolperte und eintrat. Er war unzweifelhaft betrunken, die meisten Hosenknöpfe vorn standen ihm offen, seine ganze Erscheinung wirkte so unsympathisch, daß es nicht leicht war, ihn ohne auffällige Reaktion in die Tischrunde aufzunehmen. Er machte sich einige Minuten an der Anrichte zu schaffen, während die drei ihn schweigend beobachteten. Dann drehte er sich um, ein Glas in der Hand, und fixierte sie der Reihe nach. »Tja – ja – ja«, sagte er mit alberner Betonung: »Da sind ja unsere braven kleinen Jungs alle schön pünktlich vom Urlaub zurück –. Wie haben Sie sich nur losreißen können?« Keiner gab ihm Antwort. Aus seinem Glas schwappte ihm der Schnaps bei seinen trunkenen Gesten über den Rock: »Ganz gesellige Brüder seid ihr ja, was?« Er faßte Lockhart kampflustig, aber mit unklarer Absicht, ins Auge. »Was hat sich denn während meiner Abwesenheit alles zugetragen, wie?« 104
»Überhaupt nichts.« »Ich glaube, Sie haben sich fortwährend an Land geschlichen?« Er nahm einen mächtigen Schluck Whisky, hustete und behielt nur mühsam den Alkohol bei sich. Sein Blick flackerte unstet zu Morell und Ferraby: »Und ihr verheirateten Leute – verheiratet, he, he« – er verlor den Faden, fing aber leider wieder neu an. »Ihr habt wohl eine wunderbare Zeit gehabt, was? Mir könnt ihr nichts erzählen.« »Es war sehr schön«, sagte Morell nach einer Pause. »Ich wette, ihr habt beide ein Brötchen im Backofen gelassen«, stotterte Bennett mit schwerer Zunge. Dann bekam er plötzlich eine grüngraue Gesichtsfarbe und trottete schwankend aus dem Raum. Sie hörten ihn nach oben poltern und die Tür zum Waschraum hinter ihm zuklappen. »Nun möchte ich aber doch gern wissen, was er mit dieser sonderbaren Bemerkung gemeint hat«, sagte Morell, als er draußen war. Lockhart, offenbar sehr peinlich berührt, antwortete: »Darüber würde ich an Ihrer Stelle gar nicht mehr nachdenken.« »Aber wieso denn?« beharrte Morell. Lockhart erklärte Bennetts Anspielung auf die Schwangerschaft der Frauen so taktvoll wie möglich. Aber das ließ sich ja ›taktvoll‹ überhaupt nicht wiedergeben, und so reagierten die beiden Kameraden genau wie er erwartet hatte: Ferraby wurde hochrot und blickte zu Boden, Morell verlor seine sonst so gemacht gleichgültige Miene, und sein Gesicht zeigte für einen Moment erschreckend scharf den Ekel und Zorn, den er empfand. »Was ist das bloß für ein Monstrum von Mensch«, unterbrach er das drückende Schweigen. »Wie können wir von dem frei werden?« »Ich habe eine Ahnung, daß er sich selbst freimachen wird«, antwortete Lockhart, froh, das Gesprächsthema ändern zu können. »Das letzte Geleit ging ihm sowieso sehr gegen den Strich. Mich wird es nicht überraschen, wenn er seinen Job hier aufgibt.« »Wie sollte er das wohl machen?« fragte Ferraby. Seine Stimme klang so gequält und lustlos, daß sie kaum zu verstehen war. Lockhart machte eine vage Geste. »Oh, es gibt schon Wege. Wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich wahrscheinlich ein Zwölffingerdarmgeschwür kriegen. Die werden aus irgendeinem Grunde bei der Marine sehr ernst genommen. Schon beim bloßen Verdacht wird der Patient à tempo an Land gebracht, damit ihm nicht auf See was platzt.« »Das sollte ihm einer von uns empfehlen«, meinte Morell nach kurzer Überlegung. »Ich möchte ihn nicht gern im Zweifel lassen, wie er es anfangen muß, nur weil ihm ein guter Rat fehlt.« »Ich glaube, der weiß sich schon selbst zu helfen«, bemerkte Lockhart. 105
»Wie herrlich wäre es, wenn er ginge«, sagte Ferraby noch ebenso kleinlaut. »Das wäre ja eine gewaltige Veränderung!« »Es sind schon komischere Dinge passiert.« »Aber noch keine angenehmeren«, sagte Morell. »Zumindest nicht nach meiner Erfahrung.« Durch einen jener Zufälle, die manchmal das Unangenehmste versüßen, wurde Lockharts Prophezeiung buchstäblich zur Wahrheit. Ausgerechnet am folgenden Tage, beim Mittagessen, preßte Bennett, der mit seinem üblichen Heißhunger gegessen hatte, sich plötzlich die Hände gegen den Leib und ließ ein täuschend echtes Stöhnen hören. »Jesus, habe ich Schmerzen!« sagte er in einem durch Spannung und Kartoffelbrei gequetschten Ton. »Was ist mit Ihnen denn los?« fragte Ericson in unpersönlicher Anteilnahme. »Habe mörderische Schmerzen –.« Bennett stöhnte zum zweiten Mal, aber viel entsetzlicher, und legte den Oberkörper über den Tisch. Seine Hände faßten noch krampfhaft auf den Leib, der Atem kam ihm stoßweise durch die zusammengebissenen Zähne. Aus mehr als einem Grunde fiel es den andern schwer, ihm nicht Beifall klatschen zu dürfen. »Legen Sie sich lieber in die Koje und ruhen Sie eine Weile aus«, sagte Ericson. »Jesus – das ist ja unerträglich!« »Vielleicht haben Sie ein Brötchen im Backofen«, sagte Morell ganz trocken. Er zog die Augenbrauen hoch, als er Lockhart mit dem Lachen kämpfen sah. Bennett richtete sich mühsam ruckweise auf und taumelte zur Tür. »–Ich muß mich wohl langlegen«, murmelte er. »Wird schon vorübergehen.« Er verschwand in Richtung auf seine Kammer, mit großer Deutlichkeit wimmernd. »Pech«, bemerkte der Kommandant. »Höchst Mitleid erweckend«, sagte Morell. »Ich habe das Empfinden, wir können ihm leider nicht im mindesten helfen.« Sein Ton ließ so klar erkennen, daß er diese Absicht auch keineswegs hegte, daß Lockhart beinah laut losgeplatzt wäre. Ericson blickte verdutzt in die Runde. »Was haben Sie denn alle zu feixen?« frage er streng. »Verzeihung, Sir«, sagte Lockhart, der am meisten durch die kaum unterdrückte Heiterkeit gesündigt hatte, »mir war nur etwas eingefallen.« Morell runzelte die Stirn in prachtvoll gespielter Mißbilligung. »Das macht Ihnen in einem solchen Augenblick nicht gerade Ehre«, sagte er steif. »Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie, wenn der I.W.O. solche Schmerzen hat, über 106
etwas anderes zu lachen fähig wären!« Ericson blickte von einem zum andern, wollte sprechen, unterließ es aber. Die Herren benahmen sich ja ziemlich schlecht, gewiß, aber: er selber spürte auch, nachdem Bennett sich fortgeschleppt hatte, eine Entspannung der Atmosphäre, und so fand er es unfair, andern diesen Genuß zu beeinträchtigen. Ein entschiedener Nachteil dieser etwas burlesken Angelegenheit wäre allerdings eine wirkliche ernste Erkrankung Bennetts, denn Compass Rose lag in zwölfstündiger Bereitschaft und sollte wahrscheinlich am nächsten Tage auslaufen. Ericsons böse Vorahnung bestätigte sich: Bennett klagte den ganzen Nachmittag über Schmerzen, am Abend begab er sich ins Marinelazarett und kam nicht wieder. Als Ericson am folgenden Morgen Lockhart in die Kajüte rufen ließ, hatte er vor sich auf dem Schreibtisch zwei Meldungen liegen, die nicht gut harmonieren wollten. Die eine war der Einsatzbefehl für Compass Rose, für vier Uhr, die zweite handelte von Bennett. »Der I.W.O. wird uns eine Weile fernbleiben, Lockhart«, begann Ericson. »Er muß auf Zwölffingerdarmgeschwür untersucht werden.« »Oh«, sagte Lockhart nur. Er hätte laut lachen mögen, wie das alles so programmäßig verlief, aber dann kam ihm plötzlich ein Gedanke, der seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. Etwas anderes trat jetzt an ihn heran, und das betraf ihn sehr persönlich und deutete in eine hellere Zukunft. Er wartete, bis der Kommandant weitersprach, wohl wissend, was er sagen würde, aber doch fürchtend, es könnte weniger bedeutungsvoll sein, als er gehofft hatte. Ericson blickte düster auf die zwei Meldungen. »Wir laufen heute nachmittag aus und müssen uns ohne ihn behelfen. Bis dahin ist keinesfalls mit Ersatz zu rechnen.« Er blickte hoch. »Sie werden als I.W.O. fungieren und die Wacheinteilung entsprechend ändern müssen.« »Yes, Sir«, antwortete Lockhart, dem zu seiner eigenen Überraschung das Herz für einen Moment wie toll geklopft hatte. Erster Wachoffizier –! Er würde es schon schaffen, und es mußte ja auch geschafft werden – eine Chance wie diese würde sich so leicht nicht wieder bieten… »Ich werde Sie dabei unterstützen«, fuhr Ericson fort. »Bis Ersatz kommt, werden Sie es schon machen können.« »Ich kann es auf jeden Fall machen.« »So, wirklich?« Ericson blickte ihn wieder an. Lockhart hatte entschlossen, aber in dem persönlicheren Ton gesprochen, der noch neu zwischen ihnen war. »Yes, Sir.« »Also gut«, sagte Ericson nach einer Pause. »Ich werde ja sehen – Tun Sie jedenfalls Ihr Bestes.« Als Lockhart die Kajüte verließ, merkte Ericson ihm deutlich an, wie fest er dazu entschlossen war. 107
Der erste Geleitzug, den er in seiner neuen Funktion erlebte, verlangte viel von Lockhart, der aber allem glücklich ins Auge sah. Im Wachegehen schnitt er jetzt besser ab, er hatte nun die Morgenwache von Vier bis Acht, und das bedeutete im Frühsommer: vier Stunden bei Tageslicht an Stelle der Strapazen und Komplikationen der Mittelwache bei völliger Finsternis. Doch es gab noch viele andere Dinge als Folge seines Aufstiegs, mehr Verantwortungen, an die er ständig denken mußte. Seit dem ersten Nachmittag, da er mit Tallow noch einmal alles kontrolliert und Compass Rose seeklar gemeldet hatte, blieb er keine Minute verschont von den vielen routinemäßigen Unterbrechungen, die bei korrekter Ausführung seiner Pflichten notwendig waren, und nie frei von der Sorge, doch irgend etwas vergessen zu haben. Das focht ihn nicht an, da er hier nicht nur dienstlich und menschlich interessiert, sondern auch mit außerordentlichem Eifer bestrebt war, alles tadellos auszuführen; aber bei diesem Geleitzug, und noch bei vielen späteren, mußte er sich anstrengen wie noch nie vorher. Kurz gesagt: er hatte dem Kommandanten ein voll funktionierendes Schiff mit reibungslos verlaufendem Dienst zur Verfügung zu halten, ein Schiff, das in keiner Prüfung versagte. Im Hafen brachte ihm das einen ganzen Komplex von Verantwortungen: Fragen der Disziplin in erster Linie, Übernahme und Stauen des Proviants und der Munition, die Verteilung der Arbeitsgruppen zum Reinschiffmachen und zur Waffenpflege. In See war das alles noch viel wichtiger, man war dem Kriege näher, und jeder Fehler konnte gefährliche Folgen haben. Täglich mußten die Waffen ausprobiert werden, Leute eingeteilt werden, wenn Unvorhergesehenes eintrat; Wachnummern mußten ausgetauscht oder Wachen verstärkt, zweimal täglich die Mannschaftsdecks gemustert werden: ob sie trocken und aufgeklart waren, da sonst das Leben an Bord noch viel ungemütlicher geworden wäre als es ohnehin schon war. Sobald es dunkel wurde, mußte Compass Rose mit der Dämmerung verschmelzen: kein Licht durfte sichtbar, keine Waffe unklar und kein Mann an Bord im Zweifel sein, was er unter bestimmten Umständen, welche es auch sein mochten, zu tun hatte. Es war ein reichhaltiges Programm. Ericson unterstützte ihn bei jeder Gelegenheit, während Morell und Ferraby ihn erfreuten durch die Art, wie sie seinen Anordnungen entsprachen: von Bennetts drückendem Regime befreit, gingen sie ihm bereitwillig zur Hand. Und da sie den festen Willen hatten, seine Stellvertretung zu einem Erfolg zu machen, wurde ihnen nichts zu viel, um ihm während seiner anfänglichen Unsicherheit zu helfen, wo es nur möglich war. Denn sie waren von Bennett frei: der war vorläufig in eine Umwelt von Lazarettbaracken und immer neuen Untersuchungen verschwunden, und sie sahen ihn nie wieder. Lockharts Ernennung wurde, freilich nicht ohne Be108
denken, vom Kommando der Western Approaches bestätigt. Der neue Offizier, der an Bord kam, um die Lücke zu füllen, ein Leutnant Baker, war im Dienstalter jünger als Ferraby und machte nach seinem zaghaften Auftreten den Eindruck, als ob er das auch bleiben würde. Die neu formierte Offiziersgruppe fand sich gut in den veränderten Rahmen, und so bot Compass Rose ein ganz neues Bild. Die Messe war jetzt ein erfreulicher Ort, wo sie sich entspannen und gemütlich aufhalten konnten, ohne daß mißlaunige und Fehler suchende Augen sie einzeln aufs Korn nahmen, um Worte gehässiger Kritik vorzubereiten: nachdem sie sechs Monate lang unter einer ewig mißtrauischen und im Grunde so kurzsichtig dummen Tyrannei gelitten hatten, genossen sie das Glück größerer Freiheit, das sie nicht mißbrauchen wollten. Und das gleiche Gefühl verbreitete sich im ganzen Schiff: die freundliche Luft sickerte auch in die unteren Decks, wo Bennett durch seine plumpen Methoden den meisten Ärger erregt und den stärksten Widerstand in Form absichtlicher Drückebergerei hervorgerufen hatte. Die Erkenntnis, daß Lockhart, der sich keineswegs blauen Dunst vormachen ließ, ein Mann war, bei dem der Dienst mehr Spaß machte, veranlaßte, wie das oft geht, die Besatzung zu besserer Pflichterfüllung. Natürlich machten die Männer anfangs mancherlei Versuche, Kapital aus dem ruhigeren Regime zu schlagen, vorwiegend durch verspätete Rückkehr vom Landurlaub, wobei sie mit sehr wortreichen Erklärungen zu überzeugen glaubten. Nachdem jedoch einer, der sich in seiner Frechheit zu der Behauptung verstiegen hatte, er sei durch den plötzlichen Großbrand eines Hauses aufgehalten worden, von Lockhart – der sich die Mühe gemacht hatte, der Sache nachzugehen – hören mußte, daß ausgerechnet an dem Abend die Liverpooler Feuerwehr zum erstenmal in vier Monaten nichts zu tun gehabt hatte, und nachdem dieser Sünder vom Kommandanten mit strengem Arrest bestraft worden war, wurde die Zahl derer, die es ›mal riskieren‹ wollten, rasch kleiner. Ericson, dem natürlich die allgemeine Besserung nicht verborgen blieb, freute sich seines geglückten Experiments. Er hatte nämlich mit seinem Antrag auf Bestätigung von Lockharts Ernennung viel Schererei gehabt, weil man beim Stabe an Land immer wieder dessen Fähigkeiten in Frage stellte. Also hatte der Ärger sich gelohnt, hatte ihm und Compass Rose einen Gewinn gebracht, dessen Wert sich vielleicht schon in naher Zukunft weiter erhöhte. Eine besondere Aufgabe war Lockhart schon gleich bei seinem Dienstantritt übertragen worden, vielleicht weil er unvorsichtigerweise erwähnt hatte, daß ein Großonkel von ihm als Chirurg in der Klinik von Guy tätig gewesen war: nämlich die Pflichten des Schiffsarztes. Bisher hatte er freilich auf diesem Gebiet noch nichts Schwierigeres zu tun gehabt als Mittel gegen Zahn109
schmerzen auszugeben, einem Matrosen einen Splitter aus dem Auge zu entfernen und, völlig ahnungslos gerade auf diesem Spezialgebiet, in einem Fall hartnäckiger Verlausung weise Ratschläge zu erteilen. Alle ernsteren Erkrankungen wurden im Marinelazarett an Land behandelt, und einstweilen war in See noch kein schwerer Fall vorgekommen. Undeutlich machte er sich klar, daß es ja nicht immer so bleiben würde: andere Korvetten hatten schon mit Verwundeten zu tun gehabt, nachdem Schiffe im Geleit torpediert worden waren, und früher oder später mußte auch er mit Situationen rechnen, für die er wenig Erfahrung mitbrachte. Davor scheute er in Gedanken, weil er wirklich nicht wußte, ob er einer Prüfung dieser Art gewachsen wäre, denn in seinem Leben hatte ihn noch nichts, nicht einmal der Anblick eines Autounfalls, mit Blut und schweren Verletzungen in Berührung gebracht. So fürchtete er, im gegebenen Moment unfähig zu sein oder sich töricht zu benehmen. ›Wird ohnmächtig, sobald er Blut sieht‹ – diese bekannte Redensart fiel ihm manchmal ein, wenn ihn diese geheimen Sorgen bedrängten. Wenn es ihm nun tatsächlich so erginge und er einfach machtlos dagegen wäre –? Der Arztposten war der einzige an Bord, den er, wie er sich ehrlich gestehen mußte, lieber gleich wieder aufgegeben hätte. Bisher war es eine Sinekure gewesen: das bislang schwierigste medizinische Problem, das ihm begegnet war, hatte so weit jenseits der von ihm zu erwartenden Kenntnisse gelegen, daß er es mit gutem Gewissen ablehnen konnte. Das geschah beim Auslaufen mit einem Geleit, als die Schiffe nach der langsamen Fahrt stromabwärts sich in die befohlene Reihenformation zu setzen begannen. Von einem Tanker in der Nähe wurde Compass Rose durch Signale angerufen, und Wells, der die Anfrage aufnahm, brachte den Text dem Kommandanten. »Von dem Tanker dort, Sir«, sagte er: »›Haben Sie einen Arzt an Bord oder können Sie medizinische Ratschläge geben?‹« Ericson blickte zu Lockhart hinüber, der sich auch auf der Brücke befand. »Na, wie wär’s damit, I.W.O.?« »Werde es mal probieren, Sir«, antwortete Lockhart. »Auf so eine Entfernung kann’s ja nicht viel schaden.« »Na, schön.« Er sagte zu Wells: »Geben Sie ‘rüber: ›Ärztliche Beratung verfügbar. Symptome angeben‹.« Es folgte eine Pause, in der die Morselampen blinkten. Dann hörten sie Wells, der die Antwort ablas, plötzlich ganz verblüfft sagen: »Oh!« Da Lockhart ihn noch nie überrascht gesehen hatte, war er gespannt auf den Grund. Wells gab dann mit ausdruckslosem Gesicht das Gegensignal »Verstanden« an den Tanker und sagte zu Lockhart, »Antwort, Sir: ›Geschwollene Vorhaut‹.« Nachdenkliches Schweigen herrschte auf der Brücke. 110
»Sir«, begann Lockhart dann, »da weiß ich, ehrlich gestanden, keinen Rat.« »Gereicht Ihnen zur Ehre«, antwortete Ericson. – Wenn er solche Bemerkungen machte, wie das gelegentlich geschah, spürte Lockhart eine Zuneigung zu ihm, die nicht nur dem guten Kommandanten galt. – »Ich glaube kaum, daß wir dafür besondere Fachleute an Bord haben.« »No, Sir«, erwiderte Lockhart. »›Bedaure Ihrem Kranken nicht helfen zu können«, diktierte Ericson dem Signalmaaten. »Werden Zerstörer anfragen, der Arzt an Bord hat. Geben Sie das ‘rüber, Wells‹. Netter Start für eine Geleitfahrt von einundzwanzig Tagen«, sagte er nachdenklich. »Der junge Mann wird sich merken, daß er sich an diese Adresse nicht wieder wendet.« Der nun folgende Signalaustausch mit Viperous gehörte in eine Kategorie, die im offiziellen Bordbuch keinen Platz fand. Und als damit Schluß war, hatte Lockhart noch weniger Lust als vorher, seine ›ärztliche Laufbahn‹ fortzusetzen. Als sie sich später, mitten im Atlantik, nach dem Kranken erkundigten und die Antwort bekamen: »Patient hatte eine gute Nacht«, bemerkte Morell trocken: »Das wissen wir, denn das war ja der Anfang des Übels – « Und dann auf einmal war es nicht mehr komisch, als Schiffsarzt fungieren zu müssen. Dünkirchen, die wunderbare und triumphale Flucht, wurde für sie das Signal zur Teilnahme am Kampf: von diesem Zeitpunkt an wurde fast jedes Geleit, das sie begleiteten, angegriffen, entweder durch U-Boote oder durch Flugzeuge, und der Verlust von Schiffen gehörte fortan zu den ständigen Ereignissen ihrer Seefahrt. Dünkirchen verlagerte, wie es zu erwarten war, das Gewicht der Kampfkräfte im Atlantik erheblich: die Operation selbst zog viele Schiffe, Zerstörer wie Korvetten, vom regelmäßigen Geleitdienst ab. Einige davon gingen verloren, andere wurden beschädigt, und weitere mußten nach dem Unternehmen in den Heimatgewässern verbleiben, um im Fall der Invasion zur Hand zu sein. Die Knappheit an Geleitfahrzeugen zu dieser Zeit war geradezu grotesk: selbst nachdem fünfzig überalterte Zerstörer eingetroffen waren, die Amerika nun den Alliierten zur Verfügung stellte, dampften die Geleitzüge mit so kümmerlichem Schutz in den Atlantik hinaus, daß damit eigentlich nur der Form genügt war – und das gegenüber einer ständig wachsenden Unterseebootsflotte des Feindes! Als die Royal Navy nach dem Ereignis Dünkirchen ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Hauptkampffeld richtete, mußte sie feststellen, daß dieses jetzt unter rücksichtslosen Attacken lag, deren Wucht und Schnelligkeit von Monat zu Monat zunahmen. Auch andere Faktoren hatten die Rechnung verändert. Die Europakarte 111
zeigte ein trauriges und bedrohliches Bild: nachdem Norwegen gefallen, Frankreich gefallen, Irland vor der britischen Haustür ein dubioser Posten geblieben war, während Spanien seine zweideutige Neutralität hielt, stand nahezu die ganze europäische Küste, von Narvik bis Bordeaux, den UBooten zur Verfügung und bildete – was von noch größerer Bedeutung war – eine weite Basis für Fernkampfflugzeuge. Flugzeuge konnten jetzt einen Geleitzug weit in den Atlantik hinaus verfolgen und, während sie sich selbst aus dem Feuerbereich zogen, die U-Boote an ihre Beute rufen. Und diese Zusammenarbeit brachte dem Feind rasch Gewinne, die sich für die Alliierten verheerend auswirkten. In den ersten drei Monaten nach Dünkirchen wurden durch das Zusammenwirken dieser beiden Waffen über zweihundert Schiffe auf den Meeresgrund geschickt, und dann gingen bis Ende des Jahres diese Verluste mit etwa fünfzig Schiffen monatlich weiter. Hilfe war unterwegs: neue Waffen, mehr Sicherungsfahrzeuge, mehr Flugzeuge – aber diese Hilfe kam für viele Schiffe und Menschen und für viele Konvois, die mit großen Lücken ihre Häfen erreichten, zu spät. Auf einer dieser bösen Geleitfahrten, auf der Heimreise unweit der irischen Küste, sollte Compass Rose ihre Feuertaufe erhalten. Als kurz vor Mitternacht die Alarmglocken schrillten, verließ Ferraby die Brücke, wo er mit Baker die erste Abendwache gehabt hatte, und eilte zu seinen Wasserbomben am Heck. Er selbst hatte den Alarm gegeben, als Flugzeuggeräusche und eine Salve Leuchtspurgeschosse auf der anderen Seite des Geleitzugs einen Angriff anzeigten. Aber jetzt vermochte er, obwohl er auf den Lärm der über Eisenplatten trampelnden Füße vorbereitet war, ein plötzliches Schreckgefühl in der Magengegend nicht ganz zu überwinden, da ihn bei diesem ersten Alarm zu wirklichem Kampf die Hast der Vorbereitungen mit erregter Spannung erfüllte. Die Nacht war ruhig, ein heller Dreiviertelmond tauchte das Oberdeck in kaltes Licht und zeigte ihnen die nächsten Schiffe des Konvois in scharfen, alles enthüllenden Umrissen: eine Nacht, wie geschaffen für das, was – er wußte es – nun kommen mußte. Und so kam ihm sein Eilen über Deck wie ein Transport zum Schafott vor. Er wußte: wenn ich jetzt spreche, dann wird meine Stimme beben; wußte, daß im vollen Tageslicht sein Gesicht bleich gewesen wäre und man seine Lippen hätte zittern sehen; wußte, daß er für diesen Moment innerlich doch nicht gerüstet war, trotz der monatelangen Übungen und obgleich die Spannung nur allmählich gestiegen war. Aber der Moment war gekommen – so oder so hieß es, den Dingen ins Auge sehen… Wainwright, der junge Mechanikersgast, war bereits am Heck und machte die Wasserbomben wurfklar, und als er sprach – es waren nur die zwei Worte 112
»Bedienung gefechtsklar« – wußte Ferraby, daß auch er von Unruhe verzehrt wurde. Das fand er entgegen seinen Erwartungen beruhigend: wenn die Furcht vor Kampf, die er selbst empfand, allgemein herrschte und nicht nur seine Schwäche und Schande war, dann wurde es gewiß leichter, sich in der Gemeinsamkeit davon zu kurieren. Er gab sich Mühe, einen festen Ton zu finden für den Befehl: »Erste Gruppe klarhalten zum Werfen!« – und dann, als er die Bedienung rasch auf Vollzähligkeit überprüfte, nahm ein Brillantfeuerwerk querab von Compass Rose seinen Blick gefangen: das angreifende Flugzeug flog gerade niedrig über die Mitte des Geleitzuges, verfolgt und gejagt durch gleichzeitiges Geschützfeuer von zwanzig, dreißig Schiffen. Zu sehen war die Maschine nicht, doch ihr rasend schneller Weg war zu erkennen an dem strahlenden Bogen der Leuchtspurgeschosse, die sich wie ein gewaltiger Fächer über das Geleit erhoben. Der Aufruhr im Geleitzug war ungeheuer: das Flugzeug kreiste durch die Finsternis, aus Hunderten von Rohren knallte es zugleich, ein paar Schiffe bliesen Alarm mit der Dampfsirene: die Mitte des Geleits, wo alles auf die tieffliegende Maschine feuerte und keiner sich darum kümmerte, was sonst in der Ziellinie liegen mochte, mußte ein wahres Inferno sein. Die Gruppen auf dem Achterschiff, nahe dem wirbelnden Kielwasser, beobachteten gespannt, welche Richtung das Flugzeug für den endgültigen Anlauf nehmen würde. Auf der Plattform über ihnen standen unbeweglich die Männer vom ›Zweipfünder‹, klar hoben sie sich mit ihren Stahlhelmen gegen den Nachthimmel ab, in höchster Spannung auf ihre Chance zum Feuern wartend. Aber diese Chance kam nicht, die Munitionsgurte blieben still hängen: etwas anderes kam ihnen zuvor… Als müsse der unvorstellbare Spektakel im Geleit einen Höhepunkt haben, der nur ein gewaltsamer sein konnte, ließ das Flugzeug an der Spitze der Mittelkolonne, kurz vor dem Abdrehen, zwei Bomben fallen. Eine fiel weit abseits, eine riesige Wassersäule hochschleudernd, die im Mondschein glitzerte – die zweite fand ihr Ziel. Sie hörten das eiserne Klirren auf einem Schiff, das sie nicht sehen konnten, und wußten, daß sie es auch nicht mehr sehen würden, denn nach der ersten Detonation kam eine zweite, mit einem gigantischen orangegelben Blitz, der den ganzen Konvoi und den ganzen Himmel geisterhaft grell erhellte. Das Schiff, ob es klein oder groß gewesen war, mußte im selben Moment in Stücke zersprungen sein – sie vernahmen nur eine Reihe widerlich klatschender Aufschläge im Wasser, die Fetzen dieses Schiffes, die ins Meer zurückfielen, es auf eine Meile im Umkreis gleichsam beschmutzten, daneben das harte Surren des in der Finsternis verschwindenden Flugzeugs – die letzten Geräusche des abebbenden Lärms, wie Schlußstriche unter das furchtbare Zerstörungswerk. 113
»Muß ein Munitionsdampfer gewesen sein«, unterbrach einer das entsetzte, teilnehmende Schweigen im Dunkel. »Die armen Kerle.« »Haben nicht viel davon gespürt. Besser kann man gar nicht sterben.« ›Du Idiot‹, dachte Ferraby, hemmungslos bebend, ›du dummer dämlicher Bursche: kein Mensch will sterben –!‹ Von seinem höheren Platz auf der Brücke hatte Ericson alles beobachten können: wie das Schiff getroffen wurde, wie beim Einschlag die Feuergarbe emporschlug und, im nächsten Moment, die Zerschmetterung des Schiffes in der gewaltigen Explosion. In dem schreckhaften Schweigen, das folgte, hörten sie seine Stimme unverändert kühl und ruhig ein Ruderkommando geben, und keiner hätte ahnen können, welches Bedauern und welcher Zorn ihn erfüllten, als er sah, wie eine ganze Besatzung, Menschen wie er selbst und seine Männer, mit einem Schlage ausgelöscht wurde. Ausrichten ließ sich nichts mehr: das Flugzeug war fort, mit dem gräßlichen Plus auf seinem Kampfkonto, und wenn es noch Überlebende gab – das schien undenkbar – so tat Sorrel, die Achteraussicherung fuhr, bestimmt alles, was möglich war. So schnell war alles geschehen, so brutal. Vielleicht hätte er diesem Gedanken noch weiter nachgehangen und sich mehr seinem Mitgefühl hingegeben, wäre nicht nach wenigen Augenblicken ein zweiter Streich gefolgt: gerade als er sein Fernglas wieder auf den Geleitzug richtete, tat das nur hundert Meter entfernte Schiff, mit dem sie Fühlung zu halten hatten, unter einer jähen Explosion einen ruckenden Satz, und schon nach Sekunden kenterte es in eine hoffnungslose Lage. Ein Torpedo diesmal! Wie war es geschehen? Im Moment, als Ericson ihn hörte, und noch als er ans Sprachrohr sprang, um höhere Fahrt und Zickzackkurs zu befehlen, hatte er gedacht: wenn der außerhalb des Geleitzuges abgeschossen wurde, kann er uns nur ganz knapp verfehlt haben. Im Horchraum hatte Lockhart ihn wahrgenommen und sofort automatisch das Gerät in die Gefahrenrichtung gedreht – ohne Befehl, denn das tat man ganz selbstverständlich, weil die ›Routine‹ sie alle zu jeder Stunde beherrschte und auch in so plötzlichen Krisen wirksam war. Morell auf dem Vorschiff hatte ihn gehört, sofort seiner Geschützbedienung den Befehl »Achtung!« gegeben und Leuchtgranaten laden lassen. Im Ruderhaus hatte Tallow die Detonation gehört, das Ruder fester gepackt und dem Mann am Maschinentelegraphen zugerufen: »Aufpassen, Kommandos kommen!« – und hatte auf die schnellen Befehle gewartet. Achtern an den Wasserbomben war Ferraby bei dem Krach zusammengefahren, hatte flüchtig in die schwarze See hinabgeblickt, die an ihnen vorbeiraste, dann auf das getroffene Schiff – er konnte es jetzt klar erkennen – und sehnte sich plötzlich nach energischem Handeln, um sich selbst und seine Angst dabei zu vergessen. Tief unten im Maschinenraum hatte Obermaschinist Watts den Einschlag ›am 114
besten‹ gehört: wie den Hammerschlag eines Giganten, der jenes Schiff mit mächtigem, reißenden Krachen traf. Und als, Sekunden darauf, der Maschinentelegraph klingelnd höhere Fahrt verlangte, lag seine Hand schon am Manövrierventil. Er wußte, was passiert war, und wußte, was jeden Moment noch passieren konnte. Nur nicht daran denken, wie es da draußen zuging: hier unten, im eisernen Käfig, unter der Oberfläche des Meeres, mußten sie warten und hoffen und – die Nerven behalten… Ericson ließ Compass Rose einen weiten Kreis nach Steuerbord laufen, vom Geleitzug ab, um auf das U-Boot zu jagen, an der vermeintlichen Torpedobahn entlang. Doch sie bekamen im Horchgerät keinerlei ›Kontakt‹. Da ließ er sofort zurückschwenken und auf das getroffene Schiff zuhalten. Das war, wie eine flügellahme Ente aus dem Schwarm, aus der Kolonne zurückgefallen, so daß die Schlußschiffe des Konvois an ihm vorüberzogen. Es sank rasch: schon schlugen seine Schrauben aus dem Wasser, es bäumte sich zum langen Tauchsprung auf den Meeresgrund. Angstschreie schallten zur Compass Rose herüber, ein schwerer Ölgeruch stieg in die Nasen, und für einen Moment, als das Schiff vom Mondlicht umrissen hinter Qualm sichtbar wurde, konnten sie auf seinem steil aufragenden Heck eine große Schar Männer zusammengepfercht stehen sehen, die ihnen winkten und zuschrien, während sie ihr Schiff schon unter sich ins Grab gleiten fühlten. Ericson befand sich in diesen Augenblicken, da er zu einer kühlen Entscheidung zu kommen suchte, in einem Dilemma: stoppte er, um Überlebende an Bord zu nehmen, so wurde sein eigenes Schiff zum stehenden Ziel und obendrein mußte er die Aussicht, das U-Boot niederzukämpfen, fahren lassen. Setzte er die Jagd auf den Feind fort, so überantwortete er, da Sorrel anderweitig beschäftigt war, jene Männer dem Tode. Er entschloß sich zu einem nicht zu gefährlichen Kompromiß: ein Boot abzugeben, das zurückbleiben konnte, um Überlebende zu fischen, während Compass Rose noch einen Vorstoß nach Steuerbord machte. Aber das mußte rasch geschehen. Ferraby, vom Kommandanten ans Sprachrohr auf dem Achterdeck gerufen, strengte sich sehr an, seiner Stimme einen sicheren Klang zu geben: »Ferraby, Sir.« »Wir wollen ein Boot aussetzen, Sub. Welchen Maat haben Sie da bei sich?« »Maat Tonbridge, Sir.« »Er soll sich ein paar Mann aussuchen – höchstens vier – und nach dem Schiff pullen. Soll sich aber gut von ihm klarhalten, bis es abgesackt ist. Vielleicht können sie drüben selbst noch Boote zu Wasser bringen, aber auf jeden Fall soll er tun, was nur möglich ist. Wir nehmen das Boot auf, sobald wir noch einmal nach dem U-Boot gesucht haben.« 115
»Ist klar, Sir.« »Größte Beeilung, Sub! Ich will nur ganz kurz stoppen lassen.« Ferraby stürzte sich in diese Aufgabe mit einer Energie, die alle anderen Empfindungen wohltuend betäubte: das Boot wurde so schnell gefiert, daß, als Compass Rose davonzog und es seinem kritischen Auftrag überließ, das torpedierte Schiff noch schwamm. Eben noch schwamm, vor dem endgültigen Todesrutsch, auf der Linie zwischen See und Himmel schwebend. Und als Tonbridge die Ruderpinne ergriff und den geradesten Kurs zum Ziel auspeilte, kam deutlich übers Wasser ein Geräusch des Zerreißens aus dem wunden Schiffsleib, der jetzt in die Tiefe strebte. Tonbridge sah das voller Entsetzen und Angst: nie hatte er dergleichen gesehen, noch nie einen solchen Auftrag gehabt, aber er mußte – mußte, – ihn anständig ausführen! Es war schon aufregend genug gewesen, von Compass Rose in die schwarze Nacht hinabgelassen zu werden, sie verschwinden zu sehen und in einem kleinen Boot einsam unter den Sternen zurückzubleiben; auch den Geleitzug entschwinden zu sehen und nur noch die weite feindliche See rings um sich zu haben. Aber jetzt, da das torpedierte Schiff vor ihren Augen versank, die Männer da drüben schreiend und heulend im Wasser umherklatschten und der Ölgeruch dick und stickig auf das Boot zutrieb – jetzt kam ihm das wie ein greulicher Schreckenstraum vor. Tonbridge war dreiundzwanzig Jahre alt, in den Londoner Slums aufgewachsen, äußerlich straff erzogen durch sieben Jahre Marinedrill. Bei einer Nervenprobe wie dieser war die Tatsache, daß er nicht davor ausriß, sondern sogar tatkräftig zu handeln begann, schon mehr als schlechterdings von ihm verlangt werden konnte. Sie taten, was sie vermochten: pullten tapfer durch die Finsternis, sich nach den Rufen der Schwimmenden richtend, schaudernd vor den erstickenden Schreien derer, die schon ertranken bevor das Boot sie erreichte. Alles Menschenmögliche taten sie, um zu retten und zu helfen. Vierzehn Mann konnten sie bergen: einer war tot, einer im Sterben, acht verwundet, die übrigen halb erstickt und jämmerlich zugerichtet. Fast hätten sie es auf fünfzehn gebracht: Tonbridge hatte den fünfzehnten schon gepackt, einen Mann im letzten Stadium der Angst und Ermattung, da entglitt er ihm, weil er den ölverschmierten nackten Körper einfach nicht zu halten vermochte, und versank, ehe sie ein Tau um ihn legen konnten. Als sich keine Schatten mehr auf dem Wasser bewegten, keine Schreie mehr ertönten, ließen sie die Riemen ruhen und warteten. Allein in der unendlichen Einöde des nachtschwarzen Atlantik, allein zwischen den immer langsamer dahintreibenden Trümmern und im Gestank des Öls, warteten sie, bis Compass Rose sie wiederfand. Plötzlich war sie da. Ferraby, der an der Reling stand, als das Boot eingepickt wurde, erwartete unruhig den Anblick der Überlebenden, wie sie über die Reling kamen. Was würde er da 116
sehen müssen? Auf das Jammervolle, Erschreckende ihres Aussehens war er nicht vorbereitet. Zuerst kamen ein paar, die noch selbst an Bord klettern konnten: ein halbes Dutzend zähneklappernder Männer mit geschwärzten Gesichtern, in ölverschmiertem Zeug, das sie bei der Explosion in aller Hast übergestreift hatten, wie es gerade kam. Dem einen troff Blut aus den Haaren, ein anderer hielt kläglich seinen Arm fest, von dem kochender Dampf die Haut vom Handgelenk bis zur Schulter abgebrüht hatte. Sie blickten unstet um sich, ganz benommen von der Schnelligkeit der Katastrophe, von ihrer Rettung und dem Gefühl, wieder ein festes Deck unter den Füßen zu haben. Während sie in die warmen Mannschaftsräume geführt wurden, ließ man für die Schwerverwundeten eine Tauschlinge hinab, an der sie auf Bahren an Deck gehievt wurden: einige waren stumm, andere wimmerten und ein paar spuckten würgend das Öl aus, das ihnen die Eingeweide verbrannte und vergiften wollte. Seite an Seite an Deck gelegt, bildeten sie einen Teppich der Schmerzen und Qualen, ein so unverhülltes Bild menschlichen Leidens, daß es schon grausam schien, sie nur anzublicken. Und dann, als das Boot noch immer im geisterhaften Dunkel an die Bordwand schlug, erklang von unten Tonbridges Stimme: »Vorsichtig, langsam – hier haben wir noch einen Toten!« Ferraby hatte noch keinen toten Menschen gesehen und mußte sich zwingen, diese jämmerliche Hinterlassenschaft des Meeres anzublicken: eiskalt, fast schon steif, wurde der Tote über die Reling gezogen, wobei sein grauhaariger Kopf nach hinten kippte. Ein alter Seemann war es, der aber ganz unseemännisch und im Tode abstoßend aussah. Ferraby wäre am liebsten fortgelaufen, hätte sich übergeben mögen. Entsetzt und verblüfft beobachtete er die zwei Matrosen, die den Toten trugen. ›Wie könnt ihr das nur ertragen, was ihr da macht?‹ dachte er. ›Wie könnte ihr das überhaupt anfassen?‹ Hinter sich hörte er Lockhart sagen: »Bringt den ganzen Verein ins Vorschiff – hier kann ich nichts sehen.« Da wandte Ferraby sich ab und beschäftigte sich mit beim Aufhieven des Bootes. Keinen Blick warf er hinter sich, als die Prozession der so schwer mitgenommenen Schiffbrüchigen auf den Bahren davongetragen wurde. Als das Boot an Deck und festgezurrt war, kehrte er der ganzen Szene den Rücken, froh, wenigstens einen Teil diese Elends nicht mehr gesehen zu haben. Jetzt war nichts mehr davon übrig, außer dem beizenden Ölgestank, einigen Blutlachen und Wasserpfützen an Deck. Nichts – so sah er jetzt, keuchend vor Furcht und Ekel – bis auf den toten Mann, der einen Meter von ihm an die Reling gebunden war. Und der schlingerte genau wie das Schiff, hin und her, hin und her. Da machte Ferraby kehrt und eilte in panischem Entsetzen zum Achterdeck. 117
In dem großen Mannschaftsraum unter den abgeschirmten Lampen vollbrachte Lockhart nie für möglich gehaltene Dinge. Zwischendurch mußte er immer wieder, nicht ohne ein kleines inneres Lächeln, an die Zweifel denken, die ihn vorher gequält hatten: hier gab es mehr als genug Blut, um ohnmächtig zu werden, aber seine Tätigkeit verlief ganz anders. Er hatte einem Mann eine klaffende Kopfwunde vernäht, die von der Nase bis zum Haaransatz lief. Als der das Catgut aus der Papierhülle nahm, hatte er noch gedacht: ›Wenn doch bloß dabeistände, wie man mit dem Zeug umgehen soll!‹ Er hatte ein gebrochenes Bein zurechtgerückt und es mit einem Brett von einer Bank geschient. Hatte Schnittwunden und tiefe Risse verbunden, hatte sich um den jetzt vor Schmerzen bewußtlosen Mann mit dem verbrühten Arm in jeder erdenklichen Weise bemüht, und hatte, ohne helfen zu können, mit einer ihm selbst schleierhaften Sachlichkeit zugesehen, wie einer, dessen Gedärme und wahrscheinlich auch Lungen mit Brennöl vollgesogen waren, langsam starb. Ein paar Mann von der Besatzung standen im Halbkreis um ihn herum, sahen zu oder halfen ihm, wenn er um Hilfe bat. Die beiden Stewards brachten Tee für die durchfrorenen, verstörten Überlebenden, andere Männer boten trockenes Zeug an, und nach ein paar Stunden kam Tallow herunter und brachte Lockhart den größten Schluck Rum, der ihm je vorgesetzt worden war. Und trotzdem war er nicht zu groß –. Einmal vernahmen sie von draußen den Krach einer Explosion, und Lockhart blickte auf. Sein Auge fiel durch das verräucherte Vorderdeck über die Reihen der frisch Verbundenen und die noch unversorgten, zitternden Seeleute, über den verkrampften Toten, durch die ganze schmutzige Konfusion dieser Nacht, auf Maat Phillips. Und ohne es zu wollen, lächelten sie beide, einen Gedanken verratend, über den sie jetzt nur noch lächeln konnten: wie wenig Aussicht sie hätten und wie vergeblich all dies Bandagieren sein mußte, träfe jetzt ein Torpedo die Compass Rose… Dann beugte er sich wieder hinab, um in einer Wunde nach einem Splitter zu tasten, der noch darin sein mußte, falls das Schmerzensgeschrei, von dem seine Bewegungen begleitet wurden, ein Anzeichen dafür war. In diesen Augenblicken galt es nur, an das Wesentliche zu denken, und das befand sich hier und war seiner Obhut anvertraut –. Erst als der Tag schon fast dämmerte, war er fertig. Er begab sich schleppenden Ganges und restlos erschöpft auf die Brücke, um zu melden, was er hatte leisten können. Er traf den Kommandanten oben an der Treppe. Sie hatten beide die ganze Nacht auf den Beinen bleiben müssen. Schweigend blickten die zwei erschöpften Männer sich an, unfähig, ihren steifen, verkrampften Gesichtern einen anderen Ausdruck zu geben, und doch jeder stumm die Leistung des anderen würdigend. An Lockharts Händen klebte Blut, auch an den Ärmeln seines Bordjacketts: es hatte im kalten Frühlicht einen merkwürdig metallischen Glanz, und Ericson be118
trachtete es eine Weile, bevor ihm bewußt wurde, was das war. »Sie müssen tüchtig zu tun gehabt haben, I.W.O.«, sagte er ruhig. »Wie sieht es denn jetzt aus?« »Zwei tot, Sir«, antwortete Lockhart. Da seine Stimme völlig heiser klang, räusperte er sich. »Einer wird noch folgen, glaube ich: er ist mit einem schwer verbrannten Arm geschwommen und umhergelaufen, und der Schreck hat ihn überwältigt. Sonst sind’s elf. Die werden sich wohl erholen.« Er zuckte die Achseln. Hierauf gab es keine weitere Antwort, und wäre eine möglich gewesen, so hätte er sie in der jetzigen Stimmung nicht gefunden: die letzten paar Stunden, in denen er menschliche Schmerzen beobachtet und beurteilen gelernt hatte, schienen alle normalen Gefühle ausgelöscht zu haben. Er drehte sich um und blickte nach den querab von Compass Rose laufenden Schiffen, die sich eben im Tageslicht abzuheben begannen. »Wie sieht es denn hier oben aus?« fragte er. »Wir haben noch ein weiteres Schiff verloren, drüben an der anderen Seite. Insgesamt drei.« »Mehr als ein U-Boot beteiligt?« »Ich glaube kaum. Das eine hat wohl hinübergewechselt.« »Gute Arbeit für eine Nacht.« Lockhart vermochte noch immer nichts anderes als förmliches Bedauern auszudrücken. »Wollen Sie sich nicht lieber hinlegen, Sir? Ich kann den Rest der Wache übernehmen.« »Nein, Schlaf haben Sie jetzt nötig. Ich bleibe, bis Ferraby und Baker ablösen.« »Tonbridge hat sich sehr hervorgetan.« »Ja. – Sie auch, I.W.O.« Lockhart schüttelte den Kopf. »Das meiste war eine ziemliche Zumutung. Ich müßte mir ein kleines Buch über Wundbehandlung besorgen. Das würde sehr nützlich sein, wenn die Geschichte so weitergeht.« »Ich sehe keinen Grund, wieso sie anders gehen sollte«, sagte Ericson. »Nicht den geringsten Grund sehe ich dafür. Drei Schiffe in drei Stunden: vielleicht hundert Mann alles in allem. Leichte Sache –.« »Ja«, nickte Lockhart. »Ein vielversprechender Anfang. Nach dem Kriege müssen wir sie fragen, wie sie das gemacht haben.« »Nach dem Kriege«, sagte Ericson ohne Erregung, »nach dem Kriege werden die hoffentlich uns fragen…« Sie machten elf Geleitfahrten in diesem Jahr: nach Island, nach Gibraltar oder nach dem winzigen Punkt im Mittelatlantik, wo sie die rückreisenden Schiffe übernahmen. Als der Winter herankam, verschlechterte sich naturgemäß das Wetter, aber nachdem die scheußliche Ungemütlichkeit an Bord und die 119
Übermüdung einmal selbstverständlich geworden waren, gewöhnten sie sich daran, den zunehmenden Wind und das fallende Barometer freudig zu begrüßen, weil sie ihnen in anderer Hinsicht eine Atempause brachten. Denn sie bescherten dem Konvoi zumindest dunkle Nächte und steifen Seegang und waren daher eine gewisse Versicherung gegen Angriffe, für die sie gern, solange es sein mußte, bezahlen wollten. Damals hatten die Unterseeboote noch nicht das Stadium der Entwicklung erreicht, in dem sie fast aus jeder Lage ihre Torpedos abschießen konnten, und bei schwerem Wetter war es auf jeden Fall schwieriger, Schiffe aufzufinden oder gar zu treffen. Anfangs hätten sie nicht geglaubt, daß sie sich auf atlantischen Sturm so freuen könnten, doch mit der Zeit war ihnen kein anderes Wetter so willkommen. Aber nicht immer stürmte es, nicht immer war der Mond durch Wolken verhüllt. Es gab viele Wiederholungen jenes ersten verlustreichen Geleitzugs: die Liste der Schiffbrüchigen wurde länger und länger, die Gesamtzahl der verlorenen Schiffe zeigte eine ständig aufwärts weisende Kurve. Es mußte – soviel war klar – entschieden in der Frage der Schiffbrüchigen etwas getan werden, wenn es überhaupt Sinn haben sollte, sie aufzufischen. Denn die Korvetten, denen dieses Rettungswerk im wesentlichen zufiel, waren dazu ihrer Ausrüstung nach sehr wenig geeignet. Auch brauchten sie an Bord einen Arzt, zumindest einen ausgebildeten Sanitäter, um für Verwundete und Erschöpfte richtig sorgen zu können. Es war ein vergebliches und sinnloses Bemühen, das Schiff für die Rettung von Leuten aufs Spiel zu setzen, die nachher an Schockwirkungen, Verbrennungen oder Ölvergiftungen zugrunde gingen, weil man sie nicht sachgemäß behandeln konnte. Auch anderes benötigten die Korvetten für dieses Werk, nämlich zusätzliches Zeug, Decken, einen ordentlichen Krankenraum und schmerzlindernde Medikamente. Sogar mehr Segeltuch brauchten sie, um die Toten seemäßig zu bestatten. Der Mangel an diesen nicht vorgesehenen Dingen erwies sich jetzt als gräßliche Realität. Angesichts dieser Unzulänglichkeiten, dieser Verschwendung von Kraft und Mut, ging das Jahr 1940 seinem Ende entgegen. Kurz vorher noch ereignete sich etwas, das sie nicht so leicht vergaßen: am Weihnachtstag mußten sie ansehen, wie ein mit Eisenerz beladenes Schiff in weniger als einer Minute auseinanderbrach und sank. Es ging unter wie ein Stein in einem Teich und ließ auf der Meeresfläche nichts weiter als schleimigen Ölschaum und vier Mann. Das war bisher der Rekord von vielen raschen Versenkungen, die sie schon erlebt hatten, und er erschütterte sie nicht wenig. Aber im Grunde erfüllten alle Verluste, alle Toten und das Ausmaß des Gemetzels sie noch immer mit Schrecken. Wenn sie nur gewußt hätten, daß gerade jetzt die Wendung zum Besseren 120
begann…
III 1941 VORGEFECHTE Das neue Jahr fing mit einer häuslichen Tragödie an, die mit ihrer Unmöglichkeit einer endgültigen Lösung gewissermaßen die Situation des größeren Kampfes widerspiegelte. Im Mittelpunkt des Sturmes stand ein kleiner Matrose namens Gregg, der zur Vorschiffsgruppe in Morells Division gehörte. Morell wußte von ihm nur, daß er ein ruhiger und verläßlicher Mensch und in den ganzen fünfzehn Monaten seines Dienstes auf Compass Rose noch nie unangenehm aufgefallen war. So mußte es überraschen, daß Gregg am Ende der Hafenzeit nicht an Bord zurückkam und auch nicht aufzufinden war, bis das Schiff zum ersten Geleit des neuen Jahres auslief. So fuhren sie ohne ihn, nachdem die Dienststellen an Land ausreichend instruiert worden waren, sich seiner anzunehmen, sobald er zurückkehrte, wenn auch im Augenblick das Fehlen eines Mannes ärgerlich war. Die Angelegenheit mußte, wie all die anderen Kleinigkeiten und Pflichten der Hafenzeit, aufgeschoben werden, solange die See ihre ganze Aufmerksamkeit forderte. Aber dann ging es los, als sie wieder einliefen. Unerlaubte Entfernung vom Dienst wog an sich schon schwer, aber beim Auslaufen des Schiffes zu fehlen, das zählte bereits zu den ernsteren Verfehlungen, denn wenn das Schiff in solchen Fällen an Kriegshandlungen teilnahm, mußte der Betreffende auch noch mit Bestrafung für ›Fahnenflucht vor dem Feinde‹ rechnen. Als Gregg nach der Rückkehr des Schiffes morgens zum Kommandantenrapport vor Ericson stand, wartete dieser einigermaßen gespannt, welche Entschuldigung der Matrose vorbringen würde. Vielleicht hatte er einen plausiblen Grund, durch den er straflos ausgehen konnte – obwohl so ein Grund eigentlich kaum vorstellbar war. Aber vielleicht gab es Gründe für eine mildere Behandlung des Falles. Ericson erhoffte dergleichen, weil Gregg ein anständiger Junge mit bisher einwandfreier Führung war. Erwies sich jetzt das Gegenteil, so war eine strenge Bestrafung fast unvermeidlich, durch die Gregg vielleicht wirklich verdorben wurde. Die Sache wurde kritisch, als Gregg jede Aussage verweigerte. In einer Beziehung lag der Fall klar: der Mann war eines Nachmittags von Bord gegangen, hatte sein Schiff beim Auslaufen verpaßt und sich bei dessen Rückkehr wieder an Bord gemeldet. Siebzehn Tage unerlaubter Entfernung stan121
den unbestreitbar fest. Doch als Ericson jetzt Aufklärung verlangte, schüttelte Gregg nur den Kopf und murmelte: »Habe nichts auszusagen, Sir.« Das brachte Ericson in Zorn. »Sie müssen doch eine Erklärung geben können«, sagte er scharf, indem er den kleinen Mann mit dem strohblonden Haar musterte und in seinem Gesicht zu lesen versuchte. Er sah darin kaum die Bitte um Entschuldigung, auch keine besondere Verlegenheit, bestimmt aber keine aufsässigen Gedanken: eher die Entschlossenheit, alle Folgen auf sich zu nehmen – eigentlich in diesem Fall eine ganz tapfere Haltung. »Ich möchte wissen, weshalb Sie von Bord gegangen sind«, fuhr er fort, »und was Sie getan haben, während wir in See waren. Sie müssen darüber Rechenschaft ablegen, sonst geht’s Ihnen schlecht!« Alle starrten Gregg an: der Kommandant, Lockhart, Morell und Tallow, der ihn zum Rapport gemeldet hatte. Ihre Gesichter hatten verschiedenen Ausdruck: der Kommandant, als Disziplinarvorgesetzter, sah undurchdringlich aus, Morell verdutzt, Lockhart zeigte die streng dienstliche Miene des I.W.O. und Tallow die verächtliche des Berufssoldaten, der mit Straffälligen keine Geduld hat und ihren Entschuldigungen nicht den mindesten Glauben schenkt. Inmitten dieses strengen Kreises blieb Matrose Gregg bei seiner ablehnenden Haltung. ›Wann hast du wohl deinen Vater zuletzt gesehen?‹, dachte Lockhart völlig zusammenhanglos und runzelte noch energischer die Stirn. Solche Sachen durften nicht länger von der komischen Seite genommen werden. »Na«, begann Ericson nach einer Pause wieder, »ich warte noch.« »Habe nichts zu sagen«, wiederholte Gregg ebenso tonlos wie vorher. Tallow zog vernehmlich die Luft ein, so daß Ericson, der es hörte, wieder an die ganze Bedeutung der Marinetradition und an die strengen Bestimmungen der Disziplinarstrafordnung erinnert wurde, die es zu erfüllen galt. Bald mußte er diese traditionelle Strenge anwenden, mußte Vergehen und Strafe gerecht abwägen. Aber er empfand diese Gedanken als nutzlos, denn schließlich handelte es sich doch nur um ihn selbst und einen armen Teufel von Matrosen, der sich weigerte, die eigene Haut zu retten. Er wollte gern die wahren Gründe wissen und Gregg aus einer Situation befreien, in der auch beim besten Willen alles gegen ihn sprach. Er versuchte es zum dritten Mal. »Es ist doch reine Dummheit«, sagte er vernünftig. »Ich weiß ja nicht, was Sie verheimlichen wollen, aber sicher ist die Sache das nicht wert. Sie wissen, daß ich Sie hierfür ins Straflager schicken kann?« »Yes, Sir«, murmelte Gregg. »Das möchte ich aber vermeiden, weil Sie bisher unbestraft sind und Ihr Divisionsoffizier mir erklärt, daß Sie Ihren Dienst ordentlich machen. Geben Sie mir jedoch keine Erklärung, so bleibt mir keine andere Wahl.« 122
Er machte eine Pause. »Weshalb haben Sie das Schiff verpaßt, und was haben Sie in den letzten siebzehn Tagen gemacht?« Noch immer kam keine Antwort. Gregg stierte vor sich hin – seine Augen lagen kaum höher als Ericsons Kinn. Es schien, als habe aller Lärm im Schiff und im Hafen aufgehört und die ganze Umgebung erwarte nur den Abschluß dieser Szene. Lockhart hatte die verrückte Vorstellung, daß das nie geschehen werde: daß Gregg niemals antworten würde und sie alle hier ewig warten müßten, bis sie alt waren, der Krieg vorbei und kein Mensch sich mehr um sie kümmere. Vielleicht bewegten Ericson ähnliche Gedanken, denn er richtete sich plötzlich auf und sagte: »Wegtreten.« »Wegtreten – hierher«, wiederholte Tallow, in dessen Ton noch Zweifel mitklangen, ob es wirklich ein Schlußzeichen war. Energischer klang dann sein automatisches: »Mütze auf! Kehrt marsch, vorwärts!« Als Gregg außer Hörweite war, wandte Ericson sich an Morell: »Lassen Sie ihn morgen wieder vorführen. Inzwischen reden Sie vielleicht mal mit ihm und versuchen festzustellen, was eigentlich dahintersteckt. Ich möchte den Mann nicht bestrafen, ohne zu wissen, was los ist.« »Yes, Sir«, sagte Morell. »Ist er verheiratet?« »Yes, Sir.« »Fragen Sie ihn, ob da was nicht stimmt! – Bootsmann!« »Sir?« »Halten Sie Gregg morgen früh zum Vorführen klar.« »Aye, aye, Sir.« »Den nächsten Fall –« Aber Morell ging anders vor, als er Gregg nachmittags in seine Kammer befohlen hatte. Hier brauchte er nicht so dienstlich zu sein und nicht so vorsichtig mit seinen Worten. Er konnte mit Gregg sprechen wie mit einem Zeugen vor Gericht, aus dem es nützliche Aussagen entweder durch sanftes Zureden, durch Einschüchterung oder durch schlaue Winkelzüge herauszuholen galt. Da kein Dritter zuhörte und kein Protokoll geführt wurde, ließ sich auch der Abstand zwischen dem Offizier und dem einfachen Matrosen beträchtlich verringern. »Der Kommandant will nur Ihr Bestes«, sagte Morell kurz, als Gregg wieder sein hartnäckiges »Habe nichts auszusagen« gemurmelt hatte. »Vielleicht will er mehr für Sie tun als Sie verdient haben, aber das geht mich nichts an. Jedenfalls möchte er von Ihnen nur wissen, warum Sie plötzlich an Land gegangen und nicht rechtzeitig wieder an Bord gekommen sind. Weshalb wollen Sie ihm das denn nicht erzählen?« 123 l
»Ich will es nicht, Sir«, sagte Gregg ebenso entschieden wie bisher. »Also wollen Sie lieber einen Monat Straflager haben?« Greggs Gesicht verzog sich, aber er sagte nichts. »Darauf käme es nämlich hinaus, klar?« fuhr Morell fort. »Und das wäre dann für Ihre ganze Dienstzeit ein schwarzer Fleck, an den Sie immer erinnert werden, weil die Strafe in Ihr Führungsbuch kommt.« »Ich bin nur Soldat für die Kriegsdauer, Sir.« »So. Und wie lange, glauben Sie, wird der Krieg dauern? Sie wollen doch auch befördert werden – wollen doch nicht noch zwei, drei Jahre Matrose bleiben. Wie soll man Sie zum Bootsmaaten vorschlagen, wenn Sie solche Sachen machen und dann nicht einmal Erklärungen geben wollen?« »Das weiß ich nicht, Sir.« »Reden Sie jetzt lieber, Gregg.« Morell änderte die Tonart. »Also was war denn eigentlich los? Wo sind Sie gewesen? Zu Hause, ja?« Gregg schwieg noch eine Weile. »Yes, Sir«, sagte er dann schluckend. »Ich fuhr nach London.« »Na, das ist immerhin schon eine Auskunft. War zu Hause etwas nicht in Ordnung?« »Jetzt wieder – ja.« »Also stimmte vorher etwas nicht?« »Ja.« »Und was?« Der trotzige verschlossene Zug trat wieder in Greggs Gesicht. »Darüber will ich nicht sprechen.« »Sie wissen, daß ich es keinem weitersagen werde.« »Doch, dem Kommandanten«, sagte Gregg schlau. »Das brauche ich durchaus nicht. Also bleibt es unter uns, und niemand sonst erfährt davon.« Gregg schüttelte den Kopf. Er rang mit sich, vermochte aber noch immer nicht wieder aufleben zu lassen, was seine Gedanken erfüllte. »Es wird aber bekannt. Wenn ich’s dann beim Rapport vorbringen muß, geht’s gleich durchs ganze Schiff.« Morell blickte ihn streng an: »Was Sie beim Rapport aussagen, geht nicht durch ganze Schiff, das wissen Sie genau! – Wir wollen nun aber die Sache in Ordnung bringen. Sie haben also Ärger zu Hause gehabt, wie?« »Yes, Sir.« »Mit Ihrer Frau?« »Ja.« »Und was war der Grund?« Gregg machte klägliche Handbewegungen. »Das übliche.« 124
»Und wie hatten Sie davon erfahren?« »Hat mir einer geschrieben – ein Kamerad an Land.« »Und da sind Sie eben nach Hause gefahren, um Klarheit zu schaffen, nicht wahr?« »Ja.« »Warum haben Sie das nur nicht längst gesagt?« Keine Antwort. »Sie sehen, was Sie sich damit eingebrockt haben«, sagte Morell hart. »Was bilden Sie sich denn ein, wozu wir Offiziere da sind, wenn wir Ihnen bei solchen Geschichten nicht helfen sollen?« »Das wußte ich nicht, Sir. Und – ich wollte es für mich behalten.« »Sie können es doch nicht geheimhalten, wenn Sie siebzehn Tage ohne Urlaub vom Dienst fortbleiben.« »Aber bis jetzt weiß es doch noch keiner, Sir – nur Sie.« »Dem Kommandanten werden Sie es doch wohl sagen?« fragte Morell. »Nein, das will ich nicht. Dann gehe ich lieber in Arrest, und dabei bleibt es.« »Seien Sie doch nicht so entsetzlich dumm«, sagte Morell. »Ich will ja nicht behaupten, daß Sie ganz freikommen, aber es dürfte sehr viel ausmachen. Der Kommandant ist ja schließlich auch Mensch.« »Aber ich kann das beim Rapport nicht sagen – wenn alle zuhören«, sagte Gregg verzweifelt. »Wir brauchen gar nicht dabei zu sein. Sie haben das Recht, den Kommandanten allein zu sprechen, wenn es sich um Familienangelegenheiten handelt, das wissen Sie doch?« »Yes, Sir.« »Na und?« Gregg hatte sich plötzlich entschieden. »Das will ich gern tun, Sir.« »Konnten Sie das nicht gleich heute morgen sagen?« »Habe nicht daran gedacht.« »Hätten sich aber viel Aufregung erspart. Und sich nicht so unbeliebt gemacht.« Morell stand auf. »Na schön – ich werde dafür sorgen, daß Sie noch heute nachmittag mit ihm sprechen können.« Gregg blickte ihn ängstlich an. »Was soll ich ihm denn bloß sagen, Sir?« »Erzählen Sie ihm alles, warum Sie nach Hause fuhren, und was dort passiert ist.« »Und es erfährt nachher keiner weiter?« »Nein.« »Und – ich komme vielleicht frei?« 125
»Das weiß ich nicht. Aber Sie werden auf jeden Fall besser davonkommen, als wenn Sie sich weigern, zu reden. Denn dann gibt es ja nur eine Möglichkeit, nicht wahr?« »Ja.« Gregg lächelte jetzt. »Vielen Dank auch, Sir.« »Sie brauchen mir für nichts zu danken.« Es wurde Zeit, wieder dienstliche Haltung einzunehmen. »Die Sache ist noch nicht erledigt, bis jetzt noch nicht. Gehen Sie wieder an Ihren Dienst. Ich lasse Sie rufen, wenn der Kommandant mit Ihnen sprechen will. Und diesmal sagen Sie ihm die Wahrheit – restlos – und verschwenden Sie keine Zeit mehr.« Selbst jetzt wäre es noch zweifelhaft gewesen, ob Gregg sich entschlossen hätte, seinen Fall zu erzählen, wenn ihm nicht bis zum letzten Moment so freundlich und vorsichtig zugeredet worden wäre. Ericson, dem Morell angedeutet hatte, welches der Kern der Sache war, gab sich alle Mühe, es Gregg so leicht wie möglich zu machen. Sobald der Matrose bei ihm in der Kajüte war, gab er in auffälliger Weise den Befehl, daß ihn niemand stören dürfe. Er bot Gregg einen Stuhl an, gab ihm eine Zigarette und begann seine Fragen so, als setzte er voraus, daß Gregg bereit sei, ihm ohne Hemmungen die volle Wahrheit zu berichten. Und als Gregg auch dann noch zögerte, – er hockte in seinem Ausgehanzug mit den goldenen Abzeichen steif und schwitzend auf der Stuhlkante – beugte Ericson sich plötzlich vor und fragte: »Sie sind doch verheiratet, Gregg, nicht wahr?« »Yes, Sir.« »Sind Sie nach Hause gefahren, um Ihre Frau zu besuchen?« Gregg sah kurz auf und senkte gleich wieder den Blick. Fast flüsternd sagte er: »Yes, Sir.« »Es ist wohl am besten, Sie erzählen mir das einmal –«, sagte Ericson. »Sie möchten doch sicher gern Ihr Herz ausschütten – ganz abgesehen von der Lage, in die Sie dadurch geraten sind.« Er blickte zur Seite, während der Matrose um eine Antwort rang. Aber der Anstoß war gegeben: jetzt endlich, in der ruhigen Kajüte, in die durch ein Bullauge die Sonne schien, während das Wasser gedämpft an die Bordwand klatschte, begann Gregg seine abscheulichen Erlebnisse zu berichten. Angefangen hatte es mit einem Brief, der auf ihn wartete, als Compass Rose von der vorigen Fahrt zurückkehrte: dem Brief eines guten Freundes. »Lieber Tom«, stand darin, »es geht mich natürlich nichts an, aber ich war ein paarmal unsere Straße auf und ab gegangen und wollte Edith besuchen und mal fragen, wie’s euch beiden geht, und dann mochte ich doch nicht ins Haus ‘rein, weil schon jemand bei ihr war. Lieber Tom, die Leute reden hier schon mächtig, alle Augenblick steht da ein Auto vorm Haus, und das soll einem Reisenden von einer großen Firma gehören. Ich hab’ ihn bloß mal 126
gesehen, wie er ihr Wiedersehn gesagt hat, und da haben die beiden gelacht. Das gefiel mir gar nicht, Tom, und deshalb dachte ich mir, das mußt du ihm schreiben. Wenn das ein Fehler ist, sei mir nicht böse, du kennst mich ja, daß ich immer ins Fettnäpfchen trete. Halt dich nur munter, aber laß dir lieber mal ein bißchen Urlaub geben und bring die Sache hier in Ordnung. Das kommt alles bloß davon, weil solche Brüder die fetten Posten hinter der Front haben, wo nichts los ist. Müßten glatt erschossen werden. Es grüßt dich dein…« »Ich mußte einfach fahren, Sir«, sagte Gregg und krampfte die Hände zusammen. Sein Ton war jetzt sehr bestimmt, fast trotzig. »Ich mußte hin, und zwar sofort! Wenn man so einen Brief kriegt… Ich war erst beim nächsten Mal mit Urlaub dran, und das dauerte noch drei Wochen. Ich mußte gleich wissen, was los war. Wir sind erst sechs Monate verheiratet.« Und so war Gregg am selben Nachmittag von Bord gegangen, ohne jemandem einen Ton zu sagen – hatte sich einfach den Landgängern angeschlossen und auf dem Bahnhof Lime Street noch den letzten Zug nach London erreicht. Gegen elf Uhr abends kam er an und fuhr mit dem Bus nach Highgate hinaus. »Und was war dann?« fragte Ericson, als die Pause unerträglich lang wurde. »Das Haus ist nur klein, Sir, ein hübsches Häuschen. Gehörte früher meiner Mutter, die hat’s mir vererbt. Als ich von der Bushaltestelle ‘rüberging, war es genau so wie in dem Brief stand.« Greggs Stimme war nicht mehr trotzig, sie klang verzweifelt; denn er durchlebte wieder den gräßlichen Augenblick. »Wie ich ans Haus komme, steht da das Auto vor der Tür und – oben im Schlafzimmer brennt Licht.« Gregg stockte, es war erschütternd, wie die innere Erregung jetzt den Ausdruck seines glatten runden Gesichtes veränderte. »Sie verstehen doch, was ich damit sagen will, Sir? Unten war es dunkel.« »Ja«, sagte Ericson, »ja, ich verstehe.« Eine Weile hatte Gregg nicht gewußt, was er tun sollte, so fassungslos und niedergeschlagen war er bei dem Anblick des Hauses gewesen. Er hatte auf der dunklen Straße gestanden und immer abwechselnd das Auto und das Licht betrachtet, das schreckliche Licht im Schlafzimmer. »Mehr brauchte ich Ihnen eigentlich nicht zu erklären, Sir: es war klar genug –. Ich wartete lange und überlegte, was ich machen sollte, und sagte mir schließlich: gut, du willst ihr noch eine Chance geben, sie ist ja eigentlich noch ein Kind und war immer allein. Und so ging ich durch den Vorgarten und pfiff ein bißchen und machte absichtlich Lärm beim Öffnen der Haustür und beim Hineingehen… Ich hab sie nämlich lieb, Sir«, sagte er so schlicht und bestimmt, als wisse nur er allein, was Liebe ist. »Wir sind ja auch erst sechs Monate verheiratet.« Und nun folgte ein langes Schweigen, das Ericson nicht brechen mochte, 127
weil er ein tiefes Mitleid empfand: die letzten Worte mußten schmerzliche Erinnerungen wachgerufen haben. Als Gregg wieder zu sprechen begann, schien seine Stimme noch finsterer zu klingen, als sei dieser Teil der Geschichte, den er noch niemandem anvertraut hatte, ein besonders düsteres Kapitel, durch dessen Erwähnung sich beide, der Erzähler und Zuhörer, schuldig machten. Greggs Frau hatte aufgeschrien, als sie die Haustür gehen hörte, ängstlich hatte es geklungen, und ein aufgeregtes Hin und Her entstand. Sie rief: »Wer ist da?« und als er geantwortet hatte »Tom«, hörte er ein Getuschel, das ihn empörte und gleichzeitig schmerzte. Er hatte unten im Flur das Licht angeknipst und gewartet, weil er sehr gut wußte, was da oben vor sich ging und was das Flüstern bedeutete: sie überlegten, ob sie sich harmlos stellen sollten, ob er Beweise hatte, wieviel er gesehen oder erraten haben konnte. Offenbar aber kamen sie bald überein, daß Ausflüchte keinen Zweck hatten, denn er hörte dann den Mann laut sprechen, und als Edith nun rief: »Ich komme ‘runter, Tom!« war ihr Ton mürrisch und trotzig gewesen. »Ich wußte immer noch nicht, was ich tun sollte, Sir – ich könnt’ es einfach nicht fassen. Sie war doch immer ganz anders gewesen und sowas war noch nicht vorgekommen. Wir hatten doch erst im vorletzten Urlaub geheiratet. – Sie selbst haben unser Aufgebot doch an Bord vorgelesen, Sir.« Ericson erinnerte sich auch auf einmal daran: ja, es stimmte. Er konnte sich sogar erinnern, daß er beim Lesen von Namen und Adresse der Braut – »Edith Tappett, ledig, Gemeinde Highgate, London« – eine eigenartige Antipathie empfunden und sich gefragt hatte, wie ein Mädchen mit so prosaischem Namen wohl aussähe. Jetzt wußte er, warum, jetzt wußten sie es beide… »Und dann kam sie auch gleich ‘runter«, fuhr Gregg fort. Er sprach nun rascher und blickte zu Boden. »Sie hatte sich inzwischen noch nicht mal angezogen, kam so an wie sie war, nur den Bademantel übergeworfen. Und da waren Spuren dran, Sir – ich konnte es genau sehen.« Ericson dachte: Das wird der Mann niemals vergessen können. Ein häßlicher Gedanke, der ihn immer verfolgen muß. Aber Gregg redete eilig weiter und schilderte ihm die nächste Szene, die noch schrecklicher war. Es schien, als habe er bei der Fülle des zu Berichtenden keine Zeit, sich mit Einzelheiten aufzuhalten. »Sie hatten auch allerlei getrunken Sir – das konnte ich merken. Aber das war noch kein Grund, so zu reden wie sie es tat. Als wenn das alles meine Schuld wäre. ›Ich habe einen Freund hier‹, sagte sie. ›Ich habe dich gar nicht erwartet –‹ als ob nichts dabei wäre. Und als ich fragte: ›Freund? Was meinst du mit Freund?‹ sagte sie: ›Du brauchst nicht so zu schreien, Tom! Du willst doch keine Scherereien haben, was?‹ und dann rief sie: ›Walter!‹– und nach einer Minute kam der Mann die 128
Treppe ‘runter. Dem machte das nichts aus«, sagte Gregg in elender Wut. »Er kam ‘runter und knöpfte sich dabei den Mantel zu, – ein großer, breiter Kerl, gut angezogen, der sich Wunder was einbildete – bei dem konnte man merken, daß er sowas jeden Tag macht.« Gregg sah den Kommandanten an und dann wieder zu Boden; er wurde rot, denn seine tiefe Schande kam ihm wieder zu Bewußtsein. »Er war doppelt so stark wie ich, Sir – ich konnte noch nicht mal – ich konnte nicht –« Seine Stimme versagte, er empfand erneut die Ohnmacht und Verzweiflung seiner beschämenden Niederlage. »Darüber regen Sie sich jetzt nicht weiter auf«, sagte Ericson, als sei die eingetretene Pause, dieser Augenblick der Erniedrigung, ohne Bedeutung. »Erzählen Sie mir, wie es weiterging. Was sagte Ihre Frau noch?« »Du hättest mir Nachricht geben sollen«, hatte sie gesagt. »Woher sollte ich ahnen, daß du kommst.« Und dann hatte sie ihn tatsächlich dem Unbekannten vorgestellt, und der hatte gemeint: »Aha, der Herr Seemann zurück von großer Fahrt!« Er ging, als Gregg ihm die Tür wies und sagte: »Danke, wozu sollen wir uns auch Scherereien machen.« Das alles gehörte zu dem verworrenen Alptraum, in dem Gregg nicht mehr ein und aus gewußt hatte. »Nachdem er weg war, nahm ich sie mir ordentlich vor, aber sie tat so, als sei alles ganz harmlos und sagte: »Du nimmst das viel zu tragisch.« Seiner Stimme war noch anzumerken, wie fassungslos er in diesem Augenblick gewesen war. »Sie sagte, sie hätte sich so ans – ans Lieben gewöhnt – durch mich – daß sie davon nicht lassen könnte. Und daß es schon zwei Monate so ginge. Und daß der Kerl sie dazu überredet hätte. Und es tat ihr eigentlich gar nicht leid, nur um meinetwillen. Es wäre eben Krieg, und eine Masse Leute machten es so –. Mir kam sie wie ein ganz anderer Mensch vor. Und zuletzt gingen wir zusammen ins Bett. Sie schlief die Nacht bei mir, Sir, trotzdem – obgleich ich sie zuerst kaum anrühren mochte.« Nun folgte eine viel längere Pause, als sei Gregg mit seiner Aussage fertig und warte nur auf das Urteil. ›Aber das kann noch nicht der Schluß der Geschichte sein‹, dachte Ericson, der starr auf seinen Schreibtisch blickte: scheußlich genug war es schon, und es entschuldigte auch vieles an Greggs Benehmen; aber Rechenschaft war damit nur über zwei Tage abgelegt – höchstens drei, während er ja siebzehn Tage von Bord geblieben war –. Er wartete ab. So gern er den Matrosen zu schnellerem Sprechen veranlaßt hätte, er fand keinen Weg, der ihm nicht zu grausam oder gleichgültig vorgekommen wäre. Da der Bericht ihn gerührt und mit einem gewissen Entsetzen erfüllt hatte, wollte er den Eindruck vermeiden, als lege er dem Fall kein Gewicht bei oder wolle ihn beiseiteschieben, um ihn der formalen, kalten Rechtsprechung zu überlassen. Doch Gregg fuhr jetzt erneut mit seiner Schilderung fort, vielleicht hatte er 129
nur seine Gedanken wieder gesammelt, oder es sollte noch Schlimmeres kommen. »Das war der erste Tag, Sir, und ich blieb dann noch zwei, weil ich sicher gehen mußte. Ich wäre ja noch zeitig zum Schiff zurückgekommen, und fand es daher nicht so schlimm.« Er warf dem Kommandanten einen raschen Blick zu, denn er spürte wohl, daß zuviel unerklärt blieb, aber Ericson verzog keine Miene: das Urteil kam ja erst ganz am Schluß. Gregg sprach weiter: »Sie hörte dann auf, von dem andern zu reden und sagte auch nichts mehr über ihre komischen Ideen, sie schien das alles vergessen zu haben, bis ich dann selbst schließlich wieder davon sprach. Aber eh’ ich wegging, fragte ich sie, was nun werden sollte, und da versprach sie mir treu und brav, noch einmal neu anzufangen. Und so ging ich los, um den Morgenzug zu erreichen –« Ericson merkte, daß wieder ein Höhepunkt nahte, wieder eine schmerzliche Enthüllung, denn Gregg atmete schneller, stoßweise, seine Worte fielen hastiger: »Und ich verpaßte den Zug, weil zuviel Verkehr war, und kam wieder nach Hause und wollte den Tag noch bei ihr bleiben und den Abendzug nehmen, und da war sie nicht im Hause – das Haus war leer, und ihren Handkoffer hatte sie auch mitgenommen.« Diesmal befürchtete Ericson, Gregg werde zusammenbrechen: seine Stimme versagte plötzlich, der unbeherrscht zitternde und zuckende Mund schien einen Tränenausbruch zu verkünden. Es war ein Augenblick der Niederlage: er sah so jung und tüchtig aus, so flott in seiner Uniform, doch sein unglücklich verzerrtes Gesicht über dem sauberen Matrosenkragen und dem weißen Flanellhemd zerstörte diesen Eindruck völlig. Wortlos ging Ericson an seinen Wandschrank, schenkte ein Glas Whisky ein und gab es Gregg! Vielleicht erwies sich das, weil es so ungewöhnlich, ganz außerhalb des Rahmens war, als Fehlgriff? Ericson fragte sich einen Moment, ob nicht Gregg später, wenn er das Schlimmste in der Sache hinter sich hatte, diesen Vorgang ganz anders schildern würde, sich vielleicht dann im Mannschaftsdeck brüstete: »Ich im Schlamassel? Denkste! Der Alte hat mir Whisky eingeschenkt und gesagt: Sie können jederzeit zu mir kommen!« Aber nein: so würde es nicht sein. Der Whisky bewirkte offenbar, daß er sich beherrschte. Während er ihn trank, blickte er durch das von der Sonne beschienene Bullauge nach draußen. Sein Mund, sein ganzes Gesicht wurde ruhiger, und er schickte sich an, weiter zu sprechen. Was er berichtet hatte und noch berichten würde, war trostlos, aber nicht so trostlos, daß ihm die Worte dafür gefehlt hätten. Vielleicht, hatte er gedacht, sei seine Frau zu ihrer Mutter in Edgware gefahren. Zwar hatte sie ihm nichts davon gesagt, aber bei ihrer Stimmung war 130
mit solchen plötzlichen Hinfallen zu rechnen. Also war er im Omnibus nach Edgware gefahren, und wieder hatte er Pech. »Sie war nicht da, war seit Wochen nicht dort gewesen. Ich merkte, daß ihrer Mutter die Sache verdächtig vorkam, ließ mich aber auf ihre Fragen gar nicht ein. Dann ging ich meinen Freund besuchen, den, der mir geschrieben hatte, aber der war fort, sein Urlaub war zu Ende, und keiner wußte Näheres. Da gab ich es auf und fuhr wieder nach Hause.« Gregg war dann eine ganze Woche allein in dem stillen, leeren Hause geblieben. Als er das mit einem Satz abtat, versuchte Ericson sich auszumalen, wie das gewesen sein mochte: das einsame Warten mit dem Verdacht, nein: der Gewißheit, daß seine Frau ihn wieder betrog. »Ich mußte bleiben, Sir, für den Fall, daß sie zurückkam«, sagte Gregg, und Ericson konnte ihm das so sehr nachfühlen, daß er ihm, menschlich gesehen, Recht gab. »Ich wäre sie ja suchen gegangen, aber wo sollte ich da anfangen – überall in ganz London konnte sie ja stecken! Mir fiel dann ihre verheiratete Freundin ein – eine Frau, die ich nie leiden konnte – die wohnt am anderen Ende von London, wo’s nach White City geht. Ich dachte: vielleicht ist sie bei der und fuhr hin und fragte nach ihr. Sie sagte auch, Edith wäre dagewesen, vor ein paar Tagen, aber bald wieder weggegangen. Wohin, wußte sie nicht.« Gregg berichtete jetzt fließend, ohne jede Hemmung: in der stillen Kajüte führte er seine Erzählung, so ungeschliffen und ungeschickt er die Sätze herausbrachte, rasch und verhältnismäßig leicht zu ihrem erschütternden Ende. »Ich merkte, daß sie log, weil sie so’n merkwürdiges Gesicht machte, und deshalb blieb ich eine Weile in der Nähe, um aufzupassen, ob das Auto käme. Und als ich ins erste beste Lokal gehe, um ein Bier zu trinken und etwas zu essen, sehe ich sie beide da sitzen und Portwein trinken.« Er schluckte. »Sie lachte und sagte, als sie mich bemerkte: ›Sieh bloß mal, wer da kommt.‹« Ericson glaubte, Gregg werde jetzt stocken wie schon so oft vorher, aber der Whisky hatte seine Wirkung getan – oder war es die Schilderung selbst, die an diesem entscheidenden Punkt keine Stockung vertrug? »Ich fragte sie, was sie hier zu suchen hätte, weshalb sie nicht zu Hause wäre«, fuhr Gregg rasch fort. »Und sie antwortete, es wäre doch wohl nichts dabei, mal ein Gläschen zu trinken. Da fragte ich:›Wo bist du die ganze Woche gewesen?‹ und sie sagte: ›Bei Else‹ – das ist diese andere Frau. Ich sagte, ich würde das nicht mehr dulden, und nun mischte der Mann sich ein und sagte: ›Kommen Sie, Sie haben einen Schnaps nötig.‹ Und ich sagte: ›Ich will von Ihnen keinen Schnaps – wenn das so weitergeht, werde ich die Scheidung einreichen.‹ Das meinte ich nicht ernst, ich wollte ihm bloß einen 131
Schreck einjagen. Er sagte: ›Sie haben ja keine Beweise!‹ Ich antwortete: ›Und was war, als Sie die Nacht die Treppe ‘runterkamen?‹ Und er: ›Ich hatte Mrs. Gregg nur Gute Nacht gesagt, das war ganz harmlos.‹ Da sagte ich: ›So, und was war das denn für Zeug an ihrem Morgenrock?‹ Und der Kerl sagt: ›Da müssen wir wohl ‘n bißchen Milch verschüttet haben‹, und dabei zwinkert er ihr zu, und sie lacht wie ein verkommenes Weibsstück.« ›Was für eine genaue Beschreibung!‹ dachte Ericson, ›wie kann er die Frau noch haben wollen, wie kann er für sie noch anderes fühlen als Haß und Abscheu!‹ Aber in Greggs Stimme lag nichts dergleichen. Als er sagte ›verkommenes Weibsstück‹, klang es nicht anklagend, sondern wie Trauer um das, was er und sie verloren hatten. Sein Verhalten zeigte keine Spur logischer Vernunft, keine klare Erkenntnis von Recht und Unrecht: nur den unberechenbaren Instinkt der Liebe: was Menschen fühlen ,– oder glauben fühlen zu müssen – wenn sie sich einmal an andere Menschen gebunden haben. Selbst jetzt schien Gregg die Gültigkeit seiner Ehe überhaupt nicht in Zweifel zu ziehen: sie mochte sich als schlecht erwiesen haben, aber Ehe blieb Ehe – und all das entsprang aus der ›Liebe‹, einem Wort aus Büchern, einer Szene aus dem Film, der dummen inneren Entschlossenheit eines Mannes – Gregg sprach mit ruhiger Sicherheit weiter: »Ich wollte ihm was Deutliches erwidern, Sir, aber da sagte er ›Sie brauchen sich keine Kopfschmerzen machen: ich fahre sowieso nächste Woche nach den Staaten, habe Großeinkäufe zu machen.‹ Und meine Frau sagte: ›Davon hast du ja noch gar nichts erwähnt, Walter! Wann willst du denn abreisen?‹ Und er sagte: ›Donnerstag – ich komme noch vorbei, Wiederseh’n sagen.‹ Und ich sagte: ›Den Teufel werden Sie tun! Kommen Sie ja nicht wieder in die Nähe meines Hauses!‹ Es war lächerlich, Sir, ihm schien alles ganz gleichgültig zu sein, er sagte bloß: ›Ganz wie Sie belieben.‹ Ich glaube, meine Drohung mit der Scheidung hatte ihm doch zu denken gegeben, oder er hatte sowieso genug von der Sache. Er stand auf und sagte zu meiner Frau: ›Vielen Dank auch, und auf Wiederseh’n in den nächsten Tagen‹, und sie, ganz erstaunt. ›Meinst du: für immer, Walter?‹ Und er ging weg, und nach einer Weile fing sie an zu heulen, und ich nahm sie mit nach Hause.« Jetzt machte Gregg eine Pause und blickte Ericson forschend an: wie er das Kommende wohl aufnehmen würde. Er näherte sich dem Schluß seines Berichts und empfand trotz seiner vorherigen Gleichgültigkeit offenbar recht gut, daß er sich rechtfertigen mußte, solange dazu noch Gelegenheit blieb. Ericson mühte sich, so unverbindlich wie möglich auszusehen: denn auch jetzt durfte er weder ein Urteil fällen noch Trostworte sprechen, durch die dem Disziplinarverfahren vorgegriffen wurde. Hier handelte es sich noch um 132
ein privates, nicht offizielles Verhör, bei dem noch keine Entscheidung angebracht war. Gregg schien sich jetzt zusammenzunehmen. »Das war der Freitag, Sir«, sagte er, »und zehn Tage war ich schon vom Dienst weg, und dieser Kerl wollte erst am kommenden Donnerstag abreisen, also erst in weiteren sechs Tagen.« Er schluckte wieder. »Ich brachte es nicht fertig wegzugehen, Sir, ich konnte sie noch nicht verlassen, das war mir noch zu unsicher: er konnte sich ja anders besinnen und sie doch wieder besuchen, und sonst traf sie ihn bestimmt woanders, wenn ihr nur die geringste Gelegenheit geboten wurde! So dachte ich: du bleibst lieber noch und behältst sie bei dir. Ich war ja sowieso ganz durcheinander von alldem, und es gab nur den einen Weg, zu verhindern, daß die beiden wieder zusammenkamen. Und es war auch so noch schwierig genug. Wie wir mal ins Kino gingen, stand sie auf und wollte zur Toilette, und ein Weilchen später ging ich auch ‘raus, und da erwische ich sie gerade, wie sie durch den Vorderausgang verschwinden will! Von da ab blieben wir ganz zu Hause – sie weinte viel und quälte mich fortwährend, wir sollten ausgehen – schließlich wagte ich nicht mal mehr zu schlafen. Deshalb habe ich dann ihre ganzen Kleider eingeschlossen und den Schlüssel versteckt, wo sie ihn nicht finden konnte.« Gregg wischte mit der Hand über die Stirn. »Aber den einen Abend – es war Mittwoch, und am nächsten Tag wollte der Kerl ja weg – wartete sie, bis ich schlief, und brach den Schrank auf und zog sich an. Aber ich wurde wach: da versuchte sie auszurücken, ich war jedoch eher an der Tür, und sie wollte mich wegzerren und kreischte so laut, daß ich dachte, sie wird verrückt. Ich blieb nun die ganze Nacht wach, um sicherzugehen, und morgens sah sie dann wohl ein, daß es zu spät war, und gab den Gedanken so ziemlich auf, und ich wußte: jetzt kannst du abfahren –. Ich wollte mit ihr über die Sache gar nicht mehr reden, sondern alles vergessen und mit ihr einen neuen Anfang machen, aber als ich mich von ihr verabschiede, fragt sie mich: ›Wird das schlimme Folgen für dich haben, Tom?‹ und ich sage: ja, das würde es, und da sagte sie: ›Für mich auch‹, und sagt mir, daß sie ein Kind kriegen würde.« Ericson blickte zu Boden. Hier gab es nur noch eine Frage, und die hätte er nicht für eine Million Pfund stellen können. Aber dann beantwortete Gregg sie von selbst mit einem kurzen, entschlossenen Satz: »Das Kind wird meins werden, Sir, und weiter gibt’s darüber nichts mehr zu sagen.« ›Wieder die Liebe‹, dachte Ericson staunend. ›die Liebe heilt alle Wunden, einerlei wie tief die Enttäuschung, wie gemein der Betrug…‹ Jetzt, da er alles 133
wußte, wollte er den Fall so schnell wie möglich erledigen. Es war klar, daß Gregg nicht bestraft werden konnte für eine Prüfung, die zu ertragen er einfach nicht fähig gewesen war. Und für solche Fälle gab es besondere Bestimmungen zur Anwendung mildernder Umstände. Aber obgleich er willens war, Gregg weitere Nervenproben zu ersparen – ein Punkt mußte ihm klargemacht werden, und sei es nur mit Rücksicht gegen andere, die, vielleicht in ähnlicher Lage nicht auf eigene Faust handeln, sondern sich streng an die Dienstvorschriften hielten. Er drehte sich im Stuhl herum und sagte: »Ich danke Ihnen, daß Sie mir das alles erzählt haben, Gregg. Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen, bevor Ihre Sache morgen wieder verhandelt wird. Im Augenblick möchte ich Ihnen nur eins sagen, und das werden Sie sich gefälligst merken.« Er suchte seinen Worten eine Schärfe zu geben, die ihm eigentlich jetzt gar nicht lag: »Ihre Offiziere sind nicht bloß dazu da, das Schiff zu führen und Ihnen Befehle zu geben – sie sind genau so dazu da, Ihnen zu helfen. Wenn Sie in so einem Fall sofort zu mir gekommen wären, als sie den bewußten Brief bekamen, hätte ich Ihnen Sonderurlaub geben können und Sie hätten nicht zu desertieren brauchen. Und wir hätten dafür gesorgt, daß sich jemand während Ihrer Abwesenheit um Ihre Frau kümmert.« Er lächelte, aber nur kurz, denn hier war jetzt kein Lächeln angebracht; er sah in das tiefunglückliche Gesicht ihm gegenüber. »Merken Sie sich: bei der Royal Navy gibt es für alles eine Regelung: ob es ins Gefecht geht oder eine verklemmte Granate aus dem Rohr entfernt werden muß, um eine Explosion zu verhüten, oder ob es sich um persönliche Sorgen handelt wie bei Ihnen. Und diese Regelung ist meistens die beste, die es gibt, weil die Marine auf sich hält!« – Ericson sah, daß Gregg wieder mit Tränen kämpfte, und hörte deshalb auf. Den Standpunkt hatte er deutlich dargelegt, aber ihn noch schärfer einzuhämmern, brachte er nicht fertig. »Das wäre alles jetzt«, sagte er abschließend. »Bitten Sie den I.W.O. zu mir zu kommen.« Nachdem Gregg gegangen war, blieb Ericson lange nachdenklich sitzen. Über eines war er sich klar: Greggs Darstellung mußte nachgeprüft werden. Das konnte sofort beginnen, in London, auf dienstlichem Wege. Und wenn alles stimmte, konnte er Gregg auch offiziell freisprechen: obgleich er sich als Soldat versündigt hatte und obgleich für Frauen, Ehefragen und private Gefühle im Kriege kein Platz war… Aber er wußte auch ohne Nachprüfung, daß Gregg die Wahrheit gesagt hatte, ihm war klar, als er darüber nachdachte: die Seelenqualen dieses Mannes waren keine Schauspielerei gewesen, und seine jammervollen Geständnisse keine Lügen. Es gab eben schlechte Frauen, und solche, die sich im Kriege langweilten. Traf beides in einer zusammen, so durfte man eigentlich niemals von den Folgen überrascht sein, wie schäbig und gemein sie auch sein mochten. 134
Rasch verging der Anfang des neuen Jahres, und die länger werdenden Tage, die den Frühling ankündigten, brachten ihnen wenigstens eine Erleichterung: weniger anstrengende Nächte in See. Morells Mittelwache war jetzt die einzige, die ganz in der Dunkelheit verlief. Und bald, als der Frühling in den Sommer überging, wurde auch ihm die Strapaze, stundenlang mit kaum wahrnehmbaren schwarzen Schatten die Fühlung zu halten, ein wenig erleichtert: während der letzten halben Stunde seiner Wache, gegen vier Uhr morgens, begann die Dunkelheit im Osten allmählich zu verblassen: durch sein Glas sah er den Horizont zu einer immer klareren Linie werden und die Schiffe in Sichtweite ihre in Finsternis gehüllte Anonymität aufgeben und sich wieder in Gestalten mit erkennbaren Größen und Maßen verwandeln. Wenn dann Lockhart pünktlich wie stets zur Ablösung auf die Brücke kam, konnten sie schon die Aufbauten von Compass Rose in den Einzelheiten unterscheiden und die Gesichter der Männer auf der Brücke. Und wenn sie sich guten Morgen wünschten, brauchten sie ihre Gegenwart nicht zu erraten, sondern sahen einander. Und noch eine halbe Stunde, dann war die Dämmerung da, und ein neuer Tag fing an, ein Tag weiter draußen im Atlantik oder näher der Heimat. Lockhart verschaffte sich zunächst einen Überblick über die Masse der ruhig ihren Kurs verfolgenden Schiffe und ließ Compass Rose vielleicht ein paar Meilen zurückfallen, um die Nachzügler aufzumuntern. Der Kommandant erschien auf der Brücke, grau im stoppeligen Gesicht nach einer ungemütlichen Nacht auf seinem Ruheplatz im Ruderhaus, blickte ringsum über den Ozean und sog die Luft ein und schritt dann, den Sextanten in der Hand, von einem Ende der Brücke zum andern, um noch die letzten Sterne zu ›schießen‹, bevor sie in der Sonne verblichen und die Nacht endgültig vorbei war. Tomlinson, der junge zweite Steward, schob sich vorsichtig heran, um die leeren Butterbrotteller und Kakaotassen einzusammeln, die noch von den nächtlichen Brückenimbissen herumstanden. So begann gewöhnlich auf Compass Rose der Tag, wie sie es schon so oft erlebt hatten, aber manchmal war es auch ganz anders. Dann war der Tagesanbruch traurig: wenn die Opfer der Nacht gezählt, Lücken in der Besatzung ausgeglichen, durch Signal an Viperous die Liste der Überlebenden und die Summe der Toten gemeldet werden mußten. Denn jetzt, 1941, waren nicht nur sie, sondern war auch der Krieg gewissermaßen ein Jahr älter: und je weiter das Jahr voranschritt, um so tiefer schien es sie in Fehlschläge und Rückschläge zu verstricken. Die Schiffahrt der Alliierten litt schwer unter den Schlägen des Feindes: volle zwei Drittel des Atlantik wurden von den Angreifern beherrscht, die sich dort mit rücksichtsloser Gewalt und großer 135
Wirksamkeit zu behaupten wußten. Wie ein dunkler Fleck verbreitete sich ihre vernichtende Macht immer mehr über dieses ungeheure Stück Ozean: die sicheren Gebiete schrumpften zusehends zusammen, das gleichsam vergiftete Wasser, in dem kein Schiff zu keiner Stunde ungefährdet laufen konnte, schien rasch ein immer größeres Seegebiet zu verseuchen. Im Hintergrund bewegten sich, nach Kampfberührung tastend, die großen Schiffe und gerieten zuweilen ins Gefecht: Hipper, Scharnhorst und Gneisenau machten plötzliche Vorstöße, die Hood wurde versenkt durch einen einzigen an Wunder grenzenden Schuß auf elf Meilen Entfernung, und dann folgte, im schnellen, die Rechnung ausgleichenden Gegenschlag, die Vernichtung der Bismarck. Das waren jedoch nur die dramatischen Überraschungen, Schlaglichter einer schwerfälligen, nur in Abständen möglichen Kriegführung: die Geleitzüge aber, unaufhörlich von West nach Ost und von Ost nach West ziehend, kämpften ihre längere und blutigere Schlacht gegen einen an Zahl ständig wachsenden Feind. Der Feind vermehrte sich nicht nur – er operierte jetzt auch nach genauen taktischen Plänen. Endlich verstanden die U-Boote ihre Attacken zu ›koordinieren‹: sie jagten jetzt in Rudeln zu je sechs oder sieben, die ein gewaltiges Stück des Geleitzugweges kreuz und quer abstreiften und, sobald sie Gefechtsberührung hatten, ihre volle Kraft konzentrierten. Sie konnten sich stützen auf französische, norwegische und baltische Häfen, in denen sie alle Schutzeinrichtungen und Überholungsmöglichkeiten besaßen, sie hatten Langstreckenflugzeuge, die für sie den Feind ausfindig machten und identifizierten; sie waren zahlreich, dauernd im Training, besaßen bessere Waffen und hatten den Ansporn des Erfolges für sich. Bei dem ersten koordinierten Angriff eines Rudels versenkten sie aus einem Geleit zehn von zweiundzwanzig Schiffen. Die monatlichen Versenkungsziffern stiegen: in einem Monat dreiundfünfzig, im nächsten siebenundfünfzig Dampfer. Die U-Boote dehnten ihr Operationsgebiet allmählich weiter nach Westen aus, bis es sogar im Mittelatlantik kein sicheres Gebiet zum Entlassen der Geleitschiffe mehr gab, während weder von England noch nach Kanada oder Island – das inzwischen ganz in das strategische Gesamtsystem eingegliedert worden war – ausreichende Luftbedeckung gestellt werden konnte und die Sicherungsfahrzeuge nur eine beschränkte Lebensdauer besaßen. So vergrößerte sich der dunkle Fleck, und Schiffe versanken. Zwar gab es Gegenmaßnahmen: Flugzeugpatrouillen erweiterten ihren Suchbereich, eine Anzahl Handelsschiffe wurden mit katapultgestarteten Kampfflugzeugen ausgerüstet, und die Qualität der Bewaffnung auf den Sicherungsfahrzeugen verbesserte sich langsam, so daß als Bestätigung dieser Verbesserungen in einem Sommermonat 1941 sieben U-Boote auf den Meeresgrund geschickt wurden, aber: sieben U136
Boote, das war nicht genug, denn es blieben noch allzu viele, die da jagten und zuschlugen, und Fahrzeuge für den Geleitschutz gab es zu wenig. Gewiß ließ sich dieser Mangel zum Teil durch Glück und menschliche Anstrengungen ausgleichen, aber nichts reichte aus, um die Kampfstärke und den Vorsprung des Feindes wettzumachen oder das Gemetzel aufzuhalten. An diesem Gemetzel sollte Compass Rose ihren vollen Anteil haben. Das Schrillen der Alarmglocken war längst keine Überraschung mehr, kaum noch erschütterte diese Männer der Anblick verstörter Schiffbrüchiger, die über die Reling gehievt wurden, nachdem ihr Schiff versunken war; es rührte sie nicht mehr, Menschen sterben zu sehen und Tote zu bestatten. Sie entwickelten, weil sie es mußten, eine berufsmäßige Unmenschlichkeit bei ihrem Werk, einen Mangel an Mitleid, der die beste Garantie für Leistungen bot: Zeit, die man im Grübeln über diese bösartige Kriegführung verbrachte, war verschwendete Zeit, und Zorn wie Mitleid durften sich nicht zwischen sie und ihr Werk schieben. Abgehärtet gegen Schmerz und Szenen der Zerstörung, alles wie selbstverständlich hinnehmend, sammelten sie alle Kräfte und Mittel nur für den Gegenschlag und retteten Männer nur mit dem einen Gedanken: daß diese so rasch wie möglich wieder am Kampf teilnehmen konnten. Ferraby und Baker, die beiden Jüngsten, hatten zusammen die erste Abendwache, von acht bis Mitternacht. Der zeitgemäßen Korvettenmode folgend, hatten beide sich Vollbärte wachsen lassen, durch die sie kurioserweise noch jünger anstatt älter wirkten, und demzufolge wenig überzeugend, etwa wie Schmierenkomödianten in der Provinz ›die Marine‹ darstellen. Baker, der vor einem Jahr als schüchterner Mann mit den vagen Erfahrungen eines Buchhalters an Bord gekommen war, hatte seine ängstliche Vorsicht immer noch nicht abgelegt: er ähnelte Ferraby in vieler Beziehung. Beide fügten sich automatisch jeder Autorität, mochte sie noch so fragwürdig sein, weil sie kein Selbstvertrauen hatten und fürchteten, daß der Krieg mit seinen Kraftproben früher oder später ihre Schwächen aufdecken werde –. Wenn sie zusammen sprachen, suchten sie sich in ihrem Schwächegefühl gleichsam gegenseitig zu rechtfertigen: sie sprachen dann wie Bewerber in einem Vorzimmer, die auf die entscheidende Rücksprache wegen eines Postens warten, auf den sie sich kaum Hoffnung machen: da ist es nicht zweckmäßig, unter sich groß anzugeben, weil keiner von beiden überragend ist und lautes Reden oder zu selbstsichere Haltung bemerkt werden und zur Ablehnung führen können, schon ehe man zum Chef vorgelassen wird –. In jüngster Zeit hatte Ferraby immerhin merklich die Führung übernommen: er war jetzt Vater, und wenn er mit Baker zusammen war, kamen die ersten lebhaften Äußerungen seiner Vaterschaft zum Ausdruck. 137
»Hat es dich gestört, daß es ein Mädchen geworden ist?« fragte Baker eines Nachts, als sich das Gespräch, wie das in See gewöhnlich geschieht, dem freundlichen Gedanken an die Heimat zugewandt hatte. »Oder warst du sehr versessen auf einen Jungen?« »Ach, ich glaube, das war mir ganz egal, wenn nur ihr nichts passierte«, sagte Ferraby offenherzig. »Kurz bevor es soweit ist, wird man ganz nervös vor Aufregung. Natürlich war ihre Mutter bei ihr, um sie zu versorgen, aber trotz allem war ich froh, als die Sache vorbei war.« Auch jetzt konnte er an die Nacht kurz vor Ende seines letzten Urlaubs nur mit Unbehagen denken: gegen Mitternacht war Mavis plötzlich schreiend aufgewacht, er hatte aufgeregt nach dem Krankenwagen telephoniert, der ewig auszubleiben schien, und dann kam das quälende Warten bis zum Morgen, den ganzen Tag über und noch in die folgende Nacht hinein. Als er aber am nächsten Vormittag seine Mavis mit dem Baby gesehen hatte, zwei Köpfe auf dem Kopfkissen, wo sonst einer lag, da hatte er sich entschädigt gefühlt für alle Sorgen. »Eigentlich Glückssache, daß ich gerade Urlaub hatte, als es losging«, fuhr er fort. »Ich weiß auch nicht, was ich sonst getan hätte. Allein der Gedanke, es wäre passiert, wenn wir in See waren!« »Nächstes Mal bin ich mit Urlaub dran«, sagte Baker, das verlockende Wort aussprechend. »Noch zwei Geleite, also ungefähr – sechs Wochen.« Sechs Wochen… Bei diesen Worten begann sich in Ferrabys Kopf eine Gedankenkette zu bewegen, von der er weder Baker noch andern etwas hätte verraten mögen. Sechs Wochen waren damals auf dem Atlantik eine lange Zeit, wenn die nächsten sechs Stunden oder gar sechs Minuten ihnen die Katastrophe bringen konnten. So viele U-Boote waren auf Jagd, daß früher oder später – davon war er überzeugt – eins die Compass Rose in seinem Sehrohr festhalten würde. Ferraby war jetzt nie frei von dieser Furcht: als habe er nach Bennetts Fortgang eine Tyrannei gegen eine neue eingetauscht, als habe die Furcht vor Bennett unbedingt ersetzt werden müssen durch die Furcht, torpediert zu werden. Von der gesamten Besatzung war Ferraby am wenigsten den immerfort drohenden Gefahren gewachsen: er konnte den herabhängenden Kopf des Toten nicht vergessen, als sie die ersten Schiffbrüchigen aufgefischt hatten; nie vermochte er ganz die ständig wiederkehrenden Alarme, die unvermeidlich folgenden Angriffe, die geringe Aussicht, lebend davonzukommen, aus seinen Gedanken zu verbannen. Auch jetzt, während er mit Baker sprach oder ›ihren‹ Geleitdampfer im Auge behielt, erfüllte ihn nervöse Unruhe: was mochten die nächsten paar Minuten noch bringen? Es ging gegen Mitternacht, dem Ende ihrer Wache zu, und gerade um diese Zeit geschah so oft das Schlimme: der dumpfe Krach, die Stichflamme von einem 138
torpedierten Schiff, die Explosion im Herzen des Geleitzugs. Und geschah das nicht in dieser Wache, dann konnte es während der nächsten, der Mittelwache, passieren – und das war das übelste. Nach Mitternacht – in jeder Nacht auf See – stand es Ferraby frei, in die Kammer zu gehen und bis zur Frühstückszeit unbehelligt zu schlafen. Aber das war ihm nie möglich gewesen, höchstens ganz zu Anfang oder kurz vor Schluß einer Geleitfahrt, wenn das Schiff in sicheren Gewässern lief. Schon die Vorstellung, sich da unterhalb der Wasserlinie schlafen legen zu sollen, peinigte ihn mit bösen Phantasien: es war doch ganz unmöglich, daß Compass Rose in diesen Stunden der Finsternis nicht torpediert wurde und daß der Torpedo, der sie traf, nicht in die Kammer krachte, in der er lag. Nacht für Nacht, wenn sie sich draußen mitten im Atlantik befanden, kamen ihm diese gleichen Gedanken: dann lag er, während das Schiff stöhnend schlingerte und nur wenige Zoll von ihm die See an die Bordwand klatschte, m der Koje und stierte schwitzend auf das Schott und die Nieten, die das dünne Plattenwerk zusammenhielten. Nur diese Platten standen zwischen ihm und dem schwarzen Wasser: in panischer Angst wartete er auf das eiserne Klirren, die Explosion, den rauschenden Einbruch der See, auf die Gewißheit, in dieser Todesfalle erwürgt zu werden, ehe er eine Bewegung machen konnte. In einer furchtbaren Nacht hatte er es fertiggebracht, einzuschlafen, obgleich vorher noch Warnmeldungen über ein in der Nähe operierendes U-Boot-Rudel gekommen waren: nach einer Stunde in nervösen Schweißausbrüchen war er eingedämmert, und hatte dann, zwischen Wachen und Schlaf liegend, eine ungeheure Explosion gehört, so nah und laut wie im eigenen Schiff! Im Moment, als er aus der Koje sprang, dröhnten die Alarmsignale, Füße trappelten heftig im ganzen Schiff, und fast blind vor Todesangst raste er die Treppe hinauf, um unter freiem Himmel zu sein. Draußen an Oberdeck, wo er endlich frische Luft schöpfen konnte, glich das Bild einer Höllenszene. Eins der Sicherungsfahrzeuge hatte eine Leuchtrakete abgeschossen, die mit ihrer großen Lichtstärke die Umgebung im Umkreis von zwei Meilen erhellte und zur Entdeckung aufgetauchter Unterseeboote dienen sollte: strahlend grell hing sie über der aufgerührten See, und Ferraby sah den Geleitzug gegen den Sturm ankämpfen, sah Sorrel in hoher Fahrt nach Steuerbord ablaufen, aufs Geratewohl nach Feinden jagend, und sah – ganz nahe bei Compass Rose – einen Dampfer mit schwerer Schlagseite, der schon auf dem Weg in die Tiefe war. Während er hinüberstarrte, stieß plötzlich eine Flammengarbe aus dem Schornstein, und das Schiff schien in Stücke zu zerfallen: der Wind trug einen schmierigen Geruch von verbranntem Öl und brennender Farbe, mit Dampf gemischt, zu ihnen herüber, einen wahren Todesgeruch, und schon war das Schiff verschwunden, zischend 139
ausgelöscht von der See. Ferraby lehnte sich gegen die Reling: ihm war körperlich elend, das Schiff hätte auch Compass Rose und die Männer, die da jetzt wie in einer Falle in den Schiffsräumen ertranken, hätten sie alle sein können, und die Stelle, wo der Torpedo traf, seine eigene Kammer. Noch viele Nächte nach diesem Ereignis war es ihm unmöglich, wenn er von Wache kam, unter Deck zu gehen: er wanderte dann an Oberdeck umher oder kauerte sich in eine Ecke der Brücke oder in den Durchgang hinter dem Ruderhaus, wo er ohne Schlaf bis zur Dämmerung lag und an seiner Taschenlampe und der aufgeblasenen Schwimmweste fingerte, in angstvoller Spannung, wann die Reihe an sie kommen mochte. Er hatte schon andere so handeln sehen, die nach ihrer Rettung nicht unter Deck gehen wollten, nicht einmal um zu essen – und hatte sich über ihre fast besessene Angst sehr gewundert. Jetzt wunderte er sich nicht mehr. Aber diese Gedanken konnte er mit niemandem teilen, und schon gar nicht mit Mavis, die jetzt weniger denn je von seiner Angst und der ihm drohenden Gefahr wissen durfte. Sie hatten sich ein kleines Haus außerhalb von Liverpool gemietet, wo er sie immer besuchte, wenn Compass Rose den Hafen anlief: dieses fortwährende Sichwiedersehen und Sichtrennen war ebenso beglückend wie quälend, und half ihm in keiner Weise. Er war den immer größer werdenden Anforderungen, die der Krieg an ihn stellte, nicht mehr gewachsen: sie überstiegen seine seelische Kraft. Lockhart gewann immer mehr Vertrauen zu Ericson und mußte ihn rückhaltlos bewundern. Er war in jeder Beziehung das echte Vorbild eines Kommandanten: auf der Brücke – einerlei was vorging – der ruhende Mittelpunkt. Ein tüchtiger Seemann, der die Compass Rose mit vollkommener Sicherheit zu führen verstand, ein Mensch, dem keine Müdigkeit etwas anhaben konnte, der seine Aufgabe in jeder Beziehung mit peinlichster Sorgfalt durchführte, ob es galt, Nachzügler heranzuholen, in kritischer Lage den Schiffsort zu bestimmen oder den sorgfältigen Farbanstrich des Schiffes vornehmen zu lassen, wenn es im Heimathafen an der Pier lag. Er schien unersetzbar: daher wirkte sein plötzliches Ausfallen wie ein Schlag. Lockhart mußte für die letzten fünf Tage dieser Geleitfahrt die Schiffsführung übernehmen. Eines Nachts, als Compass Rose geradezu heimtückisch bis 45 Grad schlingerte, war Ericson aus der Koje geflogen und hatte eine Rippe gebrochen. Die kleinste Bewegung machte ihm so böse Schmerzen, daß er keinesfalls den Dienst auf der Brücke versehen konnte. Lockhart meldete den Unfall an Viperous, und übernahm dann für den Rest der Fahrt, nicht ohne Bedenken, das Kommando. Natürlich war gar keine andere Lösung in Frage gekommen: aber das 140
machte die Sache nicht leichter. Sobald er sich jedoch mit diesen neuen Anforderungen abgefunden hatte, mußte er feststellen, daß er sich eigentlich freute: er hatte eine neue Aufgabe, und sie schien seinen Fähigkeiten zu entsprechen. Im Grunde war es lächerlich: die Idee, daß ein Gelegenheitsjournalist namens Lockhart ein Tausendtonnenschiff und 88 Mann Besatzung mit unbeschränkter Befehlsgewalt über den Atlantik führte, hätte vor dem Kriege in jeder Bar der Fleet Street helles Gelächter erregt. Aber es waren keine Vorkriegszeiten mehr, und jetzt galten andere Maßstäbe: er hatte sich achtzehn Monate auf diese Stunde vorbereiten können, achtzehn Monate hatte er Ericson beobachtet und sich dabei unbewußt alle zur Schiffsführung notwendigen Fähigkeiten angeeignet, so daß er die Veränderung nur als einen geringen Aufstieg empfand, freilich unter einer besonderen Spannung und mit fast humoristischem Beigeschmack. Das war das Gute bei der Marine, zumindest im Kriege: man lernte rasch, gut und unaufhörlich Da wachte man plötzlich auf und sah sich beladen mit der Verantwortung für ein wertvolles Schiff, für die Dampfer eines Geleitzuges und für viele Menschen, von denen manche Freunde waren. Und das alles geschah so einfach als blättere man nur in einem vertrauten Buch eine Seite um. Als Ericson sich, knurrend über die jähen Schmerzanfälle, in die Koje legte, stand Compass Rose neunhundert Meilen westlich des Irischen Kanals, als Schlußsicherung eines langsamen Geleitzuges, der bereits sein gerütteltes Maß an schlechtem Wetter und U-Bootalarmen hinter sich hatte. Jetzt aber wendete sich das Blatt: der Sturm flaute ab, und fünf Tage liefen sie ohne Feindwarnungen und ohne einen einzigen echten Alarm dem Land entgegen. Lockhart teilte die Wachen so ein, daß er selbst nicht an feste Zeiten gebunden war: da ihm die Schiffsführung doch noch neu war und ihm Ericsons Erfahrung und Sicherheit fehlten, hielt er sich sehr viel länger wach, als er brauchte und blieb durchschnittlich jeden Tag fünfzehn, sechzehn Stunden auf der Brücke. Da er auf Überraschungen gefaßt sein mußte, zog er es vor, jeder Zeit zur Stelle zu sein. Ab und an ging er zum Kommandanten hinunter und erstattete Bericht. Ericson stellte jedesmal die gleichen Fragen mit der gleichen Dringlichkeit: ob der Geleitzug die Formation hielt, ob Compass Rose genau auf Position lief, ob U-Bootwarnungen vorlagen, ob Lockhart genaues Besteck genommen hatte und wie das Wetter war. Nur eine einzige Frage stellte er nie unmittelbar: ob Lockhart sich über seine jetzigen Aufgaben viel Sorgen mache. Und der war ihm dankbar, denn in diesem Nichtfragen lag Vertrauen. Auf Umwegen allerdings kam Ericson dieser Frage doch näher, als er, plötzlich das Thema wechselnd, sagte: »Vor zwei Jahren haben Sie sich das gewiß noch nicht träumen lassen, wie?« Lockhart lächelte. Er stand mitten in der Kajüte, seine dicke Kleidung, See141
stiefel und Lederjacke stachen seltsam von Ericsons elegantem Morgenmantel ab. »Vor zwei Jahren, Sir«, antwortete er, »unterstand mir nur eine Jolle von fünf Tonnen, sehr hübsch freilich, mit der ich im Solent ›rumschipperte‹.« »Wie stark war die Besatzung?« »Sie war ebenfalls sehr hübsch.« »Marsch auf die Brücke, sonst bekomme ich noch Temperatur«, sagte Ericson. ›Für einen guten Kommandanten muß man Gott dankbar sein‹, dachte Lockhart:, als er wieder die Treppe hinaufstieg. ›Und für einen guten Menschen nicht minder, einen, den man in jeder Situation nur achten und verehren kann.‹ In den letzten Monaten war das Verhältnis zwischen ihnen viel enger geworden, und eine beiden willkommene Freundschaft hatte sich angebahnt: Tag und Nacht waren sie im Dienst zusammen und kamen gut miteinander aus. Im offiziellen Ton sprachen sie eigentlich nur noch vor Dritten, unter sich aber viel persönlicher. Lockhart redete den Kommandanten freilich nicht nur im Dienst, sondern auch unter vier Augen stets mit »Sir« an, weil das seiner Achtung vor Ericson entsprach. Aber die beiden waren einander doch, seitdem Lockhart vor anderthalb Jahren in die Baracke am Clyde getreten war, sehr viel nähergekommen, da jeder in die Fähigkeiten des andern soviel Vertrauen setzte, daß sie sich wie zwei tüchtige Teilhaber des gleichen Unternehmens vorkamen. Die ›bequeme‹ Reise dieses Geleits näherte sich ihrem Ende ohne weitere Zwischenfälle, bis auf das Erscheinen eines isländischen Fischdampfers, der mit südlichem Kurs im Halbdunkel quer durch den Geleitzug zu steuern versuchte und von diesem kühnen Vorhaben energisch abgebracht werden mußte. In den engen Gewässern zwischen Schottland und Nordirland teilte sich der Konvoi: einige Schiffe nahmen Kurs auf den Clyde, andere liefen südwärts nach Cardiff und Barry Roads, die Mehrzahl aber zur Liverpooler Bucht. Dieser Weg durch die Irische See und die Ansteuerung der Küste von Liverpool verlangte von Lockhart so scharfe Aufmerksamkeit wie die strenge Schlußprüfung nach einem Kursus. In diesen engen Gewässern konnte vielerlei passieren, wenn ihre Navigation nicht einwandfrei war oder die Wachsamkeit nachließ: außer der trügerischen Küste, die gut beobachtet werden mußte, herrschte dort lebhafter Schiffsverkehr in beiden Richtungen, und dazwischen kreuzten, wie üblich, Fischerboote, die, teils mit Lichtern, teils ohne, Netze von unbekannter Länge und ebenso unbekannten Verzweigungen hinter sich herzogen. Fischerboote bildeten tatsächlich ein Risiko ganz eigener Art. Seit Jahrhunderten schon liefen bei der Admiralität Schadensersatzansprüche von gar nicht am Tatort gewesenen Fischern ein, die, sobald sie 142
ein Kriegsschiff auf fünf Seemeilen Entfernung sichteten, erbittert die Fäuste gen Himmel schwangen und blindlings schworen, dieses Schiff habe ihr Netz überrannt und in Fetzen zerrissen. Die Admiralität hatte sogar als Gegenmaßnahme die Führung eines ›Fischerboot-Logbuchs‹ auf den Kriegsschiffen veranlaßt: von jedem in See gesichteten Fischerboot mußten die genaue Position zum Kurs des Schiffes und die geschätzte Entfernung eingetragen werden. Diese Maßnahme beseitigte zwar das Übel nicht, ermöglichte aber wenigstens eine Teilung der Ansprüche in unverschämte und geringfügige. Lockhart blieb die ganze letzte Nacht auf der Brücke, wo er fortwährend den Kurs überprüfte und sich immer wieder vergewisserte, ob die verschiedenen in Sicht kommenden Bojen und Leuchtfeuer die richtigen waren. Und jetzt begriff er, wie ungeheuer ermüdend dies alles für Ericson gewesen sein mußte, als er mit unbefahrenen Offizieren als einziger Unterstützung die erste Reise mit einem Schiff zu machen hatte, dessen Verhalten und Führung sogar dem erfahrenen Seemann noch manche Rätsel aufgab. Als dann der Morgen dämmerte, der Konvoi die Insel Man passiert hatte und in gesichertem Fahrwasser auf Ostkurs zum Heimathafen Liverpool lag, fühlte Lockhart sich gewaltig erleichtert und war, trotz seiner Ermüdung, dankbar, daß der härteste Teil seiner Reise geschafft war – bis auf das Anlegen im Hafen, ein Manöver, vor dem er noch einen gewissen ›Bammel‹ hatte. Die Sonne trocknete das Deck, und um den Bug spielten triumphierend die Seemöven, als teilten sie seine Feiertagsstimmung. Zwar hatte er unterwegs seine Fähigkeiten nicht an aufregenden Ereignissen zu messen brauchen, aber neu war ihm doch noch fast alles gewesen, und wäre etwas schief gegangen, so hätte das vor so vielen Zeugen sehr peinlich sein können. In die feiertägliche Stimmung hatte er sich allerdings zu früh versetzt. Gerade als er die leichte letzte Wache an Baker übergab und sich anschickte, in seine Kammer zu gehen, um sich zu rasieren und umzuziehen, sah er Viperous von der Spitze des Geleitzuges in hoher Geschwindigkeit achteraus kommen, mit der enormen Bugwelle und der – hier unnötigen – imposanten Wucht, um die er die Zerstörer am meisten beneidete. Viperous brach zwischen den beiden letzten Schiffen der Kolonne neben Compass Rose durch, drehte in einem Wirbel von Gischt und schob sich in einigem Abstand bei ihr längsseit. »Lautsprecher einschalten«, sagte Lockhart hastig. Er wußte nicht, was kommen würde, aber mit einem Zwiegespräch der beiden Schiffe war zu rechnen. Von der Brücke des Zerstörers sah er Ferngläser auf sich gerichtet, und unterhalb der Brücken beider Schiffe begannen die Mannschaften, über die Reling hängend, ihren Bekannten hüben und drüben die bei einer Heimkehr üblichen Grüße und Redensarten zuzurufen. Plötzlich brüllte der Lautsprecher des Zerstörers los: eine angenehme tiefe 143
Stimme in knappem Befehlston klang herüber. »Wie geht’s Ihrem Kommandanten?« Lockhart erhob sein Mikrophon. »Noch dasselbe«, antwortete er. »Er hat ziemliche Schmerzen und muß noch liegen.« »Ich lasse ihm gute Besserung wünschen – « Eine kurze Pause folgte. »Wir stehen heute für Urlaub an, und ich möchte wegen des Wehrsolds recht früh einlaufen. Meinen Sie, daß Sie das Geleit hineinführen können? Das Feuerschiff Sandbank liegt ungefähr neun Meilen voraus.« »Jawohl«, sagte Lockhart. Hier durfte nicht gezögert werden, wenn er sich auch von dem, was der Auftrag verlangen mochte, noch keine genaue Vorstellung machen konnte. »Jawohl, das kann ich.« »Der Kommodore hat gerade Kiellinie befohlen«, fuhr die Stimme fort. »Setzten Sie sich vor sein Schiff an die Spitze, sobald die Formation hergestellt ist. Und sobald Sie Gladstone Dock in Sicht haben, geben Sie das übliche Ankunftssignal: ›38 Schiffe, Konvoi B.K. 108.‹ Über unser Vorlaufen gebe ich persönliche Erklärung.« »Yes, Sir«, erwiderte Lockhart und wiederholte vorschriftsmäßig alles Nötige. Der Zerstörerkommandant, der in der Geleitgruppe als dienstältester Offizier fungierte, war noch jung und stand in dem Ruf, sehr energisch zu sein. Noch einen Augenblick liefen die beiden Schiffe auf gleicher Höhe. »Also gut«, tönte es dann von drüben, »ich übergebe Ihnen die Führung. Aber lassen Sie die Schiffe nicht zu schnell laufen: der Hafenkapitän kann das nicht leiden!« Irgendwo im Innern des Zerstörers klingelte der Maschinentelegraph. Viperous machte einen Ruck nach vorn und warf eine Bugwelle auf, als schnitte sie eine riesige Sahnetorte an. »Jetzt werden wir Ihnen zeigen«, rief im Abdampfen die befehlsgewohnte Stimme, »warum wir ›Windhunde des Ozeans‹ heißen.« Viperous brauste so rasch davon, daß Compass Rose stillzustehen schien und Lockhart nur noch staunen konnte, wie sehr doch die Zerstörer jedem andern Schiffstyp überlegen waren. Könnte er nur bei Compass Rose auch so auf den Knopf drücken und die ganze Flotte hinter sich lassen… Aber er hatte jetzt mehr zu tun, als sich nach besseren Dingen zu sehnen. Der Geleitzug formierte sich für die schmale Fahrrinne des Mersey zur Kiellinie, und Compass Rose hatte mindestens sechs Meilen aufzuholen, um an die Spitze der Kolonne zu kommen. So abrauschen wie Viperous konnte sie nicht, aber sie gab ihr Äußerstes: sie bebte heftig unter den steigenden Umdrehungen der Schraube und begann einen Dampfer nach dem andern hinter sich zu lassen. Lockhart bemerkte, ohne sonderlich darauf zu achten, daß die 144
Sonne verhüllt war und es kälter wurde, aber auf das, was jetzt eintrat, war er keineswegs gefaßt. Als sie schon bis in Höhe des vierten Dampfers von vorn gekommen waren und er das Feuerschiff Sandbank sichtete, das, jetzt nur noch ungefähr zwei Meilen voraus, die Einfahrt ins Flußfahrwasser bezeichnete – da verschwand es plötzlich wieder. Und während er in die Runde blickte, ganz verdutzt über das rasche Nachlassen der Sicht, verschwand auch der ganze Konvoi, war ausgewischt wie ein Kreidebild von der Schiefertafel. Nebel! Nebel aus Norden, wie eine Decke über ihren Weg gewälzt und alles Sichtbare im Nu auslöschend. Lockhart lehnte sich weit über die Brückenreling und war einen Moment fast starr vor Schrecken. Der Nebel hüllte sie dampfartig in dichte, kalte und beizende Wolken: er konnte eben noch die Mündung des Geschützrohres auf der Back erkennen, fünf bis sechs Meter vor sich, aber weiter auch nichts: kein Wasser, kein Schiff, nicht einmal den Bug des eigenen. Es war, als bewegten sie sich, allein und blind, in einem farblosen Sack. Doch schon vernahm er die Stimmen anderer, die in demselben Sack waren: einen erregten Chor von Dampfsirenen, als der Konvoi in die Nebelbank stieß. Die Dampfer wurden vom Nebel gerade in dem Moment überrascht, als sie auf engem Raum massiert waren, im Begriff, die befohlene Kiellinie zu bilden: manche waren kaum eine Schiffslänge vom Vordermann entfernt, so daß sich der Geleitzug zusammenschob wie die Wagen eines Güterzuges, der jäh gebremst wird. Jetzt tasteten sie ohne Sicht blindlings in der rauhen glitzernden Nebelluft umher und taten das einzige, was ihnen übrig blieb: sie machten soviel Spektakel wie möglich und beteten um das Verschwinden des Nebels. Lockharts Schreck währte nicht lange. Compass Rose lief nicht zum erstenmal im Nebel, und er hatte in solchen Lagen stets Ericsons sichere Ruhe bewundert. Er brauchte jetzt nur seinem Beispiel zu folgen. Der momentanen Versuchung, vom Geleit abzuscheren und unabhängig weiterzulaufen, durfte er nicht nachgeben: bei Nebel hieß es, sich darauf verlassen, daß andere Schiffe ihren Kurs einhielten, und man selber mußte das ebenfalls tun, weil es sonst unmöglich war, eine einigermaßen klare Übersicht zu behalten. Ein einzelnes Schiff konnte, wenn sein Kapitän die Nerven verlor und sich eilig der Zusammenstoßgefahr zu entziehen suchte, die ganze Übersicht und damit das ganze System der Geleitsicherung zerstören und eine Katastrophe bewirken. Im Augenblick befanden sich zu seiner Beruhigung noch alle Schiffe an Steuerbord von Compass Rose, und er bemühte sich nun, im Gedächtnis die verschiedenen Tonarten ihrer Sirenen zu registrieren. Die nächste, ein tiefer Ton, stammte von dem großen Tanker, den sie passiert hatten, als der Nebel einbrach; das Schiff vor dem Tanker stieß komische, verschnupfte Töne aus, vielleicht war ihm Wasser in die Pfeife geraten. Die Sirene des vom Kom145
modore geführten Schiffes war gleichfalls klar zu unterscheiden, und mächtig übertönte alle die Stimme des Nebelhorns auf dem Feuerschiff, die sozusagen in zwei Meilen Entfernung den Ton des dröhnenden Konzerts angab. Jenseits dieses Nebelhorns konnten sie kaum ungefährdet weiterlaufen, denn dort verengte sich das Fahrwasser auf knappe fünfzig Meter! Wenn der Nebel nicht abzog und der Geleitzug zum Ankern gezwungen wurde, mußte das innerhalb der nächsten zwanzig Minuten geschehen. Lockhart hatte das Gesamtbild einigermaßen im Kopf, und neben ihm in der rauhen Luft waren die andern – Morell, Baker, Signalgefreiter Wells und die beiden Ausguckposten – alle bemüht, durch äußerste Aufmerksamkeit soviel wie möglich zur Klärung der Lage beizutragen. Denn: Schallgeräusche täuschten bei Nebel, wie sie wußten. So konnte ein Sirenenton, der einwandfrei aus bestimmter Richtung zu kommen schien, irgendwo von der Nebelbank reflektiert worden sein und in Wirklichkeit aus einer ganz anderen Gefahrenzone stammen. Compass Rose pflügte weiter durch das ölige Wasser, während querab der gegespensterhaft verschwundene Konvoi in nicht zu schätzendem Abstand und in einer Marschordnung lief, die einfach nicht festzustellen war. Der Hauptteil des Geleitzuges schien ins Nichts verschwunden, während die vier Sirenensignale, auf die Lockhart sein Gehör besonders richtete: der dicke Tanker, dessen Vordermann, der Kommodoredampfer und das Feuerschiff, in gleichmäßiger Reihenfolge ertönten, dazu Compass Rose selbst als fünfte Stimme. Lockhart hob jäh den Kopf. Er spürte, daß Wells sich gleichzeitig einen Ruck gab: eine neue Sirene war mit ihrem Ton in das Quintett gefahren, anscheinend von Backbord, also von ihrer dem Konvoi abgewandten Seite, die bisher sicher schien. »Schiff an Backbord, Sir?« fragte Wells unsicher. Und schweigend erwarteten sie eine Wiederholung des Rufs. Einmal, das war der Tanker – Nummer zwei: das Schiff vor ihm – drei: der Kommodoredampfer – vier: ein langgezogener Jammerton vom Feuerschiff Sandbank. Fünftens: Compass Rose. Da: Nummer sechs! Wie ein zittriger Trompetenstoß – jetzt näher? – aus der bisher sicheren Zone an Backbord, von wo nun auf einmal Gefahr drohte. Lockhart fühlte, wie seine Haare sich sträubten, ihm prickelte die Kopfhaut. Was konnte dort sein? Alles. Ein aus dem Hafen kommendes Schiff, ein vom Konvoi abgefallenes oder irgendein unabhängiges Fahrzeug, das neben ihnen herlaufen wollte. Jedenfalls war da ein Schiff, irgendwo im Nebel, irgendwo an Backbord voraus, auf Gott weiß welchem Kurs – und kam mit jeder Sekunde näher. Er packte fest die Brückenreling und starrte geradeaus. Ohne den Kopf zu wenden, wußte er, daß die andern ihn beobachteten: er war der Mittelpunkt des Geschehens – in seiner Hand lag Compass Rose. 146
Die Sicherheit dieses Schiffes und vielleicht ihrer aller Leben hingen von seinen nächsten Maßnahmen ab. Ihre eigene Sirene heulte auf, furchtbar nah und laut! – dann wieder die vier ›gesicherten‹ der Reihe nach, und dann diese elende sechste, noch näher jetzt und hart voraus, oder nur wenig an Backbord. Er kommandierte:»Langsame Fahrt voraus«, selbst erstaunt über die Ruhe in seiner Stimme. Der Telegraph klingelte, das Brummen der Maschinen mäßigte sich bei fallender Umdrehungszahl zu einem dumpfen Pochen, das schlappende Anklatschen der Bugsee wurde zu einem sanften Geräusch. Aber die Spannung ließ nicht nach. Lockhart spürte, wie sich seine Nerven spannten und begann zu schwitzen, während Compass Rose sich dem Sirenenquartett näherte, aber auch dem unbekannten Schiff, dem unsicheren Element, das sie alle zu Wracks machen konnte. Gab der Kommodore nicht bald den Dampfern den Ankerbefehl, dann mußte er eine Maßnahme treffen – entweder auf dem Fleck stoppen lassen oder weiter nach Backbord ausscheren, fort von dem Gedränge und der Gefahr. Einfach weiterlaufen und sozusagen Fuß um Fuß das letzte Stück sicheren Kurses ausnutzen, durften sie nicht, denn das hieß die Gefahr herausfordern. Er hörte Morell neben sich husten. Die feuchte Luft mischte sich mit dem klebrigen Schweiß unter seinem Haar, so daß ihm Tropfen über die Stirn rannen. Wieder heulte die eigene Sirene über ihren Köpfen los: er hatte eine flüchtige Vision von dem, was wenige Sekunden vor ihnen passieren konnte: hörte im Geist das Krachen, das Knirschen von Holz und Metall, sah die zertrümmerten Steven, vernahm die Schreie der in den unteren Decks gefangenen und verwundeten Männer, spürte, wie alle ihn beobachteten, vertrauensvoll und doch nicht ohne Zweifel, aber hoffend, daß er dieser unerforschlichen Krise gewachsen sein werde – da rief plötzlich der Ausguck an Backbord: »Schiff an Backbord, Sir!« und vierzig Meter von ihnen, in dem sich auf einmal teilenden, von Sonne durchleuchteten Nebel, glitt ein kleiner Küstendampfer an ihnen vorüber und unbeirrt die Linie der Geleitschiffe entlang. Ein befreiendes Gefühl bemächtigte sich seiner, als die letzten Nebelfetzen zerrannen und neues Licht ihm zeigte, daß die Dampferformation noch gewahrt war und das Feuerschiff Sandbank klar sichtbar auf dem glatten Wasser schaukelte. So plötzlich die Gefahr hereinbrach, so rasch war sie auch wieder verflogen. Die Erleichterung war vollkommen: er hatte sein Bestes getan, und es hatte sich als richtig erwiesen. Jetzt dampfte Compass Rose mit all den übrigen Schiffen den vertrauten Wahrzeichen des Heimathafens entgegen. Eine Stunde später führten sie durch den dichtesten Hafenverkehr ihre Schützlinge in langsamer, würdevoller Prozession den Mersey aufwärts zu den vorgesehenen Anlegeplätzen. Weit erstreckte sich die Reihe der Schiffe hinter ihnen, tiefbeladene Schiffe, gezeichnet von der großen Fahrt, stolz und 147
doch selbstverständlich: Schiffe, die sie viele Tage beschützt hatten, Schiffe, die sie von diesem oder schon von früheren Konvois gut kannten, Schiffe, auf die sie geschimpft hatten, weil sie zu langsam fuhren, oder die sie der geschickten Führung wegen bewundert hatten. Wieder eine Geleitzugfahrt beendet – Lockhart hatte sie nicht mehr gezählt, es mochte ihre sechzehnte oder auch schon die zwanzigste gewesen sein. Wieder ein großer Verband von Schiffen mit Hunderten von Männern und aber Tausende Tonnen von Gütern unversehrt heimgeleitet, nach einem Spießrutenlauf durch widriges Wetter und die größten Schwierigkeiten, die der Feind ihnen verursachen konnte. Vielleicht fühlen sie nichts so stark wie den Stolz und eine nüchterne Dankbarkeit: es waren dringend benötigte Güter und wertvolle Menschenleben, und ihre eigene geliebte Compass Rose hatte dem Schicksal als Pfand für sie gedient… Wells sagte plötzlich: »Kommodore ruft uns an, Sir.« Und Schweigen herrschte auf der Brücke, als Lockhart den Signalspruch von dem großen Frachtdampfer, der den Konvoi geführt hatte, annahm und bestätigte. Wells drehte sich von der Morselampe herum: »Von Kommodore, Sir: ›Schön, diese Vögel da oben wiederzusehen. Besten Dank und auf Wiedersehen.‹« Lockhart blickte flußauf zur Stadt nach den großen vergoldeten Vögeln hoch oben auf dem Liver Building im Herzen Liverpools. Bis in die Flügelspitzen der Tiere sozusagen konnte er dem Kommodore alles nachfühlen… »Machen Sie Winkspruch«, sagte er: »Kommen mir jedesmal größer und schöner vor. Weiter alles Gute.« Er wartete noch, während die Worte geblinkt wurden, und gab dann, mit einer gewissen Enttäuschung, das Ruderkommando, das Compass Rose in weitem Bogen vom Konvoi abscheren ließ und ihren Bug zum eigenen Liegeplatz an der Ölpier richtete. Die Aufgabe war beendet, der Geleitzug offiziell entlassen, und doch kam diese Trennung ihm fast vor, als müsse er Pflegekinder, die er lieben gelernt, wieder weggeben. Hatten ihn noch vor kurzem Befürchtungen über das Gelingen des Anlegemanövers bedrückt, so legte er jetzt das Schiff mit so selbstverständlicher Eleganz an die Ölstation, als habe er das ein ganzes Jahr jeden Tag gemacht. Nach der drückenden Belastung der letzten paar Tage und der Nervenprobe im Nebel meinte er, nun allem und jedem gewachsen zu sein. Als er zum Schluß den Befehl gab: »Maschinen abstellen!« und nach unten ging, um dem Kommandanten Meldung zu machen, kam er sich um mindestens zehn Jahre älter und gereifter vor. Es gab für sie das Leben auf See, hart, unerbittlich und lebensgefährlich. Es gab das bequeme Leben im Urlaub zu Hause, und es gab eine Mitte, das 148
Leben im Hafen, wenn sie von einer Konvoifahrt ausruhten und sich auf die nächste vorbereiteten. Von diesen drei Arten ihres Lebens entwickelte vielleicht die Hafenzeit in ihnen am stärksten den Sinn dafür, daß sie einen wichtigen Bestandteil einer komplizierten, in dem ungeheuren tödlichen Kampf benutzten Waffe bildeten. Gladstone Dock war der Liegeplatz fast aller Sicherungsfahrzeuge der ›Western Approaches‹ und hatte sich in den letzten zwei Jahren zu einer Marinestation mit ungeheurem Betrieb entwickelt. Strategisch gesehen wurde die Atlantikschlacht von dem unterirdischen Hauptquartier im Liver Building aus geleitet: aber unten im Gladstone-Hafenbecken und in kleineren Bassins, die sich am Wasser entlangzogen, lagen die Schiffe, die diese Schlacht schlugen, das Fußvolk gewissermaßen, das die Arbeit tat. In Päckchen zu dreien und vieren nebeneinander drängten sie sich an der Pier, salzbekrustet, schäbig, überanstrengt und abgenutzt, oder noch frisch und naß vom Gefecht, dankbar für etwas Ruhe, oder bereit, mit der nächsten Tide wieder hinauszuziehen – Sie sahen wenig elegant, aber leistungsfähig, zäh und zuverlässig aus. Dicht hintereinander lagen sie, mit dem Steven unmittelbar hinter dem Heck des Vordermannes, mit den gen Himmel strebenden Masten und den gleichhohen Vorschiffen, die hoch über die Kais ragten – diese mit Schuppen, Ausbildungshallen und dem Gewirr von Ausrüstungsstücken, Ersatzteilen, Ölfässern und frisch angefahrenem Proviant überladenen Kais. Aber nicht diese Kais, sondern die Schiffe zogen den Blick auf sich: die schlanken grauen Zerstörer, die gedrungenen Schaluppen und Korvetten, die Fischdampfer, die das Fahrwasser von Minen freihielten – sie alle zusammen bildeten die, zahlreiche Mannschaft, in deren Händen die Schlacht lag. Hier im Gladstone Dock war der harte Panzer der Geleitzüge, die Rüstung für den Atlantik. Sie glänzte nicht, war ziemlich zerbeult, viel zu dünn und bis zur Grenze ihrer Haltbarkeit beansprucht, aber sie hatte die Prüfungen zweier schwerer Jahre überstanden und würde halten, solange der Krieg dauerte und noch fünf Minuten länger. Die Männer auf diesen Schiffen waren vom gleichen Guß. Für sie war die Schlacht im Atlantik ein privater Krieg geworden, mit dem sie ganz und gar vertraut waren: sie verstanden, in schweren, finsteren Nächten wach zu bleiben, ihre quälende Müdigkeit zu überwinden, verstanden, Überlebende zu retten, Unterseeboote zu versenken, Tote zu bestatten, und wußten, wie sie selbst zu sterben hatten, ohne andern Zeit zu stehlen. Sie kannten, wenn auch nicht so genau wie ihren eigenen Dienstbereich, den Gesamtplan dieser atlantischen Schlacht und ihren Verlauf. Sie wußten zum Beispiel, daß jetzt der Kampf immer ungünstiger für die Geleitzüge wurde, kannten die monatlichen Versenkungsziffern auswendig, die Erfolge und Leistungen von Schiffen in andern Geleitgruppen, und die Namen von U149
Bootkommandanten, die sich durch Geschick oder gnadenlose Härte besonders ausgezeichnet hatten. Die ganze Schlacht war jetzt eine recht persönliche Angelegenheit, und die an ihr beteiligten Seeleute zeigten einen Stolz und eine Kameradschaft, die sich durch nichts verdrängen ließ. Denn sie waren nun alte Geleitfahrer, sie trugen gemeinsam die Last des Kampfes und hatten erfahren müssen, wieviel sie von ihnen forderte: sie kannten das mörderische Wüten, das von Monat zu Monat zunahm und von jedem, ob hoch oder niedrig, das Äußerste verlangte, was ein Mensch aushaken kann. Und das galt besonders für die Männer von den Korvetten, den kleinsten Schiffen, die in dieser verzweifelten Zeit dem wilden Atlantik ausgesetzt waren. Wenn sie nach harter Geleitfahrt, triumphierenden Angriffen, blutigen Kämpfen und schweren Verlusten im Hafen wieder zur Besinnung kamen, waren sie sich ihrer Bestimmung wohl bewußt. Sie lasen über ihre Taten in der Zeitung, zitierten einander die albernen Schlagzeilen, deren Worte so weit hinter der Wahrheit zurückblieben. Aber im Innern wußte jeder von ihnen, daß ihr Ruf in der Öffentlichkeit – der Begriff ›Korvette‹ – nur ein Abglanz war von allem, dem er draußen, einsam in See, ständig in einer Mischung von Triumph und Schrecken ausgesetzt war, diesem unablässigen, rücksichtslosen Wechsel, vor dem nur ein ganzer Mann bestehen konnte… Sagte ein Seemann: »Ich bin Korvettenfahrer«, so mußte er mit der Antwort rechnen: »Das ist doch furchtbar anstrengend, ich glaube, die schlingern sich alles aus dem Leibe.« Aber einerlei welche Antwort er bekam, auf wieviel Sympathie oder Verständnislosigkeit er stieß – die Wahrheit stand immer auf seiner Seite: innerlich durfte er stolz darauf sein. Wenn die Schiffe nebeneinander im Hafen lagen, besuchten sich die Offiziere gegenseitig in den Messen. Vielleicht schmeckte der Gin nebenan besser, jedenfalls aber belebten Gespräche über Flottillenneuigkeiten das tägliche Einerlei und verkürzten das Warten auf neue Tätigkeit. Zwischen den Männern der einzelnen Schiffe gab es keine großen Unterschiede, sie waren auf jedem Schiff von der gleichen Art: Laien, die sich an ihre Aufgabe gewöhnt und dabei die notwendige Praxis und Zähigkeit erworben hatten. Wenn Ericson in seiner eigenen Messe Umschau hielt, sah er theoretisch vor sich: einen Journalisten, einen Anwalt, einen Bankangestellten und einen Buchhalter, doch diese Begriffe besagten nichts: sie waren hier ganz einfach seine Offiziere, die jungen Männer, die sein Schiff in Schuß hielten und sich so vollkommen auf dieses neue Leben eingestellt hatten, daß nur ihre persönliche Eigenart noch auf ihre Vergangenheit schließen ließ. Und auf den anderen Schiffen war es genau so, die Offiziere hatten durchweg den gleichen Werdegang: während der Erprobung ihrer Schiffe hatten sie gleichzeitig mit 150
den Besatzungen ihre Schulung erfahren, und auf diese Weise waren rasch gute Einheiten entstanden, die sich durch Zuverlässigkeit auszeichneten und für den Kampf unentbehrlich wurden. So war es kein Wunder, daß diese jungen Männer, wenn sie in den Ruhetagen zwischen den Geleitfahrten zusammenkamen, alle ein mit leichter Verachtung für die Umwelt verbundenes Selbstbewußtsein zur Schau trugen. Auf Korvetten zur See fahren bedeutete besondere Bewährung und entsprechendes Ansehen; und das wußte niemand besser als sie selbst. Aus diesem Bewußtsein muß ihre Haltung zu anderen Männern, die nicht am Kampf teilnahmen, verstanden werden. Während der Liegezeit im Hafen kam Compass Rose häufig mit den Stäben an Land in Berührung. Sie überwachten das sich ständig erweiternde Programm der Artillerie- und U-Bootabwehr-Ausbildung, das die Besatzung fast während der ganzen Liegezeit zwischen zwei Geleitfahrten vollauf beschäftigte. Und so kamen zahlreiche Besucher an Bord: Fachleute aller Art zur Prüfung der Ausrüstung, zur Kontrolle des Signaldienstes und der Maschinen, Verbindungsoffiziere, religiöse Betreuer, Leute mit triftigen Gründen für ihre Besuche und solche, die keinen anderen Anlaß hatten als einen sozusagen dienstlichen Durst, den zu stillen ihnen ein Dutzend ›schwimmende Bars‹, die Messen der Schiffe, so günstige Gelegenheit boten. Es war wirklich ein sehr weit gezogener Kreis von Besuchern und gerechterweise muß gesagt werden, daß die meisten von ihnen willkommen waren, weil sie gewissenhaft ihre Pflicht erfüllten, gefällig und aufrichtig waren und ehrlich bedauerten, daß sie viel lieber zur See fahren würden, anstatt den Krieg in einem Büro an Land abzusitzen. Aber es gab auch andere Typen, Besucher von Beruf gewissermaßen, bei denen man sicher sein konnte, daß sie um elf Uhr vormittags unter einem durchsichtigen Vorwand an Bord auftauchten, sich in der Messe, ein Glas in der Hand und die Flasche in greifbarer Nähe, vor Anker legten und dort mit der größten Selbstverständlichkeit so lange hocken blieben, bis man nur noch die Wahl hatte, die Bar zu schließen oder sie zum Essen einzuladen. – Manche schauspielerten nicht schlecht und wußten das Gespräch darauf zu lenken, wie furchtbar gern auch sie zur See gegangen wären, wenn sie nur ihren niederträchtigen Luftröhrenkatarrh loswerden könnten. Wieder andere machten sich nicht einmal die Mühe des Vorwands, sondern legten nur die breite Selbstgefälligkeit an den Tag, die Leuten auf einem Druckposten zur zweiten Natur zu werden scheint, wenn sie über viel freie Zeit verfügen und ein verbrieftes Recht zu haben glauben, jeden Tag stundenlang mit Getränken freigehalten zu werden. Wenn Menschen sich von zwei oder drei Wochen härtester Seefahrt und einer vielleicht besonders schlimmen Geleitfahrt zu erholen suchen und daran denken müssen, daß noch kürzlich in derselben Messe, wo der Gast sich 151
amüsieren will, Männer qualvoll ihr Leben aushauchten, dann ist es einigermaßen schwierig, zu diesem Gast, der den ganzen Krieg lieber als Anlaß zum Feiern ansehen will und seine eigene Drückebergerrolle als Belohnung angeborenen Talents, noch höflich zu sein. Meistens reagierten sie auf dergleichen, selbst in ihrem engen Kreise, nur mit Schweigen, mit einer Verachtung, die stumm blieb, weil sie nur zum Ausdruck gebracht werden konnte, wenn sie dabei den berechtigten Stolz auf die eigene Leistung betont hätten. Manchmal aber brach die Verachtung doch durch. So, als einmal auf Compass Rose das Mittagessen um eine ganze Stunde verschoben wurde wegen eines Besuchers, der so hartnäckig sitzenblieb, daß selbst der eindeutigste Hinweis, die Vormittagskneiperei müsse beendet werden, nicht verfing. Schließlich, nach dem langen müßigen Warten auf ihr Essen, setzten sie sich dann gereizt zu Tisch. Ericson war an Land, und Lockhart, der am Kopf der Tafel saß und sich von dem fast eiskalten Nierenragout nahm, gab ganz die allgemeine Stimmung wieder, als er sagte: »Dieser Kerl geht einem wirklich auf die Nerven! Kommt jeden lieben Tag an Bord, seit wir im Hafen liegen, und tut, glaube ich, nicht einen Schlag, wenn er hier ist.« Er blickte Morell an: »Was hat er denn heute morgen gemacht?« »Acht Gin getrunken«, antwortete Morell trocken. »Außerdem hat er noch gesagt, unser Geschütz sei sehr gut gepflegt.« »Flottillenartilleriereferent!« rief Lockhart erbittert. »Ich möchte das Geschütz nehmen und… « »Sehr richtig«, fiel Morell ein, »aber dann beanspruche ich das Recht, es abzufeuern.« Ferraby, der am unteren Ende des Tisches in seinem Essen stocherte, mischte sich nun auch ein: «Erinnerst du dich denn nicht an ihn, er war doch auf King Alfred?« fragte er Lockhart. »Zur selben Zeit wie wir. Damals sagte er, er wollte zum Küsten Wachdienst gehen.« Lockhart nickte. »Sein Gesicht kam mir auch bekannt vor.« »Dann hatten Sie jetzt ja reichlich Zeit, Ihr Gedächtnis aufzufrischen«, sagte Morell. »Was mich besonders ärgert«, fuhr Lockhart fort, »ist seine allgemeine Einstellung, wie er den Krieg ansieht. Er kommt an Bord, trinkt unseren Gin, tut noch nicht mal zum Schein das Geringste für uns, und dann redet er über den Krieg und die Marine, als sei das alles nur eine Cliquenwirtschaft, eigens dazu erfunden, ihm einen Druckposten zu bieten.« »Das ist wahrscheinlich genau das, was der Krieg für ihn bedeutet«, sagte Morell. »Es gibt ja Hunderte von diesen Leuten: sie sehen nicht, worauf es ankommt, sie wollen es gar nicht sehen – verschaffen sich einen angenehmen 152
Job, bei dem sie noch ein bißchen nebenbei verdienen können, und je länger der Krieg dauert, um so wohler fühlen sie sich. Sie kämpfen nicht, helfen nicht beim Kampf, weil sie das Ganze nicht einmal als Kampf sehen. Es ist für sie einfach ein kosmisches Malheur, bei dem ihnen eine flotte Uniform zugefallen ist und die Gelegenheit, zollfreie Zigaretten zu schnorren.« »Aber wieviele Leute sehen im Krieg überhaupt den Kampf?« Baker beteiligte sich nur selten am Gespräch in der Messe, doch jetzt schien er sich zum Mitreden entschlossen zu haben. Er blickte in die Runde und fuhr, noch zögernd, fort: »Wir alle hier fühlen uns, glaube ich, den Ereignissen ziemlich nahe, aber selbst wenn…« einen Moment stockte er wieder – »selbst wenn wir in See sind, hat man oft gar nicht das Empfinden, daß wir dort wären, weil wir den Krieg gewinnen und die Deutschen schlagen müssen. Im allgemeinen fühlt man sich gar nicht wie im Kriege, sondern weiß nur, daß man seinen Dienst macht, weil alle anderen das auch tun, und wenn es statt der Deutschen die Franzosen wären, dann würden wir es genau so machen, ohne lange zu fragen, warum und wieso.« »Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Lockhart nach einer Pause. »Manchmal ist es wirklich, als sei man von einer Maschine erfaßt, die ein anderer in Gang hält und kontrolliert.« Er zögerte. Die wahre Antwort lautete natürlich: daß man sich vor dem Kriege mehr um die Politik hätte kümmern müssen, um zu verstehen, um was dieser Krieg ging, und jeder daher den alles beherrschenden Wunsch haben mußte, ihn zu gewinnen. Aber an einem Mann wie Baker, der knapp zwanzig war und nur einen sehr engen Horizont hatte, Kritik in diesem Sinne zu üben, war vielleicht ungerecht hart, denn es war ja bei ihm nicht Mangel an Interesse, sondern einfach Unreife. »Trotz allem«, fuhr er fort, »wir sind nun einmal beteiligt, und wir kämpfen ja auch, und selbst wenn wir unserem Handeln kein melodramatisches Mäntelchen umhängen, wie ›Kampf für die Demokratie‹ oder ›Ein Ende der faschistischen Tyrannei!‹, so bleibt es dabei: wir kämpfen mit, und damit ist alles gesagt.« Morell blickte ihn merkwürdig fragend an. »Ist das wirklich Ihre Meinung?« »Ja.« Als er sah, daß auch die andern ihn so zweifelnd ansahen, lehnte er sich zurück und lächelte. »Ja, ich bin ein sehr sachlicher Mensch. Nur so kann ich mich in Schwung halten.« Es klopfte an die Tür: der Bootsmann trat ein. »Für Artillerieoffizier, Sir«, sagte er dienstlich trocken. »Ja, und?« fragte Morell. »Der Offizier, der vorhin von Bord ging, kam eben nochmal zurück, Sir.« »O Gott!« entfuhr es Lockhart unfreiwillig. »Ich soll Ihnen dies von ihm 153
geben, Sir.« Der Bootsmann hielt Morell ein Kuvert hin. »Sagte, er hätte es vorhin vergessen.« »Danke schön«, sagte Morell, nahm den Umschlag und schlitzte ihn mit einem Messer auf. Ein imponierender Bogen Aktenpapier kam zum Vorschein. Morell las rasch den Inhalt, sein Gesicht bekam einen komisch erstaunten Ausdruck. »Grundgütiger Himmel«, murmelte er, »das ist doch nicht möglich!?« »Na, was denn schon?« fragte Lockhart. »Eine Berichtigung zu den gestern ausgegebenen neuen FlottenArtilleriebefehlen«, erwiderte Morell. »Unser Freund hat endlich seine Existenzberechtigung nachgewiesen.« »Etwas Wichtiges?« »Aber ja. Sogar von fundamentaler Wichtigkeit –« Alle blickten ihn an, weil er offenbar nur mühsam seinen sachlichen Ton beibehalten konnte. »Zu: Flotten-Artilleriebefehl«, las er mit unendlich sanfter Betonung vor. »Berichtigung eins: Seite zwo, Zeile sechs statt ›Schiß‹ lies ›Schuß‹…« Unter den vielen Schiffen, die sie regelmäßig in Liverpool antrafen, waren einige, deren Besatzung aus Seeleuten alliierter Nationen bestand. Das waren Männer, die entweder mitsamt ihren Schiffen nach England entkommen oder einzeln nach ihrem Eintreffen eingezogen und britischen Schiffen zugeteilt waren, die dann der betreffenden Nation überlassen wurden. Es gab da unter anderen mehrere holländische Minensuchboote, eine norwegische Korvette und einen französischen U-Bootjäger von so theatralischer Linienführung, daß man beim ersten Anblick glaubte, ein Schiff in sinkendem Zustand vor sich zu haben. Solche Schiffe und ihre Mannschaften bildeten Probleme für sich, nämlich: ob man sie ernst nehmen und als ehrliche und tüchtige Alliierte zählen sollte oder sie ganz abschreiben und nur als unerwartete Dekorationsstücke werten, und als tragbar, so lange sie nicht wichtige Kriegshandlungen störten. Aber als richtige Kriegsschiffe und einsatzfähige Besatzungen konnte man sie eigentlich nicht ansehen. Sie waren auch sehr unterschiedlich. Diese ausländischen Schiffe bildeten natürlich im Grunde selbstständige Einheiten: im fremden Lande isoliert und von ihrem eigenen geschlagenen Volk abgeschnitten, wahrten ihre Offiziere und Mannschaften im Umgang mit Fremden eine abwartende Zurückhaltung, die sich nur schwer überwinden ließ. Man wollte sie gern verstehen, war bereit zu Konzessionen und versuchte, ihre Situation richtig zu beurteilen, 154
hatte aber jetzt an soviel anderes zu denken, daß einem diese Versuche, mit Takt und Ruhe die Gefühle der Versprengten nachzuempfinden, schließlich zu mühsam wurden, sofern nicht besondere Fälle eine ungewöhnlich starke Sympathie erweckt hatten… Zuweilen schien das zu lohnen: wenn es gelang, den Ausländer zu offener Aussprache zu bewegen, denn viele hatten erregende Erlebnisse zu berichten, wie sie dazu kamen, auf Seiten der Alliierten zu kämpfen. Erlebnisse, hinter denen sehr viel mehr lag als die bloße Unterzeichnung eines Papiers für die Aufnahme in die britische Marinereserve ahnen ließ: Berichte von Tragödien und Intrigen, als ihre Länder die Niederlage erlitten; von Flucht als dem einzigen Ausweg zur Rettung der Ehre, von Entscheidungen aus reiner Verzweiflung unter dem Anschein äußerer Gleichgültigkeit; Geschichten von Kampf, gelungener Flucht und dem plötzlichen Aufatmen in der freien Luft Englands… Alle hatten im Grunde anfangs dieselben Aufregungen erlebt, wenn auch in vielerlei Formen, und allen gemeinsam war eine gewisse Trauer, ein Zurückblicken auf das, was sie hinter sich gelassen hatten. Doch die Grade dieser Traurigkeit waren verschieden, und nicht alles konnte man für bare Münze nehmen… Die Holländer und Norweger schienen durchaus aufrichtig und zuverlässig zu sein: auch sie hatten diesen Blick zurück – viele hatten von ihren Familien und Freunden noch nichts wieder gehört, seitdem ihr Land 1940 so grausam überrannt worden war, aber sie glichen das aus durch einen ›Blick nach vorn‹: den festen Willen, wiederzugewinnen und neu aufzurichten, was sie verloren hatten, für ihre Heimkehr und einen ehrenhaften Frieden zu kämpfen. Ihre Schiffe machten stets einen tadellosen Eindruck, und die Männer waren selbst tadellos; weil sie von der Heimat abgeschnitten waren, gab es für sie nur noch eine einzige große Aufgabe, und diese Aufgabe, bei der alle seemännischen Tugenden: Sauberkeit, Geduld und Mut zur Geltung kamen, bestimmte alles was sie taten, und fast jedes ihrer Worte. Zufällig war es Ericson, der dieses zusammenfassende Urteil aussprach, als er einen Abend auf einem der holländischen Minensuchboote im Gladstone Dock verlebt hatte. »Ich mag diese Holländer gern«, erklärte er Lockhart am folgenden Morgen, als sie in der Dienstpause an Oberdeck auf und ab gingen. »Sie nehmen alles mit dem richtigen Ernst: alles bezieht sich bei ihnen auf den Krieg, und von anderen Dingen wollten sie einfach nichts hören. Sogar als ich sagte, es sei doch schade, daß Prinzessin Juliana drei Töchter hintereinander, aber keinen Sohn bekommen habe, wurde der Kommandant krebsrot im Gesicht und rief: ›Wenn Sie glauben, daß wir für die Töchter nicht kämpfen, zerschmettere ich Sie! Kommen Sie mit ‘raus!‹« »Natürlich«, ergänzte Ericson vernünftigerweise, »hatten wir schon ein 155
paar Schnäpse getrunken, aber der meinte es wirklich so. Solche Leute habe ich gern als Minensucher vorm Geleit, aber nicht diese verflixten Franzmänner, die bloß immer Heimweh haben und nachlässig arbeiten.« Denn mit den Franzosen stand es anders, das ließ sich nicht leugnen. Lockhart, der häufig Gelegenheit zu Besuchen auf einem französischen Schiff hatte, wo er die Vorzüge der exquisiten Küche genoß und die Möglichkeit, sein französisch zu üben, mußte leider feststellen, daß eine gewisse fragwürdige Haltung, eine Flucht ins Bequeme, das ganze Schiff zu infizieren schien. Nicht, daß die grundsätzliche Bündnistreue der Franzosen fragwürdig gewesen wäre, nein: aber sie verharrten bei ihrer Ansicht, vom Schicksal geschlagen zu sein, und bei der seit langem feststehenden Überzeugung, daß Frankreich aus seiner erniedrigenden Situation nicht gerettet werden könne. Sie sprachen zwar von General de Gaulle mit Respekt, schienen aber stets vorauszusetzen, daß alles noch schlimmer kommen müsse: sollte de Gaulle versagen, so mußte man das mit Achselzucken hinnehmen – faul pas penser, faut accepter – und sozusagen aufs nächste Pferd setzen, selbst wenn der Reiter Laval hieß und die Farben der Collaborateurs trug. – Sie besaßen keinen Stolz mehr wie die Holländer und die Norweger, sprachen viel mehr von ihren Familien und Häusern als von dem Kriegsdienst, den sie leisteten, sehnten sich ganz unverhüllt nach Hause, nur nach Hause, um jeden Preis, auch als Geschlagene, falls kein Sieg sie wieder aufrichten sollte. Und bisweilen schien es, als sei ihr einziger Antrieb nicht la patrie, sondern l’amour – eine buchstäbliche Notwendigkeit, die sie jedoch, paradoxerweise, impotent zu machen schien. – Ein Jammer war das! Lockhart, der in Paris gelebt und alles Französische bewundert hatte, war tief enttäuscht, aber so äußerte sich eben der gallische Geist in widrigen Situationen, es ließ sich nicht leugnen. Im Lauf eines lebhaften Gesprächs hatte der Kommandant jenes französischen Schiffes, vielleicht nicht mehr ganz nüchtern, Lockhart eines Abends gefragt: »Na, mal ehrlich: im Grunde traut ihr uns doch nicht über den Weg, wie?« Und das in einem bitteren Ton, der außerdem zu sagen schien: ›Das ist uns allerdings egal, denn ihr seid ja sowieso ein Barbarenvolk.‹ Die Kluft zwischen ihnen war offenbar und ihr Vorhandensein ließ sich nicht abstreiten oder als Ergebnis eines bloßen Mißverständnisses entschuldigen. Amerikaner waren bisher noch nicht offiziell aufgetreten: ihre zweijährige gewinnbringende Neutralität wurde erst durch den Schlag von Pearl Harbour beendet. Aber dann und wann begegneten sie Piloten, die sich zwischen Transozeanflügen in Liverpool ausruhten, und Seeleuten mitten im Atlantik. Denn jetzt begleiteten die Amerikaner auch selbst manchen Geleitzug, von ihren Häfen bis zu dem Punkt, an dem die britischen Sicherungsfahrzeuge ihn 156
übernahmen. Dann erschienen ihre fremdartig gebauten Zerstörer mit den langen Namen, die oft mit ›Jacob‹ oder ›Ephraim‹ anfingen, in nebliger Ferne und gaben ganz langsam und sanft ihre Morsesprüche ab, damit die beschränkten Briten sie auch ja richtig auffaßten. »Die bilden sich wohl ein, wir wären ‘n Haufen Kinder«, sagte Signalgefreiter Wells eines Tages ärgerlich, nachdem ein ungewöhnlich bedachtsamer Signalgast von der anderen Seite seine Geduld bis zum äußersten beansprucht hatte. »Benehmen sich ja wie die Anfänger in der ersten Ausbildungsstunde!« Doch ein kameradschaftliches Gefühl der Verbundenheit überwog diese Kleinigkeiten: es war schön, daß ein paar Schiffe mehr an der großen Aufgabe halfen, gerade jetzt zur Zeit hoher Anforderungen, und die Tatsache, daß die Kette über den Atlantik auf so natürliche Weise geschlossen wurde, – daß Amerikaner den Briten die Hand reichten – erfüllte diese mit kameradschaftlicher Dankbarkeit und Genugtuung. Noch waren die Amerikaner nicht offiziell im Krieg, aber mit den Lieferungen aus dem Pacht-Leih-Vertrag und dieser unauffälligen Hilfeleistung ihrer Marine verschafften sie ihnen bereits große Erleichterungen. Andere taten das nicht. Es gibt Abstufungen der Neutralität, wie es Grade der Untreue gibt: man kann einer Frau wohl Frigidität für eine Weile verzeihen, nicht aber, wenn sie immerfort lächelnd in den Armen anderer Männer liegt. Selbst beim krassesten Betrug, sei es in der Ehe oder in Bündnissen der Menschheit, gibt es Unterschiede in der Schuld: beispielsweise läßt sich der Standpunkt von Ländern wie Spanien oder Argentinien verstehen, – wenngleich nicht verzeihen – da sie an Deutschland politisch gebunden waren und aus ihrem Haß gegen England und der Hoffnung auf seine Niederlage keinen Hehl machten. Sie waren eigentlich nie recht mit der Demokratie verheiratet. Schwer aber konnte man mit der Verachtung für ein Land wie Irland zurückhalten, dessen Krieg dieser Krieg auch war und dessen Aussicht auf Freiheit und Unabhängigkeit im Fall eines deutschen Sieges gleich Null war. Die Tatsache, daß Irland außerhalb des Konfliktes blieb, warf zu dieser Zeit für die Royal Navy gewisse Probleme auf, die alle im Atlantik eingesetzten Seeleute persönlich betrafen, für viele den Tod bedeuteten und daher bei ihnen besonderen Abscheu vor der irischen Haltung hervorriefen. Die Neutralität Irlands, die im Lande selbst als edle Geste hingestellt wurde, gestattete den Deutschen, in Dublin ein Spionagezentrum zu unterhalten, das den ganzen Krieg hindurch offenblieb und der alliierten Sache unabsehbaren Schaden zugefügt hat. Aber vom Standpunkt der Marine aus gab es einen noch tödlicheren Faktor, nämlich den Verlust der Flottenstützpunkte in Süd- und West-Irland, die im ersten Weltkrieg der Royal Navy zur Verfü157
gung gestanden hatten und ihr jetzt vorenthalten waren. Zu berechnen, wieviele Menschenleben und wieviele Schiffe diese Weigerung Monat um Monat kostete, war kaum möglich, aber das Endresultat war von großer Tragik. Von diesen Stützpunkten aus hätten die Sicherungsfahrzeuge weiter in den Atlantik hinauslaufen und so den hart bedrängten Geleitzügen verstärkten Schutz geben können. Von diesen Stützpunkten aus hätten sich Zerstörer und Korvetten rascher mit neuem Brennstoff versorgen und hätten die Bergungsfahrzeuge schneller zu den Schiffen in Seenot auslaufen können. Von diesen Stützpunkten aus wäre wahrscheinlich der Kampf im Atlantik unter annähernd gleichen Bedingungen geführt worden. Aber die Stützpunkte wurden England verweigert: die Sicherungsfahrzeuge mußten einen langen Umweg machen, um ins Kampfgebiet zu kommen, und mindestens zwei Tage eher als nötig in die Häfen zurückkehren. Der Aufwand an Menschen und Schiffen verlängerte den Kampf um Monate und lief zu einer Summe an, die die Iren am Tage des alliierten Sieges nicht einfach abtun konnten. Von einem engen juristischen Standpunkt aus war Irland im Recht: es hatte für Neutralität optiert, und alles weitere ergab sich aus diesem Entschluß. Es stand Irland, genau genommen, völlig frei, sich dem Ringen fernzuhalten, einerlei, welchen Schaden es damit der Sache der Alliierten zufügte. Aber die Seeleute, vor deren Augen die Schiffe versanken, während sie ihre Freunde zählten, die nicht hätten zu sterben brauchen, beurteilten diese Haltung auf Grund ganz simpler Überlegungen. Sie sahen Irland wohlbehütet unter dem britischen Regenschirm liegen, wohlernährt durch britische Geleitzüge und geschützt von der britischen Luftwaffe: sie sahen keine Gegengabe für diesen Schutz, aber dafür die stillschweigende Duldung der Sabotage an den alliierten Kriegsanstrengungen – und sie wurden zornig und blieben es. Wenn sie an der Küste des friedlichen, satten Landes entlangfuhren, an Menschen vorbei, denen es völlig einerlei war, wie der Krieg auslief, wenn nur sie in ihrer Märchenbuchwelt weiterleben konnten, dann hatten sie Zeit, sich über eine neue Auslegung des Begriffs Unanständigkeit eigene Gedanken zu machen. In der Liste derjenigen, die man nach Kriegsschluß mit Achtung nennen würde, konnten jene, die von ruhiger Warte aus zusahen, wie einem der Hals abgeschnitten wurde, wirklich nur einen geringen Rang einnehmen. Liverpool war eine Seefahrerstadt, die diesem Begriff in wirklich großzügiger Weise Ehre zu machen verstand. Von den Frachtdampfern, die sich an jeder Pier und in den Docks drängten, von den im Gladstone Dock zusammengepferchten Sicherungsfahrzeugen ergoß sich allabendlich ein Strom von Seeleuten an Land, die ihre kurzen Stunden der Freiheit auf jeden Fall genießen wollten: sie betranken sich, machten Krakeel, wimmelten auf den Straßen und in den Kneipen umher, belegten die Prostituierten mit Beschlag, 158
verführten die jungen Mädchen und befriedigten die verheirateten Frauen – und Liverpool verzieh ihnen das alles und bot ihnen weiter schrankenlos seine Gastlichkeit. Es ist schwer zu schätzen, welche Wirkung auf die allgemeine Moral Liverpool während dieser kriegsbedingten Invasion gehabt hat – jedenfalls boten der Hintergrund flüchtigen Glücks und die Jahr um Jahr unveränderte Gewißheit, willkommen zu sein, dem Seemann manche freundliche Erinnerung, die ihm noch nach Wochen in See das ärgste Gefühl des Verlassenseins nahm und die äußerste Erschöpfung erträglicher machte. Auch Compass Rose genoß naturgemäß ihren Anteil an dieser großzügigen Gastfreundschaft: nachdem sie nun schon achtzehn Monate dort stationiert war, hatten fast alle Mann ihre Verbindungen an Land, konnten mit einem richtigen Essen zu Hause rechnen und mit den Segnungen eines normalen Familienlebens: die beste Erholung nach den erlittenen Strapazen. Einige Männer der Schiffsbesatzung hatten Liverpooler Mädchen geheiratet oder ihre Frauen vorläufig hier untergebracht, denn ihr Schiff schien jetzt ganz zu Liverpool zu gehören, und solange ihnen dieses Glück hold war und sie nicht nach dem Clyde oder nach Londonderry, den beiden andern großen Stützpunkten der ›Western Approaches‹, verlegt wurden, ließen sie es sich in dieser Situation durchaus wohl sein. Es war für sie der Kompromiß zwischen Krieg und Frieden. Auch Ericson war froh über diese ständige Bindung an die Heimat, da sie die Zufriedenheit der Besatzung erhöhte und die Gefahr schwerer Urlaubsüberschreitungen verringerte. Er fand sich sogar damit ab, daß sein Privatleben nun einen festen Platz einnahm, mit Grace behaglich und still im Hintergrund und dem kleinen Haus in Birkenhead als Erholungsstätte zwischen den Geleitfahrten. Er beschäftigte sich darum nicht weniger mit Compass Rose, zumal er sich infolge der Tatsache, daß Graces Mutter nun bei ihnen eingezogen war und sich für immer im Sessel links neben dem Kamin niedergelassen hatte, nicht mehr wie ein Sünder vorzukommen brauchte, wenn er notfalls einmal an Bord schlief. Der andere Bewohner von Birkenhead, Tallow – jetzt Oberbootsmann – bekam von der guten Küche bei seiner Schwester Gladys sanft gerundete Formen. Er hatte immer seinen Spaß an dem eigenartigen Verhältnis zwischen Gladys und dem Obermaschinisten Watts, der seit der ersten Liegezeit von Compass Rose in Liverpool ihr stets willkommener Hausgast war. Watts war Witwer und hatte verheiratete Kinder, und Gladys war eine Witwe, die zum Glück die Jahre romantischer Liebe schon hinter sich hatte: so war ihr Verhältnis eine ruhige Angelegenheit, eine friedliche, wortlose Übereinkunft, 159
sich nach Kriegsschluß zusammenzutun und sich mit seiner Pension und ihren bescheidenen Ersparnissen ein möglichst behagliches Leben zu gönnen… Als Watts dieses Thema zum erstenmal mit Tallow besprach, geschah das auf solchen Umwegen, daß Tallow kaum ahnen konnte, worauf sein Freund hinzielte. Erst, als Watts so etwas murmelte wie »Nach dem Kriege die Geschichte richtig regeln«, ging ihm ein Licht auf. »Mensch, Jim, das ist ja fein!« rief er. Sie waren allein in der Steuermannsmesse. Tallow beugte sich vor und streckte Watts die Hand hin. Verlegen schüttelten sie sich die Hände, ohne sich anzublicken, aber Tallows Stimme klang herzlich, als er weitersprach: »Was Besseres kann ihr ja gar nicht passieren. Und dir auch nicht. Du hast sie natürlich schon gefragt, was?« »Gewissermaßen, ja.« Watts war noch verwirrt über ihre Gefühlsäußerungen. »Wir – wir sind uns beide einig. Das einzige ist –« Er hielt inne. »Was ist denn los?« »Sie macht sich ‘n bißchen Sorge um dich. Ich meine: weil sie dich zu Hause so lange versorgt hat, verstehst du. Sie will dich nicht enttäuschen.« »Ach, das ist doch Unsinn!« Tallow lächelte. »Vielleicht heirate ich selbst bald, man kann’s nicht wissen. Brauchst nicht warten, Jim, ich will jederzeit gern den Brautführer spielen.« »Kann mir vorläufig noch nicht vorstellen, daß es bald ist«, antwortete Watts, »wenn der Krieg so weitergeht. Verdammt der längste Job, den ich gehabt hab.« »Da hast du recht –. Aber um mich mach dir ja keine Gedanken. Brauchst nur den Tag zu sagen, dann werde ich gern auf deiner Hochzeit tanzen.« Doch das sollte nicht sein. Denn Liverpool, die Seemannsstadt, sollte bald für diesen Begriff in der grausamsten Weise bezahlen, und ein winziger Teil dieser Bezahlung riß die bescheidenen Hoffnungen auf Glück, die Watts hegte, mit hinweg. Schon weit draußen, beim Feuerschiff Crosby, merkten sie, daß etwas nicht stimmte. Und als sie am Ende des Geleitzuges weiter stromauf dampften, standen viele Männer von der Besatzung in Gruppen auf dem Oberdeck, beschatteten sich die Augen vor der grellen Maisonne und blickten zu der Stadt hinüber, die ihnen eine zweite Heimat geworden war. Morell, der auf dem Vorschiff stand, wo seine Gruppe die Festmacheleinen klarierte, richtete sein Glas auf das noch ferne Liver Building, das in merkwürdig dichtem Qualm lag, und hier und da sah er zackige Umrisse gegen den Himmel stehen, die er bisher nie bemerkt hatte… Plötzlich hörte er neben sich den Bootsmaat Phillips rufen: »Mein Gott, die haben aber ‘was aufs Dach gekriegt!« Und dann roch er – sie alle rochen es – den beizenden Rauch, der 160
stromab trieb, und entdeckte, als er sein Glas auf ein großes Lagerhaus dicht hinter dem Gladstone Dock richtete, daß es vom Dach bis zum Grund auseinandergerissen war: die eine Hälfte war ein riesiger Schuttberg, der stehengebliebene Rest war verkohlt und schwelte. Und nun zeigte ihm sein Fernglas, als er es quer über die Stadt und nach Birkenhead hin wandern ließ, viele solcher Gebäude und zahlreiche kleine Häuser, die zerstört inmitten eines großen ausgebrannten Bezirks lagen. Zum Teil brannten sie noch, und über dem Nordteil der Stadt lag eine schwere Rauchdecke, darunter sah er Lücken von ganzen fehlenden Straßen und verunstaltete, zerfetzte Häuserreihen. Er ließ das Glas sinken, erschüttert vom Ausmaß der Vernichtung, der Zerstörung einer Stadt, die bei ihrem Auslaufen blühend, unversehrt und lebendig gewesen war. Und dann fiel sein Blick auf einen jungen Matrosen seiner Vorschiffsgruppe, der, wie er wußte, erst kürzlich seine Frau nach Liverpool geholt hatte. »Wie – wie sieht es denn aus, Sir?« der ihn zögernd. »Nicht sehr schön, leider«, antwortete Morell. »Haben anscheinend mehrere Angriffe hintereinander gehabt.« »Die Hunde!« sagte Phillips. »Sehen Sie mal die Häuser da…!« Der Qualm und die verpestete Luft, der Geruch der Zerstörung, schlug ihnen stark, in dichten Schwaden, über den Fluß entgegen: das war ihre Heimkehr. Von der Signalstation bekamen sie Weisung, sofort ins Gladstone Dock einzulaufen. »Ich hoffe, daß es unsern Öler nicht erwischt hat«, sagte Ericson, als Wells das Signal ablas, »der würde ja wie ein Feuerwerk hochgehen.« Er hatte vorher schon sein Glas nach Birkenhead hinüber gerichtet, wo sein eigenes Haus stand: dort mußten die Bomben besonders gewütet haben, als hätten die Flugzeuge beim Versuch, in die Hafenbecken zu treffen, irrtümlich die sauberen Häuserreihen für die Kais gehalten und triumphierend ihre Last auf sie geworfen. Oder war es ihnen einerlei gewesen, wohin sie trafen? Plötzlich schor Compass Rose aus dem Kurs, und Ericson rief scharf: »Achten Sie aufs Ruder, Bootsmann!« Und durchs Sprachrohr kam sofort Tallows Stimme: »Entschuldigung, Sir.« Wobei Ericson einfiel, daß er nicht der einzige war, dem es naheging, was in Birkenhead passiert sein mochte. Er ließ die Fahrt verlangsamen und Kurs auf die flache steinerne Einfahrt zum Gladstone Dock legen. Nur gut, daß sie bald Bescheid wissen würden und nicht erst auf Ungewisse Post oder unklare Gerüchte warten mußten, um das Schlimmste zu erfahren! Als sie auf die südliche Pier des Hafenbassins zusteuerten, lief ein Leinenkommando von sechs Mann vom nächstliegenden Zerstörer schon neben dem Schiff her, um ihre Leinen wahrzunehmen. Die erste Wurfleine sauste vom Schiff hinunter 161
und verband sie nach vierzehn Seetagen wieder mit dem Land. Bootsmaat Phillips, der in der Spitze des Vorschiffs stand, rief hinüber: »Was ist hier denn los gewesen?« Einer von dem Leinenkommando, ein Matrosenhauptgefreiter, blickte schief lächelnd zu ihm empor und schrie zurück: »Da haben Sie ‘was verpaßt, Bootsmaat! Acht Nächte hintereinander – da war alles dran! Jede Nacht sind die Bomber in Schwärmen gekommen, so dicht wie die Spatzen! Die haben die Stadt vielleicht zusammengehauen – das kann ich Ihnen sagen!« »Weiter«, rief Phillips. »Wo ist es am schlimmsten?« Der andere machte ein paar nichtssagende Gesten. »Überall schlimm, glaube ich: in Bootle, Birkenhead, Wallasey. Und unten in der Stadt auch. Die Lord Street existiert nicht mehr, da hat’s schwer eingeschlagen, auf beiden Seiten. Schlimmste Bombenangriffe des Krieges, stand in der Zeitung. Ich möchte auch keine schlimmeren erleben! Hier, gerade hier an der Pier lag ein Munitionsdampfer, der brannte lichterloh, aber sie haben ihn noch bis in die Flußmitte geschleppt, ehe er hochging.« Wieder gestikulierte er, aber lebhafter: »So ein Ding habe ich noch nicht erlebt. – Geben Sie die Vorleine rüber.« Von der Brücke über ihnen rief eine auffallend kühle Stimme: »Aufhören da mit dem Gerede – machen Sie die Leine fest!« Phillips warf dem auf der Pier stehenden Mann einen Blick zu, der als Antwort mit dem Kopf nickte. Sie wußten beide genau, wie weit sie bei so einem Gespräch im Dienst gehen durften. In wenigen Augenblicken war das Schiff festgemacht. Ericson hatte von der Brücke aus die Maschinen abgeklingelt, und wandte sich an Lockhart: »I.W.O.« »Sir?« »Wahrscheinlich werden viele um Sonderurlaub bitten. Streichen Sie lieber den normalen Urlaub und schicken Sie zuerst die Leute an Land, die in der Stadt wohnen oder Verwandte haben.« »Aye, aye, Sir.« »Und daß die Leinen tadellos belegt werden. Ich gehe an Land, telephonieren.« Auf das Telephon gab es viele Anwärter: in einer Reihe warteten die Männer vor der einzigen Zelle auf der Pier, voll Sorge, ob sie Verbindung zu ihren Angehörigen bekommen würden. Sie warteten geduldig, sprachen aber nicht miteinander. Ericson bekam seinen Anschluß und unterhielt sich kurz mit seiner Frau: sie schien bedrückt, war aber wenigstens vorhanden. Ferraby, dessen kleines Haus am Stadtrand lag, erfuhr auch zum Glück, daß nichts passiert war, doch Tallow konnte seine Nummer nicht bekommen, 162
sondern hörte nur das hohe schrille Zeichen ›Leitung gestört‹. Als er wieder an Bord war und sich rasch im Waschraum kämmte und rasierte, um an Land zu gehen, sagte Watts vorsichtig: »Ich möchte gern mit dir gehen, Bob.« Tallow nickte beim Rasieren. »Gut, Jim, komm nur mit.« »Vielleicht sind bloß die Telephonleitungen beschädigt«, sagte Watts nach einer Pause. Wieder nickte Tallow. »Ja, das wird’s wohl sein.« Aber als sie dem Haus näher kamen, nachdem sie die Fähre über den Fluß genommen hatten, mußten sie immer deutlicher erkennen, daß es nicht nur an der Telephonleitung lag. Vom Fährponton führte der Weg zur Dock Road bergauf: sie kamen nur langsam weiter, weil die Straßen von Trümmerschutt, Glas und zerschmetterten Balken blockiert waren. Ihren ganzen Weg begleiteten die Spuren zerstörter Häuser und der Gestank der erst allmählich verlöschenden Brände. Sie sprachen nicht miteinander: die grausame Vernichtung ringsum sagte genug, und sie brauchten kaum zu raten, was sie gleich vorfinden würden, denn mit jedem Schritt, den sie taten, sah es schlimmer aus, jeder kleine Laden und jedes Häuschen war zur Ruine geworden. Und auf einmal bogen sie, Seite an Seite, flott aussehend und wie echte Seeleute in ihren schneidigen Uniformen, um die letzte Ecke, oder vielmehr um die Stelle, wo die Ecke gewesen war – und blickten die Dock Road hinunter. Von ihrer Straße war nicht viel übriggeblieben: außer den beiden Eckhäusern neben ihnen lagen etwas weiter noch drei Häuser in Trümmern, dann kam ein großer Trichter mitten auf der Straße, und dahinter wieder der unförmige Schutthaufen eines über die Straße gestürzten Hauses. Da mußte eine ganze Bombenreihe niedergegangen sein, die Einschläge saßen genau wie die Knopflöcher an einem Kleid… Tallow blickte gequält über die schweren Zerstörungen und sagte überrascht, aber mit fatalistischer Ruhe: »Das da drüben ist es, Jim – ich weiß es genau.« Dann fing er an zu laufen. Watts, den dieselbe Unruhe trieb, hielt plötzlich Schritt mit ihm: an dem ersten Trümmerhaufen vorbei, am zweiten, an dem Krater im Fahrdamm und weiter bis zur letzten zerschmetterten Ecke. Haus Nummer 27 war halb auseinandergeborsten, ebenso Nummer 31. Und Nummer 29 hatte einen Volltreffer bekommen. Dock Road Nummer 29 –! In der hellen Nachmittagssonne sah das Wrack des kleinen Hauses häßlich und schäbig aus: zerfetzte Tapeten flatterten im Wind, eine halbe Treppe hing in groteskem Winkel von einer zackigen Wand, ein Küchenausguß ragte wie ein plumper Hausaltar aus einem Haufen Steinschutt. Das Haus 29 war vollständig zusammengebrochen, die Trümmer hatten den Garten und die Straße überschwemmt: die Glassplitter und der 163
Schutt knirschten unter ihren Füßen, als sie vor der Ruine haltmachten. Das war kein Haus mehr, dieser Ort, wo Tallow sich zwischen seinen Reisen so behaglich und zufrieden ausgeruht und Watts unsicher seinen Heiratsantrag gestammelt hatte, wo Gladys ihnen immer ein warmes freundliches Heim geboten hatte: hier lag nur noch eine formlose Masse, ein Haufen Schmutz und Schutt, über dem, wie ein letzter böser Fluch, der Geruch von kalter ausgebrannter Asche lag. Ein paar Männer vom Bergungstrupp, in staubbedeckten blauen Overalls, stocherten in den Trümmern wie Straßenreiniger, die nicht wissen, was sie eigentlich suchen. Nach kurzem Zögern sprach Tallow den ihm nächststehenden an, einen großen Menschen mit weißem Stahlhelm: »Wie ist das denn passiert?« fragte er. Der blickte ihn kaum an und sagte: »Fragen Sie doch nicht so einen Quatsch, – ich habe zu tun.« »Es ist mein Haus«, sagte Tallow tonlos. »Oh –!« Der Mann richtete sich auf. »Entschuldigen Sie, Kamerad – aber Sie glauben nicht, was hier für Neugierige rumlaufen.« Er sah Tallow jetzt voll Mitgefühl an. »Das war ‘n Volltreffer hier, bei einem der mittleren Angriffe, vor ungefähr fünf Tagen. Seid in See gewesen, was?« »Ja. Eben eingelaufen.« Neben ihm sagte Watts: »Wir hatten ja keine Ahnung davon.« Dann schwiegen sie, während Staub aufwirbelte und niedersank. Mühsam brachte Tallow schließlich seine Frage heraus: »Wieviel Leute waren denn drin?« Der Mann im Stahlhelm sah ihn nicht an, er deutete über die Straße: »Fragen Sie lieber da drüben in dem Raum nach, beim Luftschutz. Die kümmern sich um all diese Sachen.« »Aber – was ist denn aus den Leuten hier geworden? Wissen Sie’s oder wissen Sie’s nicht?« Diesmal sah ihm der andere voll ins Gesicht, während er nach einer passenden Antwort suchte: »Viel Hoffnung ist da leider nicht, Kamerad – nach so einer Bescherung. Wir haben sie ‘rausgeholt. Zwei Frauen. Ihre Namen weiß ich nicht. Die drüben beim Luftschutz, die wissen genauer Bescheid.« »Waren sie tot?« fragte Tallow. Wieder ein Zögern. Dann kam es: »Ja, das waren sie.« Auf ihrem Gang über die Straße zum Luftschutzposten sagte Tallow: »Das ist gewiß Mrs. Crossley gewesen, die saß oft abends bei Gladys.« In dem Wachraum, einem Ziegelsteinbunker an der Straßenecke, saßen drei Männer kartenspielend am Tisch: zwei junge und ein älterer mit grauen Haaren. Als Tallow und Watts, die sich unter dem niedrigen Durchgang bücken 164
mußten, eintraten, blickte einer der jüngeren auf und rief, indem er Aufregung markierte: »Achtung, Jungs, jetzt kommt die Marine!« Der ältere legte seine Karten beiseite und sagte: »Ihr kommt gerade zurecht für ‘ne Tasse Tee. Ich sehe die Marine immer gern.« »Ich heiße Tallow, Dock Road Nummer 29«, sagte Tallow knapp. Er machte eine Kopfbewegung nach hinten. »Das Haus da gegenüber, verstehen Sie. Was ist da passiert?« Lange schwiegen alle betroffen. Die drei Männer, denen das Lächeln vergangen war, schämten sich ihrer lustigen Begrüßung und starrten Tallow an. Dann begann der alte Luftschutzwart stotternd: »Mr. Tallow – jawohl. Das war also Ihr Haus, nicht wahr? Tut mir leid, tut mir wirklich leid.« Er kramte zwischen Papieren auf dem unpolierten Brettertisch, um seine peinliche Verlegenheit zu verbergen. »Mr. Tallow – ich habe natürlich alles ans Rathaus gemeldet. Zwei Todesfälle, jawohl, – hier habe ich’s notiert: Mrs. Bell, Mrs. Crossley –haben Sie denn gar keinen Bescheid bekommen?« »Wir sind eben erst eingelaufen. Waren vierzehn Tage draußen. Wann ist es passiert?« »Fünften Mai. Vor fünf Tagen also.« Er las die Namen noch einmal. »Mrs. Bell, Mrs. Crossley. Sind das vielleicht Verwandte von Ihnen?« Tallow schluckte. »Mrs. Bell war meine Schwester, Mrs. Crossley eine Freundin von ihr.« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Tut mir sehr leid, das zu hören. Wenn wir Ihnen irgendwie behilflich sein können –« Der Jüngere, der sie so munter begrüßt hatte, stand plötzlich auf und sagte ganz ruhig: »Nimm dir ’s nicht zu sehr zu Herzen, Kamerad. Hier, setz dich ein Weilchen hin.« »Wann war die Beerdigung?« fragte Tallow. Er setzte sich nicht. »Vor zwei Tagen.« Der junge Mann hustete. »Es waren nämlich auch noch andere dabei. Zusammen einundzwanzig.« »Einundzwanzig? Alle von unserer Straße?« »Ja. Es war eine böse Nacht.« Watts, der hinter Tallow im Durchgang stand, rührte sich jetzt. »Wo war sie? Die Beerdigung, meine ich.« »Friedhof Croft Road.« Diesmal antwortete der Ältere wieder. »Es war sehr geschmackvoll, das können Sie mir glauben: der Bürgermeister und die Behörden nahmen teil. Alle Toten wurden gemeinsam in ein großes Grab gelegt, und die vielen Blumen –«, er machte eine Pause und sprach plötzlich in anderem Ton weiter: »Sie können gar nichts gespürt haben, Mr. Tallow. In einer Minute war alles vorbei, – in einer Sekunde. Da haben sie bestimmt 165
nicht gelitten.« »Nein«, sagte Tallow, »das kann ich mir denken.« »Ist ja ein gewisser Trost«, sagte der Alte sanft. »Ja«, sagte Tallow. »Ich danke Ihnen. Komme in ein paar Tagen wieder vorbei.« Der Sonnenschein draußen traf sie sehr grell, als sie aus dem Halbdunkel des Luftschurzraumes herauskamen. Die beiden Männer standen, ohne sich anzublicken, nebeneinander und starrten auf die Reste des Hauses und die über den Schutt kletternden Arbeiter. Im Vorgarten spielten ein paar Kinder: sie packten Steine zu einer Mauer aufeinander und stießen sie um. Ein staubiger und verlassener Friede lag über allem. »Es tut mir sehr leid, Bob«, sagte Watts nach längerem Schweigen. »Wirklich sehr.« »Auch mir, Jim. Deinetwegen, meine ich. Ich weiß, was du gefühlt hast. Der Verlust trifft uns beide.« Tallow richtete sich plötzlich auf. »Ja, so ist das nun mal. Komm, laß uns weitergehen.« Langsam begann er die Dock Road zurückzugehen, während Watts mit ihm Schritt hielt. »Komisch ist das«, sagte Tallow, als sie an dem zackigen Bombentrichter vorbeikamen, »aber ich kann es eigentlich immer noch nicht glauben.« Er schaute in den Himmel, den unschuldigen und so trügerischen Himmel. »Es ist ja wirklich so sinnlos«, fuhr er fort, Schmerz und Enttäuschung in der Stimme: »Da kommst du von See zurück, freust dich wirklich, daß du wieder da bist, und dann gehst du nach Hause und mußt sehen, daß die Menschen, die du lebendig und glücklich anzutreffen denkst, tot sind und schon begraben wurden, als du noch zwei Tagereisen vom Hafen warst. – Es ist so sinnlos«, wiederholte er unsicher. »Jim, ich glaube, ich muß einen trinken…« Nachdem sie vier weitere Geleitfahrten hinter sich hatten, die nicht minder anstrengend und aufregend verliefen als fast alle anderen auch, kam jetzt im Hochsommer das, was sie seit vielen Monaten erhofft hatten: Compass Rose mußte in die Werft, und daraus ergab sich ein langer Urlaub, der erste längere seit der Indienststellung des Schiffes. Und diese Erholung wünschten sich alle. Viele hatten sie dringend nötig, denn das Bordleben bei den Geleitzügen im Atlantik wurde immer anstrengender, die Strapazen nahmen ein kritisches Ausmaß an und beanspruchten Nerven und Geduld der Männer ebenso wie die Leistungsfähigkeit ihrer Schiffe. Das zeigte sich an Kleinigkeiten: Urlaubsüberschreitungen in Formen, die keine Straffreiheit zuließen, Streitigkeiten in der Messe, plötzliche kleine Diebereien in den Mannschaftsräumen. 166
Das einzige Mittel dagegen war eine richtige Ruhezeit: frei von Dienst und Disziplin und frei von Gefahr. Solange sie sichere Aussicht auf diese Ruhe hatten, vermochten sie ihre Last weiter zu tragen und bis zum Ende durchzuhalten, doch ohne so eine Pause konnten Mißstimmungen schnell um sich greifen und die Leistungen erschreckend sinken. Compass Rose selbst brauchte diese Erholung ebensosehr wie ihre Besatzung, da es in fast zwei Jahren, seitdem sie am Clyde vom Stapel gelaufen, ihre erste größere Dienstpause war. Abgesehen von notwendigen kleineren Reparaturen gab es viel zu tun, um das Schiff den Leistungen der neuesten Korvetten anzugleichen, da inzwischen Bauart und Bewaffnung verbessert worden waren und somit auch eine stärkere Besatzung erforderlich wurde. Compass Rose sollte eine ganz neue, geräumigere und geschütztere Brücke bekommen, und der Mast sollte hübsch korrekt dahintergesetzt werden, wie es sich für Marinefahrzeuge gehörte. Ferner bekamen sie nun einen ordentlich ausgestatteten Verbandsraum, eine neue Wasserbombenreling und neue Werfer und ein sehr verfeinertes Horchgerät, das sozusagen alles konnte, nur nicht den Namen des gegnerischen U-Boots nennen. So ergaben sich Änderungen und Ergänzungen in Menge. Compass Rose überließ sich dankbar den Händen der Werft, wandte sich ganz von der See ab und war bereit für die sechswöchige Verjüngungskur. Da zwei Drittel der Besatzung auf Urlaub waren und Lockhart jetzt in der Messe nur noch Baker zur Gesellschaft hatte, spürte er diese allgemeine Entspannung besonders stark. Er hatte seinen eigenen Urlaub verschoben, um die Neuausrüstung ordnungsgemäß überwachen zu können. Es gehörte zu seinen besonderen Pflichten, und wenn er jetzt durchs Schiff ging, um die vorgesehenen Reparaturen und Veränderungen an Ort und Stelle mit der Liste zu vergleichen, war er merkwürdig enttäuscht, daß Compass Rose so rasch ganz zum Stillstand gekommen war. Hätte sie nicht noch länger weitermachen können? Erst vor ein paar Tagen war sie, ein voll funktionierendes Ganzes, von See hereingekommen, flott und den tüchtigen Händen einer gut disziplinierten Mannschaft anvertraut, und jetzt war auf einen Schlag der ganze Betrieb eingestellt, und sie lag an der Pier wie ein abgetakeltes, zum Verschrotten bestimmtes Schiff, schmutzig und unordentlich. Ihre Kessel waren kalt, ihre Männer fort, ihr Triebwerk stand still. Er konnte es kaum glauben, daß sie so schnell und so gründlich ›herunterkommen‹ konnte. Er sah den Arbeitern zu, die mit Azetylenbrennern große Flächen aus der Brücke schnitten, beobachtete, wie die Funken auf die überflüssig gewordene Plattform sprühten, von der das Geschütz abmontiert war. Traurig ging er nach achtern, wo die Schweißer, die an der neuen Wasserbombenreling arbeiteten, die alte zu phantastischen Formen zerbogen hatten. Er wußte, daß 167
Compass Rose stärker und besser aus all diesem hervorgehen würde, aber jetzt während der allgemeinen Auflösung bedauerte er, daß ein so tadelloses gepflegtes Schiff vollkommen den Eindruck der Aktionsfähigkeit verlieren konnte. Aber es gab während der ersten Werfttage Dinge, die ihm noch weniger gefielen. Wider Willen mußte er die disziplinierte und fröhliche Besatzung von Compass Rose und die endlose schwere Arbeit, die sie Tag für Tag wie selbstverständlich leisteten, mit dem vergleichen, was bei den Werftarbeitern unter ›Kriegsanstrengung‹ verstanden wurde. Vielleicht war dies eine schlechte Werft, aber ob schlecht oder gut: der Gegensatz fiel auf und ließ unerfreuliche Schlußfolgerungen zu. Einige Leute arbeiteten fleißig und ehrlich, aber das waren Ausnahmen. Die meisten taten alles schlendernd und nachlässig, redeten viel, verdrückten sich jeden Tag ein dutzendmal und machten so pünktlich Feierabend, daß sie, wenn die Sirene ertönte, bereits über die Stelling nach Hause strebten. Oft überraschte Lockhart eine Gruppe beim Kartenspiel unten im Maschinenraum, wo der Werkmeister sie nicht sah: eine Partie hartnäckiger Pokerspieler versammelte sich jeden Nachmittag im Horchraum, verschloß die Tür und spielte bis fünf Uhr durch, taub für alles außer dem Kartengeben. Wenn er sich überlegte, was für ein sicheres Leben diese Männer führten, daß sie keiner Disziplin und keinem Zwang unterlagen, daß sie am Ende jeden Tages nach Hause gehen konnten, ihre Arbeit auf feste Stunden begrenzt war und sie dafür sehr viel mehr bezahlt bekamen als ein Matrose an Bord, mußte er an sich halten, um seine Ungeduld und Verachtung für diese Leute, die so widerwillig und lustlos ihre Pflicht taten, nicht laut zu äußern. Denn auch für sie kämpften und starben die Seeleute. Aber wenn man sie so aus der Nähe sah, verdienten sie das wohl kaum. Einmal erschien Tallow höchst empört bei ihm. »Kommen Sie bloß mal mit und sehen Sie sich das an, Sir«, sagte er, kaum fähig zu sprechen und führte ihn zum Bootsdeck. Neben den Booten lagen die Rettungsflöße, die mit Paddeln ausgerüstet waren, einem Fäßchen Trinkwasser und einem wasserdichten Kanister mit Proviant für etwa eine Woche. Zwei solche Flöße gehörten zum Schiff, also mußten zwei Behälter mit Proviant da sein: jetzt, nach einer Woche auf der Werft, waren beide verschwunden. »Diese verdammten Werftheinis!« sagte Tallow mit bei ihm ganz ungewohntem Freimut. »Proviant zu stehlen, der torpedierten Leuten das Leben retten kann! Bei Gott, ich möchte ein paar von den Kerlen mitten im Atlantik auf so ein Floß packen und dann mal sehen, wie sie fertigwerden! Können wir denn gar nichts dagegen unternehmen, Sir?« »Leider wohl nicht.« Lockhart untersuchte enttäuscht die geplünderten Flöße. Er hatte in den letzten Tagen so mancherlei erfahren müssen. »Wir 168
können uns natürlich beschweren, – ich werde mal zum Werftinspektor gehen – aber damit kriegen wir die Sachen nicht zurück, und die Leute werden deswegen auch nicht einsehen, was für ein Verbrechen sie begangen haben.« Er blickte Tallow an. »Die haben eben eine andere Auffassung vom Kriege als wir, und damit ist alles gesagt.« »Wäre Zeit, ihnen die richtige beizubringen«, murmelte Tallow zornig. »Und das sind die Burschen, die einfach streiken, wenn’s ihnen beliebt – mehr Lohn, weniger Arbeit und sich nur ja nichts vom Vorarbeiter sagen lassen! Ich wünschte, die kämen mal an unsere Stelle – bloß für eine Reise –. Dann wüßten sie, wann sie’s gut gehabt haben!« Wenn die Seeleute in den Hafen zurückkehrten und Zeitungsberichte von Streiks lasen, konnten sie sich manchmal wirklich mit Recht fragen, wofür sie denn eigentlich kämpften… Es war einfach gegen den gesunden Menschenverstand, daß man, sobald man eine Uniform trug, jeden Befehl haargenau und ohne Widerspruch ausführen mußte, und zwar für lächerlich geringen Lohn und unter äußerst ungemütlichen Verhältnissen, während andere, die weiter Zivil trugen, aber durch den Krieg ebensoviel zu gewinnen oder zu verlieren hatten – das Vaterland sozusagen erpressen durften, bis sie genau erreicht hatten, was sie wollten. Die Seeleute redeten nicht viel darüber, weil ihr Dienst sie vollauf beanspruchte und sie sowieso nicht viel sprachen, aber diese Tatsache stand fest und äußerte sich vielleicht am peinlichsten im sogenannten schwarzen Markt, bei den Leuten, die sich Lebensmittel und Benzin, für deren Transport nach England andere ihr Leben gegeben hatten, ›extra‹ verschafften. Dieses ganze erbärmliche Schiebertum war so enttäuschend für sie und konnte sie in wilde Wut versetzen, die alle Freude an ihrer Aufgabe, allen Stolz auf erfüllte Pflichten beeinträchtigte. Normalerweise hätte Ericson während der Neuausrüstung seines Schiffes wohl die meiste Zeit an Bord verbracht: der Versuchung, recht oft in der Nähe von Compass Rose umherzustreifen, während so vielerlei erstaunliche Neuerungen an ihr vorgenommen wurden, war schwer zu widerstehen. Da jedoch jetzt zum erstenmal seit Kriegsbeginn sein Urlaub mit dem seines Sohnes zusammenfiel, lag ihm natürlich sehr daran, so viel wie möglich zu Hause zu bleiben, um dieses Beisammensein auszunutzen, denn sie wußten nicht, wann sie sich einmal wiedersahen, oder ob der Krieg sie vielleicht sogar endgültig trennen würde. John Ericson junior hatte seine Ausbildungszeit hinter sich und war jetzt Vierter Offizier: die blaue Uniform mit dem einzelnen Goldstreifen paßte nicht ganz zu seiner ungelenken, noch knabenhaften Figur, und als sein Vater ihn jetzt verstohlen beobachtete, wie er auf dem Sofa saß, das er noch vor wenigen Jahren für Kletterpartien oder als 169
Schaukelpferd benutzt hatte, vermochte er kaum zu glauben, daß der Junge schon mit Recht die Kleidung eines Mannes trug. Wie rasch war er erwachsen, sozusagen hinter Ericsons Rücken, und – wie erstaunlich war es, daß er fast die gleiche Aufgabe hatte wie sein Vater… Abends am Kamin schien die Familie der rauhen Wirklichkeit ganz entrückt. Ericson hatte es sich in seinem Lehnsessel bequem gemacht, Grace in der einen Sofaecke strickte eifrig, in der andern zog John, der nun so erstaunlich erwachsen war, an seiner blanken neuen Shagpfeife. Und Ericson gegenüber, im anderen Sessel, löste die alte Dame ihre Kreuzworträtsel, bei denen die ganze Familie ihr zur Verfügung stehen mußte. Ericson fand seine Schwiegermutter ein bißchen sanfter als früher, aber nicht sehr; sie versuchte noch immer, das Haus zu regieren, benahm sich noch immer, als sei sie der einzige Erwachsene in einem Haushalt von Kindern. Ein Glück, daß er so selten daheim war und sich auf Compass Rose zurückziehen konnte, wenn ihm die Dinge auf die Nerven gingen. Denn die alte Dame hatte sich jetzt fest auf ihrem Platz eingenistet, sie wich und wankte nicht mehr: sie hatte sich für ständig hier niedergelassen, und der Haushalt war zu einer Umgruppierung gezwungen worden, die als natürliche Ordnung anzuerkennen vom Kommandanten eines Kriegsschiffs Seiner Majestät kaum verlangt werden konnte. Auch ihr Gespräch hatte etwas Unwirkliches. Sie sprachen über alles, nur nicht von dem, was ihre Gedanken am meisten beschäftigte: von der Gewalt, die sie hier zusammengebracht hatte und sie jeden Moment wieder trennen konnte: – vom Krieg. Ericson und sein Sohn hatten durchaus beide den Wunsch, davon zu reden, fühlten sich aber vor den Frauen merkwürdig gehemmt: wenn sie so am Kamin saßen, wurde ihnen klar, daß sie vieles, was ihre gemeinsame Arbeit betraf, hier nicht aussprechen konnten. Wenn sie das Thema überhaupt einmal berührten, geschah es höchstens, um sich in der zwischen Kriegsmarine und Handelsschiffahrt üblichen Weise anzupflaumen: nur scherzhaft konnten sie über ihre Zusammenarbeit reden, indem sie kleine charakteristische Unterschiede erwähnten: die abweichenden Ruderkommandos, ihre verschiedene Bezahlung und ähnliche, völlig unbedeutende Kleinigkeiten. Es kam dann vor, daß Grace sie unterbrach und sagte: »Es ist doch sicher ganz egal, wie schnell eine Korvette läuft, denn ihr müßt doch alle zusammenbleiben, nicht wahr?« Oder die alte Dame, die im Abendblatt kritzelte, brummelte: »Ein Wort mit dreizehn Buchstaben, das ›Nutzlosigkeit‹ bedeutet?« Und dann half die ganze Familie, das schwerwiegende Problem zu lösen. So saßen sie Abend für Abend da: zwei Männer, zwei Frauen, dicht beieinander und doch weit voneinander entfernt – der Krieg bedrückte sie, aber sie 170
wichen jedem Gedanken daran auf möglichst bequeme Art aus. Ein einziges Mal während ihres Zusammenseins hatten Ericson und sein Sohn Gelegenheit zu einem richtigen Männergespräch. Das war kurz bevor Johns Urlaub ablief: Ericson hatte seinem Jungen aus einem unbestimmten Verlangen nach Kameradschaft eine Omnibusfahrt über Land und eine lange Wanderung durch die Moore von Cheshire vorgeschlagen. So fuhren sie hinaus durch die häßlichen Vororte von Birkenhead und die dahinterliegenden Siedlungen mit den eintönigen Reihenhäusern. Nachher wanderten sie in nordwestlicher Richtung dem Meere zu. Vier Stunden gingen sie im warmen Sonnenschein dahin, der Brise entgegen, die von der Irischen See und vom weiten Atlantik her wehte. So allein in der Natur, in der Heimat, die sie liebten, kamen sie einander näher und unterhielten sich nun, wie sie es vielleicht in See auf gemeinsamer Wache in einer ruhigen Nacht getan hätten. Von ihrer Aufgabe sprachen sie, die ihr ganzes Denken beherrschte: von dem, was die Geleitzüge durchzumachen, von den Schiffen und Freunden, die sie verloren hatten, von der Wahrheit hinter den Statistiken, von den nichtssagenden oder irreführenden Zeitungsmeldungen. Aber erst am späten Nachmittag, als sie die Nordwestküste erreicht hatten und an einem Abhang zum Meer lagen, von wo sie fern am Horizont eine Kolonne von Schiffen in den Atlantik hinausziehen sahen, sprachen sie endlich ganz ungehemmt und ohne Scheu und enthüllten einander ihre geheimen Gedanken. »Es ist glatter Mord und weiter nichts, Papa«, sagte John Ericson, als sie die Ereignisse der letzten Monate und die beängstigend angestiegene Versenkungsziffer erwähnten. »Anders kann man es doch gar nicht bezeichnen – einem Geleit nach dem andern passiert dasselbe, nur jedesmal noch schlimmer. Wie lange will man uns denn immer und immer wieder in See schicken, wenn einwandfrei feststeht, daß nur die Hälfte der Schiffe zurückkommt?« »Es gibt aber auch Geleitzüge, die gut durchkommen«, ergriff Ericson die Verteidigung. »Verdammt wenige. – Oh, wir machen den Sicherungsfahrzeugen keinen Vorwurf – die tun bestimmt alles, was möglich ist und machen ihre Sache sehr ordentlich. Ich meine aber: das ganze System der Geleitfahrten scheint nicht zu klappen. Darüber müßtest du mal unsern Alten reden hören! Wir könnten jederzeit fünfzehn Meilen laufen, und dabei müssen wir mit sieben oder acht dahinkriechen, für drei Wochen an den Geleitzug gebunden, und bilden ein fast stillstehendes Ziel für die U-Boote!« »Aber du fährst im Geleit besser, als wenn du allein durch die Gegend dampfst: die Zahlen beweisen das.« »Das Gefühl hat man aber nicht, wenn ringsum die Torpedos sausen und vom Kommodore nie ein anderes Signal kommt als ›Geleitgeschwindigkeit 171
einhalten!‹ – Und dann siehst du die Schiffe und die Leute, die du kennst, in die Luft fliegen oder absaufen oder von Bomben zerfetzt – immer wieder, wenn du draußen bist. Manchmal komme ich mir vor, als wenn –« Er stockte. »Was denn, John?« »Hast du noch nie Angst gehabt, Papa?« Das junge Gesicht, das seinem eigenen so ähnlich sah, wandte sich ihm besorgt fragend zu. »Ich meine: richtige Angst – daß du zitterst – wenn du weißt: jetzt kommt ein Angriff?« »Ich glaube, die haben wir alle…« Ericson lag auf dem Rücken, blickte in den blauen und goldenen Himmel und sprach möglichst gleichmütig weiter. »Von mir selbst jedenfalls weiß ich’s. Es kommt nur darauf an, das so wenig wie möglich merken zu lassen – weil es ansteckt – und jeder muß versuchen, seine Aufgabe ebenso gut zu erfüllen als wenn er keine Angst hätte.« Er betrachtete sehr aufmerksam einen kleinen Büschel Heide. »Angst haben ist gar nichts Besonderes, John: wenn ein Mann, der unsere Arbeit zu leisten hat, dir erklärt, er hätte keine, dann lügt er entweder oder ist ein so sturer Dummkopf, daß man mit ihm gar nicht reden kann.« »Mich packt’s manchmal ganz schön – « »Na, du lügst wenigstens nicht.« Sie lachten beide. Sie verstanden sich so gut und waren sich so nahe wie noch nie zuvor. »Ich denke viel an dich, Papa, wenn ich draußen bin«, fuhr John nach einigem Schweigen fort. Auch er sah in den Himmel, der jetzt vor der herabsinkenden Nacht rasch seine Farben verlor. Die ferne Linie zwischen See und Himmel begann zu verschwimmen, als die Sonne im Meer verschwunden war. »Besonders, wenn ich die Korvetten rund um den Konvoi jagen sehe. Die sind so unwahrscheinlich klein…« »Es hat auch seine Vorteile, nur ein kleines Ziel zu sein.« »Und es hat auch seine Vorteile, beim Sturm im Atlantik zehntausend solide Schiffstonnen unter den Füßen zu haben.« »Ich denke auch an dich, John.« Ericson, der diese Augenblicke voller Vertrauen, die ersten seit der Kindheit seines Jungen, dankbar genoß, wußte kaum, wie er das, was ihm noch durch den Kopf ging, in Worte fassen sollte. »Wir tun beide den gleichen Dienst«, sagte er, »und wissen, was das heißt. Da ist es wohl begreiflich, wenn ich um dich besorgt bin. Besorgt und – auch stolz auf dich. Als ich in deinem Alter war, stand ich noch nicht vor so schweren Aufgaben. Riß immer gut auf dich auf, ja? Ich möchte den nächsten Waffenstillstand gern richtig mit dir feiern. – Nun müssen wir aber sehen, daß wir den Zug kriegen, sonst gibt es wieder Krach mit deiner Großmutter.« John lächelte, als er sich erhob. »Sie ist wirklich ein Tyrann, was?« »Auf jeden Fall regiert sie uns ganz stramm.« 172
»Oh, mir macht das nicht viel aus«, sagte John und lachte wieder. »Ich bin ja nicht Kommandant von meinem Schiff –« Im Garten des kleinen Hauses am Rande von Liverpool spielte Ferraby mit dem Baby. Das Kind, ein Mädchen, war nun sechs Monate alt: es war hübsch, kroch noch unsicher auf Händen und Füßen und vermochte in begeistert glucksenden Tönen beinah seinen Namen – Ursula – zu nennen. Ferraby gefielen alle Pflichten und Rechte eines Vaters, ob er nachmittags den Kinderwagen schob oder ein Bad auf die vorschriftsmäßige Temperatur brachte; sogar mitten in der Nacht geweckt zu werden, machte ihm nichts aus. Er empfand dies alles als eine Selbstverständlichkeit, durch die er sich eigentlich erst vollkommen als Vater fühlte. Am liebsten aber mochte er ganz einfach mit dem Kind zusammensitzen, es beobachten, mit ihm sprechen und fühlen, wie sich die winzigen Fingerchen um die seinen krümmten. In diesen Tagen empfand er kein Bedürfnis nach stärkerer Betätigung: sein ganzer Urlaub bestand aus diesen einfachen Zärtlichkeiten, und er wußte nichts, was ihm lieber gewesen wäre. Aber jetzt, als er im Sonnenschein den kleinen warmen Körper auf den Armen hielt und die blütenzarte Haut streichelte, wanderten seine Gedanken weit fort: sie kreisten um Krieg und Sturm – die scheußlichsten Gedanken der Welt. Solche Stimmungen überfielen ihn häufig, und er vermochte sie nicht zu verdrängen. Ob Tag oder Nacht, immer wieder mußte er an Compass Rose denken und daran, wie rasch sein Urlaub verflog. Was mochte nach dieser stillen Ruhepause wieder alles geschehen! Manchmal, wie jetzt, kam ihm die ganze Sinnlosigkeit dieses Gegensatzes zwischen Schrecken und Zärtlichkeit zum Bewußtsein, den Extremen seines jetzigen Lebens. Im gleichen Augenblick empfand er das Angenehme der Gegenwart hier in dem Garten und die Bedrohung durch die Zukunft draußen im Atlantik: er fühlte, daß er nur eins von beiden ertragen konnte, und das war nicht die Zukunft – denn sie war zu hart und bösartig, und er haßte sie von ganzem Herzen. Mit Mavis sprach er schon lange nicht mehr davon, aber dem Baby erzählte er’s zuweilen. Während ihn diese Gedanken und dunklen Vorahnungen quälten, krabbelte das Baby glucksend bis an den Rand der Decke, auf der es lag, und fiel sanft mit dem Gesicht ins Gras. Es fing an zu wimmern, hörte aber gleich wieder auf, als er es in die Arme nahm und an sich drückte. Mavis, durch das beginnende Geschrei aus dem Hause gelockt, blieb auf halbem Wege stehen und sah ihnen glücklich lächelnd zu. ›Der Liebe Gott segne ihn!‹dachte sie. – Wie schön war es, Gordon so unbeschwert und froh zu sehen! Der junge Baker sagte: »Ja, Mutter, ich komme sehr gern mit«, und ging nach 173
oben, um Kragen und Schlips umzubinden. Er hatte in dieser Woche schon dreimal mit seiner Mutter Teebesuche gemacht, denn sie hatte ja soviel Freude daran, ihn herumzuzeigen, daß er ihr diese Wünsche einfach nicht abschlagen konnte. Außerdem wußte er sowieso nichts Rechtes anzufangen. Er verbrachte seinen Urlaub wie stets im kleinen Hause seiner Mutter in einem Vorort von Birmingham. In den ersten Tagen hatte er sich gern verwöhnen lassen, hatte die gute Küche und das wirklich gemütliche Heim genossen und sich als männlicher Mittelpunkt rührender weiblicher Pflege wohlgefühlt. Doch das hatte sich bald gelegt: er mußte feststellen, daß er eigentlich eine andere Art weiblichen Umgangs brauchte und eine ganz andere Zärtlichkeit… Baker war erst neunzehn, ein schüchterner junger Mann, der zu gefallen suchte. Seine normalen und noch unerfüllten Gefühle erhitzten sich sozusagen an dem Feuer zweifelhafter Erotik: er sammelte die Pin-upGirls aus Esquire und ähnlichen Zeitschriften, war auf Magazine abonniert und besaß sogar, unter einem Stapel Oberhemden in seinem Schrank versteckt, eine Serie Postkarten, auf denen die Praxis der Liebe in ungewöhnlichen Variationen dargestellt war. Aber bisher war noch keine erschienen, die seine Träumereien zur Wahrheit machte: die einzigen jungen Mädchen, mit denen er zu Hause zusammenkam, waren die als guter Umgang anerkannten Töchter der Freundinnen seiner Mutter, die ihm nur ausgewählt zu sein schienen wegen ihrer angeborenen Sittsamkeit. In Liverpool war seine einzige weibliche Bekannte eine Marinehelferin in der Verwaltung, die aber viel zu sehr an Karriere dachte, um einem simplen Leutnant besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Sie begegnete seinen tastenden Annäherungsversuchen mit einem Lächeln, das ebenso dünn war wie sein einziger Ärmelstreifen. So verbrachte er seine Stunden an Land und ebenso seinen Urlaub zwischen Hoffnung und Verzweiflung: Hoffnung darauf, daß irgendwo, gleich hinter der nächsten Straßenecke, das so sehr begehrte Mädchen erscheinen würde, und Verzweiflung, wenn auch die nächste Ecke ihn wieder enttäuschte. Es war ja so ungerecht: andere Leute hatten ihre Mädchen und stellten alles Mögliche mit ihnen auf: sogar in den Kinos herrschte in der letzten Reihe immer eine aufregende Geschäftigkeit. Nur er wartete anscheinend noch immer darauf, daß die Richtige kam und sein fruchtloses Verlangen stillte. Unten auf der Treppe hörte er seine Mutter rufen: »Tom! Es wird Zeit.« Und schon zog er seinen Rock an, um hinunterzugehen. Wieder eine Teegesellschaft… Aber man konnte nicht wissen: vielleicht war diesmal das Mädchen da, würde ihm vielsagend zulächeln, und sie würden sich gleich verstehen und sich von der Gesellschaft zurückziehen. Und dann würde sie die wunderbarsten Dinge mit ihm machen, und endlich würde ›es‹ geschehen. Es war auch ein Mädchen dabei, wie sich zeigte, aber sie war furchtbar: 174
ungelenk, bleich und flachbrüstig – keine Erlöserin für ihn. Nein, die hätte er nicht einmal küssen mögen. Da saßen sie nun alle schön ordentlich im Kreis, tranken Tee und aßen Sandwiches mit Gurkenscheiben: Mrs. Keyes, Mrs. Ockshott, Mrs. Henson, seine Mutter, ein älterer Herr, der mit irgend jemand verheiratet war, und das Mädchen, die Tochter von irgend jemand: und er selbst auf dem Ehrenplatz – der junge Seeoffizier, der zwischen gefährlichen Reisen ein kurzes Friedensstündchen erwischte. Das Gespräch drehte sich auch nur um dieses Thema, denn bei solchen Gelegenheiten gab seine Mutter sich ganz offen alle Mühe, aus ihm Näheres herauszuholen, und es war dann empfehlenswert, ihr alsbald nachzugeben und – ordentlich dick aufzutragen. Hier vor lauter Laien war es leicht, aufzuschneiden. »Manchmal ist der Seegang so toll«, sagte er bedächtig kauend, »daß wir überhaupt nichts auf den Tisch setzen können. Wir essen dann die Sachen direkt aus der Dose oder überhaupt nichts.« Die Damen schnalzten bedauernd mit den Zungen, und seine Mutter sagte in besorgtem Entsetzen: »Das muß man sich mal vorstellen!« Er sah, daß die Augen des Mädchens bewundernd an ihm hingen, aber sie war ja so häßlich! Ganz breitbeinig saß sie da, so daß lange Reformschlüpfer zu sehen waren, wie er sie von Reklamebildern kannte, mit Gummizug um die Schenkel. Nein, das war nichts! Er nahm sich noch einen Sandwich. »Ja«, fuhr er unbekümmert fort, »ich weiß noch, wie mir einmal der Steward etwas Corned Beef auf die Brücke brachte. Es war meine erste Nahrung seit – seit zwei Tagen. Und denken Sie, wie komisch: als ich’s vor mir hatte, konnte ich es einfach nicht essen. Vor Erschöpfung, glaube ich…« »Das muß man sich mal vorstellen!« sagte seine Mutter wieder. Und dann: »Erzähl’ uns doch von dem Mann, der am Ertrinken war, Tom. Du weißt doch, als du selbst im Sturm über Bord flogst.« »Ach so, das…!« Das Mädchen hatte noch immer den Blick auf ihn geheftet, aber jetzt die Knie zusammengenommen. ›Dir werde ich’s geben‹, dachte er und reichte ihr seine Teetasse zum Einschenken. »Ach, das war nichts Besonderes«, begann er, indem er sich schnell konzentrierte. »Aber eines Nachts, als der Kommandant nach Freiwilligen rief –« Er erzählte seine Geschichte gut – zu gut fast, nach dem Gesicht des einzigen anderen Mannes in der Runde zu urteilen. Aber die Frauen verschlangen seinen Bericht, und das häßliche Mädchen war förmlich hypnotisiert von seinen Worten und Gesten. Er genoß diese Bewunderung so lange wie möglich, doch auf dem Nachhausewege überkam ihn wieder das Gefühl der Langeweile und Enttäuschung. Was gingen ihn eigentlich diese alten Kühe und das gräßliche Mädchen an? Er vergeudete ja geradezu den besten Stoff… 175
Eigentlich wollte er diese Geschichten, zufrieden vor einem Kamin sitzend, einem anderen Mädchen erzählen – dem Mädchen seiner Träume – während ihr Haupt auf seinen Knien ruhte und sie zu ihm emporblickte und nichts dagegen hatte, wenn sich seine Hand von oben her immer tiefer unter ihr Kleid schob. ›Wie wunderbar wäre es, verheiratet zu sein‹, dachte er, ›richtig verheiratet!‹ Morell saß, an einem Glas Brandy nippend, in dem warmen Wohnzimmer in Westminster, dem seine Frau eine echt weibliche Note gegeben hatte. Er sah immerfort nach der Uhr und wartete darauf, daß er sie endlich vom Theater abholen konnte. Sein Uniformjackett, das auf dem Stuhl ihm gegenüber hing, schien ebenfalls zu warten. Aber sie mußten noch Geduld haben. Fünf Minuten nach zehn erst! Also noch eine halbe Stunde. Zu früh dort zu sein, war zwecklos: Elaine mochte nicht, wenn er sich beim Theater oder in ihrer Garderobe aufhielt, solange sie auf der Bühne war. Mit Abschminken und Umkleiden war sie kaum vor elf fertig. Das war jeden Abend das gleiche. – Draußen auf See hatte er sich ausgemalt, wie er in ihrer Garderobe auf sie warten würde, mit dem Schminkkasten spielend oder im Gespräch mit ihrer Garderobiere, bis Elaine von der Bühne kam. Aber es war ganz anders geworden. – Wie oft hatte er sich schon bei dem Wunsch überrascht, das Stück möchte plötzlich vom Spielplan abgesetzt werden, doch danach sah es wahrhaftig nicht aus, und der Wunsch war auch zu egoistisch: sie wäre ja dann so enttäuscht gewesen…! Ihr Engagement jedenfalls hatte zur Folge gehabt, daß er sie in seinem Urlaub sehr wenig sah: sechs Abende in der Woche Vorstellung und obendrein zweimal Matinee, da blieb kaum Zeit für ihn übrig, selbst wenn er die besonderen Verabredungen – zum Lunch, zum Dinner, zu Cocktail Parties – gar nicht rechnen wollte, die offenbar bei einem West-EndErfolgsstück unumgänglich waren. Er trank langsam seinen Brandy, bis der Uhrzeiger auf halb zukroch. Obwohl er wußte, daß er sie nun gleich wiedersah, war er verdrießlich und nervös, denn er konnte sich dieses Wiedersehen nicht glücklich vorstellen. Anfangs hatte Elaine ganz aufrichtig bedauert, daß sie nur so wenig Zusammensein konnten. »Ach, Darling, es ist eine Schande«, hatte sie am Abend seiner Ankunft gerufen, »gerade jetzt, wo du deinen großen Urlaub bekommst, muß ich eine Rolle in einem Stück haben, das bestimmt lange laufen wird. – Aber laß nur«, hatte sie hinzugefügt, indem sie ihr Gesicht gegen seine Schulter preßte, »hole mich vom Theater ab, dann gleiche ich nachher alles wieder aus, ja?« Und als er sie an dem Abend beim Bühneneingang in Empfang genommen und nach Hause gebracht hatte, holte sie wirk176
lich alles nach mit der ganzen sinnlichen Zärtlichkeit, die er von früher an ihr kannte. Es war dann auch drei oder vier Nächte so geblieben, nicht einen Augenblick hatte sie sich ihm versagt und war sehr stürmisch und glücklich gewesen. Und dann – und dann… Woran mochte nur diese spürbare Abkühlung liegen? Wie kam es, daß sie auf einmal zerstreuter wurde und daß auch sein eigenes Glücksgefühl nachließ und sein Vertrauen zu ihr? In erster Linie gewiß dadurch, daß sie mit so entsetzlich vielen Menschen zu tun hatte: fortgesetzt klingelten Leute an, es folgten Verabredungen, die sie nicht absagen wollte, nächtliche Gesellschaften nach dem Theater, und zwar solche, von denen er ausgeschlossen war. »Aber Liebling«, sagte sie in diesen Fällen, »es hat wirklich keinen Zweck, daß du hinkommst. Sind alles nur Theaterleute, die wahrscheinlich die ganze Zeit bloß fachsimpeln. Da würdest du dich kaputtlangweilen.« Und wenn er sich dann noch zu behaupten versuchte, setzte sie, rasch aufgebracht, ihren Willen durch: »Liebling, ich muß einfach hin! Das ist wichtig, denn dadurch bekomme ich vielleicht eine neue Rolle, wenn dieses Stück zu Ende ist.« Und dieses Argument konnte er ebensowenig ignorieren, wie alle anderen, die sie stichhaltig fand. Auch seine Fragen nützten ihm wenig. »Ach, eine ganz einfache Party«, sagte sie beispielsweise, wenn er wissen wollte, wohin sie ging. »Du kennst die Leute ja doch nicht, und sicher würden sie dir auch gar nicht gefallen.« Frage und Antwort, Frage und Schweigen, Frage und zorniger Protest, so ging es. – Aber er konnte das Fragen nicht ganz lassen, denn er war so krankhaft eifersüchtig in jedem Moment, den sie von ihm getrennt verbrachte. – »Ach, Darling, nun mache aber bitte kein Kreuzverhör!« pflegte sie zu antworten, wenn er sie so beharrlich ausfragte, daß es ihr zu dumm wurde. »Du treibst mich noch zum Wahnsinn.« Und damit war eben Schluß. Er wollte dann noch erklären, wozu sie ihn trieb, aber nachgerade begann er sich vor allen Aufregungen dieser Art zu fürchten, und vor jedem Versuch, etwas zu berühren, was über die normalen Beziehungen ihres Ehelebens hinausging. Er hatte so viel zu verlieren, und glaubte das schlechter vertragen zu können als sie. Jeder Versuch, sich wieder durchzusetzen, wurde kläglicher, immer mehr gab er nach, und seine Niederlage wurde immer deutlicher. Er hatte im Grunde keine Waffen und daß er diese Tatsache bereits verraten hatte, war für sie beide von verhängnisvoller Wirkung. Aber es gab noch etwas viel Schlimmeres als all dieses, und das war ihm gleich zu Beginn seines Urlaubs aufgefallen: ein kaum merkliches Nachlassen ihrer Leidenschaft, eine fast mechanische Erwiderung seiner Gefühle, so daß er bei klarem Kopf nicht zu entscheiden mochte, ob wirklich die Liebe sie so bewegte oder sie nur glänzend schauspielerte. – Es hatte einen Augenblick gegeben, einen Augenblick lächerlicher Zerstreutheit, in dem er sie, obwohl sie dicht 177
beieinander waren, plötzlich wie aus ungeheurer Entfernung angesehen und dabei in Gedanken eine Ansprache formuliert hatte: »Diese Frau übt das Lieben, wie Eure Lordschaft bemerken werden, mit so vollendeter technischer Fertigkeit aus, daß –.« Aber er war nicht fähig gewesen, den Satz zu Ende zu denken. Ihm war auf einmal ganz kalt und übel, und er vermochte den Liebesakt nur zu vollenden, um sich und auch sie nicht zu verraten. – Er hatte weder bestimmte Anhaltspunkte noch tröstliche Gegenargumente. Das Schlimmste war, daß er einfach nicht mehr mit ihr darüber zu sprechen vermochte, um wieder innere Beruhigung zu finden. Sie teilten ein Haus und ein Bett, leichte Gesprächsstoffe und eine Reihe von Scherzen miteinander, aber unter dieser Oberfläche gab es nichts Gemeinsames mehr – das enge gegenseitige Verständnis und das aufrichtige Vertrauen waren dahin, und er wagte nicht, etwas dagegen zu tun, aus Angst vor dem, was er dabei entdecken mochte. Die Uhr schlug halb: erleichtert stand er auf, um das Jackett anzuziehen. Im selben Augenblick ging das Telefon. Eine volle Minute ließ er es klingeln. Das war sicher wieder eine ihrer Freundinnen, dieser unerträglichen Freundinnen oder Freunde – dieser Weiber mit den flinken, boshaften Zungen, dieser dicken Kerle mit den feuchten Händen und Kontrakten in der Tasche oder einer von den jugendlichen Helden, die durchweg homosexuell zu sein schienen, aber alles auszuprobieren bereit waren – dieser Bühnenpöbel, dessen Masse fortwährend anwuchs durch die Heimatkrieger mit Anwartschaft auf den Offiziersrock… Da das Klingeln nicht nachließ, ging er schließlich an das Seitentischchen und nahm den Hörer ab. Es war Elaine. »Liebling«, begann sie, ganz schnell sprechend, um seinem erwarteten Protest zuvorzukommen, »ich bin für heute nach dem Theater noch zu einer Gesellschaft eingeladen.« »Oh«, sagte er kühl. »Ich muß hin, Liebling: Readman wird da sein – du weißt doch: der Regisseur.« »Na schön«, sagte er nach einer Pause. Er hatte andere Worte im Sinn, wußte aber, sie würden wirkungslos bleiben. »Kann ich dich irgendwo abholen?« »Nein. Es wird sehr spät werden, Liebster.« »Du weißt ja, daß mir das nichts ausmacht. Wo wirst du denn sein?« »Ich kann’s dir wirklich noch nicht sagen.« Ihre Stimme klang schon wieder gereizt. »Wir gehen wahrscheinlich alle zusammen irgendwohin. Mach’ dir darüber nur keine Gedanken.« Aber dummerweise bestand er darauf. »Dann klingele mich doch an, ich 178
kann ja überall hinkommen, zu jeder Zeit.« – ›Oh, Liebste‹, dachte er, ›du bist doch meine Frau, und dies ist die letzte Woche meines Urlaubs, und ich möchte dich hier wissen, nicht in Gesellschaft anderer Leute!‹ Aber das waren nur Worte, die bei ihr nicht verfingen. »Ach, es ist ja auch zu dumm – « fing sie an, um dann, geradezu tückisch, die Sache mit ein paar hastigen Sätzen abzutun, so daß ihm zur Antwort keine Zeit blieb: »Es wird wirklich zu spät werden, Liebling. Also bleib bitte nicht wach meinetwegen. Leg dich schlafen, und morgen bin ich ja dann bei dir. Goodbye.« Er wollte sie gerade noch einmal bitten, da knackte es im Hörer, und das Amtszeichen ertönte. Er setzte sich und nahm wieder seinen Brandy, völlig niedergeschmettert von der Enttäuschung. Plötzlich, bevor er noch seine Gedanken wieder sammeln konnte, mußte er an zwei abscheuliche Dinge denken. Welcher elende Instinkt ihm diese Gedanken so quälend deutlich machte, wußte er nicht, aber sie waren da und ließen sich nicht wieder abschütteln. Zunächst mußte er an den riesigen blauen Fleck denken, den er am ersten Urlaubsabend an Elaines Oberschenkel entdeckt hatte. Sie bekam ja leicht solche Stellen, darüber hatten sie schon während ihrer Hochzeitsreise gescherzt, und auch an dem ersten Urlaubsabend hatten sie sich nur lustig darüber gemacht. »Da habe ich mich gestoßen, beim Aussteigen aus einer Taxe«, hatte sie auf seine Frage geantwortet. »Interessante Erklärung«, hatte er gebrummt und dann, auf einmal ganz heiter, gesagt: »Darf ich dir eine neue Taxe besorgen – und recht bald, ja?« Sie antwortete schelmisch: »Die Fahrpreisuhr tickt schon…«, es war eine herrliche Szene gewesen, die in wilde Leidenschaft ausartete. Aber jetzt dachte er nur daran, wie schnell sie mit der ersten Antwort zur Hand gewesen war. Bei dem zweiten plötzlichen Gedanken stand er auf und ging ins Badezimmer. Dabei fühlte er, wie er sich schämte. Hinter der Tür hing ein Beutel, ein besonderer Schwammbeutel, in dem Elaine ihre ›Sachen‹ aufbewahrte. Er lehnte sich gegen die Wand – es war ihm widerlich, so nach Aufklärung suchen zu müssen. Dann streckte er die Hand aus, nahm den Beutel vom Haken, öffnete ihn und blickte, sich selbst verachtend, hinein. Was er suchte, war nicht darin. Das war natürlich noch kein absoluter Beweis. Sie hatte doch einmal – vor langer Zeit allerdings – gesagt: »Oh, ich will eben zu jeder Stunde für dich bereit sein.« Es konnte sogar jetzt eine ganz einfache, beruhigende Erklärung geben. Sobald er jedoch wieder im Wohnzimmer saß, begann er sich in sehr quä179
lenden Einzelheiten vorzustellen, wie Elaine in den Armen eines andern lag. Lockhart, der ebenfalls den Urlaub in London verbrachte, erlebte weniger Aufregungen. Ja, zeitweise hätte er gewiß ganz gern von Morells Übermaß einen Teil auf sich genommen, nur um etwas anzufangen. In See empfand er immer deutlich seine Enthaltsamkeit als normales Zugeständnis an den Dienst, den er verrichtete. Ein langer Landurlaub mußte ihn in dieser Hinsicht auf die Probe stellen und an die Vergangenheit erinnern, als er ein so ganz anderes Leben geführt hatte. Er rief die rein menschliche Schwäche für sinnliche Ausschweifungen wach, die er mit dem Zivilanzug hinter sich gelassen zu haben glaubte. Aber es ergab sich nie eine Gelegenheit, und sein Urlaub verlief als ruhige Fortsetzung des rein männlichen Lebens, das ihm in den letzten zwei Jahren zur zweiten Natur geworden war. Er lebte in einer Mietwohnung in Kensington, deren Eigentümer aus undurchsichtigen Gründen nach Amerika gereist war. Nachdem er so lange zwischen vielen Menschen hatte leben müssen, hätte ihm die Einsamkeit gewiß ganz gut getan. Aber gleich vor seiner Tür lag ja London, seine schöne Heimatstadt. Sie war schäbig geworden und durch Bomben entstellt, bot aber noch alles unvermindert: die Menschen, die Bars, die Theater und Konzerte oder die einfachen, langsamen Spaziergänge durch die Straßen, die am Fluß oder in grünen Parks endeten – all das lag für ihn greifbar nahe, und er genoß es so gut er konnte, in dankbarer Freude an der Abwechslung. Er traf zahlreiche Bekannte, zufällig, auf Verabredung oder durch Pech. Zwei sollten ihm vor allem im Gedächtnis bleiben: nicht die besten Vertreter eines London im Kriege und nicht die angenehmsten, denen er begegnete. Aber sie blieben ihm in der Erinnerung wie bei einer Kindergeburtstagsfeier ein Kind, das krank wird oder sich schlecht benimmt, den größten Eindruck macht, vor allem bei den Erwachsenen. So traf er im Cafe Royal einen Mann, bei dem er für eine kurze und nicht gerade rühmliche Zeit in einem Londoner Reklamebüro angestellt gewesen war. Er hatte den Posten dort angenommen, weil es ihm damals, Mitte der dreißiger Jahre, wirtschaftlich sehr schlecht ging. Andernfalls hätte er ihn wohl kaum in Betracht gezogen, so dumm und lästig fand er die Tätigkeit von Anfang an. Sein Arbeitsgebiet war das Entwerfen von Reklametexten für Lebensmittel gewesen. Sein Chef, ein großer dicker Mann namens Hamshaw, hatte ihm schon bei den ersten Erklärungen über den gewünschten Stil in hochtrabender Art die Wichtigkeit seiner eigenen Berufung unter die Nase gerieben und war sichtlich entgeistert gewesen, daß Lockhart diese Dinge so leichtherzig anfaßte. Ein paar Monate lief die Zusammenarbeit wenig erfreulich weiter: Lockhart bekam immer häufiger seine Entwürfe zurück, mit 180
Randbemerkungen wie »zu kraß«, »zu steif«, »bitte die Einleitung weicher im Ton« und einmal sogar »die Anspielung auf Speichel ist unästhetisch.« Es kam der Tag, an dem bei einer Reklame für Hundekuchen Lockharts abschließende Redewendung »Die Hunde mögen’s« zurückgewiesen und statt dessen der Satz genommen wurde: »Noch nie ward der Hundewelt ein schmackhafterer Happen angeboten.« Da wußte er, Geldnot hin, Geldnot her, daß sein Geduldsfaden gerissen war. Er wartete nur auf die Gelegenheit zu einer Abschiedsgeste, und sie kam auch. Eines Morgens fand er auf seinem Schreibtisch eine Notiz von Hamshaw: »Bitte entwerfen Sie mir einen passenden Reklamesatz für Bolgars Sirup-Butter-Karamellen.« Lockhart hatte nicht lange überlegt: er kritzelte eine Zeile an den unteren Rand des Papiers, nahm seinen Hut und verließ die Firma. Erst ein paar Stunden später fand Hamshaw, als er neugierig ins Zimmer sah, diese Schlußleistung: »Bolgars Butterkaramellen, üppig und dunkel wie der Aga Khan.« Damals schon war Hamshaw ein reichlich pompöser Herr gewesen, aber jetzt, nachdem er ins Innenministerium berufen worden war, um die Denkweise ganzer Subkontinente zu steuern, trug er eine geradezu olympische Erhabenheit zur Schau. Er grüßte Lockhart mit gleichgültiger Verbeugung und sagte: »Ah – Lockhart! Kommen Sie, nehmen Sie bei mir Platz«, vorsichtig und feierlich, wie einem zweifelhaften Renegaten die Heilige Messe zelebriert wird. Nach einer zunächst abtastenden Unterhaltung sagte Hamshaw, indem er sein gewichtiges Kinn massierte, mit wohl überlegter Betonung: »Eine feine Waffengattung, zu der Sie gehören. Nur muß ich gestehen, daß wir im Ministerium die Marine ein bißchen – wie soll ich’s ausdrücken? – ein bißchen rückständig finden.« »Rückständig?« wiederholte Lockhart wie unbeteiligt. Hamshaw nickte, stopfte sich ein Sandwich in den Mund und nickte nochmals: »Ja. Wir möchten gern größere Bereitschaft in der Freigabe von Nachrichten sehen – über den Atlantik und so weiter. Es ist sehr schwer, die Admiralität zur Zusammenarbeit zu bewegen, wahrhaftig sehr schwer.« »Ich glaube, man nimmt dort die Frage der Geheimhaltung recht ernst.« »Mein lieber Lockhart: Sie werden doch nicht mich über Geheimhaltung belehren wollen!« sagte Hamshaw, als habe er persönlich diesen Begriff erfunden. »Ich kann Ihnen versichern, daß wir uns diese Frage sehr angelegen sein lassen! Was wir wünschen, ist nur: mehr Bereitschaft, die Dinge zu publizieren, selbstverständlich im Rahmen der notwendigen Geheimhaltung. Diese Erfolge – sofern es Erfolge sind – bleiben nutzlos, wenn die Leute nichts von ihnen hören – absolut nutzlos.« Lockhart runzelte die Stirn. Er sah nicht ein, weshalb er diesen Unsinn so 181
hinnehmen sollte, selbst aus gesellschaftlicher Höflichkeit. »Ein versenktes U-Boot ist versenkt«, sagte er kurz, »ob das zweifarbig auf der Titelseite gedruckt wird oder nicht. Die Reklame hinterher ändert daran überhaupt nichts.« »Die Reklame, wie Sie es nennen« – Hamshaw blickte ihn gewichtig an, ihm entging keine Respektlosigkeit: »diese Reklame ist vom moralischen Standpunkt aus wertvoll. Die Moral des Volkes, die uns sehr am Herzen liegt, erfordert eine ständige Versorgung mit günstigen Neuigkeiten, wenn sie aufrechterhalten werden soll. Ich darf mir sogar erlauben, zu sagen, daß der Krieg nicht einen einzigen Tag lang geführt werden könnte ohne unsere fortwährende Ermutigung des Volkes. – Aber ich sollte hier nicht mein Steckenpferd reiten«, fügte er hinzu, als er bemerkte, daß Lockhart nur zerstreut zuhörte, »erzählen Sie mir lieber von Ihrem eigenen Einsatz. Sie persönlich sind mit der Tätigkeit zufrieden, wie?« »So läßt es sich auch ausdrücken, ja«, erwiderte Lockhart. »Es ist in vieler Hinsicht schade«, sagte Hamshaw, indem er an Lockhart vorbei ins Leere blickte, »sehr schade, daß Sie damals nicht bei uns blieben. Ich hatte die Möglichkeit, einen Teil meines Stabes ins Ministerium zu überführen, – die Herren, denen ich besonderes Vertrauen schenken konnte – und sie haben sich sofort gut bewährt. Vielleicht hätten Sie jetzt schon eine Stellung als Sekretär bei der Zensur oder wären sogar schon Abteilungsleiter.« »Ach du meine Güte«, sagte Lockhart. »Oh ja, die Möglichkeiten zu avancieren sind dort groß – sehr groß sogar. Aber vielleicht sind Sie ganz zufrieden, wo sie sind?« »Ja, das glaube ich«, sagte Lockhart. »Na, das ist schließlich die Hauptsache«, fuhr Hamshaw mit gräßlich klingender Herablassung fort, »es ist ja alles ein einziger Krieg, eine einzige große gemeinsame Sache. Darüber sind wir uns vollkommen klar, das kann ich Ihnen versichern. Wir können ja nicht alle den Auftrag haben, für die nötige Kampfmoral zu sorgen – die Leute an der Front spielen ja selbst auch ’ne ganz ehrenwerte Rolle.« »Wie gemein Sie das ausgedrückt haben«, sagte Lockhart seelenruhig, als er zum zweiten Male dieses Mannes wegen seine Kopfbedeckung ergriff, um sich zu entfernen. »Aber nehmen Sie uns noch ein bißchen länger in Kauf. Wir versuchen wirklich, innerhalb Ihrer Kriegsmaschine zu funktionieren.« »Nun habe ich Sie doch wohl irgendwie geärgert«, sagte Hamshaw vorwurfsvoll. »Ja«, sagte Lockhart, »irgendwie haben Sie das«, und ließ Hamshaw allein darüber nachdenken. Zweifellos tat der ihn achselzuckend als einen bedauerlichen Fall von Kriegspsychose ab. 182
Später, am Abend, traf er in einer Kneipe auf der Fleet Street einen Zeitungskollegen namens Keys, den er seit Kriegsbeginn nicht mehr gesehen hatte. Keys war erheblich älter als er, ein abgebrühter Chefreporter beim Stabe einer populären Tageszeitung: wie bei Hamshaw schienen sich auch bei ihm die natürlichen Neigungen durch den Krieg gesteigert und intensiviert zu haben. Auch früher hatte er schon die menschliche Natur skeptisch beurteilt, aber jetzt äußerte er sich über alle Aspekte des Krieges und über die Motive aller Menschen, die auch nur die leiseste Beziehung zum Kriege hatten, nie anders als zynisch. Ohne etwa von dem Gläschen Whisky, das vor ihm stand, besonders angefeuert zu sein, traktierte er Lockhart mit einer außerordentlich heftigen Tirade, in die er ganz Großbritannien einbezog: nicht eine einzige Gruppe seiner Landsleute entging seinen moralischen Peitschenhieben. Die Politiker polsterten sich ihre Nester ohne Rücksicht aufs Gemeinwohl, die Industriellen verkauften Schund als Kriegsmaterial mit sagenhaftem Profit, alle Zeitungen ohne Ausnahme logen sich durch den Krieg, ignorierten die Rückschläge, die die Alliierten erlitten und erfanden dafür Erfolge. Die Arbeiter waren ausnahmslos Faulenzer, und der Soldat natürlich das dämliche Opfer nationaler Bauernfängerei, wenn nicht Schlimmeres… »Zwischen uns und den Deutschen ist sowieso kein Unterschied«, schloß Keys grimmig, indem er Lockharts Uniform anstarrte, als handle es sich um einen Zuchthäuslerkittel, den zu tragen sich jeder schämen müsse. »Wir sind beide auf dasselbe Ziel aus: die Herrschaft über Europa und über die Märkte, die dazugehören. Die Deutschen zeigen das nur deutlicher, das ist der ganze Unterschied.« »Hm«, machte Lockhart unverbindlich. Die Bar war überfüllt, und er wollte nicht die Aufmerksamkeit durch einen Streit auf sie lenken, der doch unfruchtbar war und leicht peinlich verlaufen konnte. Genau über ihren Köpfen hing ein großes Schild, auf dem in gotischen Buchstaben stand: ›In diesem Hause gibt es keine schlechte Laune.‹ Vielleicht war es vernünftig, sich danach zu richten. »Bei Gott!« rief Keys, der sich plötzlich wieder in Wut zu steigern schien: »Ich habe in diesen letzten Monaten mehr Phrasen über die große alliierte Kriegsanstrengung schreiben müssen als ich für möglich gehalten hätte! Der Magen kann sich einem umdrehen dabei!« »Und warum tust du es dann?« Keys zuckte die Achseln. »Aus demselben Grunde, aus dem du die Uniform trägst«, antwortete er in bitterem Ton. »Das bezweifle ich«, sagte Lockhart kurz. »Mach’ dich doch nicht lächerlich… Da kommt ein Krieg, und schon gehst du treu und brav zur Wehrmacht, weil es jeder tut. Da kommt ein Krieg, und 183
meine Zeitung muß die patriotische Walze einschalten, weil sie sonst unverkäuflich wäre, und ich, ich muß das Zeug produzieren, weil ich sonst meinen Job verlieren würde. Es ist also der gleiche Grund: die Angst, nicht in Reih und Glied zu stehen und unpopulär zu werden, wenn du nicht der Masse folgst wie ein Schaf dem Leithammel!« »Es gibt auch noch andere Gründe«, sagte Lockhart. Keys schnaubte verächtlich. »Ich glaube, du willst mir noch erzählen, daß die ganze Marine für Gott, König und Vaterland kämpft, wie?« »Es handelt sich um eine Idee, die hinter vielen unserer Gefühle liegt«, sagte Lockhart ohne Erregung. »Es ist nicht einfach ein Krieg für Recht und Gerechtigkeit, bei dem nur die eine Seite alle Anerkennung für sich beanspruchen kann, das weiß ich, und in der These von der Beherrschung Europas liegt immerhin so viel Wahres, daß man sich zweimal überlegen muß, ob man patriotische Reden wörtlich nehmen soll. Aber wenn wir verlören oder wenn wir nicht zuerst den Krieg erklärt hätten, dann hätten wir gar keine Chance, den Dingen, an die wir glauben, Geltung zu verschaffen. Was denkst du denn, wie England aussehen würde, wenn die Deutschen hier zu sagen hätten?« »Leistungsfähiger wäre es«, sagte Keys. Lockhart lächelte. »Ich sehe, bei dir komme ich nicht viel weiter«, sagte er gutgelaunt. Es war ihm einfach unmöglich, – warum, wußte er nicht – sich über Keys zu ärgern, denn der Mann hatte so lange ›zwischen den Zeilen‹ gelebt, daß er kaum noch echte und falsche Gefühlsregungen zu unterscheiden vermochte und keine von beiden ihm naheging. »Dann muß ich eben bei meinen patriotischen Träumereien bleiben. – Das sind aber manchmal echte Gefühle, verstehst du«, fuhr er gelassen fort, »und eine Menge Leute sind für sie schon gestorben.« »Um so dümmer von ihnen«, sagte Keys geringschätzig. »Aha«, sagte Lockhart, »aber die konnten das nicht wissen, oder? Sie können sich schließlich nur nach den Zeitungen richten, und ihr versteht ja euer Geschäft so glänzend!« Lockhart betrank sich an dem Abend ein bißchen, vielleicht um ein Gegengift zu haben, und als er nachher, durch den Alkohol in etwas gelöster Stimmung, die lange abschüssige Straße von Piccadilly in Richtung Knightsbridge entlangschwankte, versuchte er über seine Eindrücke von den Begegnungen des Tages mehr Klarheit zu gewinnen. Wenn er zwischen Hamshaw und Keys zu wählen hatte, zog er Keys mit seiner Einstellung zum Kriege ganz entschieden vor: mochte er auch bitter und zynisch über alles reden, so betrog er sich wenigstens nicht selbst und war zumindest frei von der hochtrabenden Wichtigtuerei, mit der Hamshaw sich, den Krieg und seine Rolle in ihm um184
gab. So war der Krieg nicht: keine geheiligte Sache, der ausschließlich verschworene Ritter sich weihten, stand auf dem Spiel. Andererseits aber war er freilich auch nicht, wie Keys ihn hinstellte, nur ein schäbiges Geschäft um Handelsinteressen. Gewisse Wahrheiten steckten in seinen Worten, es gab Gründe für die Idee, daß es sich um das Ringen zweier gleich schuldiger Konkurrenten handelte, die beide nach dem Vorrang in Europa strebten, aber doch keine feste Grundlage für die Behauptung, daß der Krieg letzten Endes nur ein simples selbstsüchtiges Ringen sei und es keinen Unterschied bedeutete, wer ihn gewann. Keys hatte diese Logik nur aus seiner Bitterkeit entwickelt, die mancherlei Ursachen entspringen mochte, im tiefsten Grunde wohl aus der Tatsache, daß er schon zu alt war, um den Krieg noch als Soldat mitzumachen, so daß er die ganze Geschichte achselzuckend abtat, weil er seine Nichtteilnahme vielleicht ehrenrührig fand. »Wir können nicht alle zur gleichen Zeit geboren sein«, sagte Lockhart laut, als spräche er zu dem großen Häuserblock am Rutland Gate, vor dem er stehengeblieben war. Aber vielleicht konnte Keys nicht so logisch, so unendlich klug denken wie er selbst in diesem Moment? Keys war für den Kampf zu alt, und nur deshalb hielt er das Kämpfen für eine wertlose, von Vorurteilen verdrehte Beschäftigung und den Krieg nur für eine Ausweitung der halsabschneiderischen Konkurrenzgeschäfte kleiner Handlungsreisender. Selbstverständlich aber mußte mehr dahinterstecken. Lockhart war nie ein großer Patriot gewesen: sogar jetzt, wo er selbst unmittelbar am Kampf teilnahm, empfand er nichts mehr als höchstens die Notwendigkeit, den Krieg gewinnen zu müssen. Nachher konnte man dann für eine vernünftige und gerechte Regelung sorgen. Aber Gewinnen war das Wichtigste, denn das Gegenteil bedeutete eine Katastrophe für alles, was ihm auf der Welt von Wert war, bedeutete abscheuliche Tyrannei, unter der alle menschlichen Hoffnungen versinken mußten. Es mußte doch auch Deutsche geben, die genau so dachten wie er? Gute Menschen, die irregeführt, aber aufrichtig und ebenso besorgt um die menschlichen Werte waren: gute Soldaten, gute Seemänner, gute Flieger, die in dem Glauben kämpften, einen niederträchtigen englischen Eroberungsversuch zu zerschlagen. Ein Jammer, daß auch diese mit getötet werden mußten. »Ich bin eigentlich ein Deutscher«, sagte er wieder laut, indem er sich ausruhend an einen gerade willkommenen Laternenpfahl lehnte. »Zwischen denen und uns ist kein Unterschied. Aber was vom Deutschen in mir steckt, muß gewinnen, und nachher wollen wir den ganzen Kram wieder hübsch neu verteilen.« »Yes, Sir«, sagte der Polizist, der plötzlich neben ihm auftauchte. »Wie weit haben Sie’s denn noch bis nach Hause?« Lockhart blinzelte und hatte Mühe, klar geradeaus zu blicken: die Gestalt, 185
die sich jetzt vor ihm hinstellte, schien im Laternenlicht riesengroß. »Warum sind eigentlich Polizisten immer größer als ich?« beschwerte er sich. »Ich muß sagen, in Deutschland –« »Wie wär’s mit einer Taxe?« fragte ihn der Mann mit der üblichen, verstehenden Geduld des Londoner ›Bobby‹. »Ein Stückchen zurück von hier, in Knightsbridge, können sie eine kriegen.« »Herrliche Nacht zum Gehen«, sagte Lockhart. »Herrliche Nacht zum Schlafen«, sagte der Polizist zurechtweisend. »Hier ringsum schläft schon alles, und wir wollen doch die Leute nicht aufwecken, oder?« »Haben Sie ‘mal bei der Marine gedient?« fragte Lockhart, in dem vagen Gefühl, hier freundliche Beziehungen schaffen zu müssen. »No, Sir«, antwortete der Polizist, »ich habe eben nie Glück gehabt.« Eine auf Kundensuche langsam zur Stadt zurückrollende Taxe drehte auf seine Handbewegung hin einen sauberen Kreis und stoppte knirschend neben ihnen. »Also: wie ist Ihre Adresse?« Lockhart gab sie ihm, blieb aber noch unschlüssig stehen, als der Polizist die Autotür öffnete. Beim Betrunkensein war es eigentlich doch blöde, daß andere stets energischer handeln konnten als man selbst. – Einen Fuß auf dem Trittbrett, wartete er noch. »Ich ging doch ganz ruhig nach Hause«, sagte er. »Yes, Sir«, sagte der Polizist. »Ich möchte keine Scherereien haben«, sagte der Taxenchauffeur, ein älterer Mann im dicken grünen Mantel, »Marine oder nicht.« »Es ist alles in Ordnung«, sagte der Polizist, indem er die Tür zuschlug, während Lockhart in die Polster sank, und fragte noch durchs offene Fenster: »Wissen Sie die Adresse auch bestimmt?« »Ja«, sagte Lockhart, »die trage ich im Herzen.« »All right«, sagte der Polizist und nickte dem Fahrer zu: »Dann also ab.« »Wir müssen gewinnen«, sagte Lockhart zu ihm, gewissermaßen zur Verabschiedung. »Wem erzählen Sie das!« gab der Polizist zurück. »Aber nicht alles in einer Nacht. Wollen auch noch ‘was für morgen lassen.« »Wie ist das eigentlich so auf den Kriegsschiffen?« fragte der Chauffeur, nachdem sie ein Stück gefahren waren. »Ich muß schon sagen: einfach furchtbar«, antwortete Lockhart, der sich gleichzeitig bemühte, eine Zigarette anzuzünden und seinen Gasmaskenriemen zu klarieren. »War ja nur ‘ne Frage«, sagte der Fahrer säuerlich. »Meinetwegen können sie alle versinken.« 186
»Wollen Sie denn nicht, daß wir den Krieg gewinnen?« fragte Lockhart sehr erstaunt. »Es gibt viel, was ich will«, sagte der Fahrer. Er warf einen kurzen, bezeichnenden Blick auf seine Preisuhr. »Zum Beispiel doppelte Taxe nach zwölf Uhr nachts.« »Unfug«, sagte Lockhart. Der Fahrer trat scharf auf die Bremse und brachte seinen Wagen zum Stehen. »Was sagten Sie eben?« fragte er grimmig. »Ich bin in dieser Stadt geboren«, begann Lockhart, selbst erstaunt, wie klar er auf einmal denken konnte. »Sie wissen ganz genau, daß –« Es war kein befriedigender Abend. Aber nicht in diesem Stil ging sein Urlaub zu Ende: nicht mit Hamshaw und auch nicht mit Keys. Er nahm schließlich eine ganz andere Erinnerung mit. Denn an seinem letzten Abend in London ging er ins Theater, in eine anspruchslose Operette, da er nur für diese noch eine Karte bekommen konnte. Und dort bot sich ihm, als das Licht für die Pause aufleuchtete, ein Anblick, den er nun für sehr lange Zeit nicht wieder loswerden konnte. Er sah eine Gruppe Fliegeroffiziere aus einem Lazarett – aus einem, in dem vermutlich die Fälle für plastische Chirurgie behandelt wurden. Diese sechs jungen Männer in der Uniform der Air Force sahen alle gleich aus. Lockhart, der ihre Reihe von der Seite überblickte, empfing einen so gräßlichen Eindruck von Entstellungen, daß er für einen Augenblick an eine Täuschung durch die Wirkung von Licht und Schatten dachte. Aber es war keine Täuschung: die Gesichter waren alle zur selben Formlosigkeit zerschlagen, alle gleichartig verstümmelt durch Verwundung und eilige chirurgische Eingriffe: verfaltet und gefurcht von Narben oder Brandwunden, verzerrt zu lebenden Karikaturen, ohne Augenbrauen, ohne Ohren, ohne Lippen und ohne Kinn: graugelb, wo Feuer sie versengt, grellrot, wo sie Schnittnarben hatten – eine Gesichterreihe roher, schmerzvollster Zerstörung, die Lockhart so entsetzte, daß ihm fast übel wurde. Und zwischen je zweien dieser schrecklichen Gesichter befanden sich junge, frische, gesunde Mädchengesichter, und alle blickten unmittelbar in jene anderen Gesichter, ohne mit der Wimper zu zucken, und die andern Gesichter, die kein Organ zum Lächeln besaßen und kaum noch eins zum Sprechen, erwiderten die Blicke mit suchenden Augen und schauerlicher Aufmerksamkeit. »Die dürften sie doch hier gar nicht ‘reinlassen«, sagte eine Frau dicht hinter Lockhart. »Was sollen denn da die anständigen Leute denken?« ›Halt’s Maul, du geile Hündin‹, dachte Lockhart, und hätte es beinah laut gesagt, und dann, wieder die Reihe entlang nach den Verwundeten blickend – wie viele andere dorthin blickten, von dieser irrsinnigen Häßlichkeit wie 187
magnetisch angezogen– dachte er: ›Ihr armen Kerle, ich hoffe, ihr werdet wieder anders mit der Zeit, in ein, zwei Jahren.–‹ Dies, und nichts anderes, das war der Krieg! Dies war der Teil, den man nicht verherrlichen konnte, auch nicht bagatellisieren oder durch Reden umgehen! Er war froh, als das Licht wieder erlosch, aber froh nur um dieser sechs Männer willen, denn wie mußten sie den Schutz der Dunkelheit begrüßen! Er selbst aber fühlte sich, nach dem ersten Entsetzen, mit diesen grausamen Zeugen des Kampfes so vertraut wie mit nichts anderem im jetzigen London. Ja, diese Verwundeten, sie schienen ihm ein gutes Omen für das Beste an dieser Stadt, die ebenso vernarbt und versengt war wie sie, entstellt vielleicht für sehr lange Zeit, aber sie hatte immer noch ihre Sprache, tat ihre Arbeit und hatte ihre Freude an dem, was noch geblieben war – ließ sich nie entmutigen, weder jetzt noch in Zukunft. Das war die rechte Erinnerung, die man aus dem Urlaub mitnehmen konnte: eine unsentimentale Erinnerung, ein ›Traum von der Heimat‹, durch den man keine Schwächung seines Mutes zu befürchten brauchte. Lockhart nahm ihn dankbar mit sich. Sie kannten Compass Rose nach ihrer Verjüngungskur kaum wieder: das Schiff schien der Korvettenklasse entwachsen und mit unerwartet ehrenvollem Zeugnis in eine höhere versetzt zu sein. Die neue Brücke war vom Typ der Zerstörerbrücken mit einem geschützten Kartenraum und viel Platz zum Hin- und Hergehen; der neue praktisch eingerichtete Verbandsraum, ausgerüstet mit allem, was sie bisher als notwendig empfunden und entbehrt hatten, und verwaltet von einem Sanitäter, der früher sogar einmal Tierarzt auf dem Lande gewesen war. Sie hatten mehr Wasserbomben, mehr Flakwaffen, ein neues Horchgerät und, als Krönung, eine für sie noch ganz neue Waffe: Radar! Radar – die furchtbarste Erfindung des Seekrieges – war zu ihnen nur langsam gekommen. Bisher besaßen es nur die Zerstörer, die mit Geleitzügen fuhren, und wenige glückliche Korvetten, während Ericson, der im vergangenen Jahr oft und oft gebeten hatte, auch sein Schiff damit auszurüsten, jedesmal entmutigt zurückgekommen war. »Da machen Sie sich nur ja keine Hoffnung«, hatte ihm der verantwortliche Mann beim Stabe jedesmal gesagt, wenn er diese Frage nur anschnitt. »Nein, da kommen alle möglichen Schiffe noch vor Ihnen dran«, erklärte dieser Mann, der sich nicht immer gewählt ausdrückte: »in bezug auf Radar müssen die Korvetten am achtersten Titt saugen. Sie müssen warten, bis alle andern dran waren.« »Was für ein Jammer, daß Mr. Bennett nicht mehr bei uns ist«, bemerkte Morell, der das Gespräch mit angehört hatte. »Dieser Ausdruck hätte ihn in 188
helles Entzücken versetzt. –« Aber nun hatten sie es endlich, auf der Brücke war es montiert, ein Vorbote kommender Ruhmestaten. Radar war das, was ihnen gefehlt hatte, die Waffe, die im Atlantik-Krieg schon längst nötig gewesen war: ein Mittel, auch bei Nacht oder unsichtigem Wetter alles zu entdecken, was in der Nähe auflauern mochte. Das Gerät konnte ein aufgetauchtes U-Boot auf beträchtliche Entfernung ausmachen, seinen Kurs und seine Geschwindigkeit anzeigen: auf seinem Fluoreszenz-Schirm gab Radar ein ›Bild‹ von dem Konvoi oder anderen Schiffen im Umkreis, ein Bild, durch das nachts das Fühlunghalten so sehr erleichtert wurde, daß sie kaum noch begriffen, wie sie ohne das Gerät hatten bestehen können. Jetzt brauchten sie nachts nicht mehr verzweifelt die müden Augen anzustrengen, denn das tat Radar für sie. Es gab kein Suchen mehr nach aus Sicht gekommenen Schiffen oder nach dem ihnen entgegenkommenden Geleitzug. Sie alle standen, klar zu unterscheiden, auf dem Schirm, auch wenn sie zwanzig, vierzig und mehr Meilen entfernt waren. Daß dieses Gerät ihnen ein wahrer Helfer wurde und ihnen das Leben erleichterte, wurde jedem von ihnen rasch klar. Und darüber hinaus mochte es als Waffe sogar den Anfang machen zum Ausgleich der atlantischen Rechnung, indem es die raffiniertesten und geheimsten Angriffe sozusagen mit dem kleinen Finger aufdeckte. Das Beste, was die Wissenschaft für den Menschen tun konnte. Sie wurden gerade rechtzeitig mit dem Gerät ausgerüstet, um wieder in See zu gehen, als die Schlacht vor ihrem Höhepunkt stand, und rechtzeitig für die schlimmste Geleitfahrt, die sie bis dahin erlebt hatten. Das sonnige Wetter dieses Spätsommers machte ihnen nach der langen Pause der Werftzeit die Wiedergewöhnung ans Seefahren angenehm leicht. Ein merkwürdiges Geschäft, dieses Neuabstimmen von Mannschaft und Mechanismus, wobei es von beiden Seiten Überraschungen gab. Bei der Ausfahrt aus dem Hafenbecken stieß Compass Rose infolge eines Defekts am Umsteuerungsventil gegen den Molenkopf, zum Glück nicht sehr heftig, und ein Matrose wurde – zu seiner ewigen Schande – tatsächlich auf dem Fünfminutenweg über den Fluß bis zum Ölprahm seekrank! Das waren aber nur dumme Zwischenfälle, und schnell hatten sie sich wieder eingewöhnt: als sie ihr neues Geleit beim Feuerschiff Sandbank aufnahmen, hatten sie sich schon fast wieder in alles hineingefunden, und nachdem sie zwei Tage draußen waren, kein Land mehr in Sicht war und sie in einem weiten Halbkreis südwestwärts auf Gibraltar zusteuerten, war ihr Schiff wieder voll gefechtsklar. Das Wetter schenkte ihnen eine Reihe herrlicher, sonniger Tage und ruhige Nächte: sie wußten das Glück zu schätzen, Stunde um Stunde über das tiefblaue, spiegelglatte Meer zu fahren – wie auf einer der bequemen Reisen, für die man im Frieden ein schönes Stück Geld ausgab – und stellten sich daher 189
rasch vom Landleben wieder auf die Seefahrt um. In mancher Hinsicht war es gut, wieder im Einsatz zu sein: frei von den Ungewissen, aufregenden Bindungen an Land, gehörten sie jetzt zu einer verstärkten Gruppe von zwei Zerstörern und fünf Korvetten, die einundzwanzig schwer beladene, für Gibraltar bestimmte Schiffe zu schützen hatte. Das war ihre eigentliche Aufgabe, der sie sich nun wieder ganz widmeten; sie wußten, wie wichtig sie war, und waren nie ganz überzeugt gewesen, daß die Marine sich leisten konnte, ihnen freie Tage zu geben. Lange sollte die trügerische Illusion des schönen Wetters und einer leichten Überfahrt nicht dauern. Es fing an mit einem einzelnen Flugzeug, das vielleicht ein alter Bekannter war: ein viermotoriger Focke-Wulf-Aufklärer, der das Geleit von Osten ansteuerte und dann außerhalb der Reichweite ihrer Geschütze langsame Kreise um sie zog. Sie erlebten das nicht zum erstenmal und hatten keine Zweifel an den Absichten der Maschine: sie war da, um die Position des Geleitzuges, seinen Kurs und seine Geschwindigkeit genau festzustellen, die Einzelheiten an eine zentrale Befehlsstelle zu melden, und vielleicht auch in der Nähe operierenden Unterseebooten direkte Hinweise zu geben. Außergewöhnlich war nur, daß dieses, im Gegensatz zu früher, schon bei Beginn ihrer Reise geschah und daß ausgerechnet jetzt, während sie das Flugzeug mit diesen Gedanken beobachteten, die Sonne von einem wolkenlos blauen Himmel auf ein Meer strahlte, das so glatt und schön dalag wie antikes Glas und dessen Glanz kaum beeinträchtigt wurde von den vielen Schiffen, die es auf ihrer Fahrt nach Süden durchschnitten. ›Wie unfair gegen einen friedlichen Geleitzug‹, dachten die Männer, als sie auf ihren Gefechtsstationen durch die Ferngläser den langsam kreisenden Vorboten der Raubtiere verfolgten. ›Laß uns doch in Ruhe auf diesem malerisch schönen Ozean, laß uns durchrutschen – kein Mensch wird es merken…‹ Als es dunkelte, zog die Maschine ab: in gleichmäßiger Fahrt brummte sie ostwärts, von der Brücke der Compass Rose, wo jetzt die Befehle zur Verdunkelung erteilt wurden, in düsteren Vorahnungen beobachtet. »Es ist zu leicht«, sagte Ericson grübelnd, und traf damit ihrer aller Gedanken. »Braucht nichts weiter zu tun als Kreise fliegen und eine kurze Weisung abgeben, und schon können sämtliche U-Boote in hundert Meilen Umkreis schnurgerade auf uns lossteuern.« Er betrachtete den unschuldig blauen, wolkenlosen Himmel. »Ich wünschte, es käme Wind auf. Bei dem Wetter haben wir ja gar keine Chancen.« In dieser Nacht geschah noch nichts Außergewöhnliches, nur kam von der Admiralität eine Meldung an den Geleitzug: »Anzeichen deuten auf fünf UBoote in Ihrem Gebiet, weitere im Anmarsch«, eine Warnung in großen Zügen, die alle Möglichkeiten offenließ, mit denen sie fertigzuwerden hatten so 190
gut sie vermochten. Sobald es dunkel war, änderte der Geleitzug den Kurs, indem er in scharfem Winkel aus der vom Flugzeug beobachteten Richtung abbog, in der Hoffnung, die Verfolger abzuschütteln. Vielleicht gelang es, vielleicht waren die U-Boote noch nicht in Schußnähe, denn die fünf Stunden der Dunkelheit vergingen ohne Zwischenfall, während auf dem Radarschirm das kompakte Viereck der Dampfermasse, von den Sicherungsfahrzeugen umsäumt, ungestört, gleichmäßig und unentdeckt vorrückte. Als Viperous beim ersten Tageslicht wie üblich in brausender Fahrt den Konvoi umrundete, machte sie Compass Rose im Vorbeijagen das Signal »Ich glaube, wir haben sie irregeführt«. Die steilen, kurzen Seen, die das Kielwasser des Zerstörers aufwarf, begannen eben Compass Rose zu schaukeln, da hörten sie erneut Flugzeugbrummen: der Spion saß ihnen wieder im Nacken. Das erste Schiff, ein großer Tanker, wurde mittags torpediert und in Brand geschossen. Alle einundzwanzig Schiffe des Geleitzuges waren von beträchtlicher Größe, in der Mehrzahl für Malta und das östliche Mittelmeer bestimmt, sozusagen erste Garnitur, als Beute für den Feind sehr wohl der Verfolgung und des Angriffs wert. Und verfolgt und gehetzt wurden sie nun ohne Gnade: die schnelle Vernichtung des ersten Schiffes zeigte nur den Beginn einer achttägigen Schlacht an, die fortwährend Opfer vom Geleit forderte und allmählich mit gräßlicher Regelmäßigkeit die Zahl der Dampfer verringerte, so daß sich ihnen jeden Morgen in blutiger Ironie der Vergleich mit dem Lied von den ›zehn kleinen Negerlein‹ aufdrängte. Sie wehrten sich mit allen Kräften, aber der Kampf stand zu ungleich für sie: die verwundbaren Stellen ihrer Rüstung ließen sich unmöglich vor so vielen im Kreis angreifenden Feinden schützen. »In ihrem Gebiet stehen neun U-Boote«, gab gegen Abend die Admiralität durch, in der üblichen lakonischen Kürze. Und diese neun U-Boote versenkten zusammen drei weitere Dampfer, einen davon unter besonders grausigen Umständen: an Bord befanden sich etwa zwanzig Marinehelferinnen, die erste nach Gibraltar versetzte Gruppe. Die Männer auf Compass Rose hatten diese Mädchen unterwegs an Deck des Dampfers beobachtet und ihnen im Vorbeifahren zugewinkt, erfreut über ihre Gesellschaft, obwohl es eine ziemlich entfernte war. Der Dampfer wurde in dieser Nacht als letztes Schiff getroffen: er sank so rasch, daß die Flammen, die um das ganze Achterdeck schlugen, schon ausgelöscht wurden, als sie kaum Nahrung gefunden hatten. Das brodelnde Geräusch dieses Erlöschens drang zu Compass Rose hinüber, ehe gewaltiges, wildes, unbeschreiblich grausam klingendes Zischen. »Mein Gott, da hat’s die armen jungen Dinger erwischt!« rief Ericson, plötzlich aus seiner festen Haltung gerissen, die er in einem so grauenhaften Moment nicht zu bewahren vermochte. 191
Aber sie konnten zur Rettung nichts unternehmen, denn Viperous hatte ihnen den Auftrag erteilt, im weiten Umkreis nach U-Booten zu jagen, und der Befehl mußte ausgeführt werden. Falls es da drüben noch was zu retten gab, mußten andere das besorgen. Von den Mädchen wurden vier durch einen anderen Dampfer gerettet, der den Mut gehabt hatte, selbständig zu stoppen und ein Boot zu Wasser zu lassen. Am nächsten Morgen sah man diese vier dicht zusammen, stumpf ins Meer starrend, drüben an Oberdeck sitzen, aber diesmal wurde nicht fröhlich gewinkt, weder hüben noch drüben. Das Schiff, das sie gerettet hatte, war eins von den beiden, die in der folgenden Nacht torpediert wurden: auch dieser Dampfer sank schnell, und Compass Rose, diesmal zur Bergung von Überlebenden beordert, konnte außer den schon an Bord befindlichen nur noch vier Überlebende retten, während sechs Tote dazukamen. Unter diesen Toten befand sich eins der Mädchen, das einzige überhaupt wiedergefundene von den zwanzig. In der Reihe der Leichen, die Tallow auf dem Achterdeck sauber nebeneinander gelegt hatte, wirkte diese weibliche Tote unendlich traurig. Sie war jung, ihr nasses blondes Haar, das erste Frauenhaar, welches das Deck von Compass Rose berührte, lag wie ein breiter Fächer um ihren Kopf und umrahmte ein ängstlich verzerrtes Gesicht, das im Leben bildhübsch gewesen sein mußte. Lockhart, der gegen Morgen nach achtern kam, um das Einnähen der Toten für die Bestattung zu überwachen, spürte ein Würgen in der Kehle, als er das Mädchen so liegen sah. Einen traurigeren, entwürdigenderen Anblick konnte der Krieg kaum bieten. – Aber er hatte an noch so viel anderes zu denken als an Trauer und Mitleid. Sie senkten ihre Leiche mit den übrigen ins Meer, trugen ihren Namen in die Totenliste der Bordkladde ein und setzten die verlustreiche Fahrt nach Süden fort. Sechs Schiffe waren bereits verloren, sechs in zwei Tagen, und sie hatten noch eine Woche Fahrt vor sich, ehe sie unter Landschutz kamen. Aber zunächst hatten sie etwas Glück: in zwei finsteren Nächten gelang es ihnen dank der Dunkelheit und durch eine starke Kursänderung, den Feind von ihrer Fährte abzubringen. Obgleich sie nach wie vor scharf auf der Hut sein mußten und die Spannung, besonders bei Nacht, ständig anhielt, erfreuten sie sich doch während dieser achtundvierzig Stunden eines wunderbaren Gefühls der Ruhe: das Geleit, auf fünfzehn Dampfer reduziert, erhöhte seine Geschwindigkeit und rauschte dem südlichen Horizont und der Aussicht auf Geborgensein entgegen. Auf Compass Rose wich das Gefühl, einem durch höhere Gewalt gesandten Unheil ausgesetzt zu sein, allmählich einem fröhlichen Optimismus, und die Gesichter der vielen von ihnen Geretteten, die in ihre Decken oder in spärliche Kleidungsstücke gehüllt an Bord hin und her wanderten oder über die Reling zum Geleit hinüberstarrten, verloren nach 192
und nach den hoffnungslosen Blick der Schiffbrüchigen, durch den sich die Männer von der Marine so bedrückt fühlten. Die Hoffnung wuchs: vielleicht sahen sie doch den Hafen wieder… So blieb es zwei Tage und zwei Nächte, dann aber hatte das Flugzeug, das am klaren Morgenhimmel weite Kreise zog, sie wiedergefunden. Rose, der junge Signalgast, hörte es zuerst: ein schwaches Geräusch in den höheren Luftschichten, ein sanftes Surren, das bereits Entdeckung bedeutete. Er warf rasch einen Blick in die Runde, den Kopf auf die Seite geneigt, dann rief er: »Flugzeuggeräusche, Sir, Richtung noch nicht auszumachen.« Und Ferraby und Baker, die die Vormittagswache hatten, machten sich mit denselben schnellen nervösen Bewegungen alarmbereit. Das Summen wurde lauter, und die Richtung, aus der es kam, feststellbar: von Backbord querab, außerhalb des Geleitzuges, von der spanischen Küste her. »Sir!« rief Baker durchs Sprachrohr zum Kommandanten hinunter, »Flugzeuggeräusche!« – aber Ericson war schon auf der Brückentreppe, da ihn das verhaßte Geräusch aus der Kajüte gejagt hatte. In die Runde blickend kniff er im grellen Tageslicht die Augen zusammen und rief plötzlich: »Da ist es!« indem er in die Richtung wies. Ja, dort querab, aus dem am Horizont lagernden perlgrauen Nebel tauchend, dort war es, das Flugzeug, das spähende Auge des Feindes. Alle Mann auf der Brücke beobachteten es, vereint im gleichen Zorn und Haß. Es war ja so unfair –! Mit Unterseebooten konnten sie den Kampf aufnehmen, da waren die Bedingungen nicht so ungleich: wenn das Wetter ihnen ein wenig half, konnte das Geleit bei geschickter Führung der Schiffe Scheinkurse laufen, konnte sich drehen und wenden und somit eher hoffen, den Verfolgern zu entweichen. Aber diesem fliegenden Vorboten der Beutejäger, der aus einer anderen Sphäre kam und die taktische Ordnung störte, indem er jede Entfernung wieder überwand, die sie zwischen sich und den Feind zu legen vermochten – diesem Verräter waren sie niemals gewachsen. Während sie die Maschine beobachteten, spürten sie sich hilflos, wie nackt, und empfanden eine ohnmächtige Wut: kein Zweifel, daß jetzt wieder alles begann, trotz all ihrer Vorsichtsmaßnahmen und ihrer Wachsamkeit, trotz ihrer größten Bemühungen – und das nur, weil ein paar junge Männer in einem Flugzeug einen halben Ozean in wenigen Stunden umspannen und sich dann auf ihre langsamer bewegliche Beute stürzen konnten. Sehr schnell mußte das Flugzeug sein Werk getan haben, und die U-Boote konnten nicht weit entfernt gewesen sein: innerhalb von zwölf Stunden waren sie wieder da, und in dieser Nacht schmolz der Konvoi um zwei weitere Schiffe zusammen. Die Jagd war wieder auf, die Meute frohlockte, der wilde Rhythmus kehrte wieder und wurde schneller. Sie leisteten jede Gegenwehr: 193
die Sicherungsfahrzeuge fuhren ihre Gegenangriffe, der Konvoi änderte den Kurs und fuhr schneller, aber alles half ihnen nichts. Der sechste Tag brach an, die sechste Nacht sank hernieder: pünktlich zu Mitternacht schrillten die Alarmglocken, die erste Seenotrakete fauchte zum Nachthimmel empor und verkündete, daß ein tödlich getroffenes Schiff um Hilfe rief. Dieses Schiff brannte lange, mit seinen Flammen das Meer rot färbend: es hob sich mühsam wankend auf der Dünung, um schließlich als flackender, im Öl schwimmender Scheiterhaufen hinter dem Geleit zurückzubleiben. Dann trat eine Pause von über zwei Stunden ein, in denen alle auf Gefechtsstation blieben und der Geleitzug unter schwarzem, mondlosem Himmel weiterzog. Aber dann brach weit drüben am Horizont, fünf Meilen von ihnen, die Kriegsfurie wieder los: ein greller, rotgelber Feuerstrahl spaltete die Nacht, erstarb, brach noch einmal empor und fiel funkenspeiend zusammen. Also wieder ein Schiff getroffen, aber diesmal war es für sie mehr als ein Schiff, denn diesmal war es Sorrel… Sie alle wußten, daß es Sorrel sein mußte, weil sich in dieser Entfernung kein anderes Schiff befinden konnte, und wußten es durch ein Signal von Viperous, das sie auf Umwegen erreicht hatte. »Falls heute Nacht Angriffe erfolgen«, hatte es gelautet, »wird Sorrel fünf Meilen achteraus und seewärts vom Konvoi laufen, als Ablenkungsmanöver. Wirft Wasserbomben, schießt Raketen und so weiter. Vielleicht kann dadurch der Hauptangriff vom Konvoi abgezogen werden.« Sie hatten auch die Raketen schon vor einer Weile bemerkt, aber wenig darauf geachtet, denn sie besagten ihnen ja nur, daß Sorrel in ihrem Sektor fleißig den Plan ausführte. Vermutlich war dieser Plan wirkungsvoll gewesen, falls die zweistündige Pause ein Zeichen dafür war. In einer Hinsicht jedenfalls war das Manöver gelungen: indem es zumindest einen Angriff vom Hauptziel ablenkte. Aber ein Opfer hatte sich nun dabei nicht vermeiden lassen, denn das Heranschleichen des Feindes war damit nicht ausgeschaltet, der Torpedoschuß dadurch nicht gestoppt: in Ermangelung reicherer Beute wurde Sorrel das Ziel und fand ihr einsames Ende weit draußen in der Dunkelheit jenseits des Geleitzuges. Arme Sorrel, arme Schwesterkorvette! Auf der Brücke von Compass Rose trauerten nun die Männer, die sie am besten gekannt hatten. Getrennt voneinander durch die nächtliche Dunkelheit standen sie da, verbunden aber durch das gemeinsame quälende Entsetzen, die gleiche, noch ungläubige Sorge. Wie hatte Sorrel das passieren können, einem Sicherungsfahrzeug wie das ihre? Ericson hatte im Moment der Explosion sofort die Klingel zum Funkraum gedrückt. »An Viperous von Compass Rose«, diktierte er: »Sorrel in Ablenkungsposition torpediert. Darf ich ablaufen und nach Überlebenden suchen?« 194
Scharf sagte er zu dem Funker, der den Text aufnahm: »Verschlüsseln Sie das, aber rasch. Als Funkmeldung abgeben.« Nachdem die Meldung abgesandt war, warteten sie schweigend in der Finsternis auf der Brücke, die Augen auf die ungefüge Gestalt des neben ihnen laufenden Dampfers gerichtet und immer wieder zurückblickend in die Gegend, wo Sorrel getroffen wurde. Keiner hatte ein Wort gesagt: hierfür gab es keine Worte, nur Gedanken, und nicht einmal viele. Die Glocke vom Funkraum unterbrach hart das Schweigen. Signalmaat Wells beugte sich übers Sprachrohr. »Brücke!« sagte er und lauschte einen Augenblick. Dann richtete er sich auf und rief zum Kommandanten hinüber: »Antwort von Viperous, Sir: ›Konvoi nicht vor Hellwerden verlassen.‹« Wieder herrschte Schweigen auf der Brücke, ein Schweigen des Entsetzens. Ericson knirschte mit den Zähnen: das hätte er sich denken können. – Es war selbstverständlich die richtige Antwort, nach kühler, sachlicher Rechnung: Viperous konnte es sich einfach nicht leisten, noch ein Fahrzeug aus dem Geleitzug zu nehmen und für einen nicht kampfwichtigen Auftrag abzuteilen. Ja, die Antwort war richtig, aber beim heiligen Himmel: sie war hart…! Dort hinten in der einsamen Dunkelheit, zehn Meilen oder mehr nun schon entfernt, starben jetzt Männer, Männer von besonderem Schlage: Bekannte von ihnen, Seeleute wie sie selbst. Und sie mußten allein gelassen werden, um zu sterben; oder zumindest wurde ihre Rettung so lange aufgeschoben, daß sie für die meisten zu spät kam. Die Versenkung von Sorrel war für sie alle ein außergewöhnlicher Schlag gewesen, denn sie war das erste Schiff aus ihrer Gruppe, das verlorenging, und gerade sie war ihnen mehr als alle andern ans Herz gewachsen: das Schiff, neben dem sie zwei lange Jahre nach zahllosen Geleitfahrten festgemacht hatten, das Schiff mit den Männern, die ihre Freunde waren, mit denen sie Karten gespielt, mit denen sie an Land getrunken und die sie oft beim Fußball geschlagen hatten… Daß Sorrel torpediert wurde, war schon schlimm genug, aber daß sie die Besatzung untergehen oder in der Finsternis schwimmen lassen mußten, war das Grausamste von allem. »Nicht vor Hellwerden!« brach Morell das beklemmende Schweigen auf der Brücke. »Noch zwei Stunden.« Ericson sagte ganz unbewußt: »Ja«, nicht als Erwiderung auf Morells Worte, sondern auf das, was er gemeint hatte. Es war eine kalte Nacht. Noch zwei Stunden sollten sie warten – und wenn sie dann zur Untergangsstelle von Sorrel kamen – wie wenige mochten bis dahin noch leben…! Fünfzehn waren es nachher – fünfzehn von neunzig Mann Besatzung. Sie fanden die fünfzehn ohne Schwierigkeit, gegen Ende der Morgenwache, nachdem sie aus ungefähr drei Meilen Entfernung auf glatter See zwei Flecke 195
entdeckt hatten, die sie bald als Rettungsflöße erkannten. So vertraut ihnen solche Szene des Seekrieges schon geworden war – diesmal erschütterte sie der Anblick doch wieder: wie sie sich den überladenen Booten und den Klumpen ölbeschmierter Leichen nähern mußten, die im Trümmerfeld von Sorrel schwammen, wie sie hier und dort in diesen schmutzigen Überbleibseln ihre eigenen Uniformen, ihre Abzeichen und Mützen entdecken mußten, und Gesichter, die ihren eigenen wie Spiegelbilder glichen… Die Männer auf den Flößen waren steif und kalt, ihr Zeug ölgetränkt, doch als Compass Rose näherkam, winkte einer von ihnen mit wilder Anstrengung, törichterweise einen Retter begrüßend, der schon zwanzig Meter vor ihm war. Ein paar dieser Männer waren offensichtlich tot; vor Kälte oder Erschöpfung gestorben, obwohl sie noch die Sicherheit des Floßes erreicht hatten: sie lagen mit den Köpfen auf den Knien ihrer Kameraden, die ihnen bis zum Tode, und vielleicht noch Stunden danach, Trost und Wärme gegeben hatten. Ericson, der durchs Glas die wenigen, übel zugerichteten Überlebenden betrachtete, entdeckte unter ihnen das graue Gesicht Ramsays, des Kommandanten von Sorrel, mit dem ihn langjährige Freundschaft verband. Ramsay hielt einen Toten in den Armen, einen jungen Matrosen, der im Tode mit dem zurückgefallenen Kopf und dem offenen Munde häßlich und jämmerlich aussah. Aber das lebende Gesicht über diesem Toten war kaum weniger jammervoll. Das ganze Erlebnis: das verlorene Schiff, die verlorene Besatzung, die Qual und Erschöpfung der letzten sechs Stunden – all das stand in Ramsays Gesicht zu lesen, wie er da, den Toten haltend, auf die Bergung wartete. Es war das echte Gesicht eines Kommandanten, eines besiegten Kommandanten, der um sein Schiff trauerte und ganz allein die ungeheure Last dieses Verlustes trug. – Lockhart, der an der Reling mittschiffs stand, als die Geretteten an Bord gebracht wurden, begrüßte den steifbeinig über die Reling kletternden Ramsay mit impulsiver Herzlichkeit. »Freue mich sehr, Sie wiederzusehen, Sir!« rief er wohlmeinend, denn der ganze Eindruck von Ramsay, seine Mienen, die matten Bewegungen, die stinkende, verölte Uniform, berührten ihn so jäh und tief, daß er die Rettung dieses Lebens, selbst unter so tragischen Umständen, wie einen Triumph und Segen empfand. »Wir haben alle gehofft –« er brach verlegen ab, indem er Ramsay ernst ansah und sofort spürte, wie falsch, wie schrecklich falsch es gewesen wäre, jetzt zu sagen: »gehofft, Sie in jedem Fall aufzufischen.« Denn so dachte Ramsay selbst gewiß nicht in diesem Moment, eher das Gegenteil. »Danke, I.W.O.« Ramsay reckte sich und machte eine Bewegung zu den noch auf dem Floß sitzenden Männern. »Würden Sie sich um sie kümmern, ja? Ein paar sind schon ziemlich am Ende.« Lockhart nickte. »Ich werde bestens für alle sorgen, Sir.« 196
»Dann werde ich auf die Brücke gehen.« Aber Ramsay blieb noch zögernd an der Reling stehen und beobachtete mit schmerzenden Augen, wie die Reste seiner Besatzung vorsichtig an Bord gezogen oder gehoben wurden. Inmitten der arbeitenden Männer von Compass Rose stand er, abwesend, einsam und zurückgezogen in seinem Kummer. Als für die Lebenden gesorgt war und sie die Toten anstarrten, wandte er sich ab und ging langsam zum Brückenaufgang, wobei seine nackten, öligen Füße naß und schlappend über das Deck schlurften. Lockhart war froh, sich in diesem Augenblick mit anderen Dingen beschäftigen zu müssen, denn in dieser Stimmung durfte er den Mann nicht stören, unter gar keinen Umständen. Auf der Brücke angelangt, streckte Ramsay sofort Ericson die Hand hin und sagte: »Danke dir, George. Werde dir das nicht vergessen.« »Tut mir leid, daß wir nicht eher hier sein konnten«, erwiderte Ericson kurz, »aber ich durfte die Geleitposition nicht vor Hellwerden verlassen.« »Das wäre kaum ein Unterschied gewesen«, antwortete Ramsay. Er hatte sich abgewandt und beobachtete wieder, wie die Toten an Deck gehievt wurden, und blickte auf die anderen Leichen, die rings um Compass Rose das glatte Gesicht der See entstellten. »Die meisten hat es sowieso unter Deck erwischt. Wir sind mitten auseinandergebrochen und in ein paar Minuten abgesackt.« Ericson sagte nichts. Da drehte sich Ramsay zu ihm herum und sagte, halb für sich: »Du glaubst nie, daß es dich selbst trifft. Und du kannst dich auch nicht darauf vorbereiten, auch wenn du noch so viel daran denkst. Wenn es dann passiert –« Er brach ab, als müsse er sich Vorwürfe machen, für die ihm die Worte fehlten, und sogleich kam auch eine äußere Unterbrechung: Signalgast Rose, der an einem Sprachrohr etwas abhörte, rief: »Signal von Viperous, Sir! An uns: ›Sofort wieder dem Geleit anschließen!‹« »Da muß etwas im Gange sein«, sagte Ericson. Er ging an den Brückenniedergang und blickte aufs Mittelschiff hinab und zur Seite. Die beiden Flöße waren jetzt leer, aber im Umkreis von sieben-, achthundert Meter trieben noch mindestens zwanzig Leichen. »Ich möchte gern –«, begann er unsicher. Ramsay schüttelte den Kopf. »Es macht nichts, George«, sagte er still. »Was wäre damit geholfen? Laß sie, wo sie sind.« Er starrte ins Leere, als Compass Rose sich jetzt entfernte. Was geschehen war, entdeckten sie gegen Mittag, als sie wieder zum Geleitzug stießen: noch ein Schiff war torpediert worden, am hellichten Tage. Deshalb hatte Viperous allen Grund, die Geleitgruppe so rasch wie möglich zu versammeln. In diesem langen Jagen und Gejagt werden konnte es keine Pause, keine Erholung geben, und ganz gewiß hatten die Toten keine Ansprüche, nicht einmal, wenn sie, wie jetzt, an Zahl die Lebenden übertrafen. 197
Gegen Mittag an diesem siebenten Tage verblieben in der Liste des Geleitzuges noch elf Schiffe – elf von den einundzwanzig. Hinter ihnen lagen zehn wertvolle Handelsschiffe auf dem Meeresgrund, trieben zahllose Ertrunkene und war ein Sicherungsfahrzeug versunken. Es war gräßlich, sich vorzustellen, daß auf Hunderte von Meilen in ihrem Kielwasser die See bedeckt war mit Ölflecken, Trümmern und Leichen, die sie zurückließen: wie eine Schnitzeljagd, bei der das Geleit eine Fährte von Blut und wertvollen Schiffen aus einem riesigen eitrigen Beutel streute. Und an gewisse Einzelheiten – an die jungen Mädchen, an Sorrel, an die Schreie der im ersten getroffenen Schiff, dem brennenden Tanker, sterbenden Männer – durfte man überhaupt nicht denken: das war unerträglich. Es war kein einseitiger Kampf, bei dem nur einer immerfort mit dem Hammer zuschlug und der andere vergebens auszuweichen suchte, aber viel besser war es letzten Endes doch nicht: zu viele U-Boote hatten Fühlung mit ihnen bekommen, die Zahl der Sicherungsfahrzeuge war zu gering, und das Geleit war durch seine langsame Geschwindigkeit und geringe Wendigkeit zu sehr unterlegen. Zurückgeschlagen hatten sie mit allen Kräften: Compass Rose hatte bei ihren Gegenangriffen über vierzig Satz Wasserbomben geworfen, von denen einige sicherlich dem Feind Wunden zugefügt hatten, und auch die andern Sicherungsboote waren tatkräftig vorgegangen: Viperous konnte, nach einem einwandfrei gefahrenen Angriff, aus dem aufschwimmenden Öl und Wrackteilen den Anspruch ableiten, ein Unterseeboot vernichtet zu haben. Doch im Vergleich zu dem Gesamtergebnis waren das nur schwache Gegenhiebe: da so viele U-Boote in ihrem Gebiet operierten, bedurfte es der Wunder, wenn das Geleit aus der entsetzlichen Falle entrinnen sollte und – Wunder waren ihnen nicht beschieden. Es gab keine Aussicht auf Sieg, keinen Rückzugsweg. Nichts anderes blieb ihnen übrig, als ihre Abwehrkraft zu konzentrieren, die Geschwindigkeit möglichst zu steigern und bis zum Ende durchzuhalten. Noch nie war Compass Rose so überfüllt, so vollgestopft mit Schiffbrüchigen gewesen. Ein großes Glück, daß sie jetzt den Verbandsraum und den Sanitäter besaßen, um für die Verletzten und zu Tode erschöpften Leute zu sorgen: nie hätte Lockhart allein mit diesem ständigen Zustrom Schritt halten können. Doch ganz abgesehen von all denen, die der Pflege bedurften, hatten sie einen gewaltigen Zuwachs von Geretteten, die an Zahl die eigene Besatzung weit übertrafen. In der Messe befanden sich allein vierzehn Offiziere von Handelsschiffen, darunter drei Kapitäne, tagsüber drängten sich auf dem Oberdeck und nachts in den Mannschaftsräumen hunderteinundzwanzig ›Gäste‹ – Matrosen, Heizer, Köche, Laskaren, Chinesen – die alle essen und schlafen und den nächsten Morgen erleben wollten. Während der Nachtstunden spottete das Bild im verdunkelten Vor198
schiff jeder Beschreibung: unter der verhüllten gelben Lampe erschien es wie eine Höllenszene, ein Alptraum von Verwirrung, Beklemmung und Schmerz. Bis unter die Decke waren die Räume gerammelt voll: die Männer standen, saßen, knieten oder lagen überall: sie krümmten sich unter den Tischen, verkeilten sich in Winkel und Ecken, streckten sich auf den breiten Entlüftungsrohren aus. Da sah man Leute, die seekrank waren, andere, die im Schlaf laut schrien, Männer, die heißhungrig Essen hinabschlangen, die ihr bißchen gerettete Habe an sich drückten und leeren Blickes um sich stierten; Verwundete, die stöhnten, anscheinend Gesunde, die sinnlos lachten, und Tapfere, die noch ein Lächeln und auf Fragen eine klare Antwort zustande brachten. Es war unmöglich, sich durchs ganze Vorschiff einen Weg zu bahnen – wie es Lockhart bei jeder Abendronde tat – ohne immer wieder entsetzt und empört zu sein angesichts dieses Elendswinkels des Krieges. Und doch konnte einem der Anblick auch Kraft geben, sogar Freude machen und Stolz erwecken: als Ausdruck von Geduld und Ausdauer. Einzelne mochten hier und da fast zum Zusammenbruch und zum Irrsinn getrieben sein, trotzdem war dieses krasse Aneinandergepferchtsein, waren das zerfetzte Zeug, das Öl, die Wundverbände und der Geruch von Männern in diesen widerlichen Verhältnissen noch nicht stark genug, um sie als Gemeinschaft in die Knie zu zwingen. Denn sie alle waren Seeleute, die sich selbst durch einen so plötzlichen und nicht nachlassenden quälenden Alpdruck nicht überwältigen ließen: sie wurden wahrhaftig hart hin- und hergestoßen, doch um ihre Auffassung von der Seefahrt zu ändern, hätte es noch viel schlimmer kommen müssen. Lockhart wurde von einem andern Gedanken geplagt, der immer wiederkehrte, sobald er die Menge der Überlebenden ansah und dann die Matrosen von Compass Rose, die sich mit Humor in die Situation fanden. Wenn er dann in der Menge ein ratloses oder angsterfülltes Gesicht sah, quälte ihn die Vorstellung: wie es wäre, wenn sie jetzt wie Sorrel, getroffen würden – wenn das Schiff, in zwei Hälften zerbrechend, nach wenigen Minuten versänke – wie Sorrel – was mochte dann hier drinnen geschehen, welches grauenhafte Gemetzel in krallender, würgender Angst würde hier ausbrechen, während das Schiff auf den Grund hinabglitt? Die Einzelheiten ließen sich nicht ausdenken, und doch beschäftigte sich gewiß mancher in diesem Vorschiff, der nichts zu tun hatte, sehr damit, sie sich auszumalen. Als Lockhart einmal einem Verwundeten den Verband neu anlegte, fragte der: »Werde ich so auch schwimmen können?« Und er hatte ihm lächelnd geantwortet: »Aber klar, doch Sie werden auf dieser Reise nicht mehr zu schwimmen brauchen.« Worauf der Mann ihn fest angeblickt und gesagt hatte: »Das stimmt weiß Gott haargenau! Wenn bei diesem Haufen hier was passiert, sitzen wir jeden199
falls gleich schön in unserem Sarg drin.« Als sie sich nachmittags wieder dem Geleit anschlossen, kam abermals Meldung von der Admiralität: »Jetzt elf Unterseeboote in Ihrem Gebiet. Zerstörer Lancelot und Liberal stoßen etwa 18.00 Uhr zur Geleitgruppe.« »Zwei Zerstörer der L-Klasse, das ist großartig!« rief Baker begeistert, als sie beim Tee in der Messe saßen. »Das sind phantastische Schiffe! Und nagelneu.« »Die werden hier sogar sehr phantastisch sein müssen«, sagte Morell, der gerade den Text des Signals nachlas: »Elf U-Boote, das macht eins auf jedes vom Konvoi noch übriggebliebene Schiff. Ich bezweifle sehr«, fügte er sanft hinzu, »ob Ihre Lordschaften mit einem so schönen Gleichgewicht der Kräfte gerechnet haben.« Lockhart lächelte ihm zu. »Haben Sie Angst, John?« Morell überlegte einen Moment. »Ich muß zugeben«, sagte er schließlich, »daß die Lage jetzt nicht gerade beruhigend ist. Wir können machen, was wir wollen – die verdammten U-Boote brechen jedesmal durch die Sicherung. Fast die Hälfte unserer Schiffe haben wir verloren und brauchen bis Gibraltar noch zwei Tage.« Er machte eine Pause. »Selbst wenn nichts weiter passiert, wird dies vielleicht der schlimmste Konvoi in der Seekriegsgeschichte sein.« »Dann gibt’s was zu erzählen für die Enkelkinder.« »Sehr richtig. Und wenn Sie mir Enkelkinder garantieren, dann werde ich auch rasch meine ruhige Haltung wiedergewinnen.« »Wie kann er denn garantieren, daß Sie Enkelkinder bekommen?« fragte Baker, der, zumindest an Bord, ein langweiliger Gesellschafter war. »Wenn die so dumm werden wie Sie, hoffe ich, gar keine zu bekommen!« sagte Morell in einem bei ihm seltenen gereizten Ton, der erkennen ließ, daß er wirklich nervös geworden sein mußte. ›Wir fühlen alle dasselbe‹, dachte Lockhart während des gekränkten Schweigens, das eingetreten war: ›wir sind reizbar geworden, sehr sogar, und neigen zur Intoleranz.‹ Die Übermüdung und Anspannung war in der vergangenen Woche fast bis ins Unerträgliche gestiegen, und es gab kein anderes Mittel dagegen, als mit den Resten des Geleitzugs den Hafen zu erreichen, aber das dauerte noch zwei Tage. Er hatte plötzlich den übermächtigen Wunsch nach Frieden und Sicherheit. Wie bei allen Männern auf den Kriegsfahrzeugen und den Dampfern war bei ihm die Grenze des Tragbaren nahezu erreicht. Die beiden Zerstörer trafen pünktlich um 18 Uhr ein. Sie kamen aus Südosten und brausten mit riesigen, schäumenden Bugseen auf den Konvoi zu. Bis zu einem gewissen Grade stellten sie dabei ihre stolzen Eigenschaften zur Schau: ihre schlanke Linie, ihre Schnelligkeit und die unerhörte Kraft ihrer Maschinen, 200
die ihnen fast den Charakter kleiner Kreuzer und bestimmt den dreifachen Wert der andern durchschnittlichen Geleitschiffstypen verlieh. Sie bedeuteten eine aufmunternde Verstärkung für den Schiffsverband und erweckten Zuversicht, wenn sie beim geringsten Alarmzeichen, oder auch ohne Anlaß, so schneidig hin und her sausten, rund um den Geleitzug oder durch seine Reihen mit vollen fünfunddreißig Seemeilen Fahrt, nach drei Richtungen zugleich signalisierend und vor lauter Unruhe nie länger als fünf Minuten in derselben Position laufend. »Die geben ganz schön an«, sagte Signalgefreiter Wells, der sie durchs Glas beobachtete, als sie wieder, an Compass Rose vorbeistoben, um eine, vielleicht nur imaginäre Mission durchzuführen. Aber sein Ton war nicht ganz frei von Neid, als er weitersprach: »Die haben’s leicht, wie ein paar aufgetakelte Huren hier ‘rumzubrausen – die haben ja nichts von der letzten Woche abgekriegt.« Gegen Abend begaben sich die zwei ›Neuen‹ auf ihre Nachtposition: einer an die Spitze und einer ans Ende des Geleitzuges, gleichsam dadurch betonend, daß sie als die Retter in letzter Minute erschienen waren, wie sie es schon durch die Art ihrer Ankunft ausgedrückt hatten. Denn der Wirkung ihres Auftretens waren sie zweifellos sicher, aber auch ohne die kühne Pose schien ihre Gegenwart viel auszumachen: obwohl abends ein Angriff erfolgte, konnte das kreisende U-Boot-Rudel nur ein einziges Schiff, das kleinste aus dem Konvoi, als Erfolg buchen. Dieser Dampfer, der achtern getroffen wurde, versank langsam: als einziger von seiner Besatzung kam ein Laskare ums Leben, der wild schreiend von Bord sprang und anstatt im Wasser kopfüber in einem der Rettungsboote landete. In das verlustreiche Gemetzel, dem der Geleitzug ausgesetzt war, brachte dieser komödienhafte Abschluß eine beinahe heitere Note. Aber immerhin: das verlorene Schiff war das elfte von einundzwanzig. Also hatten sie über die Hälfte eingebüßt – ein neuer grausamer Rekord der U-Boote war aufgestellt. Und wenn es schien, als ließe das Zerstörungswerk jetzt nach, so bewies die nächste Nacht, die achte und letzte dieser Fahrt, als sie schon dreihundert Meilen vor Gibraltar standen, das Gegenteil, Diese letzte Nacht kostete noch drei Schiffe, und mit einem davon, einem torpedierten, ausbrennenden Tanker, hatte Compass Rose ihre besondere Not, da sie am nächsten bei ihm lief, als er getroffen wurde. Compass Rose umkreiste ihn, während das Öl, das in Fontänen aus dem aufgerissenen Schiffsleib spritzte, Feuer fing, das sich fließend übers Wasser verbreitete, als brenne ein Teppich in einem stockdunklen Zimmer. Von dieser Kulisse haushoch züngelnder Flammen als klare Silhouette abgehoben, mußte Compass Rose weithin sichtbar sein. Selbst wenn sie schnell lief, bot sie ein sicheres Ziel, und Ericson, der noch überlegte, ob er stoppen und die Schiffbrüchi201
gen retten sollte oder dieses Risiko als unverantwortlich ablehnen, konnte sich nur zu genau vorstellen, wie deutlich sein Schiff, wenn es stillstand, auf diese Flammenwand gezeichnet war. Compass Rose, mit ihrer Besatzung und der Masse so mühsam Geretteter an Bord, mußte so noch auf zehn Meilen Entfernung ein festes Ziel bieten. Aber einerlei: sie waren für Rettungszwecke abgeteilt, und hier schwammen Menschen, dort kamen Boote, die der Tanker schon ausgesetzt Hatte, auf der Flucht vor der Feuermauer – also war hier eine Aufgabe zu erfüllen, ein Werk der Nächstenliebe – wenn man das Risiko eingehen konnte, wenn es sich lohnte, zweihundert Menschenleben aufs Spiel zu setzen, um fünfzig andere zu retten – wenn kluge Vorsicht der Menschlichkeit so weit nachgeben durfte. Die Entscheidung mußte Ericson allein fällen. Wieder stand er als Kommandant vor einer reinen Nervenprobe. Wieder einmal stand er hier der krassen Wirklichkeit gegenüber, die sonst verborgen war hinter dem militärischen Gruß, dem Abstand vor dem höheren Rang und den zweieinhalb Ärmelstreifen. Während er auf der Brücke schweigend das Für und Wider abwog, hätte niemand von seiner Besatzung mit ihm tauschen mögen… Dann kam sein Befehl schnell und entschieden. »Stopp Maschine!« »Stopp Maschine, Sir! Maschine hat gestoppt, Ruder liegt mittschiffs, Sir!« »I.W.O.« »Sir?« rief Lockhart. »Halten Sie sich klar, die Überlebenden an Bord zu nehmen. Ein Boot wollen wir nicht fieren – sie werden herschwimmen oder rudern müssen, sehen können sie uns, weiß Gott, deutlich genug. Treiben Sie sie mit dem Sprachrohr zur Beeilung.« »Aye, Aye, Sir!« Als Lockhart die Brücke verlassen wollte, fügte der Kommandant fast gemütlich hinzu: »Zeit dürfen wir aber nicht verlieren, I.W.O.« Auf dem ganzen Schiff herrschte angespanntes Schweigen, als Compass Rose langsam zum Stehen kam und sanft schlingernd vor der grell leuchtenden Feuerwand wartete. Von der Brücke aus war an Oberdeck jede Einzelheit erkennbar: die gewaltige Beleuchtung flackerte nicht, sondern blieb als gleichmäßig glühender Hintergrund stehen, vor dem sie als nackte schwarze Silhouette dem Auge des Feindes preisgegeben waren. Die Gesichter, die sie dem brennenden Tanker zuwandten, waren schneeweiß und scharf wie im Blitzlicht des Photographen. Ferraby, der mit seiner Wasserbombenmannschaft achtern bereitstand, während drei Boote von den brüllenden Flammen her auf Compass Rose zuhielten und schwaches Rufen und tanzende kleine Lichter hier und dort auf der Wasserfläche ihm zeigten, daß tapfere Schwimmer um ihr Leben rangen – Ferraby war vor Schrecken und innerer 202
Unruhe wie gelähmt. ›Oh Gott, oh Gott, oh Gott!‹ dachte er, ›wenn sie das bloß aufgeben wollten, und wir wieder in Bewegung kämen!‹ Wenige Meter vor ihm, an Backbord, leitete Lockhart gelassen die Vorbereitungen für das Rettungswerk: ließ Leinen zum Aufhieven der Verwundeten und Rettungsbojen klar machen und über Bord hängen, damit die Schwimmenden sich daran festhalten konnten. Ferraby sah ihm zu, nicht bewundernd oder neidisch, sondern in sinnlosem Haß. ›Verdammt!‹ dachte er und hätte es fast laut gerufen: ›Wie kannst du da nur so ruhig handeln! Warum fühlst du dich nicht genau so wie ich oder – wenn du’s tust, weshalb zeigst du es nicht?‹ Er wandte den Blick von den rasch arbeitenden Männern da unten und den glühenden Flammen und ließ ihn über das schwarze Himmelsgewölbe schweifen, den Himmel, den Qualm besudelte und die wirbelnden Funken mit Streifen durchzogen. Er blickte hinter sich in die fernste Dunkelheit, wohin der Feuerschein nicht drang, dorthin, wo die Unterseeboote auf der Lauer liegen und sie beobachten mußten. In fünfzig Meilen Umkreis mußte jedem U-Boot dieses Leuchtfeuer auffallen, jedes zweite U-Boot mußte mit Sicherheit diese Silhouette treffen, die Compass Rose hieß – dieses feststehende Ziel… Es war eine Schande, daß sie hier still liegenblieben, bloß um ein paar von diesen verdammten Strolchen, diesen Dampfermatrosen, aus dem Wasser zu ziehen! Ein Boot war längsseit gekommen, es stieß und scheuerte an die Bordwand. Lockhart rief: »Vorn festmachen!« Er hörte Leute emporklettern, eine unbekannte Stimme mit fremdartigem Akzent sagte atemlos: »Gott soll euch segnen, daß ihr gewartet habt!« Das große Einsammeln hatte begonnen. Es dauerte nicht lange, kam ihnen aber endlos vor. Jetzt, gegen Ende der langen, harten Prüfung dieser Reise, als die ganze Besatzung vollkommen erschöpft war, verursachten diese bewegungslos wartend im grellen Licht des Brandes verbrachten Minuten eine unheimliche Spannung, die sie wie lähmend im ganzen Körper spürten. Alle waren überzeugt, daß sie so leichtsinnig das Schicksal nicht herausfordern durften, ohne dafür bestraft zu werden. Im Seekrieg gab es gewisse Faktoren, die den Grad der Tapferkeit begrenzten, und dahinter stand das Schicksal, um wild auf den Übertreter loszuschlagen. »Wenn’s uns diesmal nicht schnappt«, sagte Wainwright, der Mechanikersgast, »dann verdient der Jerry nicht, den Krieg zu gewinnen.« Wenn es Sorrel erwischt hatte, als sie mit vierzehn Meilen im Zickzack lief, mußte Compass Rose ja kinderleicht zu treffen sein! Und als die Minuten vergingen, während sie aus den drei Booten die Überlebenden bargen und dazu ein paar Schwimmende, alles im gewaltigen Lichtschein des nicht nach203
lassenden, grellen Feuers, schien es ihnen, als glitten sie immer tiefer und tiefer in eine unheilvolle Lage, aus der sie nie wieder herauskommen konnten. Die Männer, die zu arbeiten hatten, durften sich glücklich schätzen, doch wer nur abwarten mußte, wie Ericson auf der Brücke oder die Heizer unter der Wasserlinie, der lernte in diesen wenigen, quälenden Minuten, was Angst heißt! Aber es geschah nicht! Und das war das Wunder jener Nacht. Vielleicht hatte ein U-Boot auf sie geschossen und gefehlt, oder die in Reichweite befindlichen Boote hatten, mit ihren Erfolgen zufrieden, die Attacke abgebrochen und waren auf Tiefe gegangen, um sich zu verbergen. Was immer der Grund sein mochte: Compass Rose hatte ihr unerhörtes Risiko auf sich genommen, ohne dafür bezahlen zu müssen. – Als keiner mehr zu bergen war, nahm das Schiff wieder Fahrt auf. Das Klopfen der Maschinen, durchs ganze Schiff zu hören und zu fühlen, erschien ihnen wie eine nicht mehr erhoffte Begnadigung im letzten Moment, die sie kaum zu fassen vermochten. Aber wirklich, der Pulsschlag wurde stärker und schneller wie ein triumphaler Chor: Compass Rose entzog sich dem Flammenmeer und dem Ölgestank mitsamt ihrer neuen Ladung Geretteter, die sie im Brennpunkt aller Gefahren dem Tode entrissen hatte: ihre herausfordernde Geste war vom Schicksal stumm hingenommen worden. Alles hatten sie aufs Spiel gesetzt und hatten gewonnen: in ihren Triumph mischte sich nüchterne Dankbarkeit für diese Erlösung, ein Gefühl der Demut. Vielleicht war es gut, über diese Minuten nicht zuviel nachzudenken, sondern sie möglichst schnell zu vergessen und das Schicksal nicht noch einmal so herauszufordern. Ein weiteres Schiff, aus der Kolonne auf der anderen Seite, sank um vier Uhr, kurz bevor es hell wurde. Als sich bei Tageslicht die Reste des Geleitzugs enger formierten, erlebten sie das letzte grausame Ereignis ihrer Reise. Ein drittes Schiff, das infolge Maschinenschadens zurückgeblieben war, wurde getroffen und drohte zu sinken. Es sank langsam, aber – ob es an schlechter Organisation lag oder weil das Schiff so schwere Schlagseite hatte – keins seiner Rettungsboote kam zu Wasser: die Besatzung mußte über Bord springen und schwimmend auf gut Glück dem verhängnisvollen Sog des nun schneller sinkenden Schiffes zu entkommen versuchen. Compass Rose, die sich zurückfallen ließ, um Hilfe zu bringen, umkreiste den untergehenden Dampfer; als dieser gesunken war und brodelnde kleine Wellen von einem Mittelpunkt ausliefen, der nicht mehr vorhanden war, ließ Ericson den Bug auf diesen Mittelpunkt der Katastrophe richten und auf die Köpfe, die dort im Wasser auf und nieder tauchten. Aber es sollte keine ungehinderte Bergung werden, denn gerade als er Befehl zum Fieren eines Bootes geben wollte, bekam das Horchgerät einen Kontakt, ein so klar und scharf umrissenes Unterwasserecho, daß es sich nur um ein U-Boot handeln 204
konnte. Lockhart, auf seiner Gefechtsstation im Horchraum, fühlte sein Herz aussetzen, als dieses Echo durchkam. Endlich. – Er rief durch das offene Bullauge: »Echo! Zwohundertfünfundzwanzig Grad! Bewegt sich nach links«, während er sich mit äußerster Konzentration wieder über das, Gerät beugte. Ericson ließ die Umdrehungen steigern und drehte das Schiff in Gegenrichtung der genannten Peilung, um die Entfernung zu vergrößern, denn wenn sie Wasserbomben werfen wollten, brauchten sie einen längeren Anlauf, um den Feind mit höherer Geschwindigkeit zu überlaufen. Er fragte Lockhart: »Wie sieht es aus, I.W.O.?« Und Lockhart, der das rauhe, schwirrende Geräusch im Gerät verfolgte und das Zeichen auf dem Leuchtschirm, antwortete: »Ein U-Boot, Sir. Kann gar nichts anderes sein!« Er rief anschließend wiederholt die Peilung und die Entfernung des Ziels durch. Ericson traf Vorbereitungen, mit Angriffsgeschwindigkeit auf das Ziel loszusteuern und einen Satz Wasserbomben zu werfen. Und als Compass Rose jetzt im Halbkreis drehte und dem Ziel entgegen rasch die Fahrt erhöhte, da fiel allen etwas auf, das ihnen bisher entgangen war: an der Stelle, wo das UBoot lag, genau an dem Punkt, wo die Bomben fallen mußten, wimmelte es von Schiffbrüchigen… Der Kommandant zog bei dem Anblick die Luft durch die Zähne. Ungefähr vierzig Männer schwammen dort auf engem Raum: wenn er die Attacke fuhr, war es unvermeidlich, sie alle zu töten. Er kannte, wie seine Besatzung, die Wirkung der unter Wasser detonierenden Bomben nur zu gut: das ohrenbetäubende Krachen, bei dem die See sich wie kochend hob und in breiter Masse gen Himmel hochschoß, und die Ernte, die nach jeder Explosion die Meeresfläche bedeckte: zerfetzter Seetang und tote Fische. Jetzt aber waren dort Männer, nicht Seetang und Fische, Männer, die in Vertrauen und Hoffnung seinem Schiff entgegenschwammen… Und doch: da war das U-Boot, eins aus dem Rudel, von dem ihr Geleitzug Tag für Tag gehetzt und geschunden worden war. Dieses Werkzeug drohender Vernichtung mußte sofort angepackt werden, weil es anderen Schiffen und anderen Konvois noch so viel Verderben bringen konnte! Er hörte das Echo im Netzlautsprecher, und Lockharts in reicher Erfahrung am Horchgerät gereiftes Urteil war ihm maßgebend. Während die Sekunden verrauschten und die Entfernung sich verkürzte, rang er mit seinen Zweifeln und gegen das die Kampfhärte schwächende Gefühl der Barmherzigkeit. In der Vorschrift hieß es bei so einer Lage: »Unter allen Umständen angreifen«, und der Krieg hatte ihn gelehrt: die im Wasser schwimmenden Männer durften keine Rolle spielen, wenn es sich darum handelte, einen der großen Mörder zur Strecke 205
zu bringen. Und doch versuchte er noch ein paar Augenblicke, sich Unterstützung und Vertrauen auf das, was er vorhatte, zu sichern. »Wie sieht es jetzt aus, I.W.O.?« fragte er. »Noch dasselbe, Sir – klares Echo – auch die Größe stimmt – es muß ein U-Boot sein.« »Bewegt es sich?« »Sehr langsam.« »Dort, genau in unserer Richtung, schwimmende Männer.« Es kam keine Antwort. Compass Rose stürmte weiter voran, rasch verringerte sich der Abstand: jetzt waren sie nur noch sechshundert Meter von dem U-Boot entfernt und – von den Schwimmern, diesem verhängnisvollen Anblick, der ignoriert werden mußte. »Und wie sieht es jetzt aus?« fragte Ericson noch einmal. »Noch genau so – Ziel scheint jetzt zu stehen – der stärkste Kontakt, den wir bisher hatten.« »Dort vorn sind Seeleute im Wasser.« »Ja, aber genau unter ihnen ist das U-Boot.« ›Also gut denn‹, dachte Ericson in einem ungeahnten Anflug von Brutalität, der ihm half – ›also gut, wir werden auf das U-Boot losgehen.‹ Und ohne noch zu zögern, gab er an die Wasserbombenmannschaft achtern den Befehl: »Wir greifen an – Achtung!« – und nachdem er diese peinigende Wahl getroffen hatte, warf er das Schiff in den Angriff. Alles Denken in ihm war ausgeschaltet, sein Sinn stand nur auf das eine Vernichten, das andere wollte er nicht wahrhaben. – Viele von den Männern im Wasser begannen wild zu winken, als sie sahen, was geschah, einige schrien, andere warfen sich aus der Bahn des Schiffes und schlugen verzweifelt schwimmend das Wasser, um in Sicherheit zu kommen. Und andere, die vielleicht langsamer dachten oder schwerer erschöpft waren, glaubten noch jetzt, Compass Rose eile zu ihrer Rettung herbei: sie winkten weiter und machten frohe Gesichter bis fast zu ihrer letzten Lebenssekunde – das Schiff brauste heran wie ein Racheengel, es durchschnitt die Schar der Schwimmer genau in der Mitte: das Staunen und Entsetzen auf ihren Gesichtern fand ihr Gegenstück an Bord, wo viele von der Besatzung, vor allem bei der Wasserbombengruppe, nicht für möglich hielten, was jetzt von ihnen verlangt wurde. Nur zwei Männer teilten dieses Entsetzen nicht: Ericson, der sein Gehirn für alle anderen Gedanken verschlossen hatte bis auf den einen – an das U-Boot, das sie erledigen mußten – und Ferraby, dessen Privileg es war, die Wasserbomben werfen zu lassen. ›Das geschieht euch ganz recht, verdammt nochmal!‹ dachte Ferraby, als Compass Rose zwischen die Schwimmenden fegte; ein paar von ihnen 206
gerieten in die Schraube, während die Glocke zum Feuern schrillte und die Bomben übers Heck hinabrollten oder von den Werfern weiter fortgeschleudert wurden: ›Recht geschieht’s euch – vorige Nacht habt ihr uns fast getötet, als ihr uns zwangt, dicht vor dem großen Feuer zu stoppen – jetzt seid ihr an der Reihe.‹ Nun kam eine tödliche Pause, in der, für wenige Augenblicke, die Männer auf Compass Rose und die in ihrem Kielwasser zurückbleibenden einander anstarrten, mitleidig, ängstlich und tief ungläubig – und dann detonierten mit einem gewaltigen Hammerschlag die Wasserbomben! Gnädig verbarg die Explosion in dem wirbelnden Wasser und dem Donnergebrüll die Einzelheiten, und die Schwimmer mußten alle im Moment tot gewesen sein, das Leben ihnen aus den Leibern geschüttelt durch den fürchterlichen Druck der auf sie geschleuderten Wassermassen. Nur ein groteskes Kabinettstück des Entsetzens blieb in ihrem Gedächtnis haften: als die gepeinigte See aufsprang wie eine massive graue Wolke, wurde der Körper eines einzigen Mannes auf der Spitze der Wasserfontäne empor geworfen, eine Marionette mit wirbelnden Armen und Beinen, die noch im Tode ihren Zorn und Protest zu äußern schien. Es kam ihnen vor, als hinge sie lange dort in der Luft, Compass Rose verfluchend, ehe sie zurückfiel in die kochende See. Als das Schiff ins Explosionsgebiet zurückdrehte und es im Horchgerät still geworden, der Kontakt verschwunden war, glaubten sie in einem Aquarium zu sein, wo vergiftetes Wasser alle Lebewesen getötet hatte. Menschen trieben, halb aus dem Wasser ragend, auf der Meeresfläche wie tote Goldfische in einer Schicht Blut. Fast alle waren zerfetzt oder so zerdrückt, daß nichts Menschliches mehr an ihnen war. Fünf oder sechs, die am Rande des Explosionsfeldes gewesen sein mußten, endeten ordentlicher: vom Kinn bis zum Unterleib aufgerissen, waren sie säuberlich ausgeweidet wie entgrätete Heringe. Schon waren Seemöven geschäftig über ihnen, kreischend vor Aufregung und Entzücken. Sonst war alles still. Keiner blickte Ericson an, als sie von der Stätte abbogen: wer es getan hätte, wäre zurückgeschreckt vor dem Ausdruck seines Gesichts und seiner unwahrscheinlichen Blässe. Voller Selbstvorwürfe, von Grauen gepackt über das, was er getan, hatte er jetzt schon erkannt, daß dort gar kein U-Boot gewesen war: das Echo rührte wahrscheinlich von dem torpedierten Schiff her, als es langsam zu Grunde sank, oder von dem durch das Sinken aufgerührte Wasser. Wie er es auch betrachten mochte: das Blutbad, das er angerichtet, stand einzig da – als krasser, rein britischer Beitrag zum Erfolg ihrer Fahrt… Bis sie die Meerenge durchfahren, den heißen Geruch Afrikas, der von Ceuta herüberwehte, verspürt und Kurs auf den Hafen von Gibraltar genommen hatten, waren sie alle längst am Ende ihrer Kräfte. Es hatte zu lange gedauert, war ein zu gräßlicher Mißerfolg gewesen und 207
hatte zuviel gekostet. Acht Tage lang hatten sie so gut wie ununterbrochen in Gefechtsbereitschaft gestanden, hatten viele Stunden Schlaf opfern müssen, sich nur durch eilige Mahlzeiten von Kakao und belegten Broten aufrechterhalten, und die ganze Zeit in der immer wieder neuen angstvollen Unruhe, die ihre Nerven bis zur Verzweiflung angespannt hatte. Auf der ganzen Reise hatten sie kaum einen Moment die Gefahr vergessen dürfen, die am Wege auf sie lauerte, und ebensowenig die bevorstehenden Tage neuer Nervenproben. Keine Entspannung, kein Friede war möglich gewesen. Hungrig, schmutzig und müde von einem Sonnenaufgang zum nächsten, hatten sie in einem Schiff gelebt, das vollgestopft und aus aller Ordnung gebracht war von nahezu dreimal so viel Menschen, als an Bord gehörten. Und bei alledem war von ihnen ein Maß an Wachsamkeit und Leistungen verlangt worden, das schon unter normalen Verhältnissen schwer genug gewesen wäre. Nichts schmetterte sie so nieder wie die Erkenntnis, daß sie alles umsonst getan hatten: wie vergeblich waren ihre Opfer an selbstverleugnender Ausdauer und Nervenkraft gewesen! Außer Sorrel, deren Verlust für sie auf einem besonderen Blatt stand, hatten sie vierzehn Schiffe aus einem Geleitzug von einundzwanzig verloren – zwei Drittel des Gesamtbestandes ausgelöscht durch eine Serie von Rudelangriffen, die so geschickt und mit so wilder Zähigkeit erfolgten, daß ihre Gegenmaßnahmen fast fruchtlos blieben. Das war das Elende an dieser Reise: die unleugbare Erkenntnis, wie vergeblich alles sein mußte, die Erkenntnis, daß doch stets mehr U-Boote als Abwehrfahrzeuge auf dem Kampfplatz waren und die U-Boote zuschlagen konnten und treffen konnten, wann und wo es ihnen beliebte. Den Sicherungsfahrzeugen, auch Compass Rose, war es vorgekommen, als schlügen sie ständig ins Leere: ihnen blieb kaum anderes übrig als zu Beginn jedes Morgens die Verluste des Konvois zu zählen und dann und wann eine Kraftprobe zu liefern, die so verpuffte wie sich ein paar Wassertropfen im Meer verlieren. So waren sie zuletzt förmlich krank von dem endlosen Blutbad und vom Kampf überhaupt. Als Gegenrechnung für den vernichtenden Aderlaß des Geleitzuges, der bei weitem der schlimmste aller Kriege sein mußte, hatte Viperous ein U-Boot versenkt, und noch ein zweites war vermutlich zerstört. Und Compass Rose allein hatte hundertfünfundsiebzig Schiffbrüchige aufgenommen, ungefähr doppelt soviel Menschen wie sie als Besatzung hatte. Aber wie gering erschien das gegenüber dem Gesamtverlust an Menschenleben! Wie wenig erschien es gegen die Männer, die sie durch Wasserbomben getötet hatten, anstatt sie zu retten, wie wenig im Schatten der Gestalt des schwer geschlagenen Kommandanten von Sorrel, der stumm grübelnd im Hintergrund der Brücke stand, als Compass Rose in den geschützten Hafen von Gibraltar glitt, im Schatten des mächtigen Felsens, der die kleinen besiegten Schiffe dort 208
unten zwergenhaft klein zu machen und zu verhöhnen schien. Um halb neun am Abend nach ihrem Einlaufen klopfte es an die Tür der Kajüte. Ericson, der im Lehnstuhl saß, ein Glas in der Hand und eine halb geleerte Flasche Gin neben sich auf einem Tischchen, rief: »Herein!« Seine Stimme war ganz tonlos, aus ihr klang nur noch die Apathie eines gequälten Gewissens. Seit vier Uhr hatte er andauernd getrunken, um gewisse Bilder der eben beendeten Fahrt zu vergessen oder unkenntlich zu machen. In seinem Gesicht stand zu lesen, daß ihm das nicht gelungen war. Auf sein Herein betraten drei merkwürdige Gestalten die Kajüte: drei große, sehr blonde Männer, alle drei in himmelblauen Anzügen von peinlich steifem Schnitt, in grellfarbigen Hemden mit breiten, braunen Streifen, und gelben, spitzen Schuhen. Sie standen vor ihm wie ein Trio aus einer burlesken Varieteszene und blickten halb zweifelnd, halb lächelnd auf den im Sessel zusammengesunkenen Mann. Ihre Mienen zeigten, daß sie auf eine erfreute Begrüßung gerechnet hatten, obwohl sie noch unsicher zu sein schienen, wie sie letzten Endes in dieser ihnen fremden Umgebung bestehen würden. So wirkten sie wie drei Schüler, die aus Versehen in die Wohnung des Direktors geraten sind. Der Kommandant erhob sich ein wenig schwankend und konzentrierte mit Mühe den Blick auf sie. »Wer –?« begann er, aber schon hatte er sie erkannt: es waren drei seiner unfreiwilligen Passagiere, Kapitäne norwegischer Dampfer, die, vor einigen Tagen von Compass Rose geborgen, solange in der Messe gewohnt hatten. Als Ericson sie zuletzt gesehen hatte, trugen sie noch Reste ihrer Uniformen. Inzwischen waren sie, wie er sah, in Gibraltar an Land gewesen, wo ein Konfektionsgeschäft sie so schlecht wie möglich mit Zivilanzügen ausgestattet hatte. Eine höchst wirkungsvolle Verkleidung für Männer, die in ihrem regulären Anzug als Schiffskapitäne durchaus zäh und respektgebietend zu wirken vermochten. Der größte und blondeste der drei, den sie vielleicht zum Sprecher bestimmt hatten, trat einen Schritt vor und sagte in einem Ton, der nur wenig merken ließ, daß er nicht mehr ganz nüchtern war: »Guten Abend, Kapitän. Wir sind wiedergekommen, um Ihnen für unsere Lebensrettung zu danken.« Ericson blinzelte. »Hatte Sie nicht gleich erkannt«, sagte er mit ebenso verschleierter Stimme. »Kommen Sie, nehmen Sie Platz und trinken Sie ein Glas.« »Danke, nein«, sagte der Sprecher. »Danke, ja«, sagte der hinter ihm, »ich möchte mit diesem tapferen Mann trinken, der sein Schiff mitten im Feuer gestoppt und mir mein Leben erhalten hat.« »Und ich auch«, sagte der dritte, der den schlimmsten Anzug und das 209
scheußlichste Hemd trug, »ich habe denselben Wunsch, aber in noch stärkerer Weise. Auch im Namen meiner Frau und meiner drei Kinder.« »Das ist schön«, sagte Ericson etwas betreten. »Aber wir wollen uns doch setzen. Was möchten Sie trinken?« Als sie alle drei ihre Gläser hatten und auf den harten Kajütenstühlen saßen, geriet das Gespräch ins Stocken. Sie hatten auf ihren Erretter einen formellen Toast ausgebracht und nachher bei jedem Schluck mehrmals das Wort ›Skoal‹ wiederholt, doch darüber hinaus wußten sie offenbar nicht viel zu sagen. Ericson war zu sehr in seine Grübeleien vertieft gewesen, um ohne Übergang ein gemütliches Gespräch anknüpfen zu können, und seine drei Besucher, die bestimmt bei ihren Einkäufen an Land auch Umwege durch verschiedene Kneipen gemacht hatten, waren durch ihr mangelhaftes Englisch sowieso gehemmt. Er raffte sich zu einigen Komplimenten über ihre neuen entsetzlichen Anzüge auf, es folgten wieder ein paar Schnäpse mit weiteren ›Skoal‹-Rufen, und dann trat eine bleierne Stille ein, und zwar eine Stille, aus der sofort ersichtlich wurde, daß alles bisher Gesagte, wie lebhaft es auch geklungen haben mochte, nur eine magere gesellschaftliche Geste gewesen war. Endlich wurde das Schweigen gebrochen durch den ersten der drei Kapitäne, der sich vorbeugte und feierlich sagte: »Wir wissen, daß Sie über vieles nachdenken müssen.« »Ja«, sagte Ericson, »ich war gerade dabei.« »Tut es Ihnen leid?« »Ja«, antwortete Ericson wieder, »sogar sehr.« Jetzt beugte sich auch der zweite Kapitän vor: »Die Männer im Wasser?« fragte er. Ericson nickte. »Die Männer, die Sie töten mußten?« fragte der dritte. »Die Männer, die ich töten mußte«, wiederholte Ericson nach einer Pause. Ihm fiel ein, daß er einmal ein russisches Stück gesehen hatte, in dem die Dialoge so verliefen. Vielleicht waren die norwegischen Stücke ebenso. »Es war notwendig«, sagte der erste mit Nachdruck, und die beiden andern nickten. »Ja«, sagte der zweite. Der dritte sagte: »Skoal!« und nahm einen kräftigen Schluck. »Vielleicht«, antwortete Ericson, »aber dadurch sahen sie gewiß nicht schöner aus, wie?« »Es ist Krieg«, sagte der zweite Kapitän. »Skoal!« sagte der erste. »Entschuldigen Sie mich«, sagte der dritte. Als er wieder hereinkam, riß sich Ericson vorübergehend aus seinem Tiefsinn. »Ich hatte wirklich geglaubt, daß dort ein U-Boot wäre«, sagte er, »sonst hätte ich doch nicht so 210
gehandelt.« Er merkte, wie dumm das klang, und setzte hinzu: »Ich mußte eine Entscheidung treffen. In meinem Bericht steht das alles.« »Da gibt es keine Vorwürfe«, sagte einer der Kapitäne. »Aber es gibt Gedanken«, sagte ein anderer. »Natürlich gibt es die.« »Für Gedanken gibt es Gin«, sagte der erste, als sei das die schärfste Logik. »Skoal!« sagte Ericson. In diesem Stil ging es noch sehr lange weiter. Er fand das weder besser noch schlimmer als das Alleinsein. Und als seine drei Besucher gegangen waren, war es ihm noch nicht leichter zumute: er griff nur wieder zur Ginflasche. Es war ganz richtig: für Gedanken gab es Gin. – Lockhart war es, der ihn schließlich, eine Weile nach Mitternacht, entdeckte: in der Nähe seiner Kajüte über die Reling gebeugt, stierte Ericson ins Wasser und murmelte unverständliche Worte. Lockhart selbst befand sich, obwohl er weniger getrunken hatte, mit seinen Gedanken ebensowenig im Reinen. Er war vor ein paar Stunden mit Kapitänleutnant Ramsay, dem Kommandanten von Sorrel, an Land gegangen, um ihn zu seinem Quartier in der nahen Marinekaserne zu begleiten. Ein stiller, trauriger Gang war es gewesen, zwischen den vielen Menschen, deren Heiterkeit auf sie nicht ansteckend wirkte. Fast wie Fremde hatten sie sich dann voneinander verabschiedet. Als er wieder an Bord kam, war es ihm unmöglich gewesen, sich schlafen zu legen: er war ›übergedreht‹ wie fast die ganze Besatzung. War so erschöpft, daß er sich nicht zu entspannen vermochte; zu viele Gedanken verhinderten seinen Schlaf. Gerade als er das ruhelose Hin- und Hergehen auf dem eisernen Deck aufgeben wollte, fand er seinen Kommandanten wie einen hoffnungslos Geschlagenen dort an der Reling. Also ging es jemand an Bord noch schlechter als ihm selbst! Die große, kraftvolle Gestalt regte sich, als er näherkam, und wandte sich zu ihm um. »Geht es Ihnen nicht gut, Sir?« fragte Lockhart. »Nein«, antwortete Ericson sofort. »Ihnen kann ich es sagen: absolut nicht gut!« Er sprach mit schwerfälliger Zunge. Zum erstenmal hörte Lockhart ihn so, und nach den zwei Jahren ihres engen Verbundenseins wurde es ihm schwer, diese Stimme eines Niedergeschlagenen mit der des Energischen, die er so gut kannte, in Einklang zu bringen. Er trat dicht neben ihn und lehnte sich ebenfalls über die Reling. Sie befanden sich auf der von der Pier abgewandten Seite: vor ihnen lag, geisterhaft im Mondenschein, der Hafen, und geradeaus sahen sie als nächstliegendes Schiff den schwarzen Schatten des Flugzeugträgers Ark Royal, hinter dem der Riesenfelsen von Gibraltar aufragte, Gibraltar, das so lange Tage und Nächte ihr Endziel gewesen war. Das Schiff um sie her war, nach der verheerenden Reise ausruhend, bedrückend still. 211
»Sie müssen das alles vergessen«, sagte Lockhart, indem er plötzlich die Schranken dienstlicher Zurückhaltung, die sonst zwischen ihnen lagen, durchbrach. »Es hat keinen Zweck, sich jetzt noch damit zu quälen – ändern läßt es sich nicht mehr.« »Es war ein U-Boot da!« schrie Ericson wütend. Jetzt war er sinnlos betrunken. »Ich weiß das ganz verdammt genau! Steht alles in meinem Bericht.« »Die Schuld lag jedenfalls bei mir«, sagte Lockhart. »Ich hatte es als UBoot ausgemacht. Wenn einer die Männer umgebracht hat, dann war ich es.« Ericson blickte zu ihm auf. Kaum glaublich: ihm drangen Tränen aus den Augen, sie glitzerten wie Edelsteine, die sich von einer Maske lösen – Zeichen sowohl seiner Schwäche wie seiner Männlichkeit. Lockhart betrachtete sie erstaunt und voll Gefühl: wie rührend war dieses bleiche, unruhig arbeitende Gesicht, wie tröstlich nach den quälenden Prüfungen waren die glitzernden Tränen dieses starken Mannes… Er tat, als wolle er sprechen, nur um Ericson davor zu behüten, daß er sich weiter bloßstellte, aber der legte ihm plötzlich die Hand auf die Schulter und sagte, fast wieder in seinem gewohnten Ton: »Keiner hat sie umgebracht – es ist der Krieg! Wir müssen so etwas eben tun und nachher beten. – Haben Sie getrunken, I.W.O.?« »Yes, Sir«, antwortete Lockhart, »ziemlich viel sogar.« »Ich auch. – Zum erstenmal seit der Indienststellung des Schiffes. Gute Nacht.« Ohne eine Antwort abzuwarten, machte er kehrt und ging schlurfend auf den Kajütseingang zu. Einen Augenblick später hörte Lockhart einen dumpfen Aufschlag und fand Ericson, als er ihm in die Kajüte folgte, zusammengebrochen, mit herabhängendem Gesicht, wie bewußtlos im Lehnstuhl. »Sir«, sagte er ganz formell, »Sie sollten sich lieber in die Koje legen.« Kein Laut, nur Ericsons hartes Atmen war zu hören. »Du armer treuer Kerl«, sagte Lockhart, halb zu sich selbst und halb zu der unter ihm ausgestreckten Gestalt, »du armer treuer Kerl, jetzt ist es sogar dir beinah zuviel geworden, nicht wahr?« Er überlegte, ob er ihm die Uniform ausziehen und ihn, so gut es ging, in die Koje bugsieren sollte, aber das hätte er doch nicht geschafft: das steife Gewicht von fast hundert Kilo wäre ihm jetzt zuviel geworden. Statt dessen begann er, den Körper seines Kommandanten so weit herumzuhieven, daß er bequem in seinem Sessel lag, und sprach laut dabei: »Ich kann dich nicht zu Bett bringen, mein lieber und verehrter Kommandant, aber es dir wenigstens gemütlicher machen für die Nacht, das kann ich. – Du wirst einen tüchtigen Brummschädel haben, wenn du aufwachst, meine Güte! Ich möchte morgen nicht zu denen gehören, die 212
sich bei dir zum Rapport melden müssen. So, nun streck’ hübsch die Beine lang – « Er lockerte ihm Kragen und Krawatte, blickte noch eine Weile auf ihn nieder, wie er nun entspannter im Sessel lag, und wandte sich dem Ausgang zu. »Mehr kann ich nicht für dich tun«, murmelte er noch, die Hand am Lichtschalter. »Wünschte, es könnte mehr sein – daß ich dich richtig kurieren könnte –!« Er knipste das Licht aus. »Betrunken oder nüchtern, Ericson: du bist in Ordnung…« Als er schon halb draußen war, vernahm er hinter sich die Stimme des andern, matt und schläfrig: »I.W.O. – ich habe das gehört.« »Das macht nichts, Sir«, sagte Lockhart ohne Verlegenheit, »ich hab’s so gemeint. – Gute Nacht.« Schweigen herrschte an Deck, als er hinauskam, Schweigen, als er die Treppe zur verlassenen Messe hinabstieg. Rings um ihn, unten wie oben, lag das erschöpfte Schiff im Schlaf und hoffte die gräßlichen Erlebnisse vergessen zu können. Er dachte noch einen Augenblick an diese jüngste Vergangenheit und an seinen eigenen Schuldanteil. Dann schloß er den Schrank der Anrichte auf, setzte ein Flasche und ein Glas auf den Tisch und trank, einem Beispiel folgend, das ihm jetzt vortrefflich erscheinen mußte – bis er nichts mehr denken konnte… Morell saß bequem auf einem Balkon oberhalb der Hauptstraße von Gibraltar und trank würdevoll aus einem hohen Glase Tio Pepe, einen exquisiten hellen, trockenen Sherry. Unten wurde die Menschenmenge dichter, als die Landurlauber von den vielen Schiffen sich dazwischenschoben. Hier gab es soviel Neues zu tun und zu sehen: die Läden waren angefüllt mit Seidenstrümpfen und Parfüms, an den Mietkutschen, die sich durch die engen Straßen zwängten, kräuselte der Seewind die Stoffverdecke, aus den Cafes und Bierhallen drangen ohne Pause verlockend Musik und Gelächter: all das machte dem Seemann Spaß, wenn er wieder Land unter den Füßen spürte. Die Marine freute sich immer auf den Besuch von Gibraltar, und für die Männer von Compass Rose war dieser Besuch ein wahres Heilmittel nach der Niederlage, denn er ließ sie das Wunder, eine so fürchterliche Reise überlebt zu haben, erst richtig empfinden. Morell begrüßte wie die andern das Gebotene mit größter Bereitschaft: nach einer Woche im Hafen hatten die heiße Sonne, in der sie es sich im weißen Tropenanzug leicht machen konnten, das Schwimmen an der Ostseite des Felsens, das Studium der fremden Gesichter auf den Straßen, hatte der ganze Zauber eines ausländischen Hafens seinen Reiz noch nicht verloren. Auf der Fahrt hatte es wahrhaftig nichts Erfreuliches gegeben, aber wer das Glück hatte, sie lebend zu beenden, anstatt tot wie die meisten Kameraden 213
von Sorrel, der wußte Gibraltar als Aufenthalt sehr zu schätzen. Sie spürten auch bald, daß sie hier besonderes Ansehen genossen: Gerüchte über ihre katastrophale Geleitfahrt waren beim Personal des Flottenstützpunkts schnell in Umlauf gekommen, und wenn einer von den Sicherungsfahrzeugen in der Marinemesse an Land nur erwähnte ›Wir waren bei A. G. 93‹, schwieg man sogleich aufmerksam, und eigenartig forschende Blicke richteten sich auf den Sprecher. ›A. G. 93‹ war ein berüchtigtes Geleit: jeder, der dabei gewesen, hätte von Rechts wegen entweder durchgedreht oder tot sein müssen. – Und der fragwürdige Stempel dieses Erlebnisses bedeutete etwas in einem Hafen wie Gibraltar, der im Kriege eine so dramatische Rolle spielte als Stützpunkt für Großkampfschiffe, die durch ihren Mut und Angriffsgeist weltberühmt wurden. Da lag zum Beispiel dicht bei ihnen im Hafen die Ark Royal: ihr hoher Bug lud aus wie eine überhängende Klippe, die Turmbauten ragten über das riesige Startdeck. Ark Royal war das meistgejagte Schiff auf den sieben Meeren, Ziel der Bomben, der Torpedos und der protzigen Lügen des Feindes. Bei ihr lagen der Schlachtkreuzer Renown und der Rest von ›Force H‹, der berühmten Schiffsgruppe, die die Geleitzüge nach Malta gegen wütende Attacken durchkämpfte und obendrein noch Zeit fand, die Bismarck bis zu ihrem Ende zu verfolgen, tausend Meilen nördlich von ihrem sonstigen Wirkungskreis. Um diese Großen herum lagen in dem wimmelnden Hafen die kleineren Schiffe: die Zerstörerflottillen, die Minensucher der Flotte, die Unterseeboote, die die Küstenschiffahrt des westlichen Mittelmeeres unsicher machten. Und jenseits der Bucht, in Algeciras, spionierten die Augen des Feindes, der behaglich sein Privileg ausnutzte, unter dem Schutz von Spaniens Fittichen, das auf diese Weise ›zum Siege beitrug‹. Weit im Osten lagen Kreta und Griechenland, wo der Feind gerade blutige Einfälle machte, und über all dem wachte der sagenhafte Gibraltarfelsen, dieses uneinnehmbare Labyrinth von Tunnels und Aufzügen, von Munition, Proviant und Kanonen, das die Wasserstraße sozusagen an der Kehle gepackt hielt und noch tausend Quadratmeilen Ozean in demselben tödlichen Griff. Morell ließ sich noch ein Glas Sherry bringen und blieb in seiner gemütlichen Ecke am Abhang der Festung sitzen, beobachtete die sinkende Sonne und die länger werdenden Abendschatten, während er in vollkommener Zufriedenheit das köstliche Getränk schlürfte. Auf einmal drang aus einem Cafe weiter unten auf der Straße unklares Geschrei und anderer Lärm, aber er rührte sich nicht einmal zu einem Blick über das Balkongitter, da er nicht im mindesten neugierig war, was der Spektakel bedeuten mochte. Sollten dort Leute von Compass Rose in eine Rauferei verwickelt sein, dann erfuhr er das morgens noch früh genug. Waren es andere, so mochten sie sich seinetwegen mit zersplitternden Flaschen die 214
Schädel einschlagen, das sollte ihm egal sein. Er wollte von diesem Augenblick nur das, was er bot: wollte keine Aufregungen, keine Verwicklung, auch keinen ›Engel über den Weg‹. Sie hatten ihre Prüfung hinter sich, hatten sie lebend überstanden, und es war schön, sehr schön, es sich endlich einmal bequem machen zu können. Am sechsten Tage ihrer Heimreise kam gegen Mittag Obermaschinist Watts mit sorgenvollem Gesicht auf die Brücke. Bisher war mit dem Geleitzug für England alles gutgegangen: kein beschattendes Flugzeug war am Himmel erschienen, kein U-Bootschrecken belauerte sie, keine Tragödie ereignete sich. Zur Abwechslung war das einmal schön. – Aber jetzt sah es aus, als sollte die Sache nicht mehr gut gehen, und er mußte die unangenehme Botschaft überbringen. »Captain, Sir!« Watts stand hinten auf der Brücke und trat verlegen von einem Fuß auf den andern. Er erschien nur oben, wenn es unbedingt sein mußte, weil er sich hier ganz fremd vorkam: er fühlte sich nur auf der eisernen Plattform seines Maschinenraums zu Hause, drei Decks tiefer, zwischen den Rohren und Manometern, die er so gut kannte. Die frische Luft hier oben, die strengen Gesichter der Wachhabenden, die wehenden Flaggensignale und die an den Bordwänden entlangrauschende See, das war gar nicht nach seiner Mütze. Sogar sein Overall und die ölfleckigen Segeltuchschuhe wirkten hier komisch, wo alle andern in Seestiefeln und warmen Wachmänteln standen. Ericson, der gerade das Mittagsbesteck nehmen wollte und an dem schönen Sonnenschein seine Freude hatte, wandte sich um, als er Watts hörte. »Na, Chief? stimmt irgendwas nicht?« »Leider, Sir.« Watts trat, die Hände an seinem Anzug reibend, weiter vor. Sein graues Faltengesicht sah bekümmert aus. »Da ist ein Lager, das mir gar nicht gefallen will. Es ist ganz heiß gelaufen, wird fast rotglühend. Ich möchte eigentlich die Maschinen stoppen, Sir, um es mal nachzusehen.« »Sie meinen doch nicht etwa die Hauptwelle, L.L?« Ericson wußte, daß seine Kenntnisse vom Maschinenraum, die sozusagen für den Hausgebrauch genügten, für technische Feinheiten nicht ausreichten, und wollte daher sofort Klarheit haben. »Yes, Sir. Muß ein blockiertes Ölrohr sein, soweit ich’s erkennen kann.« »Genügt es nicht, wenn wir langsamer laufen? Stoppen möchte ich nur, wenn das unvermeidlich ist.« Watts schüttelte energisch den Kopf. »Wenn wir die Welle weiter drehen lassen, kann’s nur schlimmer werden, Sir. Und ich kann, wenn die Maschine läuft, die Ölzufuhr nicht vom Hauptrohr aus nachprüfen. Es ist das achtere Lager, sitzt ganz in einem Winkel, wo man schlecht beikommen kann.« 215
Ericson legte die Stirn in Falten und versuchte, sich die unklare Vorstellung deutlicher zu machen. Aber die Antwort schien auch ihm ganz klar: wenn ein Hauptlager heißlief, bekam es nicht genügend Öl. Wenn ihm dauernd Öl entzogen wurde, mußte das Metall sich bis zum Schmelzpunkt erhitzen, Lager und Muffe schweißten dann zusammen und – und die Hauptwelle saß fest. Das war für seine Begriffe zwar ein mechanisches Mysterium – er suchte noch nach Auswegen, fand aber keine. Also mußten sie das Schädlichste tun, was es im Seekriege gab: mitten im Ozean wegen Maschinenschadens ihr Schiff stillegen. »Allright, L.I.«, sagte Ericson, zum Entschluß gekommen. »Ich werde ein Signal machen und dann die Maschine abklingeln. Aber bitte die größte Beeilung.« »Dafür werde ich sorgen, Sir.« Sie liefen noch in Sicht von Viperous, die im Zickzackkurs in weiten Schlägen vor dem Konvoi herfegte. Als Compass Rose ihr die Störung meldete, kam die lakonische Antwort: »Unabhängig handeln, mich auf dem laufenden halten.« »Meldung ›verstanden‹«, sagte Ericson kurz zu Rose, der Signalwache hatte. Dann rief er zum Ruderhaus hinunter: »Steuerbord zehn. Maschine stopp!« Compass Rose drehte in weitem Bogen vom Geleitzug ab, wurde langsamer und lag still. Auf der Brücke sahen sie schweigend zu, wie der Geleitzug an ihnen vorbeidampfte. Die Korvette, die als Achteraus-Sicherung fuhr, änderte ihren Kurs, um dicht an Compass Rose entlangzulaufen, wie ein neugieriger Terrier, der nicht weiß, ob er mit dem Schwanz wedeln oder bellen soll. Unten im Maschinenraum machten Watts und der Maschinenmaat Gracey sich an die Untersuchung der Ölzufuhr. Es war wirklich ein schwer zugänglicher Winkel, wo die Rohrverbindungen dicht vor einem Schott lagen, kaum erreichbar: wollten sie den Schaden feststellen, so mußten sie das verdächtige Ölrohr zwischen einem Dutzend anderer abmontieren und es dann noch in Teile zerlegen, um die blockierte Stelle zu finden. Im Maschinenraum war es sehr heiß und die Arbeit nur in tief gebückter Stellung möglich, wobei jeder von einer Seite die Verbindungsknie zu packen versuchte, weil sie nebeneinander nicht stehen konnten. Um ein paar Teile der Rohrleitung herauszunehmen, mußten sie vorher noch andere losmachen. So dauerte es volle zwei Stunden, bis sie die Ursache ermittelt hatten: ein L-förmiges Rohrstück war offenbar vollkommen verstopft. Watts trat zurück und reckte sich. In einer Hand das Rohr, wischte er sich mit der andern den Schweiß von der Stirn. »Und nun?« fragte er. »Wie sollen wir feststellen, was drin sitzt?« 216
»Dran saugen und nachsehen, denke ich«, antwortete Gracey, der in den Mannschaftsräumen als Komiker bekannt war. »Holen Sie ein Stück Draht«, sagte Watts kühl. Es gab ja Leute, die sich mit einem Obermaschinisten Scherze erlauben durften, aber Maschinenmaate noch lange nicht! »Nicht zu dick. – Ich werde dem Kommandanten Bericht geben.« Nach weiteren zwei Stunden pausenloser Arbeit hatten sie noch kein Ergebnis. Die Verstopfung in dem Rohr schien eisenfest: das Hindernis ließ sich weder hinausblasen noch durchschieben, weder schmelzen noch zerstückeln. Ericson, auf der Brücke seines stilliegenden Schiffes untätig wartend, wäre am liebsten in den Maschinenraum gestürmt und hätte gebrüllt, sie sollten endlich mit der Bummelei aufhören und die Geschichte fertigmachen, aber er wußte, daß das ebenso zwecklos wie unfair gewesen wäre. Watts gab sich bestimmt die größte Mühe, und keiner verstand seine Sache besser als er. Um vier Uhr, nachdem die letzten Schiffe des Geleitzugs hinter der Kimm verschwunden waren, hatte Ericson eine Meldung mit der Erklärung der notwendigen Reparatur an Viperous gesandt. Außer einer bloßen Bestätigung war keine Antwort gekommen, und das fand er vorbildlich von dem Zerstörer, denn es hieß: ›Ihr werdet schon bestens damit fertig werden und so schnell wie möglich wieder zum Geleit stoßen.‹ In eine Brückennock gekeilt, starrte Ericson auf das dunkle ölige Wasser, in dem der bewölkte Himmel sich spiegelte. Hinter ihm beschäftigten Ferraby und Baker, die Wache hatten, sich gelangweilt mit der Betrachtung der Einzelteile einer Hotchkiss Flak, die ein Kanonier zerlegte. Das Horchgerät klirrte und schwirrte in eintöniger Wachsamkeit, der Antennenschirm des Radargeräts kreiste einen fernen, unsichtbaren Horizont ein, die beiden Ausguckposten nahmen die Ferngläser hoch und suchten ihre Sektoren ab: voraus, achteraus und wieder voraus. Compass Rose lag ganz ohne Bewegung, ihre Kriegsflagge hing regungslos, ihr undeutlicher Schatten auf der See verschob sich weder noch änderte er die Konturen. Das Schiff wartete auf zweierlei: daß seine Maschine wieder lief, und auf das, was ihm sonst noch passieren konnte, ohne Vorwarnung und ohne Verteidigungsmöglichkeit. Wer konnte denn wissen, was unter der Oberfläche des dunklen Meeres lag, welches feindselige Auge sie gerade in diesem Moment beobachten mochte? In dem nervösen, bedrückenden Schweigen nahmen diese Gedanken überhand, denen sie nichts weiter entgegensetzen konnten als die Hoffnung, wieder in Gang zu kommen. Auf dem Achterdeck beschäftigten ein paar Matrosen sich mit Angeln. Hätte der Kommandant ihnen erklärt, daß sie hier tausend Faden Wasser unter sich hatten, so wären sie wohl trotzdem dabei geblieben, denn sogar Angeln war in solchen Momenten besser als gar nichts tun, selbst wenn man 217
nur ein Stück Brotrinde als Köder zweitausend Meter über dem Meeresgrund aushängte. Obermaschinist Watts war zu einer Entscheidung gekommen, die zwar eine beträchtliche Verlängerung des Aufenthalts bedingte und außerdem die Gefahr barg, daß wichtige Maschinenteile hoffnungslos ruiniert werden konnten, aber es blieb keine andere Wahl. »Wir müssen das Rohr in Teile zersägen«, sagte er zu Gracey, nachdem sie abermals vergeblich an dem verstopften Rohrteil herumgestochert und geklopft hatten. »Stück für Stück, bis wir finden, wo es verstopft ist.« »Und dann?« »Saubermachen und alles wieder zusammenlöten.« »Da werden wir wohl die ganze Nacht dran sitzen«, sagte Gracey mürrisch. »Und wenn wir’s nicht tun, den ganzen Krieg«, gab Watts zurück. »Holen Sie eine Metallsäge, inzwischen sage ich dem Kommandanten Bescheid.« Watts war gerade auf der Brücke, als Viperous gegen fünf Uhr nachmittags, in hoher Fahrt aus Nordwesten auftauchend, wieder in Sicht kam. Sobald der Zerstörer an der Kimm erschien, flackerte seine Signallampe auf. Er wollte alles wissen: wie weit die Reparatur fertig, wann das Schiff wieder marschfähig sei, ob es während des Stilliegens verdächtige Unterwasserechos gehabt oder ein Flugzeug bemerkt habe. Sich mit Watts beratend, antwortete Ericson so genau wie möglich: daß der Schaden entdeckt worden sei und sehr wahrscheinlich behoben werde, daß sie aber voraussichtlich dazu noch die ganze Nacht brauchten. Viperous, die bei Beginn des Signalaustausches ihre Fahrt stark herabgesetzt hatte, zog indes ungefähr zehn Meilen von ihnen gemächlich Kreise. Nach einer Pause gab sie die Antwort: »Kann Ihnen leider keinen Schutz für die Nacht zur Verfügung stellen.« »Das macht durchaus nichts«, ließ Ericson zurückmelden, »wir werden auch allein schlafen können.« Er setzte das hinzu, damit man sich auf dem Zerstörer keine Sorgen machte. Selbstverständlich konnten nicht bei Nacht zwei Sicherungsfahrzeuge vom Geleit entbehrt werden, also gab es über diese Entscheidung absolut nichts zu debattieren. Wieder folgte eine Pause. Viperous schlug wieder Kurs nach Norden ein, drehte ihnen das Heck zu und gab abschließend das Signal »Muß das weitere Ihnen überlassen. Alles Gute.« Damit zog sie davon und signalisierte kurz vor dem Verschwinden aus der Reichweite noch: »Gute Nacht, Aschenbrödel.« »Gute Nacht, liebe ältere Schwester«, diktierte Ericson Rose, ließ aber die Meldung streichen, bevor sie abgegeben werden konnte. Da der Kommandant von Viperous immerhin Vorgesetzter von ihm war, wollte er das nicht riskie218
ren. Die Reparaturen dauerten zwar nicht die ganze Nacht, stellten sie aber viele Stunden auf die Probe. Watts mußte das Ölrohr achtmal durchschneiden, bevor er das eigentliche Hindernis fand: in einem Kniestück, zu einem festen harten Pfropfen zusammengepreßt, ein Klumpen Putzwolle. Über die Frage, wie die da hineingekommen war, spekulierte Watts eine halbe Stunde unter ingrimmigen Flüchen, so daß Maschinenmaat Gracey und die übrige Besatzung des Maschinenraums Gelegenheit hatten, das ganze System der Marinedisziplin von der unfreundlichen Seite aus zu betrachten. Zeit durfte jedoch nicht vergeudet werden: bei all seinen wütenden Fragen und Flüchen arbeitete Watts flott an den einzelnen Rohrstücken, und es gelang ihm, sie so wieder aneinanderzulöten, daß sie ungefähr ihre ursprüngliche Länge und Krümmung hatten. Vielversprechend sah das Ergebnis allerdings nicht aus, und es gab neuen Aufenthalt und um ein Haar einen völligen Fehlschlag, als ein Rohrteil unter der Lötlampe zusammenschmolz, aber schließlich wurden doch alle Teile an der Schadenstelle einigermaßen glatt wieder aneinandergefügt, und nun galt es nur noch, sie mit List und Tücke wieder in dem unglücklichen Winkel zu montieren. Inzwischen war es draußen dunkel geworden. Für die Nacht ließ Ericson außergewöhnliche Vorsichtsmaßnahmen treffen. Lockhart ging drei oder viermal über Deck, um sich zu überzeugen, daß auch nicht der kleinste Lichtschimmer sie verraten konnte. Der Rundfunk in Messe und Mannschaftsdecks wurde abgeschaltet und strengster Befehl gegeben, jederlei Lärm zu vermeiden. Die Boote wurden ausgeschwungen, klar zum Pieren, die Zurrrings von den Flößen abgenommen für den Fall, daß sie, wie Tallow unterstrich, »Hals über Kopf zum Schwimmen antreten« müßten. »Und wenn einer von euch heute nacht ein Geräusch von sich gibt«, fügte er hinzu, als sie an Oberdeck arbeiteten, »dann mache ich mir aus seinen Gedärmen eine Krawatte!« In ihrer Situation war das Risiko größer, als wenn sie im Geleitzug stoppten oder langsam liefen, denn diesmal waren sie völlig hilflos: Wenn ein Torpedo unter Compass Rose hindurchlief, war das Glückssache, aber dem nächsten waren sie dann preisgegeben. Von Stunde zu Stunde wurde die Spannung unerträglicher: sie befanden sich genau in dem Seegebiet, wo sie auf der Ausreise so viele Männer hatten sterben sehen. Da saß nun ihr Schiff wie eine lahme Ente und wartete auf den großen Knall. Aber sie konnten nichts anderes tun als warten. Eine Wache folgte der andern: anstatt wie sonst in den Seestiefeln schwer über Deck und die eisernen Treppen zu stampfen, begab sich jeder auf Zehenspitzen an seinen Posten. Compass Rose schwamm bewegungslos, nur gelegentlich klatschte das 219
schwarze Wasser an die Bordwand. Hell glänzend hing der Viertelmond über dem Himmel des Mittelatlantik und zeigte ihnen allen an den Konturen des Schiffes, in wie großer Gefahr sie schwebten. Im ganzen Schiff war die Stimmung dieselbe: die Überzeugung, daß es schiefgehen mußte. Sie hatten alle die gleiche Wut auf die verdammten Stoker da unten, die die Maschine verkleistern ließen und nun langweilig an dem Schaden herumfummelten. Lockhart hatte eigentlich die Absicht, der Wache an Deck und den übrigen Unbeschäftigten bestimmte Arbeiten zuzuteilen, um ihre Gedanken von der drohenden Gefahr abzulenken. Da aber alles, was in Frage kam – Feuerlöschübungen oder Fieren von Booten – mit Lärm verbunden war und womöglich sogar zu unvorsichtigem Gebrauch von Taschenlampen an Deck führte, gab er den Plan wieder auf. Das Warten ohne Beschäftigung ging an die Nerven, aber jede erdenkliche Tätigkeit konnte noch Schlimmeres hervorrufen. Ericson brachte diese ganzen Stunden auf der Brücke zu. In solchen Situationen gab es für ihn keinen anderen Platz, das war für ihn vollkommen selbstverständlich. Die Ausguckposten lösten sich alle halben Stunden ab, von der Messe wurde in regelmäßigen Abständen Kakao nach oben gebracht, Asdic und Radar hielten Wacht ohne Unterlaß und dämpften Ericsons mächtige Ungeduld. Er saß wie der Anführer einer Bande von Straßenjungen auf der Brücke seines nutzlosen Schiffes. Fast die ganze Zeit stierte er ins Wasser und zum Horizont, zuweilen auf den hellen Mond, den keine Wolke verhüllen wollte, und dann wieder auf die schattenhaften Gestalten an Deck, die Männer, die da in stummen Gruppen, um die Geschütze oder die Boote versammelt, warteten, anstatt unter Deck zu gehen und zu schlafen. So eine Situation war für die Besatzung von Compass Rose noch neu, und er konnte ihnen ihre kluge Vorsicht nicht verdenken und ihre Angst nicht übelnehmen. Ein Beispiel für die Nervenanspannung hatte er viel näher bei sich: Ferraby. Der war überhaupt noch nicht unter Deck gegangen, seitdem das Schiff gestoppt hatte. Jetzt lag er, in eine Decke gehüllt, in einem seitlichen Winkel der Brücke. Er lag auf dem Rücken, die Hände unter dem Kopf verschränkt; seine aufgeblasene Schwimmweste blähte sich wie ein üppiger Busen. Seit seiner Ablösung um Mitternacht lag er so, ohne sich zu rühren. Ericson hatte zuerst geglaubt, er schliefe, doch als er einmal eine Runde um die Brücke machte, bemerkte er, daß Ferrabys Augen weit offenstanden und er düster in den Himmel über sich starrte. An seinen Schläfen glänzte Schweiß. Von Schlaf war er sehr weit entfernt. – Ericson war stehengeblieben, hatte auf das blasse Gesicht hinuntergeblickt und freundlich gefragt: »Na, wie geht’s, Sub?« Es war keine Antwort gekommen, kein Zeichen, daß Ferraby ihn gehört hatte. Ericson wiederholte die Frage nicht: jetzt hieß es, Verständnis haben für die nervöse Stimmung anderer und sie ohne Kritik übergehen. Das 220
Schiff lag nun bereits zwölf Stunden als starres, wehrloses Ziel – alle dachten wohl noch an Sorrel, denn in dieser Gegend hatte es die ereilt. War es da ein Wunder, wenn sich bei den Leuten die Nervenstränge bis zum Zerreißen spannten, so daß sie nur mühsam und zitternd Haltung zu bewahren vermochten? Er ging nach vorn und setzte sich stumm wieder in die Ecke. Ferraby war schuldlos an seiner Verfassung: für die überspannten Nerven konnte er ihm ebensowenig einen Vorwurf machen wie einem neugeborenen Kind, wenn es weniger wiegt als erwartet. Der Krieg hatte ihn so geboren. Aber im Unterbewußtsein spürte er einen merkwürdigen Neid. Ihn irritierte der Gedanke, welche ungeheure Erleichterung es wäre, wenn er sich einmal gehen lassen dürfte, die starre Maske des überlegenen Könnens abwerfen und der ganzen Welt, wenn es sein mußte, seine Müdigkeit oder seine Furcht zeigen ›Gibraltar‹, mußte er plötzlich denken: ›dort habe ich mich aufgegeben. Lockhart hat es gesehen. Aber da war es der Alkohol gewesen, Alkohol und Schuldbewußtsein, weiter nichts. Und das soll nicht wieder passieren, jedenfalls jetzt nicht.‹ – In der Finsternis wartend, den Blick auf die kleinen, silbrigen Wellen gerichtet, die im Mondlicht schimmerten, festigte er sich wieder. Nur einmal in dieser Nacht wurde ihr gespanntes Wachen unterbrochen, und alle wurden in Schrecken versetzt. In die Stille nach Ablösung der Wache zu Mitternacht, als nur das leise Klatschen der See an der Bordwand hörbar war, platzte jäh ein lautes Gehämmer unten im Schiff, eine ganze Reihe schwerer Schläge, die Compass Rose erdröhnen ließen. Jeder blickte verstört seinen Nebenmann an, als müsse er bei ihm Beruhigung suchen, und insgeheim verfluchte jeder die im Maschinenraum arbeitenden Männer, weil sie in allen wieder die Angst und den Haß auf diesen Zustand weckten. Der Lärm mußte ja meilenweit zu hören sein –! Auf der Brücke wandte sich Ericson an Morell, der gerade die Wache übernommen hatte. »Gehen Sie doch ‘mal zu Watts ‘runter«, sagte er schroff. »Er soll das Hämmern unterlassen oder dämpfen. Wir können uns solchen Spektakel nicht erlauben.« Als Morell gehen wollte, fügte er, weniger dienstlich, hinzu: »Sagen Sie ihm auch, daß der Torpedo ihn zuerst trifft.« ›Da hat er vollkommen recht‹, dachte Morell, als er die verschiedenen Eisentreppen in den Unterleib des Schiffes hinabstieg: wer sich in solchen Stunden unter die Wasserlinie begab, hatte das Gefühl, wissentlich ins eigene Grab zu steigen. Die kameradschaftliche Bewunderung konnte er den Männern nicht versagen, die dort, drei Meter unter der Meeresfläche, stundenlang hintereinander arbeiteten. Gewiß: das gehörte zu ihrem Dienst, wie es manchmal zu seinem gehörte, frei auf der Brücke stehenzubleiben, wenn ein Flugzeug das Schiff mit Maschinengewehrfeuer bestrich. Aber das kaltblüti221
ge Wagnis, das die Arbeit unter Deck in der gegenwärtigen Lage bedeutete, schien doch wohl eine ganz besondere Nervenkraft zu erfordern. Bei einem Torpedotreffer war die Besatzung des Maschinenraums im selben Moment gefährdet: zehn Sekunden mochten ihnen bleiben, um vor dem einströmenden Wasser herauszukommen, und diese zehn Sekunden, in denen ein Dutzend Männer im Stockfinstern um Zugang zu der einzigen Treppe ringen mußten, waren sicherlich die schrecklichste Todesart, die Menschen erdacht haben konnten… Aber einerlei, ob ihr Leben auf dem Spiel stand – so viel Lärm durften sie bei ihrer Arbeit nicht machen: das hieß ja fast den Kopf in die Schlinge des Henkers stecken. Das Hämmern brach ab, als er die letzte ölige Treppe hinunterglitt, und Watts drehte sich um, da er seinen Schritt auf den Eisenplatten hörte. »Wollen Sie sich den Spaß ‘mal ansehen, Sir? Jetzt dauert’s aber nicht mehr lange.« »So habe ich mir gute Nachrichten vorgestellt, Chief«, antwortete Morell. Ihn vermochte auch die starre Rangordnung der Marine nicht davon abzubringen, Watts, der dem Alter nach sein Großvater sein konnte, anders anzureden als mit diesem inoffiziellen Titel. »Der Kommandant macht sich aber einige Sorgen über den Radau. Läßt sich der nicht ein bißchen abschwächen?« »Wir sind ja schon so ziemlich fertig, Sir«, sagte Watts. »Eben haben wir nur einen Rohrhalter wieder festgeschlagen. – War denn das Hämmern oben zu hören?« »Hören?! Meilenweit kamen überall die U-Boote hoch und schimpften über den Lärm!« Die an der Ölleitung beschäftigten Männer lachten kurz: hier unten hatten Witze über die Unterseeboote nur einen schwachen Beigeschmack von Humor. – Morell betrachtete die Gesichter im Halbkreis, die von der an einen Pfosten geklammerten Handlampe grell beleuchtet waren, genauer: sie hatten alle denselben Ausdruck in Augen und Mienen: Übermüdung, gewaltsame Konzentration, und dahinter lag die Furcht. Er kannte sie alle von Ansehen: Watts, Maschinenmaat Gracey, die beiden jungen Heizer Binns und Spurway, die sich an Land jedesmal betranken, und den Ingenieuraspiranten Broughton, der römisch-katholisch war. Nie hatte er sie so gesehen wie jetzt: alles, was er sonst charakteristisch an ihnen gefunden hatte, schien abgestreift, wie weggeschmolzen, so daß übrigblieb nur der ursprüngliche Mensch Soundso, dessen Hirn und Hände entweder fähig oder nicht fähig waren, das Ölrohr zu flicken, bevor das U-Boot sie erwischte, und in deren Gesichtern sich die Ungewißheit der unmittelbaren Zukunft spiegelte. In diesen Gesichtern waren weder persönliche Schwächen zu entdecken noch der geringste Widerspruch gegen die Härten der Disziplin, aber während sie sich abmüh222
ten, saß Frau Sorge ihnen auf den Schultern, und der Flügelwagen des Chronos fuhr ihnen dicht auf den Fersen – Morell mußte lächeln, als ihm diese im Ölgeruch und dem kalkigen Licht des Maschinenraums merkwürdig deplacierten Redensarten einfielen – und das vergaßen diese Männer keinen Augenblick, und dieses Wissen um die Gefahr hatte ihnen sozusagen alles Denken geraubt, so daß sie nur noch den zwingenden Wunsch kannten, diese notwendige Arbeit fertigzumachen. »Was von Unterseebooten zu sehen, Sir?« fragte Gracey nach einer Weile. Er stammte aus Lancashire: das verhaßte Wort sprach er ›Uhnterseeeboote‹ aus, so daß es beinah humorvoll klang und fast seine böse Bedeutung verlor. Bei seiner Betonung erinnerte das Wort eher an eine Komödienszene als an ein U-Boot und schien nicht gefährlicher als eine Schwiegermutter oder ein Teller voll Hackfleisch. ›Wie schön, wenn’s so wäre‹, dachte Morell. »Bisher noch nicht«, antwortete er Gracey. »Auch das Geleit scheint noch ganz munter zu sein. Aber trotzdem sollten wir hier lieber nicht mehr lange hängenbleiben.« Watts nickte. »Kommt einem vor, als müßten wir hier bloß hocken, um uns einen verpassen zu lassen«, sagte er grimmig. »Wenn die uns jetzt nicht schnappen, dann kriegen sie uns nie.« »Wie lange wird’s denn noch dauern, Chief?« »Zwei Stunden ungefähr.« »So ‘n Stück Arbeit haben wir noch nie gehabt, ist ja wie in einem Panzerwerk«, sagte Gracey. »Ich gehe in die Kaserne, wenn wir einlaufen«, sagte Broughton. »Lieber will ich in Chatham das Kesselhaus heizen als so was nochmal mitmachen.« »Wer möchte das nicht!« sagte Spurway, der kleinste und gewöhnlich am stärksten betrunkene Heizer. »Lieber will ich Hafensiele reinigen, meinetwegen jeden Tag.« Morell erkannte jäh, wie sehr ihre Nerven gelitten hatten, wenn sich ihr sonst so korrekter Ton so veränderte. Er sagte: »Also, hoffentlich glückt’s!« und stieg wieder die Treppe empor. Oben grüßten ihn zuerst die Sterne, dann das dunkle Meer. Eine leichte kühle Brise begann eben kleine Wellen gegen die Schiffswand zu werfen. Allein in der Finsternis, lag Compass Rose noch immer still wartend… Es war kalt zwischen zwei und drei Uhr morgens, Wolken verhüllten den Mond, schwarz und endlos tief sah das Meer aus, da erklang ein Schritt auf der Brückentreppe, anders als der vor Stunden: froh und flott klang er, nicht mehr verstohlen. Es war Obermaschinist Watts. »Captain, Sir!« rief er der kaum erkennbaren, über die Brücke geneigten Gestalt zu. Ericson, steif und eiskalt vom langen Wachsitzen, drehte sich schwerfällig 223
nach ihm um. »Was gibt’s, L.I.?« »Wir können weiterlaufen, Sir.« ›Ach so, ja‹, dachte Ericson, erhob sich und streckte dankbar die Glieder: ‘sie durften sich wieder bewegen, konnten endlich dieses verhaßte Gebiet verlassen, der Ungewißheit entfliehen. Das Gefühl der Befreiung war gewaltig: es schien in alle Fibern seines Körpers zu strömen. Ihm war, als müsse er Watts laut brüllend gratulieren, seine Hand packen und schütteln und das Glück, von dem er ganz benommen war, zeigen. Aber er sagte nur: »Schönen Dank, L.I. Das haben Sie fein gemacht.« Und rief ins Sprachrohr: »Ruderhaus!« »Ruderhaus – Brücke, Sir!« kam die Stimme des Rudergängers, aus einem Traum von der Heimat geschreckt. »Klingeln Sie: Maschine Achtung!« Und nach wenigen Augenblicken waren sie unterwegs, dampften in hoher Fahrt nordwärts, ihrem Geleitzug nach. Die Umdrehungen stiegen, das ganze Schiff wurde warm und lebendig, und neue Hoffnung erfüllte die Männer. Umzublicken brauchten sie sich nicht: sie hatten so unerhörtes Glück gehabt, daß sie nichts von sich zurückließen und nichts dem Feinde gegeben hatten. Gegen sechs Uhr, als das erste Morgenlicht den Himmel im Osten erhellte, ›faßten‹ sie den Geleitzug an der äußersten Kante des Radarschirms. Lockhart, der Wache hatte, betrachtete das unklare Echobild mit Genugtuung: es war noch viele Meilen voraus, und sie konnten erst mitten am Vormittag den Anschluß an das Geleit erreichen. Aber: sie waren wieder ›zur Stelle‹, waren nicht mehr allein in der Wasserwüste, die so leicht hätte ihr Grab werden können. Er weckte den Kommandanten, um ihm die neue Lage zu melden, wie ihm befohlen worden war. Er fand es scheußlich, Ericson mit einer an sich so selbstverständlichen Nachricht zu wecken, die er auch im Laufe des Vormittags noch rechtzeitig erfahren hätte, aber er hatte ja den strikten Befehl, und wahrscheinlich schlief Ericson nachher um so ruhiger, wenn er wußte, daß sie wieder Anschluß an den Verband hatten. Und wirklich: das verschlafene Geknurr, das ihm als Antwort auf seine Meldung aus dem Sprachrohr entgegentönte, zeigte an, daß Ericson sozusagen nur knapp an die Oberfläche gekommen war – wie eine Forelle, die nach Fliegen schnappt – und sich gleich nach Anhören der Meldung wieder tief in den köstlichen Schlaf sinken ließ. Lockhart lächelte, als er das Mundstück des Sprachrohrs wieder zuklappte: nach so einer Nacht hatte der Kommandant seine Ruhe bestimmt verdient. Als die Morgenwache gegen acht ihr Ende erreichte, hatte der Tag einen bleichen Schimmer über das schwarze Wasser geworfen. Tomlinson, der zweite Steward, kam, um die Tassen und Brotteller der Nacht einzusammeln, 224
mit wiegenden Schritten über das nasse, betaute Deck wie eine neue Charge im plötzlich heiter gewordenen dritten Akt eines Schauspiels. Die Maschine lief fast auf höchsten Touren. Compass Rose verfolgte einen klaren Kurs, in Richtung auf die Mitte des Konvois. Lockhart hatte nichts weiter zu tun als sich die Füße warmzustampfen und zufrieden auf den Radarschirm zu blicken, während sie dem Geleitzug näherkamen und die Gruppenkolonne der Schiffe deutliche Formen annahm. Dieser Anblick der kompakter werdenden Lichtfiguren, die sich auf dem Radarbild immer näher mit Compass Rose zusammenschoben, tat wohl, er gab ihm ein so sicheres Gefühl wie das stabile Deck unter seinen Seestiefeln. Zu lange waren sie vom Geleitzug getrennt gewesen: ihr größter Wunsch, nicht mehr einsam zu sein, erfüllte sich jetzt endlich, greifbar lag der Konvoi vor ihnen und wartete auf sie wie eine Familie, von der sie nach der Reise freudig begrüßt wurden… Lockharts Gedanken wanderten. Ganz mechanisch beantwortete er die Meldungen der sich für die letzte halbe Stunde seiner Wache ablösenden Rudergänger und Ausguckposten. Compass Rose, die ihren Bug energisch in die lange atlantische Dünung drückte und sich weich unter seinen Füßen wiegte, kam ihm vor wie ein Schnellzug, der soeben die letzten Weichen passierte, um in einen Londoner Bahnhof einzulaufen. Und am Ende des Bahnsteigs standen gewiß –? Er riß sich plötzlich zusammen: die Glocke vom Radarraum hatte angeschlagen. »Radar! – Brücke!« Er beugte sich aufs Sprachrohr: »Brücke!« Die Stimme des Mannes am Radargerät kam gleichmäßig, müde und ohne Erregung von unten: »Ich habe ein kleines Ziel hinter dem Konvoi aufgefaßt, Sir. Können Sie es auf dem Nebenempfänger erkennen?« Lockhart blickte auf den Radarschirm neben den Sprachrohren, ein genaues Abbild des Hauptgeräts. Er nickte stumm: es stimmte. Ein einzelnes, schwaches Zeichen zwischen dem Geleitzug und Compass Rose. Es flackerte und flimmerte auf dem Schirm wie eine Kerze im leichten Windzug. Er beobachtete es eine halbe Minute, ehe er sprach, denn es blieb weiterhin nur ein kleiner leuchtender Punkt, kam aber immer wieder und war, schwächer oder stärker, ständig zu sehen. Das war ein Zeichen, dem nachgegangen werden mußte. Wieder rief er nach unten: »Ja, ich habe es. Für was halten Sie’s?« Aber ehe der Mann antworten konnte, fragte er noch: »Wer bedient das Gerät?« »Sellars, Sir.« Also Sellars, ihr Radar-Maat. Das war ein tüchtiger Fachmann, dem er Fragen stellen konnte. Er wiederholte: »Für was halten Sie’s?« 225
»Schwer zu sagen, Sir«, gab Sellars zurück. »Es ist klein, aber andauernd da und hält Tempo mit dem Konvoi.« »Kann es ein Eigen-Zeichen von den Dampfern sein?« »Das glaube ich kaum, Sir. Zunächst würde da der Meßwinkel nicht stimmen.« »Dann vermutlich ein Nachzügler?« »Für einen Dampfer kommt es mir ein bißchen zu klein vor, Sir. – Sehen Sie das Schiff ganz außen an Steuerbord – vermutlich eins von unserer Gruppe? Das sieht doch beträchtlich größer aus?« Lockhart verglich nochmals genau die einzelnen Echobilder. Ja, das stimmte ebenfalls. Am Rande des Gruppenbildes vom Geleitzug, nach Steuerbord, flackerte ein vereinzeltes Zeichen, sehr wahrscheinlich eine Korvette. Und es war entschieden größer als der fragliche Lichtfleck. Sollte er das fremde Zeichen gleich dem Kommandanten melden? Er war unschlüssig, weil er ihn so ungern ohne triftigen Grund wieder aus dem verdienten Schlaf reißen wollte. Es konnte so vielerlei sein und sich als harmlos herausstellen: als Fehler im Gerät – denn Radar hatte noch gewisse Kinderkrankheiten – oder doch als Nachzügler vom Geleit und schließlich sogar als eine Regenbö. Oder aber es konnte – es könnte sein, was sie in Wirklichkeit sehen wollten… Nachdem er noch volle zwei Minuten beobachtet hatte, in denen das Echo sich ein wenig verstärkte und weiterhin in gleichmäßigem Abstand vom Konvoi mitlief, sagte er zu Sellars: »Lassen Sie’s nicht aus den Augen«, trat, eigentlich ohne zu wollen, an das Sprachrohr des Kommandanten und drückte auf die Klingel. Ericson war, als er auf die Brücke kam, sich die Augen und das steife Gesicht reibend, nicht gerade in der besten Stimmung. Er hatte kaum vier Stunden Schlaf gehabt, die noch durch die erste Meldung vom Konvoi unterbrochen waren, und jetzt schon wieder gestört zu werden, bloß weil – wie er sich sagte – eine elende Seemöve sich auf die Radarantenne gesetzt hatte und der I.W.O. nicht soviel Vernunft besaß, sie zu verscheuchen – das schien ihm nicht der beste Beginn eines guten Morgens. Er knurrte, während Lockhart ihm das Echo zeigte und ihm erklärte, wie es sich entwickelt hatte. Dann blickte er hoch und sagte kurz: »Wahrscheinlich ein Nachzügler.« »Es ist erheblich kleiner als die übrigen Schiffe«, sagte Lockhart vorsichtig. Er erkannte an, daß der Kommandant in dieser gottverlassenen Morgenstunde das Recht hatte, kurz angebunden zu sein. Das hatte er aber schon vorausgesetzt, als er ihn weckte, und wollte jetzt seinen Alarm gerechtfertigt wissen. Er deutete wieder auf den Radarschirm. »Das hier ist meiner Meinung nach die Korvette der Nachhut. Und dieses Ding läuft noch mindestens zehn Meilen hinter ihr.« 226
»Hm«, knurrte Ericson wieder. »Wer bedient das Gerät?« – Genau die Frage hatte Lockhart erwartet. – »Sellars, Sir.« . Ericson beugte sich mit grollendem Räuspern über das Sprachrohr: »Radar!« »Radar Achtung! – Brücke?« antwortete Sellars. »Was ist das mit diesem Zeichen?« »Ist noch vorhanden, Sir.« Er gab Entfernung und Peilung. »Somit liegt es ungefähr zehn Meilen hinter dem letzten Konvoischiff.« »Ihr Gerät arbeitet doch nicht etwa ungenau, wie?« »No, Sir«, sagte Sellars mit dem schroffen Ton, den man leicht annimmt, wenn man an einem kalten Morgen eine Rüge befürchtet, die man nicht einmal von seinem Kommandanten hinzunehmen gewillt ist. »Das Gerät arbeitet tadellos.« »Haben Sie ein derartiges Echo schon früher gehabt?« Kurzes Schweigen, dann sagte Sellars: »Genau so eins nicht, Sir. Dieses könnte der Größe nach von einer Boje oder einem kleinen Schiff stammen.« »Fischdampfer? Treibendes Wrack?« »Noch kleiner, Sir. Eher schon ein Rettungsboot.« »Hm – Hm.« Ericson studierte abermals den Radarschirm, während Lockhart lächelnd neben ihm stand. Denn er merkte sehr wohl, daß Ericson trotz schlechter Laune nicht umhin konnte, Sellars’ Beobachtungen zu berücksichtigen. Hinter ihm betrachtete das übrige Brückenpersonal, auch Baker, der eben ankam, um seine Wache zu übernehmen, den Kommandanten mit fragenden Blicken, alle sprungbereit für kommende Befehle. Und doch traf sie der Befehl, den Ericson jetzt gab, überraschend… »U-Boot-Alarm«, sagte Ericson, sich jäh aufrichtend. Und rief in ebenso scharfem Ton zum Ruderhaus durch: »Äußerste Kraft. Kurs zehn Grad.« Lockhart öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloß ihn aber gleich wieder. In seiner Überraschung hatte er nämlich, ganz unglaublich dumm, ungefähr fragen wollen: »Meinen Sie wirklich, daß es ein U-Boot ist, Sir?« Das laute, lang anhaltende Schrillen der Alarmglocken durchs ganze Schiff, das Getrampel der schweren Stiefel auf Deck und Treppen gaben die beste Antwort auf diese törichten Spekulationen. Er stand neben der Batterie Sprachrohre. Erregter als sonst bestätigte er die ihm gegebenen verschiedenen Positionsmeldungen: ihre Art und Reihenfolge waren ihm bis zum Überdruß vertraut, alter Kram, den sie, zur Übung oder im Ernst, zwei ganze Jahre durchgekaut hatten. Aber diesmal, diesmal steckte vielleicht Positives dahinter… Die meldenden Stimmen spornten doch, als sie jetzt schlagartig ertönten, seinen Eifer an. 227
Ferraby von achtern: »Wasserbombenbedienung gefechtsklar!« Morell vom Vorschiff: »Geschützbedienung gefechtsklar.« Baker von mittschiffs: »Zweipfünder gefechtsklar!« Und von tief unten Obermaschinist Watts: »Maschinenpersonal auf Gefechtsstation!« Vom Ruderhaus Tallow: »Bootsmann am Ruder, Sir.« Lockhart warf rasche Blicke in die Runde und nach vorn und achtern, um sich noch einmal davon zu überzeugen, daß alles in Ordnung war. Die Brückenausguckposten waren auf ihren Plätzen bei den Hotchkissgewehren. Signalgefreiter Wells stand am großen Signalscheinwerfer bereit. Um das Zehnzentimetergeschütz hart unterhalb der Brücke stand die Bedienung im Stahlhelm schußbereit, Morell starrte durch sein Glas voraus und wandte sich dann zurück, um das Laden zu überwachen. Weit achtern bildete Ferraby den Mittelpunkt einer anderen Gruppe von Männern, die von den Wasserbomben die Zurrings abnahmen und sie klarmachten zum Wurf. Zufrieden, ihm das Schiff in voller Gefechtsordnung präsentieren zu können, rief Lockhart dem Kommandanten zu: »Alles auf Gefechtsstationen, Sir!« Dann zog er sich zu seinem eigenen Dienst am Horchgerät zurück, an dem Instrument, das, wenn’s nötig war, töten konnte. Unter ihren Füßen begann Compass Rose zu zittern, als spüre sie die Last der kampfbereiten Männer jetzt ganz besonders. Ericson beobachtete den Radarschirm. Bei seinem Alarmbefehl war er eigentlich nur einem Impuls gefolgt. Im Stillen mußte er sogar zugeben, daß der Befehl aus Ärger entsprang, nämlich aus dem Gefühl, daß, wenn er selbst schon wachbleiben mußte, auch kein anderer an Bord noch zu schlafen brauchte. Aber trotzdem: das Zeichen, das sie eingefangen hatten, gab zu denken. Es war das aussichtsreichste, was sie je gehabt hatten. Möglich, daß sie diesmal tatsächlich die richtige Spur hatten, und dann war die volle Bereitschaft des Schiffes eine selbstverständliche Vorsichtsmaßnahme. Für einen Moment blickte er durchs Glas voraus, doch ringsum lag der Horizont im Frühnebel, so daß er nichts entdecken konnte. Wieder betrachtete er den Radarschirm, dann rief er ins Sprachrohr: »Meldung über Ihr Ziel!« Sellars gab Entfernung und Peilung. Was das Ding auch sein mochte: es bewegte sich noch immer in dem langsamen Tempo des Geleitzuges, und sie kamen ihm nun rasch näher. »Jetzt wird es etwas stärker, Sir«, schloß Sellars. »Gleiche Größe, aber kräftiger. Muß ein ziemlich fester Körper sein.« So zeigte ihm jedenfalls der Radarschirm. Jetzt war darauf der ganze Konvoi zusammen: ein kompaktes Rechteck von Schiffen, klar sichtbar auch die nebenher laufenden Geleitschiffe, und hinter allen herschwimmend das kleine unbekannte… 228
Ericson begann jetzt, daran zu glauben, und war beinahe überzeugt, einem U-Boot auf der Spur zu sein, das sich programmgemäß benahm, indem es knapp außerhalb der Sichtweite einem Geleitzug nachstellte, um, vielleicht nach einem mißglückten Nachtangriff, einen neuen Versuch erst in der Abenddämmerung zu unternehmen. Aber dieses U-Boot wußte nichts von der zurückgebliebenen Korvette, die außerhalb der großen Geleitformation heraneilte, um ihm seinen Plan zu verderben. Wenn sie nur bis auf Reichweite herankämen, ohne entdeckt zu werden –! Compass Rose drang vor, sie warf sich in ihrer Ungeduld schonungslos gegen den Wind hinter der Beute her. Unter ihrem Steven schäumte die Bugwelle, ihr Kielwasser brodelte, als koche es. Die Sonne stand jetzt über der Kimm, eine blasse Sonne, die den Nebel zerschmolz und über eine Fläche von zehn, fünfzehn Meilen vor ihnen die Wellen mit goldenen Funken besprühte: eine blasse und doch stärkende, ihnen Mut machende Sonne, die auf ihrer Seite war, ihnen helfen wollte. In der Takelage begann es zu summen, das Beben der Bugplatten, die hart einstoßend die See zerteilten, war an Deck überall zu spüren. Bei der Wasserbombenreling erzitterte das Achterschiff unter den Schlägen der Schraube gegen die rasenden Wasser in einem breiten, gleichförmigen Ton, der wie ein Entschlossenheit ausdrückendes Motiv in einem gewaltigen Musikwerk klang. ›Der L.I. gibt ihr aber ordentlich Zunder‹, dachte Ericson, befriedigt lächelnd: ›da werden die faulen Stoker mal aufgerüttelt und der Ruß mal aus dem Schornstein geschüttelt…‹ Nach der immer länger ausgedehnten Hilflosigkeit der Nacht war es gut, zur Abwechslung einmal zu einer flotten Jagd losgelassen zu sein. Compass Rose drang vor. Zum fünften oder sechsten Male rief Ericson: »Ziel melden!«, und von unten bestätigte Sellars in erregtem Ton, fast frohlockend, die sich verkürzende Entfernung, die steigende Aussicht auf ein lebhaftes ›Rendezvous‹. Ericson schien es, als versammle das Schiff unter seiner Hand alle Kräfte, als spanne es die Sehnen für den Sprung: ein spielerischer Gedanke wie er ihm manchmal kam, wenn er sehr müde oder sehr angespannt war. Er fühlte das Schiff unter sich wie der Reiter sein Pferd, und war froh und stolz, wie gehorsam Compass Rose reagierte. Dies war es, worauf sie so lange gewartet, wofür sie so geschuftet hatten. – Er stellte sich hinter den Kompaß, nahm genaue Peilung nach dem letzten Radarstand, erhob sein Fernglas und blickte in die gegebene Richtung. Fast sofort hatte er es entdeckt: einen schwarzen, rechteckig vor dem Horizont stehenden Fleck – den Kommandoturm eines Unterseebootes. Gerade eben hob es sich in der langen Dünung: er sah unterhalb des Turms einen weißen Büschel: die durch den getauchten Rumpf aufgeworfene Gischt. Und über dem Turm weit voraus türmten sich, um das Bild zu vollenden, ein paar kleine Rauchfahnen: die 229
typischen Anzeichen für einen Geleitzug, der sich auf über zwanzig Meilen Entfernung selbst verriet. Zwei Ziele – zwei Jäger! Ericson richtete sich mit einem Ruck auf und sprang federnd zur vorderen Brückenreling. »Morell!« rief er scharf. Morell blickte auf. »Sir?« »Dort, genau voraus, ein aufgetauchtes U-Boot! Noch nicht in Reichweite – aber halten Sie sich klar! Wir müssen ein paar Treffer landen, ehe es wieder wegtauchen kann – falls wir nahe genug herankommen.« Er drehte sich halb zu Lockhart herum, im gleichen Moment rief Wells, der neben ihm durch sein Glas blickte: »Ich kann es sehen, Sir – hart voraus!« Er hatte vor Aufregung eine ganz hohe Stimme, doch sogleich zwang ihn die Disziplin wieder zum normalen Ton: »Sollen wir eine Sichtmeldung abgeben, Sir?« »Ja, Funksignal. An den Stab.« Er nahm seine Gedanken zusammen. »Folgendes, schreiben Sie: ›An Admiralität, gleicher Wortlaut an Viperous: aufgetauchtes Unterseeboot zehn Meilen achteraus Konvoi T.G. 104. Kurs 345, Geschwindigkeit fünf Meilen. Greife an.‹« Jetzt wandte er sich an Lockhart im Horchraum: »I.W.O.! Da ist ein –« Lochhart steckte breit lächelnd den Kopf aus dem kleinen Fenster. »Ich habe sozusagen gehorcht, Sir«, antwortete er. »Ist für mich im Moment noch zu weit ab.« Ericson lächelte ebenfalls. »Wir werden Ihre verflixte Zauberkiste sehr bald brauchen. Passen Sie auf: Sie erleben den schnellsten Tauchstoß der Geschichte, sobald die uns bemerkt haben!« »Sir, wenn wir nur die Lage ausnutzen können, solange die ihre Hosen ‘runter haben!« sagte Lockhart. Im ganzen Schiff herrschte in den nächsten Minuten angespannte Geschäftigkeit. Das »Achtung!« für sofortige Aktion wurde an Ferraby nach achtern durchgegeben, dann an den Maschinenraum. »Werfen Sie tüchtig drauf«, sagte Ericson scharf durchs Sprachrohr, »wir können uns nur begrenzte Zeit für den Angriff erlauben.« Compass Rose begann unter dem Druck der letzten Atmosphären auf ihr Ziel förmlich loszurasen, sie schien das Wasser geradezu beiseite zu treten in dem verzweifelten Versuch, noch in Schußweite an das U-Boot zu kommen, bevor sie entdeckt wurde. In Ericsons Fernglas erschien der viereckige Fleck des Kommandoturms jetzt größer: Einzelheiten schälten sich heraus. Im Turm hoben sich Kopf und Schultern eines Mannes deutlich vom klaren Horizont ab, eines Mannes, der unerschütterlich nach vorn blickte und pedantisch genau nur den ihm anbefohlenen Sektor beobachtete. »Ihres Schicksals nicht ahnend, gaben die kleinen Opfer dem Spiele sich 230
hin«, zitierte Lockhart für sich. Er konnte jetzt das U-Boot ohne Mühe schon mit dem bloßen Auge erkennen: zum Auffassen im Horchgerät war es noch zu weit ab, doch unter diesen Verhältnissen hätten sie es weiß Gott glatt rammen können, ohne Zuflucht zu den Segnungen der Wissenschaft zu nehmen. Die Entfernung nahm laufend ab: Sellars’ Stimme wurde immer schriller, je kürzere Entfernungen er durchrief. Und auf einmal schlug auf der Brücke eine völlig ungewohnte Glocke an: die Glocke vom Zehnzentimetergeschütz! Und Morell sagte, mit der Miene eines Mannes, der sich höflich für ein zweifelhaftes Unternehmen empfiehlt: »Ich glaube, ich könnte ihn jetzt erreichen, Sir.« Die Entfernung betrug vier Seemeilen: 7500 Meter. Ein weiter Schuß für eine kleine Kanone, der leicht alles verderben konnte. ›Ganz bestimmt‹, dachte Ericson, ›bestimmt wird der sture Kerl dort im Kommandoturm sich gerade jetzt umdrehen, wird uns sehen, wird »Donnerwetter!« oder »Gott im Himmel!« rufen und das U-Boot steil auf Tiefe in die Sicherheit tauchen lassen –.‹ Noch einen Augenblick zauderte er, wog die Möglichkeit, entdeckt zu werden, ab gegen die beschränkte Wirkung der braven kleinen Knallkanone, ihre einzige ›schwere‹ Waffe, – dann beugte er sich über die Brücke und nickte Morell zu. Rascher hätte der dröhnende Krach des Abschusses dem Befehl nicht folgen können: Morell mußte die Hand am Abzug gehalten haben… Es war ein guter Schuß, selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die Entfernung durch Radar gemessen war: die grauweiße Wasserfontäne spritzte dreißig Meter vor dem U-Boot empor – das beste Alarmsignal, das man ihm hätte geben können. Der Mann im Turm fuhr herum, als traue er seinen Ohren nicht – wie ein Liebhaber, der plötzlich im Hausflur die Stimme des Ehemannes hört, der angeblich im Ausland sein sollte. Im Nu hatte er sich geduckt, als werde er mit einem Ruck hinabgerissen – der Kommandoturm war leer. In die erwartungsvolle Stille bellte wieder mächtig das Geschütz. Ericson fluchte laut, als dieser Schuß zu kurz fiel und die hohe Wassergarbe ihnen das U-Boot verdeckte. Als sie zusammenfiel und die Sicht wieder freigab, tauchte das U-Boot bereits: steil stieß es in aufgewühlten Wasserwirbeln hinab… Hatte auch der Ausguckmann des U-Boots nicht viel geleistet, so sprach das stoßartige Wegtauchen von erstaunlicher Gewandtheit im Manövrieren. Innerhalb von Sekunden waren der Rumpf des Bootes und fast der ganze Turm bereits unter Wasser! Morell konnte noch einen dritten Schuß feuern, bevor die Meeresfläche leer war, aber in dem Gebrodel des Tauchens konnten sie die Einschlagstelle nicht genau beobachten. Es schien, als sei die Granate dicht neben dem U-Boot eingeschlagen, vielleicht war es sogar getrof231
fen, denn es hatte beim Verschwinden einen Ruck nach rechts gemacht… Ericson schrie: »Es ist ‘runter, Lockhart!« Fast gleichzeitig rief Lockhart mit vor Spannung gepreßter Stimme: »Aufgefaßt!« Das schwirrende Echo im Horchgerät war laut und klar auf der ganzen Brücke zu hören. In höchster Erregung paßte Lockhart auf, wie der Bedienungsmann das Ziel endgültig festzuhalten suchte: sie konnten doch das UBoot unmöglich verlieren, nachdem sie es vor wenigen Sekunden direkt vor Augen gehabt hatten –! Compass Rose lief sehr schnell, und einmal schien das U-Boot aus dem Feld des Geräts rutschen zu wollen, so daß er den Mann ermahnen mußte. Der schwitzte vor Aufregung und hieb mit der Faust auf die Kante seines Stuhls: »Bewegt sich rasch nach rechts, Sir!« Lockhart gab das an den Kommandanten weiter und nickte zufrieden, als Ericson den Kurs so legte, daß sie den des U-Boots überschneiden mußten und es abfangen konnten. Er drückte auf die Alarmglocke für die Wasserbomben. Jetzt, jetzt waren sie sehr nahe am Ziel: der Ton des Echos verschwamm schon unklar mit dem Eigengeräusch des Geräts. Das war der Augenblick, in dem das Schicksal entschied: erfaßte das U-Boot den richtigen Moment zu einer jähen Kursänderung, dann mochte es noch dem todbringenden Bezirk der nahenden Explosionen entfliehen. Noch wenige Sekunden des Wartens – Compass Rose durchpreschte die letzten paar Meter ihres Anlaufs – dann drückte Lockhart auf die Feuerglocke. Die Wasserbomben klatschten in die See… Es schien, als spränge die Oberfläche des Meeres empor unter der Wucht der Detonation einer ganzen Bombenreihe. Ferraby, eifrig mit dem Nachladen beschäftigt und von dem Bewußtsein gequält, daß wenige Meter von ihnen ein U-Boot war, sprang mit hoch, völlig verstört durch das so gräßlich nahe Krachen. Sie alle fanden es ungerecht, ja geradezu unerhört, daß nicht zugleich das U-Boot zerschmettert emporflog – so fest überzeugt waren sie, es getroffen zu haben. Als Compass Rose weiterlief und die erschütterte See sich beruhigte, starrten alle Mann, stumm vor Spannung, auf die große Fläche verfärbten Wassers im Kreis der Explosionen: sie erwarteten das U-Boot. Gleich mußte es auftauchen und kapitulieren… Nichts ereignete sich: als die noch gekräuselten Wasser sich gänzlich glätteten, wußten sie, daß ihre Hoffnung vereitelt war. Zornig und fassungslos erkannten sie den Fehlschlag ihres Angriffs. »Aber verdammt nochmal«, fluchte Lockhart, und innerlich fluchten sie alle mit ihm, »wir müssen es getroffen haben! Das verdammte Ding war genau an dieser Stelle…!« »Suchen Sie es wieder«, sagte Ericson kurz. »Wir sind noch nicht am Ende.« Lockhart wurde rot bei der Zurechtweisung vor so vielen Leuten: ihn ärger232
te der Versager schon genug – mußte da der Kommandant in der Wunde noch kratzen? Er sagte zu dem Mann am Gerät: »Suchen Sie sechzig Grad achteraus«, und beugte sich wieder über das Horchgerät. Und sofort hatten sie den Kontakt wieder, nur fünfzig Meter von der Stelle des Bombenwurfs! Compass Rose fuhr eine volle Drehung, um einen zweiten Anlauf zu nehmen. Diesmal war das einfacher: vielleicht hatten sie das U-Boot schon beschädigt, denn es schien sich nicht zu bewegen und auch keinen Fluchtversuch zu machen. »Ziel steht, Sir«, meldete Lockhart, als sie den Kreis geschlagen hatten und wiederholte diese Meldung noch mehrmals bis zum Ende des Anlaufs. Wieder klatschten die Wasserbomben, wieder schüttelte die mächtige Explosion ihr Schiff durch und durch, und wieder warteten sie auf Erfolg oder – Mißerfolg. Auf der Brücke sagte jemand: »Kann sich nur um Sekunden handeln –« In ihrem Kielwasser hob sich das U-Boot wie ein plumper Riesenfisch, schwarzglänzend in der Sonne. Da brachen die Männer auf Compass Rose in gewaltiges Triumphgeschrei aus. Das Boot tauchte, durch die Explosion aus dem Trimm geworfen, in ungewöhnlich schiefer Lage mit dem Bug zuerst auf: das Ruder mußte beschädigt sein! Das Wasser rann in Bächen über den sich hochschiebenden Rumpf, um den Kommandoturm platzten große Blasen, Öl sprudelte mittschiffs aus den eingedrückten Platten und breitete sich aus. »Feuer eröffnen!« schrie Ericson. Und jetzt hatte für Augenblicke nur Baker allein seine Chance: die Zweipfünder Flak, unmittelbar hinter dem Schornstein montiert, war das einzige Geschütz, das jetzt eingesetzt werden konnte. In hartem Staccato zerriß der Knall seiner Abschüsse die stille Luft, und mit regelmäßig klirrendem Klopfen, wie ein Hammer auf dem Amboß, jagte die Kette der rot leuchtenden kleinen Granaten flach übers Wasser auf das U-Boot zu, das sich jetzt, auf ebenen Kiel zurückgefallen, schaukelnd wieder eintrimmte. Wie überraschend und wie unendlich widerwärtig war es für die Besatzung von Compass Rose, plötzlich dieses böse verhaßte Ding, das ihnen in hundert Nächten nur Aufregung und Katastrophen gebracht hatte, so dicht vor sich zu sehen, gleichsam ganz arglos ans Tageslicht gebracht. Das kam ihnen vor, als habe ein schändlicher Verbrecher, dem jeder mit Abscheu aus dem Wege gegangen war, es sich plötzlich in unverfrorener Frechheit neben ihnen bequem gemacht. Der Zweipfünder begann Treffer zu erzielen: am Bug des U-Boots sprangen helle Feuerstrahlen auf, aus denen die kleinen gelben Pilze des Pulverqualms stiegen: die Granaten waren leicht, doch die vielen Schläge einer langen Kette rissen den Druckkörper des Bootes auf und drangen in die Eingeweide. Als Compass Rose wieder im Kreis zurückdrehte, scharf krängend 233
im Schwung der raschen Fahrt, fielen die Maschinengewehre auf Brücke und Signaldeck mit mächtigem Geknatter in das Feuer ein. Das U-Boot sackte tiefer, aus dem Turm kletterte, rasch hintereinander, die Mannschaft. Die meisten rannten, über Vorsprünge an Deck stolpernd, zum Bug. Die Hände über die Köpfe erhoben, schrien und winkten sie zu Compass Rose hinüber. Nur einer, zorniger oder tapferer als die übrigen, feuerte, vom Kommandoturm gedeckt, mit einem kleinen Maschinengewehr: hart spritzten Kugeln aufs Mittelschiff von Compass Rose. Jäh brach dieses Gegenfeuer wieder ab, als der mutige Mann mit seinem Gewehr über der Kante des Turms zusammensackte. Die übrigen begannen über Bord zu springen und zu fallen, denn die Rohre auf Compass Rose feuerten noch, und ihre Geschosse schlugen in Menschenleiber und Stahl. Blut rann über das nasse Deck des U-Boots und durch die Speigatten ins Meer. Es sah dunkel und angenehm rot aus auf dem verhaßten grauen Rumpf des Bootes, das jetzt, mit dem Heck voran, in einem Wirbel von Öl und Luftblasen, von Rauch und Pulvergestank, zu sinken begann. Ein Mann kletterte halb aus dem Turm und warf einen mit Gewichten beschwerten Beutel ins Meer: einen Moment mühte er sich wild, aus dem Turm freizukommen, doch der tote Gewehrschütze mußte in das Ausstiegloch verklemmt sein, denn das U-Boot verschwand, ehe er sich befreien konnte. Eine weitere Detonation unter Wasser trieb Kaskaden von Öl nach oben, dann war es still unter dem Ölfleck. Ericson rief: »Feuer einstellen!« als die See sich unter der breit zerlaufenden Ölschicht wieder glättete. »Ruder mittschiffs! Stopp Maschine! Bedienung an den Kletternetzen klar halten.« Der herrliche Augenblick war vorüber… Für einen Mann auf Compass Rose war er schon länger vorbei: ein junger Matrose an der Flakkanone war von dem einsamen MG-Schützen des UBoots tödlich getroffen worden. Die Kameraden, die sich über seine Leiche beugten, waren hinter dem Geschütz verborgen: eine kleine abgesonderte Welt der Trauer, die ein ganz anderes Bild bot als das übrige Schiff in seinem Triumph, aber ein Bild, das zur Echtheit des Ganzen gehörte. Niemand sah diese Kameraden, denn alle andern hatten jetzt nur Augen für die Reste der U-Bootsbesatzung, die der sicheren Geborgenheit auf Compass Rose zuschwammen. Viele riefen in äußerster Angst und Erschöpfung halb erstickt um Hilfe, während die Männer auf Compass Rose, noch im Siegesrausch, sie ironisch aufmunterten. Einer nach dem andern wurden die Schwimmer aus dem Wasser gezogen. »Lassen Sie sie antreten«, wandte sich Lockhart an Tonbridge, der die Gefangenen schlecht und recht ausrichtete. Es waren vierzehn Mann, mit dem einen Toten, der vor ihnen lag. Die Besatzung von Compass Rose stand im Halbkreis herum und musterte die Gefangenen. Sie kamen ihnen ganz unbe234
deutend und durchschnittlich vor: Wasser troff von ihren Händen und Füßen, in ihren Gesichtern über den nichtssagenden, verschmierten Arbeitsanzügen zeichnete sich halb Trauer, halb Freude über die Rettung ab, wie bei sehr schlechten Komödianten, die glücklich ohne gewaltsame Proteste des Publikums den letzten Akt hinter sich gebracht haben. Ericson hatte Befehl gegeben, den deutschen Kommandanten, der auch gefangen war, in seiner Kajüte unterzubringen und als nur formelle Vorsichtsmaßnahme einen Posten vor die Tür zu stellen. Die zwei Leichen lagen nebeneinander auf dem Achterdeck, jede sauber in die Landesflagge gehüllt. Ericson räusperte sich, um die Worte zur Beisetzung zu verlesen: er merkte, wie sein Blick fast hypnotisch von den zwei farbigen Tuchflecken angezogen wurde. ›Unter ihnen liegen zwei Seeleute‹, dachte er, ›ohne Unterschied liegen sie da im Tode, nur daß unserer sofort getötet wurde und der von drüben an Wunden und Erschöpfung starb. Und zwischen den zwei Flaggen ist, wenn sie in dieser Weise gebraucht werden, wenig Unterschied. Allerdings wirkt die scharf umrissene Hakenkreuzflagge hier auf dem Sarg wohl markanter als die weiße britische Kriegsflagge.‹ Er mußte sich zum zweitenmal räuspern, weil ihn diese Gedanken irritierten. »Mensch, der du vom Weibe geboren bist, nur eine kurze Lebensdauer ist dir auf Erden beschieden«, fing er an zu lesen, nur flüchtig in das Buch blickend, da er diesen Text auswendig kannte. Aber die milden Worte berührten ihn: er dachte jetzt wirklich in aufrichtiger Trauer an die Toten, und besonders an den jungen Matrosen, den ersten Gefallenen von seinem Schiff. Und der deutsche Kommandant, der unbewacht einen Meter von ihm stand, fand seine eigene Rolle auch kläglich. In seinem hochmütigen Gesicht arbeitete es: die arrogante Maske war durch seine Erregung verzerrt. Er konnte seinen schmerzlichen Verlust nicht verheimlichen. ›Wahrscheinlich rührt ihn nur das Hakenkreuz‹, überlegte Ericson, ›der tote Matrose von seiner Besatzung ist ihm gewiß ganz gleichgültig, aber die ehrenvolle Geste der feierlichen Bestattung und der Anblick der feindlichen Kriegsflagge gibt ihm den Rest.‹ Auf Lockharts Signal von der Brücke wurden die Maschinen gestoppt: Compass Rose lag still, nur unter der Oberfläche saugte und gurgelte das Meer. »Somit übergeben wir ihre sterblichen Hüllen der See«, sagte Ericson, dann schwieg er. Die Pfeifen schrillten, die Planken wurden schräg gekippt, die sauberen Segeltuchbündel glitten unter den Flaggen hinweg über Bord, spurlos im Meer verschwindend. Dicht neben sich spürte und hörte er, wie der deutsche Kommandant zitterte. ›Ja‹, dachte Ericson, ›es ist traurig.‹ Er setzte die Mütze auf und salutierte. Der Deutsche, der ihn beobachtete, tat desgleichen. Als sie einander ansahen, entdeckte Ericson Tränen in den 235
hellen Augen des andern. Er nickte und sah fort. »Ich danke Ihnen, Kommandant«, sagte der Deutsche. »Ich weiß zu würdigen, was Sie getan haben.« Er bot Ericson verlegen die Hand. »Ich möchte gern –« Ericson ergriff sie wortlos. Ihm war diese Rührung peinlich vor seinen dreißig oder vierzig Männern, die ihn hier beobachten konnten. Plötzlich sagte der deutsche Kommandant: »Kameraden der See…« Meinte er die zwei, die soeben ins Meer geglitten waren, oder sich und ihn, die zwei Kommandanten, die das gleiche durchmachen mußten? Ericson hätte es nicht sagen können, und es war wohl auch unwichtig… Er nickte wieder, dann ging er nach vorn und überließ es Lockhart, sich um den Gefangenen zu kümmern. Aber während er dahinschritt, verlor sich schon seine rührselige Stimmung: sie schien ihm auf einmal unecht. War dies denn etwas Großes gewesen? Wie viele hatten sie schon von Compass Rose ins Meer gesenkt – achtzehn an einem Tage war bisher der Rekord, achtzehn schon vor dem Frühstück. Zwei Mann waren gar nichts, es lohnte kaum, dafür antreten zu lassen… ›Diese verdammten Deutschen!‹ dachte er, als er auf die Brücke stieg, ›erst bringen sie einen in Wut und dann beinah zum Heulen.‹ Übermüdet und innerlich aufgewühlt, brachte er es kaum noch fertig, sich über den Erfolg der U-Bootsversenkung zu freuen. Als seine Erregung sich legte, wurde er schweigsam, und Lockhart, der ihm vorschlug, den Erfolg durch einen Umtrunk in der Messe zu feiern, bekam einen empfindlichen Dämpfer, als Ericson ihm erwiderte: »Es ist besser, wir fangen das Trinken in See gar nicht erst an.« Aber trotzdem beglückwünschte sich Ericson doch innerlich voll Stolz und Freude zu seinem Triumph. Ja, er empfand jetzt eigentlich erst richtig den Sinn des Begriffs ›sich beglückwünschen‹ und kostete dieses Gefühl aus. Nahm er auch nicht teil an der erregten, übermütigen Stimmung, die im ganzen Schiff herrschte – in den Mannschaftsdecks schrie alle Augenblicke einer unvermittelt »hurra« – so hatte er doch genau wie alle andern an Bord das klare Bewußtsein, daß sie ein hohes Ziel erreicht hatten – die Krönung des Jahres 1941, nein: der ganzen in zwei Jahren getragenen Mühen und Strapazen. War das nicht ein Ausgleich für die unzähligen Minuten ohnmächtiger Wut? Für dieses U-Boot hatten sie sehr hart arbeiten müssen, hatten das Äußerste ertragen an Müdigkeit, Langeweile, Anstrengung der Augen, Kälte und Unbequemlichkeit. Jetzt aber schien durch einen einzigen Schlag die Rechnung ausgeglichen. Für Ericson aber war auch eine private Schuld ausgeglichen, und seine neue ›Kreditfähigkeit‹ wollte er mit niemand teilen. Nur einmal tauchte er aus seiner inneren Zurückgezogenheit auf: als sie 236
sich auf der Rückreise schon der Heimat näherten und zufällig dicht neben Viperous fuhren. Da schien die Flut der Glückwünsche, die ihn durch den Lautsprecher erreichten, plötzlich ein fast knabenhaft fröhliches Gefühl von Zufriedenheit und Begeisterung in ihm auszulösen. Er ergriff das Mikrophon. »Möchten Sie gern ein paar Deutsche sehen?« fragte er Viperous über die zwanzig Meter See, die sie trennten. »Gleich kommen sie zum Auslüften an Deck… Graben Sie sie aus, I.W.O.«, sagte er lässig zu Lockhart, »lassen Sie sie auf der Back antreten.« Und sogleich kletterte die erste Schar Gefangener die Leiter herauf an Deck. »Sehen ein bißchen zerknittert aus«, rief Ericson wie zur Entschuldigung dem Zerstörer zu, als die Männer nach oben stolperten, indem sie sich umblickten wie Mäuse, die aus dem Schutz der Holztäfelung kriechen. »Ich glaube, wir müßten den Krieg gewinnen, finden Sie nicht?«
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IV 1942 KAMPF Während des alten Jahres, das nur am Schluß einen Triumph brachte, erreichte der Kampf einen Grad der Heftigkeit und Mißerfolge, der sozusagen schon den Ton für das neue angab. Kurz vor Weihnachten erlitten zwei verbündete Länder erschreckende Verluste zur See: England verlor bei einem einzigen Bombenangriff zwei seiner Großkampfschiffe, Prince of Wales und Repulse, und die Vereinigten Staaten bekamen in Pearl Harbour einen Schlag, der sie gleich der Hälfte ihrer einsatzfähigen Flotte beraubte. Dieser Angriff brachte zwar Amerika in den Krieg, als Verbündeten, der in höchster Not rettend eingriff, aber Amerikas Hauptkampffeld war niemals der Atlantik: diese Lebenslinie mußte im ganzen Kriege von der britischen und kanadischen Marine allein geschützt werden. Amerika wandte den Blick zum Pazifik, wo die Abwehr der höllischen Flut japanischer Angriffe mehr als genug Mühe machte. Im Atlantik, wo Sicherungsfahrzeuge gegen Unterseeboote rangen, waren noch die gleichen Kämpfer im Ring und traten jetzt an zur vierten Runde, der bisher blutigsten des Krieges. Denn jetzt war die Schlacht in vollem Gang, unter wilden, bösartigen Hieben beider Gegner eilte sie ihrem Höhepunkt zu. Die U-Boote waren klar im Vorteil, den sie mit äußerstem Geschick und größter Rücksichtslosigkeit nutzten. Deutschland begann das Jahr mit zweihundertsechzig Booten und einem weiteren monatlichen Zuwachs von zwanzig. Das war eine rasch wachsende Flotte, die den Deutschen erlaubte, ständig hundert Boote gleichzeitig im Atlantik einzusetzen. In langer Kette über die Geleitwege verteilt, fingen sie Konvois ab oder meldeten sie weiter mit größter Selbstverständlichkeit. Das Abfangen bestand in einem raffiniert entwickelten System von Rudelangriffen, wobei zwanzig oder mehr operierende U-Boote an einen Geleitzug herangeführt wurden und gemeinsam, mit serienweisen, wiederholten Schlägen über ihn herfielen, bis es seinen Resten gelang, sichere Gewässer zu erreichen. Angesichts dieser erdrückenden Übermacht erschienen die alliierten Bemühungen lächerlich schwach, und ihre Gegenmaßnahmen glichen den wirkungslosen Gesten eines schwerfälligen Ringers, der von einem Dutzend gewandter Gegner in einem Käfig pausenlos attackiert wird. Im Monat März allein wurden vierundneunzig Schiffe versenkt, im Mai hundertfünfundzwanzig, im Juni hundertvierundvierzig, nahezu fünf jeden 238
Tag. Diese erschütternde Versenkungsziffer hielt sich das ganze Jahr hindurch um rund hundert monatlich. Für die Alliierten war der Tiefpunkt des Seekrieges gekommen, und tatsächlich wäre ihnen bei diesem Tempo der Vernichtung in absehbarer Zeit die Niederlage sicher gewesen, hätten sie es weiter so hingehen lassen. Die Sicherungsboote taten ihr Äußerstes und wurden durch moderne Angriffswaffen und kleine Flugzeugträger – umgebaute Handelsschiffe – in den Konvois unterstützt. Sie hatten außerdem ein System von ›Unterstützungsgruppen‹ entwickelt: kleine selbständige Flottillen von sechs oder acht Sicherungsfahrzeugen, die dauernd in See gehalten wurden, um bedrängten Geleitzügen jederzeit zu Hilfe eilen zu können. Diese vereinten Anstrengungen zeitigten die bisher besten Ergebnisse des Krieges: in den ersten sieben Monaten des Jahres wurden zweiundvierzig U-Boote versenkt und im erfolgreichsten Monat, November, allein sechzehn. Das war gegenüber dem Vorjahr eine Verdoppelung der Erfolge, aber die U-Boote hatten gleichfalls ihre Versenkungen verdoppelt. Wog man ab, so lag die Ehre – wenn das in diesem unmenschlichen und tückischen Kampf die richtige Bezeichnung war – weitaus auf Seiten des Gegners. Konnte diese feindliche Flut nicht eingedämmt, das Rad der Entwicklung nicht zurückgedreht werden, dann entschied die Schlacht im Atlantik den Krieg, das heißt: die Sache der Alliierten mußte zusammenbrechen, sobald sie durch Hunger und Mangel an Kriegsmaterial in die Enge getrieben und abgewürgt waren. »Es ist«, so sagte Churchill damals, »ein Krieg des Zupackens und Ertränkens, ein Krieg aus dem Hinterhalt, ein Krieg der List, ein Krieg für Wissenschaftler und Seeleute.« Das alles stimmte. Und manchmal ließ es sich nur in viel schlimmeren Worten ausdrücken: Blut war eben dicker als Wasser. Es gab bestimmte Zeiten für Compass Rose, die durch besondere Eindrücke im Gedächtnis haften blieben, wie Insekten von besonders ekelhafter Form oder Farbe, die in einem schmutzigen Gewebe hängenbleiben, das keine reinigende Hand erreichen kann. Da war die Zeit des ›Toten Steuermanns‹ –alle diese Ereignisse hatten ihre feste Bezeichnung, die ihnen entweder gleich oder später, wenn sie davon sprachen, zugelegt wurden. Das vereinfachte den ›Genuß‹ der Erinnerung. – Dieses Ereignis nun war von fast opernhafter Phantastik, so daß Morell sich nachher veranlaßt sah zu bemerken: »Mir scheint, wir sind hier dem Fliegenden Holländer ins Gehege geraten.« Das waren kaltherzige Worte, gewiß, aber allmählich hatten ihre Gedanken und Gefühle diesen Stempel kalter Ruhe bekommen. Das Rettungsboot wurde zuerst von Baker, während der Vormittagswache, 239
entdeckt: kühn segelte es mitten durch den Konvoi und wich keinem aus, so daß ein gewaltiger Chor heulender Dampfsirenen ihm folgte, als die Schiffe, eins nach dem andern, ihren Kurs ändern mußten, um eine Kollision zu vermeiden. Der Kommandant, auf die Brücke gerufen, betrachtete es durch sein Glas: er konnte erkennen, daß es schon viele Tage unterwegs sein mußte, denn die Farbe am Bootskörper hatte Blasen geworfen, und das zerfetzte und verfärbte Segel war nicht mehr gespannt, so daß es den halben Wind verschenkte. Aber die einsame, über der Ruderpinne zusammengekauerte Gestalt hielt unerschütterlich den Kurs. Bei genauer Auslegung der Seestraßenordnung hätte das Boot als Segelschiff tatsächlich das Vorfahrtsrecht gehabt, aber es gehörte schon viel Mut dazu, das ohne Rücksicht auf die Folgen zu versuchen. Es sah aus, als steuere das Boot auf Compass Rose zu, was auch durchaus vernünftig war, obwohl es dadurch inzwischen schon mehrere Dampferkapitäne in hellste Aufregung versetzt hatte: denn offenbar wußte der einsame Mann, daß die Sicherungsboote für die Versorgung Schiffbrüchiger besser ausgerüstet waren als die Dampfer. Ericson ließ stoppen und wartete auf die Ankunft des kleinen Bootes: es hielt weiter genau den Kurs inne, doch auf einmal, im letzten Moment, fiel es vor einer Bö ab und glitt dicht am Heck von Compass Rose entlang. Ein Matrose schleuderte ihm von der Wasserbombenreling eine Wurfleine zu, und alle riefen es an, aber der Mann, der gar keinen Versuch machte, an die Bordwand heranzukommen, blickte noch nicht einmal hoch – das Boot segelte vorbei und entfernte sich. »Der muß taub sein«, sagte Baker ganz verdutzt. »Aber er kann doch nicht auch noch blind sein –« »Das ist der taubste Mensch, dem Sie jemals begegnen werden«, sagte Ericson auf einmal grimmig. Er ließ die Maschinen wieder langsam voraus laufen und drehte Compass Rose auf den Kurs des Bootes. Allmählich überholten sie es und nahmen ihm den Wind weg, so daß es bald still lag. Von der Back streckte jemand einen Enterhaken aus, und das Boot wurde längsseit geholt. Der Mann saß noch immer geduldig auf seinem Platz, als bemerke er sie alle überhaupt nicht. Das Boot schaukelte ein bißchen, als Maat Phillips hineinsprang. Er lächelte den Steuermann an: »Na, nun aber los, Kamerad!«, rief er ermunternd – dann beugte er sich, verwirrt durch den merkwürdig leeren Blick dieses Gesichts, etwas näher heran und streckte die Hand aus. Als er sich wieder aufrichtete, war er grau vor Schreck und Ekel. Er sah zu Lockhart empor, der über ihm an der Reling des Schiffes wartete. »Sir –«, begann er, warf sich über den Bootsrand und erbrach sich. 240
Es war, wie Ericson vermutet hatte: der Mann mußte seit vielen Tagen tot sein. Seine seitlich gespreizten nackten Füße auf den Bodenplanken waren dünn wie Papier, die Hand, die die Pinne gepackt hielt, war nur noch eine Klaue. Die Augen, die anscheinend einmal kühn vorausgeblickt hatten, waren leere Höhlen, aus denen sich schon die Seevögel ihren Raub geholt hatten. Das Gesicht war von hundert Sonnen schwarz gebrannt und vollkommen zusammengeschrumpft in hundert bitteren Nächten. Das Boot hatte weder Kompaß noch Seekarte, das Wasserfaß war leer, die Fugen auseinandergeplatzt. Es ließ sich nicht sagen, wie lange der Mann schon so sinnlos durch den Ozean gesegelt sein mochte, allein, voller Hoffnung im Leben und im Tode, aber genau fortsteuernd vom festen Lande, das nun schon tausend Meilen hinter ihm lag… Da war die Zeit des ›zerbombten Schiffes‹, die größte Geduldsprobe, die sie durchmachten. Es begann im Mittelatlantik mit einer verstümmelten Funkmeldung, von der nur lesbar waren das ›S.O.S‹ und die Position nach Länge und Breite: ungefähr vierhundert Meilen nördlich von ihrem Geleit. Das übrige waren unklare Schlüsselwortgruppen, aus denen selbst bei sorgfältiger Rekonstruktion’ kaum mehr herauskam als »Bombe«, »Feuer« und »aufgegeben«. Für Viperous war die Entscheidung schwierig, ob es sich lohnte, eins der dringend notwendigen Geleitfahrzeuge zu entbehren, um es auf diese fast aussichtslose, zeitraubende Suche zu schicken. Soweit sich beurteilen ließ, konnte die in der Meldung gegebene Position schwerlich stimmen, außerdem bestand die Möglichkeit, daß die ganze Meldung falsch war: ein leichtsinniger Funker mochten sie ›aus Spaß‹ abgegeben haben, oder ein U-Boot hatte versucht, ihnen eine Falle zu stellen – beides war nämlich schon vorgekommen. Viperous hatte jedenfalls die Entscheidung getroffen, daß die Sache einen Versuch wert sei, denn das nächste Signal des Zerstörers, an Compass Rose, lautete: »Nachsuchen gemäß S.O.S. von heute 13.00 Uhr.« Und etwas später rief Viperous ihnen durch Funkspruch noch nach: »Auf Wiedersehn.« Der erste Teil ihres Auftrags war leicht: 90 Grad nach Backbord drehen, auf fünfzehn Meilen gehen und diesen Kurs bei gleichbleibender Geschwindigkeit sechsundzwanzig Stunden lang einhalten. An so einer flotten Fahrt hatten sie alle ihre Freude: das Schiff rannte ja wie ein Hund, den die langsamste alte Frau der Welt ständig an der Leine geführt und endlich einmal freigelassen hat. Jetzt hatte ihnen keiner Vorschriften zu machen, sie brauchten sich um kein Geleit zu kümmern, kein dienstältester Gruppenoffizier konnte sie, vom Nachmittagsschlaf aufwachend, fragen, was zum Donnerwetter sie eigentlich machten. Compass Rose stürmte dahin vor zunehmen241
dem Wind, bei einer seitlichen See, in der sie oft weit ausschor, bis der Rudergänger sie wieder auf den Kurs zwang: sie war allein, wie ein Schiff auf einem Gemälde durchschnitt sie die kalten grauen Wogen, einem völlig unbelebten Horizont zusteuernd. Die Nacht durch und den ganzen nächsten Vormittag lief sie dahin, und keine Mastspitze, kein Segel, nicht die kleinste Rauchfahne kamen in Sicht – eine Einsamkeit, die den Männern an Bord immer wieder zum Bewußtsein brachte, wie ungeheuer groß dieser Ozean, welch ein gewaltiger Schlupfwinkel er war. Zu jeder Stunde befanden sich auf dem Atlantik Hunderte von Schiffen, und doch schien Compass Rose ihn ganz für sich zu haben. Es sah aus, als sei sie das einzige noch schwimmende Schiff der Welt. Als sie nun die berechnete Strecke zurückgelegt und das vermutete Suchgebiet erreicht hatte, kam ihnen das Wort ›Schlupfwinkel‹ wieder in den Sinn, aber jetzt nur wie zum Hohn. Es war ein frostiger Februarnachmittag mit tiefhängenden Wolken. In drei Stunden mußte es dunkel sein, und sie sollten ein Schiff finden, das vielleicht zerbombt war, vielleicht versenkt, vielleicht eine dumme, voreilige Meldung abgegeben hatte oder sich gar auf einem anderen Längengrad, auf der Gegenseite der Erdkugel, befand. Auf ein Blatt kariertem Papier zeichnete Ericson einen ›Suchkasten‹: eine Serie von Quadraten aneinander gereiht in der Windrichtung, in der das Schiff abgetrieben sein konnte. Die Quadrate hatten sieben Meilen Seitenlänge, sollten jeweils in zwei Stunden umfahren und so nacheinander in der Generalrichtung Nordosten abgesucht werden. Er übertrug diese Suchquadrate auf die Seekarte, um zum Schluß keinen Irrtum in ihrer Position zu haben, und dann begann Compass Rose, den Ozean in Siebenmeilenquadrate zu zerschneiden. Es war sehr kalt, die Dunkelheit kam, Schneetreiben setzte ein. Als Stunde auf Stunde verging, ohne daß im Radarschirm der leiseste Kontakt erschien, dachten sie immer weniger an die Suche, sondern machten sich mehr Gedanken um das Wetter. Der Wind war scharf, die Kälte des treibenden Schnees durchdringend, die vorbeirauschende See tobte immer stärker: das waren die Tatsachen, unter deren Wirkung die anfangs wichtig genommene Aufgabe allmählich an Bedeutung zu verlieren schien und schließlich vergessen wurde. Sie hatten das Gefühl, der Befehl zum planmäßigen Absuchen sei schon vor ewiger Zeit gegeben worden, und das zerbombte Schiff – wenn es überhaupt existierte – und seine Besatzung – falls sie noch lebte – seien vielleicht nur Phantasie. Jedenfalls litten sie sehr unter der beißenden Kälte. Gegen Mitternacht war das Schneetreiben zum wirbelnden Orkan geworden: um vier Uhr früh, als Lockhart zur Wache kam, ging ihm die bittere Kälte schon durch und durch, bevor er ganz die Treppe herauf war. »Schon was gesichtet?« schrie er Morell zu. 242
»Nichts. – Wenn die bei diesem Wetter treiben, gnade ihnen Gott.« Während der ganzen Wache war es ›nichts‹, und ›nichts‹ auch bei Tagesanbruch, und am Vormittag wieder ›nichts‹. Gegen Mittag flaute der Wind ab, und Schnee trieb nur noch wenig: er fiel in so sanften Flocken auf sie nieder, als wolle er sich für Weihnachtspostkarten empfehlen. Viele fragten sich schon im stillen, warum die Suche nicht längst eingestellt wurde: zwei Tage hatten sie schon dazu gebraucht und hatten in den letzten vierundzwanzig Stunden fast sechshundert Quadratmeilen Ozean abgesucht. Viel mehr konnte eigentlich keiner von ihnen verlangen… »Mir fällt eben ein, daß heute Sankt Valentinstag ist«, sagte Ferraby plötzlich zu Baker, mit dem er die langweilige Nachmittagswache ging. »Schreiben Sie’s ins Logbuch«, knurrte Ericson, der das gehört hatte, »denn was anderes werden wir sowieso nicht einzutragen haben.« Es geschah sehr selten, daß er Zweifel äußerte oder ihm etwas zuviel wurde: daher meinte nun die Besatzung, auch ihrerseits offen diskutieren zu dürfen, ob es nicht besser sei, die ganze Geschichte aufzugeben. An das feste Echo, das plötzlich vom Radargerät gemeldet wurde, vermochten sie zunächst gar nicht zu glauben. Aber es war tatsächlich das Schiff – das Schiff, das zu finden sie ausgesandt waren! Ganz plötzlich entdeckten sie es; bis zum letzten Moment war es von dem sanft niederfallenden Schnee verdeckt, um auf einmal vor ihnen zu liegen, als sei ein Vorhang gefallen. Ein kleiner, schäbiger Frachter mit schwedischen Schornsteinmarken. Ein Wrack, das mit dem Winde durchs atlantische Wetter getrieben war wie ein Landstreicher durch eine Menschenmenge. Es hatte schwere Schlagseite, seine Brücke und das Vorschiff waren feuergeschwärzt, die Farbe blasig aufgeplatzt, der vordere Teil der Brücke, offenbar direkt von einer Bombe oder schweren Granaten getroffen, sah aus wie ein Metallkäfig, den ein Ungetüm mit Gewalt aufgerissen hatte, um in die Freiheit zu gelangen. Ein Rettungsboot fehlte, das zweite hing wie ausgekippt schief in den Taljen. Sonst war nichts zu sehen… Compass Rose zog langsam einen Kreis um das Wrack, auf Unerwartetes gefaßt, aber kein Laut, keinerlei Bewegung waren bemerkbar, nur der Schnee fiel sacht auf das verödete Oberdeck. Sie ließen die Sirene ertönen, sie feuerten einen Schuß in die Luft: nichts rührte sich. Schließlich ließ Ericson stoppen und ein Boot fieren, das unter Morells Aufsicht mit Rose, dem jungen Signalmatrosen, Maat Tonbridge und einem Heizer namens Evans hinüberpullte. Ericson lehnte sich mit dem Megaphon über die Brücke und rief ihnen nach: »Wir müssen in Bewegung bleiben, weil dieses Wrack ein Anziehungspunkt für U-Boote sein kann. – Keine Sorge also, wenn Sie uns mal aus Sicht verlieren.« 243
Morell winkte stumm, daß er verstanden hatte. Er dachte schon gar nicht mehr an Compass Rose, sondern stellte sich mit Schaudern vor, was er auf dem Wrack wohl finden mochte. ›Ich bin dafür nicht zu gebrauchen‹, dachte er, während sie sich dem schweigenden Schiff näherten, ›nicht für Bomben, nicht für Blut und nicht für den brutalen Anblick einer Katastrophe.‹ Als Maat Tonbridge mit der Fangleine auf das schräghegende Deck hinübersprang und das Boot festmachte, mußte Morell sich sehr überwinden, ihm zu folgen. Seine innere Stimme sagte zu Tonbridge: ›Gehen Sie für mich, ich werde hier warten, bis Sie alles nachgesehen haben.‹ Nicht daß er regelrecht Angst gehabt hätte: er bezweifelte nur, ob er einem noch unbekannten grausigen Bild gegenüber standhaft bleiben würde. Stumm kletterte er an Deck und blieb auf dem fremden Boden stehen: ein tiefernster junger Mann in gelber Lederjacke und Seestiefeln, der durch den rieselnden Schnee die Umrisse der zerschmetterten Brücke anstarrte. Er sagte zu Heizer Evans: »Gehen Sie mal unter Deck und sehen Sie nach, wie hoch das Wasser im Schiff steht.« Zu Tonbridge: »Sie bleiben im Boot« und zu Rose: »Sie kommen mit mir.« Sie gingen zum Vorschiff: hohl klangen ihre Schritte auf dem Eisendeck, ihre frischen Fußspuren im Schnee glichen denen von Kindern, morgens in einem Garten. Rings um sie herrschte vollkommenes Schweigen, eine völlig leere Stille, wie sie nur über einem ganz und gar verfluchten Schiff liegen konnte. Es war nicht so schlimm, wie Morell befürchtet hatte, aber nur in einem Sinne: er blamierte sich weder durch einen Ohnmachtsanfall noch durch Erbrechen – aber was er sah, war grauenhaft. Die Brücke war durch einen Volltreffer in Brand geworfen worden, und auch zwischen Brücke und Vorschiff hatte Feuer gewütet. Wieviel Mann beim Einschlag der Bombe auf der Brücke gewesen waren, ließ sich schwer bestimmen: von den Leichen war keine einzige vollständig, und die vielen umhergeschleuderten Körperteile machten zuerst den Eindruck, als sei hier ein ganzes Regiment zusammengehauen worden. In Wirklichkeit mochten es sechs Menschen gewesen sein: jetzt hingen ihre Überreste, schon verwesend, wie ein entsetzlicher Wandschmuck ringsum an den Schotts, manche hatten den matten Schimmer halb getrockneter Ölfarbe. An allen Seiten schien der Brückenaufbau von Blut und menschlichen Körperfetzen dekoriert zu sein. – »Als Papa den Salon tap’zierte, hat er an so was nicht gedacht«, summte Morell einen blöden Schlager vor sich hin. – Des Rudergängers Hand hielt noch das Speichenrad gepackt, aber es war nur eine Hand, die sich ohne Körper in die Luft reckte. 244
Fetzen von Uniformen, von Gedärm, Haarbüschel entdeckte das Auge überall. Auf einer glatten Fläche war ein Schädel im Profil zu sehen, gleichsam eingebrannt in die Farbe zeichnete er sich ab wie die gräßliche Karikatur eines Straßenmalers, eine Schablone aus Menschenhaut und Menschenknochen. »Du bist mit offenem Mund gestorben«, sagte Morell, indem er auf dieses furchtbare Abbild mit Augen blickte, die ihre Fähigkeit, Eindrücke ans Gehirn zu vermitteln, verloren zu haben schienen. »Ich hoffe, daß deine letzten Worte recht höflich waren.« Er trat auf den offenen Teil der Brücke, hoch über der Wasserfläche, um Ausschau zu halten. Der Schnee rieselte noch ganz langsam, auf dem Wasser sah er vor dem Verschmelzen wie Staub aus. Sonst lag rings um das Schiff nur lichtloses Grau. Die Nachmittagshelle verging: Compass Rose kam für einen Moment in Sicht, dann war sie wieder fort. Er drehte sich zu Rose um, der mit der Signallampe bereit stand. Über die Brücke blickten sie einander an: beider Gesichter zeigten dieselbe ernste Konzentration, die gleiche Hoffnung, diese Stätte grausiger Schlächterei unerschüttert ertragen zu können. Sie war ja ein Teil ›ihres‹ Krieges, für dergleichen waren sie ausgebildet worden und hätten Ereignisse dieser Art nun schon als selbstverständlich hinnehmen sollen. Manches hatten sie auch schon ertragen ohne schwere Überwindung, jedoch… ›Rose hat sicher das alles hier gesehen und dann wegschauen müssen‹, dachte Morell. ›Wahrscheinlich wartet er, daß ich etwas sage oder ihn mit die Treppe hinabnehme, von dieser Brücke fort. Mein Wunsch wäre das auch…‹ Er räusperte sich: »Wir wollen sehen, was Evans feststellt, dann morsen wir rüber.« Das Schiff konnte nicht mehr mit eigener Kraft laufen, aber in Schlepp genommen werden: obgleich der Maschinenraum und ein Laderaum hoch überflutet waren, drückte kein Wasser mehr hinein, so daß die Schwimmfähigkeit des Schiffes noch unbegrenzt lange erhalten bleiben konnte. Das ließ er in großen Zügen von Rose signalisieren. Ericson mußte sich, als er das las, schlüssig werden, ob er das Wrack gleich in Schlepp nehmen oder erst nach dem einen fehlenden Boot und etwaigen Überlebenden suchen sollte. Wenn die Leute bei diesem eisig kalten Wetter zwei Nächte umhergetrieben waren, schien kaum denkbar, daß sie noch lebten, aber da das zerbombte Schiff noch schwimmfähig war, spielte es keine Rolle, ob sie noch einen Tag länger nach den Vermißten forschten. Vielleicht war es am besten, Morell blieb noch drüben an Bord: er konnte sich dann genaueren Überblick verschaffen, und wahrscheinlich gab es auch mehr als genug aufzuräumen. »Bleiben Sie an Bord«, ließ er schließlich an Morell signalisieren. »Ich will nach dem Rettungsboot suchen und komme morgen vormittag wieder.« Ir245
gend etwas trieb ihn, hinzuzufügen: »Sind Sie auch glücklich, wenn wir Sie allein lassen?« ›Glücklich?‹ dachte Morell. ›Na, das war vielleicht ein Ausdruck…‹ Es war inzwischen fast dunkel geworden, und da sollten sie nun länger als zwölf Stunden in der Finsternis und allein auf diesem schwimmenden Sarg bleiben, nur Schnee sehen, nur die See rauschen hören und zur Gesellschaft eine Brücke voller Leichenteile? »Das Glück ist relativ«, begann er Rose zu diktieren, besann sich aber anders. Die Stunde verdiente wahrhaftig keinen Humor. So sagte er kurz: »Antworten Sie: ›Geht uns ganz gut.‹« Dann rief er Tonbridge und Evans heran und nahm sie mit auf die Brücke. Dort mußte der Anfang gemacht werden. Diese Nacht sollte Morell nie in seinem Leben vergessen. Sie nutzten das letzte Tageslicht für die Reinigung der Brücke aus: daß es dabei dunkler wurde, war ein Segen, denn nur so war die ekelerregende Arbeit zu ertragen. Sie schafften schweigend, stoßweise atmend, ohne genauer hinzusehen, was ihre Hände taten. Was sie beseitigen mußten, flog eins nach dem andern über Bord und wurde von der See gnädig den Blicken entzogen. Nur einmal wurde das Schweigen gebrochen, als Maat Tonbridge sagte: »Schade, daß wir keinen Schlauch haben, Sir.« Er richtete sich aus einem Brückenwinkel auf, wo er minutenlang zu tun gehabt hatte. Morell gab keine Antwort, die andern auch nicht. Der Ort, an dem sie standen, redete genug, auch jetzt, da er schon schattenhaft verschwamm. Sie aßen etwas von dem Notproviant des Rettungsbootes und machten sich Tee auf einem Spirituskocher, den sie in der Kombüse fanden. Dann richteten sie sich, eng beieinander, in dem kleinen Kartenhaus hinter der Brücke für die Nacht ein. Es war eine Lampe da, Matratzen und Decken, die ihnen etwas Wärme gaben. Für eine Nacht an Bord mußte es auszuhalten sein, wenn sie nur nicht nachdachten. Morell aber begann nachzudenken. Und was er dachte, zerstörte jede Hoffnung auf Schlaf, es trieb ihn an Deck. Ihn konnte es nicht beruhigen, daß andere neben ihm schliefen: es machte ihn nur zornig, daß sie im Schlaf die Erlösung fanden. Wäre er bei ihnen geblieben, so hätte er vielleicht einen Vorwand, sie zu wecken, erfinden müssen. Er ging so leise wie möglich den Niedergang hinab und atmete beim Gehen kaum: die Hand, mit der er den Segeltuchvorhang am Eingang in das Vorschiff zur Seite schob, war die Hand eines Verschwörers. Einen Schritt trat er hinein, da fühlte er vor sich eine gähnende Leere: er zündete ein Streichholz an und sah, daß er sich in einem großen Eßraum befand, einem Raum voller Schatten, erfüllt vom Schweigen der Verlassenheit. Das Streichholz flammte heller: er sah einen langen Tisch mit Tellern gedeckt – Teller mit halb aufgegessenem Irish Stew, zerkrümelten Brotstücken, Messern und Gabeln, die rasch abge246
legt waren im Moment der großen Gefahr. Keine dieser Portionen wurde je zu Ende gegessen: alle diese Männer, die hier Messer und Gabeln hingelegt hatten, waren sehr wahrscheinlich tot. ›Ich denke in abgegriffenen Phrasen‹, dachte er, als das Streichholz flackernd erlosch. Aber abgegriffene Phrasen waren ebenso eindrucksvoll wie neu formulierte, wenn die Wirklichkeit, die sie beschreiben sollten, so nahe war und durch so grausame Tatsachen unterstrichen wurde. Von Gespenstern verfolgt ging er über das beschneite Oberdeck nach achtern. Der Wind erzeugte in der Takelage seltsam heulende Laute, unter seinen Füßen hörte er Wasser gurgeln: das Schiff war unruhig, es mußte sich noch fortwährend gegen die See behaupten. Unter dem offenen Himmel war kein Trost für das Grauen zu finden: zu viele Schatten gab es an Deck, die Aufbauten verbargen hinter ihren ungewohnten Formen zu viele Überraschungen. Angenommen, das Schiff war gar nicht verlassen: konnte nicht plötzlich aus der nächsten unübersichtlichen Ecke ein wahnsinnig gewordener Seemann mit einer Axt auf ihn losstürzen? Oder er stieße plötzlich auf frische Fußspuren im Schnee, die nicht von seinen Leuten stammten –? Da – am Fuß des Mastes bewegte sich ein Schatten. Morell griff in die Tasche seiner Lederjacke, seine Nerven drohten zu zerreißen. Der Schatten bewegte sich noch einmal, glitt vor ihm fort – Er brüllte: »Halt!« Die Katze miaute und lief fort. Der Morgen kam, und mit ihm kam Compass Rose. Sie hatte nichts zu berichten: kein Boot gesehen, keine Überlebenden. Und Morell hatte, rein sachlich, auch nichts Neues zu melden. Eine Wurfleine flog von Compass Rose herüber, daran ein leichtes Manilatau und an ihm das schwere Schleppseil. Sie hatten kein Spill, um diese Trosse an Bord des zerbombten Schiffes zu winden, so daß Morells Leute sie Hand über Hand mit Muskelkraft einholen mußten: es schien, als werde es ihnen nie gelingen, das Gewicht des schweren Drahtseils zu überwinden. Aber schließlich konnten sie es belegen und gaben entsprechend Signal: die Schleppfahrt begann. Sie schafften weniger als drei Meilen die Stunde, selbst bei gutem Wetter: zehn Tage lang krochen sie so dahin bis an ihr Ziel. Jeden Morgen, wenn es hell wurde, winkte Morell grüßend zu Lockhart hinüber, und jeden Abend, wenn ›Abblenden‹ gepfiffen wurde, winkte Lockhart ihm zum Gutenachtgruß. Tag um Tag, Nacht um Nacht krochen die beiden Schiffe durch die See, beide nur für diesen einzigen Zweck tauglich, beide durch die sie verbindende Nabelschnur jedem U-Boot als leichtes Ziel preisgegeben. Als sie sich in der Merseymündung endlich trennten und Morell wieder auf Compass Rose umstieg, meinte er aus einem qualvollen Traum zu erwachen, den er nie zu überleben geglaubt hatte. »Sind Sie ungern drüben von Bord gegangen?« fragte Lockhart ironisch, 247
als Morell auf der Brücke erschien. »Nein«, antwortete Morell, an seinen in den zehn Tagen gewachsenen Bart fassend, »nein, das bin ich nicht.« Er blickte auf das hinter ihnen zurückgebliebene Schiff, das jetzt von zwei Hafenschleppern gezogen wurde. »Ich darf aber sagen, daß das Bild von dem Sträfling, der seine Ketten vermißt, lediglich der Vorstellung entspricht, die ein Romanschreiber vom Leben hat.« Da war die Zeit, für die sich schwer eine treffende Benennung finden ließ. Wenn sie davon sprachen, sagten sie meistens: »… damals, als der Kommandant die Begegnung hatte.« Diesmal war es auf einem Geleitzug nach Gibraltar gewesen, der an unheilvollen Ereignissen keiner der anderen Gibraltarfahrten nachstand: auf dem ganzen Weg nach Süden sank ein Schiff nach dem andern, und als sie nur noch zwei Tagesreisen vom Ziel gewesen waren, hing das Rudel U-Boote noch immer an ihnen. Ericson schien sich für ein bestimmtes Schiff an der Spitze des Konvois sehr zu interessieren: oft beobachtete er es minutenlang durchs Glas, und jeden Morgen bei Hellwerden suchte er nach ihm zuerst. Dieses Schiff blieb erhalten bis zum letzten Tage der Reise, und dann, als nach einer katastrophalen Nacht der Morgen dämmerte, war es nicht mehr an seinem Platz. Beim ersten Frühlicht kam das übliche Signal von Viperous: »Heute Nacht wurden folgende Schiffe versenkt: Fort James, Eriskay, Bulstrode Manor, Glen Mac Curtain. Geleitzugliste entsprechend berichtigen.« Ericson nahm diese Meldung mit so eigenartiger Miene zur Kenntnis, daß niemand ein Wort dazu zu äußern wagte. Eine volle Stunde blieb er, die Augen starr auf den Geleitzug gerichtet, auf der Brücke, bis er ganz plötzlich zu Wells sagte: »Schreiben Sie auf, Signal: ›An alle Sicherungsfahrzeuge der Gruppe, von Compass Rose: Bitte alle bei ihnen etwa vorhandenen Geretteten von Glen Mac Curtain melden.‹« Die Antwortsignale kamen sehr langsam und waren nicht erfreulich zu lesen. Viperous und zwei weitere Sicherungsboote meldeten »Keine«. Die Korvette der Achteraussicherung: »Zwei Matrosen, ein chinesischer Heizer.« Die zur Bergung von Oberlebenden abgeteilte: »Ein Erster Offizier, zwei Matrosen, ein Heizer, fünf Laskaren.« Sie warteten weiter, doch es schien nichts mehr zu kommen: die Glen Mac Curtain mußte sehr rasch gesunken sein. Ferraby, der seine Wache hatte, sagte tastend: »Nicht viele aufgefischt, Sir«? »Nein«, sagte Ericson. »Nicht viele.« Er blickte auf den Horizont hinter ihnen, dann ging er zu seinem Stuhl und 248
ließ sich schwer darauf sinken. Auf einmal begann einer der am Schluß laufenden Dampfer sie anzublinken. Wells nahm das Signal auf, wobei er ungeduldig in sich hineinschimpfte: anscheinend fand er Stil und Tempo des Gebenden nicht dem Niveau der Marine angemessen. »Meldung von dem polnischen Dampfer, Sir«, sagte er zu Ericson. »Kommt ein bißchen holperig: ›Haben Ihr Signal aus Versehen abgelesen‹, trug er in leicht mißbilligendem Ton vor, ›wir haben einen Mann von dem genannten Schiff.‹« »Fragen Sie an, wie er heißt«, sagte Ericson. Sein Ton war ruhig, aber es schwang darin eine solche Spannung, daß ihn alle Mann auf der Brücke unwillkürlich anblickten. Wells signalisierte diese Anfrage, sehr langsam, mit vielen Pausen und Wiederholungen. Eine lange Wartezeit folgte, dann begann das polnische Schiff zu antworten. Wells las die Worte laut ab, wie sie kamen: »Der Mann ist der Vierte Offizier«, fing er an, und dann buchstabierte er: ›E – r – i – c – s – o – n.‹« Sah von seiner Signallampe auf und sagte: »Ericson – derselbe Name wie Ihrer, Sir!« »Ja«, sagte Ericson. »Ich danke Ihnen, Wells…« Da war eine Zeit, eine ganz besondere für Lockhart, die ihm in Erinnerung blieb als ›die Zeit des verbrannten Mannes‹. Im allgemeinen brauchte er sich um die Behandlung geretteter Schiffbrüchiger nicht mehr unmittelbar zu kümmern, denn Crowther, der Sanitäter, hatte sich als vernünftiger und fähiger Mensch erwiesen, und solange es nicht zu viele Fälle gab, überließ ihm Lockhart die ärztliche Arbeit allein. Doch hin und wieder im Verlauf dieses schlimmen Jahres kamen zu viele verletzte und erschöpfte Männer an Bord, die sofortiger Behandlung bedurften, und in einer dieser Nächte, als sie von zwei Schiffen vierzig Überlebende aufnahmen, fand sich Lockhart wieder bei seiner früheren Beschäftigung als stellvertretender Schiffsarzt. Der kleine Verbandsraum mit den zwei Betten reichte selbstverständlich nicht aus: die Arbeit mußte, wie früher schon, im Vorschiff getan werden. Als er in den überfüllten, schlecht beleuchteten Raum trat, spürte er nicht mehr wie einst, als alles noch neu und beunruhigend für ihn war, diesen unwillkürlichen Ekel, aber geändert hatte sich nichts an dem tristen Bild, und nichts war weniger kraß, weniger erschütternd oder abstoßend. Es waren dieselben Reihen Überlebender, zähneklappernd, völlig durchnäßt, verschmiert von Öl und Dreck – derselbe Geruch von Öl und Seewasser, derselbe dankbare Ausdruck der Erlösung auf diesem und jenem Gesicht, und auf anderen die deutliche Erinnerung an den durchlebten Schrecken. Da hockten 249
die gleichen Gestalten, die Tee tranken oder sich bis zur Erschöpfung erbrachen, oder jedem, der zuhören mochte, ihre Leidensgeschichte erzählten. Crowther hatte die dringenden Fälle zusammen in einer Ecke untergebracht, und hier war das Bild auch wieder das alte: verwundete, ermattete Männer, die Angst vor dem Sterben hatten, und Männer, die in entsetzlichen Schmerzen auf den Tod hofften. – Über einen von diesen stand Crowther gebeugt: ein Seemann, dem er die schmutzige Hose aufgeschnitten hatte, unter dem eine zersplitterte Kniescheibe saß. Sobald Lockhart sich die übrigen Fälle angesehen hatte, wußte er, wem zuerst geholfen werden mußte. Er hatte sich durchgedrängt und beugte sich über den von zwei Kameraden vorsichtig festgehaltenen Mann. Unglaublich schien es, daß dieser Mensch noch bei Bewußtsein war und seine Qualen zeigen konnte: er hätte eigentlich schon tot sein müssen, aber er lebte: stöhnend versuchte er sich mit pflückenden Bewegungen etwas von der Brust zu reißen. –r hatte schwerste, tief eingefressene Verbrennungen erlitten, vom Hals bis zur Hüfte. Auf der ganzen wunden Fläche war die Haut zerschunden und das Fleisch geröstet, als habe er zu lange an einem Bratspieß gehangen, der sich nicht mehr drehen wollte. Und so strömte er einen unbeschreiblich grausigen Küchengeruch aus. Welche Schmerzen ihm die erste Berührung mit dem Seewasser bereitet haben mußte, das war einfach unvorstellbar. »Zurückschlagende Kesselflamme hat ihn umgehauen«, sagte einer der ihn festhaltender Männer. »Brennendes Öl! Können Sie ihn wieder zurechtmachen?« ›Zurechtmachen‹, dachte Lockhart. ›Ich wollte, ich könnte ihn sofort für einen Sarg zurechtmachen‹ – Mit Überwindung beugte er sich ganz zu der furchtbaren Erscheinung nieder, gegen die sich alles in ihm sträuben wollte: über dem zerfetzten und geschrumpften Fleisch wirkte das Gesicht des Mannes, seiner Wimpern und Brauen und der vorderen Kopfhaut beraubt, völlig ausdruckslos. Nur seinen Augen fehlte der Ausdruck nicht: in ihnen lagen Schmerz und ratlose Fragen. ›Hätte er seinen Kopf so herumbeugen können, daß er die eigene Brust sah‹ – dachte Lockhart – ›dann wäre ihm seine fragende Angst vergangen, und er hätte sofort nach einem Revolver gejammert .‹ – Er wandte sich um und rief laut zu Crowther hinüber: »Was haben Sie für Mittel gegen Verbrennungen?« Crowther kramte in seiner Notverbandstasche. »Das hier«, sagte er und reichte etwas hinüber. Ein Dutzend hilfsbereite Hände gaben es an Lockhart weiter, als sei es das echte Lebenselexier. Und dabei war es nur eine kleine Tube Salbe, kaum größer als eine Zahnpastatube. Das Etikett trug das Bild eines lächelnden Kindes und die Aufschrift: ›Zur Linderung von Brandwunden. Sparsam anwenden.‹ ›Sparsam anwenden‹, dachte Lockhart: ›Und wenn 250
ich es so sparsam benutze wie kostbaren Platinstaub, müßte ich wohl zwei Tonnen davon haben.‹ Er hielt die kleine Tube in der Hand und blickte wieder auf diesen ›Überlebenden‹. Einer der ihn Haltenden sagte jetzt: »Hier ist der Arzt. Der wird dich wieder in Ordnung bringen.« Und die saumlosen Augen drehten sich langsam, ihr Blick blieb auf Lockhart hängen, als sei er der leibhaftige barmherzige Christus. Lockhart nahm einen Ballen Watte, tat etwas Salbe daran, schluckte tiefen Ekel hinunter und begann sehr sanft die verbrannte Brustfläche zu bestreichen. Vorher sagte er noch: »Es ist eine schmerzstillende Salbe.« ›Ich meine, er müßte jetzt wild aufkreischen‹, dachte er im selben Moment und verschloß sein Gehör: alle altmodischen Abbildungen von Badern, die Operationen vornahmen, zeigten doch den Patienten, wie er entsetzlich schrie, indes seine Freunde ihn mit Schnaps traktierten oder mit einem Holzhammer betäubten. – Das Furchtbare war, daß dieser Mann noch so grauenerregend lebendig sein konnte: er zerrte und wand sich zwischen den zweien, die ihn festhielten, während Lockhart, der mit der Zartheit einer Mutter strich und wischte, Schicht nach Schicht rohen Fleisches bloßlegte. Denn das zweite Elend war, daß, so sanft er den Körper auch berühren mochte, jedesmal wieder Fleischfetzen und Gewebeteile an der Watte hängenblieben. – Es fiel ihm auf, daß die Männer, die ihm im Kreise zusahen, still geworden waren: er spürte mehr als er sah, wie sich ihre Gesichter vor Mitleid und Abscheu zusammenzogen, als er mit der Salbe tiefer und tiefer tupfte und immer noch das Fleisch wie abplatzende Farbe in Flocken abging. ›Wie lange kann denn das so noch weitergehen‹, dachte er, als er ohne Verwunderung bemerkte, daß er an einer Stelle eine Rippe freigelegt hatte, die erstaunlich sauber glänzte. ›Ich glaube, das ist alles nutzlos‹, dachte er wieder, als der Mann endlich ohnmächtig wurde und die zwei, die ihn hielten, Lockhart ungläubig fragend anblickten. Die Salbe war fast verbraucht: die blutig offene Brust gähnte ihn an wie die Grundmauern eines verfallenen Gebäudes. ›Stirb!‹ dachte er und hätte es beinah laut gesagt, als er noch einmal, am Halse, vorsichtig tupfte und abermals nackte Sehnen zum Vorschein kamen, klar wie die Zeichnung eines Technikers. ›Bitte gib es auf und stirb. Ich kann dies nicht mehr weitermachen und darf damit nicht aufhören, solange du noch lebst.‹ Er hörte hinter sich ein paar Männer hart den Atem anhalten, als jetzt unter seiner äußerst behutsamen Hand wieder ein Stück Haut mit Fleisch an der Watte hängenblieb. Crowther, der, durch das gespannte Zuschauen der andern aufmerksam geworden, jetzt neben ihm kniete, fragte: »Hat es überhaupt genützt, Sir?« Lockhart mußte den Kopf schütteln. ›Ich tue Wunder‹, dachte er, ›man wird mir Arbeit in einer Fleischkonservenfabrik anbieten.‹ – Ein 251
wenig Blut lief über die offene Rippe, er tupfte es leise ab, als müsse er sich entschuldigen ›Verzeih mir‹, dachte er, ›es war gewiß meine Schuld.‹ Und dann wieder: ›Stirb doch! Bitte stirb! Ich mache mich hier zum Narren, und dich erst recht! Du wirst nie wieder zu gebrauchen sein. Und wir werden dir eine hübsche Bestattung bereiten, wo es kein Mensch sieht…‹ Plötzlich, ganz unvermutet, öffnete der Mann die Augen und blickte ihn in abgründigem Erstaunen an, als habe er seine Gedanken aufgefangen und wisse jetzt, daß ein Verräter und nicht ein Freund ihn berührte. Er verdrehte den Körper, wie Wellen liefen Krämpfe durch sein verbranntes Fleisch. »Nur ruhig, Jock«, sagte einer seiner Freunde, und ›Stirb!‹ dachte Lockhart wieder, indem er den letzten Rest Salbe aus der Tube quetschte und damit einen Schultermuskel betupfte, der sofort nachgab und sich vom Gewebe löste. ›Stirb! Tu uns den Gefallen und stirb!‹ Und laut wiederholte er, so schrecklich dumm es klang: »Es ist eine schmerzstillende Salbe.« Aber seine Lippen formten die Worte ›Stirb jetzt gleich! Sei nicht so trotzig! Kein Mensch will dich haben. Du selbst möchtest dich nicht, könntest du nur einen Blick auf dich tun. Bitte stirb!‹ Und auf einmal, gehorsam, aber viel zu spät, starb der Mann… Und da war die ›Zeit der Skelette‹. Es geschah an einem späten Sommernachmittag, als Compass Rose in ziemlicher Eile war, nachdem sie fast einen halben Tag durch die Suche nach einem Flugzeug verloren hatten, das weit südlich vom Kurs ihres Geleitzuges ins Meer gestürzt sein sollte. Sie fanden aber von ihm keine Spur, und Viperous hatte ihnen gefunkt: »Sofort wieder aufschließen.« So beeilte sich Compass Rose, den Geleitzug noch vor Dunkelwerden wieder zu erreichen. Die See war glatt wie Glas, der Himmel zeigte sein schönstes Blau: die wachfreien Männer, die es sich am Oberdeck bequem machten, hatten fast alle den Oberkörper entblößt, um die letzte Stunde warmen Sonnenscheins zu genießen. Es war so recht ein Tag zum Nichtstun. Da fanden sie es betrüblich, daß sie die Geschwindigkeit steigern mußten, und noch bedauerlicher, daß der Mann am Radargerät einen ›verdächtigen Kontakt‹ meldete, mehrere Meilen abseits von ihrem Kurs, so daß sie zum Suchen abweichen mußten. »Es ist ein sehr kleines Echo«, meldete der Radarmann wie entschuldigend. »Auch ziemlich verschleiert.« »Sehen Sie sich das lieber mal selbst an«, sagte Ericson zu Morell, der ihn auf die Brücke gerufen hatte. »Man kann nie wissen –« Er lächelte. »Was würden Sie sich bei ›klein und verschleiert‹ vorstellen?« Morell mußte an einen Mann unter Normalgröße denken, der nach einem schweren Abend durch die Regent Street wankte, aber er brachte das nicht 252
zum Ausdruck, sondern sagte: »Vielleicht ein Wrackteil, Sir. Oder ein UBoot dicht an der Oberfläche.« »Oder Schweinsfische«, sagte Ericson, der besser gelaunt schien als sonst, wenn man ihn plötzlich geweckt hatte. »Oder Seetang, auf dem sehr dicke Sandflöhe herumhopsen. – Auf jeden Fall verdammt ärgerlich: ich möchte nicht gern Zeit vergeuden.« In diesem Fall kostete es sie sehr wenig Zeitverlust, denn Compass Rose lief schnell bis an das geortete Ziel, und was sie dort fanden, hielt sie nicht lange fest. Wells – der die schärfsten Augen an Bord besaß – sichtete zuerst die Punkte auf der Meeresfläche, Pünktchen, die immer größer wurden, bis sie, auf ungefähr eine Meile Entfernung, zu Köpfen und Schultern wurden – eine Gruppe im Wasser treibender Männer. »Schiffbrüchige, bei Gott!« rief Ericson. »Wie lange mögen die hier schon treiben!« Das sollten sie bald erfahren. Compass Rose näherte sich dem ›Objekt‹, während die Besatzung sich an die Reling drängte, um die Männer da vor ihnen zu sehen. Ruckartig durchfuhr Ericson der Gedanke an einen anderen Fall, wo sie auch auf eine Gruppe Männer im Wasser losgeprescht waren, nur um sie kurzerhand zu vernichten. ›Diesmal nicht, diesmal nicht‹, dachte er und ließ die Fahrt vermindern: jetzt konnte er das von damals wieder gutmachen. Er hätte sich nicht die Mühe zu geben brauchen, sondern hätte Compass Rose hindurchpflügen lassen können genau wie das vorige Mal. Es kam ihm sonderbar vor, daß diese Männer dem Schiff nicht zuwinkten und ihnen nichts zuriefen, wie es doch immer war, oder daß sie Compass Rose nicht ein Stückchen entgegenschwammen, um die Lücke zwischen Leben und Tod zu schließen. Jetzt sah er, durch sein Glas, daß es hier keine Lücke zu schließen gab: denn die Männer, von ihren Schwimmwesten getragen und ziemlich hoch aus dem Wasser ragend, hatten keine Gesichter, nur knochige Abbilder – sie waren Skelette, wohl schon seit vielen Tagen und Nächten. In dieser Ansammlung taumelnder Leichen mit den gebleichten Gesichtsknochen und den weißen, haarlosen Schädeln lag etwas unbeschreiblich Obszönes, wie sie da zusammengedrängt waren, als warteten sie auf einen Omnibus, der schon vor zwanzig Jahren abgefahren war. Neun waren es, die da dicht beieinander hockten, sie hüpften, kaum vier, fünf Meter voneinander entfernt, auf der Wasserfläche, und hier und da hingen zwei so eng zusammen, als umarmten sie sich. Compass Rose fuhr einen Kreis: im aufgeworfenen Fahrwasser hüpften die toten Männer und verbeugten sich voreinander wie Tänzer in einer höllischen Ballettszene. ›Neun sind da zusammen‹, dachte Morell schaudernd: ›wie müßte man das korrekt bezeichnen? Ein Reigen Skelette? Ein Rudel? Oder wie?‹ 253
Dann erkannte er – und alle sahen es – , daß die Männer angeseilt waren: ein zerfranstes, schleimig-nasses Tau war jedem einzelnen um die Hüfte geschlungen und hing schlaff ins Wasser nieder: als die Bugwellen von Compass Rose sie trafen, fuhren zwei der Skelette auseinander, so daß sich das Tau zwischen ihnen mit einem klatschenden Ruck straffte. Und die andern Männer schwankten und nickten höflich, als freuten sie sich dieses Beweises von Kameradschaft. – ›Aber das ist ja irrsinnig‹, dachte Ericson, ›einem solchen Gespensterreigen sollte man ja nicht einmal im Traum begegnen!‹ Compass Rose fuhr noch im Kreise, während er von oben diesen Verband toter Männer betrachtete. Sie mußten schon Monate so treiben: unter ihrer vergilbten Haut war kein Gramm Fleisch mehr, nichts erinnerte mehr an Menschen oder Mannestum. Sie waren langsam gestorben und zerfallend weiter getrieben, übers Grab hinaus, über den Augenblick hinaus, da der letzte Lebende unter ihnen Ruhe fand. Er schien unschlüssig, ob er sie an Bord holen sollte, wußte aber genau, daß er es nicht tun würde. Compass Rose hatte es eilig. Was hätte es für einen Sinn gehabt, sie aufzufischen, sie in Segeltuch zu nähen und wieder zurückzuwerfen? Und überhaupt – »Aber warum mögen sie zusammengebunden sein?« fragte Morell verdutzt, als das Schiff nach einem letzten Kreis abdrehte und jene Männer hinter sich ließ. »Das ist doch unverständlich.« Ericson hatte darüber schon nachgedacht. »Vielleicht nicht«, sagte er mit äußerst gedämpfter Stimme. »Wenn sie zum Beispiel in einem Rettungsboot gesessen haben, das voll Wasser schlug, könnten sie sich zusammengebunden haben, um bei Nacht nicht die Fühlung zu verlieren. Und so hätten sie dann auch mehr Aussicht gehabt, gerettet zu werden.« »Und das wurden sie nicht«, sagte Morell nach einer Pause. »Und das wurden sie nicht. Ich möchte wissen, wie lange –« Aber Ericson sprach seinen Satz nicht laut zu Ende. Im stillen überlegte er, wie lange neun Mann wohl zum Sterben gebraucht hatten und wie es für die andern gewesen sein mochte, als der erste starb. Und wie, als die Hälfte tot waren. Und wie es schließlich für den letzten noch Lebenden gewesen sein mußte, als er an diesem Drachenschwanz von acht toten Kameraden hing, noch nicht ganz ohne Hoffnung, aber doch fest in der Gewißheit, durch ihre Gegenwart zum Verderben verdammt zu sein. ›Vielleicht‹, dachte Ericson, ›ist er zum Schluß wahnsinnig geworden und wollte fortschwimmen und zerrte sie schreiend alle hinter sich her, bis er die Kraft und auch den Verstand verlor, es aufgab und sich wieder umwandte, um bei den andern zu bleiben.‹Eine entsetzliche Vorstellung. 254
Dann gab es die Zeit, die schlimmste von allen, die den ganzen leichenbesäten Ozean zusammenzufassen schien: die ›Zeit des brennenden Tankers‹. Auf Compass Rose wie auf den übrigen Sicherungsfahrzeugen im Atlantikdienst empfand man immer größere Bewunderung für die auf den Tankern fahrenden Seeleute. Die lebten während so einer drei oder vier Wochen dauernden Reise ständig wie auf dem Pulverfaß: die Ladung ihrer Schiffe – der Lebenssaft des ganzen Krieges – war die tückischste, die es gab: ein Torpedo, eine einzige kleine Bombe, oder auch nur die versprengte Kugel eines Maschinengewehrs vermochten ihr Schiff in eine Fackel zu verwandeln. Oft schon hatte sich das in Geleitzügen ereignet, an denen Compass Rose teilnahm, oft schon hatten sie solche Männer sterben sehen oder die wenigen Oberlebenden eines Tankers geborgen, Männer, die keinen Augenblick davor zurückschreckten, für denselben Job neu anzumustern, sobald sie wieder einen Hafen erreicht hatten. Diese standhaften Seemänner waren die Wirklichkeit hinter den Benzin-Marken, die der Bürger sich in der benachbarten Garage ›unter der Hand‹ verschaffte. Und wenn ein Seemann sah oder las, wie Benzin verschwendet oder verschoben wurde, mußte er an die in Menschenleben bezahlten Kosten denken, und die anzüglichen Kabarett-Witze zu diesem Thema konnten seinen Zorn und Abscheu nur vergrößern. Als ob es so sein mußte, war es ausgerechnet ein Öltanker, mit dem die Besatzung von Compass Rose, als Zuschauer, ihre grausigste Stunde des Krieges erlebte. Ein Tanker, den sie auf ihre Art gern mochten: der einzige in einem nach England laufenden, schwer bedrängten Geleitzug von fünfzig Schiffen. Sie hatten sich besonders um ihn gekümmert, wie sie es manchmal mit Schiffen taten, die sie von früheren Geleitfahrten kannten, die eigenartige Schornsteine hatten oder solche, die sich mit zu geringer Fahrtleistung sozusagen in den Konvoi gemogelt hatten. Auf dieser Reise hatten sie sich dem Tanker vor allem gewidmet, weil er offenbar das Hauptziel der den Geleitzug jagenden U-Boote bildete: in drei aufeinanderfolgenden Nächten hatten diese jedesmal das unmittelbar vor dem Tanker laufende Schiff versenkt, dann das hinter ihm und ein parallel in der nächsten Kolonne laufendes. Und je mehr sie sich endlich dem schützenden Festland näherten, um so wichtiger erschien es ihnen, gerade dieses Schiff gesund heimzubringen. Aber das Glück blieb ihm nicht treu: am letzten Tage auf offener See, als eben die Hügel Schottlands über die Kimm lugten, setzten die Angreifer ihren Schuß ins Ziel: der Tanker wurde tödlich getroffen. Bei hellem Tage, an einem herrlichen, sonnigen Nachmittag, wurde er torpediert: erst kam der übliche aufregende U-BootAlarm, dann das übliche Warten, das übliche Geräusch einer UnterwasserDetonation, und dann stieg aus dem Schiff, das sie zu schützen bemüht wa255
ren, eine gewaltige Säule von Feuer und Qualm gen Himmel, und in einer Minute war der lange, schnittige Tanker fast vom Bug bis zum Heck in Flammen gehüllt. Die Schiffe neben und hinter ihm schoren sofort fächerförmig nach den Seiten aus, wie Menschen auf der Straße einem Loch ausweichen. Compass Rose aber drehte in den Geleitzug hinein, um schnellstens Hilfe zu bringen. Doch es gab auf dieser Welt keine Hilfe für ein derart geschlagenes Schiff. Sogleich hatte das durch die Explosion hochgeschleuderte Öl den Tanker in Flammen gehüllt, der nun, als immer mehr Öl aus dem aufgerissenen Leib quoll und sich ringsum übers Wasser verbreitete, zum Mittelpunkt einer riesigen Feuersbrunst wurde. Eine Bresche war in dieser Feuermauer noch offen, dicht am Bug. Und hier, auf dem Vorschiff, begann die Besatzung zusammenzulaufen: von fern waren klein die Gestalten zu sehen, die stolpernd in wilder Hast nach dieser einzigen Stelle rannten, wo sie meinten, ihr Leben erhalten zu können. Es war zu erkennen, wie sie winkten, schrieen und noch zögerten, ins Wasser zu springen. Und Compass Rose schob sich so nahe heran, wie sie irgend wagen durfte: man rief den Männern von Bord aus zu, ermunterte sie, den Sprung zu wagen, damit ihre Rettung versucht werden konnte. Selbst bei dieser Entfernung war auf Compass Rose die herüberstrahlende Hitze unerträglich, und die Schar der schreienden und winkenden Männer, hinter denen mit brüllenden Flammen die Feuerwand stand, während Qualm und fließendes, brennendes Öl das Schiff umschlossen – das war ein echtes Abbild der Hölle. Ungefähr zwanzig Mann hatten das Vorschiff erreicht: wenn sie springen wollten, mußten sie bald springen. – Und schließlich begannen sie, einzeln oder paarweise, zu springen: nacheinander sprühte hier und da vor der dunkelgrauen Schiffswand weißlich das Wasser auf, und bald waren alle zwanzig gesprungen, um Compass Rose entgegenzuschwimmen. Von der Brücke und den an der Reling sich drängenden Rettern schallten immerfort aufmunternde Rufe, während sich der Weg der Schwimmer verkürzte. Auf einmal sahen sie, daß das weiterfließende Öl, das in seinem Lauf überall Feuer fing, schneller floß als der schnellste Schwimmer zu schwimmen vermochte. Sie sahen es eher als die Schwimmenden, aber bald sahen auch die es. Da begannen sie zu schreien, blickten immerfort hinter sich und bearbeiteten wie wahnsinnig das Wasser, um weiterzukommen… Aber sie wurden, einer nach dem andern, erfaßt. Zuerst die älteren und die, denen die Schwimmwesten hinderlich wurden, dann aber auch die kräftigen Schwimmer ohne Rettungswesten. Vielleicht war es ein gnädiges Schicksal, in dieser Stunde kein schneller Schwimmer zu sein, denn schnell genug kam keiner voran: einer nach dem andern wurde von den Flammen umzüngelt, überholt, gebraten und tot zurückgelassen. 256
Compass Rose durfte nicht näher heran, nicht einmal, um die paar letzten zu retten, die es beinah schon geschafft hatten. Dicke Wolken schwarzen, klebrigen Qualms zogen von dem Brand herüber und verdunkelten die Sonne: die Männer an Deck waren in Schweiß gebadet. Nein, sie durften nicht näher heran: Compass Rose hatte selbst Heizöl und trug Munition an Bord. Nein, sie durften und konnten es nicht, nicht einmal diesen bratenden Männern zuliebe mit ihren in der Todesangst so unmenschlich häßlich verzerrten Gesichtern, die um Hilfe schrieen. Nein: bald mußte Compass Rose vor der erstickenden Hitze und der Feuersgefahr sogar zurückweichen und die wenigen noch Schwimmenden allein ihrem tödlichen Schicksal überlassen. Unfähig, selbst von dieser geringen Entfernung aus noch zu helfen, standen die Männer auf Compass Rose an der Reling, auf der Brücke: sie taten nichts, sie sagten nichts. Ein kaum siebzehnjähriger Matrose starrte weinend in das furchtbare Feuer, ohne ein Wort strömten ihm die Tränen übers Gesicht. Es war schwer zu erkennen: waren es Tränen der Wut, des Mitleids oder der Bitterkeit, Menschen so grausam sterben sehen zu müssen, ohne für sie das Geringste tun zu können –? Compass Rose blieb, bis alle Schwimmer ›fort‹ waren, dann erst drehte sie ab, dem Geleitzug nach, während das Gebiet, in dem das tote Schiff und die toten Männer lagen, gnadenlos weiterbrannte. – Noch nachdem sie schon fast fünfzig Meilen weiter waren, konnten sie die Rauchsäule sehen, und als es Abend wurde, glühte und flackerte es noch unter dem fernen Horizont. Von den Menschen dort war natürlich nichts mehr übrig, es blieb nur das ungeheure Leichenfeuer. Wieder war die Zeit ihres langen Urlaubs gekommen. Jeder Urlaub war anders als der vorige: er bedeutete immer eine positive oder negative Entwicklung dessen, was vorher gewesen war. Im Krieg stand nichts still, auf keinem Gebiet, und die Jahre gingen dahin, indem sie nicht nur Menschen und Werte verbrauchten, sondern auch das Auf und Ab des normalen Lebens beschleunigten. Still stand nichts, nichts wartete, um erst im Frieden das nächste Kapitel zu beginnen. Die Männer wurden älter, die Frauen liebten ihre Männer mehr oder liebten sie weniger, oder verliebten sich in andere. Kinder wurden geboren, das Essen wurde schlechter, Hypotheken wurden fällig, der Onkel starb und hinterließ ein sonderbares Testament, die Schwiegermutter zog ins Haus, von der Decke im Badezimmer blätterte die Farbe. Und in manchen Fällen war es, bei dem Getrenntsein und der Entfernung, schwierig, sich um die Farbe oder das Baby oder das Mehr oder Minder an Liebe recht zu kümmern: die Männer konnten nur hoffen und der Zukunft vertrauen, konnten sich beruhigen oder betrügen lassen und das hinnehmen, was sie beim Heim257
kommen vorfanden. Die Entfernungen waren zu groß und die Verbindung oft nicht eng genug, als daß sie zu Hause eine ebenso wirkungsvolle Rolle hätten spielen können wie auf See; und den Vorrang hatte die See, ob ihnen das gefiel oder nicht. Das Baby des Matrosen Gregg war keine reine Freude. Er hatte sich bereit gefunden, die verdächtige Vaterschaft in Kauf zu nehmen, was er wohl unschwer vermocht hätte, wäre das Kind hübsch gewesen oder lebhaft, oder wenigstens gesund, aber da nichts von dem zutraf, sah er wohl oder übel hinter diesem kränklichen, schreienden Kind das Bild eines großen Menschen, der Walter hieß und dem Mord entgangen war. Er hatte sich auf seinen Urlaub gefreut: wieder mit Edith zusammenzusein und sich an das Kind zu gewöhnen – jetzt aber kannte er es schon zu gut: dieses bleiche, unterentwickelte und leider völlig unsauber gehaltene Kind, das ihr Haus mit Geschrei und den größeren Teil der Küche mit besudelten Windeln anfüllte. Und Edith? Er wußte nicht, ob er sich in ihr noch auskannte. Zweifel waren ihm gekommen, als er eines Abends von Einkäufen zurückkehrte und im Eingang einer fremden Person begegnete, einer Frau in der Uniform des Freiwilligen Weiblichen Hilfsdienstes, die ihn nach einem forschenden Blick mühsam anlächelte, als er beiseite trat, um sie vorbeizulassen. Er hatte ihr zweifelnd nachgeschaut, als sie die Straße hinabschritt, und war dann durch den Flur in die Küche gegangen. Dort sah er das übliche Bild: an Herd und Wäscheständer hing trocknende Babywäsche, das Kind wimmerte in seinem Bettchen, und Edith saß, ein Filmmagazin lesend, beim Herd in einem Geruch von Essen, Urin und angesengten Wäschestücken. Er warf seine Mütze auf den Tisch. »Wer war das eben?« fragte er. Edith blickte hoch: »Wen meinst du?« »Die Frau.« »Ach, die –« Edith zuckte betont sorglos die Achseln. »Eine von der Wohlfahrt, die bloß schnüffeln wollte.« »Von der Wohlfahrt?« »Na ja, vom Bezirksamt mal ‘rumgeschickt. Hat sicher nichts Besseres zu tun.« Gregg faßte jetzt den Entschluß, der Geschichte so oder so auf den Grund zu gehen. Er setzte sich ihr gegenüber. »Ich will wissen, wie die überhaupt hierher kam. Aus welchem Grunde?« Edith blickte gähnend an ihm vorbei. »Ach, die kam von selber. Wollte das Baby sehen. So ‘ne Art Fürsorge.« »Aber was hat sie denn gesagt?« »Daß sie sich um das Kind mal kümmern wollte.« 258
»Meinst du wegen seiner Ernährung?« »Ja. Und bei ihm bleiben wollte sie.« »Aber bei dem Kind bist du doch selbst, oder nicht?« »Natürlich. Rede doch nicht so, Tom. Ich sage dir ja: reine Neugier, weiter gar nichts. Alles bloß wegen einer Vorladung. – Alte neugierige Ziege – bei der hat bestimmt noch keiner probiert, daß sie ‘n Baby kriegt.« »Eine Vorladung?« Gregg war stirnrunzelnd wieder aufgestanden. »Hier: ich will wissen, was das zu bedeuten hat!« »Ach, da hat jemand was gemeldet«, sagte Edith mürrisch nach kurzem Schweigen. »Das Baby hat nachts mal geschrieen.« »Na und? Ist denn was dabei?« »Die dachten, ich hätte es allein im Hause gelassen. Aber ich schlief ja, Tom – mein Wort: ich schlief. Hab’s einfach nicht gehört. Und jemand hat’s dann gemeldet.« »Und warum hast du mir davon nichts gesagt?« »Was soll man sich deswegen Gedanken machen?« sagte sie frech. »Die können uns ja gar nichts wollen. Alles Quatsch.« »Aber ich mag so was nicht. –« Wie schon so oft, wußte er nicht, wieviel er glauben sollte: immer konnte er nur raten und grübeln oder vermuten, was wohl in seiner Abwesenheit geschehen sein mochte. Er ging zu dem Baby hinüber und betrachtete es. Es sog an einem Holzlöffel, sein Gesicht war klein und faltig, um den Mund hatte es Ausschlag, die Beine auf dem schmutzigen verknüllten Bettzeug glichen dünnen weißen Stangen. ›Ich wollte, es könnte reden‹, dachte er, nicht zum erstenmal, und wandte sich wieder an seine Frau: »Du läßt es doch wohl nicht allein, Edith, was? Oder gehst abends weg?« »Was denkst du dir! Nein.« »Ich meine: weil du nicht gehört hast, daß es schrie.« »Du weißt ja: wenn ich schlafe, dann schlafe ich.« Auch Lockhart war in London. Er tat vielerlei und schien dann an einen toten Punkt zu kommen: er ging in ein Konzert, besuchte einen Redakteur, für den er vor dem Kriege Artikel geschrieben hatte, und verkaufte ihm einen Aufsatz über Korvetten, vorbehaltlich der Genehmigung des Admiralstabs. Er nahm ein türkisches Bad und – bestellte sich eine neue Uniform, geschmückt mit dem kleinen Eichenblatt, das seine lobende Erwähnung in Gefechtsberichten kennzeichnete. Diese vier Dinge beschäftigten ihn zwei Tage, und als die herum waren, merkte er, daß er gern noch mehr unternehmen wollte, aber keinen rechten Plan hatte. Nicht daß er sich gelangweilt hätte, – kein Londoner konnte sich in London langweilen – doch im Urlaub schien sein Leben 259
ohne wirkliche Bedeutung zu sein. Seine lebendige Welt war Compass Rose und nichts anderes: wenn er von ihr fort war, fühlte er sich wie in einem Schwebezustand, nur wartend, wann er dieses nichtssagende Schattendasein aufgeben und in die harte Tatsachenwelt zurückkehren konnte. Natürlich war das grundverkehrt: er hätte seinen Urlaub doch wohl besser ausnutzen können. Aber irgend etwas fehlte ihm, wenn er an Land war: etwas, das Sinn in dieses nun einmal notwendige Zwischenspiel brachte. Schön wäre es gewiß gewesen, jemanden zu haben, dem er nachher ›Goodbye‹ sagen könnte. Als er später in Easton seinen Zug bestieg und die vielen Abschied nehmenden Urlauber auf Bahnsteig 13 sah, war dieser Wunsch schon schwächer. Diese Atmosphäre nie aufhörender Abschiede verdarb Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen: die Küsse, die Tränen, die liebehungrigen Münder, die zum letztenmal nacheinander tasteten – zeigten nicht alle die Gesten hier, daß Urlaub im Grunde eine traurige Sache war, weil den Menschen dieses Abschiednehmen die ganze Zeit vor Augen stand, und so auch die Zukunft mit neuer Einsamkeit und unglücklicher Stimmung für beide Teile? Es war leicht zu erkennen, wieviel innere Ruhe und Leistungsfähigkeit einem Manne durch dieses bedrückende Gefühl verlorengingen. Eine unvermeidliche Erscheinung, die der Krieg bedingte und die ihm gleichzeitig sehr hinderlich war. Ein Seemann hatte am besten überhaupt keine Bindungen an Land, wenn im Ernstfall Höchstleistungen von ihm verlangt wurden. Der immer wiederkehrende Traum von der Heimat war nur ein Hindernis, das Herz und Augen beeinflußte, gerade wenn sie frei und klar für ihre Aufgabe sein sollten. ›Wenn ich so verliebt wäre wie die da – ‹, dachte Lockhart, indem er einen Heizer von Compass Rose unauffällig beobachtete, der beim Verabschieden ebenso niedergeschlagen aussah wie seine Frau, deren Gesicht tiefen Schmerz ausdrückte – ›wenn ich mich bei der Rückkehr zum Schiff jedesmal so fühlen müßte, wie wäre mir dann wohl beim Dienst am nächsten Morgen zumute?‹ Aber er spürte an seinen Gedanken sofort das Selbstgefällige, und als kurz darauf sein Zug den Bahnhof Easton verließ und nach Norden dampfte, zweifelte er schon, ob sich diese Gefühle und ihre Wirkungen überhaupt auf einen allgemeinen Nenner bringen ließen. Der eine brauchte vielleicht die Zärtlichkeiten einer Liebesbindung oder eine glückliche Ehe, um die Härten des Krieges auszugleichen; vielleicht war es für ihn das einzige Mittel, den Krieg überhaupt zu ertragen. Der andere dagegen, den die Unterbrechung des harten Lebens nur entnerven oder ablenken konnte, war gezwungen, sich in fast mönchischer Zurückhaltung dem Kriegsdienst zu widmen, um überhaupt tauglich zu bleiben. Er selber – aber in dem Punkt kannte 260
er sich ja selbst noch gar nicht! Vor dem Kriege war er an weibliche Gesellschaft gewöhnt gewesen, aber das hatte er nun für die Dauer des Krieges ganz aufgegeben. Und bisher schien sich das Rezept auch vortrefflich bewährt zu haben. Trotzdem: erst kürzlich hatte ihn sehr die Frage beschäftigt, ob er diesen natürlichen Neigungen nicht doch nachgeben solle. ›Zum Beispiel‹, dachte er, als er sich für die unbequeme Nachtfahrt einrichtete, ›zum Beispiel sitzt dir hier diese blonde Marinehelferin gegenüber, deren entzückende Beine nicht einmal durch die dunkelgrauen Uniformstrümpfe verunziert werden können, deren Schultern sich unter deinen Händen schön fest und solide anfühlen würden und deren Augen, sogar unter diesen wenig versprechenden äußeren Verhältnissen, so erfreulich bereit, gerade dich anzublicken – deren große Augen gewiß auf einem Kissen wunderbar strahlen würden, mit einem zu Herzen gehenden Ausdruck –‹. Sein sinnlicher Tagestraum verschwamm allmählich in tiefere nächtliche Träume, in denen er für ein langes Stück der Reise nach Norden befangen blieb. Für Ericson gab es kein Träumen am Tage und auch nur wenig bei Nacht: da er sich, als dieser Urlaub begann, sehr ermüdet fühlte, wollte er jetzt nichts weiter als schlafen, sich erholen, ein paar ruhige Gelegenheitsarbeiten im Hause verrichten, bis er wieder auf sein Schiff mußte. Für seinen Wunsch hatte Grace volles Verständnis, sie paßte sich ihm ganz an, doch der Dritte in ihrem Bunde, seine Schwiegermutter, vermochte offenbar seinen Plan nicht ohne Widerspruch hinzunehmen. Seltsamerweise legte sie sein Nichtstun als stummen Vorwurf gegen Grace aus oder gegen sich selbst und schließlich auch gegen die Haushaltsführung. Die alte Dame war mit den Jahren noch streitsüchtiger geworden: von ihrem Platz am Kamin, den sie wie eine Festung besetzt hielt, – ›das war mal meiner‹, dachte Ericson – ließ sie mit einem vorwurfsvollen Unterton ihre Kommentare und Kritiken vom Stapel und nahm auf sein Ruhebedürfnis keinerlei Rücksicht. »Er müßte öfter mit dir ausgehen«, war eines ihrer Themen, das ihr stets genug Stoff gab, um eine halbe Stunde sehr ungemütlich zu machen, wenn sie alle drei am Kamin saßen. »Schämt er sich etwa mit dir, oder warum tut er’s nicht?« Es konnte Ericson immer in Wut bringen, wenn sie redete, als sei er ein kleiner Junge, der nur ausnahmsweise einmal den Erwachsenen zuhören durfte. »Ich will ja gar nicht ausgehen«, pflegte Grace zu antworten, »wir haben es hier doch ganz gemütlich.« »Aber natürlich möchtest du gern ausgehen! Du bist doch noch eine junge Frau. Und wozu hat er sich denn die Orden verdient, wenn er nie aus dem 261
Hause geht?« Ericson, an dessen Brust einsam das blauweiße Band des D.S.C. glänzte, ließ die Zeitung sinken. »Du bringst alles durcheinander«, sagte er geduldig: »man hat mir den Orden für eine U-Boot-Versenkung gegeben und nicht etwa, damit ich mit meiner Frau durch die Lord Street stolziere.« Die alte Frau rümpfte die Nase. »Nein, das ist unnatürlich. Auch an Bord müßte er dich mal mitnehmen. Schließlich ist er doch Kommandant, nicht war?« »Mutter«, sagte Grace warnend. »Compass Rose wird neu ausgerüstet«, warf Ericson kurz ein. »Trotzdem könnte an Bord doch wohl ein nettes Abendessen arrangiert werden, denke ich. Wäre mal eine Abwechslung für Grace.« »Ich will ja gar keine Abwechslung«, sagte Grace. »Wenn ich Corned Beef essen soll«, sagte Ericson, »dann schon lieber hier als in einer eiskalten Messe.« »Was hast du denn an Corned Beef auszusetzen?« fragte die alte Dame ziemlich schroff. »Ich muß schon sagen: Grace gibt sich wahrhaftig genug Mühe, dir alles recht nett zu machen. Den ganzen Tag rackert sie sich in der Küche ab und hat nie Gelegenheit, auszugehen. – Ja, als dein Vater noch lebte«, sagte sie zu Grace, »ist er jede Woche zweimal mit mir ausgegangen.« ›Der arme Teufel‹, dachte Ericson, indem er seine Zeitung wieder höher nahm: ›deshalb ist er gewiß auch so plötzlich gestorben!‹ Es war, wie stets, ein Fehler gewesen, sich überhaupt an dem Gespräch zu beteiligen: das führte doch zu nichts, denn die Alte verstand sich in ihren Äußerungen zu drehen und zu wenden wie gewisse Tiere im Zoo. Aber später, als er mit Grace allein war, kam er auf das zurück, was ihn die ganze Zeit bedrückt hatte, und fragte sie: »Möchtest du wirklich abends lieber ausgehen, anstatt zu Hause zu bleiben?« Sie lächelte gemütlich. »Ich möchte am liebsten das, was du möchtest. Und ich weiß, daß du abgespannt bist, wenn du von See kommst.« Er drückte ihren Arm mit bei ihm seltener Zärtlichkeit. »Ich wüßte nicht, was ich ohne dich anfangen sollte, Grace… Aber deine Mutter bringt mich manchmal in Zorn: ewig jammert sie, was wir tun oder nicht tun sollen.« »Sie wird eben alt, George.« »Das werden wir alle«, sagte er gereizt. »Ich selbst werde ganz verdammt alt, aber deshalb brauche ich doch nicht ununterbrochen zu nörgeln, bloß um zu beweisen, daß ich noch am Leben bin!« »Du bist ja auch ganz anders.« »Und du auch.« Sie lächelte wieder. »Es heißt aber, daß Töchter zuletzt immer ihrer Mutter 262
ähnlich werden.« »Dann mag Gott mir helfen, in zwanzig Jahren!« »Aber, George –! Was willst du heute nachmittag machen?« »Schlafen.« Er begegnete ihrem Blick und mußte lachen. »Du möchtest dich aber doch gewiß lieber fein anziehen und mit mir Besuche machen, wie?« »Nein«, sagte sie ernst. »Schlaf du nur, du hast es verdient. Besuche werden wir machen, wenn alles vorbei ist.« Tallow und Watts saßen Seite an Seite in einem Lokal auf der Lime Street, tranken Bier und beobachteten die Spieler, die kleine Wurfspieße nach einer Gummischeibe warfen. Ihre Steuermannsmützen lagen Schirm an Schirm vor ihnen auf dem Tisch, ihre eng anliegenden Uniformen, in deren goldenen Knöpfen und Abzeichen sich das Licht spiegelte, schienen für diese Umgebung viel zu elegant und offiziell. Das Lokal war überfüllt, rauchig und ungemütlich: durch einen Bombentreffer in der Nachbarschaft waren bei einem der großen Angriffe sämtliche Fenster herausgerissen und nachher die Rahmen mit Brettern vernagelt worden, so daß sogar mittags Licht gebrannt werden mußte und die Luft immer verbraucht war. Jedesmal wenn die Tür aufschwang, so daß den Gästen der Zugwind ganz tückisch um die Beine fuhr, rief ein ziemlich betrunkener Mann am Ende der Theke: »Auf das Licht aufpassen, sonst werden wir hier alle zu Fetzen zerpustet!« Das rief er nun schon beinah ein Jahr lang jeden Abend, und es hatte deshalb schon wiederholt Streit und Schlägereien im Lokal gegeben, aber meistens lachten die Leute nur und sagten nichts dazu, denn die Tür, die durch einen schweren Vorhang vor Lichteinfall gesichert war, schloß selbsttätig. Tallow und Watts saßen während ihres Urlaubs jeden Abend dort: die Kneipe war auch nicht schlechter als die übrigen in dieser Gegend und lag dem Hospiz Christlicher Junger Männer, in dem sie wohnten, am nächsten. Obgleich sie nicht darüber sprachen, dachten sie beide traurig an die Zeit, da sie in Tallows Elternhaus auf der Dock Road so gemütlich und froh hatten wohnen können. Ja, damals hatte es noch Sinn gehabt, an Land zu gehen, und sie hatten ihre Zeit schön ausgefüllt. Jetzt gab es für sie nur solche Kneipen als Zuflucht, Schlafstätten in einer mit falschem Glanz ausgestatteten Herberge, und abends Frikadellen in einem Cafe an der Ecke. An diesen Bruch mit der Vergangenheit hatten sie sich noch nicht gewöhnt. Watts litt noch unter einem anderen Schlag, über den er nach den ersten Wochen lange nicht mehr gesprochen hatte: die schreckliche Art, in der Gladys Bell gestorben war, gerade als sie sich in ihrem Verhältnis einig geworden waren. Er konnte nicht einmal sich selbst einreden, daß die Bombe, die auf Dock Road Nummer 29 gefallen war, eine 263
leidenschaftliche Liebesgeschichte zertrümmerte, aber doch eine ruhige Ehe, die er sich so sehr gewünscht hatte… Er betrauerte ihren Tod ebenso wie Tallow getrauert hatte, als sein früheres Schiff, die Repulse, versenkt worden war: in beiden Fällen war eine Vergangenheit, die Schöneres und Sinnvolleres versprach, zerstört worden – eine sinnlose Verschwendung, die jäh eine Leere hinterließ. Die Tür des Lokals flog auf, die Zugluft bewegte die Sägespäne auf dem Fußboden, der Mann am Schanktisch sagte: »Auf das Licht aufpassen, sonst werden wir hier alle zu Fetzen zerbombt!« »Ein blöder Kerl«, sagte Tallow verdrossen. »Ja, der hat ‘n Vogel«, ergänzte Watts. Sie versanken wieder in Schweigen, tranken nur und beobachteten einen kleinen Mann mit Tuchmütze, der im Pfeilwerfen so außerordentlich geschickt war, daß die übrigen Spieler ihm immerfort Beifall murmelten. Und Watts sagte trocken: »Der muß schon früher mal gespielt haben.« Dann stand er auf und nahm ihre leeren Gläser, um für jeden noch einen halben Liter zu holen. Ferraby spielte im Garten mit seinem Baby, aber das Baby war anders geworden und er auch. Das kleine Mädchen war jetzt achtzehn Monate alt und begann zu sprechen: es fing aber auch an, einen eigenen Willen zu haben, und der schien sich gegen den seinen stemmen zu wollen. Es kam ihm vor, als teilte sich die Spannung und Nervosität, die er spürte, dem Kinde mit, sobald er es berührte: es rannte jetzt zur Mutter, wenn es Trost oder Gesellschaft suchte, nie mehr zu ihm, und wenn er es auf den Arm nahm, wand es sich in wenigen Augenblicken wieder von ihm los und hielt dann sorgsam Abstand von seinem Vater. Es beobachtete ihn, und in dem kleinen lebhaften Gesicht zeigte sich beginnende Furcht, die ihn bekümmerte, zumal er sie nicht zu erklären wußte. Wie konnte das Kind seine schreckliche Unruhe denn spüren? Was konnte einem so kleinem Kind eine zitternde Hand besagen? Wie war es möglich, daß der kleine Verstand, sobald sie eng beieinander waren, von seiner inneren Unruhe und dem Chaos seiner Gedanken merkbar beeinflußt wurde? Er mußte zugeben, daß seine Gedanken, die er nicht zu zwingen vermochte, chaotisch waren; er wußte, daß sie doch im Grunde fast nur in einer bestimmten Richtung liefen: daß er immer nur vom Alpdruck eines jähen Todes gequält war. Immer wieder sah er an Stelle der weichen, glatten Glieder seines Kindes andere Körper, die weder glatt noch weich waren: zerquetschte Leiber, verbrannte Leiber, Leiber, die auseinanderfielen, sobald sie aus dem Meere gehoben wurden. Unter den braunen, kindlichen Locken sah er einen gebleichten Schädel, unter den hübschen Schultern ein nasses Skelett. Er sah in seinem Kinde alle Formen des Todes, 264
und wenn er seine Frau anblickte, bildete er sich noch schrecklichere Dinge ein. Seit vielen Wochen schon war er unfähig zu einem Liebesakt mit Mavis, weil er unsinnige Furcht hatte vor etwas, das er in genauen Einzelheiten vor sich sah: die Furcht, daß er ihrem Körper etwas Schreckliches antun könnte und daß dieser Körper verrottet war und vom Unterleib an auseinanderriß, um nie wieder zusammenzuwachsen. Jetzt, in dem stillen Garten, sagte das kleine Mädchen: »Blatt« und deutete auf den Baum über ihren Köpfen. Ferraby sagte auch »Blatt – so ist’s richtig«, griff nach ihrem Beinchen und drückte es sanft. Sie sagte sofort »Nein«, entzog sich ihm und blieb in der Nähe stehen, beobachtete ihn ernst, in sich gekehrt, wachsam. Er sagte: »Ich tue dir doch nicht weh, Liebes« – da zögerte sie und tat einen Schritt, aber es war ein Schritt rückwärts. Und ehe er den Gedanken abwehren konnte, hatte sie sich vor seinen Augen in ein ganz anderes Bild verwandelt und war für ihn verloren. Er erblickte statt des nackten, spitzen Kinderfußes einen langen Knochensplitter, der unter einer Decke hervorstach, und in dem Finger, den es an den Mund führte, sah er den Finger eines Mannes, der sich zum Erbrechen zwingen wollte, um seinen Magen von dem Öl, das ihn vergiftete, zu befreien. Er wandte sich ab, legte sich hin und spürte, wie sein Körper gegen den Boden bebte. Als Morell sich in der Toilette eines Nachtklubs die Hände wusch, hörte er zwei Offiziere der R.A.F. über seine Frau sprechen. Das wurde, als er Elaine endlich mit nach Hause nehmen konnte, der Anlaß zu einem wilden Streit, der mehrere Tage andauerte und noch immer nicht beseitigt war, höchstens in dem für ihn fatalen Sinn, daß er wieder nachgeben und sich unterlegen fühlen mußte –, dann war sein Urlaub zu Ende. Die beiden Offiziere waren angeheitert gewesen: sie waren wenige Minuten nach Morell in die Toilette gekommen und hatten ihn, als er übers Waschbecken gebeugt stand, gar nicht bemerkt. Aber ihre trunkene Sprache war für ihn deutlich genug zu verstehen. »Ach, nun ist mir aber viel wohler«, sagte die erste Stimme. »Bei mir ist’s der reine Gin«, der andere. »Das erzähle lieber morgen früh dem Quacksalber.« »Der weiß schon Bescheid –. Wer ist übrigens diese kokottenhaft aussehende Frau in dem roten Kleid?« »Art Schauspielerin, mein Lieber. Elaine Swainson.« »Ach die –! Kennst du die näher?« 265
»Kannte sie mal, ja. Will heutzutage ‘n bißchen höher hinaus. Die Mütze, die an ihrem Bettpfosten hängt, muß schon eine Tonne Lametta haben.« »Ist sie gut zu starten?« »Wie man sagt, ja. Versuch doch mal dein Glück, vielleicht hat sie gerade Lust, sich mal auszutoben.« »Ist sie denn nicht verheiratet?« »Nicht doll. Hat einen Trottel von Mann.« Morell hörte sie beide lachen. »Wolltest du sie gern mal anhauen?« »Vielleicht –« Wieder lachten sie, diesmal in einem anderen Ton. »Pump mir ein Pfund, alter Freund.« »Ein Pfund?« Der zweite schnaubte verächtlich. »Die wird dir schon einen Preis nennen, und brauchst nicht auf Wechselgeld zu warten.« »Kaufmännisch veranlagter Typ, wie?« »Hat ‘ne Stahlkassette unterm Bett. – Nun komm, wollen uns den Stall nochmal ansehen.« Morell nahm dieses Gespräch mit auf See hinaus: an jedes Wort, jede Betonung konnte er sich erinnern, sogar an den Geruch des Antiseptikums und an den Blick des Toilettenmannes, diese servile Miene, die säuerlich unzufrieden wurde, als er hinausgegangen war, ohne ein Trinkgeld zu geben. Aber außer diesem Gespräch lastete auf ihm auch der Streit mit Elaine, und das war doch das Schlimmste. Es hatte auf der Heimfahrt in der Taxe angefangen und war in der Wohnung weitergegangen. Ihn hatte es dazu getrieben, allein zu schlafen, auf dem Sofa, wo er die scheußlichste Nacht seines Lebens verbrachte. Auch am Morgen gab es keine Versöhnung und für seine marternden Gedanken keine Ruhe: sie wollte sich für nichts entschuldigen, wollte nichts zugeben, nicht einmal klipp und klar seinen Verdacht leugnen. Er mußte erkennen, daß ihr das alles völlig gleichgültig war. Das Üble war, daß er Genaueres überhaupt nicht wußte. Ob er glaubte oder nicht glaubte, daß sie ihm treu war – er vermochte nicht zu sagen, ob er Elaine noch um jeden Preis haben wollte oder nur, wenn sie anständig war. Und sie wußte das: es gab ihr sozusagen in jede Hand eine Peitsche. »Du kannst denken, was du willst«, sagte sie an dem Morgen verächtlich. »Ich habe jedenfalls diese Ausfragerei satt, dieses ganze Theater, jedesmal wenn du nach Hause kommst.« »Liebling, es ist aber kein Theater!« Er betrachtete sie, wie sie da in ihrem geblümten Hausmantel am Fenster stand und der Saum ihres Nachthemdes auf die gemusterten Pantöffelchen fiel: nachdem er die Nacht getrennt von ihr zugebracht hatte, war sie besonders hübsch, besonders begehrenswert, ihr Körper winkte ihm, doch ihr trot266
ziges Gesicht machte dieses Winken bedeutungslos. »Aber kannst du dir nicht denken, wie mir zumute ist? Ist es nicht ganz natürlich, daß ich eifersüchtig bin, wenn ich Leute so über dich reden höre?« »Du solltest doch wenigstens die Zweifel zu meinen Gunsten auslegen.« »Es dürfte eben gar keine Zweifel geben.« »O Gott!« Sie machte ungeduldige Bewegungen, wie er das von ihr hundertmal auf der Bühne gesehen hatte. »Das ist ja alles so banal –! Erwartest du etwa, daß ich jeden Abend zu Hause bleibe, nur um dich glücklich zu machen?« »Das würdest du tun, wenn du mich liebtest. – Liebst du mich denn?« Sie sagte: »Wenn du dich gut benimmst, ja. Aber ich will mir nicht vorschreiben lassen, was ich tun darf und was nicht. Ich will auch nicht als selbstverständlich genommen werden.« »Aber du kannst mich doch als selbstverständlich nehmen.« Dazu nickte sie. Erst nach einer Weile sagte sie: »Vielleicht gefällt mir gerade das nicht.« Er dachte erstaunt: ›Aber Liebling, du hast mich doch geheiratet.‹ Irgend etwas stimmte nun wirklich nicht mehr. Er verschloß sich vor den Gedanken, was es wohl sein könnte: Waffen gegen sie hatte er sowieso nicht, und er mußte sie zurückholen, er konnte sie doch nicht verlieren –! Als er nachgab, sie um Entschuldigung bat und sie anflehte, ihm ihre Liebe zu bewahren, beruhigte sie ihn nur oberflächlich. Ihm wurde klar, – in den Augenblicken, da er nicht vor Erregung, Hoffnung oder anderen Gefühlen blind war – daß ihr auch das alles ganz gleichgültig war. Sie hatte die denkbar stärkste Position: die geliebte Frau, die selbst nur zu lieben brauchte, wenn sie Lust hatte und sich, wenn ihr Wille im geringsten durchkreuzt wurde, wieder eiskalt stellen konnte. Er wollte sie gern küssen, sie in die Arme nehmen und dann wieder mit ihr schlafen, aber er wußte nicht, wie sie darauf reagieren würde – wußte es jetzt nicht und – wußte es überhaupt nicht mehr. Er blickte von ihr fort und betrachtete das freundlich eingerichtete Zimmer mit der Unmenge Kissen, mit der ausgesprochen weiblichen Note, die soviel zu versprechen schien. Und da fiel ihm plötzlich die Brücke des zerbombten Schiffes ein, die mit dem Blut und den Fleischfetzen toter Männer verziert gewesen war. Er dachte: das ist hier ein Schlachthaus, genau wie jenes dort draußen… Baker verlebte zum erstenmal seinen Urlaub nicht zu Hause. Er hatte nicht einmal seiner Mutter mitgeteilt, daß er wieder Urlaub bekam, sondern ihr nur geschrieben, Compass Rose sei für eine kurze Zeit im Hafen. Als die vier267
zehntägige Freiheit für ihn begann, hatte er sich in einem kleinen Hotel nicht weit vom Hafen ein Zimmer genommen. Was er eigentlich vorhatte, war ihm im einzelnen noch nicht klar, außer in einem Punkt: der Tat, von der er so lange geträumt, über die er so viel nachgedacht hatte. In diesem Urlaub mußte er es tun, die Zeit bloßen Träumens war vorüber! Jeder, den er kannte, schlief mit Frauen und redete darüber, das war einfach selbstverständlich. Im Mannschaftsdeck hatte er eine Redensart gehört, die seine Phantasie prickelte: »Die hat mich aber ordentlich auf die Matte gelegt!« Er wollte auch ›auf die Matte‹ – nicht nächstes Mal, wenn sie in den Hafen kamen, sondern diesmal. Am ersten Urlaubsabend stand er an der Straßenbahnhaltestelle beim Hauptbahnhof und hielt forschend Umschau. – Er wußte wohl, daß er von dem, was er vorhatte, noch gar nichts verstand: jetzt, da es darauf ankam, quälte ihn die Unentschlossenheit bis zur Verzweiflung. Er hätte sich genauer erkundigen sollen und besser zuhören, wenn andere über die Sache sprachen, anstatt nur für sich in den Tag zu träumen. – Wie redete man eine Frau an? Was tat man dann? Wie konnte man überhaupt eine Prostituierte von einer normalen Frau unterscheiden? Und, wie war das: gab man ihnen das Geld gleich, oder sagte man gar nichts davon und ließ es später auf dem Toilettetisch liegen? War das überhaupt sehr teuer? Sagten sie einem vorher, wie teuer es war? Wußten auch alle, wie ein Kind zu verhüten war? Konnte man verhaftet werden, wenn man bei der Sache ertappt wurde? Wie mochte das eigentlich sein: wie fing man es an, und wie lange dauerte es? Von Skrupeln gepeinigt, leicht schwitzend, aber mit dem Mut der Verzweiflung begann er langsam die Straße hinaufzugehen, nach dem Hotel Adelphi zu, und sah sich die ihm entgegenkommenden Frauen genauer an. Er hatte sich fünfundzwanzig Pfund eingesteckt, denn er wollte unbedingt sicher gehen. Als am letzten Abend des Werfturlaubs die Messemitglieder wieder zusammensaßen und nach dem Essen ziemlich schweigsam ein Glas tranken, sagte Lockhart plötzlich: »Ich habe mir mal ein paar Zahlen angesehen, fast den ganzen Tag habe ich gebraucht, sie aus den alten Logkladden zusammenzustellen. Wissen Sie, daß der Konvoi morgen unser einundreißigster ist und daß wir jetzt vierhundertneunzig Seetage haben, beinah anderthalb Jahre?« Brummiges Schweigen begrüßte diese Nachricht »Ich wußte das nicht«, sagte Morell, »aber nun weiß ich’s. Haben Sie noch mehr?« Lockhart blickte auf das Papier in seiner Hand. »Wir haben achtundneunzigtausend Seemeilen zurückgelegt. Überlebende haben wir sechshunder268
tundvierzig geborgen.« »Und wie viele haben wir bestattet?« »Das habe ich nicht ermittelt. Wir sind jeder ungefähr tausend Wachen gegangen.« »Und haben bei der ganzen Geschichte ein einziges U-Boot zur Strecke gebracht«, unterbrach Morell. »Wollen Sie uns denn das Herz brechen?« Er stand auf und reckte sich, sein Gesicht war bleich und schlaff wie nach einem sehr guten oder einem sehr schlechten Urlaub. »Und morgen beginnen wir wieder mit einem Geleitzug und dann wieder einem und so weiter… Ich möchte wissen, woran wir schließlich sterben werden.« »An Aufregung«, sagte Baker. »An Altersschwäche«, sagte Ferraby. »An Magenvergiftung«, sagte Lockhart, der zuviel gegessen hatte. »An gar nichts von alle dem« – Morell gähnte wieder. »Eines Tages wird eine Glocke läuten und uns verkünden, daß der Krieg vorbei ist und wir nach Hause gehen können, und dann werden wir alle vor Überraschung sterben.« Lockhart lächelte. »Wenn man’s richtig nimmt, gar kein schlechter Tod.« Morell nickte ihm zu. »Durchaus kein schlechter. Ich glaube nur nicht, daß das schon morgen passiert.« Während Lockhart auf dem Vordeck wartete, die Mannschaft in Doppelreihe zu beiden Seiten von ihm angetreten und die Unteroffiziere ihm gegenüber, überlegte er, weshalb Ericson wohl die Sonntagsmusterung angesetzt haben mochte, wenn Compass Rose um elf Uhr morgens auslaufen sollte. Gewöhnlich ließ er doch, wenn sie sonntags in See gingen, diese Musterung ausfallen, denn es gab dann stets viel zu tun, und für die Männer war es lästig, ihre beste Uniform anzuziehen, wenn sie kurz nachher schon wieder Arbeitszeug tragen mußten. Aber vielleicht wollte er die Besatzung ein bißchen aufpolieren für den ersten Tag nach dem langen Urlaub: eine feierliche Musterung mit anschließendem Gottesdienst war ein gutes Mittel, um der Disziplin neuen Schwung zu geben und auf einfache Art den Unterschied zwischen dem Leben an Land und dem Leben in See wieder zu betonen. ›Vielleicht sollte ich das auch ein bißchen betonen helfen‹, dachte Lockhart. Scharf rief er: »Oberleutnant Morell!« »Sir?« fragte Morell. »Sorgen Sie dafür, daß die Leute in Ihrer Division mit der Schwatzerei aufhören.« »Aye, aye, Sir.« Auf stillschweigende Vereinbarung blickte Lockhart bei diesem Wortwechsel äußerst frostig drein und Morell ungewöhnlich aufmerksam, denn es 269
handelte sich ja um eine rein dienstliche Rüge im Rahmen der gegebenen Rangunterschiede. Lockhart war nur knapp drei Wochen dienstälter als Morell: das reichte aus, ihn befehlsmäßig eine Stufe höher zu setzen, aber nicht, um seine Stellung als Erster Wachoffizier zu einer scharfen dienstlichen Trennungslinie zwischen ihnen zu machen. Er hörte zu, wie Morell einen der Schwätzer mächtig anfuhr, dann ging er weiter nach vorn und musterte dabei die Reihen der angetretenen Männer. Urlaub hin, Urlaub her: sie sahen alle schneidig aus, sauberes Zeug, blank gewichst, was blank sein mußte, echt seemännische Ordnung und Sauberkeit. Über die Pier fegte ein scharfer Wind, so daß die Signalleinen knatterten und die Klappkragen der Matrosenhemden hochschlugen, Eine kalte, schneidende Brise, die einen lebhaften Beginn ihrer neuen Geleitfahrt versprach. ›Wie viele werden heute abend wohl seekrank sein, nach dem reichlich langen Landaufenthalt?‹ fragte sich Lockhart. Denn sobald sie aus dem Schutz der Flußufer herauswaren, wurde Compass Rose sicher gleich wieder ordentlich gepackt. Ericsons Kopf tauchte über der Treppe auf. Lockhart rief: »Besatzung stillgestanden!« und legte die Hand an die Mütze, um die Besatzung dem Kommandanten dienstlich zu melden. Ericson ließ sich Zeit: langsam ging er vor den Reihen auf und ab. Mit einem Blick hatte er schon erfaßt, daß alle Mann tadellos auf Draht waren. Er wollte durch langsames, sorgfältiges Mustern den Männern auch beweisen, daß ihre Mühe sich gelohnt hatte. – Ihm fiel ein, wie er einmal auf einem anderen Schiff einen Matrosen sagen gehört hatte: »Musterung? Ha! Da rennt der Alte wie ’n Wiesel an einem vorbei und dann taucht er wieder unter Deck zu seinem Gin!« – Compass Rose konnte eigentlich von Glück sagen, wie gut ihre Besatzung beisammen geblieben war: in fast drei Jahren seit ihrer Indienststellung waren nur ganz wenige Leute ausgewechselt worden. Während Ericson langsam die Front abschritt, merkte er, wie die Zeit vergangen war: mehr als ein Mitglied der Besatzung war befördert worden. Wells zum Beispiel war wieder Signalmeister. Bootsmaat Phillips und Steward Carslake waren Obermaate geworden und Wainwright Mechanikersmaat. ›Das haben sie wahrhaftig verdient‹, dachte er, als er Ferrabys Division entlang ging und dieser salutierte: sie hatten Compass Rose zu einem der besten Schiffe in der Flottille gemacht. Wenn es unterwegs einen schwierigen Auftrag gab, wählte Viperous fast automatisch Compass Rose dafür. – Diese Auszeichnung war natürlich ein zweischneidiges Schwert: es war ganz schön, durch Versenkung eines U-Boots so in den Vordergrund zu rücken, aber eine ganz andere Sache, deswegen nun bei allen möglichen anderen Aufgaben immer vornan zu stehen: beim Abschleppen, bei Bergungen und weiträumigen Suchfahrten, durch die das Schiff vor Schluß der Reise noch ein paar Nächte extra anhän270
gen mußte. – Jedenfalls: hier vor sich hatte er die Männer, die aus Compass Rose das gemacht hatten, was sie war, und dieses Werk hatten sie erst nach fast drei Jahren ständigen Übens und Lernens vollendet, in harter Praxis, in drei Jahren größter Strapazen unter elendsten Verhältnissen, in drei Jahren grausamen Wetters, grausamer Fahrten und grausamer Erlebnisse, die keiner vergaß. Das Korvettenleben hatte das Letzte von ihnen verlangt: es hatte Zeiten gegeben, in denen jeder einzelne tage- und wochenlang so abgekämpft war, daß er nur noch aus zwei überanstrengten Augen, einem Paar ins Deck gleichsam verankerter Seestiefel und einer fest um den Leib geschnallten Schwimmweste bestand. Darauf allein kam es an, so mußte ein Seemann sein. Eins fand Ericson auch jetzt noch immer erstaunlich: daß bei weitem die meisten seiner Besatzung, die sich so bewunderungswürdig verwandelt hatten, ›Amateure‹ waren, Leute aus einem Dutzend verschiedener Berufe, die, freiwillig oder eingezogen, ohne jede Beziehung zur See ihren Dienst begonnen hatten. Und der ursprüngliche Stamm der Old Navy fiel jetzt in dem allgemeinen Bild gar nicht mehr auf. ›Die See haben sie im Blut‹, dachte er, als er den Gruß Bakers erwiderte und dann die technische Division musterte. Diese Redensart hatte schließlich ihren Sinn, sie war nicht nur eine ideelle Phrase aus Nelsons Zeiten, umschloß nicht nur den Gesang eines Baritons, der »O Herz von Eiche« vortrug und mannhaft stolz in die Welt schmetterte: »Fröhliche Teerjacken sind uns’re Männer« – nein: »Die See liegt ihnen im Blut«, das hieß: du kannst Engländer – ganz beliebige Engländer – in ein Schiff schachteln, dann bringen sie dir das Schiff in Form, für Arbeit oder Kampf, als hätten sie ihr Leben lang nichts anderes getan, und nehmen es mit den Seemännern aller andern Nationen nicht nur auf, sondern übertreffen sie und lassen sie hinter sich. Das war eben die Tugend eines Inselvolkes. Er war stolz auf seine Männer. So beendete er die Musterung dieser letzten Division, ging zurück in das offene Viereck zwischen den Kolonnen, nahm die Mütze ab und begann den Morgengottesdienst. Der Lärm der Abfahrt ging an: er schallte übers ganze Schiff wie die Geräusche bei Gefechtsalarmen. Ericson saß in seiner Kajüte und horchte auf die vertraute Geschäftigkeit, die immer lebhafter wurde, je näher die Abfahrtsminute kam: er konnte mit dem Ohr allen Einzelheiten folgen. Er hörte, wie ›klar zum Manöver‹ gepfiffen wurde, hörte sie an Deck umherlaufen, wo sie alles lose Gut festlaschten, die Fender einholten und dann mit den Leinen, die von der Pier losgeworfen waren, längs liefen. Und wieder wurde in seiner Nähe gepfiffen, der Bootsmann rief: »Probe für Alarmglocken!« Sofort schrillten die Glocken los: eine 271
volle Minute dröhnten sie durchs Schiff. Ericson spürte, obwohl er vorher aufmerksam geworden war, ein unbehagliches Zwicken in der Herzgrube. Aus dem Hintergrund war nun auch zu hören, was Obermaschinist Watts zu dem Spektakel beisteuerte: das Ankerspill klirrte, die Rudermaschine lief einen vollen Bogen rückwärts und vorwärts, ein leises Pulsieren zeigte an, daß die Hauptwelle mit fünf oder zehn Umdrehungen langsam anlief, um ihre langdauernde Arbeit zu beginnen: sie sollte nun für mindestens vierhundert Stunden nicht wieder, zum Stillstand kommen… Genau über Ericsons Kopf im Ruderhaus klingelten die Maschinentelegraphen, schwach hörte man die Gegenklingeln aus dem Maschinenraum, und dann, nach einer Pause, wurde der letzte Befehl gepfiffen: »Alle Mann auf Manöverstation! Seewachen antreten!« Lockhart erschien im Kajüteneingang, Mütze unterm Arm und meldete: »Schiff seeklar, Sir.« Ericson nahm sein Fernglas vom Regal über seiner Koje, knöpfte sich den Mantel zu und ging zur Brückentreppe… Flußabwärts, vom Feuerschiff Sandbank nach See zu, versammelte sich der Geleitzug. Es waren vierundvierzig Schiffe, darunter ein Tanker von zehntausend Tonnen, der aussah wie das älteste Kühlschiff der Welt. Sechs weitere Schiffe sollten noch südlich der Insel Man dazustoßen, weitere acht vor dem Firth of Clyde. Baker, der die Namen und Nummern der vor Liverpool sammelnden Schiffe in der Liste auf dem Kartentisch abhaken mußte, wunderte sich wieder einmal über die ungeheuer komplizierte Organisation, die hinter jedem Konvoi steckte. Es waren manchmal ein Dutzend Geleitzüge mit fünfhundert oder mehr Schiffen gleichzeitig in See, Schiffen aus zahlreichen Häfen der ganzen englischen Küste: alle mußten bemannt und termingemäß beladen werden, einerlei welche Schwierigkeiten mit Bahntransport und Lagerung entstanden. Jedes einzelne mußte genaue Instruktionen über seinen Geleitzug haben, ihre Kapitäne mußten an Besprechungen teilnehmen, in denen die letzten Fahrtanweisungen festgelegt wurden, sie mußten genau zur angesetzten Stunde ihr Schiff am bestimmten Ort haben, Lotsen mußten für alle zur Stelle sein, und sämtliche Schiffe sich pünktlich mit den ihrem Geleitzug zugeteilten Sicherungsfahrzeugen vereinigen, für die ebenfalls komplizierte Vorbereitungen und sorgsame Planung nötig waren. Jedes Schiff mußte seinen Ladeplatz haben, überall mußten genügend Stauer zum Laden und Löschen zur Verfügung stehen. Ein in Birmingham oder Clapham beim Dienst schlafender Weichensteller konnte die ganze Organisation durcheinanderbringen, ein Dritter Steuermann, der sich dienstags anstatt montags betrank, konnte ein Dutzend genauer Pläne ruinieren, ein einziger Luftangriff von den Hunderten, die Englands Häfen zusetzten, konnte einen Geleitzug 272
halbieren, so daß es sich nicht lohnte, ihn über den Atlantik zu schicken. Und doch schienen sich stets sämtliche Schiffe vollzählig einzufinden: auch jetzt waren sie wieder alle da, an diesem hellen, kühlen Nachmittag… Baker, der die Namen anstrich, die Wells ihm zurief, überlegte bei dieser gemütlichen Beschäftigung, was hinter dieser Organisation wohl steckte: ein Übermensch oder ein großes Komitee, oder waren es Hunderte von Beamten, die fortwährend miteinander telephonierten? Gott sei Dank, daß das nicht seine Sorge war! Er hatte an einer genug… Der Konvoi lief ›oben herum‹, das hieß: zwischen der Insel Lewis und der schottischen Küste entlang durch die gefährlichen strömungsreichen Gewässer der ›Minches‹, um dann in Höhe von Cap Wrath westwärts in den offenen Atlantik zu steuern. Sie passierten die Insel Man, die satte Küste des neutralen Irland und die Hügel der schottischen Lowlands: zuerst stieß die Dampferkolonne von Bristol zu ihnen, später die vom Clyde. Dann dampften sie noch einen Tag und eine Nacht nordwärts unter dem letzten Landschutz, bevor sie nach Westen drehten. ›Schutz‹ besagte hier in den Minches wenig: dieser enge Seeweg zwischen Stornaway und der schottischen Küste ist eins der wildesten Gewässer um England: wirbelnde Strömungen, heftige Fallböen von Land her und an der oberen Ausfahrt die unaufhörlich vom Atlantik hereinschwingende Dünung, die stets eine tückische Kreuzsee erzeugte, sorgten dafür, daß kein Schiff auf ruhigem Kiel laufen, kein Seemann es bequem haben konnte. Compass Rose zog mit ihrem Geleit vorbei an den schönsten Gegenden, die es irgendwo auf der Welt geben konnte, wo Meer, Himmel und Land sich vereinigten – vorbei an einer prächtigen Küste, wo der Sonnenschein glitzernd auf einer schäumenden Brandung lag, vorbei an weißgetünchten Bauernhäuschen am Rande der Förden, wo Leuchttürme und Baken die Einfahrten bewachten, vorbei an purpurrot leuchtenden Bergen, auf deren Gipfeln schon erster Schnee lag. Compass Rose hätte so herrliche Bilder betrachten können, aber ihre Besatzung wurde fortwährend abgelenkt und in Atem gehalten, weil ihr Schiff in dieser bösartigen See oft so schwer krängte, daß sie befürchten mußten, es könne sich nicht wieder aufrichten. Passiert war das freilich noch nicht, aber sie hatten schon die Erfahrung gemacht, daß man im Kriege ja alles ›zum erstenmal‹ erlebte. Plötzlich jedoch, als sie gegen Abend in Höhe von Cap Wrath gelangten, hörte der Lärm dieses quälenden, unberechenbaren Schlingerns auf: statt dessen stampfte der Bug hart in eine steife Gegensee, denn der Geleitzug zog nun in westlicher Richtung dem Mittelatlantik entgegen. Kurz vor Dunkelwerden verbarg eine Regenbö die zackige, drohende Klippe, die für lange Zeit ihr letzter Blick auf das Festland sein sollte. 273
Also waren sie wieder einmal ›draußen‹, hatten ihre Insel verlassen und hatten vor sich wieder die große Übermüdung, die scharfe Anspannung aller Sinne und das riesige Fragezeichen jeder Reise. Widerwillig, fast mit Haß, machten sie sich aufs neue vertraut mit all den bekannten Problemen und erwarteten Nervenproben im Stil der früheren. In Sicht von Island war es sehr kalt. Compass Rose, die an der vereisten Küste entlang südwestwärts lief, nachdem sie vier Schiffe des Konvois in Reykjavik abgeliefert hatte, war ganz von dickem Rauhreif überzogen. Die Wachen an Deck, die sich die Füße warm stampften und ihre vor Kälte abgestorbenen Lippen anhauchten, starrten gleichgültig diese fremde Insel an, auf der die blasse Nachmittagssonne wie auf der Glasur eines Kuchens glitzerte. Sie sah genau so aus, wie sie sich Island vorgestellt hatten: sehr viel Schnee, schwarze Klippen und weiße Berge mit einer breiten Gletscherlandschaft. Dieses Bild entschädigte sie nicht recht für die vielen Grad Kälte, die sie zusätzlich in Kauf nahmen, als sie näher heranliefen, um das Land zu betrachten. Um vier Uhr kam Ericson auf die Brücke, überzeugte sich vom Schiffsort und gab Befehl für höhere Fahrt. Durch ihren Umweg in die Nähe von Reykjavik waren sie weit hinter den Geleitzug zurückgefallen, und er wollte ihn, wenn möglich, vor Mitternacht wieder erreichen. Mit Einbruch der Nacht wurde es noch kälter. Der Torpedo traf Compass Rose, als sie fast mit Höchstfahrt lief: so fügte ihr die See eine ebenso tödliche Wunde zu wie der harte Hieb des Feindes. Es war ein voller Treffer breitseits, ungefähr vier Meter vom Bug: einer schmetternden Explosion folgten die Geräusche zerreißenden Metalls, dann das fatale Geräusch des unter gewaltigem Druck einströmenden Seewassers, und vom getroffenen Vorschiff stieß wie aus einem Hochofen ein Hitzestrahl zur Brücke empor. Compass Rose schor jäh aus dem Kurs und kam bebend zum Stillstand wie ein Hund mit blutiger Schnauze: ihr Bug war fast völlig abgesprengt, das Heck begann sich bereits aufwärts zu kanten, schon bevor die Fahrt aus dem Schiff war. Auf der Brücke befanden sich im Augenblick der Katastrophe Ericson, Lockhart und Wells, die alle drei den Treffer, an den sie gar nicht glauben konnten, wie eine Körperverwundung fühlten, die elend schwächte. Von der pechschwarzen Nacht eingehüllt und unsicher gemacht, wollten sie nicht glauben, daß Compass Rose getroffen war. Aber die scheußliche Schräglage des Decks konnte nur eine Bedeutung haben, die durch den Lärm der unter Deck polternden Gegenstände bestätigt wurde. Und es gab da noch ein anderes Geräusch, eins, das Ericsons Denken für Augenblicke lahmte: es kam aus dem Sprachrohr vom Vorschiff zur Brücke – ein tierisches Geheul höchster 274
Verzweiflung, als seien hundert Hunde in einer Grube irrsinnig geworden. Das waren die Männer, denen die Explosion ihren einzigen Ausweg versperrt haben mußte: durchs Sprachrohr schollen ihre Schreie herauf, ihr wahnwitziges Gehämmer und hilfloses Wutgebrüll. Aber für sie gab es keine Hilfe: mit der Hand eines Henkers schlug Ericson die Schutzklappe über das Sprachrohr, und das Geräusch verstummte… Zu Wells sagte er: »Funkmeldung an Viperous, offen. Sagen Sie –« mit aller Anstrengung zwang er sein Gehirn, ein paar Zahlen richtig wiederzugeben, »sagen Sie: ›Torpediert auf null – fünnef – null Grad, dreißig Meilen achteraus Geleit.‹« Und zu Lockhart: »Boote und Flöße klarmachen, aber weitere Befehle abwarten.« Das Deck neigte sich noch schärfer zur Seite. Ein Krach erdröhnte im Innern des Schiffes, als etwas Schweres losbrach und auf dem steilen Boden abrutschte. Dampf entwich brüllend aus dem Ventil neben dem Schornstein. Ericson dachte: ›Gott, sie sackt schon weg, so rasch wie Sorrel!‹ Wells meldete: »Funkanlage ist zerstört, Sir.« Unten in der Messe war der Lärm und Stoß der Explosion entsetzlich gewesen, denn sie erfolgte in der benachbarten Abteilung, so daß sich das Schott zur Messe durchbeulte, dicht über dem Tisch, an dem sie aßen. Sie sprangen alle auf und stürzten zum Ausgang. Für einen Moment ballten sich fünf Mann am Fuß der Treppe zum Oberdeck zusammen: Morell, Ferraby, Baker, Carslake und Tomlinson, der zweite Steward. Es schien, als wollten sie einander überrennen. Baker schrie: »Meine Schwimmweste! Ich habe meine Schwimmweste vergessen!« Ferraby wurde in dem Ansturm von den Füßen gehoben, Tomlinson schwang ein Tischtuch, Carslake hatte über die Köpfe der andern gegriffen und das Geländer gepackt. Während sie um die Treppe rangen, wurden sie von einer furchtbaren Panik ergriffen, die freilich nichts weiter war als ihre flüchtige Reaktion auf die Gefahr. Einer konnte auf der Treppe nur der erste sein, doch im Zwang der Gefahr waren sie alle zugleich angekommen. Morell wandte sich plötzlich zurück, boxte sich durch die wild Andrängenden und stürmte in seine Kammer. Über seiner Koje hing ein Bild seiner Frau: er packte es und schob es in sein Jackett. Noch einen Blick warf er um sich: aber es schien nichts mehr da, was er gern mitgenommen hätte. Er lief wieder hinaus und fand sich bereits allein: die übrigen waren in den paar Sekunden seiner Abwesenheit schon herausgekommen. Wer mochte wohl zuerst nachgegeben haben –? Gerade als er den Fuß der Treppe erreichte, hörte er hinter sich ein ungeheuerlich lautes Knacken. Ganz blöd drehte er sich um: er sah das Schott auseinanderplatzen, und herein schoß das Wasser. Wie ein Katarakt flutete es auf ihn los: er raste die Treppe hinauf – und war 275
bis zur Hüfte im Wasser, bevor er die oberste Stufe erreichte. Er spürte, wie das Wasser ihn begierig hinabziehen wollte, während er sich mit einem Ruck an Deck warf. Dann blickte er hinab in das wirbelnde Chaos, das alles vernichtend bedeckte: die Messe, die Kammern, all ihr Zeug und ihre kleinen Besitztümer. Eine Birne brannte noch unter Wasser und illuminierte den tückischen Strom, der ihn um ein Haar eingesogen hätte, dunkelgrün. Er schüttelte sich vor Angst und vor Freude über die Befreiung und rannte aufs offene Deck, das ganz steil seitwärts abfiel, während schon das erregte Geschrei bei den Rettungsversuchen durch die frostige Nachtluft erscholl. Der Platz zwischen den Booten war ein düsteres Inferno: Männer stolperten wüst fluchend hin und her, stießen hart aneinander, rutschten den ungewohnten Hang des eisernen Decks hinab, über ihren Köpfen schwoll das Zischen des Dampfes zu donnerndem Crescendo, als schrie das Schiff, seine lebenden Organe ausspeiend, in ohnmächtiger Wut und letzter Auflehnung gegen sein Schicksal. Eins der Boote war unbrauchbar, es konnte bei der Krängung des Schiffes nicht mehr rechtzeitig freigemacht werden: das andere hatte sich so fest in die Klampen verkeilt, daß sie es trotz aller Gewalt nicht vom Fleck bewegen konnten. Tonbridge, dem es unterstand, hämmerte und klopfte daran herum, seine zwölf Mann versuchten verzweifelt, es hochzuheben: es saß fest wie ans Deck genietet, blieb unbeweglich. Zum vierten oder fünften Male sagte Tonbridge: »Los, Jungens, hievt an! Hiev!« Er sagte es nicht, er mußte brüllen, um sich verständlich zu machen, aber weder Brüllen noch Hieven half. Gregg, der neben ihm mit aller Kraft anpackte, stieß pustend heraus: »Es hat verdammt keinen Zweck, Ted – sitzt zu fest – kommt von dem Krängen –« und Tonbridge rief: »Dann an die Flöße – los, Flöße klar machen!« Die Männer liefen von den Booten, die sich ihnen in der tödlichen Not versagt hatten, zu den Flößen: wieder stießen sie einander im Dunkel fast um, rannten mit dem Kopf gegen die Schornsteinstage und fluchten wieder über die Verwirrung. Tonbridge ließ sie zuerst das auf der hohen Seite des Decks liegende Floß aufheben und an die tiefliegende Reling tragen. Als sechs von Furcht gepeitschte Männer jetzt an dem Ding hoben und zerrten, schien es, als bekämpften sie einander schon jetzt um einen rettenden Platz, den es ihnen bieten konnte. Tonbridge trat zurück und blickte zur Brücke hinauf, von wo der nächste Befehl – der letzte aller Befehle an Bord – kommen mußte. Ganz schief hing die Brücke gegen den Himmel. Er fingerte an seiner Schwimmweste und zog die Verschnürung fester. Dabei sagte er, unbekümmert, ob die andern ihn hörten oder nicht: »Es wird kalt werden, Jungs.« Unten im Maschinenraum, drei Minuten nach der Explosion: Watts und Maschinist Broughton waren allein, sie warteten auf den erlösenden Befehl 276
von der Brücke. Sie wußten, daß er kommen mußte, sie vertrauten darauf. – Watts hatte ›auf der Platte‹ gestanden, als der Torpedo einschlug: aus eigener Initiative hatte er die Maschine abgestellt und dann, als das Schiff sich mehr und mehr neigte, das Sicherheitsventil geöffnet, um die Kessel vom Dampfdruck zu entlasten. Was geschehen war und weiter geschah, sagte ihm der Lärm draußen, denn das war leicht zu erraten: das wiederholte Krachen im Vorschiff, wo die Schotts wegplatzten, das Trampeln an Deck, das vom Klarmachen der Boote kam, die böse Schräglage des Schiffes, die ihm Verderben ankündigte. Und nun warteten sie nebeneinander in dem verödeten Maschinenraum: der alte Maschinist und der junge, der noch lernte. Watts merkte, daß Broughton sich bekreuzigte, und erinnerte sich, daß er katholisch war. ›Hoffentlich bringt ihm das heute Glück‹, dachte Watts. – Scharf erklang plötzlich die Klingel von der Brücke, er drückte den Mund ans Sprachrohr und rief: »Maschinenraum!« »L.I.«, hörte er die Stimme des Kommandanten wie aus der Ferne. »Sir?« »Alles lassen und ‘raufkommen.« Mehr nicht – aber das sagte genug. »Los, du voran, Junge!« sagte er zu Broughton. »Hier gibt’s nichts mehr zu tun.« »Sinkt das Schiff denn?« fragte Broughton, noch zweifelnd. »Nicht mit dir an Bord – los, spring rauf!« Vier Minuten nach dem Schlag: – im Vorschiff war es still geworden, das Gehämmer der Fäuste hatte aufgehört, die wilden Stimmen waren erstickt. Der Torpedo hatte zu unglücklicher Zeit getroffen – vielen brachte er den schlimmsten und letzten Moment ihres Lebens. Siebenunddreißig von der Backbordwache, Matrosen und Heizer, waren bei der Explosion in den Mannschaftsräumen gewesen: sie saßen dort oder aßen, schliefen, lasen oder spielten Karten und Domino, und taten das alles in behaglicher Wärme hinter der einen, einzigen wasserdicht geschlossenen Tür. Lebend war keiner von ihnen herausgekommen: die meisten wurden sofort getötet, aber ein paar hatten zur Tür rennen oder kriechen können und fanden sie verbeult und verklemmt, hoffnungslos verblockt von der Wucht der Explosion. Einen andern Weg hinaus gab es nicht, höchstens das klaffende Loch, durch das sofort in breitem, unwiderstehlich hartem Strahl das Wasser hineinschoß… Den grausigen Todeskampf, der nun folgte, kürzte das Schicksal gnädig ab, doch bis die Wasserflut die letzten Schreie erwürgte und die letzte krallende Hand auseinanderbog, war es, wie Ericson es im Sprachrohr gehört hatte: ein Ausbruch der Verzweiflung, der Angst und jäher brutaler Gewalttaten, inmitten des fürchterlich hineinbrausenden Wassers, eine abgelegene Ecke in der menschlichen Welt, für die es keine Zeugen geben sollte… Am anderen Ende des Schiffes war ein ruhiger Mann entschlossen auf sei277
ne Station gegangen und hatte seine Aufgabe begonnen, wie die Vorschrift es bei dem Befehl: ›Schiffsstationen verlassen‹ verlangte: es war der Mechanikersmaat Wainwright, der, hoch oben am Heck, dem jetzt höchsten Punkt des Schiffes, die Sprengkapseln von den Wasserbomben entfernte, so daß sie beim Untergang des Schiffes nicht explodieren konnten. Er ging ganz methodisch ans Werk: losschrauben, herausziehen, ins Meer werfen – losschrauben, herausziehen, ins Meer werfen. Und er pfiff dabei, wenn auch unmelodisch: »Roll heraus das Faß.« Für das Entfernen jeder Kapsel brauchte er zehn bis fünfzehn Sekunden, und dreißig Bomben waren es: er hatte sich schon ausgerechnet, daß er es nur ganz knapp schaffen konnte… Unter seinen Füßen hob sich, wie eine Riesenschaukel, das Heck immer höher: auch in der Finsternis vermochte er den steilen Abhang des Decks übers ganze Schiff hinab undeutlich zu erkennen, bis dahin, wo er ins Meer verlief. Er konnte den abblasenden Dampf hören und die Stimmen der Kameraden weiter unten an Deck. ›Einen Lärm machen die Kerle‹, dachte er, wie unbeteiligt. Ein Jammer, daß die nichts Besseres zu tun hatten. – Einsam arbeitete er weiter, zielbewußt, und fand eine heimliche Freude an dem Gedanken, daß er Waffenteile fortwerfen durfte, mit denen er sich fast drei Jahre lang hatte placken müssen. Sonst hatten diese blöden Dinger alle ihre Nummern, besondere Verpackung, Kontrollbogen und Spezialbeschreibung, und jetzt – jetzt waren sie nur noch kleine Wasserspritzer in dunkler Nacht, die er nicht einmal zu zählen brauchte. Undeutlich tauchte vor ihm jemand auf, der sehr mühsam den Steilhang emporklomm und dann gegen ihn stolperte. Er erkannte eine Offiziersuniform: Ferraby war es. Ferraby sagte, und es klang, als sei er am Ersticken: »Wer ist das hier?« »Mechanikersmaat, Sir. Werfe die Sprengkapseln über Bord.« Damit setzte er seine Arbeit fort, ohne eine Äußerung abzuwarten. Ferraby starrte ringsum wie in einem furchtbaren Traum befangen, aber nach wenigen Augenblicken kreuzte er zur andern Wasserbombenreling hinüber und begann dort dasselbe zu tun wie Wainwright. So arbeiteten sie, Rücken an Rücken, und stemmten sich fest, um nicht das Deck hinabzurutschen. Anfangs taten sie es schweigend, dann begann Wainwright wieder zu pfeifen, und Ferraby begann, nachdem ihm eine Kapsel aus der Hand gefallen war, zu schluchzen. Mit einem gewaltigen Ruck bewegte sich das Schiff unter ihren Füßen, das Heck richtete sich noch höher auf, als bereite es ihnen einen Thron hoch über der See… Sieben Minuten nach dem Schlag: – Ericson erkannte, daß sein Schiff sinken mußte und der Untergang unvermeidlich war. Die Brücke hing jetzt in scharfem Winkel nach vorn herunter, das Heck hob sich noch höher, der Bug 278
stak tief im Wasser, der Vordersteven war ganz eingetaucht. Das Schiff, auf das sie so viel Zeit und so viel Sorge verwendet hatten, ihre Compass Rose, hatte zum Tauchen in den Tod angesetzt und konnte in dieser Lage nicht mehr lange aushaken. Ericson empfand Qualen über das, was er nicht mehr hatte tun können: das Signal an Viperous abgeben, die Boote klar machen, das Schott in der Messe abstützen lassen, was möglicherweise noch gelungen wäre. Er dachte: ›Der Admiral in Ardnacraish hat doch recht gehabt; wir hätten das alles noch mehr üben müssen…‹ Aber zu schnell war das Unheil über sie gekommen: Vielleicht wäre Compass Rose durch nichts zu retten gewesen, vielleicht war sie zu verwundbar, waren ihre Chancen gegen diese Übermacht sowieso zu gering, und er konnte sein Gewissen beruhigen. Wells neben ihm fragte: »Soll ich die Geheimsachen versenken, Sir?« Ericson richtete sich auf. Das Überbordwerfen der geheimen Signalbücher und Schlüsseltabellen in dem bleibeschwerten Sack war das Letzte, bevor ein Kriegsschiff unterging: es war das Schlußsignal für ihre Auflösung, ihre Trennung von Compass Rose. Er erinnerte sich, wie der Mann auf dem UBoot die Geheimsachen fortwarf und dabei noch sein Leben lassen mußte. Für einen Augenblick zögerte er noch mit diesem Befehl, in einem bangen Vorgefühl. Noch einmal blickte er das ganze Deck entlang. Compass Rose lag nun ruhiger, hatte, ihrem Schicksal ergeben, den wilden Aufruhr in ihrem Innern und das erregte Hasten und Mühen ihrer Besatzung während der ersten Minuten überwunden: alle hatten ihr Bestes getan, und genützt hatte es nichts. Jetzt galt es nur noch ein paar Augenblicke durchzuhalten, bis sie schwimmen mußten. Er dachte flüchtig an ihre Position, dreißig Meilen achteraus des Geleits, und fragte sich, ob ein Fahrzeug der Schlußsicherung das Radargerät genau beobachtet hatte, auf dem Compass Rose erschienen sein mußte, als sie zuerst wieder in Reichweite kam, und nachher, als ihr Echobild verblich – so daß ihr plötzliches Fehlen richtig gedeutet wurde. Darin lag in dieser tödlich kalten Nacht ihre einzige Chance. Er sagte: »Ja, Wells, werfen Sie sie über Bord«, wandte sich an eine andere undeutliche Gestalt auf der Brücke und rief: »Bootsmann!« »Sir?« erwiderte Tallow. »Pfeifen Sie ›Schiff verlassen‹!« Er folgte Tallow die Treppe hinab und das steile Deck hinauf, während er den Bootsmann vor sich brüllen hörte: »Schiff verlassen! Schiff verlassen!« Eine Schar Männer bewegte sich stumm hin und her, wie ziellos, und schob sich jetzt dem hohen Heck zu: unter ihnen auf dem schwarzen Wasser lagen die beiden Flöße, die elenden Dinger, die nun bereit waren, mit ihnen den Gefahren zu trotzen. Ein paar Mann von Tonbridges Gruppe machten, nachdem sie die Flöße zu Wasser gebracht hatten, nochmals den Versuch, das Boot aus seiner Verkeilung zu lösen, doch die war bei der Schräglage des 279
Schiffes noch fester geworden. Als Ericson zwischen seinen Männern erschien, auch im Dunkeln sofort erkannt, hörte er sie überall murmeln »Der Alte – der Alte«, und einer fragte ihn: »Wie sind die Aussichten, Sir?« Compass Rose erbebte unter ihren Füßen und glitt vorn tiefer ins Meer. Ein Mann an der Reling rief: »Ich haue ab, Jungs«, und sprang kopfüber in die See. Ericson sagte: »Es wird Zeit, von Bord zu gehen. Hoffentlich kommt ihr alle gut durch.« Jetzt griff die Angst um sich. Ein paar Männer sprangen sofort und schwammen vom Schiff weg. In der Kälte des Wassers ächzend, riefen sie ihren Kameraden zu, ihnen nachzuspringen. Andere zögerten und drängten sich noch höher im schrägliegenden Heck zusammen. Als sie schließlich doch sprangen, glitten viele von ihnen an dem mit Muscheln bekrusteten Schiffsrumpf hinunter, wobei sie sich nicht nur das Zeug, sondern empfindliche Körperteile zu Fetzen zerrissen: die einen das Gesicht, die andern ihre Geschlechtsteile. Auf der Meeresfläche sprossen wie rote Blumen die Seenotlämpchen auf, die die Schwimmenden nacheinander anknipsten, während sie nach Kräften ausholten, dann wieder zueinander drängten, sich gegenseitig durch Zurufe anspornten und sich immer wieder nach Compass Rose umdrehten. Hoch aus dem Wasser ragend schien das Schiff gleichsam noch zu überlegen, ob es in die Tiefe tauchen sollte: die Schraube, die nackt gegen den Nachthimmel stand, wirkte albern und überflüssig, der schrägstehende Mast wie ein Finger, der sie mahnte, sich nach dem Verschwinden ihres Schiffes gut zu benehmen, Lange aber blieb Compass Rose so nicht liegen, denn das konnte sie nicht. Noch steiler richtete sich das Heck auf: jetzt sprang der letzte Mann, der noch an Bord war, mit gellendem Aufschrei von der Heckreling in die Tiefe. Sein lauter Schrei schien anderen Lärm auszulösen: mit einem reißenden Krach brach die ganze Masse der Wasserbomben aus ihren Zurrings, alle polterten den Steilhang des Decks hinab und klatschten ins Meer. Aus vielen halb zugeschnürten Kehlen kam derselbe Schrei: »Jetzt sinkt sie!« Eine gedämpfte Explosion folgte, die die Schwimmenden fühlten, als presse die Hand eines Riesen auf ihren Magen – dann sahen sie Compass Rose hinabgleiten. Jetzt tauchte sie schnell, als sei sie froh, ihrem Elend zu entrinnen: der Mast brach ab und riß einen Wirrwarr von Leinen, Drähten und Stagen im Fallen mit sich. Als das Heck unter der Wasserfläche verschwand, brodelte die See heftig auf, dann trieb Ölgeruch, dick und stark, zu den Männern hinüber: der Geruch, den sie von vielen Geleitzügen her kannten. Nie 280
hätten sie gedacht, daß ihre Compass Rose jemals den gleichen ekelhaften Gestank verbreiten werde. – Die See glättete sich, das Öl lief auseinander – ihr Schiff war verschwunden: was ihnen Jahre gehört hatte, in Minuten ausgewischt. Jetzt begann die scharfe Kälte, die sie angesichts ihres ungeheuerlichen Verlusts vergessen hatten, sie wieder zu packen. Beraubt waren sie, allein in der Finsternis: fünfzig Mann, zwei Flöße, Elend, Furcht und – die See… Für alle war nicht Platz genug auf den zwei Flößen. Ein paar saßen oder lagen auf ihnen, ein paar erfaßten die Webeleinen, die ringsum hingen, andere umkreisten sie schwimmend, in der Hoffnung, einen freien Platz zu entdecken, oder klammerten sich an Glücklichere, die schon einen Halt gefunden hatten. Die hüpfenden kleinen roten Lichter kamen von allen Seiten auf die Flöße zu: die Schwimmer konnten vor Kälte und Angst kaum atmen, eisig schlugen ihnen die Wogen ins Gesicht, Öl drang ihnen durch die Nase in den Hals. Die Hände starben schnell ab, dann die Beine, und dann drang die Kälte tiefer, ihre Körperwärme auslöschend. Wild schlugen sie mit den Armen um sich, versuchten, durch hartnäckiges Drängen zu einem Platz auf den Flößen zu kommen, und wurden wieder zurückgestoßen: so schwammen sie immer rundum in der dunklen Nacht, riefen um Hilfe, verfluchten die Kameraden, stammelten Gebete. Einige, die an den Seitentauen hingen, merkten, daß sie mit den klammen Händen nicht mehr greifen konnten, und trieben ab. Andere, die Heizöl geschluckt hatten, bekamen lähmende Krämpfe und begannen auszuwürgen, was sie vergiften wollte. Und jene, die sich an den Muscheln verletzt hatten, schnitt die tödliche, lähmende Kälte ins Fleisch. Andere, auf den Flößen, wurden in der harten Nacht müde oder verloren den Mut, wenn sie in die hoffnungslose, schwarze Finsternis ringsum blickten, die See und den Wind rauschen hörten, das Öl rochen und ihre Kameraden angesichts dieser äußersten Angst und Kälte zusammenbrechen sahen. Und dann begannen Männer zu sterben… Einige starben mit Haltung: Oberbootsmann Tallow, Bootsmaat Tonbridge, Mechanikersmaat Wainwright, Signalmeister Wells und viele andere. Das waren Männer, die alles im Leben wie selbstverständlich in guter Haltung taten und sich selbst im Tode nicht änderten. Tallow starb, während er für andere sorgte: das war auf Compass Rose immer das Wichtigste an seiner Aufgabe gewesen, und das blieb so bis zuletzt. Er gab seinen Platz auf dem Floß einem jüngeren Matrosen, der keine Schwimmweste hatte: als er ihn in seinen Nöten entdeckte, hatte er ihn erst gerügt wegen Ungehorsams gegen grundlegende Befehle, sich dann aber selbst vom Floß gleiten lassen und dem andern hinaufgeholfen. Doch im Wasser packte ihn gleich ein heftiger 281
Krampf, und er vermochte keins der Haltetaue mehr zu ergreifen: während der Mann, den er gerettet hatte, noch knurrte, der »verdammte Bootsmann lasse einen doch nie in Ruhe«, trieb Tallow ab und starb nach wenigen Augenblicken vor Kälte still und allein. Tonbridge überspannte seine Kräfte, indem er versuchte, entfernte Schwimmer näher an die Flöße zu holen. Ein halbes Dutzend Männer, die schon zu erschöpft waren, um selbst zu handeln oder nur zu denken, hatte er bereits herangebracht, als er wieder einen weiter entfernten in letzter Not erstickend schreien hörte. Zum siebten Male schwamm er von den Flößen fort, um zu helfen, und kam nicht mehr wieder. – Wainwright, der es für richtiger hielt, daß die zwei Flöße dicht zusammen blieben, mühte und quälte sich mit dem einen, um es an das andere heranzudrücken. Aber es war schwerer, als er gedacht, und er selbst war nicht so stark, wie er gehofft hatte: so wurde er wütend auf die See, die immer wieder die Flöße auseinander schob, und auf die Kälte, die ihm die Kraft raubte. Trotzdem versuchte er es bis zur völligen Erschöpfung und starb in wildem Zorn. Wells starb, indem er Listen aufstellte. Solange er zur See fuhr, hatte er Listen gemacht: Listen von Signalen, Listen der Schiffe in den Geleiten, Listen von geheimen Flaggengruppen. Jetzt schien es ihm wichtig, festzustellen, wie viele Männer lebend von Compass Rose abgesprungen waren und wie viele noch lebten. Bestimmt fragte ihn später der Kommandant, und er wollte sich nicht bei Unwissenheit ertappen lassen. So schwamm er kreuz und quer und zählte Köpfe, über eine Stunde lang: er kam bis auf siebenundvierzig, und dann machte er sich Sorge, daß einige von den Gezählten mittlerweile gestorben sein könnten, und begann wieder umherzuschwimmen. Es ging dieses zweite Mal viel langsamer, und da, als er auf eine dunkle Gestalt zusteuerte, die ihm auf Anruf keine Antwort gab, schien es ihm, als entferne sie sich von ihm, anstatt näherzukommen. Wells drang sehr langsam weiter vor zu dem Unbekannten, jeder Schwimmstoß wurde ihm jetzt schwer, so daß er lange Pausen machen mußte – und ein paar Augenblicke, nachdem er festgestellt hatte, daß der Mann tot war, starb er selbst, indem er eine Gesamtzahl ausrief, die nun längst nicht mehr stimmen konnte. Einige starben in schlechter Haltung: Obermaschinist Watts, Matrose Gregg, Steward Carslake und andere. Das waren die Männer, die von Natur aus oder auf Grund ihrer Vergangenheit selbstsüchtig waren, oder feige, oder so am Leben hingen, daß sie sich durch ihr angstvolles Hoffen selbst vernichteten. Watts starb schlecht: vielleicht war es ungerecht, eine andere Haltung von ihm zu erwarten. Er war alt und müde, völlig verstört vor Schrecken: eigentlich hätte er mit seinen Enkelkindern am Kamin sitzen müssen, statt hier verzweifelt in der ölverschmierten See herumzupaddeln, im Dunkeln gegen 282
Kameraden zu stoßen, die ebenso um ihr Leben rangen oder schon tot waren. Seit dem Absprung von Bord hatte er keinen Moment zu schreien und um Hilfe zu rufen aufgehört: er klammerte sich an andere, kämpfte wie ein Wilder, um auf eins der längst übervollen Flöße zu kommen, und geriet tiefer und tiefer in geradezu wahnsinnige Angst. Angst war es, die ihn tötete, fast allein die Angst: er war schließlich überzeugt, daß er keinen Moment mehr aushaken könne und, wenn nicht sofort Rettung kam, sterben müsse. In dieser Stimmung packte ihn ein letztes, Körper und Hirn beengendes Grausen, das ihm die schwachen Glieder förmlich umschnürte und die spröden Arterien zusammenpreßte, bis verächtlich der Tod selber ihn retten kam. Gewiß kein Tod für einen altgedienten Mann: er hatte für sein berufliches Leben und für sein ganzes Wesen weit Besseres verdient, als mit so kläglichem Gejammer von dieser Welt zu scheiden. Doch das Gleiche galt noch für viele andere, die ein so schreckliches Lebensende vor sich sahen. Gregg starb schlecht, weil er so fanatisch am Leben hing, und deshalb wohl traf ihn der Tod auf absonderliche Weise. Kurz vor der Ausreise noch hatte er wieder einen Brief von seinem Freund bei der Infanterie bekommen. »Lieber Tom«, hieß es darin, »du hattest mich gebeten, auf Edith achtzugeben, wenn ich auf Urlaub wäre. Also ich muß dir sagen –« Gregg vermochte es kaum zu fassen, daß seine Frau sofort wieder entgleist sein sollte, kaum daß er sie verlassen hatte und wieder auf sein Schiff zurückgekehrt war. Aber selbst, wenn es sich als wahr erwies, war er überzeugt, die Sache m wenigen Tagen nochmals ins Reine bringen zu können. ›Laßt mich nur erst wieder bei ihr sein‹, dachte er, ›sie ist ja noch ein Kind, man muß ihr ein wenig gut zureden, weiter nichts – sie braucht mich eben, braucht meine körperliche Liebe‹… Und nur deshalb meinte er, nicht sterben zu dürfen: doch ähnliche Gefühle hatten auch viele seiner Kameraden, so daß der Wettstreit, am Leben zu bleiben, stellenweise, wo andere es nicht sahen, gehässig und gewalttätig wurde. Eine Stunde höchster Anstrengung kostete es Gregg, sich durch Stoßen und Puffen einen Platz am Rande eines der Flöße zu sichern: er sah, daß er es nie schaffen würde, aber der eiserne Wille, zu leben, trieb ihn in diesem Kampf um einen Platz zu jeder Rücksichtslosigkeit. Schließlich zwängte er seinen Körper zwischen den Rand des Floßes und die rundum in Schlingen gezogene Halteleine, so daß er daran hing wie in kleines Paket an einem größeren. Und so, sicher verankert, beabsichtigte er die ganze Nacht zuzubringen, um von seiner Frau daheim zu träumen, die ihn bestimmt wieder liebhaben würde, sobald er erst zurück war. – Aber er war zu gierig auf sein Leben bedacht gewesen: nach einiger Zeit wurde er vor Kälte schwach und schläfrig, das Seil rutschte ihm über die Schultern hoch und um den Hals, das Seil, das in 283
Buchten rund um das Floß befestigt war, und es wurde von zwanzig Männern, die sich verzweifelt daran hielten, ganz straff gezogen. Er erwachte plötzlich, als es ihm hart auf den Nacken drückte: bevor er sich freikämpfen konnte, ruckte das Floß an seiner Seite nach oben, weil ein Mann auf die andere Seite hinüberfiel, das Seil schnitt unter seinem Kinn tief ein und hob ihn aus dem Wasser. Es war so dunkel, daß keiner der andern davon etwas merkte, und mittlerweile ertönten so viele erstickte Schreie ertrinkender Männer, daß keiner auf Greggs Geschrei achtgab. Da er wild um sich griff und schlug, verkürzte er nur die Zeit, bis er sich erhängt hatte. – Carslake starb den Tod eines Mörders. Die kleine Holzplanke, die während der dunklen Nachtstunde an ihm vorübertrieb, konnte höchstens einen Mann über Wasser halten, und ein Mann hockte schon auf ihr: ein Funker namens Rollestone, ein kleiner ängstlicher Mensch, der eine Brille trug. Carslake konnte es an Angst mit ihm aufnehmen, und die Tatsache, daß es ihm nicht gelungen war, einen Floßplatz zu erringen, erfüllte ihn mit Wut und Rachsucht: koste es, was es wolle, er mußte sein Leben retten. Er sah den kleinen Rollestone fast platt auf dem Brett liegen – da schwamm er langsam auf ihn zu und zerrte an dem einen Ende, bis er es unter Wasser hatte. Rollestone hob den Kopf. »Paß doch auf«, sagte er angstvoll, »du kippst mich ja herunter.« »Hier ist Platz für uns beide«, sagte Carslake grob, indem er das Ende wieder unter Wasser zog. »Nein, ist es nicht! Laß mich zufrieden – such dir ein anderes Stück.« Es war die finsterste Stunde der Nacht. Carslake schwamm langsam ans andere Ende des Brettes und begann mit Gewalt Rollestones anklammernde Hände loszureißen. »Was hast du vor?« wimmerte der kleine Funker. »Ich habe dies Stück zuerst gesehen«, sagte Carslake, der vor Anstrengung, ihn von dem Holz zu kippen, keuchte. »Aber ich war zuerst drauf«, sagte Rollestone, vor Angst und Zorn fast heulend – »also gehört’s mir!« Wieder zerrte Carslake an ihm, krallte sich in seine Finger. Die Planke kippte und schwankte bedrohlich. Rollestone begann um Hilfe zu schreien, Carslake erhob einen Arm und schlug ihm über den Mund. Rollestone fiel von der Planke, versuchte aber sofort wieder hinaufzukrabbeln, indem er mit den Füßen nach Carslake stieß. Der wartete, bis er Rollestones Kopf deutlich gegen den Himmel erkennen konnte, dann hob er beide Fäuste ineinandergeballt und schlug hart zu, noch einmal und noch einmal. Der kleine Funker hatte nur noch Zeit, einen einzigen Schrei auszustoßen, bevor er für immer zum Schweigen gebracht war. Es war die finsterste Stunde der Nacht. Aber die Anstrengung des Mordes schien Carslake auf einmal die Kräfte zu neh284
men: sein Körper, im Augenblick der wilden Tat heiß, wurde plötzlich sehr kalt. Als er auf die Planke klettern wollte, merkte er, daß er zu schwer war, zu ungeschickt in den Bewegungen. Er vermochte kein Gleichgewicht zu halten. Und so rutschte er ab und sank, langsam und mühsam atmend, ins Wasser zurück. Das Stück Holz trieb, von niemand mehr gebraucht, weiter. – Einige starben ohne Aufsehen: Leutnant Baker, Heizer Evans, Oberleutnant Morell und andere. Das waren die Männer, die für nichts Besonderes lebten oder ihr Leben so gründlich verpfuscht hatten, daß sie den Tod wie eine Erlösung empfanden. Baker zum Beispiel fand im Tode nichts Schrecklicheres, als was er schon im vollen Maße während der letzten Wochen durchlitten hatte. Seit Compass Rose ausgelaufen war, hatte er sich an Bord nur mit einem geradezu krankhaften Schuldgefühl bewegt, völlig allem in seiner Furcht vor der Schande, die sich ihm zu seinem Ekel in diesen Tagen bestätigte. Er verstand von Geschlechtskrankheiten gar nichts und hatte niemand, an den er sich wenden konnte: er konnte nur vermuten, was es war, wenn er die schmerzhaft geschwollenen Organe und das befleckte Unterzeug betrachtete, und wußte nur, daß es Symptome einer Erkrankung waren, die sie früher unter Kameraden mit dem fröhlichen Leichtsinn des munteren Weltmanns als eine ›Portion‹ bezeichnet hatten… Aber allmählich brauchte er nicht mehr zu zweifeln, was ihm passiert war, und hatte eine ganze Woche jede Berührung mit andern vermieden, eine Woche, in der seine Schmerzen immer schlimmer wurden, während er sich unendlich verkommen fühlte und unendliche Angst hatte. An dem Abend, da Compass Rose getroffen wurde, war er schon entschlossen gewesen, sich das Leben zu nehmen. Nach dem Verlassen des Schiffs war er ein paar Minuten geschwommen und hatte auf dem Floß Eins einen Platz gefunden, doch als sein Körper zu trocknen begann, stellten sich furchtbare Schmerzen ein. Immerfort hatte er, mehrere Stunden lang, seine Stellung geändert, ohne Erleichterung zu finden und hatte sich schließlich, zur Verzweiflung getrieben, vom Floß wieder in die See gleiten lassen. Das eisige Wasser betäubte ihn nun angenehm, so daß er es anfangs als Wohltat empfand, wie die Kälte mehr und mehr in seine Lenden drang, weil nun endlich dieser widerliche und verhaßte Teil seines Körpers ihn nicht mehr so maßlos quälte. Aber er starb an dieser Kälte so schnell wie auch jeder andere gestorben wäre, den dieses eisige Wasser empfing in dem Augenblick, als es von einem einzigen Wärmegrad abhängen konnte, ob das menschliche Blut weiter pulsieren oder erstarren würde. Heizer Evans starb auch für die Liebe: in seinem Leben hatte sie wirklich, in vielerlei Formen, eine so große Rolle gespielt, daß er längst nicht mehr sein eigener Herr war. Evans hatte zwei zanksüchtige Frauen, eine in Lon285
don, die andere in Glasgow, hatte in Liverpool eine unverstandene junge Frau als Freundin und in Londonderry eine lustige Witwe. In Manchester hatte ein Mädchen ein Kind von ihm, und eine andere Freundin in Greenock erwartete eins. Kam das Schiff nach Gibraltar, so standen schon für Mr. Evans zwei, drei Spanierinnen aufgeregt winkend an der Pier; kam es nach Halifax oder St. John auf Neufundland, so dauerte es keine Stunde, bis ein Brief mit Liebesschwüren oder mit peinlicher Botschaft für ihn an Bord gebracht wurde. Sein ganzes Geld mußte auf ein halbes Dutzend Haushalte und diverse Alimente verteilt werden, und in der Freizeit hatte er immerfort Briefe schreiben müssen. Jedenfalls ging er schon lang nicht mehr gern an Land: denn die Begrüßung durch wütende Ehemänner, Brüder oder Väter, auf die er mit Sicherheit rechnen konnte, sobald er durchs Hafentor hinaustrat, machte ihm natürlich keinen Spaß. Evans war durchaus kein schöner Mann, er hatte nur niemals ›nein‹ sagen können. Neuerdings hatten gewisse Dinge für ihn eine neue und ernste Entwicklung genommen: kurz bevor Compass Rose zu dieser Fahrt auslief, hatten seine beiden angetrauten Frauen sich ›gefunden‹, und es war ein Glück für ihn, und war höchste Zeit, daß das Schiff dem Befehl pünktlich folgen und den Hafen verlassen mußte. Er konnte sich aber gut vorstellen, was nun folgen mochte: die beiden zogen wahrscheinlich gemeinsam gegen die anderen Evansfrauen zu Felde und schließlich in gemeinsamer Wut gegen ihn. Er sah sich schon wegen Bruch des Eheversprechens und wegen Verführung vor dem Richter, wegen Schulden im Gefängnis, wegen Bigamie im Zuchthaus: alle Zukunftsbilder, die er sich ausmalen konnte, waren schwarz und voll bedrohlicher Verwicklungen, und es gab keinen Ausweg mehr, keinen. – Als sich dann gegen drei Uhr morgens sein Leben gegen die Kälte wehren mußte, empfand er nichts anderes mehr als Überdruß und Verzweiflung. Für einen Moment kam ihm die Einsicht, daß er doch sein Leben sehr genossen hatte – viel zu sehr, als daß es so weitergehen konnte – und daß er in dieser Stunde für alles endgültig bezahlen mußte. Beglich er nicht jetzt, hier in der Finsternis in dem eisigen, öligen Wasser, ganz allein seine Rechnung mit dem Leben, dann wurde ihm nachher in der Heimat eine noch schlimmere präsentiert. Er kapitulierte nicht vor der See, nein – aber es wurde ihm so gleichgültig, ob er lebte oder starb, und in dieser Nacht konnte nur klarer, entschlossener Wille einen Menschen am Leben erhalten. Evans rang nicht um die Gnade des Lebens mit der in solcher Lage fast selbstverständlichen Verzweiflung, und seltsamerweise schien der lebensstärkste Teil seines Körpers – jener, der ihn in die tollsten Nöte gebracht hatte – sich jetzt am wenigstens gegen den Tod zu wehren. Nein: die von seinen Lenden aus schnell den Leib durchdringende Kälte war gleichsam ein strenger Verweis von höchster Stelle, als 286
schüttele das Leben selbst, zum ersten und gleichzeitig zum letzten Mal, verneinend das Haupt und warte gelassen die Wirkung ab. Morell starb, wie zufällig, mit französischen Worten, der Sprache seiner Großmutter. Und er starb, wie er die letzte Zeit gelebt hatte: allein. Einen großen Teil dieser bitteren Nacht war er abseits von dem großen Haufen der Schiffbrüchigen geblieben und hatte sich in seiner dicken Kapokschwimmweste regungslos treiben lassen, hatte die im Seegang wiegenden roten Notlämpchen beobachtet und den Rufen und Reden der Angstvollen und Verzweifelten gelauscht. Wie so oft in der Vergangenheit, fühlte er sich erhaben über die Vorgänge in seiner Umgebung. Denn es bestand doch keine Verpflichtung, sich hier der größeren Masse anzuschließen? ›Der Tod‹, dachte er, ›findet mich auch so, dreißig Meter von den übrigen, wenn mir bestimmt ist, daß er mich holt.‹ Das Restchen Leben bis dahin war doch immerhin – fand Morell – seine ganz private Sache. Er dachte sehr viel über Elaine nach, und die Gedanken an sie verließen ihn nicht, solange er selbst ein lebender Mensch blieb: bis fast zum Anbruch des neuen Tages. Dann jedoch kam die Stunde, gegen fünf Uhr früh, da war es, als hätten sein erkalteter Körper und sein matt werdender Geist ihren Kreislauf vollendet und gleichzeitig den Höhepunkt der Erschöpfung und Sinnlosigkeit erreicht. Jetzt sah er ein, daß er sich um Elaine vollkommen zum Narren gemacht, daß er sich albern und wie ein Schwachkopf vor ihr benommen hatte. Eine groteske Ehe hatte er geführt, ständig schwankend zwischen empörten Zweifeln und braver Gutgläubigkeit. In letzter Zeit hatte er sich benommen wie in einem lächerlichen Theaterstück der betrogene Ehemann, der in der grotesken Maske des unsichtbar Gehörnten über die Bretter der Bühne stolziert, während die heimlichen Galane seiner Frau aus den Kulissen lugen und der Zuschauermenge listig zublinzeln. Keine seiner ehelichen Handlungen hatte – das erkannte er jetzt klar – den geringsten Nutzen gehabt: kein vernünftiges Wort, kein flehentliches Bitten, kein Protest waren bei Elaine von Gewicht gewesen. Ob sie ihn liebte oder nicht liebte, nach ihm verlangte oder ohne ihn auskam, ihm treu blieb oder ihn betrog, – was wußte denn er! – sie hielt nur zu ihm, wenn die sinnliche Liebe sie gerade zu ihm zog. Und war das nicht der Fall, dann vermochte er sie nicht an sich zu fesseln, konnte sie niemals durch Worte bewegen, ihn wieder zu lieben… Jetzt, jetzt wurde es ihm, wie selbstverständlich, kristallklar, daß sie sich schon seit langer Zeit nichts, nichts mehr aus ihm machte, in keiner Beziehung. Durch diese trostlose Erkenntnis fühlte er sich noch kälter und ließ sich nun ganz gleichgültig seinem Schicksal entgegentreiben. Lange Zeit trieb er so, 287
gar nichts mehr denkend, und als er sich besann, spürte er, daß dies der Angriff war, den der Schlaf und – der Tod auf ihn machten. Jetzt war alles einerlei: mit gelassener Verzweiflung sammelte er seine Gedanken noch einmal, um das Fazit seines Lebens zu ziehen. Das schien eine langsame mühselige Arbeit des Hirns, doch plötzlich murmelte er laut vor sich hin: »Il y en toujours l'unqui baise, et l'un qui tourne la joue.« Dann legte er den Kopf auf die Seite, als denke er nach, ob sich dieser Satz nicht noch verfeinern ließe, doch keine Verbesserung wollte ihm einfallen: langsam löste sich sein Denken ins Nichts auf, aber sein Kopf blieb liegen wie er war, und auf einmal war diese nachdenkliche Haltung zur frosterstarrten Pose des Todes geworden… Einige – nur ein paar – starben nicht: Kapitänleutnant Ericson, Oberleutnant Lockhart, Radarmaat Sellars, Sanitäter Crowther, Leutnant Ferraby, Maat Phillips, Maschinenmaat Gracey, Heizer Grey, Heizer Spurway, Funker Widdowes, Matrose Tewson. Elf Mann, auf zwei Flößen – sonst war morgens keiner mehr am Leben… Lockhart mußte unwillkürlich an eine Gesellschaft an Land denken – wie allmählich die Gäste einer nach dein andern gingen, teils weil es spät war, teils weil sie sich gestritten hatten, sich langweilten oder müde wurden. Zeitweilig hatte es ausgesehen, als ließe sich in die Sache noch Ordnung bringen: die zwei Flöße, auf jedem ungefähr ein Dutzend Männer und weitere außen an den Haltetauen, waren in der ölschillernden Dünung aufeinander zugepaddelt, während er eine Art Musterung abhielt und feststellen konnte, daß noch über dreißig am Leben waren. Aber das war zu Anfang gewesen, als die Gesellschaft noch verhältnismäßig munter war… Im Lauf der endlos langen Nacht waren jedoch einzelne aus dem Leben geschieden, ohne daß die andern es merkten: zitternd und frierend waren sie sozusagen zwischen zwei Sätzen gestorben. So war eine klare Zählung der Lebenden und Toten nachher nicht mehr möglich gewesen, war völlig sinnlos geworden. Lohnte es sich denn überhaupt noch, die Köpfe zu zählen, wenn sie wahrscheinlich binnen kurzem alle tot waren – es sei denn, sie überlebten die Nacht und die Sonne käme, um sie zu wärmen? Auf den Flößen, in der jämmerlichen Nacht, ließen sich die Gestalten nur noch in sprechende oder schweigende einteilen: gehörte eine nur für Minuten zu den schweigenden, so brauchte sie nicht mehr mitgezählt zu werden, und an ihren Platz rückte vielleicht eine andere Gestalt, die noch einen Rest Leben und Wärme im Leibe hatte. »Herr Gott – ist das eine Kälte!« »Wie weit waren wir denn noch vom Geleit?« »Dreißig Meilen ungefähr.« »Du, Shorty –? Shorty Wilson!« 288
»Hat keiner Jameson gesehen?« »Er war vorn unter der Back.« »Von denen ist keiner mehr ‘rausgekommen.« »Zu beneiden sind die Brüder – lieber das als dies hier, auf jeden Fall.« »Wir haben immerhin ‘ne Chance.« »Da, es wird schon heller.« »Ach was, das ist der Mond.« »Du, Shorty, hör’ doch mal! Wach’ doch auf – « »Sie muß in fünf Minuten weg gewesen sein.« »Genau wie Sorrel.« »Dreißig Meilen? Da müßten sie uns doch auf dem Radar noch haben!?« »Wenn sie gut aufpassen, meinst du.« »Wer fuhr denn Achteraus Sicherung?« »Trefoil.« »Shorty –!« »Wieviel sind auf dem andern Floß?« »Ebensoviele wie hier, denke ich.« »Himmelkreuz – ist das kalt!« »Und Wind kommt auch noch auf.« »Mensch, wenn ich den Hund schnappen könnte, der uns das verpaßt hat!« »Einmal genügt mir.« »Shorty – was ist denn los mit dir?« »Müssen doch hier ganz in der Nähe von Island sein.« »Das brauchst du gar nicht erst noch zu betonen.« »Trefoil ist o.k. Die müssen Compass Rose am Radar verfolgt haben.« »Aber nicht, wenn so’n halb verschlafener Sack am Gerät war!« »Shorty – « »Hör doch auf damit! Kannst du denn nicht sehen, daß der hinüber ist, Mensch?« »Aber er hat doch mit mir gesprochen!« »Das war vor ‘ner Stunde, du Trottel!« »Wilson ist tot, Sir.« »Stimmt das auch?« »Ja, er ist eiskalt.« »Dann kippen Sie ihn ‘runter. – Wer kommt als nächster ‘rauf?« »Noch jemand ohne Fahrschein?« »Ach, was soll ich da auf dem Floß? Da ist’s auch nicht wärmer.« »Verdammt, ist das ‘ne Kälte!« Einmal kam in dieser Nacht die schmale Mondsichel aus dem zerrissenen Gewölk und beleuchtete für Augenblicke das traurige Schauspiel unter sich: 289
silbriger Glanz streifte eine Wasserwüste, in der bei dem scharfen, eisigen Wind kurze harte Wellen aufsprangen. Mondlicht streifte die Silhouetten der auf den Flößen kauernden Männer und der undeutlichen Gestalten, die wie ein bewegter Ring um sie herum lagen. Leichen hoben sich mit den Seen und schwappten in die Täler, die roten Lämpchen brannten ohne Sinn vor ihrer Brust, vor Stunden von ihnen angeknipst, als sie noch Hoffnung und Zuversicht hatten. Nur für Minuten warf der Mond seinen kalten Schein auf die Meeresfläche und auf die Stirnen derer, die noch den Kopf hochzuhalten vermochten. Dann zog er sich zurück, verschleierte sich so rasch in den Wolken, als könne er den Anblick nicht mehr ertragen vor Mitleid und Schrecken. Der Mond hatte genug gesehen und wußte sicher, daß es für Männer in so schlimmer Lage das Beste ist, von der Dunkelheit gnädig zugedeckt zu werden. Ferraby starb nicht. Aber gegen Morgen glaubte er zu sterben, als er Rose, den jungen Signalgasten, in den Armen hielt und der für ihn starb. Während der Nacht hatte Rose auf dem Floß neben ihm gesessen, sie hatten bisweilen miteinander gesprochen und wieder geschwiegen. Ferraby dachte dabei an jene andere Nacht, – es schien schon so lange her – als er mit Rose auf der Brücke ins erste Gespräch gekommen war und sie in der Dunkelheit, weil die Einsamkeit in der noch fremden Umgebung sie bedrückte, eine kameradschaftliche Verbundenheit gefühlt hatten. Jetzt war diese Verbundenheit viel nötiger, und so hatten sie wieder zueinander gefunden in unausgesprochenem Verlangen nach Trost, so jung und so frei von falscher Scham waren sie, daß sie sich bei den Händen hielten… Aber schließlich war Rose ganz still geworden, hatte keine Antwort mehr auf seine Fragen gegeben und war ihm wie im Schlaf gegen den Leib gesunken. Er hatte den Arm um ihn gelegt und ihn, als er weiter zusammenrutschte, auf den Knien gehalten. Erst nach einer ganzen Weile, in der Furcht vor der Antwort, hatte er zu fragen gewagt: »Geht’s Ihnen auch noch gut, Rose?« Und es war keine Antwort gekommen! Er beugte sich nieder und berührte das dem seinen so nahe Gesicht. Und wie in instinktivem Mitleid war es sein Mund, der Rose berührte. Eiskalt zuckten seine Lippen zurück, und er bebte. Nun war er allein… Tränen rannen ihm über die Wangen und fielen in die offenen Augen des andern, der ihn reglos anblickte. Traurig und in Todesangst blieb er so sitzen und hielt den in der Kälte steif werdenden Leichnam des Freundes wie ein totes Kind unter seinem Herzen… Lockhart starb nicht, obwohl ihm viele Male in dieser Nacht die Frage kam, warum er eigentlich leben sollte. Fast die ganzen Stunden der Finsternis blieb er im Wasser nahe beim Floß Zwei, für das er verantwortlich war, und 290
erst gegen Morgen, als dort reichlich Platz geworden war, kletterte er hinauf. Von dieser etwas höheren Warte hielt er Umschau, spürte jetzt die Kälte, roch das Öl, sah das andere Floß ganz in der Nähe und zwischen beiden das aufgewühlte Wasser. Er machte sich Gedanken über die dunklen Schatten, die tote Männer waren, über die am Himmel entlangrasenden Wolken, den einzelnen Stern hoch über sich und das Fauchen des eisig kalten Windes, und als ihn all das schließlich ganz niederdrückte und ihm jede Hoffnung rauben wollte, riß er sich zum letzten Male zusammen mit dem festen Entschluß, sich und die paar Männer auf dem Floß bis zum Morgen am Leben zu erhalten. Er zwang sie, zu singen, die Arme und Beine zu bewegen und sich durch dauerndes Reden wachzuhalten. Er gab ihnen Ohrfeigen, trat sie, brachte das Floß so heftig zum Schaukeln, daß sie sich aufrütteln mußten, um nicht herunterzufallen; er entsann sich aller unanständigen Geschichten, die er je gehört hatte, und es gelang ihm, eine Reihe so geistloser und widerlicher Witze vorzutragen, daß er selbst schamrot geworden wäre, hätte er noch genug warmes Blut im Körper gehabt. Er verlangte die Lösung leichter Denkaufgaben und weckte Ferraby aus seiner Lethargie , den er zwang, sämtliche Gedichte, die er auswendig wußte, aufzusagen; er imitierte alle Charakterrollen eines bekannten Rundfunkkomikers und veranlaßte andere, ebenfalls Rollen zu übernehmen. Er ließ die Männer das Floß in Kreisen umherpaddeln und das Wolgalied singen. Als ihm ein besonderes Spiel seiner Kindheit wieder einfiel, teilte er sie in drei Gruppen, von denen eine ›Russia‹, die andere ›Prussia‹ und die dritte ›Austria‹ schreien mußte – alle zugleich, so daß das Ganze wie ein ungeheures Niesen klang. – Die Männer auf seinem Floß begannen ihn zu verachten, sie haßten schon den Klang seiner Stimme und seinen Optimismus, der sie entsetzte: sie verfluchten ihn ganz offen, und er antwortete ihnen mit gleichem Geschimpfe, indem er ihnen für den Fall ihrer Rückkehr in den Hafen scharfen Arrest und Straflager in rauhen Mengen’ androhte. All dieses gewaltsame Stimmungmachen war ihm nur möglich, weil er eine ihm selbst unbekannte Reserve von Kraft und Energie besaß, die ihm nun zur Rettung verhalf. Als er aus der See auf das Floß geklettert war, fühlte er sich elend steif und durchkältet: die wilde alberne Aktivität und Clownerie belebten ihn rasch, und ein wenig von dieser neuen Kraft teilte sich auch einigen der andern mit. Manche verstanden auch den Sinn in dem Unsinn, sie wurden albern oder energisch und retteten sich so ihr Leben. Sellars, Crowther, Gracey und Tewson starben nicht. Sie befanden sich mit Lockhart und Ferraby auf Floß Zwei, und nur diese sechs waren morgens noch am Leben, obgleich der Schlaf, der ihnen Frieden versprach, sie immer 291
und immer wieder übermäßig lockte. Sie gaben nicht nach. Für Tewson war es das erste Schiff und die erste Reise gewesen: er war ein lustiger Londoner Junge, der die Kameraden in der Nacht wiederholt zum Lachen gebracht hatte durch die kecke Frage: »Passiert so’ne Schweinerei denn auf jeder Reise?« Als Witz war das recht unbedeutend, und es war dennoch – wie wohl am besten Lockhart verstand – gerade das, was sie zur Ermunterung brauchten. Auch andere trugen ihren Teil bei: Sellars sang endlos viele Verse von der ›Hure von Jerusalem‹, Crowther – der Sanitäter, der Tierarzt gewesen war – ahmte Tierstimmen nach. Und Gracey zeigte Proben von Schattenboxen, mit denen er fast das Floß umwarf. Jeder gab auf groteske Art sein Bestes, und das half ihnen zur Erhaltung des Lebens. Phillips, Grey, Spurway und Widdowes starben nicht: sie waren die Überlebenden von Floß Eins, außer dem Kommandanten. Und ihm verdankten sie ihr Leben. Ericson hatte erkannt, genau wie Lockhart, daß gegen den Schlaf immerfort rücksichtslos gekämpft werden mußte, wenn morgens überhaupt noch einer am Leben sein sollte: er hatte deshalb den größten Teil der Nacht dazu benutzt, mit den Männern auf seinem Floß ein regelrechtes Examen über die Pflichten der nächsthöheren Dienstgrade abzuhalten. Er tat das halb ernsthaft, halb spaßig, indem er jedem Mann mindestens dreißig Fragen stellte: war eine Antwort richtig, so mußten die übrigen beifällig klatschen, wenn nicht, mußten sie den ›Versager‹ so laut auslachen wie sie konnten und ihn mit viel Lärm handgreiflich bestrafen. Bei seiner Autorität gelang es Ericson, viele seiner Männer stundenlang munter zu halten: erst als es gegen Morgen ging, fühlte er, wie sein eigenes Gehirn der Anstrengungen müde wurde, so daß das Interesse der andern erlahmte, die Zahl der Teilnehmer kleiner wurde und das Klatschen und Johlen sich zu einem gespenstischen Murmeln verdünnte, einem Stöhnen, das ähnlich klang wie der Wind und wie das Geräusch der kleinen, kalten Wogen, die kräuselnd gegen das Floß klatschten und darauf warteten, sie alle verschlingen zu können. Der Kommandant starb nicht: es war, als sei ihm, nachdem Compass Rose untergegangen, nichts geblieben, für das er sterben konnte. Die nächtliche Mühe mit dem ›Examen‹ war nötig gewesen – er hatte das fast mechanisch gemacht, aber nur als der Kommandant, dem ein Floß mit einigen Männern anvertraut war, für die er sich verantwortlich fühlte: mit seinem Herzen hatte das nichts zu tun. Sein Herz schien ihm wie eingeschrumpft in den wenigen Minuten zwischen dem Schlag, der Compass Rose getroffen hatte, und ihrem Sinken. Er hatte das Schiff geliebt, nicht sentimental, aber mit dem Stolz und der Zuneigung, die sich in den vergangenen drei Jahren ganz von selbst entwickelt hatten. Compass Rose so schimpflich vor seinen Augen zerstört zu sehen, das hatte ihn tief erschüttert. Es gab keine Worte für diese böse Nacht, 292
keinen inneren Widerhall ihrer Wirkung: sie hatte all seine Gefühle betäubt. Aber trotzdem war er nicht gestorben: weil er erst siebenundvierzig war und ein Seemann, zäh und kräftig, und weil er die See verstand, wenn er sie jetzt auch haßte. Alle Männer bei ihm hatten mit Bangen auf das Tageslicht gewartet: Ericson nahm nur stumm zur Kenntnis, daß es endlich da war und somit dieser armselige Rest seiner Besatzung mehr Aussicht hatte, mit dem Leben davon zu kommen. Als der erste graue Schimmer von Osten übers Meer kroch, raffte er sich auf, rüttelte die Männer hoch und zwang sie, ihr Floß nach dem zweiten hinüberzupaddeln, das eine ganze Meile von ihnen abgekommen war. Das zunehmende Tageslicht verbreitete sich um sie, als trage der scharfe Wind es in Stößen heran. Ohne Mitleid fiel es bleich auf das furchtbare Meer, auf die breiten Ölflecke und die treibenden Bündel, die einmal atmende Männer waren. Als die zwei Flöße einander näherkamen, begannen auf beiden die Gestalten zu winken, mit jähen, unsicheren Bewegungen, kaum fähig, zu fassen, daß sie nicht ganz allein waren. Sobald sie in Hörweite kamen, rief einer von Lockharts Floß mit krächzender Stimme etwas herüber, was Phillips – auf dem Floß des Kommandanten – ebenso unverständlich heiser erwiderte. Keiner sagte mehr ein Wort, bis die Flöße sich berührten, aber als sie sich dann genauer in die Gesichter blickten, schüttelten Grauen und Furcht sie. Wie ähnlich waren diese Flöße einander: auf jedem nur wenige, ölgetränkte Männer, die noch aufrecht zu sitzen vermochten, während andere reglos in ihren Armen lagen oder wie Hunde zu ihren Füßen kauerten. Auch außen bei beiden das gleiche Bild: ein grausiger Saum von auf und ab tanzenden Leichen, deren Augen ausdruckslos in den Himmel starrten und deren Hände an die Haltetaue gefroren waren. Zwischen den Toten und Lebenden gab es keine scharfe Trennungslinie: die aufrecht Sitzenden schienen mit den von ihnen betreuten Toten und den elenden Leichen im Wasser in eins zu verschmelzen, als müsse alles verbunden sein zu einem einzigen jammervollen Bilde, dessen ganze Härte die Dämmerung noch halb verhüllte. Ericson zählte die Gestalten auf dem anderen Floß, in denen noch Leben steckte: vier Mann und Lockhart und Ferraby. Sie sahen ebenso fürchterlich aus wie die Männer bei ihm: sie hatten graue, bebende Gesichter, Wangen und Schläfen waren vor Kälte tief eingesunken, alle Glieder taub und blutleer: Männer, die sich in der Dunkelheit dem Tode entzogen hatten und, völlig gebrochen, noch in seinem Schatten hockten, als der Morgen kam. Und insgesamt waren es nur elf… Ericson fuhr sich mit der Hand über die gefrorenen Lippen, räusperte sich und sagte: »Na, I.W.O. – « »Na, Sir?« 293
Lockhart erwiderte Ericsons Blick für einen Moment, dann sah er fort. Was konnte denn gesagt werden – oder was getan, um die Qual dieser Augenblicke zu mildern? Nichts… Der Wind blies ihnen eisig ins Gesicht, die Wellen schwappten und brachen sich in kleinen eiskalten Spritzern an den Rändern der Flöße, die ringsum angeschirrten Toten schwankten wie Tanzende. Jetzt stieg die Sonne hell empor, um gräßliche Einzelheiten bloßzulegen: sie zeigte ihnen, daß ihre zwei Flöße ganz allein auf einer weiten, grausamen Meereswüste lagen, auf einer See, in der viele Leichen zwischen zahllosen Trümmerstücken schwerfällig hin und her rollten, unaufhörlich in treibender Bewegung unter dem öden Winterhimmel. Die elenden Wrackteile auf der verölten, verschmutzten Meeresfläche – diese Reste von Compass Rose – verletzten und schändeten das Auge… ›Das Bild des Jahres‹, dachte Lockhart bitter: ›Morgendämmerung mit Leichen…‹ Und so wurden sie von Viperous gefunden.
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V 1943 GLEICHGEWICHT In dreien von den vierzehn Spiegeln an den Wänden der elegantesten Bar Londons konnte Lockhart sich von drei Seiten sehen, gleichsam wie zur Auswahl. Eine Vorderansicht, ein Rechtsprofil, ein Linksprofil. Da er im Augenblick, auf Ericson wartend, mit dem er hier zu Mittag verabredet war, nichts Besseres zu tun hatte, studierte er grübelnd diese drei verschiedenen Ansichten eines hageren jungen Seeoffiziers, der sich von den Strapazen des aktiven Dienstes erholte. Seine Uniform saß tadellos, das Gesicht war schmal, aber nicht ohne energische Züge: die Schatten unter den Augen waren begreifliche Spuren der jüngsten Vergangenheit… Gegen den Hintergrund dieses ungeheuer überladenen Raumes mit seinem dicken Teppich und den glänzenden Möbeln, in dieser Atmosphäre von Luxus, wirkten Gestalt und Gesicht dieses Mannes vielleicht ein bißchen deplaciert. Zwar sah man hier noch mehr Offiziere von allen drei Waffengattungen an der langen Bar und an verschiedenen Tischen, aber die wirkten kaum kriegsmäßig, sondern so, als hätten sie an den gleichen Plätzen schon seit Beginn des Krieges gesessen. Und die Frauen, die sie bei sich hatten, machten denselben Eindruck, vielleicht noch stärker. ›Aber so ganz falle ich doch nicht aus dem Rahmen‹, dachte Lockhart. Wenn er auch im Auftreten nicht die elegante Selbstverständlichkeit der Stammgäste hatte, so beherrschte er doch zumindest die Ecke des Raumes, in der er saß und deren schwerer blauer Teppich nur seine dunkelblaue Uniform zu unterstreichen schien. Und durch ein weiteres Glas Gin konnte er sich gewiß noch mehr den Anschein eines Stammgastes geben. Er sah sich um. »Kellner!« »Sir?« Der Kellner, ein sehr alter Mann in einer etwas krausen Leinenjacke, erschien neben ihm. »Noch einen Pink Gin, bitte.« – »Pink Gin, Sir –« »Und, Kellner –« »Yes, Sir?« Lockhart wies auf die Wasserkaraffe auf seinem Tisch: »Das Wasser sieht etwas verstaubt aus.« Der alte Mann schnalzte mit der Zunge. »Pardon, Sir.« Er hob die Karaffe hoch, betrachtete sie aufmerksam einen Moment, dann setzte er sie auf sein Tablett. »Ich lasse sofort frisches holen, Sir.« Er neigte sich ein wenig über 295
den Tisch. »Entschuldigen Sie bitte, Sir«, wiederholte er. »Das bringt der Krieg mit sich, leider.« »Ach so«, sagte Lockhart. »Dann ist es nicht so wichtig.« Der Kellner schüttelte den Kopf. »Sie glauben ja gar nicht, wie sich alles verändert hat, Sir. Gesprungene Gläser, nicht genug Eis, Korkstückchen im Sherry…« Er beugte sich wieder herab. »Neulich hatten wir sogar zwischen den Kartoffelchips eine Kakerlake!« Lockhart schluckte. »Müssen Sie mir das erzählen?« »Ich dachte, ich sollte es mal erwähnen, Sir. Wir möchten ja gern unsere Kunden ganz anders bedienen, aber was sollen wir machen? Wir bekommen ja nicht alles so wie früher. Vorige Woche war ein amerikanischer Offizier hier, der beklagte sich über das zu warme Sodawasser.« »Warmes Sodawasser ist ja auch fürchterlich«, sagte Lockhart träumend. »Verdirbt einem den ganzen Geschmack, Sir.« »Ja, das stimmt. Und darin zu schwimmen ist auch scheußlich.« »Wie meinen, Sir?« »Ach, nichts«, sagte Lockhart. »Mir war nur etwas eingefallen.« »Also Pink Gin jetzt, Sir?« »Ja. Und zwar einen doppelten.« Als Lockhart plötzlich hochblickte, sah er Ericson am Eingang zur Bar stehen. Nachdem er ihn einen Moment aufmerksam betrachtet hatte, fügte er hinzu: »Bringen Sie gleich zwei doppelte. Ich glaube, wir haben Grund zum Feiern.« Ericson entdeckte ihn jetzt und begann durch den überfüllten Raum zu seinem Tisch vorzudringen. Lockhart merkte der großen Gestalt eine leichte Verlegenheit an, die er gut verstehen konnte und unbedingt schätzte. Mit so einem Mann konnte man den ganzen Krieg durchhalten… Als Ericson seinen Tisch erreichte, stand er auf und lächelte breit. »Sir«, sagte er, »ich gratuliere Ihnen.« Ericson blickte ein wenig betreten auf seine Mütze, die er unter dem Arm trug. Die funkelnde Goldborte am Mützenschirm verkündete eine noch sehr neue Beförderung. »Danke schön, I.W.O.«, sagte er. »Erst vorige Woche hat man mir’s mitgeteilt. Rein zeitlich fällige Beförderung natürlich.« »Natürlich, weiter gar nichts«, sagte Lockhart gleichmütig. »Aber ich darf trotzdem darauf trinken. Ihr Wohl, Sir.« Er trank den letzten Schluck aus seinem noch stehenden Glas und blickte zur Bar. »Ich habe für Sie einen doppelten Pink bestellt.« »Ja, das ist ganz gut für den Anfang«, sagte Ericson. Die Getränke kamen. Als Ericson sein Glas erhob und ihm zunickte, streifte Lockharts Blick wieder die breite Goldborte der Mütze. Jetzt war er selbst ein wenig verlegen: über zwei Monate hatte er seinen Kommandanten nicht 296
gesehen, und ihr letzter Abschied an der Pier – eine seltsame Mischung von formeller Geste, rauher Gefühlsregung und beiderseitigem Erstaunen über ihre Rettung – war nicht geeignet, hier oder überhaupt wieder im Gedächtnis aufgefrischt zu werden. »Ich zweifle, ob ich es jemals zum Kapitänleutnant bringen werde«, sagte er schließlich. »Die Dienstzeit allein wird nicht genügen, – das hoffe ich wenigstens – und sonst spricht in meinem Fall wohl wenig dafür.« »Seien Sie da nur nicht zu sicher«, sagte Ericson. »Ich war gestern fast den ganzen Tag im Oberkommando: die Dinge kommen wieder in Bewegung.« Lockhart wurde auf einmal von Nervosität gepackt, einem plötzlichen Schreck, den er noch nicht ganz zu unterdrücken gelernt hatte. Wenn die ›Dinge wieder in Bewegung kamen‹, so mußte er sich ja mit ihnen bewegen, und das bedeutete: Schluß mit der hart verdienten Pause, Schluß mit Ausspannung und Erholung – es hieß wieder alles auf sich nehmen. Er wußte, daß Ericson seine Zukunft festgelegt oder zumindest der Admiralität Vorschläge für seine künftige Verwendung unterbreitet hatte – und nun fürchtete er sich beinah, zu erfahren, wie diese Zukunft aussah. Er hatte wohl noch nicht das Gleichgewicht zwischen Beherrschung und Sichfügen wiedererlangt: seine angesichts der Katastrophe mit Compass Rose zum Zerreißen gespannten, bloßgelegten Nerven schienen stets bereit, jede Veränderung so schlimm wie das Ende der Welt zu empfinden; Sogar Ericsons breit betreßte Mütze hatte sehr auf ihn gewirkt: gleichsam wie ein Geheimsignal, daß er alles Bekannte und Vertraute im Stich lassen müsse und nur Veränderungen und Verwicklungen zu gewärtigen habe. Diese verstärkte Goldborte konnte für ihn alles bedeuten: Vereinsamung, peinliche Schwierigkeiten, Abschied… Obwohl er wußte, wie sonderbar das jetzt klang, wechselte er jäh das Thema und fragte: »Was haben Sie denn sonst noch alles gemacht. Haben Sie Morells Frau aufgesucht?« Ericson nickte. »Ja, ich komme gerade aus ihrer Wohnung.« »Wie ging es ihr?« »Sie lag im Bett.« »Oh – Hat es sie sehr hart getroffen?« »Ich glaube, es hat sie fast gar nicht getroffen«, sagte Ericson grimmig. »Es war nämlich jemand bei ihr.« Für einen Moment blickten sie sich an. »Verdammter Krieg«, sagte Lockhart. »Ja, zur Hölle mit ihm«, sagte Ericson. Aus kaum erklärlichem Grunde fühlte Lockhart sich auf einmal wohler, ›Sexus, die Universalkur‹, dachte er. – »Erzählen Sie – und bitte nichts auslassen. Sie hat ihre Zeit wohl gleich tüchtig ausgenutzt?« »Ich glaube, das hat sie wohl schon immer getan«, antwortete Ericson. »A297
ber Sie mögen sich selbst Ihr Urteil bilden. – Also: als ich in die Wohnung kam, öffnete mir ein Mädchen oder eine Aufwartefrau die Tür und erklärte mir gleich rundheraus, Mrs. Morell sei für niemand zu sprechen. Ich wollte aber die Reise nicht umsonst gemacht haben und sagte daher: ›Wollen Sie ihr bitte ausrichten, daß der Kommandant vom früheren Schiff ihres Mannes sie gern ein paar Minuten gesprochen hätte.‹ Sie versprach das und ging.« Ericson hielt inne. »Es ist eigentlich komisch: ich dachte keinen Augenblick daran, daß da irgend etwas nicht stimmte, obwohl ich sehr lange warten mußte. Und dabei hätte ich es einfach erraten müssen, denn die ganze Wohnung roch, was mir gleich aufgefallen war, wie ein Bordell.« »Darüber kann ich nicht urteilen«, sagte Lockhart prüde. »Ich werde Ihnen die Adresse geben, wenn Sie wollen. – Na schon, nach einer Weile kam Mrs. Morell in das Zimmer, in dem ich wartete.« Ericson machte wieder eine Pause. »Hübsch?« fragte Lockhart. »Sehr! – Sie trug einen Morgenmantel, sah aber sonst ordentlich aus. Äußerst pikante Frau. Sie entschuldigte sich, daß sie mich hatte warten lassen, setzte sich und blieb stumm, bis ich anfing zu sprechen. Ich sagte, wie traurig ich über ihren Mann wäre und wie gern wir alle ihn gehabt hätten – die üblichen Worte.« »Aber wahr«, sagte Lockhart. »Aber wahr! – Dann wartete ich, falls sie auch etwas sagen wollte, aber sie saß nur da und schaute mich an. So fragte ich, ob sie über die Torpedierung des Schiffes etwas hören wolle und wie es Morell wahrscheinlich ergangen sei.« Er machte eine Pause. »Sie sagte: ›Nein, darauf bin ich eigentlich gar nicht erpicht, das zu hören. Diese Dinge sind doch immer dieselben, nicht wahr?‹« »Oh«, sagte Lockhart dünn. Ericson nickte. »Allmählich kam ich mir reichlich dumm vor. Da saß sie vor mir, allem Anschein nach eben aus dem Bett gekommen und stellte in sehr bequemer Haltung alle ihre Reize zur Schau – und ich muß sagen, sie hat eine wunderbare Figur: kein Fältchen im Gesicht, sehr schön aufgemacht, und von Trauer war ihr so wenig anzumerken wie dem Mann, der uns versenkt hat. – Es war alles so unwirklich, wenn man sich vorstellt, wie Morell gewesen ist.« Er lachte kurz. »Ehrlich gesagt: ich hatte mir schon eine kleine Rede festgelegt für den Fall, daß sie sehr niedergeschmettert gewesen wäre. So ungefähr: ›Wenn im Augenblick auch alles furchtbar ist, später werden Sie stolz darauf sein können, wie er starb, und auf das, was er geleistet hat‹, aber – bei Gott – das gerade habe ich nicht sagen können… Nach einer Weile wurde es mir zu bunt, und ich stand auf, um zu gehen. Ich sagte: ›Wenn ich 298
irgend etwas für sie tun kann, lassen Sie es mich bitte wissen‹, und sie – sie lächelte mich so freundlich an und sagte: ›Das ist nett – und wenn Sie gern ein paar Karten für unser Stück haben wollen, werde ich sie Ihnen an der Kasse reservieren lassen. Und kommen Sie doch nach Schluß mal hinter die Bühne.‹« Ericson trank langsam seinen Gin aus. Nach einem Augenblick fuhr er fort: »Ich weiß nicht mehr genau, was ich ihr geantwortet habe, aber das Angebot habe ich jedenfalls nicht angenommen. Ich verabschiedete mich, und sie folgte mir in den Vorraum, und gerade als sie die Wohnungstür aufmachte, hörte ich hinter uns mächtigen Spektakel, und eine Männerstimme rief: ›Um Himmelswillen, schmeiß endlich den Seemann raus und komm wieder ins Bett.‹ Ich war inzwischen schon draußen, und als ich mich umdrehte, sagte sie ganz rasch ›Auf Wiedersehen‹, verschloß die Wohnungstür hinter mir, und gleich darauf hörte ich sie hinter der Tür.« »Reden?« fragte Lockhart. »Nein – sie fing an zu lachen.« Die allgemeinen Geräusche in der Bar, die während Ericsons Bericht anscheinend unwillkürlich gedämpft worden waren, schienen jetzt gleichsam über sie hereinzubrechen. Stimmen klangen hier und dort auf, Gläser klirrten auf den Tischplatten, ein Mann und eine Frau kicherten zusammen. Lockhart seufzte leise, hinter seinem Seufzer lagen viele unfruchtbare, widerspruchsvolle Gedanken. Er sagte aber nur: »Ob Morell wohl das alles gewußt hat?« Ericson hob den Kopf. »Nach meinem Eindruck war es dieser Frau völlig einerlei, was geheim blieb und was nicht, wenn sie ihren Willen haben wollte.« »Der arme Morell. Schade um so einen anständigen Menschen.« »Ja, schade um den anständigen Menschen, ganz abgesehen vom Charakter dieser Frau. Schon allein, wenn man seinen Tod mit ihr in Verbindung bringt, verleidet einem das die ganze Sache.« Lockhart nickte. »Das ist wahr…« Er hob sein Glas. »Auf unsere abwesenden Freunde« »Ja, auf die abwesenden Freunde.« Gleich nachdem sie getrunken und ihre Gläser abgesetzt hatten, setzte Lockhart sich zurecht und fragte: »Und das Oberkommando?« Ericson lehnte sich zurück und rieb die Hände, als könne er endlich erfreuliche Nachrichten mitteilen. »Also: es gibt ein neues Schiff, I.W.O.: eine neue Aufgabe, alles neu! Eine Fregatte geben sie mir, den neuesten Typ von Sicherungsfahrzeugen. Und dann haben sie mir das hier gegeben«, – er deutete auf die Goldborte an seiner Mütze – »so daß wir die Führung der Geleitgruppe haben werden. Und Ihnen geben sie einen halben Streifen dazu.« Lockhart zuckte vor Überraschung ordentlich zusammen. »Allmächtiger 299
Gott! Kapitänleutnant? Was haben die denn noch mit mir vor?« »Auf Grund eines noch ganz frischen Flottenbefehls«, antwortete Ericson. »Sie haben das entsprechende Alter und sind lange genug als I.W.O. gefahren, und die nötige Empfehlung haben Sie auch.« Lockhart lächelte. »Von Ihnen wahrscheinlich?« Auch Ericson lächelte. »Ja, von mir. – Aber ein Haken ist dabei. Eigentlich für midi einer, wenn ich’s recht besehe.« Er machte eine Pause. »Wie gesagt: ich soll als dienstältester Gruppenoffizier fungieren. Man hat mir einen Kapitänleutnant als Ersten Offizier bewilligt, der nicht nur für mein eigenes Schiff, sondern gleichzeitig für die Gruppe mit verantwortlich sein soll. Also der Job ist diesem Dienstrang angemessen. Man hat mir auch gesagt, ich könnte Sie nehmen, wenn ich wollte. Und ich sagte, das wüßte ich noch nicht.« Lockhart wartete ab, was hinter Ericsons letztem Satz stecken mochte. Zweifelte der vielleicht, ob er dieser Stellung gewachsen sei, oder hatte er gemerkt, daß seine Nerven noch nicht wieder ganz intakt waren – oder warum drückte er sich so unbestimmt aus? Es war ein ganz anderer Grund, als er dachte. »Hören Sie gut zu«, sagte Ericson, »mit Ihnen spreche ich vollkommen offen. Sie können Ihr eigenes Kommando haben, wenn Sie wollen, das heißt: auf einer Korvette. Ein paar andere I.W.O.’s sind schon entsprechend befördert, und Sie könnten das ja spielend leisten. Das könnte ich Ihnen auch in einer Empfehlung bestätigen.« Ericson sah wieder ein bißchen verlegen aus. »Ich weiß nicht recht, wie Sie darüber denken: wenn Sie bei mir blieben, würde sich dadurch ein eigenes Kommando für Sie um mindestens ein Jahr verschieben, oder Sie bekämen womöglich gar keins. Sowas passiert manchmal, wenn gerade der richtige Zeitpunkt da ist, sozusagen ruckweise, oder es passiert gar nicht. Der Job bei mir – als dienstältester I.W.O. der Gruppe – ist gut, und ich möchte Sie sehr gern bei mir behalten, aber es wäre eben nicht die höchste, erreichbare Stellung für Sie, da will ich Ihnen gar nichts vormachen.« Er lachte plötzlich. »Das ist alles ein bißchen peinlich. Da müssen Sie sich schon ganz allein entscheiden. Ich werde Ihnen weder zureden noch abraten.« Lockhart vermochte in diesem entscheidenden Moment rasch zu denken. ›A oder B‹, dachte er: ›ich stehe am Kreuzweg meiner Karriere, die Wahl mag liegen zwischen Ruhm und Unbekanntsein, zwischen Leben und Sterben.‹ Dann dachte er: ›Alles Nonsens: ich brauche es gar nicht gegeneinander aufzuwiegen. Wir beide passen so gut zusammen, – besser könnte es gar nicht sein – und es ist ein Geschenk des Himmels, daß wir gemeinsam weitermachen dürfen. Warum also darum herumreden, warum ein Dilemma 300
konstruieren, wo gar keins ist?‹ Er lächelte wieder, lehnte sich zurück, fingerte an seinem Glas und sagte: »Erzählen Sie mir von dem neuen Schiff.« Ericsons Blick ließ genau das erkennen, was er eben versprochen hatte, nicht tun zu wollen: er brauchte es jetzt nicht noch einmal zu wiederholen. Statt dessen sagte er: »Es ist eine neue Klasse, – Fregatten – und das sind beachtliche Schiffe. Größe und Bauart dem Zerstörer ähnlich: acht oder neun Offiziere und ungefähr hundertsechzig Mann. Modernste Ausrüstung: Turbinen, Doppelschrauben, drei dicke Geschütze, neues Horchgerät, neue Radaranlage! Die Gruppe wird wahrscheinlich aus drei Fregatten und vier oder fünf Korvetten bestehen, wir hätten also allerhand zu tun, wenn wir die richtig beschäftigen und auf Draht halten wollen. Unsere ist übrigens noch im Bau, am Clyde. Wir werden sie erst in ein paar Monaten in Dienst stellen.« »Wie heißt sie denn?« »Saltash. Die Klasse hat ihre Namen nach Flüssen.« »Saltash –.« Lockhart schmeckte den Namen gewissermaßen ab. Es kam ihm sonderbar vor, sich an einen neuen Schiffsnamen gewöhnen zu müssen. »Klingt gut, finde ich«, sagte er, »aber von einem Fluß dieses Namens habe ich noch nichts gehört.« »Ist auch nur ein ganz kleiner in Northumberland, kaum bekannt«, antwortete Ericson. »Ich habe nachgeschlagen. Mündet in den Tyne. Steht gar nicht auf der Landkarte.« »Na, aber jetzt kommt er drauf«, sagte Lockhart ganz kriegerisch. Er schnippte mit den Fingern. »Kellner! Bringen Sie noch viel mehr Pink Gin. – Saltash«, sagte er wieder. »Ja, ich glaube, wir werden etwas aus ihr machen«. Sie aßen gut zu Mittag und wurden zuletzt sehr vergnügt. Lockhart fühlte sich, nachdem er einmal genauer wußte, wie sein neuer Kurs lief, viel wohler, und Ericson schien, von seiner Stimmung angesteckt, ebenfalls die Gedanken von der dunklen Vergangenheit loszureißen und alle Hoffnung auf die Zukunft zu setzen. Wie in Ferienstimmung verabredeten sie für später eine Zusammenkunft in Glasgow, nach der sie zum ersten Mal ihr neues Schiff besichtigen wollten, über die Tatsache, daß sie weiterhin miteinander zur See fahren würden, blieb vieles ungesagt, aber sie schienen es beide als selbstverständlich zu empfinden, daß wohl keine andere Regelung, einerlei wie große Aussichten sie bieten mochte, sie befriedigt hätte, daß vielmehr ihre Zukunft schon durch die Vergangenheit bestimmt war. ›Wenn wir beide zufrieden sind‹, dachte Lockhart, während er Ericson beobachtete, der an einer ungewohnten Zigarre sog, ›dann können wir beide von Glück sagen und wollen es dabei belassen: viel mehr als dies wird uns der Krieg nicht zu bieten haben. – In diesem Gedanken spukt zwar eine Menge Gin mit und auch eine ganze Portion Rotwein‹, überlegte er, ›aber es ist trotzdem ein schöner Gedanke, ein 301
kostbarer Gedanke.‹ »Sir«, sagte er laut, »ich habe eben einen kostbaren Gedanken gehabt.« »Ich auch«, nickte Ericson. »Cognac oder Benediktiner?« Aber noch in derselben Woche fand Lockhart, als er allein war, daß die Vergangenheit noch lebte und sich nicht einfach dadurch aus dem Gedächtnis streichen ließ, daß man sich nur mit der Zukunft beschäftigte. Er wurde von der Vergangenheit sozusagen in einem unbewachten Moment überrascht und gezwungen, einen letzten unfreiwilligen Blick auf Compass Rose zurückzuwerfen, so daß tiefe Rührung ihn packte. Er war in die Nationalgalerie am Trafalgar Square gegangen, um eins der Vormittagskonzerte zu hören, die von den Londonern seit kurzem in Massen besucht wurden. Diese große Zahl von Zuhörern schüchterte ihn ein: er suchte sich daher im Hintergrund einen Platz neben einem Pfeiler, der ihn halb verdeckte. Die Pianistin Myra Heß spielte Chopin. In die vollkommene Stille, die die Hörer ihr gewährten, tropften die wunderbaren Töne wie köstlich geformte, zu feinem Schmuck verbundene Edelsteine. Klar geformt und gleichzeitig fließend lebendig, drangen sie ins Herz. Er lauschte andächtig dieser Musik, ohne auf die Umgebung zu achten. Die Pianistin spielte zwei sanfte Nocturnos und dann eine der Etüden – mit einem tief abfallenden Motiv, das schauerlich klagend klang. Lockhart saß zurückgelehnt da: diese Musik trug ihn wie ein Kind von Note zu Note, von Satz zu Satz. Er mußte auf einmal tief Atem holen, und da spürte er, daß er weinte. Er wußte genau, weshalb. Haltlos weinte er um die vielen Dinge, die er vergessen zu haben hoffte. Und weinte nicht nur, weil noch Schwäche und nervöse Empfindlichkeit ihn beeinflußten, zwei Monate nach dem entsetzlichen Schicksalsschlag, nein: diese Tränen wurden in ihm geweckt von Compass Rose selbst, von der Erinnerung an seine Liebe, die ihr gehörte, und an die Mühen, die er sich um sie gegeben, und an die vielen Toten. Und an andere außer den Toten… Nicht lange vorher hatte er Ferraby, der immer noch krank lag, im Lazarett besucht. Als er ihn da in dem weißen Bett liegen sah, vermochte er sich kaum vorzustellen, daß Ferraby jemals wieder aufstehen würde: er war die Ruine eines jungen Menschen, mager, abgezehrt, unerträglich nervös. Sein Kopf auf dem Kissen glich einem feuchten Totenschädel. Um seine Handgelenke war ein Bindfaden geschlungen. »Das ist mein Bindfaden«, hatte er verlegen gesagt, indem er damit zu spielen begann. Um dann, ein wenig fester, hinzuzufügen: »Den haben sie mir für meine Nerven gegeben. Ich soll immer damit spielen, wenn mir einfällt, daß ich irgend etwas tun möchte, haben sie 302
gesagt.« Während er sprach, zerrte und riß er mit verkrümmten Fingern an dem Band, knotete und verdrehte es und ließ es wie ein Pendel schwingen. Dann sagte er: »Es geht mir aber schon viel besser«, drehte sich auf dem Kissen herum und begann zu weinen. Er hatte so geweint wie Lockhart jetzt weinte: vielleicht waren es die gleichen Tränen, vielleicht andere. Viele Tränen konnten für Compass Rose fließen, allzuviele mußten unterdrückt, verschluckt, übersehen werden. Lockhart drehte sich zur Seite und versuchte, sein zuckendes Gesicht und den bebenden Mund wieder zu beherrschen. Die Musik hörte auf: Beifall erfüllte die Halle. Ein in der Nähe sitzendes Mädchen starrte ihn an und flüsterte dann ihrem Begleiter etwas zu. Unter ihrem forschenden Blick erhob er sich mit ungeschickten Bewegungen und ging in eine der leeren Galerie-Säle. Die Kehle schmerzte ihn, doch die Tränen fielen nicht mehr, sie trockneten auf seinen Wangen. ›Na schön, ich habe geweint‹, dachte er. ›Was ist dabei? Jemand muß doch für Compass Rose weinen, denn das hat sie verdient. Es schadet nichts, daß ich es bin – bei dieser Musik, bei den Gedanken an alle die Toten, an das vernichtete Schiff… Die Musik hat das Weinen ausgelöst, aber kommen mußte es sowieso: ich will lieber bei Chopin weinen, als wenn ich allein bin oder beim Trinken oder vor einer Frau. Als diese traurige und schöne Musik begann, muß ich schon unbewußt an die Männer unseres Schiffes gedacht haben, an Tallow, der seinen Platz auf dem Floß einem andern gab. Und gegen die Tränen war ich machtlos. Aber nun, da sie heraus sind, fühle ich mich leichter: das war etwas, das einmal geschehen mußte, und es ist vorüber, hat nichts gekostet, nichts verdorben und nichts bewiesen, nur: daß die Vergangenheit traurig und trostlos ist und daß die Musik manchmal genau auf den empfindlichen Punkt trifft und das ausdrückt, was man fühlt…‹ Der Schmerz in seiner Kehle ließ nach, er ging zurück, blieb im Eingang zur Musikgalerie stehen und lehnte sich gegen eine Säule. Als nach einer Pause das Klavier wieder erklang, fand er, daß die Töne die Kraft, ihn weichzumachen, verloren hatten und er sie ohne Rührung anhören konnte. Und später wurde ihm auch bewußt, daß dies für ihn die letzte Stunde der Trauer gewesen war. Wieder die Werften am Clyde. – Ericson erkannte mit einem Blick, um wieviel fleißiger dort geschafft wurde im Vergleich zu den Tagen von 1939, als der Clyde eben den Kriegsbetrieb aufnahm und es hier noch Platz gab und freie Zeit. Wie anders jetzt: von Renfrew bis nach Greenock hinab schienen die Ufer dicht an dicht besetzt mit Schiffen in jedem Baustadium, und die Männer, die an ihnen arbeiteten, waren sehr fleißig. Es war ihnen anzumer303
ken, daß sie, im Gegensatz zu früher, recht schnell mit einem Schiff fertigwerden wollten, um das nächste zu beginnen. Das Tempo des Clyde hatte sich vollkommen verändert. Immer stärkeren Ansporn hatten die wachsenden Versenkungsziffern vom Atlantik gegeben, Luftangriffe hatten den Willen, zurückzuschlagen, verstärkt, und die neuen Meldungen aus Afrika, wo die britische Armee, die sich bisher kaum behaupten konnte, vorwärtsrückte zum Sieg, waren der allerbeste Anlaß für den Wunsch, an diesem Vormarsch so oder so Anteil zu haben und den Krieg ein für allemal beenden zu helfen. Jetzt war der Clyde auf dem Gipfel seiner Leistungsfähigkeit: nach fast vier Jahren wachsender Arbeit stand den Männern, die überall an seinen Ufern werkten, sicherlich eine Pause zu, aber das Verlangen danach kam nirgends in einem Nachlassen des Tempos oder der Sorgfalt zum Ausdruck, sondern nur in der hastenden Ungeduld. Die Arbeitsleistungen waren bewundernswert gleichmäßig und gründlich. Saltash, ein erst halbfertiges Produkt des Clyde, lag am Ausrüstungskai gegenüber der Werft von John Brown. Aus der Nähe betrachtet wirkte die Fregatte enorm groß: für Ericson und Lockhart, die von der Pier aus an ihr emporblickten, war sie ein fast furchterregendes Symbol für die Größe und das Gewicht ihrer neuen Aufgabe, die jetzt angepackt werden mußte. »Sieht ja aus wie ein Wohnblock«, sagte Ericson, der das Schiff mit einem Blick umfaßte: von dem scharfen Umriß des über ihren Köpfen hoch und weit ausladenden Buges, über den ragenden Brückenaufbau und das eiserne Oberdeck hinweg bis zu dem vierkant geschnittenen Heck. Und wirklich: Saltash war so groß, so massiv, so gewichtig, daß sie zu den langen großen Werkhallen der Werft paßte und wie ein Bestandteil der riesigen Anlage wirkte. Und dieses mächtige Ding mußten sie nun bald in See führen… Von der Pier aus bot Saltash das dem Seemann vertraute Bild eines heillos unordentlichen Schiffes, das sich noch nicht vom Festland befreien kann: ihr marinegrauer Grundanstrich war verkratzt, beschädigt, von Mennige rot befleckt, an Deck war alles verschmutzt, bestreut mit den Abfällen wochenlanger Werftarbeiten, und das tolle Geprassel der Niethämmer, mit denen auf dem Vorschiff noch gearbeitet wurde, bildete die Begleitmusik für die ganze Unordnung. Ja, Saltash war so schmutzig, so von Lärm erfüllt und so unordentlich, daß gleichgültige Passanten sie wohl kaum besonders beachtet hätten. Ericson aber hatte es nicht über sich gebracht, nur an ihr vorüberzugehen – sonst wäre er nicht der Seemann gewesen, der er war. Er ging vor Lockhart her über die einfache Laufplanke an Bord und betrat das mit Kisten und leeren Ölfässern vollgestellte Deck. Hier war der Eindruck von der Größe des Schiffes und seinen vielfältigen Einrichtungen noch 304
imposanter: selbst wenn er sich den ganzen Wirrwarr der Werftarbeiten wegdachte, gab es eine gewaltige Menge von Einzelheiten, die er in sich aufnehmen und beherrschen mußte. Saltash war über dreihundert Fuß lang und schien aus vielen Stockwerken zu bestehen, die, steil übereinander gesetzt, in beachtliche Höhe ragten: vom Achterdeck übers Vorschiff, das Flaggdeck, die Brücke, die obere Brücke, das Krähennest, bis zu den Drähten der Funkantennen an der Mastspitze. Das Schiff war schon überladen mit Ausrüstungsstücken, und allen Anzeichen nach sollte noch vielerlei dazukommen: es war Laderaum vorhanden für einen gewaltigen Vorrat von Wasserbomben, es gab zahlreiche Schlauchboote und Rettungsnetze und Dutzende von Bereitschaftskästen für Geschützmunition. ›Geschütze‹, dachte Ericson anerkennend. Viele Geschütze waren hier, nicht bloß ein halbes wie auf den Korvetten: drei schwere, eine Viererflak und ein Dutzend Oerlikons, die wie Stechpalmenzweige überall vom Deck abstachen. Als besondere Verbesserung war da ein elektrisch betriebener Aufzug von der Munitionskammer, der den wirkungsvollen und pausenlosen Einsatz aller Waffen ermöglichte. Zwei große Motorkutter, Richtgeräte, ganz neue Werfer, die einen wahren Regen kleiner Wasserbomben über Bord schleudern konnten; Echolote, eine Vorrichtung zur Abwehr von Geräuschtorpedos – das alles entdeckte Ericson gleich beim flüchtigen Überblick. Die Dinge verlangten eine komplizierte Lenkung und viel neue Kenntnisse, aber sie versprachen auch in ihrer praktischen Anwendung dem Schiff respektgebietende Kampfkraft. Während Lockhart sich Minensuchgeräte, die ihnen beiden vollkommen neu waren, genauer ansah, kletterte Ericson in den Maschinenraum hinab. Die steilen Eisenleitern, die bis unten in den Schiffsleib führten, wurden eine nach der andern immer öliger und verschmierter, so daß seine Hände und Rockärmel, bis er unten anlangte, ziemlich schmutzig waren. Der durch die Arbeitslampen nur mangelhaft erhellte Maschinenraum schien aus einer unentwirrbaren Masse nicht zueinander gehöriger Teile zu bestehen, und es war kalt und feucht da unten. Eine Gruppe Werftarbeiter war an den Ölheizrohren beschäftigt, ihnen gegenüber prüfte ein Mann in weißem Overall und Marinemütze mit der Taschenlampe die Hauptschalttafel. Er drehte sich um, als er Ericsons Schritt hinter sich hörte, und Ericson betrachtete ihn genauer. Der Mann war klein, etwa vierzig Jahre alt, hatte dünnes, schon ergrauendes Haar und ein braunes Gesicht, aus dem Energie und Können sprachen. In dem Augenblick, als er die goldbetreßte Mütze, die drei goldenen Ärmelstreifen und das Band des D.S.C. an Ericsons Schulter entdeckte, kam unwillkürlich ein Ausdruck anerzogener und selbstverständlicher Ergebenheit in das Gesicht. »Ich bin der Kommandant«, sagte Ericson nach einer Weile. »Sind Sie mein Leitender Ingenieur?« 305
»Yes, Sir«, antwortete der andere mit einer gewissen Zurückhaltung. »Johnson, Ingenieur-Offizier.« »Wie fühlen Sie sich hier, L.I., und wie weit sind wir mit den Maschinen?« Johnson machte eine umfassende Armbewegung. »Von den Hauptmaschinen haben wir schon alles unten, Sir. Ich bin jetzt drei Wochen hier, aber an der Ausrüstung war ja schon lange vorher gearbeitet worden. Jetzt montiert die Werft gerade die Ventilatoren und Lichtmaschinen, der Inspektor meint, daß es bis zur Probefahrt noch einen Monat dauern wird.« »Klingt ja vielversprechend. – Auf welchem Schiff waren Sie vorher, L.I.?« »Manacle, Sir. Zerstörer. Meistens im Mittelmeer.« »Fahren Sie zum erstenmal als L.I.?« »Yes, Sir.« Johnson zögerte. »Das heißt: als Offizier. Ich bin gerade befördert worden.« Ericson nickte zufrieden. Ein noch junger Ingenieuroffizier, eben erst vom Obermaschinisten befördert und mit Fahrzeit auf Zerstörern, das klang ganz annehmbar. Wahrscheinlich verlangte das neue Kommando hier alles von ihm, was er gelernt hatte. Ein Zweitausendtonnenschiff mit zwei Turbinen gehörte nicht mehr zu den ›einfachen‹ Typen einer Compass Rose: es stellte eine gewaltige, komplizierte Maschinerie dar, die fast ununterbrochen die aufmerksamste Behandlung verlangte. – Er bemerkte, wie Johnson ihm unsicher auf die Hände blickte und sagte: »Ja, ich bin auf dem Wege hier herunter ein bißchen schmutzig geworden.« »Ich werde Ihnen gleich ein Paar Handschuhe besorgen, Sir, wenn Sie wünschen«, entschuldigte sich Johnson sofort hilfsbereit. »Das ganze Schiff ist ja leider so dreckig. Den Kerls von der Werft scheint das ganz egal zu sein.« Ericson nickte wieder, »Ich weiß, aber in diesem Stadium läßt sich wenig dagegen tun. Ja, besorgen Sie mir Handschuhe und auch einen Overall, wenn Sie haben: ich werde in den nächsten Wochen viel herumklettern müssen.« »Wollen Sie sich mal alles ansehen, Sir?« »Noch nicht, L.I. Ich will warten, bis alles mehr in Schuß ist.« Er schwieg, um das Gespräch zu beenden. Johnson fragte etwas zaghaft: »Welches Schiff hatten Sie zuletzt, Sir?« »Eine Korvette. Compass Rose.« Sofort spannte sich Johnsons Gesicht. Ericson dachte: ›Aha, er hat von Compass Rose gehört, weiß vielleicht sogar Einzelheiten: daß sie in sieben Minuten gesunken ist und wir achtzig Mann von einundneunzig verloren haben. Das weiß er alles, wie jeder bei der Marine es weiß, ob er auf Zerstörern im Mittelmeer fährt oder oben in Scapa Flow stationiert ist: jeder 306
Schiffsverlust wird wie ein Familienunglück empfunden. Tausende von Seeleuten waren erschüttert, als sie vom Untergang meines Schiffes lasen, und einer von ihnen war dieser Johnson, obwohl er nie näher als tausend Seemeilen bei Compass Rose gewesen ist und vorher nicht einmal ihren Namen gehört hatte‹. Da er spürte, daß Johnson ihn immer noch so anstarrte, sagte er mit Überwindung: »Sie wurde torpediert.« Johnson nickte: »Ja, ich weiß, Sir.« Mehr hatten beide dazu nicht zu sagen… Als Ericson den Maschinenraum verließ, stieg er auf die Brücke. Damit hatte er bis zuletzt gewartet, und jetzt war es soweit. – Kein Mensch war dort: seine Schritte hinterließen frische Spuren in dem Rauhreif, der das Deck überzog. Was ihm zuerst auffiel, war die Geräumigkeit, dann die vielen Armaturen an der Vorderseite: Reihen von Telefonen, ganze Batterien von Sprachrohren, besondere Nebenempfänger vom Radargerät, ein großes Kartenhaus hinter der Brücke, Instrumente für die Artillerieleitung und ein wirklich riesenhaftes Asdic. Außerdem ein beleuchteter Planungstisch, auf dem jede Bewegung des Schiffes elektrisch angezeigt wurde, ein weites Signaldeck mit zwei übergroßen Signalscheinwerfern. ›Hier oben brauchen wir in See allerhand Leute‹, überlegte er: ›zwei Wachoffiziere, zwei Signalgasten, zwei Posten Ausguck, zwei Mann für das Horchgerät, einen Läufer Brücke – mindestens also neun, auch schon bei normaler Marschfahrt‹. Von diesem alles überwachenden Mittelpunkt aus ließ sich das Schiff gewiß gut führen… Aber dann fühlte er plötzlich, als er langsam vorn an die Brücke trat und aufs Vorschiff mit den zwei verdeckten Geschützen hinabblickte, wie vergeblich doch alles war. Gewiß konnte er das Schiff vor dieser breiten, hohen Plattform aus mit den zahlreichen technischen Hilfsmitteln kommandieren, aber mit welchem Ergebnis letzten Endes? Was war denn seinem vorigen Schiff passiert –? Er erschauerte unwillkürlich in der rauhen Morgenluft und hielt sich an der brusthohen Brückenpanzerung fest, als müsse er sich gegen den Anprall eines mächtigen Brechers stemmen: der schwarze, ölig glänzende Clyde, der sich tief unter ihm am Schiff entlangschlängelte, erinnerte ihn unangenehm an die See, die draußen auf sie lauerte. Er hatte gehofft, allmählich von diesen Gedanken loszukommen, die ihn in den letzten zwei Monaten so oft verfolgt hatten, jedoch nicht geahnt, daß sie ihn abermals so stark packen würden, sobald er wieder auf der Brücke eines Schiffes stand. Er mußte sich von ihnen befreien, und da gab es nur eine Kur… Er schritt quer über die Brücke zur Treppe, um seine Kajüte aufzusuchen. Unterwegs traf er Lockhart. »Sammeln Sie alle Pläne und was der L.I. sonst noch hat«, sagte er fast 307
scharf. »Wir müssen sehen, daß wir das Schiff gleich von Anfang an gründlich kennenlernen.« Nun begann alles wieder von neuem. Als einige Tage später der nächste Offizier eintraf, erlebte Lockhart eine Überraschung. Als er in der kleinen Baracke, die dem Schiff für die Ausrüstungszeit zur Verfügung stand, auf Grund der Besatzungsliste provisorisch die Wachen einteilte, ging plötzlich die Tür hinter ihm auf und jemand fragte: »Sagen Sie – komme ich hier zur Saltash?«. Dieser Ton, dieser Akzent! – Mit einem Ruck fuhr er im Stuhl herum, atmete aber sogleich auf. Es war nicht Bennett, ihr ehemaliger australischer I.W.O. Die Ähnlichkeit der Stimme war allerdings frappant: die Worte eben hatten denselben nasalen Klang, dieselben breit gedehnten Vokale, die in ihm manche ärgerliche und unliebsame Erinnerung wachriefen. Der neue Mann war ein schlanker Oberleutnant mit frischem Gesicht, in einer KammgarnUniform von auffallend hellem Blau. Er stand ganz vertraulich im Türrahmen, doch als sein Blick auf Lockharts Ärmel fiel, richtete er sich sofort auf und sagte: »Verzeihen Sie die Störung, Sir. Ich suche die Saltash.« Lockhart, der wie gebannt auf die Stimme lauschte, riß sich zusammen. »Dann sind Sie hier richtig – die dort drüben ist es.« Er wies aus dem Fenster auf den grauen, unordentlichen Schiffsrumpf. »Wer sind Sie?« »Allingham, Sir. Artillerieoffizier.« »Australier?« »Ja. R.A.N.V.R.« Er blickte wieder auf Lockharts zweieinhalb Ärmelstreifen. »Sind Sie der Kommandant, Sir?« »Nein – der Erste Offizier. Der Kommandant ist Kapitän.« Allingham gab, offenbar sehr gern, seine dienstliche Haltung wieder auf. »Dicke Sachen… Aber warum so viel Lametta?« »Wir haben die Führung der Geleitgruppe zu übernehmen«, sagte Lockhart beinah schroff. Wenn er diese ihm unsympathische Sprache hörte, war er sofort in der Abwehr und reagierte entsprechend auf jede Anmaßung. »Demnach fungiere ich als dienstältester I.W.O.« Allingham nickte. »Durchaus in Ordnung. Wie ist denn das Schiff?« »Sieht noch wüst aus«, antwortete Lockhart. »Wird sich aber gut machen.« Er entspannte ein wenig. »Sie haben jedenfalls Geschütze genug für Ihren Job.« »Ah, tadellos!« Wieder riefen Tonfall und Ausdrucksweise in Lockhart so aufreizende Erinnerungen wach, daß er sich nicht mehr enthalten konnte, darauf hinzuweisen. »Wir hatten auf meinem ersten Schiff einen Australier als I.W.O. – Bennett hieß er.« »Doch nicht Jim Bennett?« 308
»Ich glaube, ja.« Allingham pfiff durch die Zähne. »Sagen Sie – der hat sich doch hier oben ziemlich hervorgetan, wie?« »Nein«, erwiderte Lockhart, »das kann ich nicht gerade behaupten.« Allingham legte seine Mütze und die Gasmaske auf den Tisch. »Aber wenn es derselbe Mann war, dann hat er allerhand geleistet. Ich habe in Australien Vorträge von ihm gehört.« »Vorträge?« fragte Lockhart tonlos. »Ja. Er ist nämlich jetzt an Land. Hatte er nicht einen Nervenzusammenbruch damals, nach Versenkung der U-Boote?« »Davon weiß ich nichts«, sagte Lockhart. »Ist mir ganz neu.« »Oh, der ist bei uns zu Hause berühmt. Eine Type für sich. Wenn ich recht erinnere, war er auf der Compass Rose. Der Kommandant erkrankte, Bennett führte das Schiff als Geleitschutz, und sie erledigten nach viertägigem Kampf zwei U-Boote. Und da er ununterbrochen auf der Brücke geblieben war, brach er hinterher zusammen.« Allingham machte eine Pause. »Unter uns gesagt: ein paar Zeitungen haben ziemlich gestänkert, daß er keinen Orden für die Sache gekriegt hat. Ist das nun derselbe Bennett?« »Kein anderer.« Lockhart versuchte sich zu konzentrieren. »Der reist also umher und hält Vorträge, wie Sie eben erklärten?« »Natürlich. Er wurde für eine Rekrutierungskampagne eingesetzt. Spricht auch in Fabriken – und macht noch mehr solchen Unfug. Es heißt ja, daß dadurch die Produktion angeregt wird.« »Mich jedenfalls regt es auf«, sagte Lockhart gemessen. »Als ich Bennett zuletzt sah, litt er kläglich an einem Zwölffingerdarmgeschwür, weil er zu hastig Dosenwürstchen gegessen hatte. Er verließ Compass Rose und ging an Land ins Lazarett.« »Keine U-Boote also?« fragte Allingham erstaunt. »Kein Nervenzusammenbruch?« Lockhart schüttelte den Kopf, »Das U-Boot und die Nervenprobe blieben uns überlassen.« Allingham lachte. »Da sieh einer den alten Jim Bennett! Verstand aber gut zu reden.« »Er war ein übler Patron«, sagte Lockhart kurz, »ich verabscheue ihn.« Ein Unterton in seinen Worten ließ Allingham aufhorchen. Er zögerte, bevor er mit einem gewissen Nachdruck antwortete: »Sie sind aber nicht alle so drüben in meiner Heimat.« »Das beginne ich allmählich einzusehen«. Lockhart lächelte. Der andere erwiderte sein Lächeln, nahm wieder lockere Haltung an und 309
ließ das gefährliche Thema auf sich beruhen. »Sie können nicht alle so sein«, fuhr Lockhart fort, »sonst hätte Australien längst in Stücke zerfallen müssen.« Er erhob sich. »Wollen nicht mehr daran denken. Kommen Sie, das Schiff ansehen.« Der Saltash standen acht Offiziere zu: außer Ericson, Lockhart, Johnson und Allingham waren dem Schiff zugeteilt ein Stabsarzt, zwei Leutnants – einer als Navigationsoffizier– und ein Fähnrich als Schriftoffizier für den Kommandanten. Ihr erstes offizielles Beisammensein in der geräumigen Messe rief in Ericson sehr klare Erinnerungen wach. Er bemerkte, besonders bei den jüngeren, die gleiche Zurückhaltung, das gleiche vorsichtige Forschen wie damals bei Lockhart und Ferraby, als die beiden vorsichtig zu ergründen suchten, wodurch sie sich in ihrer neuen Umgebung beliebt oder unbeliebt machen konnten. Das war aber auch alles, was an die damalige Situation erinnerte, stellte Ericson fest, während er die um den Tisch sitzenden Männer betrachtete; diesmal waren es nämlich keine unbefahrenen Offiziere – mit Ausnahme des Fähnrichs waren alle schon draußen gewesen und kannten den Geleitdienst von der besten und der schlimmsten Seite. Eins war sicher: dieses Schiff brauchte er nicht in See zu führen mit zwei neugebackenen Leutnants, die noch nie eine Kriegswache gegangen waren, und nicht mit einem Ersten Wachoffizier von dem sonderbaren Kaliber eines Bennett… Er wartete, bis alle ihre Plätze eingenommen hatten, dann klopfte er auf den Tisch. »Ich habe Sie hier versammelt«, begann er, »um Sie näher kennenzulernen und auch um mir einen Begriff zu machen von Ihren Leistungen vor der Kommandierung auf Saltash.« Er ließ den Blick ringsum über die aufmerksamen Gesichter wandern. »Einige von Ihnen sind mir schon bekannt: der I.W.O. war schon auf dem vorigen Schiff bei mir, und« – er lächelte Johnson zu – »mit dem L.I. habe ich mich bereits unterhalten. Was die übrigen Herren betrifft, so kenne ich von ihnen bisher nur die Namen.« Er überprüfte die Liste, die vor ihm lag. »Fangen wir mit Ihnen an, A.O. Sie haben vermutlich die weiteste Reise unternommen, um zu uns zu stoßen. Was hatten Sie bisher für Dienst gemacht?« »Minensuche, Sir«, antwortete Allingham prompt, als sei er durchaus gewöhnt, bei solchen Gelegenheiten zuerst gefragt zu werden. »Rund um die australische Nordküste, vorwiegend in Port Darwin stationiert. Das sagte mir schließlich nicht mehr zu, weil gar nichts passierte und es so aussah, als kämen die Japse doch nie bis zu uns ‘runter, und deshalb habe ich für meine Versetzung nach hier oben gesorgt.« »Wurden denn in dem Gebiet auch Minen gelegt?« Allingham schüttelte den Kopf. »Wir haben in drei Jahren ganze zwei 310
Stück ‘rausgeholt.« »Und nun haben Sie einen Artilleriekursus absolviert?« »Yes, Sir. Komme direkt von Whale Island.« »Dort hat man Sie wohl ordentlich gejagt, wie?« Allingham grinste. »Mir kommt’s vor, als hätten wir überhaupt keine Luft geholt von dem Moment unseres Einzugs durch das Tor. Ich muß Pfunde verloren haben, Pfunde!« Ein leises Gelächter erhob sich am Tisch. Die Marine-Artillerieschule auf Whale Island stand in dem Ruf, in jeder Hinsicht doppelt scharfe Disziplin zu pflegen, was wohl keiner der Kursusteilnehmer je abzuleugnen versuchte. »Na schön, hier haben Sie ja reichlich Geschütze zum Üben.« Ericson blickte auf den nächsten Namen der Liste: »Leutnant Raikes.« Fragend richtete er die Augen auf den jungen Mann am unteren Tischende. »Und woher sind Sie gekommen, Sub?« »Ostküste, Sir«, antwortete Raikes, der für die Navigation vorgesehene Leutnant. Ein frischer, junger Mensch mit bestimmter, ein wenig forcierter Haltung. Ericson gewann den Eindruck, als habe Raikes im Friedensberuf gewisse wenig populäre Haushaltsartikel verkauft und die für das Geschäft notwendigen Manieren mit in den Krieg genommen. »In welchem Sektor? Harwich?« fragte er. »Yes, Sir. Wir hatten Geleite von dort nach dem Humber.« »Mit was für Schiffen?« »Korvetten, Sir, Vorkriegstyp. Doppelschrauben.« »Die kenne ich noch… Da müssen Sie ja in Küstennavigation viel gelernt haben.« »Yes, Sir.« Raikes hielt inne, unsicher, wieviel Ericson von der Ostküste kannte oder zu erfahren wünschte. »Für die Geleite ist da eine Fahrrinne minenfrei gehalten, ungefähr alle fünf Meilen mit Bojen abgesteckt. Verpaßt man eine davon, so rennt man entweder auf Grund oder landet im Minenfeld.« »Wie oft ist Ihnen das denn passiert?« »Überhaupt nicht, Sir.« Ericson lächelte über diese forsch gegebene Antwort. »Na, jetzt werden Sie Ihre Kenntnisse in der andern Navigationsart auffrischen können. Seit wann haben Sie keinen Sextanten mehr benutzt?« »Seit dem Ausbildungslehrgang nicht mehr, Sir – zwei Jahre etwa. An der Ostküste hatten wir ihn nicht nötig. Aber ich habe mich in letzter Zeit viel mit ihm beschäftigt.« »Gut. Auf meinem vorigen Schiff habe ich’s fast immer selber gemacht, 311
aber ich möchte, daß später Sie es übernehmen.« Der nächste Offizier auf Ericsons Liste war der Arzt. »Stabsarzt Scott-Brown«, las er vor. Auch ohne die hellroten Ärmelstreifen hätte er ihn unschwer identifiziert. Scott-Brown erinnerte ihn an Morell, er hatte dieselbe sichere Art, ein bißchen gleichgültig, als vergesse er keinen Augenblick, – ohne seine jetzige Stellung im mindesten geringzuschätzen – daß seine wahre Aufgabe, sein eigentliches Leben, anderswo lag. Er war groß und blond und saß so massiv auf seinem Stuhl, daß es fast wirkte, als führe er die Befragung und Ericson sei der zu restloser Aufklärung verpflichtete Patient. ›Aber das schadet nichts‹, dachte Ericson. ›Uns geht es nur darum, einen guten Arzt zu haben‹. Er fragte: »Von wo kommen Sie, Scott-Brown?« Scott-Brown erwiderte, ziemlich überraschend: »Harley Street, Sir.« »Ist dies Ihr erstes Schiff?« Der Arzt nickte. »Ich hatte meine Praxis, Sir. Später habe ich in der Klinik von Guy Untersuchungen gemacht, und schließlich kamen die schweren Luftangriffe auf London. So bin ich erst jetzt freigegeben worden.« Er sagte das ohne den leisesten Vorwand einer Entschuldigung, als stehe es außer Frage, daß er seine Zeit bis zu diesem späten Eintritt in die Marine nützlich ausgefüllt hatte. »Sie sind gewissermaßen ein Luxus für uns«, erklärte Ericson. »Bislang hatten wir nie einen Arzt an Bord.« »Wer hat denn die ärztliche Betreuung besorgt?« »Das war ich«, sagte Lockhart. Er hatte Scott-Brown die ganze Zeit beobachtet und fühlte sich ebenso wie Ericson an Morell erinnert. Dieser Mann schien seiner Person und seines Könnens genau so großartig sicher wie Morell, doch man empfand das als Beruhigung, ohne sich klein vorkommen zu müssen. ›Keine ärztliche Nothilfe mehr für mich‹, dachte Lockhart dankbar, ›höchstens wenn’s mal ganz bös zugeht…‹ Scott-Brown wandte sich ihm zu. »Wie haben Sie das denn gelernt?« »Sozusagen während der Fahrt… Ich fürchte nur, ich habe schon viel mehr Patienten zu Tode gebracht als Sie.« Ein flüchtiges Lächeln zog über Scott-Browns Gesicht. »Das ist eine ziemlich kühne Behauptung«, gab er bedächtig zurück. »Ich praktiziere nämlich schon fast acht Jahre.« Wieder brachte ein Gelächter die Männer um den Tisch einander näher. ›Das kann eine ganz erfreuliche Messe werden‹, dachte Ericson. ›Gute Mischung der Charaktere und Interessen, viel gesunder Verstand. Eine vertrauenerweckende Atmosphäre‹. »In den letzten zwei Jahren hätten wir Sie ganz schön in Atem halten können«, sagte er. »Wie es jetzt werden wird, weiß ich nicht…« Noch zwei Na312
men standen auf dem Papier vor ihm: der des zweiten Leutnants und der des Fähnrichs. Den hatte er schon von der Seite beobachtet: ein großer, schlanker junger Mann mit erfreulich unschuldigem Gesicht, der sich, in nervöser Erwartung der Fragen des Kommandanten, an einem Aschenbecher zu schaffen machte. ›Das ist ja fast noch ein Schuljunge‹, dachte Ericson. Und das war er wohl wirklich bis vor wenigen Wochen noch gewesen. Ein so junges Kerlchen durfte er schließlich noch ein bißchen länger warten lassen… Er richtete den Blick auf den anderen Leutnant, der neben ihm saß. »Vincent«, sagte er. »Sind wir uns nicht schon irgendwo begegnet?« Vincent, klein, dunkel und ziemlich schüchtern, schien sich vor dem Sprechen erst sammeln zu müssen. Er machte eine spürbare Anstrengung, seine Worte recht ordentlich zu setzen. »Ich bin einmal in derselben Gruppe gefahren wie Sie, Sir«, brachte er schließlich heraus. »Auf der Trefoil.« Ericson nickte langsam. »Aha. So was ähnliches hatte mir auch vorgeschwebt.« Seine Stimme klang normal, während er innerlich bei diesem vertrauten Schiffsnamen zusammengezuckt war. Trefoil war ein Schwesterschiff seiner Compass Rose gewesen, fast zwei Jahre lang. Sie hatte bei ihrem letzten Geleit die Achteraussicherung gefahren, und sie war es gewesen, die – zum Glück – mit höchster Wachsamkeit das Erscheinen und später das Verschwinden der Compass Rose auf dem Radarschirm verfolgt und ihr Abfallen an Viperous gemeldet hatte. Wahrscheinlich verdankten er selbst und Lockhart ihr Leben der Trefoil und vielleicht sogar den unmittelbaren Maßnahmen dieses kleinen schüchternen Leutnants. Aber das war ein Thema, das Ericson jetzt nicht behandeln mochte, sondern lieber für eine weniger offizielle Gelegenheit aufhob. »So, nun kennen wir uns alle«, sagte er freundlich, »und Sie wissen, was Ihre Stellung mit sich bringt… Aber da sind Sie ja noch übrig, Holt«, redete er plötzlich den Fähnrich an. »Wie haben Sie denn die letzte Zeit verbracht?« Polternd fiel der Aschenbecher vom Tisch. Fähnrich Holt errötete heftig. Die Farbe, die ihm ins Gesicht stieg, schuf ein beneidenswertes Bild von Jugend und Gesundheit. ›Herrgott‹, dachte Ericson, ›der ist wohl kaum siebzehn! Ich könnte sein Vater sein, eigentlich sogar, weiß der Kuckuck, beinah schon sein Großvater!‹ »Verzeihung, Sir«, sagte Holt, der sich einen mannhaften Ruck gab. »Ich komme gerade vom Lehrgang auf King Alfred.« »Und vorher?« »Eh, – Eton, Sir.« »Oh!« Ericson las mit stillem Vergnügen in Johnsons Augen deutliche Hochachtung. Der Begriff Eton gab offenbar der Messe einen Hauch von 313
besonderer Klasse, da er den rauhen Seeleuten so vornehm erschien. In Holts Gesicht sah er jetzt schon mehr Sicherheit und einen lebendigen Zug von humorvoller Intelligenz. Vielleicht wurde ihnen dieser junge Mann einmal wertvoll durch mehr als den bloßen Stempel ›Eton‹. »Hat man Ihnen dort auch etwas über die See beigebracht?« fragte er. »Oh nein, Sir«, antwortete Holt ganz erstaunt. »Wir genossen dort eine sehr engstirnige Erziehung.« Zum dritten Mal ertönte um den Tisch leises Lachen, über das Ericson sich freute. ›Sobald dieses halbe Kind erst fest auf den Füßen steht‹, dachte er, ›wird es uns alle jung erhalten, und das haben wir, weiß Gott, nötig…‹ Eine Pause trat ein: Ericson betrachtete seine Offiziere wieder der Reihe nach und versuchte im stillen zusammenzufassen, was er selbst und was sie gelernt hatten. Jetzt wissen wir jedenfalls alle, woher wir kommen’, dachte er: wir kommen vom Atlantik, vom Mittelmeer, von der englischen Ostküste, aus Nordaustralien, von der Harley Street und aus Eton. Aus so verschiedener Herkunft bringen wir insgesamt ein wertvolles Maß von Erfahrungen mit, und so wird Saltash, die uns viel zu tun und viel zu lernen gibt, aus einem nicht geringen Vorrat an Kenntnissen und Energie zehren können… Er räusperte sich. »Na schön, das genügt für den Anfang«, sagte er. »Wir haben noch eine Menge harter Arbeit vor uns, bis das Schiff seeklar ist, aber ich weiß, daß ich mich ganz auf Sie verlassen kann. Der Erste Offizier wird Ihnen die im Rahmen der Divisionen liegenden Aufgaben zuweisen, und Ihre Sonderressorts haben Sie ja bereits« – er blickte wieder in die Papiere, »das heißt also: Allingham die Artillerie, Raikes Navigation, Vincent die Wasserbomben und Holt: Schriftverkehr. Ich glaube kaum, daß wir vor Ablauf von drei Wochen mit der Erprobung des Schiffes rechnen können, daher hat jeder reichlich Zeit, auf seinem Gebiet alles in beste Ordnung zu bringen.« Er stand auf und gab Lockhart ein Zeichen, ihm zu folgen. Am Eingang drehte er sich um und sagte noch: »Wir können uns heute abend um sechs zu einer gemütlicheren Runde hier einfinden, falls der Gin bis dahin gekommen ist.« Als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, wurde es still in der Messe. Johnson studierte in einem Handbuch für Ingenieure, das geöffnet vor ihm auf dem Tisch gelegen hatte; Scott-Brown, der Arzt, und Raikes zündeten sich Zigaretten an; Holt hob so unauffällig wie möglich den hingefallenen Aschenbecher auf. Nach einer langen Pause wandte sich schließlich Allingham an Vincent, den Leutnant von der Trefoil, und fragte ihn: »Was war eigentlich mit dem vorigen Schiff des Kommandanten? Es wurde torpediert, nicht wahr?« Vincent nickte und suchte wieder nach passenden Worten. »Ja. Compass Rose wollte gerade wieder an den Geleitzug aufschließen, nachdem sie ein 314
paar Schiffe nach Island begleitet hatte: wir bekamen sie kurz nach Mitternacht auf den Radarschirm, und dann war das Zeichen plötzlich fort. Wir warteten eine Weile, es kam aber nicht wieder, und da haben wir Meldung an Viperous gemacht, den Zerstörer mit dem dienstältesten Gruppenoffizier. Viperous lief zurück und fand morgens die Flöße.« »Da haben die ja verdammt noch Glück gehabt, daß einer dauernd das Radar beobachtet hatte«, sagte Allingham. »Ja«, sagte Vincent bescheiden. Scott-Brown blickte ihn an. »Waren Sie das selber?« Vincent erwiderte: »Ja, ich war Wachoffizier.« »Saubere Arbeit«, sagte Allingham. »Wie viele sind denn geborgen worden?« »Zehn, glaube ich. Zehn oder elf.« Allingham pfiff durch die Zähne. »Das ist nicht viel.« »Was ist das für ein Orden, den der Kommandant trägt?« fragte ScottBrown. »Das D.S.C.«, antwortete ihm Fähnrich Holt bereitwillig. »Und der Erste Offizier wurde im Flottenbefehl erwähnt.« »Nein, ich meinte: wofür?« Johnson blickte von seinem Buch hoch. »Auf der Rückreise von Gibraltar haben sie ein Unterseeboot versenkt. Vor ungefähr einem Jahr. Auch viele Gefangene gemacht.« Scott-Brown lächelte. »Haben Sie aber ein gutes Gedächtnis, L.I.« »Compass Rose war ein gutes Schiff«, antwortete Johnson. »Eins der besten.« »Wirklich verdammtes Pech, all die Kameraden zu verlieren«, sagte Holt. Seine junge Stimme und sein Londoner Akzent bildeten einen seltsamen Kontrast zu Johnsons rauher nordenglischer Sprechweise. »Ich möchte mal wissen, wie das tatsächlich ist, wenn man torpediert wird.« »Zerbrechen Sie sich darüber bloß nicht den Kopf«, sagte Raikes kurz und energisch. »Man sagt, es lohnt sich nicht, das festzustellen.« »Ich bin nicht im geringsten neugierig darauf«, bemerkte Scott-Brown. »Ich auch nicht«, sagte Allingham, »ich habe nur den Wunsch, Australien wiederzusehen.« »Komisch, daß man sich das wünschen kann«, sagte Holt harmlos. »Nun möchte ich mir aber doch ausbitten –« begann Allingham energisch. »Ich glaube«, mischte Scott-Brown sich ein, »man will Sie durch den Kakao ziehen, in echt Etoner Manier.« »Oh –« Allingham brachte ein Lächeln zustande. »Existiert nicht in der britischen Marine eine Bestimmung, daß Fähnriche ausgepeitscht werden dür315
fen?« Johnson blickte wieder von seinem Buch auf. »Das ist aber schon lange abgeschafft.« »Ich bin etwas altmodisch in meinen Scherzen«, sagte Allingham, »aber das System möchte ich doch wieder einführen helfen.« In der Kajüte sagte Ericson inzwischen zu Lockhart: »Unsere Offiziere sind durchaus nicht übel, I.W.O. Auf jeden Fall bringen sie allerhand Erfahrungen mit – ich möchte sagen: doppelt soviel wie die, mit denen Compass Rose anzufangen hatte.« Lockhart lächelte. »Geben Sie es mir nicht zu dick, Sir.« »Ich weiß noch, wie Sie und Ferraby in die Baracke auf der Pier kamen, so schüchtern wie zwei weiße Mäuse. – Aber ist es nicht merkwürdig, wieder einen Australier an Bord zu haben? Erinnert einen an Bennett.« »Ja«, sagte Lockhart. »Greulich, nicht wahr?« Im allgemeinen war es Holt, der zweimal in der Woche die Kurierfahrt nach Glasgow machte, um vom Operationsstab ihre Geheimbefehle zu holen und die mannigfachen andern Aufträge zu erledigen, die noch ausgeführt werden mußten, um ein Schiff wie Saltash allmählich seeklar zu machen. Nach einigen Wochen jedoch wurde Lockhart von Unruhe ergriffen: vielleicht war er zu lange hintereinander an Bord gewesen und hatte es einmal nötig, sich außerhalb des Trotts und des vielen Kleinkrams zu bewegen, der zu seinem besonderen, nie endenden Anteil an der Entwicklung des Schiff es gehörte. Vierzehn Tage lang hatte er sich mit Vorratslisten, Änderungslisten, Quartierslisten und den vielerlei komplizierten Plänen abgemüht, unter denen der Dienst auf Saltash in See und im Hafen funktionieren sollte – bis ihm das schließlich so trocken erschien, daß er sich nach einer Unterbrechung sehnte. Er wollte sich auch gern wieder überzeugen, wie es in der Außenwelt zuging, jenseits der Clydemündung, denn näher kamen sie einstweilen nicht mit der See in Berührung: seit fast vier Monaten war er vom Atlantik fort, und jetzt kam sein persönliches Interesse wieder zum Ausdruck, dieses unter der tiefen Wunde, die ihm der Verlust von Compass Rose geschlagen hatte, abhanden gekommene Gefühl, gleichsam für den ganzen Ozean mit verantwortlich zu sein. Es wurde Zeit, sich wieder ins Bild setzen zu lassen, Zeit, festzustellen, was draußen vorging und wie die Schlacht weiter verlaufen war, besonders da sie in ein paar Wochen mit ihrer nagelneuen Rüstung wieder selbst an dieser Schlacht teilnehmen sollten. Er sagte daher eines Morgens beim Frühstück zu Holt: »Heute werde ich 316
mal als Kurier nach Glasgow fahren, Fähnrich. Ich brauche frische Luft.« Scott-Brown blickte ihn über den Rand seiner Zeitung an: »Das ist das einzige, was Sie in Glasgow nicht finden werden.« Lockhart lächelte. »Aber Abwechslung habe ich jedenfalls nötig.« »Sir?« sagte Holt. Lockhart blickte ihn fragend an. »Sir, da ist ein Pin-up mit Offiziersrang im Stabe –« »Was ist da?« »Eine Marinehelferin im Offiziersrang, Sir.« »Diese Ausdrucksweise gefällt mir besser.« »Sie soll das hübscheste Mädchen vom ganzen weiblichen Marinekorps sein. Macht alle Leute im Stab total verrückt.« »Ich glaube, dafür zeichnet nicht diese Dame verantwortlich. Aber was wollten Sie von ihr noch sagen?« »Ach, ich dachte nur, ich müßte das mal erwähnen, weil Sie hinfahren, Sir.« Lockhart neigte ganz ernst den Kopf. »Vielen Dank. – Wo ist denn dieser Ausbund von Schönheit zu finden?« »Direkt in der Operationsabteilung: sie schmeißt da eigentlich den ganzen Laden.« »Was hatten Sie denn in der Operationsabteilung zu suchen? Die Abteilung Signaldienst liegt doch meilenweit davon entfernt und in einem andern Stockwerk!« Der Fähnrich lächelte gewinnend. »Nur um im Bilde zu bleiben, Sir.« Scott-Brown betrachtete ihn: »Wie alt sind Sie eigentlich, Fähnrich?« »Bald achtzehn.« »Na, da muß ich schon sagen, für diese Geschichten haben Sie ja wohl noch genug Zeit vor sich.« »Nur keine Überstürzung«, sagte Raikes. »Lassen Sie noch ‘was übrig, bis Sie mündig werden.« »In Australien wäre der junge Mann schon verheiratet«, sagte Allingham. »Und in England vermutlich auch, wenn es eine Gerechtigkeit gäbe.« Das war wieder Scott-Brown, urteilssicher und bestimmt wie immer. »Aber es gibt eben Leute, die ihren Verantwortungen fast endlos lange ausweichen können.« »Der Reiche hat eigene Gesetze«, sagte Raikes. »Ich bin aber nicht reich«, fiel Holt ein. »Aber sicher begütert«, sagte Lockhart. »Das ist sogar noch besser.« »Bestimmt«, sagte Scott-Brown. »Es wird behauptet, das sei der einzige wahre Reichtum.« 317
Lockhart nickte. »Sehr viele Frauen jedenfalls denken so.« »Und besonders die älteren, die sowieso schon geldlich unabhängig sind.« »Diese Unterhaltung ist mir zu hoch«, sagte Holt. »Dann gibt es noch Hoffnung für Sie.« Lockhart reckte sich. »Also gut: ich werde mir Ihre hübsche Marinehelferin ansehen, denn ich muß zufällig sowieso in die Operationsabteilung, um festzustellen, wer den Krieg gewinnt.« »Hm«, machte Scott-Brown. »Hm«, machte auch Holt, noch betonter. »Sie dürfen ruhig ironisch hüsteln«, sagte Lockhart, indem er sich zum Gehen anschickte, »ich habe eine ganze Menge nachzuholen.« Eine wahre Hustenkanonade der ganzen Messe folgte ihm, als er durch den Gang zu seiner Kammer schritt. An diesem öden Märzmorgen wirkte die ganze Stadt unendlich trübselig. ›Auch in Glasgow muß es einmal Frühling werden‹, dachte Lockhart, als er langsam die Argyll Street hinabging, durch die lustlos ihre Einkäufe machende Menschenmenge und vorbei an den muffig blickenden, zweifelhaften Gestalten, die auf Öffnung der Kneipen warteten. Er mußte an die Wochen denken, die er vor über drei Jahren in Glasgow verbracht hatte, als er mit Ferraby ein Hotelzimmer teilte und sie in ihrer dienstfreien Zeit durch die Straßen gegangen waren in dem stolzen Gefühl, schneidige junge Kerls zu sein, auf deren Anwesenheit die Stadt sich etwas einbilden könne. Glasgow hatte sich jedoch nichts daraus gemacht, und der bevorstehende Frühling schien dieser Stadt genau so gleichgültig zu sein, denn sie wirkte jetzt ebenso düster und ernst, so passiv, und ebenso zukunftslos wie er sie von 1939 in Erinnerung hatte. Sicherlich war inzwischen hier manches geschehen: Kinder mußten geboren worden sein, Menschen mußten sich geliebt haben, Geld mußte verloren und verdient worden sein, aber nichts davon war dem schmutzigen nassen Straßenpflaster oder den tristen, halb leeren Kaufläden anzumerken, und die in sich gekehrten, bleichen Gesichter der Passanten schienen das ganz und gar zu verleugnen. ›Hier ist man völlig auf sich allein angewiesen‹, dachte er, als er einen Augenblick die Auslagen eines billigen Juweliergeschäfts betrachtete. Tablett neben Tablett voller Verlobungsringe, auf Abnehmer wartend, die niemals kamen, auf die Funken, die hier nie zündeten. Wenn der Mensch nicht schon von Natur den Sturm und Drang nach einem Leben der Wagnisse fühlte, wenn er nicht einen Anflug trotzigen Eigendünkels hatte, der aus einem Körper erst einen Menschen macht – hier in diesen zehn Quadratmeilen konnte er von diesem Geist gewiß nichts einfangen… Aber vielleicht lag es nur am Krieg. – Im Marineoberkommando nahm er 318
einen Packen Signalbefehle und versiegelte Umschläge in Empfang, ging dann zwei Stockwerke tiefer durch einen langen dunklen Korridor, in dem seine Schritte laut hallten, bis vor ein Zimmer mit dem Schild: »Stabsoffizier, Operationsabteilung«. Er klopfte an und öffnete die Tür. Ein Schreibtisch war unbesetzt, an dem zweiten saß ein junges Mädchen. Als Lockhart eintrat, telefonierte sie gerade, Eine gute halbe Minute blickte sie ihm, den Hörer am Ohr, ganz gelassen ins Gesicht. Er empfand große Freude, diese Augen so lange, ohne Störung durch Dritte, auf sich gerichtet zu sehen: große Augen mit langen Wimpern, die in einem außerordentlich feinen Gesicht das Schönste waren. Nein, dies war nicht ›das hübscheste Mädchen im ganzen Korps‹, wie der Fähnrich sie genannt hatte – den Titel verdienten auch andere. Sie war hinreißend. Diese wunderbaren Augen, das ovale Gesicht mit den hohen Backenknochen, das dunkle, nach oben gekämmte Haar, dieser matte, makellose Teint! ›Gibt es etwas Schönes, das du nicht hast?‹, dachte Lockhart, als er nähertrat und sah, daß die Augen grau waren, ihre Hände schlank und wohlgepflegt. Er wich ihrem Blick aus, den er so unvorbereitet nicht lange aushalten konnte. An ihrem Schreibtisch stand auf einer gedruckten Karte: »Hallam, Zweiter Offizier«, und darunter: »S.O.O. 2«. Ohne sonderliches Erstaunen dachte er: ›S.O.O. 2, das heißt ja: Zweiter Stabsoffizier der Operationsabteilung. Die muß etwas können!‹ Aber wie war sie wohl als Mensch, bei diesem Aussehen: so hübsch, so intelligent und in der eng anliegenden Uniform so elegant wie andere im schönsten Ballkleid nicht? ›Ich steigere mich hier in etwas hinein‹, dachte er, ein wenig erregt, ›aber es ist doch, weiß Gott, keine Halluzination…!‹ Sie sagte am Apparat: »Schicken Sie’s mir bitte her«, legte den Hörer ab, notierte etwas auf ihrem Schreibblock und blickte wieder hoch. »Bitte?« fragte sie ihn. Lockhart zögerte. »Wenn es nicht gegen die Vorschriften geht«, begann er unsicher, »dann möchte ich gern einen Blick auf den strategischen Lageplan werfen und mal sehen, wie es im Atlantik jetzt steht.« »Oh.« Sie versuchte gar nicht erst, ihn pflichtgemäß streng anzublicken, sondern zeigte nur eine kühle Miene, sichtlich unbeeindruckt. Wahrscheinlich kamen zu ihr fortwährend Leute unter allen möglichen dummen Vorwänden… »Ich glaube, dazu darf ich Ihnen keine Erlaubnis geben«, sagte sie nach einer Weile. »Die ganze Geschichte unterliegt ja den Geheimbestimmungen.« Sie hatte eine tiefe, musikalische Stimme und sprach jedes Wort so klar aus, als sei es zu wertvoll, halb verschluckt zu werden. »Das ist mir bekannt«, antwortete Lockhart, »aber, wenn ich Ihnen erklären darf: ich war die letzten drei Jahre draußen dabei und sitze jetzt beinah seit 319
vier Monaten an Land, weil wir ein neues Schiff in Dienst stellen, und da wollte ich über die Entwicklung draußen gern wieder auf dem laufenden sein.« In anderen Fällen hätte es ihn vielleicht geärgert, eine so lange Erklärung geben zu müssen, aber bei ihr hatte er das deutliche Empfinden, daß sie in jedem Punkt eine Erklärung verlangen durfte. Mit ihren grauen Augen blickte sie ihn ganz gemessen und ohne jede Hemmung an. ›Hinter dieser nüchternen Fassade muß doch letzten Endes ein Weib stecken‹, dachte Lockhart. ›Aber das ist heute nicht sichtbar – jedenfalls nicht für mich.‹ Nach einem Augenblick fragte sie: »Von welchem Schiff sind Sie denn?« »Saltash.« »Ach so, ja – die neue Fregatte.« Einen Moment lächelte sie, wobei ihr leicht geöffneter Mund so wunderbar weich aussah, daß Lockhart innerlich erbebte. ›Das kommt nur, weil ich schon lange kein so schönes Mädchen gesehen habe‹, dachte er, und dann: ›Zum Teufel, hier muß aber doch ein bißchen genauer sondiert werden!‹ Und nach wenigen Sekunden hörte er sie weitersprechen: »Haben Sie da nicht einen jungen Mann namens Gavin Holt an Bord?« »Ja, das stimmt. Unser Fähnrich. Er hat mir, genau besehen, herzliche Grüße für Sie aufgetragen.« »Die ich, genau besehen, erwidern lasse –« Lockhart sah sofort ein, daß dieser Weg zu einer Annäherung wohl doch zu vertraulich war: vielleicht wurde er ihr dadurch gleich unsympathisch? Aber nein, sie fuhr schon ganz liebenswürdig fort: »Wer ist Ihr Kommandant? Oder sind Sie das selbst?« »Nein, ich nicht: Korvettenkapitän Ericson.« »Ja, richtig. Berühmter Geleitfahrer, nicht wahr?« »Ja.« Sie blickte auf seine Ärmelstreifen: »Also sind Sie sein I.W.O. ja?« Er nickte: »Stimmt!« Ganz flüchtig runzelte sie die Stirn: »Ist das nicht eigentlich ungewöhnlich? Weshalb haben Sie kein eigenes Kommando?« »Ich wollte bei Ericson bleiben«, antwortete Lockhart, ein wenig aufgebracht. Wieder bewegten sich ihre Augenbrauen, nur ganz wenig, aber so, daß er es peinlich empfand. »Angst davor?« fragte sie. Lockhart schoß das Blut ins Gesicht. ›Nun ist alles aus‹, dachte er und sagte: »Wenn ich Angst vor einem Kommando hätte, würde ich den Teufel tun, das gerade Ihnen auf die Nase zu binden!« Nach kurzem Schweigen brach wieder ihr Lächeln durch, und jetzt lächelten sogar ihre Augen mit, die ihn offen zu näherer Betrachtung aufforderten. 320
»Verzeihen Sie«, sagte sie. Ihre Stimme klang weich, als lache sie leise. »Ich muß mich wirklich entschuldigen… Wissen Sie: wenn Sie hier im Hause arbeiten würden, wo so viele komische junge Leute herumrennen, die immer nur auf Beförderung aus sind, ohne sich aber deshalb mehr Arbeit aufzupacken, dann würden Sie selbst wohl auch ein bißchen mißtrauisch.« »So ist es bei mir nicht«, sagte Lockhart ziemlich unvermittelt. »Davon bin ich überzeugt. Mir fiel eben erst ein, wer Sie sind.« Die Verlegenheit, die er ihr ansah, war echt und war köstlich. »Sie waren mit ihm schon auf Compass Rose zusammen, nicht wahr?« »Ja«, erwiderte er. »Woher wissen Sie denn das?« »Neulich Abend wurde einmal darüber gesprochen – Sie haben doch auch ein Unterseeboot versenkt! Muß ich mich nochmals entschuldigen?« »Nein, nie wieder… Aber habe ich dadurch nicht mehr Aussicht, mich am Lageplan über den neuesten Stand der Dinge zu informieren?« Sie nickte bereitwillig. »Dadurch haben Sie, glaube ich, ein gesichertes Anrecht. Was darf ich Ihnen also erklären?« Fast zehn Minuten lang führten sie nun ein Gespräch über allerlei technische Einzelheiten, aus denen Lockhart, der sich nicht so recht konzentrieren konnte, den Eindruck gewann, daß sich die Lage im Atlantik, nach einer sehr bösen Zeit um Weihnachten, ein wenig gebessert hatte. Er erfuhr auch, daß ›Zweiter Offizier Hallam‹ sich seit vier Monaten in der gegenwärtigen Stellung befand und eigentlich doch dunkle, nicht hellgraue Augen hatte. Aber leider konnte er sich dieser entzückenden Augen und der schönen Stimme nicht unbegrenzt lange erfreuen, denn sie sagte auf einmal: »Sicher haben Sie mit der Indienststellung noch sehr viel Arbeit« – womit sie offenbar andeuten wollte, daß auch sie genug zu tun hatte. Er nahm ihren Wink ohne Ärger hin, denn er kannte sie ja nun schon ein bißchen. Aber es kam ihm doch vor, als sei ihre jetzige Freundlichkeit ein wenig erkünstelt: hätte sie sich nicht anfangs so hochmütig geäußert, indem sie peinliche Zweifel in ihn setzte, dann wäre sie wohl jetzt kaum so reizend bemüht gewesen, es wiedergutzumachen, und wäre ihm vermutlich keinen Schritt entgegengekommen. Wie dem auch sei: der Abschied von ihr enttäuschte ihn, er wußte nicht, warum. Als er sich eben vom Stuhl erhob, um zu gehen, steckte ein junger, aktiver Leutnant den Kopf um die Tür und fragte: »Essen wir heute mittag zusammen, Julie?« Und sie antwortete lächelnd: »Ja, Edward, in fünf Minuten ungefähr.« ›Julie, dachte Lockhart, als er durch den düsteren Korridor zurückging: ›das ist wirklich ein hübscher Name.‹ Und ein Stück weiter: ›Ich muß allerdings sagen, daß ich den Namen Edward noch nie richtig leiden konnte…‹ Selbstverständlich hatte Lockhart durch die Indienststellung des Schiffes eine 321
Menge Arbeit, wie die übrigen auch. Die Besatzung – alles Westengländer aus den Kasernen von Devonport – war eingetroffen: jetzt lebten sie mit 172 Mann auf Saltash, und sie alle reibungslos in die Schiffsorganisation einfügen, war eine komplizierte, aber trotzdem langweilige Aufgabe, die viel Geduld verlangte. In diesem Stadium lag die meiste Arbeit bei Lockhart und dem Bootsmann Barnard. Der war das genaue Gegenstück zu Tallow: klein, sehr beweglich und schlagfertig. Sein schleppender, westenglischer Akzent schien so wenig zu ihm zu passen wie eine Bauernrolle zu einem Schauspieler, der nur an Salonrollen gewöhnt ist. Barnard trug einen kleinen, strohblonden Vollbart, und Lockhart dachte, als er ihn zum ersten Male sah: ›Eigentlich sollte er sich diesen Bart lieber abnehmen lassen – der sieht zu sehr nach Kindermärchen aus‹. Aber dieser Bart war eine jener etwas theatralischen Spielereien, die bei den Besatzungen vorkamen: ein echter ›Atlantikbart‹, gewachsen und gehegt im Leben auf einem Sicherungsfahrzeug, wenn bei kaltem Wetter und dauernden Strapazen aufs Rasieren verzichtet werden mußte. Wenn man sich daran gewöhnt hatte, schien er wirklich zu diesem energischen, tüchtigen Mann gut zu passen. Barnard konnte im Dienst offensichtlich gar nicht anders als sehr streng sein und hatte für Sünder nur frostige Blicke, aber er besaß viel menschliche Wärme, die in diesen ersten paar Wochen, als es galt, eine neue und noch unerprobte Besatzung zusammenzuschmieden, seine Mitwirkung von unschätzbarem Wert machte. Alle Offiziere hatten viel zu tun: ihre Tätigkeit machte sich ständig im ganzen Schiff bemerkbar, aber vieles wurde in stiller, unauffälliger Arbeit geleistet. Am meisten Spektakel und Bewegung machte ganz entschieden Allingham, der sich gewiß vorgenommen hatte, seinen Geschützbedienungen einen tüchtigen Geschmack von der scharfen Disziplin beizubringen, die er vor kurzem erst selbst auf Whale Island genossen hatte. Seine breite, australische Sprache war zu jeder Tageszeit, bei Ladeübungen oder anderem Geschützdienst, an Deck zu hören: zuerst eine Reihe schroffer Kommandos, dann klirrte und klapperte es wild an den Geschützen, und wieder kam eine Serie lauter Befehle, begleitet von tadelnden oder drohenden Worten. Aber Allingham hatte eine Art, die ihn bei den Leuten seiner Division trotz der Plackerei, die er ihnen zumutete, beliebt machte: eine ungestüme, jugendliche Freude an straffem Dienst. Die Worte und Redensarten, die er gebrauchte, wären vielleicht in Bennetts Munde sehr unangenehm gewesen, aber bei ihm nahm keiner ernstlich Anstoß, denn Allingham war – das merkte jeder – sehr tüchtig und stets bereit, was er von anderen forderte, auch selbst zu tun, so daß er die Männer in seinem Schwung ausnahmslos mitriß. Seine Art stand in auffallendem Gegensatz zu der des Leutnants Vincent, der die Wasserbombenabteilung einexerzierte. Vincent kannte seine Aufgabe 322
genau, nachdem er fast drei Jahre auf Korvetten gefahren war, doch als Befehlender war er äußerst schüchtern: beim Überwachen eines Probewurfs wirkte er beinah wie eine junge Gouvernante im Kindergarten, deren einziges Mittel gütliches Zureden ist. »Das war leider nicht sehr ordentlich«, sagte er beispielsweise in sanftem Ton, »versuchen Sie das doch nächstes Mal ein bißchen schneller« – während in Hörweite von ihm Allingham – der eigentlich fast auf dem ganzen Schiff ›in Hörweite‹ war – brüllte: »Wenn ihr Joker mir das Herz brechen wollt und da ‘rumwatschelt wie ‘ne Horde alter Huren bei ‘ner Landpartie, dann können wir das sehr lange exerzieren! Daß es mir jetzt aber rauscht, verstanden!?« Nur die Zukunft konnte erweisen, welche von beiden Instruktionsmethoden die wirksamere war… Zwischen diesen Extremen konnten sie häufig Johnson rund ums Oberdeck spazieren sehen mit der Miene eines Menschen, der in fremdem Land ein tapferes Gesicht wahren will: schweigend und zielbewußt schritt er dahin, ihm folgend Gruppen unheimlich schmierig aussehender Heizer, die nach seinen Anweisungen diese und jene Gegenstände an Deck, die in den Maschinenraum gehörten, aufsammelten und nach unten schafften. Manchmal blieb Johnson stehen, um Allingham zuzuhören oder um Vincent zu beobachten. Dann wandte er sich meistens mit gefurchter Stirn bald wieder ab und sagte kurz ein paar unverständliche Worte zu einem seiner düsteren Gefolgsmänner, die sich dann um das scharten, was sie wieder für ihren Bereich entdeckt hatten – ein Faß Schmieröl oder ein paar Ersatzteile. Schwerfällig machten sie etwaigen Verteidigern dieser Gegenstände ihren Anspruch klar, mit den trägen Gesten von Leuten, die jeweils nur an eine einzige Sache zu denken vermögen. In der Messe herrschte fast den ganzen Tag über eine heilige Ruhe. Drei Mann hatten sich dort für längere Zeit häuslich niedergelassen: Scott-Brown, der seine medizinische Ausrüstung Stück für Stück genau überprüfte; Navigationsoffizier Raikes, der sämtliche Seekarten ordnete und gewisse Berichtigungen vornahm, und Fähnrich Holt, der die Geheimpapiere und Verschlüsselungstabellen in eine Liste eintrug. Lockhart war, als er eines Morgens einen Blick in die Messe warf, ganz erstaunt, wie fleißig es dort zuging: keine Geräusche, nur das Kratzen einer Feder oder Papiergeraschel. Holt sah gerade von seiner Arbeit auf, ihre Blicke trafen sich. »Die Jungs im Hinterzimmer, Sir«, sagte er. In dem Moment dröhnte es gewaltig auf dem Eisendeck über ihnen, wo Allingham eine lärmende Übung im Eiltempo ›immer nochmal‹, und nochmal, wiederholen ließ. Holt klapperte theatralisch mit den Augen: »Hier sitzt das ganze Gehirn des Schiffes und gibt nicht den geringsten Laut von sich.« »Ruhe«, sagte Scott-Brown ganz nebenbei, ohne den Blick von seinen Listen zu erheben. 323
»Meinten Sie mich?« fragte der Fähnrich erstaunt. »Ja, Sie«, antwortete Raikes. »Wenn Sie zum Reden Zeit haben, dann haben Sie auch Zeit, mir bei den Karten zu helfen.« »Beschäftigter als ich bin – sowas gibt’s gar nicht«, gab der Fähnrich prompt zurück. »Ich arbeite mir den Hosenboden bis auf die Knochen durch…« Er seufzte schwer und beugte sich wieder über seine Arbeit. Und wieder donnerte es oben, wo Allingham fortfuhr, seine Männer kräftig zu belehren. Der bärtige Bootsmann erschien in der Tür und sagte dienstlich knapp zu Lockhart: »Männer mit Meldungen und Gesuchen angetreten, Sir.« Aus der Pantry zog anregender Kaffeeduft herüber. Es ging voran mit Saltash. Der Kommandant war abwesend: er ging wieder ›zur Schule‹. Seit vierzehn Tagen befand er sich in Liverpool, wo er sich mit schweren Problemen zu beschäftigen hatte, die unter dem harmlos klingenden Titel ›Taktischer Kursus für Kommandanten‹ liefen, aber geradezu entmutigend hohe und vielfältige Anforderungen stellten. Der Kursus sollte sie mit neuesten Entwicklungen im atlantischen Krieg vertraut machen und ihnen Gelegenheit zum genauen Studium der Einzelheiten bieten: vormittags gab es Vorträge, und jeden Nachmittag mußten die Offiziere sich in einem großen, kahlen Raum einfinden, wo sie das ›Kampfbild‹ in Form von Modellen eines ganzen Geleitzugs und des ihn bedrohenden Feindes vor sich hatten. Dann begann das ›Kriegsspiel‹: Sichtmeldungen trafen ein, Schlechtwetter wurde markiert, Schiffe wurden versenkt, U-Boote bedrängten den Geleitzug von allen Seiten, und die Führer der Sicherungsfahrzeuge mußten nun ihre Abwehrtaktik entwickeln und anwenden wie draußen an der Front. Den Kursus leitete ein Kapitän zur See, dem zahlreiche geduldige Marinehelferinnen assistierten, indem sie die Schiffsmodelle bewegten, die neuesten ›Signale‹ brachten und manchmal mogelten, indem sie diskret einem ratlosen ›Schüler‹ zuflüsterten, welche Aktion im gegebenen Moment angebracht war. Manchem Teilnehmer war es peinlich, zu sehen, daß diese Mädels offenbar die Sache besser beherrschten als er. Obwohl die Instruktionen sehr ausführlich gegeben wurden, fand Ericson das Lernen in vieler Hinsicht außerordentlich schwierig. Die Entwicklung auf dem Atlantik war in den vier Monaten, die er an Land zubringen mußte, nicht stehengeblieben: es gab neue Waffen, neue Gefahrenmomente, neue taktische Methoden für Gegenangriffe, von denen er noch wenig Ahnung hatte. Er merkte, wie sehr ihm die Praxis fehlte und wie unsicher er in der Befehlsgebung wurde: in kritischen Lagen mußte jetzt so vielerlei beachtet werden, insbesondere bei der Abwehr. Oft wollten ihm kaum die korrekten Ruder324
kommandos einfallen, oder er konnte keinen unmißverständlichen Signaltext aufsetzen… Seinem Rang gemäß wurde er fast jedesmal beim Kriegsspiel als dienstältester Geleitgruppenoffizier eingesetzt, und immer, wenn er Fehler beging, bedrückte ihn die Vorstellung, daß er in wenigen Wochen wirklich eine ganze Geleitgruppe draußen zu führen hatte, und wie hoch im Kampf der Preis für solche Fehler sein würde: mehr versenkte Schiffe, mehr ertrunkene Männer, vielleicht auch wieder eine sinkende Compass Rose – und all das war dann seine unmittelbare Schuld und belastete allein sein Gewissen… Zuweilen unterliefen ihm so elementare Fehler, daß er selbst entsetzt war. Einen dieser Fälle konnte er lange nicht wieder vergessen: wie gewöhnlich als dienstältester Gruppenoffizier eingeteilt, hatte er ein Nachtgefecht zu führen. Als Eröffnung bekam er zwei ›Sichtmeldungen‹ in Form von zwei dringenden Signalen innerhalb zweier Minuten. »Radar Kontakt 300 Grad, drei Meilen.« »Asdic Kontakt 360 Grad, eine Meile.« Das bedeutet also wahrscheinlich: zwei U-Boote, nicht weit entfernt und beide auf derselben Seite des Geleitzuges. Er überlegte einen Moment, dann befahl er durch Signal zweien seiner als Seitensicherung fahrenden Schiffen, diese Kontakte genau zu verfolgen. Und dann überlegte er angestrengt, was als Nächstes geschehen mußte, indem er sich bemühte, in dem Modellbild auf dem Fußboden die Wirklichkeit zu sehen, in der die Gefahr drohte und hundert Schiffe geschützt werden mußten. Sein Gehirn blieb leer, nichts wollte ihm einfallen. Die Minuten verstrichen. Schließlich schüttelte die Helferin neben ihm ernst und tadelnd den Kopf. »Sir«, sagte sie, »Sie dürfen doch nicht vergessen, ein anderes Sicherungsfahrzeug in die Lücke an Steuerbord zu beordern.« ›Die Lücke‹, dachte Ericson, von einem übermäßigen Schuldgefühl bedrückt. ›Ja, wir hatten schon ‘mal so eine Lücke…‹ Er blickte das knapp zwanzig Jahre alte Mädchen an: dieses junge, nachdenkliche und kluge Gesicht brachte ihm schlagartig seine Unvollkommenheit zum Bewußtsein. ›Ob mein Gedächtnis nicht mehr will?‹ fragte er sich beklommen… ›Wahrscheinlich hat es einfach versagt…‹ Da stand ein Mädel von zwanzig und wußte genau, was zu geschehen hatte, und er, mit achtundvierzig, hatte es nicht gewußt! Vielleicht lag darin das ganze Unglück: in den achtundvierzig Jahren? Und er hatte doch nun schon vier Jahre draußen mitgemacht: vielleicht war er bereits erledigt, verbraucht? Hatte für immer die Beweglichkeit des Verstandes verloren, die er für diese Aufgabe benötigte? Vielleicht war sein Krieg vorbei und er für die Front schon unbrauchbar –? Er hatte diese bösen Gedanken mit einem Kopfschütteln abtun wollen, aber sie wichen nicht, sondern bedrängten ihn sogar noch gegen Ende des Kursus, als er alles We325
sentliche erfaßt hatte und seine Leistungen sich besserten. Diese Depressionen konnte er noch nicht loswerden: die Zukunft war für ihn voller Rätsel und erfüllte ihn mit Schrecken. War es nicht, nach dem Verlust von Compass Rose, schon schwer genug, wieder neu zu beginnen und die volle Leistungsfähigkeit wiederzuerlangen? Und nun erforderten obendrein diese neuen taktischen Methoden und Probleme in ihrer Vielseitigkeit einen geradezu unglaublichen Kraftaufwand, bei viel größerer Verantwortung! Kein Zweifel, es gab ungeheuer viel Neues zu lernen, und – war er nicht eigentlich schon über die Lernfähigkeit hinaus? Und was für ein Gruppenführer sollte er werden, wenn er Fehler machte, die er vor einem Jahr nicht einmal im Schlaf gemacht hätte –? Von seinen Zweifeln ließ er aber nichts zutage treten, als er auf Saltash zurückkehrte, und wirklich: sobald er den Fuß an Bord gesetzt hatte und das feste Deck unter sich spürte, wurde ihm klar, daß manche seiner Befürchtungen im Grunde dumm und übertrieben gewesen waren. Mit achtundvierzig konnte er sich die Strapazen eines Kommandos doch wohl noch zumuten! Lockhart hatte ihn an der Gangway empfangen, und als sie zusammen durchs Schiff gingen, fühlte er sich weiter gestärkt durch die sichtlichen Fortschritte, die während seiner Abwesenheit gemacht waren. Es war halb fünf nachmittags: die ersten Tagesurlauber traten gerade auf dem Achterdeck an; sie wurden, bevor sie von Bord gingen, mit aller Aufmerksamkeit von Raikes gemustert und sahen sauber und schneidig aus. Saltash schien schon nahezu einsatzbereit: am Oberdeck war alles fertig, alles in Farbe: man brauchte sich nicht mehr seinen Weg wie durch fremdes, mit Hindernissen überfülltes Gelände zu bahnen. – Saltash war nun ein organisches Wesen geworden, als Schiff mit einem eigenen Gesicht, ihnen vertraut in jedem einzelnen Zug. Nachdem Lockhart dem Kommandanten einen bis ins kleinste gehenden Bericht von den Fortschritten der Ausrüstung gegeben hatte, gingen sie zusammen zum Tee in die Messe, wo die übrigen Offiziere schon versammelt waren. Und Ericson empfand es wohltuend, gemütlich in dieser Gesellschaft junger Menschen zu sitzen und sich am Gespräch zu beteiligen, bei dem mit gebührendem Respekt vor dem Kommandanten die Form gewahrt wurde, aber auch eine gewisse ungezwungene Haltung erkennen ließ, daß hier Offiziere außerdienstlich miteinander verkehrten und sich wirklich heimisch fühlten. Es herrschte ein fein abgewogenes und ganz natürliches Gleichgewicht, das beiderseits voll gewürdigt wurde. »Wie war denn Ihr Kursus, Sir?« fragte Allingham, sobald Ericson in einem Sessel Platz genommen hatte. »Anstrengend, ja?« Ericson nickte. »Man hat uns nicht gerade ›gejagt‹, aber sonst war alles dran. Ich habe lange nicht so hart gearbeitet.« 326
»Gibt es schon wieder neue Waffen?« fragte Raikes. »Tja –.« Ericson überlegte. »Man hat die Geräusch-Torpedos weiter entwickelt, die das Schiff von achtern anlaufen, aber das ist mittlerweile nichts Neues mehr. Und gerüchtweise verlautet etwas von einer Art Unterwasseratmung für U-Boote« – er unterbrach sich und blickte rundum – »davon soll übrigens noch nicht gesprochen werden: es ist ein langes Rohr, oder eine Röhre, die dem Boot ermöglicht, beliebig lange getaucht zu fahren.« »Die Hunde!« sagte Raikes, aber ohne Gehässigkeit. »Wir werden uns eben noch ein bißchen mehr anstrengen müssen, darauf läuft es hinaus…« Er wandte sich an Johnson. »Die Maschinenerprobung werden wir in etwa zehn Tagen beginnen können, L.I. Wir laufen stromab bis zur Sandbankspitze, wo wir dann vor Anker bleiben, bis wir nach Ardnacraish gehen.« »Das Programm kommt mir bekannt vor«, sagte Lockhart. »Mir auch«, ergänzte Vincent. »Bin gespannt, wie’s dem wilden alten Onkel dort geht.« »Wen meinen Sie damit?« fragte Scott-Brown. »Den Admiral, der sämtliche Sicherungsfahrzeuge für die Front drillt. Er hat gewaltig viel geschafft, den ganzen Krieg hindurch, aber ein Engel der Barmherzigkeit ist er eigentlich nicht.« »Kann er auf so einem Posten auch wirklich nicht sein. –« Ericson begann weiter vorauszudenken. »Was meinen die Herren zu einer Abschiedsfeier, ehe wir von hier verschwinden?« »Ist provisorisch schon arrangiert, Sir«, sagte Lockhart. »Ende nächster Woche, wenn Sie einverstanden sind. Der L.I. will für ein bißchen phantasievolle Beleuchtung sorgen, und im übrigen hatten wir an gute Getränke und ein kleines Essen gedacht.« »Kennen wir denn hier genug Leute für ein größeres Fest?« Scott-Brown lachte. »Bisher enthält die Einladungsliste ungefähr sechzig Namen.« »Sechzig?« Ericson zog die Brauen hoch. »Was haben Sie denn nur alle gemacht, während ich nicht da war?« »Sie wissen ja, wie rasch die Zahl der Messebesucher zunimmt, Sir«, sagte Johnson verdrießlich, wie ein Mann mit schwachem Bankkonto und ohne jede gesellschaftliche Ambition. »War ja hier manchmal das reine Hotel.« »Oh, es sind aber auch eine ganze Menge Leute da, die es verdienen«, sagte Scott-Brown, »und wir sind vielen eine Einladung schuldig, zum Beispiel einigen Offizieren von den beiden anderen Schiffen in der Werft. Und Werftingenieure, und Leute von der Station. Und ‘ne Menge Marinehelferinnen. Eine vorläufige Liste habe ich hier.« 327
Er zog sie aus der Tasche und reichte sie Ericson. »Wird der Admiral kommen?« fragte Ericson, als er den obersten Namen las. »Sein Adjutant sagte, er würde kommen, denn er liebt Geselligkeit und möchte unser Bordfest auf jeden Fall besuchen.« »Gut.« Ericson prüfte weiter die Liste. »Diese mysteriösen Leute mit den schottischen Namen sind vermutlich alle von der Werft? Und wer ist Zweiter Offizier Hallam?« »Eine Circe vom O.P.-Stab.« »Eine was?« fragte Ericson verblüfft. Der Fähnrich wurde rot. »Eh – eine Helferin von der Operationsabteilung, Sir. Der Erste Offizier hat sie eingeladen.« »Hübsch?« »Absolute Spitzenklasse, Sir.« Ericson warf Lockhart, der zu seiner Verwunderung spürte, daß er verlegen wurde, einen verschmitzten Blick zu. »Ich hoffe, Sie werden nicht weich, I.W.O.« »In keiner Beziehung, Sir«, antwortete Lockhart. »Ich dachte nur, es wäre gut, wenn wir möglichst viele Leute von der Station einladen. Man hat uns dort ja recht nett behandelt.« »Fällt Zweiter Offizier Hallam auch unter diese Leute?« »Ich glaube, ja.« »Sie ist zu mir aber wenig nett gewesen«, murmelte der Fähnrich nicht allzu leise. »Holt!« sagte Lockhart im Befehlston des I.W.O. »Sir?« »Jetzt reicht es, verstanden?« »Verzeihung, Sir«, sagte Holt, durchaus nicht eingeschüchtert, »ich dachte, Sie würden sich freuen, das zu hören.« Lockhart öffnete schon den Mund, entschloß sich aber klugerweise, nichts mehr dazu zu äußern. Ericson blickte ihn wieder prüfend an. ›Aha‹, dachte er, ›so stehen also die Dinge! Wird eigentlich auch Zeit. Hoffentlich ist sie wirklich nett.‹ Lockhart hatte kaum ernstlich erwartet, daß Julie Hallam die Einladung zum Bordfest annehmen würde. Als er sie nun in einem Winkel der sich rasch füllenden Messe von Bewunderern umringt sitzen sah, fand er ihre Anwesenheit für seine Herzensruhe gar nicht so erfreulich. Das Mädel war ja unerhört charmant! Da er sie seit ihrer ersten Begegnung nicht wieder gesehen hatte, wirkte alles an ihr neu auf ihn: das Haar, die Form ihres Gesichtes, der wunderbar reine Teint und die großen dunklen Augen. Süßer Schreck durchfuhr 328
ihn. Er hatte sie an der Gangway empfangen und sie fast stumm in die Messe geleitet, wo er sie dann verlassen mußte, weil er sich noch um viele Kleinigkeiten zu kümmern hatte und auch beim Empfang des Admirals zur Stelle sein wollte. Als er nachher wieder die Messe betrat, erkannte er sofort, daß er ihr – räumlich betrachtet – an diesem Abend nicht mehr näherkommen würde. Sie saß auf einer Sessellehne in der Ecke, die offenbar alle männlichen Gäste magnetisch anzog. Scott-Brown, dicht neben ihr, suchte sie mit seinem beträchtlichen männlichen Charme zu beeindrucken, während verschiedene Offiziere vom Stab ganz offensichtlich gewisse Vorrechte zu beanspruchen hatten. Ericson, der umherging und seine Gäste begrüßte, hielt sich in Julies Nähe recht lange auf und wußte sie zum Lachen zu bringen. Holt sprang fortwährend aufmerksam um sie herum, der Adjutant des Admirals mit seinen Orden stand wie eine dekorierte Felsspitze über sie geneigt, und sogar die Stewards, die mit den Getränken und Imbissen hin und her liefen, schienen ihren Gang auf ›langsamste Fahrt‹ zu drosseln, sobald sie in Julies Gesichtskreis gerieten… ›übelnehmen kann ich das keinem, wenn eine Frau so aussieht wie sie‹, dachte Lockhart. Aber trotzdem – verdammt und verflucht! Diese zahlreiche, lärmend frohe Gesellschaft rief ihm den bescheidenen Beginn auf Compass Rose ins Gedächtnis, als sie nur mit wenigen Personen in der kleinen Messe feierten und Bennett mit einem gräßlichen Weibsbild hereinkam. ›Wo mag Julie Hallam damals gewesen sein?‹ dachte er. ›Das ist nun bald vier Jahre her – in diesen vier Jahren muß sie doch mit sehr vielen Männern zusammengekommen sein. Wie macht sie es nur, gleichzeitig so hübsch, so verlockend und so unnahbar auszusehen?‹ Er wandte sich kopfschüttelnd ab und begann sich angelegentlich mit anderen Gästen zu unterhalten. – Der Admiral, ein liebenswürdiger und beliebter Gesellschafter, machte Konversation in königlicher Manier: ein paar klug gewählte Fragen, zwei Minuten für den Austausch netter verbindlicher Redensarten, dann weiter zum nächsten. Zu Lockhart sagte er: »Fahren Sie jetzt zum erstenmal als I.W.O.?« »No, Sir«, antwortete Lockhart, »das war ich schon auf einem anderen Schiff unter Kapitän Ericson, auf Compass Rose.« »Ach, richtig.« Der Admiral, der auch ein königliches Gedächtnis besaß, wich sofort von diesem Thema ab, weil es sich für einen heiteren Abend schlecht eignete. »Also haben Sie die ganze Zeit in den ›Western Approaches‹ gefahren, nicht wahr?« »Yes, Sir. Über drei Jahre.« »Eine lange Zeit. – Ist mit Ihrer Kommandierung alles klargelaufen?« »Yes, Sir.« 329
»Ich hoffe, mein Stab macht alles zu Ihrer besten Zufriedenheit.« »Er hat uns sehr gut unterstützt, Sir.« »Fein.« Der Admiral nickte und schritt weiter. Lockhart hörte ihn gleich darauf Allingham fragen: »Fahren Sie zum ersten Mal als Artillerieoffizier?« Er sah, daß Johnson abgesondert in einer Ecke stand, und ging zu ihm. »Na, macht’s Ihnen Spaß, L.I.?« Johnson nickte und gab, leicht zögernd, zur Antwort: »Mir ist das alles noch ein bißchen neu, I.W.O.« Das gefiel Lockhart ganz besonders bei Johnson: vor wenigen Wochen noch in der Steuermannsmesse eines Zerstörers, gestand er ehrlich ein, daß er sich als Offizier noch fremd fühlte. So sagte er: »Wenn’s Ihnen zu langwellig wird, können Sie sich jederzeit verdrücken.« Johnson lächelte. »Werde ich mir merken.« Lockhart ließ sich von einem der Stewards ein Tablett mit Sandwiches geben und begann diese im Gehen anzubieten, hier und da ein kleines Gespräch anknüpfend. Der Raum war jetzt sehr überfüllt: in der Ecke bei Julie Hallam drängten sich die Gruppen am dichtesten zusammen. ›Wie die Raubvögel‹, dachte er traurig. ›Nein: wie Höflinge, die das absolute Privileg haben, in der Nähe Ihrer Königlichen Hoheit zu verweilen…‹ Für einen Moment konnte er zwischendurch ihren edlen Kopf mit dem dunklen Haar sehen, als sie sich vorneigte, um Holt besser zu verstehen, der sie gerade ansprach. Dann war sie wieder unsichtbar. Lockhart fuhr in seiner Beschäftigung fort und wünschte sich zum ersten Mal seit Kriegsbeginn, er wäre ein hübscher siebzehnjähriger, völlig sorgenloser Fähnrich… Er unterhielt sich mit einer Dame in einem riesigen Hut, die ihn gefragt hatte, wie sie denn bloß ihren Weg finden könnten, wenn sie mitten im Ozean seien. Er sprach mit einem Herrn im Regenmantel, der ihm sagte: »Wir haben uns mit diesem Schiff viel Arbeit gemacht. Hoffentlich pflegen Sie es recht schön.« Er sprach mit einer wenig schönen Marinehelferin, die ihm sagte: «Ich muß Sie schon mal in einem Restaurant irgendwo gesehen haben.« Er sprach mit dem Hafenkapitän, reichte Tabletts weiter, geleitete den Admiral von Bord und kontrollierte an Oberdeck die Verdunkelung. Dann machte er seine Eintragungen im Nachtbefehlsbuch, hatte eine Unterredung mit Oberbootsmann Barnard, kam wieder m die Messe und unterhielt sich mit dem Stellvertretenden Bürgermeister von Glasgow. Die Zeit verging, aber keiner der Gäste machte Anstalten zum Aufbruch. Nachher fand er sich neben dem Ersten Offizier einer anderen neuen Fregatte, der ihm sagte: »Ich bin eben erst gekommen: einer unserer Urlauber war in den Bach gefallen. Wer ist eigentlich das unglaublich hübsche Mädchen da 330
drüben?« Lockhart ließ die Augen, zum erstenmal wieder seit fast zwei Stunden, zu Julie Hallam wandern, die im gleichen Augenblick zufällig den Kopf hob. Über ein Dutzend Leute hinweg, über die nickenden Köpfe und gebeugten Rücken in ihrer Nähe trafen sich ihre Blicke. Sie lächelte jetzt nur ihm zu, auch er lächelte und deutete dann mit einer Grimasse der Verzweiflung auf den sie eng umgebenden Kreis von Männern. Er sah, wie sie unschlüssig überlegte, dann sagte sie etwas zu ihren Nachbarn, schob sich durch den Kreis und kam auf ihn zu. Er schritt ihr entgegen, so daß sie sich unter der Lampe in der Mitte des Raumes trafen: in dem ziemlich grellen Licht erglänzte ihr Haar, aber das Gesicht verlor keinen Schimmer von seiner Lieblichkeit. Ihr so plötzlich nahe zu sein, empfand er wie einen Dolchstoß ins Herz, doch der Dolch zerschmolz sofort und hinterließ zärtliche Wärme. Ihr Mund und ihre Augen lächelten noch, als sie zu ihm aufblickte und sagte: »Als meine offizielle Eskorte haben Sie selbst eigentlich schlecht abgeschnitten, nicht wahr?« Er lachte, denn das Wort Eskorte gefiel ihm. »Bei so viel Konkurrenz…«, sagte er. »Und Sie hatten viele Pflichten inzwischen, als tüchtiger IWO.« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Ich muß leider bald gehen, wir müssen um zehn im Quartier sein.« »Oh! Ich habe mich ja noch gar nicht mit Ihnen unterhalten können!« Wieder lächelte sie und blickte ihm frei ins Gesicht. Nach kurzem Schweigen sagte sie, in ganz leichter Verlegenheit: »Sie glauben nicht, wie viele Gäste mir heute abend gesagt haben, daß Sie mich nach Hause bringen würden…« Ganz langsam schritten sie durch die Nacht: zogen die menschenleeren Straßen gewissermaßen in die Länge und gingen fast zögernd über das nachtschwarze Pflaster, als sei es der Maßstab der eilenden Zeit. »Sie scheinen auf Ihrem Schiff ja wirklich eine recht lustige Messe zu haben«, war ihre erste Äußerung. »Der Allingham gefiel mir, und Ihr Arzt auch. Und der Fähnrich natürlich – der ist einfach goldig.« »Gegen den komme ich mir manchmal wie neunzig vor. Aber es ist schön, einen wirklich jungen und fröhlichen Menschen in der Nähe zu haben.« »Ja, das kann ansteckend wirken. – Ericson muß doch bei Ihnen sehr beliebt sein?« »Mit dem möchte ich am liebsten den ganzen Krieg zusammenbleiben, und mit keinem andern. So gern mag ich ihn.« Ihr kaum erkennbares Gesicht wandte sich ihm zu, und er sah sie lächeln. »Fast genau dasselbe hat er von Ihnen gesagt.« 331
»David und Jonathan«, sagte er. »Klingt das albern?« »Ich bin eifersüchtig.« Er hörte sie lachen. »Eifersüchtig meine ich natürlich nicht, sondern daß Frauen nicht oft solche Kameradschaft erleben, und wenn, dann wohl selten bei so wichtigen Dingen wie der Führung eines Schiffes, oder in der Kriegsführung.« »Es ist so ziemlich die einzige Art persönlicher Beziehungen, die in Kriegszeiten erlaubt sein dürfte.« »Aber Heiraten doch wohl auch?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das ist eine Art Ausweichen, eine Ablenkung. Darüber sprach ich heute abend mit einer aus Ihrem Korps: einer Joan – ich weiß den Nachnamen nicht.« »Joan Warrender. Ja, die will demnächst heiraten.« »Einen Seeoffizier. Sogar den Kommandanten eines Zerstörers.« »Na, und?« fragte sie ganz verwundert. »Ich frage mich, wie sich das vertragen soll: heiraten und im Kriege einen Zerstörer kommandieren!« Schweigen trat ein, während sie über eine Kreuzung gingen und drüben wieder in den Schatten eines Hauses kamen. »Ich glaube, Sie denken streng puritanisch, wie?« fragte sie sinnend. »In diesem Punkt, ja. Im Kriege muß der Mensch sich ganz der Sache widmen, alles andere ist nur hinderlich. Da muß er nur an ein Ziel denken, darf niemals zerstreut sein, muß derb sein und nicht zart – lauter Dinge, die zum Eheleben nicht passen. Andernfalls wird er versagen, und der Krieg wird ihn ausmerzen. Oder macht noch Schlimmeres mit ihm: er nimmt ihm das Leben, wenn er sich ihm nicht richtig widmet.« »Wie sind Sie eigentlich so geworden?« fragte sie nach einer Weile. »Sie sind doch nicht Berufssoldat und brauchen sich daher nicht selbstverständlich aufzuopfern. Was waren Sie denn vor dem Kriege?« »Journalist. – Das hat sich so von allein ergeben. Vielleicht trifft, was ich sagte, nur für mich selbst zu. Aber auf meinem vorigen Schiff hatten wir einen Mann, der durch eine schlechte Ehe ganz in die Brüche ging – und meine Meinung ist, daß man auf dieselbe Weise durch eine gute Ehe ruiniert werden kann. Es ist zu gefährlich, man legt sich zu starke Fesseln an. Besser, man steht auf sich allein. Jedenfalls muß man beruflich die einheitlich klare Linie anstreben. Sich mit halber Kraft durchschlagen, das geht einfach nicht.« Ganz unlogisch sagte sie: »Sie sind sehr mager.« »Das kommt hauptsächlich von Compass Rose. Und von Sorgen, und daß ich lange Zeit zu wenig Schlaf gehabt habe.« Aber von dieser ganzen Geschichte wollte er überhaupt nicht reden, sondern sagte jetzt: »Sie sind nicht zu mager.« 332
Lachend gab sie zurück: »Das sollten Sie eigentlich näher erklären.« »Ich meine: Sie sehen nicht abgespannt oder abgehetzt aus, obgleich Sie eine so strapaziöse Stellung haben. Was waren Sie denn vor dem Kriege?« »Ich war bei einer Modenzeitschrift.« »Oh.« Er umfing ihre Gestalt in der strengen, unweiblichen Uniform mit einem Blick, und sie lachten beide, indem sie die dunkle Nacht wie einen sie vertraulich und bequem schützenden Mantel empfanden. Er sagte plötzlich: »Und jetzt sind Sie ›SOO2‹ und sehen auch so aus. Sonst aber haben Sie doch alles, was zu einer Frau gehört, denke ich.« Er war gespannt, wie sie darauf antworten, oder ob sie gar spröde ihre Vorzüge ableugnen würde. Aber diese Sorge war unnötig. »Die Zusammenstellung dieser Dienstkleidung ist nicht besonders glücklich«, sagte sie. Und wieder überraschte ihn die klare Tiefe, die Schönheit ihrer Stimme, die aus dem Dunkel erklang. Wieder verlangsamten sie ihren Gang, indem sie gleichen Schritt hielten und er ihrer Stimme lauschte. »Sehen Sie«, fuhr sie fort, »ich habe dieses Gesicht und habe ein Gehirn und kann reden. Aber die Leute mögen so eine Kombination nicht recht: sie wollen lieber nur eins auf einmal. Die Frauen fürchten diese Mischung, die Männer lehnen sie ab, sie wissen nichts damit anzufangen.« »Aber sicher wissen Sie das! Da brauchte man bloß heute abend die Schwärme Ihrer Verehrer zu sehen.« »Und was wollten diese Verehrer schließlich? Mich als Frau und nichts anderes. Nicht die Persönlichkeit.« »Aber sie unterhalten sich auch gern mit Ihnen.« »Und denken dabei immer nur ›Was soll das ganze Geplapper – weiß sie denn nicht, daß der Mund zum Küssen da ist?‹ Stimmt’s?« Er lachte. »Vielleicht. Aber Sie möchten gar nicht anders sein.« Sie warf herausfordernd den Kopf hoch. »Nein. Ich will auch gar nicht so tun, als ob ich anders sein möchte, etwa ein unschönes Mädchen mit Verstand, um den Frauen, oder ein hübsches ohne Verstand, um den Männern zu gefallen.« »Mich dürfen Sie da ausschalten«, sagte er, »ich habe eine Schwäche für harmonischen Ausgleich.« Gleich darauf blieb sie vor einem hohen düsteren Gebäude stehen: »Hier wohne ich.« Er wußte nicht, wie er sich von ihr verabschieden sollte. Dachte an ihre Redensart von dem ›Mund, der zum Küssen da ist‹, aber dieser Moment war nicht dafür da. Statt dessen sagte er: »Für mich war dieser Spaziergang das Fest. Ich danke Ihnen dafür.« 333
Das Licht einer abgeschirmten Birne im Eingang zeigte ihm ihr Gesicht: ernst und dabei herzzerbrechend schön. Wie gebannt hielt ihn das Bild – er hätte es für ewig festhalten mögen, es lähmte ihn fast. Aber was half’s: dies war ein Abschied. Die Nacht, die sie umfangen hatte, mußte sie nun trennen. »Ja, der Spaziergang war eine gute Idee«, sagte sie. »Übrigens war es meine. Oder hätten Sie mich darum gebeten?« Er schüttelte den Kopf. »Und warum nicht? Hingabe an den Krieg?« Wieder verneinte er. »Ich dachte eben nur, Sie würden ablehnen.« »Das nächste Mal«, fing sie an, sprach aber nicht weiter. Lange schwiegen sie jetzt und sahen sich nur an: sie mit verhaltenem Blick, leicht verwirrt, er unsicher und zerstreut. Endlich sagte er: »Ich hielt es für besser, Sie eine Weile in der Ungewißheit zu lassen. Das nächste Mal werde ich bestimmt nicht verfehlen, meinen Anspruch so früh wie möglich zu erheben.« »Ich würde dann sehr bedauern, wenn Sie es nicht täten«, antwortete sie, wieder in ihrem ernsten, gemessenen Ton. »Auch mit puritanischen Männern spazierenzugehen, habe ich nicht jeden Tag Gelegenheit.« »Nächstes Mal also mit mir«, bestätigte er. »Gute Nacht.« Sie nickte ihm zu und war sogleich einige Stufen hinauf und durch einen Türvorhang verschwunden. Lockhart starrte eine Weile den Platz an, auf dem sie gestanden hatte, dann machte er kehrt und ging langsam wieder die Straße zurück. Seine Schritte klangen hohl, in endlosem Widerhall auf dem einsamen Pflaster, aber der Mann in ihm war nie weniger einsam gewesen… Vizeadmiral Sir Vincent Murray-Forbes, K.C.B. D.S.O. kam in Ardnacraish an den Kai, sobald Saltashs Einlaufen gemeldet wurde, und war in seiner Barkasse schon unterwegs, als sie kaum an der Boje festgemacht hatte. Saltash war das fünfhunderteinundzwanzigste neue Schiff, das ihm durch die Hände ging, und er empfing sie nicht anders als die früheren fünfhundertzwanzig. Wenn die enorme Menge Arbeit, die auch dieses Schiff ihm bringen mußte, ihn belastete, so sah ihm das äußerlich keiner an, denn er war so wach und aufmerksam wie immer, und auch die Art, wie er an Bord kletterte, war genau so energisch wie früher. Imposant anzusehen mit der dicken Goldbetressung, dankte er für das Seitepfeifen und den Gruß Ericsons und seiner Offiziere, die respektvoll in einem Halbkreis auf dem Achterdeck standen. Dann trat er ein paar Schritte vor, blickte rundum und wandte sich an Ericson: »Schiff ist größer, als ich gedacht hatte.« Ericson, der sich die passende Antwort überlegte, fand sie sofort und sagte sichtlich interessiert: »Es ist, glaube ich, die erste Fregatte, die hierherkommt, 334
Sir?« »Ja. Und damals war Ihre Korvette die erste, 1939. Merkwürdig. Wie lange ist das schon her! – Machen Sie mir Ihre Offiziere bekannt.« Mit schnellen Schritten, kurz stehenbleibend, passierte der Admiral den Halbkreis. Zu Lockhart sagte er: »Sie kamen mir das vorige Mal ohne Mütze entgegen«, und zu Vincent: »Sie waren auf Trefoil.« Die übrigen wurden nur mit einem Kopfnicken bedacht, während die Augen unter den buschigen Brauen sie scharf musterten. Anschließend machte er in flottem Tempo einen Rundgang durchs Schiff, stieg dann in Ericsons Kajüte hinab, wo er ein Glas von ihrem besten Sherry akzeptierte, und sagte: »Diese Fregatten scheinen mir ein brauchbarer Typ zu sein. Wir haben im Atlantik größere und widerstandsfähigere Einheiten nötig, obwohl die Korvetten sich gut bewährt haben, ausgezeichnet sogar.« Er blickte Ericson ins Gesicht: »Sie haben Compass Rose verloren?« »Yes, Sir.« »Ein langer Krieg«, sagte der Admiral und sah dabei aus, als würde er notfalls sofort wieder von vorn anfangen. »Ein verdammt langer Krieg. Aber die Hunnen beginnen zu rennen, bei Gott, sie rennen jetzt. Oder jedenfalls werden sie bald. Und das ist der Anfang vom Ende.« Seine Haltung änderte sich. »Sie sind hier für drei Wochen, Ericson. Über die Art der Ausbildung brauche ich Ihnen ebensowenig zu sagen wie über meine speziellen Wünsche, denn Sie kennen das Niveau, das ich erreicht wissen will.« Er blickte durch das Bullauge. »Ein bißchen öde werden Sie es hier finden, wie gewöhnlich. Wir haben jetzt zwar an Land ein Kino und eine bessere Kantine, aber sonst ist noch alles beim alten.« Ericson riskierte ein Lächeln. »Soweit mir in Erinnerung ist, Sir, bleibt hier sowieso nicht viel Freizeit.« »Das kann ich nur unterstreichen, bei Gott! Wir stehen ja noch mitten im Kriege. – Wie macht sich übrigens Ihr I.W.O.? Ist der besser als der vorige?« »Er ist tadellos, Sir. Wir sind schon lange zusammen.« »Ganz erstaunlich, was diese Kerls von Reservisten geleistet haben! Ich hätte das anfangs nicht für möglich gehalten.« Er trank seinen Sherry aus, lehnte ein zweites Glas ab und erhob sich. »Ich muß aber jetzt weiter. Sie müssen nächstens mal bei mir zu Mittag essen: ich möchte von Ihrem U-Boot hören.« ›Wie macht er das nur‹, dachte Ericson, während er ihn über Deck begleitete: ›hat er ein an Wunder grenzendes Gedächtnis oder nur gut die Schiffsakten studiert?‹ Beim Fallreep stand die Wache unter Führung des Bootsmanns stramm 335
aufgebaut. »Sie habe ich auch schon gesehen«, sagte der Admiral sofort zu Barnard, indem er hauptsächlich den strohgelben Bart fixierte. »Barnard, Sir«, antwortete der Bootsmann in seinem unverfälschten Westenglisch, »Bootsmann auf Tangerine gewesen, als sie hier oben lag.« Der Admiral nickte befriedigt und sagte zu Ericson: »Trug damals keinen Bart. Aber es gehört mehr dazu als ein Bart, um einen Mann unkenntlich zu machen. Habe den sofort erkannt.« Die Pfeifen trillerten, der Admiral salutierte zum Schiff und stieg über die Reling, alles wie in einem einzigen gewandten Schwung. Als er mit dem Kopf in Höhe der Reling war, sagte er grob: »Ihre Übungen in See beginnen morgen früh sechs Uhr dreißig!« Damit verschwand er nach unten, und sogleich schor die glatte, blitzblanke Barkasse von der Bordwand ab und flitzte dem Ufer zu. Unterwegs kam von ihr ein mit Handlampe gemorstes Signal an Saltash: »Sämtliche Geschützrohre sind im Hafen längsschiff auszurichten.« Lockhart machte rasch einen Rundblick und sah zu seinem Schrecken, daß ein Geschützrohr tatsächlich um ungefähr zehn Grad aus der Richtung gedreht war. Schweren Schrittes ging er nach achtern, um Allingham zur Rede zu stellen. Drei Wochen, hatte der Admiral gesagt, und drei Wochen wurden es, in denen jede Stunde zählte. Die Zeit verging jetzt schneller: alle Offiziere, außer Holt, hatten weniger zu lernen, allerdings dafür mehr zu üben und sich praktisch zu vervollkommnen. Im ganzen knüpften sie nur an schon bekannte Aufgaben an, die jetzt in größerem und breiterem Rahmen zu erfüllen waren als früher. Saltash lief schneller, feuerte aus mehr Rohren, entdeckte Unterseeboote auf größere Entfernung und hatte mehr Wasserbomben zu werfen als die Korvetten, so daß neu für die Besatzung nur der Umfang der Armierung und die Abwehrmethoden waren. Die U-Bootsbekämpfung jedoch war ihnen vertraut, im Prinzip war es ganz die gleiche Aufgabe wie in den vergangenen drei Jahren, obwohl die Waffen nun besser waren: sie mußten sich abfinden mit A, sich schützen gegen B, und A und B waren die gleichen alten Akteure ›Wetter‹ und ›Feind‹, die beide hinter den Kulissen warteten, um wieder in einer neuen Szene des längsten Schauspiels der Welt mitzuwirken. Die Tage vergingen: das Schiff lebte sich ein und begann zu funktionieren: die Männer wurden schneidiger, so daß die Zeit für jedes Manöver – ob Feuergeschwindigkeit, Wasserbombenwurf, Signalisieren, Boote fieren, Schläuche ansetzen und so weiter – allmählich um immer weitere Sekunden verkürzt wurde. Saltash wurde dem Bild ähnlich, das in der Vorstellung des Admirals lebte und in Ericson. Eine größere und stärkere Compass Rose 336
wollte Ericson aus ihr machen. Wenn er in Erinnerungen befangen zu grübeln begann, schien ihm das kein sehr glückliches Ziel, aber schließlich war das doch der Sinn des Ganzen, wenn einer ein neues Schiff mit größerer Besatzung bekam. – Er und Lockhart betrauerten gleichermaßen die Vergangenheit, der sie jetzt den Rücken drehen wollten. Und das wurde ihnen leichter gemacht durch ein Schiff, das ihnen genau zur rechten Zeit in die Hände kam und den großen Anforderungen der Zukunft, auf die sie sich gefaßt machen mußten, wohl gerecht zu werden schien. Auf einem Schiff von dieser Größe waren sie beide viel entfernter von der Mannschaft, als sie es von Compass Rose kannten. Das bedeutete, daß sie dienstlich nicht mehr den vertrauten Umgang mit den einzelnen hatten, sondern es jeweils nur auf zahlenmäßige Einteilung der Männer ankam: zwanzig für eine Arbeit auf der Back, sechzehn Heizer für die Übung Ölübernahme auf See und so weiter. Es kam einzig darauf an, zu gegebener Zeit genug Leute verfügbar zu haben, und dazu einen Bootsmaat, der sie, weil er ihre besondere Eignung besser kannte, nach Namen einteilen konnte. Saltash hatte fast die doppelte Besatzung einer Korvette, und manchmal schien es den Offizieren, als seien ihre Männer auch doppelt so weit von ihnen entfernt und entsprechend weniger bekannt. Hier gab es keinen Matrosen Gregg mit der untreuen Frau, keinen Wainwright, der bis zuletzt die Wasserbomben betreute, keinen Signalmeister Wells, der für seine Männer wie ein Vater sorgte. Das heißt: wenn Männer wie diese an Bord waren, – und das waren sie bestimmt – so fielen sie nicht ins Auge und traten nicht auf als Individuen, deren Schwächen der Offizier kannte und berücksichtigte, sondern blieben verborgen unter Namen im Wachbuch oder in der Wehrsoldliste. Vielleicht war das ein Gewinn, vielleicht ein Verlust. Wenn Lockhart morgens bei der Musterung an der Doppelreihe der achtzig Matrosen entlangblickte, die er kaum von Ansehen kannte und an Land wohl kaum wiedererkannt hätte, dann tat es ihm leid um die alte Zeit, als er die Besatzung von Compass Rose wie eine Familie empfunden hatte, nicht wie jetzt als eine unpersönliche Parade. Für die Leistungsfähigkeit – eine Frage, die immer nur sachlich betrachtet werden mußte – war es sicherlich ein Gewinn. Diese Überlegungen beschäftigten Lockhart öfters, so zum Beispiel auch, als er das Walboot fieren lassen wollte und bemerkte, daß nach einem Tag in See ein paar von der Bedienung elend seekrank waren. Zwölf Mann brauchte er. ›Ich will mich nicht darum kümmern, ob sie heute morgen einen Brummschädel oder sonst was haben, ob sie in Schulden oder anderen Nöten sind, denn ich will nur das Boot zu Wasser haben. Zwölf Mann, darauf allein kommt es an: einerlei welche Männer‹. »Bootsmann!« So und nicht anders mußte er entscheiden. – Gerade in seiner dienstlichen Stellung als I.W.O. ging alles viel mehr nach dem Prinzip der Zahl als nach dem einzelnen Men337
schen, ein Unterschied, der ihm auf dem großen Schiff so recht bewußt wurde. Er hatte freilich dabei ein gewisses Schuldgefühl: als ersetze er, wie bei dem Bootskommando, zwölf vertrauenswürdige Arbeiter durch zwölf mechanische Greifer. Wohlüberlegt, die Greifer konnten zwar mehr leisten, aber das heilte nicht die dem Menschentum geschlagene Wunde… Zweifellos verlief so der ganze Krieg: er entpersönlichte, der Einzelmensch mußte untertauchen, und statt dessen herrschten die kahlen Begriffe ›ein Mann‹ = ›zwei Hände‹. Der Ton lag jetzt auf der Unermüdlichkeit der Kriegsmaschine: die Männer waren nur Teile von ihr und mußten das bleiben, bis ihre Funktion erfüllt war oder sie nicht mehr konnten. Wurden sie bei dem Vorgang restlos verbraucht, so war das ihr Pech, nicht Pech für den Krieg, der bis aufs Letzte seinen materiellen Nutzen aus ihnen gezogen hatte. Um zum Erfolg zu führen, verlangte dieses grauenvolle Ringen von vielen Millionen Einzelmenschen ›hundert Prozent‹. In diese Sparte seiner Rechnung fielen sowohl das Sterben wie auch – weiter unten auf der Liste – die Auslöschung alles Eigenmenschlichen als wesentliche Posten im Gesamtpreis. Sie saßen gerade beim Abendbrot in der Messe, als der Befehl eintraf, der das Ende ihres Aufenthaltes in Ardnacraish bedeutete. Der abschließende Bericht des Admirals war schon vorher gekommen: er war ›zufrieden‹, – nicht mehr und nicht weniger – und Saltash konnte auslaufen. Das Signal, das diesen Befehl in Bewegung umsetzte, war kurz und sachlich: »H.M.S. Saltash läuft aus nach Greenock 15. April 06.00 Uhr und wird dort der Geleitgruppe Clyde zugeteilt.« »Verdammt!« sagte Vincent, als er die Meldung las: »Ich wollte wieder in Liverpool sein.« »Ich bin mit dem Clyde ganz einverstanden«, sagte Johnson. »Und ich mit jedem Ort, denn ich will die Welt kennenlernen«, sagte Holt. »Ich muß schon sagen«, bemerkte Scott-Brown, »daß es schlechtere Plätze gibt als Glasgow im Frühling.« »Davon werden wir vielleicht nicht viel sehen«, sagte Lockhart so gleichmütig wie möglich. Der Fähnrich betrachtete ihn mit wachen, fragenden Augen, aber Lockhart wich seinem Blick aus. – ›Julie‹, dachte er, ›so war es doch wohl kein endgültiger Abschied.‹ – »Immerhin ist es nicht schlecht, Glasgow in der Nähe zu haben.« So zogen sie, zum zweiten Mal, in den Krieg… Der Krieg, in den sie jetzt zogen, – um die Mitte des Jahres 1943 – hatte einen Wendepunkt erreicht, der Hoffnungen gab. Seit Beginn des Jahres waren die Sicherungsfahrzeuge und Geleitzüge im Atlantik weder am Gewinnen noch am Verlieren: der Gleichstand schien erreicht. Die Sicherungs338
fahrzeuge holten den großen Vorsprung der U-Boote auf und erzielten, unter gewaltigen Anstrengungen, einen gewissen Ausgleich der Versenkungen. Noch waren ihre Erfolge recht gering: manchmal befanden sich siebenhundert Dampfer und hundert Sicherungsfahrzeuge gleichzeitig in See, so daß die U-Boote eine riesige Auswahl an Zielen hatten. Aber die dünne Abwehr war scharf: die U-Boote konnten nicht mehr so entscheidend durchstoßen, konnten den blutigen, in drei Jahren gewonnenen Vorsprung nicht mehr halten. Ganz gewiß bemühten sie sich aufs äußerste und wandten jedes mögliche Mittel an. Die Rudelangriffe erreichten jetzt ihren Höhepunkt, und gelegentlich gab es böse Überraschungen, vom Feind mit aller Härte erkämpfte Erfolge, wie zum Beispiel die in zwei Nächten im Südatlantik erzielte Versenkung von sieben Tankern aus einem Geleitzug von neun. Der Feind war jetzt in der Lage, über hundert Unterseeboote in See zu schicken, von denen sich in bestimmten Gebieten jederzeit bis zu zwanzig zu einem Rudel vereinigen konnten. Zu Anfang des Jahres stiegen ihre Erfolge abermals bis zum Gipfel im März, als sie hundertundacht Schiffe versenkten. Die neuen akustischen Torpedos, die sich automatisch nach dem Schraubengeräusch ins Ziel steuerten, forderten viele Opfer. Dann aber wendete sich langsam das Blatt: im März wurden fünfzehn U-Boote vernichtet, im April sechzehn und im Mai die ungeheure Zahl von fünfundvierzig. In diesem Stadium wurde die Sache dem deutschen Oberkommando allem Anschein nach bedenklich, denn die UBoote verzogen sich nun allmählich von den nordatlantischen Geleitzugwegen und zerstreuten sich in andere Gebiete, wo das Operieren leichter war. Endlich, endlich verloren die Angriffe an Kraft. Kraft verloren sie, weil das Tempo zu scharf wurde: die Sicherungsfahrzeuge wie die U-Boote waren pausenlos an der Front gewesen, und beide spürten jetzt das Ausmaß der gegnerischen Abwehr sehr empfindlich. Ihre Reichweite dehnte sich nun über den ganzen Atlantik aus, dank der neuen Technik, auf offener See Treiböl zu übernehmen. Und nun waren auch genug Schiffe vorhanden, um viele Geleitgruppen für Sonderaufgaben zusammenzustellen, selbständige Flottillen, die nicht an ein bestimmtes Geleit gebunden waren, sondern den am härtesten Bedrängten zu Hilfe eilten. Und schließlich hatten die Sicherungsfahrzeuge durch Erfahrung gelernt, wie sie den Feind aufspüren, beschleichen, vernichten und Versager auf ein Minimum herabdrücken konnten. Der Krieg machte jetzt eine verfeinerte Taktik notwendig. Nichts blieb dem Zufall überlassen, die Zeit der Notbehelfe war vorbei: jetzt liefen keine unvorbereiteten und nur schwach mit ein paar Wasserbomben und zwei MG’s bewaffnete Geleitfahrzeuge mehr aus, um geradenwegs in ihr Verderben zu eilen: jetzt herrschte im Atlantik die Wissenschaft mit ihren sachverständigen Helfern. Radar und Asdic waren Geräte 339
von ungewöhnlicher Präzision geworden; ein System zum Abfangen der Funksprüche von U-Booten ermöglichte, feindliche Angriffspläne fast schon im Entwurf zu erkennen. Viele Geleitzüge wurden von Flugzeugträgern begleitet, gaben ihnen für die ganze Reise die Luftbedeckung, die der schwarzen Wasserfläche in dem bösen ›toten Sektor‹ des Atlantik so lange und zum Unheil für so viele Schiffe gefehlt hatte. Gegenangriffe auf U-Boote wurden jetzt mit großem Geschick ›koordiniert‹: Fronterfahrung und Übungen in der Hafenzeit, an denen alle Schiffe teilnahmen, wappneten die Sicherungsfahrzeuge so gut, daß sie nicht nur auf alle Phasen und Zufälle des Kampfes vorbereitet waren, sondern jedes Schiff jederzeit orientiert war über die Absichten der andern Schiffe in seinem Verband. Es gab keine Improvisationen mehr, nicht mehr dieses unsichere Gefühl unter der Devise ›Es wird schon gehen‹, die das Leben so vieler Schiffe und Männer gekostet hatte. Jetzt verlief die Aufgabe des Vernichtens glatt und sozusagen reibungslos, und die Schiffe, die sie draußen zu erfüllen hatten, durften sich auf starke und gut organisierte Unterstützung der Landstationen verlassen, in der Ausrüstung, der Ausbildung, und in jeder anderen Beziehung. Jedes Schiff wurde von seinem Stützpunkt aus voll bewaffnet in den Krieg geschickt, in dem sich nun Verluste der Geleite vermeiden ließen und die völlige Vereitelung feindlicher Angriffe und sogar die Versenkung von U-Booten fast alltägliche Ereignisse wurden. So war es jetzt, da der Erfolg sich auf die Seite der Sicherungsfahrzeuge neigte, wohl der beste Moment, wieder in den Kampf einzugreifen. Ericson hatte für zehn Uhr am Morgen ihres Marschtages eine letzte Geleitbesprechung angesetzt, um mit den Kommandanten der sieben andern ihm unterstellten Einheiten noch einmal die einzelnen Operationsbefehle durchzusprechen und die letzten Anordnungen über die Organisation des Geleitzuges zu geben. Die ganze Gruppe, bestehend aus drei Fregatten und fünf Korvetten, lag an der Sandbankspitze vor Anker. Im harten Tidenstrom an ihren verkürzten Ankerketten pendelnd, blickten die Schiffe munter in einen hellen Aprilmorgen mit einer Brise, die erkennen ließ, daß sie nach dem Verlassen des Clyde auf lebhaften Seegang zu rechnen hatten. Die drei Fregatten waren Saltash und zwei andere, die frisch und nagelneu aus der Werft kamen und kurz nach ihr in Ardnacraish erschienen waren. Die fünf Korvetten dagegen waren alte Frontschiffe, was, wie bei fast allen Korvetten, sofort zu sehen war an ihrer äußeren Schäbigkeit, dem Rost, den Salzkrusten und – dem Eindruck hoher kämpferischer Fähigkeiten. Alles unverfälschbare Anzeichen. Ein Viertel vor zehn setzten von allen Schiffen der Reihe nach Motorboote ab: in jedem saß, außer dem Bootssteurer und dem Bootsgast, achtern abgesondert eine Gestalt. Lockhart, der oben am Fallreep stand, um die verschie340
denen Kommandanten zu begrüßen und an Bord pfeifen zu lassen, sah die Boote auf Saltash zukommen wie die Hühner zu dem Mann mit dem Futternapf. Sie mußten sich zwischen vielen Schiffen hindurch ihren Weg bahnen: Lockhart zählte in seinem Gesichtskreis über vierzig Sicherungsfahrzeuge: Zerstörer, Schaluppen, Fregatten, Korvetten und Fischdampfer. Weiter außen lagen im Halbkreis: ein Schlachtschiff, ein Kreuzer und zwei kleine Flugzeugträger, gleichsam um zu unterstreichen, daß mehr als genug Kampfkraft vorhanden sei. Und die gewaltige Ansammlung der zum Geleitzug gehörenden Dampfer, die weiter flußabwärts lagen, bot in ihrer Masse ein Bild konzentrierter Seemacht. Und es war wirklich ein Zuversicht weckendes Bild, das endlich den nahenden Erfolg versprach. Aber es erinnerte unwillkürlich auch an die Schwäche der ersten Jahre. »Ich wünschte, uns hätten früher ein paar solche Schiffe zur Verfügung gestanden«, sagte Lockhart, indem er auf die neuen Sicherungsfahrzeuge wies, zu Raikes, der als Offizier vom Dienst neben ihm an Deck stand. »Da wäre uns manche böse Nacht erspart geblieben.« »Es wird weitergewurstelt«, antwortete Raikes zynisch. »Hätten wir damals diese Schiffe gehabt, so wäre bestimmt etwas nicht mit ihnen in Ordnung gewesen: sie hätten nicht in Salzwasser schwimmen können oder irgend sonst etwas. Man läßt besser alles seinen natürlichen Lauf nehmen.« »Jetzt gibt es aber keine Wurstelei mehr«, erwiderte Lockhart kühl und gab energisch seinen Standpunkt zu erkennen. »Auch damals war davon eigentlich keine Rede, sondern es fehlte uns einfach noch der ganze Apparat, um Sicherungsfahrzeuge schnell genug bauen zu können – daran lag es.« »Das eben gehört ja zu der typischen Wurstelei«, beharrte Raikes. Sollte er einen ernstlichen Streit riskieren? Er wußte, daß Lockhart in dieser Frage gefestigte Ansichten hatte, während er selbst die ganze Art der Kriegführung mehr als Zivilist sah und sein geringschätziges Urteil dann und wann in unbestimmter Art etwa so zusammenfaßte: »Wenn der Krieg nach den Richtlinien kaufmännischer Konkurrenz geführt würde, bestände die Marine keine zwei Wochen.« – »Wir hatten diese Schiffe noch nicht«, fuhr er jetzt fort, »weil wir uns überraschen ließen, als wir nackt und kahl dastanden.« »Darin liegt eben der Unterschied in der Denkweise: ob der Krieg etwas Gutes oder etwas Gräßliches ist«, erwiderte Lockhart. »Wir schoben die Vorbereitung dazu so lange hinaus, wie wir konnten, weil wir den Krieg für etwas sehr Schreckliches hielten, das noch vermieden werden könnte. Und erst jetzt beginnen wir aufzuholen.« »Barkasse kommt längsseits, Sir«, sagte der Bootsmann, der diesem Gespräch gelangweilt zugehört hatte. Er fing einen heimlichen Winkspruch vom 341
Bootssteurer der nahenden Motorbarkasse auf, den er rasch bestätigte. »Kommandant von Harmer, Sir«, ergänzte er dann. »Klar zum Seitepfeifen«, sagte Lockhart. Harmer hatte nach Saltash den dienstältesten Kommandanten, von dem bekannt war, daß er auf genaue Einhaltung aller Marinebräuche stets größten Wert legte. Lockhart konnte beobachten, wie er schon jetzt unauffällig nach oben blickte, ob er einen korrekten Empfang an Bord zu erwarten hatte. ›Am letzten Kriegstage‹, dachte Lockhart, ›werden wir dich vielleicht mit der Mundharmonika an Bord spielen, und zwar mit dem Lied »Ill be glad when you’re dead, you rascal you!«‹ – Da ihm plötzlich bewußt wurde, daß solche Gedanken denen des zynischen Raikes glichen, des hundertprozentigen Amateurs – salutierte er ganz besonders stramm, als der Kommandant von Harmer an Bord zu klettern begann. Mochte der ruhig diese schon an Fetischismus grenzende Schwäche für das einem Kommandanten zustehende Zeremoniell haben, so führte er jedenfalls sein Schiff tadellos, und damit war im Kriege beinah alles wiedergutzumachen, von schlechter Laune bis zur Sodomie. Ein ganz ähnlicher Gedanke ging Ericson durch den Kopf, als er, am Tisch in der Messe präsidierend, einen Blick auf die versammelten Kommandanten warf. Das waren Männer, wie er sie brauchte: zwei von ihnen tranken, das wußte er genau, viel mehr, als sie sich eigentlich erlauben durften, einer benahm sich immer häßlich zu seinen Offizieren, aber – ihre dienstlichen Methoden sprachen für sie: ihre Schiffe ›funktionierten‹. Im ganzen saßen hier sieben, vom Kommandanten der Fregatte Harmer, einem alten Kapitänleutnant, der eher sechzig war als fünfzig, bis zu dem jungen Oberleutnant mit dem Kindergesicht, der die Korvette Petal führte. Aber trotz der großen Unterschiede in Alter, Aussehen, Sprache und Bildung war ihnen allen dasselbe Verantwortungsbewußtsein und die gleiche Illusionslosigkeit ihrer Aufgabe gegenüber anzumerken: ihre zerfurchten Gesichter, aus denen nur zu deutlich sprach, daß sie oft am Ende ihrer Kräfte gewesen waren und es gewiß noch oft sein würden – trugen alle, mehr oder weniger stark eingeprägt, sozusagen den Stempel eines Kommandanten im Kriege. ›Vielleicht sehe ich ebenso aus‹, dachte Ericson. Und er hätte nur an das Gesicht zu denken brauchen, das ihm täglich beim Rasieren im Spiegel begegnete, um zu wissen, daß er auch so aussah… Aber diese scharfen Züge waren Zeichen bewiesenen Mutes, dieser übertrieben strenge und angespannte Ausdruck war entschuldbar. Er bildete jetzt mit diesen Männern am Tisch eine Versammlung von Hauptakteuren eines privaten Kampfes, den sie durch harte Erfahrungen bis in die letzten Einzelheiten gelernt hatten. Es waren Männer, die sich ganz einer einzigen Kriegsaufgabe verschrieben hatten, so wie die Soldaten der Achten Armee in der afrikanischen Wüste, 342 die seit Jahren unter den gleichen
Armee in der afrikanischen Wüste, die seit Jahren unter den gleichen Sternen kampierten, mit denselben Kameraden zusammen waren und drei oder vier Mal kämpfend dasselbe dürre, gefährliche Wüstengebiet durchzogen hatten. Wie diese Wüstenkrieger waren auch die Männer vom Atlantik bewundernswert tüchtige Spezialisten geworden, die für nichts anderes als ihr eigenes Kampffeld Blick oder Zeit hatten. In ihren Augen war schon die Säuberung des ebenfalls heißumkämpften Mittelmeeres eine vollkommen andere Angelegenheit als die ihre: sie wurde durchgeführt von einer anderen Gruppe von Seeleuten, die zwar ihre Kameraden waren, aber sozusagen einer anderen ›Firma‹ angehörten. Ihre Firma war der Atlantik, und ihre Angelegenheit war Jahr für Jahr das Geleiten von Schiffen zwischen der Neuen und der Alten Welt: eine Art von Krieg, die weniger ein Kampf als ein Rettungsmanöver allergrößten Umfangs war – Rettung von Schiffen aus Gefahren, Rettung von Menschen aus dem Wasser, Rettung von Truppen, die Waffen brauchten, und von Flugzeugen, die Brennstoff haben mußten; die Rettung der Vierzigmillionen-Garnison Großbritannien, die Nahrung und Kleidung zum Leben brauchte, um Jahr für Jahr der feindlichen Küste Europas gegenüber bestehen zu können. Wenn die Zeitungen das die ›Lebensader‹ nannten, hatten sie einmal wenigstens recht. Und zu denen, die diese Lebensader beinah vier Jahre lang aufrechterhielten, die erlebt hatten, wie sie fast abgeschnürt wurde und sich schließlich der gefährliche Griff um sie lockerte, gehörten mit Recht die Männer, die jetzt in der Messe von Saltash um den Tisch saßen – voll Hoffnung sowohl wie voller Zweifel, müde, aber nicht zu müde, auf Überraschungen gefaßt und bereit, auch ihrerseits den Gegner zu überraschen. Auf dem Tisch vor ihnen lag ihr Handwerkszeug: Geleitlisten, Operationsbefehle, Seekarten, Signal-Codes, Listen von Funknamen, schematische Zeichnungen, Pläne für Suchaktionen, Tabellen über Brennstoffleistungen; ihnen allen so vertraut wie das Alphabet oder wie dem einzelnen die Glocke seines Schiffes. Denn monatelang, jahrelang hintereinander hatten diese Dinge ihr ganzes Leben ausgefüllt und ihr Gehirn beschäftigt… Ericson blickte auf die Liste der ihm unterstellten Schiffe – sie las sich wie die Inschrift auf einem Banner, dessen Schaft seine eigenen Hände umklammerten: ›Saltash, Harmer, Streamer, Vista, Rockery, Rose Arbour, Pergola und Petal.‹ Aber hatte er den Schaft wirklich fest in Händen? Beim Lesen der Liste war ihm klar, welche Anforderungen damit an ihn gestellt wurden, und es war ihm wieder, – wie bei dem taktischen Kursus in Liverpool – als sei er ihnen nicht ganz gewachsen. Es ließ sich nicht leugnen, daß seine Praxis unterbrochen worden war, die der andern an diesem Tisch aber nicht: keiner von denen war vier Monate an Land hängengeblieben, keiner von ihnen war in die Gefahr gekommen, Rost anzusetzen, und keiner, – das war zwar nur 343
ein persönlicher Gedanke – keiner hatte erst kürzlich sein Schiff und fast seine ganze Mannschaft verloren… Aber das durfte man sich nach außen nicht anmerken lassen! Er räusperte sich. »Sie haben alle das Schema des Geleitzuges vor sich liegen«, begann er gleich dienstlich, »und sehen darin, welche Positionen die Sicherungsfahrzeuge einzunehmen haben, zunächst jedenfalls für die Ausreise: zwei Fregatten als Voraussicherung – das wäre meine und Harmer – an jeder Seite zwei Korvetten: Vista und Pergola an Steuerbord, Rockery und Rose Arbour an Backbord. Die dritte Fregatte, Streamer, läuft in Horchposition und die vierte Korvette, Petal, als Achteraussicherung des ganzen Verbandes.« »Schwanzspitzen-Charly, wie immer«, sagte der junge Kommandant von Petal, keineswegs befangen durch seinen geringeren Rang. »Eines Tages werde ich vielleicht doch einmal feststellen dürfen, wie ein Dampfer eigentlich von vorn aussieht.« »Da erkundigen Sie sich am besten bei Rockery«, bemerkte der Kommandant von Harmer sarkastisch, und alle am Tisch lachten. Rockery war vor ein paar Wochen von einem zurückbleibenden Dampfer, den sie zur Eile hatten antreiben sollen, vierkant gerammt worden, und zwar so heftig, daß sie sich sozusagen um den Bug des größeren Schiffes gelegt und mehrere Stunden da gehangen hatte wie ein gleichmäßig nach beiden Seiten gedrehter eiserner Schnurrbart. Sie war eben erst aus der Reparaturwerft gekommen. »Das war nicht meine Schuld«, sagte der Kommandant von Rockery empört. Seinem Gesicht war anzumerken, daß er diese Worte schon sehr oft hatte sagen müssen, ohne bisher jemanden überzeugt zu haben. »Sie kam direkt auf mich zu, und ich konnte ihr einfach nicht ausweichen.« »Klingt wie von einem Mädchen in Piccadilly«, sagte der Kommandant von Petal. »Das Resultat war ja auch das gleiche«, bemerkte der Kommandant von Streamer, an dessen unfreundlichen Umgang mit Offizieren Ericson sich erinnerte. »Sie mußte zur Reparatur ins Dock!« Wieder wurde am ganzen Tisch gelacht, und die sachliche Haltung, mit der die Sitzung begonnen hatte, lockerte sich noch mehr. Ericson war jedoch nicht geneigt, hier einen leichtfertigen Ton aufkommen zu lassen. Er klopfte plötzlich hart auf den Tisch. »Das ist genug Palaver für heute«, sagte er so kühl er vermochte. »Ich möchte so rasch wie möglich fertig werden, weil Sie sicher an Bord noch ebensoviel zu tun haben wie ich.« Er nahm von der leichten Abkühlung der Atmosphäre gar keine Notiz, blickte keinem ins Gesicht und fuhr fort: »Wir gehen diesmal ganz ‘rüber bis nach St. Johns, Neufundland, Ölübernahme in 344
See wie gewöhnlich, das heißt: Sie geben mir jeden Morgen Ihren Brennstoffbedarf an, und ich bestimme dann Zeit und Reihenfolge, in der Sie beim Tanker längsseit gehen.« ›Ich bin ziemlich schroff‹ dachte er plötzlich, ›aber sie haben selbst schuld, wenn sie hier quatschen wie eine Horde Weiber!‹ Er blickte auf und bemerkte, daß der Kommandant von Harmer ihn mit deutlicher Abneigung fixierte. Nach einer Weile sagte dieser: »Bisher haben wir immer selbst bestimmt, wann wir Öl übernehmen.« Schweigen trat ein, alle warteten auf die Antwort. Ericson erkannte, daß sein strenger Ton, sein erster Versuch, die Gruppe fest in die Hand zu bekommen, allgemein mißfallen hatte und die andern bereit waren, wenn nicht ihm zu trotzen, so doch bei jeder möglichen Gelegenheit seine Autorität in Frage zu stellen. Sie reagierten nicht durch offensichtlichen Zorn, aber schließlich wußten sie ja alle, daß sie ihr Handwerk genau so gut verstanden wie er, – sonst hätten sie wohl kaum ihr Kommando bekommen – aber jeden Zweifel an ihrer Tüchtigkeit lehnten sie natürlich ärgerlich ab. ›Na schön‹, dachte Ericson sofort, ›wenn ihr’s nicht anders haben wollt, muß ich eben grob sein, schließlich bin ich für die Gruppe verantwortlich und trage auch die Folgen für die Fehler, die gemacht werden…‹ Er hob plötzlich die Hand und tippte nur leicht auf die drei breiten Streifen an seinem andern Ärmel. Er sah, daß alle Augenpaare am Tisch dieser Bewegung folgten, die kaum deutlicher und eigentlich nicht beleidigender sein konnte. Dann blickte er dem Kommandanten von Harmer fest ins Gesicht und sagte mit einer Stimme, die ihm selbst fremd vorkam: »Dann gehört das zu den Dingen, die ich zu ändern wünsche.« Dieser unwidersprochene Satz bestimmte den Ton für den Verlauf der Besprechung, und Ericson versuchte gar nicht, ihn zu mildern, obwohl er im Grunde seine Autorität so schroff gar nicht hatte unterstreichen wollen. Vielmehr behandelte er alle vorliegenden Fragen in dieser brüsken Weise: Signalverkehr, Angriffsverfahren und die übrigen paar Hauptpunkte, die vor Beginn jeder Geleitfahrt genau festgelegt werden mußten. Keiner äußerte ein Wort mehr als die sachliche Zustimmung: es kam ihm vor, als hätten sie beschlossen, vorläufig die Dinge so laufen zu lassen und ihr Urteil aufzuschieben, bis sie erkannten, wie sich das neue System dieser scharfen Führung auswirkte. Aber sie gaben auch keinerlei Gelegenheit zur Wiederherstellung der anfänglich guten Stimmung. Als er zum Schluß den strengen dienstlichen Ton milderte und sagte: »Na, wir sehen uns ja später wieder, wahrscheinlich in irgendeinem scheußlichen Hotel in St. Johns«, da lächelte kein einziger und keiner versuchte, ihm entgegenzukommen. Auch sie sagten sich ganz offensichtlich: ›Wenn du es nicht anders haben willst, dann mach nur so 345
weiter und sieh zu, was dabei herauskommt…‹ Als sie gegangen waren und er sich in der leeren Messe umsah, kamen ihm einige Zweifel, ob er die Besprechung nicht ganz verkehrt geleitet habe. Warum hatte er sich eigentlich so schroff verhalten? Aber da er sich seiner schweren Verantwortung wieder bewußt wurde, gab er diese Grübeleien sofort auf, erhob sich und packte seine Papiere zusammen. Was war denn? Er verlangte, und die Lage auf dem Atlantik verlangte nichts anderes als eine leistungsfähige, straff organisierte Geleitgruppe, und wenn er sich bei der Schaffung dieser Voraussetzungen unbeliebt machte, sollte ihm das vollkommen gleichgültig sein. Sie liefen am letzten Apriltage aus, unter einem Himmel, an den zackige, zerrissene Wolkenbänke alsbald im Westen eine tiefe dichte Wand legten, und dieser erste nach St. Johns auf Neufundland bestimmte Geleitzug – frei von U-Bootangriffen, aber anstrengend durch seine Langsamkeit und übles Wetter – war die Einleitung für vier Monate dauernde Fahrten zwischen diesem Hafen und den englischen Stützpunkten. Weder Ericson noch Lockhart waren bisher in St. Johns gewesen, die meisten anderen Schiffe aber kannten den Hafen schon: er lag in einem ständig von Nebeln bedrohten Gebiet, in dem auch – wenn ihre Route weit nordwärts verlief – Eisgefahr drohte, und die Küste von Neufundland mit ihren schwarzen, pausenlos der Brandung und den harten Sturzseen des Westatlantik ausgesetzten Klippen bot sowieso besondere Schrecken für die Schiffahrt. Die Einfahrt nach St. Johns war schwierig: eigentlich nur eine Lücke zwischen Felsen, eine enge Passage zwischen hohen Klippen, vor der eine starke Strömung entlanglief. Diese Einfahrt mußte mit ziemlicher Geschwindigkeit angesteuert werden, und in der Passage blieben beiderseits nur wenige Meter frei, so daß der Zugang schon bei normalem Verkehr haarsträubend gefährlich war. Ericson hatte zwar nie davon gehört, daß ein Schiff in dieser Enge gescheitert war, obgleich jede Woche Dutzende dort ein- und ausliefen, und seine Saltash kam keineswegs zu Schaden. Aber am Ende jeder Reise nach Westen erwartete ihn nun diese Feuerprobe und ebenso vor jeder Heimreise – eine immer wiederkehrende Gefahr, die eines Tages ihr Opfer fordern konnte. Im Binnenhafen lagen sie nachher ganz bequem, allerdings hatte St. Johns ihnen wenig materielle Vorzüge zu bieten. Die Stadt kam ihnen vor wie der äußerste Vorposten der Zivilisation auf einem noch unerforschten Festland. An den Kais lagen dichtgedrängt die derben, salzkrustigen Schoner der Fischer, die engen Straßen stiegen steil an und verloren erst jetzt, da es schon fast Sommer war, die letzten Schneespuren. Die Bevölkerung ging noch langsam und gewichtig in Schneestiefeln, dicken Jacken, Wollhemden und Pelzmützen umher. In den meisten Ladenfenstern hingen Plakate mit dem 346
Hinweis, daß die Ware ›eben eingetroffen‹ oder ›soeben ausgepackt‹ sei, wie es in rasch errichteten Grenzsiedlungen gebräuchlich ist. Viele Häuser und Bauten wirkten wie flüchtig geschaffene Notbehelfe, als sei es ganz ungewiß, ob die Bewohner sich noch lange an diesen kleinen Hafen klammern konnten, den sie der Wildnis abgerungen hatten. Vor dieser groben Kulisse wirkten die Marineuniformen der Männer von den britischen und kanadischen Geleitzügen, die den Hafen füllten, merkwürdig elegant, und sie empfanden sehr wohl, daß ihre Aufrechterhaltung der Etikette den Einwohnern ein gewisses Recht zum Lachen gab… In St. Johns konnte der Seemann einfach nichts anfangen, höchstens Kameraden auf anderen Schiffen besuchen und auf die Rückreise warten. Es war nichts weiter als eine Pause vor dem erneuten Auslaufen durch das Felsentor und dem Wiederversammeln des Geleitzugs für seinen Spießrutenlauf über dreitausend Meilen, während der Feind auf dem Wege bereits neue Schlingen legte und neues Gift braute, um sie zu verderben. Für Ericson war nicht allein die Hafeneinfahrt anstrengend und schwierig: die Wiedergewöhnung an die alte Routine, an den anstrengenden Rhythmus der Seefahrt im Kriege war an sich schon nicht einfach nach dem langen Landaufenthalt und unter dem noch frischen Eindruck des grausamen Endes seiner Compass Rose – und jetzt war alles für ihn noch erschwert durch die vielen neuen Pflichten und Aufgaben, die seine Stellung als Führer der Geleitgruppe mit sich brachte: die Leitung der Gruppe in See, ihre Überwachung, wenn sie im Hafen lagen. Er mußte sich um den Kommodore der Handelsschiffe kümmern, um den Mond, um Nachzügler und Schiffe, die ihre Position nicht hielten, um U-Bootsignale, um die Brennstoffversorgung, die rechtzeitige Abzweigung der nach verschiedenen Häfen bestimmten Dampfer – und mußte sogar im Hafen seine Schiffe kritisieren, auch wenn er nicht wollte, denn dort war die Leerung der Abfalltonnen durch das jeweilige Wachschiff ebenso sorgsam zu überwachen wie während der Reise die richtige Stellung der Geleitfahrzeuge. Kurzum: er hatte ununterbrochen an Pflichten zu denken, die ihm nie eine Entspannung gestatteten; und die taktischen Probleme während der Atlantiküberquerung waren inzwischen immer komplizierter geworden. Ein Schiff – ein großes Schiff von neuem Typ, noch im Erprobungsstadium – lud dem Kommandanten schon genug Verantwortung auf, aber er hatte jetzt acht, die er als eine Waffe, als gemeinsame Rüstung des Geleits handhaben mußte, und das bedeutete: nicht nur die Einsatzmöglichkeiten seines eigenen Schiffes ständig im Kopf zu haben, sondern ein größeres Gesamtbild mit acht verschiedenen Wirkungsbereichen, bestehend aus acht Spielfiguren, die sich als stark oder seh wach erweisen konnten. Alle mußte er berücksichtigen und 347
stets im Gedächtnis haben, keine durfte er außer acht lassen, und auf keine konnte er verzichten. Jeder Tag und jede Nacht während jeder Reise konnte neue Probleme aufwerfen, und die Lösung durfte nie sich selbst überlassen bleiben. Wenn einem verdächtigen Radarkontakt nachgegangen werden mußte, konnte er zum Beispiel Streamer, die dritte Fregatte, dafür abteilen, die meistens diese Suchaufgaben bekam. Dafür mußte eine Korvette Streamers bisherige Position einnehmen, wofür etwa Pergola, die beste der fünf, in Betracht kam. Also ergab sich an Backbord eine Lücke, und Backbord war die mondlose, demnach die gefährlichste Seite. Die Lücke mußte sofort geschlossen und infolgedessen Petal von der Nachhut abgerufen werden. Dadurch wiederum blieben die nachhängenden Dampfer, die Petal beaufsichtigt hatte, ohne Schutz. Durfte dieser Zustand so bleiben? Oder sollte er die Konvoigeschwindigkeit reduzieren, damit die Nachzügler aufschließen konnten? Und wenn gerade jetzt ein Angriff drohte, sollte er dann Streamer zurückrufen, um den Geleitschutz wieder zu vervollständigen, oder leistete Streamer jetzt Wichtigeres, indem sie vielleicht ein U-Boot abfing, ehe es an den Geleitzug herankommen konnte? Aber angenommen, bei dem Kontakt, den Streamer verfolgte, handelte es sich nur um ein alleinfahrendes Handelsschiff, das in Seenot war? Dann konnte die Fregatte womöglich zwei oder drei Tage aufgehalten werden. Sollte er ihr in dem Fall befehlen, unabhängig weiterzulaufen, obwohl er wußte, daß sie wahrscheinlich nicht genügend Brennstoff hatte und deshalb Anschluß an den mit ihnen laufenden Tanker finden mußte? Konnte er sie überhaupt in dem Sicherungsverband entbehren? Lohnte es sich, daß er selber mit Saltash seine Station verließ, – gerade in so einem Augenblick – um einem ungenauen Kontakt im Horchgerät nachzuspüren, der soeben aus dem Geleit gemeldet worden war? Wenn es ein U-Boot war, – und wenn es angriff – und wenn sein Torpedo ein Schiff traf – dann gab es Schiffbrüchige. Konnte er zu deren Rettung eine Korvette entbehren? Und wenn: welche Seite des Geleitzuges konnte eine Schwächung eher vertragen? Und was war da über der Kimm an Steuerbord: Leuchtkugeln? Konnten die von Streamer sein? Und wenn: brauchte Streamer Hilfe? Und wenn? Wer sollte die bringen? Manchmal überfielen die Fragen ihn wie ein Schwarm Insekten, stachen und stichelten aus vielen Richtungen gleichzeitig auf ihn ein. Aber behandelt werden mußte jede einzelne im Rahmen des von ihm selbst aufgestellten Planes: ein Gehirn mußte dafür da sein, alles auf den richtigen Nenner zu bringen, und wenn es noch so überlastet war; eine Stimme nur durfte die Befehlsgewalt haben, und wenn sie stundenlang einen Befehl nach dem andern hinausschmetterte. Jetzt konnte Ericson, wenn er zurückdachte, Vipe348
rous jede Beschwerde, jede zweifelnde Anfrage, jedes ärgerliche Signal, jedes Dazwischenfunken, das Compass Rose von dem Zerstörer hatte hinnehmen müssen, verzeihen. Er verzieh das alles und ahmte dankbar dieses Vorbild nach. Denn eine vollständige Kontrolle war nur möglich mit einem ›allessehenden‹ Auge, mit der Donnerstimme Jupiters aus den Wolken, einer Stimme, die kein Widerwort duldete! Für gekränkte Gefühle gab es da keinen Raum, nein: Gefühle hatten hier eigentlich überhaupt nichts zu suchen… Er hielt dieses Regime in seiner Gruppe für angebracht; etwas anderes kam nicht in Frage, ob es den übrigen paßte oder nicht. Er verkannte durchaus nicht, daß er bei den anderen Kommandanten noch unbeliebt war oder sie ihn zumindest skeptisch betrachteten als einen Mann, bei dem sie zu jeder Tagesoder Nachtzeit auf Überraschungen gefaßt sein mußten. Aber das focht ihn nicht an: dieser Preis war gering für bestes Können und volles Vertrauen. Wenn das Verhältnis innerhalb der Gruppe nur rein sachlich war, so erzielte sie jedenfalls Leistungen und Erfolge. Und das konnte keinem verborgen bleiben. Saltash entwickelte sich jetzt zum Kern einer starken Mannschaft, die, immer enger zusammengeschweißt und bis zur Erschöpfung angespannt, schließlich eine festgefügte, außerordentlich leistungsfähige Gemeinschaft bildete. Versager und dumme, zwecklose Signale wurden seltener, weniger Zeit wurde vergeudet. Und sie konnten greifbare Erfolge buchen: im Mai schoß Harmer über der Clydebucht ein Aufklärungsflugzeug ab, und einen Monat später vernichteten die Korvetten Vista und Rose Arbour zusammen ein U-Boot durch einen raschen Schlag mitten im Atlantik, der sie fast ebenso überraschte wie den Gegner. Dieser offizielle Beweis, daß die Gruppe ein schlagfertiger Verband war, tat ihnen wohl. Also hatten sich alle Mühen und ihre lange Geduld auch gelohnt. Auch andere Geleittruppen erzielten Erfolge, einige auch größere als sie, und so begann sich jetzt, gegen Ende des entscheidenden Jahres, das Kampfbild im Atlantik zu ändern. Die neuen Schilfstypen bewährten sich, die neuen Waffen stellten ihren Erfindern ein gutes Zeugnis aus. Die kleinen Flugzeugträger, die jetzt vielen Geleitzügen zur Verfügung standen, hatten immer ihren Anteil an der Auffindung feindlicher U-Boote, bevor diese als Angreifer gefährlich werden konnten. Und im August des Jahres kam eine Nachricht, die tausend Herzen in See und an Land höher schlagen ließ: in diesem Monat waren mehr Unterseeboote vernichtet worden als Handelsschiffe versenkt. Zum ersten Mal im Kriege wurde dieser erstaunliche Ausgleich erzielt. Das war eine großartige, erhebende Nachricht, und doch – bei genauerem Nachdenken – brachte sie nur das, was sie erwartet hatten. Wenn das nicht irgendwann eingetreten wäre, die zwei Kurven des Diagramms sich nicht gekreuzt hätten, dann wäre Grund zu schwerer Sorge gewesen… Denn jetzt 349
begannen sie bei dem Geschäft des Vernichtens kühl zu werden, jetzt konnte nichts mehr sie entsetzen: Schläge nahmen sie hin, und Gegenschläge teilten sie aus wie tägliches Brot. Für die Gruppe Ericson wie für die ganze Clyde Escort Force und den Liverpooler Verband sowie für ein paar sonderbare ›Kollegen‹, die zuweilen von Rosyth an der Ostküste herumkamen, war der Atlantik ein Beruf geworden, und wenn die Royal Navy nun in diesem Beruf das Höchste zu leisten begann, erübrigte sich da eigentlich jeder Kommentar, vielmehr hätte es nur Verwunderung erregt, wenn es anders verlaufen wäre. Auf Saltash spielte, als sie beim Aufbruch zu einem neuen Geleit die Anker lichteten und die übrigen Schiffe der Gruppe im vorgeschriebenen Abstand von fünf Kabellängen hinter ihr herzogen, der mit den Lautsprechern an Oberdeck verbundene Plattenspieler dieselbe flotte Melodie wie immer: ›We’re off to see the Wizard, the wonderful Wizard of Oz‹. Dieses Lied hatte Lockhart eingeführt, halb als Scherz und halb zur Aufmunterung, aber in der Melodie schwang ein ernsterer Unterton mit, und die Worte trafen zu. War es nicht wirklich, als zögen sie hinaus, um ein seltsames, geheimes Meeresversteck zu suchen, einen erneuten Waffengang mit einem raffinierten Feind, der manchmal Zaubermittel benutzte –? Aber der Atlantik war jetzt auch ihr eigenes Versteck und ihr eigener, ihnen vertraut gewordener Zauberer, der nicht mehr verschleiert, kein unbestimmter Schrecken mehr war. Nun kannten sie ihn ganz genau, von den Spitzen seiner nassen Barthaare bis zu dem kalten grünen Glanz seiner Augen. »Steuerbord zehn!« »Steuerbord zehn, Sir.« »Kurs einhundertfünfunddreißig Grad.« »Kurs einhundertfünfunddreißig Grad, Sir.« Langsam drehte Saltash in der Dunkelheit nach Steuerbord, um zu dem langen Törn quer vor der Spitze des Geleitzuges auszuholen. Lockhart beobachtete, um den Durchmesser ihres Drehkreises zu errechnen, die Windrose im Kompaß, die sich nach links verschob, gab aber die Bemühungen wieder auf. Ungefähr tausend Meter mochten es sein… Eine Meile hinter Saltash konnte er eben noch den führenden Dampfer der Backbordkolonne erkennen oder vielmehr einen undeutlichen Fleck, dunkler als die graue Nacht, und eine winzige Bugsee, die ab und an im Mondschein weiß aufglomm. Und dazwischen breitete sich wie kochend das leuchtende Kielwasser von Saltash und zerfloß wieder in der stillen Dunkelheit. Nach ein paar Minuten kam querab von ihnen das Spitzenschiff der zweiten Kolonne in Sicht, dann das der dritten und vierten, eine ganze Kompanie von Schatten, in bewundernswert genauer Marschordnung, ein Konvoi auf 350
der Rückreise, der bisher noch, in der fünfzehnten Nacht, der Aufmerksamkeit des Feindes entgangen war und sich in seiner besten Form zeigte. Der Ausguckposten rief: »Schiff eben Steuerbord voraus, Sir!« Er rief das nur leise, denn das Schiff war Harmer, auf korrektem Abstand im parallelen Zickzackkurs, und das wußte der Mann ebensogut wie Lockhart. Dann meldete der Rudergänger: »Kurs einhundertfünfunddreißig Grad liegt an, Sir.« Wieder trat Schweigen ein, nur die Bugwelle rauschte laut, während bei ihrem Steuerbordtörn vor dem Geleit, dieser genau berechneten schützenden Bewegung, geisterhaft die grauschwarzen Schatten von über zwanzig Dampfern in See vorüberglitten. Auf einmal gewahrte Lockhart, daß Ericson auf die Brücke gekommen war und sich, ein paar Schritte hinter ihm stehend, mit der Dunkelheit vertraut machte. Wie stets wartete er erst, bis der Kommandant den Himmel und den Kompaß studiert, die nächstlaufenden Schiffe betrachtet und sein Glas auf Harmer eingestellt hatte – dann sagte er: »Guten Morgen, Sir.« »Morgen, I.W.O.« Der rauhe Ton und dieser tausendmal gebrauchte Gruß gehörten genau so zu Lockharts Wache wie das Rauschen der Bugsee. Ericson stellte sich neben ihn, lehnte sich über die Brückenreling und blickte aufs Vorschiff, wo die sieben Mann vom Geschütz B als schwarze Schattengestalten standen. »Kakao, Sir? Frisch gekocht.« »Danke.« Ericson nahm vom Läufer Brücke die Tasse und trank vorsichtig. »Wie spät ist es?« »Kurz vor halb fünf, Sir. Konnten Sie schlafen?«, gab Lockhart zurück. »Ein bißchen. – Noch Meldungen da, die ich nicht gesehen habe?« »Nur die Tagesmeldung mit dem neuen Funkschlüssel. Und Petal gab ein F.T. durch: bei einem Dampfer war die Hecklaterne brennen geblieben.« Ericson nahm die Tasse vom Munde, und Lockhart spürte mehr, als er es sah, wie Ericsons Haltung sich versteifte. »Wann war das?« fragte er ganz kurz. »Gleich nachdem ich die Wache übernahm. Petal rief den Dampfer an, und der löschte sofort das Licht.« »Und weshalb haben Sie mir das nicht gemeldet?« Dieser unendlich kalte Ton war keinem von der Besatzung mehr neu. Lockhart runzelte im Dunkeln die Stirn. »Die Sache löste sich ja von selbst, Sir. Ich wollte Sie nicht umsonst wecken.« »Sie kennen aber meine Dauerbefehle, I.W.O.« »Bitte um Entschuldigung, Sir.« Bei jedem andern wäre Ericson, das wußte Lockhart, bereits in Wut geraten, und sogar jetzt war die Grenze zwischen Beherrschung und Wut äußerst 351
schmal. »Alles«, sagte Ericson mit stärkster Betonung, »alles, was in See passiert – ob bei der Sicherungsgruppe oder im Geleit oder hier an Bord – ist mir ohne jeden Verzug zu melden! Merken Sie sich das jetzt bitte ganz genau!« »Yes, Sir«, sagte Lockhart steif und wartete. Er wußte, daß noch zwei Sätze in demselben schroffen, vorwurfsvollen Ton kommen würden und daß Ericson dann Ruhe gab. Nicht, daß er nachher noch lange verärgert war, aber er glaubte wirklich, über jede Einzelheit Meldung haben zu müssen, auch vom Nebensächlichsten, und der Gedanke, daß Lockhart versuchen könnte, sich zwischen ihn und diese kleinen Störungen einzuschalten, – und ihm das bei vielen Gelegenheiten tatsächlich zuzutrauen war – schien ihm noch immer unerträglich und brachte ihn in Zorn. Die straffe Schattengestalt neben Lockhart sprach wieder. »Wenn irgend etwas schiefgeht, so trage ich die Verantwortung.« »Yes, Sir.« »Und erwarte von Ihnen als dem Ersten Offizier, daß Sie den andern Offizieren ein Beispiel geben.« »Yes, Sir.« ›Jetzt kommt eine Pause‹, dachte Lockhart, ›und dann wird er wieder sanfter. Und nach einer Weile fällt ihm ein, daß er mir ja oft außerordentlich viel Vertrauen schenkt, und dann will er den Normalzustand wieder herstellen und wird das auch tun, wenn vielleicht auch auf Umwegen.‹ Ein Kommandant würde sich, das war Lockhart klar, niemals entschuldigen, denn das hatte er nicht nötig. Er war berechtigt, im Interesse seines Schiffes oder seiner Gruppe jede beliebige Bestimmung zu treffen: sein Befehl, ihn stets zu rufen, selbst wenn auf dreißig Meilen Entfernung der kleinste Fetzen einer Rauchfahne in Sicht kam, war durchaus berechtigt. Er hatte das Recht zu diesem Befehl und konnte seine Befolgung verlangen. Aber ihr Verhältnis zueinander war noch von anderen Dingen abhängig, die ebenso stark waren wie die Bindungen des Dienstes: die gemeinsam durchkämpften Jahre, ihre Freundschaft, Compass Rose, die zwei Flöße… Ericson setzte seine Tasse ab, richtete sich wieder auf und sagte, indem er voraus zum Horizont blickte: »Der Krieg wird jetzt ganz anders.« Lockhart lächelte im stillen, denn er merkte wohl, daß dies Ericsons erster Schritt zur Versöhnung war. Er gab die einzige Antwort, die ihm angemessen schien: »Inwiefern meinen Sie das, Sir?« Ericson machte eine zerstreute Bewegung wie jemand, der nach einem noch unklaren Gedanken sucht. »Er wird viel unpersönlicher, als er in der ersten Zeit war«, sagte er langsam. »Es scheint kein Platz mehr zu sein für – für den einzelnen Menschen.« 352
»Das finde ich auch, Sir.« »Zu Anfang, da hatte man noch Zeit für alles Mögliche: konnte Rücksicht auf jeden nehmen, Scherze machen, sich um die menschliche Eigenart des einzelnen, um sein Wohl kümmern und überlegen, ob er zufrieden war und ob – ob er einen leiden mochte oder nicht.« Ericson holte tief Atem, als wollten seine Gedanken unter dem Schutz der Dunkelheit mit ihm durchgehen. »Aber jetzt – jetzt ist der Krieg doch offenbar nicht mehr Sache des Menschen, sondern nur noch ein rücksichtsloser Krieg der Waffen. Für Menschlichkeit bleibt nichts mehr übrig, sie verlangt zuviel Platz und ist nur hinderlich.« »Yes, Sir.« »Wir waren immer wie eine große Familie. Nannten viele beim Vornamen, hatten oft gemütliche Feiern, Urlaub übers Wochenende, wenn einer seine Frau kommen lassen konnte« – er fuhr mit der Hand durch die Luft – »und allerlei anderes. Der Mensch konnte sich noch leisten, Mensch zu sein, ja: jeder war sogar gekränkt, wenn er nicht ganz als Mensch behandelt wurde. Und das galt besonders für die kleinen Schiffe, wie Compass Rose. Hatten wir da nicht eigentlich eine sehr lustige Messe? Von Zeit zu Zeit ging es ja auch ernst zu, aber im Grunde fühlten wir uns doch mehr wie Freunde, die sich alle mit ihrem Job die größte Mühe gaben. Ging was verkehrt, dann zuckten wir die Schultern und lachten darüber. Wie erfreulich war das, – menschlich – aber damit ist’s jetzt ganz aus. Genau genommen: seit dem Moment, in dem Compass Rose zu Grunde ging.« »Backbord zehn«, sagte Lockhart. »Backbord zehn«, kam es vom Ruder. »Kurs fünfundsechzig Grad.« »Kurs fünfundsechzig Grad, Sir.« Ericson wartete, bis Saltash in einem weiten Bogen gedreht hatte und auf dem neuen Kurs lag. Dann fuhr er fort: »Ich wollte nicht etwa damit sagen, daß Compass Rose kein gutes Schiff war oder wir uns mit ihr nicht anständig geschlagen hätten damals: weit gefehlt. Ich meinte nur, die ganze Art ist heute veraltet. Der Krieg hat die Menschen völlig ausgequetscht und nur das gelassen, was ›kriegswichtig‹ ist. Jetzt darf keine Rücksicht mehr genommen werden, darf kein Fehler mehr ungestraft bleiben, denn das kann uns sehr teuer zu stehen kommen.« »Yes, Sir«, sagte Lockhart nur. »Erinnern Sie sich noch«, sagte Ericson nachdenklich, »an den Matrosen Gregg, diesen Kindskopf, den seine Frau so gemein betrog, daß er glatt desertierte, um zu Hause wieder reine Bahn zu machen? Das ist fast zwei Jahre her, und vor zwei Jahren konnte ich mir leisten, ihn nur mit einer ernsten 353
Verwarnung zu bestrafen. Er schüttelte den Kopf, was Lockhart nicht sehen konnte. »Jetzt ginge das bei Gott nicht! Stände Gregg heute vor mir, dann würde ich für das blöde, lächerliche Gejammer um seine Frau überhaupt kein Ohr haben: drei Monate Straflager würde ich ihm aufknallen und dafür sorgen, daß er bis zum Kriegsende nicht befördert würde. Wir können uns heutzutage keine Scherereien mit Frauen in der Heimat mehr erlauben, und keine menschlichen Sympathien. Damit ist es ein für allemal aus.« »Yes, Sir.« »Das liegt an der ganzen Entwicklung des Krieges, sage ich Ihnen. Der ist jetzt so ernst geworden, daß er nur noch mit hundertprozentigem Einsatz geschafft werden kann.« Er dachte einen Augenblick nach. »Und mit hundertprozentiger Härte!« »Yes, Sir.« »Ich weiß wohl, daß wir den Krieg nicht führen, um so zu denken und zu handeln, aber – erst müssen wir ihn gewinnen, und dann können wir wieder moralische Grundsätze nach unserem Geschmack aufstellen. Wenn die Geschichte mal vorbei ist, dann werden Sie sehen, was Ericson für ein gemütlicher Kerl sein kann, ob es sich um den Matrosen Gregg dreht oder« – Lockhart spürte, daß Ericson jetzt, als er endlich auf den Hauptpunkt kam, lächelte – »oder um Sie. Klar?« »Werde mir das merken, Sir.« »Vielleicht denken Sie, I.W.O. daß das alles gar nicht stimmt und der Mensch sich durch den Krieg niemals verderben lassen dürfte?« »Yes, Sir.« »Aber Sie haben sich doch selbst ihm ganz und gar verschrieben, oder nicht? Sie glauben doch auch an diese Idee der hundert Prozent, nicht wahr? Kein Platz für Mitleid, und auch keiner für Liebe oder Zärtlichkeiten.« »Ja, so ist es wohl… Schwierig, nicht wahr?« Saltash dampfte unentwegt weiter und mit ihr das Geleit, in gleichmäßiger Fahrt zogen sie über das nachtschwarze Meer. Vor ihnen, fern am östlichen Horizont, wurde es bereits heller, wieder waren sie um eine ganze Nacht und einen viertel Tag dem Heimatland nähergekommen. ›Heimat‹, dachte Lockhart. ›Wiedersehen mit dem Clyde, ihrem Ankerplatz; und Ruhe und Frieden. Julie Hallam…‹ »Julie Hallam«, sagte Lockhart wie aus der Ferne. »Ich dachte, Sie hätten im weiblichen Korps schon einen hohen Rang bekommen, denn ich halte Sie für die diensteifrigste aller Marinehelferinnen.« -»Das bin ich auch«, sagte Julie. »Ich terrorisiere sämtliche andern. Und was gibt’s sonst über mich zu sagen?« 354
»Ja – und was ist das mit Ihren Füßen –? Kann man noch disziplinloser und nachlässiger sein? Wie wollen Sie das verantworten?« Julie blickte über den Rand des Ruderboots auf ihre nackten Füße, die in das sanft vorbeiziehende Wasser hinunterhingen. Sie hob den einen so hoch, daß die im Sonnenschein glitzernden Tropfen, einander überrennend, ihr Bein hinabliefen und ins Boot fielen. Dann schaute sie wieder zu ihm empor. »Muß ich mich denn rechtfertigen?« Sie fragte das träumerisch langsam, als sei ihr m diesem glücklichen Moment ganz einerlei, was sie sprach, denn ihr Gefühl sagte ihr, daß Lockhart niemals die Situation ausnützen würde. »Gegen welche Vorschrift habe ich denn verstoßen?« Er machte eine unbestimmte Handbewegung und ließ dabei die Ruderpinne einen Augenblick los. Das kleine Boot gierte sofort, er drückte es wieder auf den Kurs. »Oh, ganz allgemein gegen die Zucht und Sitte der Marine. Sie gehören zum weiblichen Marinekorps und unterstehen den Kriegsartikeln der Marine. Und diese bestimmen klar und deutlich, daß Sie nicht mit den Füßen plätschern dürfen, solange Sie sich auf einem Schiff unter meinem Kommando befinden.« Ihr Fuß klatschte wieder über die Seite, so daß das Boot kurz schaukelte. »Sie sind ja süß, wenn Sie solchen Unsinn reden – «, sagte sie. »Aber im Gegenteil: ich habe sämtliche Kriegsartikel für mindestens fünf Stunden aufgehoben, denn ich befinde mich auf einem Ausflug, unerreichbar für die Fangarme der Marine. Ich trage sehr schäbige weite Männerhosen, mein Haar hängt buchstäblich herunter, und dazu paßt das Plätschern mit den Füßen ganz vorzüglich. Sogar Nelson wäre gewiß einverstanden.« Er blickte sie an. »Das wäre Nelson nicht! Aber Ihr Haar sieht so sehr hübsch aus.« Und wirklich: als er sie so auf der mittleren Bootsbank halb liegend, halb sitzend hingestreckt sah, empfand er, daß sie durch die nachlässige Haltung nichts verlor. Während er sie voller Freude ganz still betrachtete, kam er zu der Überzeugung, daß es die Form ihres Gesichts war, die ihr in jeder Haltung den großen Liebreiz verlieh: auch das dunkle, bis fast auf die Schultern fallende Haar konnte diesem Reiz nichts nehmen, ebensowenig wie die unweiblichen Hosen oder das gelbe Sporthemd ihre Erscheinung wirklich zu entstellen vermochten. Vielmehr verkündete alles nur noch mehr ihre Schönheit, und sie schien zu sagen: »Ich bin in jeder Aufmachung zu haben, bitte wählen Sie nur!« Wie elegant wirkte sie auch ohne die feine Frisur und das gutsitzende Kleid, an dessen Stelle sie diese ausgewaschene blaue Drellhose trug. Und er selbst hätte nicht entscheiden können, ob sich in dieser entspannten Haltung das Wesen der echten Julie Hallam mehr offenbarte oder weniger. 355
Ihre berufliche Fähigkeit hätte sich nur schwer erraten lassen, aber das war auch nebensächlich, da sie gewiß für jeden Beruf die beste Haltung gehabt hätte. Und von alledem abgesehen, war schon die Tatsache, sie für sich allein zu haben, einerlei wo und wie, so überraschend und hinreißend, daß seine Überlegungen, wann und wie Julie Hallam wohl am schönsten aussehe, bedeutungslos wurden. Sie befanden sich auf einem Ausflug, wie sie zur Entschuldigung erwähnt hatte. Das Boot war ein geliehenes Dinghi mit Segel. Bei leichter Brise waren sie von Hunter’s Quay in den Holy Loch eingelaufen und näherten sich jetzt seinem oberen Ende. Der frühe Septembernachmittag konnte nicht schöner sein: wie es in diesen herben Gewässern des Nordens selten geschieht, strahlte den ganzen Tag die Sonne frühlingshaft heiß, erwärmte den See und tauchte die weite Clyde-Bucht in ein freundliches Licht. Das winzige Boot lief zwischen braunen und rötlichen Hügeln dahin, es hatte die von Schiffen wimmelnde Reede weit hinter sich gelassen und strebte der friedvollen Einsamkeit entgegen, die das Ende der Bucht ihnen zu versprechen schien. Lautlose Stille umfing sie, es war, als verließen sie die normale Welt mit ihrer Unruhe und fuhren in ein nur ihnen gehörendes Reich, das sie ganz nach ihren Wünschen einrichten konnten. Stolz erfüllte ihn, daß er sie hierherführen durfte, Stolz und Glück – und noch etwas anderes, eine stille Hoffnung, die er weder genau erklären konnte noch wollte. Unwillkürlich wurde ihm klar, daß die Situation alle Voraussetzungen zu einer romantischen Szene bot: er hatte ein bezauberndes Mädchen bei sich, sie waren allein in der freien Natur, und er wußte sehr gut, daß sie eine Frau war. Aber wie beim erstenmal, als er sie nicht geküßt hatte, war auch dieser Moment nicht der entscheidende und brauchte es auch nicht zu sein. Das, was sie hier miteinander teilten – das Boot, die leise gegen den Bug plätschernden Wellen, der Sonnenschein, die Berge, war schon so unendlich viel für Julie, und deshalb sollte es auch ihm genügen. Auf einmal sagte sie, das nachdenkliche Schweigen unterbrechend: »Nelson übrigens…« Er lächelte, weil sie wieder dieses eigensinnige, neugierige Gesicht machte und weil er sich immer freute, wenn er mit ihr sprechen konnte, über jedes Thema der Welt, solange er nur ihre herrliche klare Stimme vernahm, die ihn so sehr an sie fesselte. »Nelson? – « sagte er dann. Sie lehnte sich wieder zurück, und wieder tropfte das Wasser von ihrem Bein ins Boot. »Ich glaube behaupten zu dürfen«, sagte sie nachdenklich, »daß ihm mein Haar gefallen haben würde, ob es dienstlich zu billigen wäre oder nicht. Nelson hätte doch gewiß einer Frau allerhand Konzessionen gemacht, nicht wahr? Denken Sie nur an Lady Hamilton.« Lockhart straffte sich, ohne es zu wollen und ohne auf den Augenblick Rücksicht zu nehmen. »Was war denn mit Lady Hamilton?« 356
Julie blickte am Segel empor, dessen Schatten eben, als das Boot krängte, ihr Gesicht gestreift hatte. »Hat er nicht beinahe um ihretwillen alles aufgegeben, oder zumindest vieles vernachlässigt, was im Grunde bedeutend wichtiger war?« »Nelson?!« Lockhart pfiff leise durch die Zähne. »Nie hätte der das getan, nie im Leben!« In seinem Ton lag etwas, das sie veranlaßte, sich umzudrehen und ihn anzusehen. Sein Gesichtsausdruck überraschte sie. »Für keinen Menschen auf der Welt hätte er das getan«, fuhr Lockhart energisch fort. »Er liebte nur drei Dinge: die Marine, England und Lady Hamilton. Alle drei liebte er sehr, – übermächtig mitunter – aber immer nur in dieser Reihenfolge.« »Oh –!« lächelte Julie, ihn immer noch aufmerksam ansehend. »Ich hatte ja nur gefragt…« Aber ihre Neugier ließ nicht nach. »Ich wußte auch nicht, daß er zu Ihren Helden gehört. Eigentlich wußte ich überhaupt nicht, daß Sie sich für etwas begeistern können.« Er erwiderte ihr Lächeln. »Aber sicher. Ich schwärme auch für Hunde und Fußball und Bier, und für eine Lebensversicherung. Jeden Sonntag packen wir die Gören in den Beiwagen, und dann –« Sie hob ziemlich energisch die Hand. »Nun schalten Sie aber wieder ein bißchen zurück.« »Jawohl, Madame… Nelson ist sogar, wenn Sie’s wissen wollen, einer meiner besonderen Helden – ein großartiger Seemann, ein großartiger Menschenführer und ein tapferer Mann, ein Liebhaber, dessen Geliebte glücklich war, ein Kind von ihm zur Welt zu bringen, einerlei ob sie mit ihm verheiratet war oder nicht.« Lockhart blickte jetzt ebenfalls am Segel empor, als fände er dort die Worte, die er brauchte. »Es gab nämlich eine Zeit, in der er ganz England in der Hand hielt, und sogar ganz Europa: ein einziger Fehler bei Trafalgar – und hätte er nur einmal Backbord befohlen statt Steuerbord – hätte die Schlacht anders entscheiden und die ganze Weltkarte verändern können! Und das wußte er und war der Lage gewachsen! Er vergaß das ebensowenig wie die Grundsätze, unter denen er kämpfte.« Lockhart unterbrach sich. »Würden Sie mich auslachen, wenn ich Ihnen die Worte seines letzten Gebets zitiere?« Sie schüttelte den Kopf. »Sagen Sie sie nur.« »›Der Herrgott, dem ich diene, möge meinem Lande zum Wohle ganz Europas einen ruhmreichen Sieg gewähren, er möge geben, daß niemand durch schlechtes Benehmen diesen Sieg befleckt und daß nach ihm Menschlichkeit die britische Flotte beherrscht!‹« Jetzt nickte sie. »Darin ist alles eingeschlossen, nicht wahr? Und es gilt auch für heute. Waren das die letzten Worte, die er schrieb?« 357
»Nein. Soweit ich mich erinnere, schrieb er zu allerletzt an Lady Hamilton, kurz vor Trafalgar, als er wußte, daß die französische Flotte herauskommen und den Kampf aufnehmen würde. Jedenfalls begann er den Brief, brach dann aber ab und schrieb, er hoffe ihn nach der Schlacht beenden zu können.« »Und was schrieb er?« »Er sandte ihr nur herzliche Grüße.« Nach einer Weile sagte Julie: »Sie muß eine schöne Frau gewesen sein.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, nicht einmal das. Den meisten Leuten mißfiel sie schon beim ersten Blick, sie hatte zahlreiche Feinde – teils aus Eifersucht, teils weil sie allzu offenherzig redete. Und man konnte sich leicht über sie lustigmachen – sogar ihre Freunde waren sich einig, daß sie damals, als sie Nelson kennenlernte, alles andere als reizvoll war. Gewöhnlich, dick, ziemlich pausbäckig.« »Na, und?« Lockhart zuckte die Achseln. »Für ihn muß sie anziehend gewesen sein. Sie war sozusagen seine zweite Hälfte, ein Mensch, wie er ihn haben mußte zum Ausgleich für seinen schweren, anstrengenden Beruf. Es kommt ja bei einer wirklichen Leidenschaft nicht darauf an, wie eine Frau aussieht. Entweder ist sie begehrenswert, oder sie ist es nicht. Ist sie’s, dann spielen ihr Aussehen und ihre Manieren keine Rolle, und wenn sie’s nicht ist, vermag keine anregende Unterhaltung und kein noch so elegantes Äußere daran etwas zu ändern.« »Ein Jammer«, sagte Julie bedrückt. »Das müssen ausgerechnet Sie sagen.« »Aber wenn er eine so außergewöhnliche Persönlichkeit war, frage ich mich, weshalb er dann überhaupt eine Frau brauchte. Menschen wie er sind sich doch meistens selbst genug.« »Mir leuchtet das ein«, sagte Lockhart nach einem Augenblick. »Er war ein ganzer Mann: ein Mann der Tat, ein Mann mit Ideen und ein Mann, der lieben konnte. England war der eine Teil, der sein Leben ausfüllte, der andere war diese Frau.« »Und nie war das eine dem andern im Wege?« »Nein. Das war das Bewundernswerte: er war immer für beide da und vernachlässigte keinen.« Lockhart machte plötzlich eine Pause und runzelte die Stirn. »Mir kommt vor«, sagte er nach einer Weile, »als stände dies alles in völligem Widerspruch zu dem, was ich Ihnen früher einmal gesagt habe.« Sie nickte lächelnd und richtete sich auf. »Aber daran werde ich Sie an diesem schönen Tage bestimmt nicht erinnern. Sind wir nicht gleich da?« Sie waren fast am Ziel, und bald darauf lief das Boot knirschend auf den 358
groben Kies des Strandes, glitt noch ein Stück weiter und blieb dann liegen. Während sie das Segel fierten und aufrollten, hielten sie Umschau in der ihnen fremden, einsamen Gegend. Fünf Meilen waren sie die Bucht hinaufgesegelt, so daß sie die Einfahrt vom Meere her kaum noch in der Ferne erkennen konnten: die beiden Menschen mit ihrem Boot kamen sich so winzig vor angesichts dieser Umgebung, empfanden aber diesen Zustand als angenehm und fühlten sich wie in einer weiten natürlichen Umarmung, die sie nicht bedrückte, sondern ihnen nur wohltat. Hinter ihnen lag die völlig unbelebte Wasserfläche, vor ihnen eine von stillen Hügeln umsäumte Strandbucht mit einer einzelnen Kiefer. Warm lag die Sonne auf ihren Gesichtern, die Luft war wunderbar mild. Wenn sie sprachen, schienen sich ihr Stimmen nur einen Augenblick gegen die ungeheure Stille zu behaupten, um sich dann für immer zu verlieren. Sie ließen sich über den Bootsrand gleiten und liefen planschend an den Strand. ›Ich hätte sie tragen können‹, dachte er plötzlich, aber das war jetzt nicht angebracht: ihr Körper, den er noch nie berührt hatte, ihr Duft, den er nur flüchtig kannte, sollten diesen unschuldigen Augenblick nicht beeinflussen. Vielleicht dachte sie dasselbe, denn als sie ihre Decken ausgebreitet, ihren Imbiß ausgepackt und sich nebeneinander hingelegt hatten, fühlten sie sich beide ungewöhnlich befangen. Zum ersten Mal waren sie so allein zusammen, so frei und unbeobachtet, und zum ersten Mal sahen sie sich nicht in Uniform: in der einfachen Kleidung, die sie trugen, kamen sie sich viel eher als Mann und Frau vor und empfanden zum allerersten Mal das sinnliche Bewußtsein ihrer Nähe und Zusammengehörigkeit. Nie war ihm ihre weibliche Schönheit deutlicher gewesen, und ihr seine Männlichkeit. Sie unterhielten sich oberflächlich, aber stockend und schwerfällig: still lagen sie da und genossen die Sonne, doch sie waren unruhig, nur flüchtig blickten sie einander ins Gesicht, und ihre Blicke waren unnatürlich und undurchsichtig. Schließlich zog Julie die Brauen zusammen, richtete sich auf und sagte: »Es ist heute so ganz anders als sonst. Wie kommt das?« Er hätte eigentlich wissen können, daß sie die Frage, warum sie sich so prüfend anschauten, sehr bald und ganz offen aufwerfen würde… Er sagte: »Ich glaube, weil wir allein sind. Völlig für uns. Das haben wir bisher ja noch nicht erlebt.« »Aber warum macht uns das nur so –«, sie unterbrach sich und zog wieder die Brauen zusammen –»so verlegen, so unsicher? Wir sind doch eigentlich keine Babies mehr.« ›Babies‹ dachte er: ›weshalb habe ich, wenn sie dieses Wort ausspricht, jetzt nur eine einzige Vorstellung dabei? Was geschieht hier so schnell mit uns – oder geht es nur mir so?‹ – Er sagte, fast ohne Überlegung: »Julie, wir 359
waren in den letzten acht Monaten fünf oder sechs Mal zusammen: jedesmal haben wir uns ein wenig näher kennengelernt und uns jedesmal, glaube ich, mehr darüber gefreut.« Sie nickte zustimmend. »Es ist wie eine gegenseitige Entdeckung gewesen – und es war herrlich. Und wir haben immer größere Fortschritte gemacht.« »So sollte es auch sein. Das war das Schönste dabei.« Jetzt wurde er verlegen und, wie er mit leisem Schrecken bemerkte, ziemlich aufgeregt. Diese Art von Nervosität sollte es doch eigentlich für ihn nicht mehr geben. ›Ich möchte sie haben‹, dachte er verwirrt, indem er ihre Brust und ihre Schulter unter dem dünnen Hemd betrachtete: ›ich wußte es, aber so einfach liegen die Dinge schließlich nicht – ich möchte sie auf so viele verschiedene Weise haben, abgesehen von ihrer Brust und ihrem Mund, der so weich zu sein verspricht. Ich möchte und ich muß sie haben, unter jeder Bedingung, die sie wünscht. Aber je enger ich mit ihr verbunden sein kann, um so besser…‹ Er atmete schwer und unruhig. »Wir machen noch immer Fortschritte«, sagte er mit Anstrengung, »aber wir sind jetzt an den Punkt gekommen, an dem – du bist so schön, Julie – ich bin ein Mann…« Sie rief hastig »Oh!« und sagte: »Ich weiß sehr gut, – daß du ein Mann bist.« Er merkte nun auch ihr die Erregung an: sie sah fort, vielleicht war sie sogar ein wenig rot geworden. Auf einmal fragte sie: »Läßt sich das nicht noch etwas aufschieben?« »Ich glaube nicht.« »Ich auch nicht.« »Du weißt, daß ich dich liebe.« Sie nickte. »Jetzt weiß ich’s.« »Und du?« »Warte noch ein bißchen.« Sie starrte auf das Wasser, unentschlossen, so besorgt, wie er sie noch nie gesehen hatte. Aber schon war die Spannung gewichen, der Tag schien noch schöner nach diesen Worten. Jetzt wußten sie wenigstens; wie weit die Grenzen ihrer Wünsche gezogen waren. Nun schwieg sie lange. Die kleinen Wellen spülten an den Strand, und die Sonne strahlte über ihnen. Als sie dann wieder sprach, klang ihre Stimme glücklicher, fester, als sei auch sie froh, daß es jetzt einfache, klare Worte und Gedanken zwischen ihnen gab. »Ich wünschte«, sagte sie und drehte sich wieder zu ihm um, »es gäbe auf die Frage ein glattes Ja, aber das wäre keine genaue Antwort. Wir haben viel Gemeinsames, nicht wahr? Von Anfang an war das so: wir haben es gesehen und gefühlt, und es war oft sehr schön.« Ernst und zärtlich blickten ihre Au360
gen ihm jetzt ganz frei ins Gesicht. »Es begann auf unserem ersten Spaziergang, als du mich vom Bordfest nach Hause brachtest und wir endlich zusammen waren, nachdem wir den ganzen Abend getrennt sein mußten. Wahrscheinlich wußten wir, was mit uns geschehen würde. Du sagtest« – jetzt lächelte sie lebhaft: »›für mich war der Spaziergang das Fest‹, und dann sagten wir uns Gute Nacht.« »Und ich hatte dich küssen wollen und tat es dann doch nicht.« »Das war unser erster gemeinsamer Gedanke… Und jetzt sind wir hier, plötzlich von Frieden umgeben mitten im Kriege: Du liebst mich und möchtest mich haben, und ich –.« Sie unterbrach sich, um mit festerer Stimme fortzufahren: »Weißt du, mich bitten die Männer immer, sie zu heiraten oder mit ihnen zu schlafen.« Bei ihr klang das, so bestimmt und ehrlich ausgesprochen, weder kraß noch unpassend. »Das ist ja im Krieg und bei meiner Tätigkeit, bei der ich ständig mit vielen Männern zu tun habe, kaum erstaunlich, und ich rechne es mir nicht als Verdienst an. Bisweilen denke ich über solche Vorschläge auch nach, sogar ernstlich, und dann gefällt mir irgend etwas nicht, der Mann ist zu rasch, oder der Tag zu langweilig – und dann gebe ich es auf.« In diesem Moment beugte sie sich vor – und berührte seinen nackten Arm: ihre weiche Hand tat ihm unsagbar wohl, so daß die schrecklichen Bilder von Julie in den Armen anderer Männer, die ihm schon wie Feuer im Gehirn brannten, augenblicklich zerstoben. »Und du bist hier«, fuhr sie fort, »und bei dir trifft nichts von all dem zu. Alles an dir hat mir gefallen, du hast mich nicht gedrängt, hast dich meinem Willen angepaßt, und mit dir ist kein Tag langweilig.« Er legte seine Hand auf die ihre und spürte, wie sie leicht bebte. Er sah auf und sagte: »Solange wir beide ein bißchen zittern, finde ich, brauchen wir es niemand zu erzählen.« »Oh, ich kann für dich zittern… Sieh«, sagte sie wieder, »mit dir stehe ich nun vor der Grenze zur Liebe, der wirklichen Liebe. Es gibt vieles an dir, was ich gern habe, vieles, was ich schon liebe, und anderes, was mich noch überrascht. Heute nachmittag haben wir noch mehr entdeckt, oder fast entdeckt.« Da sie wieder schwieg, nickte er und sagte: »Ja, etwas Neues, aber es gehört zu allem übrigen. Die Stimme, die erste Erregung. Es war schön.« »Es war beängstigend… Ich meine nicht, daß ich Angst hatte, als ich plötzlich aufsah und du neben mir lagst: ich meine, daß alles so vollkommen neu ist und ich es nie vorher empfunden habe.« »Und bei all dem –?« »Bei all dem stehe ich noch immer vor der Grenze zur Liebe.« Er stand auf, überbrückte mit zwei Schritten den Raum zwischen ihnen und setzte sich entschlossen dicht neben sie. »Du meinst, ich hätte zu früh ge361
sprochen?« »Das nicht gerade. – Gesagt werden mußte es.« Sie neigte sich zu ihm hinüber. »Wenn du so in meiner Nähe bist, dann weiß ich, daß es gesagt werden mußte. Aber für meine Antwort ist es vielleicht doch zu früh – vielleicht um ein einziges Zusammensein zu früh.« »Wenn du so in meiner Nähe bist«, sagte er unsicher, »kann ich nur eins sagen: darf ich dich küssen?« »Und ich«, antwortete sie ohne Zögern, »kann nur sagen: O ja, das darfst du.« Ihre Lippen waren wunderbar weich, ihr Gesicht und ihr Haar duftete, ihr Körper war so schmiegsam und entzückte seine Sinne so sehr, wie er es sich vorgestellt hatte. Zwischen zwei Küssen murmelte er: »Julie…« und spürte in ihrer Unterlippe ein Beben, das vielleicht Nervosität war, aber auch Verlangen sein konnte. Der Himmel schien sich um ihn zu drehen, als er die Augen wieder öffnete und sah, wie zärtlich, entzückt und erstaunt sie ihn anschaute. Lächelnd fragte er: »Noch immer vor der Grenze der Liebe?« Sie nickte und lachte nun mit ihm. »Aber die Grenze ist auch schön.« Dabei beugte sie sich vor, küßte ihn kurz, und noch einmal fest, und sagte dann in größter Gelassenheit: »Wolltest du mich bitten, dich zu heiraten?« Er sah sie starr an. »Was denn sonst?« »Beim Küssen kam mir alles mögliche andere in den Sinn.« Er merkte, daß er sie plötzlich unendlich glücklich gemacht und gleichzeitig tief bewegt hatte, und wollte gern ihre Stimmung mit der seinen ganz in Einklang bringen. Langsam sagte er: »Um das habe ich dich auch gebeten. – Selbstverständlich möchte ich dich haben, mit allem, was du bist, und das schließt ein, daß ich dich so rasch wie möglich ganz lieben darf. Aber die Ehe scheint mir für uns der rechte Weg.« »Und der Krieg, dem du dich verschrieben hast?« »Liebling«, sagte er, – diese erste vertrauliche Anrede zwischen ihnen schien ihm die Kehle zuzuschnüren – »darauf weiß ich jetzt einfach keine Antwort mehr. Der Krieg muß noch weitergekämpft werden, und wir beide müssen ihn noch mitmachen. Vor langer Zeit glaubte ich, man könne das nur, wenn man sich ständig ganz auf ihn konzentriert und jede Ablenkung vermeidet. Jetzt scheint mir das – längst überholt.« »Laß uns weiter davon reden«, sagte sie, ihn genau beobachtend. »Jetzt schadet das gar nichts. Die Grenze der Liebe«, murmelte sie. »Wieviel Geduld hast du?« »Wenn ich hoffen darf, sehr viel.« »Hast es nicht eilig mit meiner Antwort?« 362
»Nicht im geringsten.« »Aber du sagtest doch, du möchtest mich so rasch wie möglich ganz lieben.« »Das geschah nur, weil ich dich gerade geküßt hatte. Denn wer dich küßt, möchte dich haben, im selben Augenblick. Ich glaubte Anzeichen zu bemerken, – vielleicht läßt sich das sehr höflich gar nicht ausdrücken – gewisse Anzeichen, daß du mich zu einem recht stürmischen Liebhaber machen könntest, als du mir nur zwei Küsse gabst und dein Arm um meine Schulter lag.« Sie lächelte leicht und errötete wieder. »Ich habe auch etwas Ähnliches gefühlt.« »Das ist ganz gut für dich«, brummte er, »man kann nie wissen –« Sie lachte: »Nun kenne ich dich auf einmal sehr genau. Und das ist eine gewaltige Erleichterung.« »Wie reizend,« sagte er, ihre Wange berührend, »jemand zu haben, der immer versteht, was ich sagen will… Aber jetzt möchte ich etwas trinken.« Auf der ganzen Heimfahrt saßen sie Hand in Hand. Manchmal sagte er »Julie«, manchmal neigte er sich zu ihr und küßte sie. Während dieser langsamen Rückfahrt schien sie ihm so zart und so nahe, als seien sie bereits Liebende. Am Ausgang der Bucht gingen sie über Stag und nahmen Kurs auf Hunter’s Quay. Und als sie dort durch die Balkensperre liefen, wurden sie gleich an das erinnert, was noch ungelöst für sie war: sie sahen eine Reihe von Sicherungsfahrzeugen, – zwei Fregatten, vier Korvetten – die auf der Heimreise, nach Abgabe ihres Geleitzuges, gegen die Strömung kämpften. Schweigend beobachteten sie beide diese Schiffe, an denen sie dicht entlang segeln mußten, so daß ihr kleines Dingi vom Kielwasser jedes einzelnen zum Schlingern gebracht wurde. Als sie vorbei waren, sagte Julie: »Jetzt denkst du: ›das ist die Gruppe Allendale‹, und ich denke ›da begegnet uns schon wieder der Krieg‹.« »Wir haben es fertiggebracht, ihn lange von uns fernzuhalten.« Er drückte sie an sich. »Verlaß mich nie, Julie.« Und sie sagte, als habe sie das gar nicht gehört: »Ich weiß, wohin du morgen fährst. Sei sehr vorsichtig, du!« Erstaunt fragte er: »Ein besonderes Unternehmen?« Sie neigte sehr langsam den Kopf. »Es soll die kälteste Route sein, die wir haben.« Und noch einmal sagte sie, ihn fest anblickend: »Sei sehr vorsichtig.« Nordrußland –! Barnard, der bärtige Bootsmann auf Saltash, der die armselige Hafenansicht von Murmansk studierte, kam zu der Überzeugung, daß 363
dieser Ort auch nicht besser sei als die meisten andern, in die der Krieg ihn geführt hatte: er war die Reise nicht wert. Die Sonne, die bleich und glasig, wie ein kurzsichtiges Froschauge, am glanzlosen Himmel hing, warf ihren schwachen Schein auf den langen, hölzernen Kai, auf den zu schmutzigem Matsch zertretenen Schnee und die unregelmäßigen Dächer der Hafenstraßen. Murmansk war, jedenfalls nach Barnards Ansicht, nicht sonderlich sehenswert: an Ausrüstung war der Hafen weniger leistungsfähig als andere, seine bewaffneten Wachtposten waren aufdringlicher und sein Klima verdammt viel kälter. Und um hierherzukommen, hatten sie alle nur erdenklichen feindlichen Angriffe erdulden müssen und dabei verloren: zwölf Dampfer, drei Sicherungsfahrzeuge und mehr als zwanzig Flugzeuge von ihren Trägern. Sie hatten wirklich eine kostspielige, strapazenreiche und aufregende Reise hinter sich. Wenn die Russen ihnen für diese Mühe nur dankbar waren. Barnard bewegte die Glieder unter dem dicken haarigen Düffelrock, schlug die behandschuhten Hände aneinander und stampfte mit den Füßen auf das eiserne Deck. Murmansk war unbeschreiblich kalt, – nie hatte er sich mehr über seinen Vollbart gefreut als hier – aber in der Beziehung war die ganze Reise nicht besser gewesen: eine schneidende Kälte, die durch alles und in alles drang, hatte sie Tag um Tag geplagt. Der Geleitzug war, wie gewöhnlich auf der Ausweichroute, an der Packeisgrenze entlang um die Bäreninsel und das Nordkap gedampft. In diesen arktischen Wasserwüsten gab es keine richtige Nacht, keine volle Dunkelheit, und ständig hatte über ihnen dasselbe kalte, graue Licht gelegen, das auf eine ebenso kalte und graue, kaum bewegte See fiel. Der Geleitzug mit Saltash und den anderen Sicherungsfahrzeugen mußte gewirkt haben wie eine Modellsammlung, die zur Erhöhung des Effekts auf einen unechten, gläsernen, mit künstlichem Schnee bedeckten Ozean gesetzt war. Bewegung brachte ihnen nur der Feind. Schlag auf Schlag waren seine bösartigen Angriffe erfolgt, in jeder vorstellbaren Form. ›Vermutlich sind die Geleitzüge nach Rußland dringend notwendig‹, dachte Barnard, ›aber der Preis ist, weiß der Himmel, furchtbar hoch.‹ Der Jerry hatte bei diesem Geleit nichts unversucht gelassen und war mit einer ›fetten Dividende‹ davongezogen. Sie hatten U-Boote erlebt, Torpedoflugzeuge und Sturzbomber; Zerstörer waren aus einem der norwegischen Fjorde gegen sie vorgestoßen, und sogar Schnellboote in ganzen Schwärmen hatten sie angegriffen – wahrhaftig eine Unverschämtheit von diesen kleinen Dingern, in die ›atlantische Schlacht‹ mit einzugreifen! Zeitweilig bestand sogar die Gefahr, daß die Scharnhorst aus ihrem Versteck herauskommen und eingreifen würde. Natürlich wurden dem Geleit eine Menge Sicherungsfahrzeuge mitgegeben: drei ganze Gruppen unter Führung von Saltash. Der Kommandant mußte wirklich allerlei im Kopf gehabt haben –! Und außerdem waren zum 364
Schutz noch große Schiffe mitgelaufen: drei Kreuzer und ein Schlachtschiff, die kampfbereit nördlich vom Geleitzug mitgebummelt waren. Aber was wäre geschehen, wenn die Scharnhorst mit ihren vier Türmen Fünfunddreißiger zwischen die Dampfer gebraust wäre, bevor die Geschütze des britischen Schlachtschiffs zum Tragen kommen konnten? Die deutschen Zerstörer waren schon schlimm genug gewesen, da ihre Geschütze größere Reichweite hatten als die der Sicherungsfahrzeuge. ›Vielleicht waren die Zerstörer am schlimmsten für uns‹, dachte Barnard. Die waren in rauschender Fahrt aus Nordosten vorgestoßen, drei in Kiellinie, verdammt fast so groß wie Kreuzer, und hatten dann, in einem Auswärtsbogen vom Konvoi abdrehend, die nächstlaufenden Schiffe mit einem Hagel von Granaten eingedeckt. Eine Korvette hatten sie sofort fertiggemacht: die war tapfer – alle Achtung vor dem kleinen Kasten – geradenwegs auf den Zerstörer an der Spitze losgegangen, aber schon ehe sie selbst feuern konnte, von den Granaten des Gegners in Stücke gehauen worden. Gegen Zerstörer konnten Korvetten nichts, gar nichts ausrichten, und die Fregatten ebensowenig. Trotzdem war Saltash schneidig vorgestoßen, um einzugreifen, während wohl die ganze Besatzung sich die Hosen vollmachte. – Zerstörer mit Fünfzehnzentimeterkanonen –! Zum Glück mußte Ericson sofort nach Sichten der Zerstörer ein Signal gegeben haben, denn bevor noch mehr Unheil passieren konnte, waren zwei von den Kreuzern über der Kimm aufgetaucht, und da hatten die Zerstörer sich ohne besondere Aufforderung verduftet. Schaden genug hatten sie schon angerichtet: eine Korvette versenkt und drei Dampfer in Brand geschossen. Aber es hätte weit schlimmer ausgehen können, und sie kamen jedenfalls nicht wieder, weder an diesem Tage noch später. ›Vielleicht waren aber die Zerstörer doch nicht so schlimm wie die Sturzbomber‹, dachte Barnard. Beide waren als Gegner für Saltash noch neu gewesen, aber diese Bombenflugzeuge kamen an jedem geschlagenen Tag, elf Tage hintereinander, und das konnte einen schließlich weich machen. Manchmal warfen sie nur Bomben auf die übliche Art, aus großen Höhen, und das sah immer zuerst harmlos aus, bis dann die Bomben unten waren und das Meer förmlich zu springen anfing, während die Schiffe in Qualmwolken zerplatzten. Aber manchmal machten sie Sturzflüge: da kamen die Maschinen heulend von oben – jede einzelne schien ausgerechnet auf dich zuzustoßen – und gingen erst im letzten Moment zum Gleitflug über. Meistens aber wurden Torpedos geworfen. Die Torpedoflugzeuge ließen sich am schwersten ausmachen: ganz flach über dem Wasser näherten sie sich, kleine unklare Flecke, in dem grauen Licht kaum sichtbar – dann bewegten sie sich schnell auf und ab, so daß man sie mit dem Geschütz nicht auffassen konnte, und dann fielen, ganz dicht vor dem angegriffenen Schiff, ihre Torpedos, so daß 365
keine Zeit zum Ausweichen blieb – und wie die Teufel waren sie wieder abgebraust, während man auf den großen Knall wartete. Saltash hatte mit ihrem Zweipfünder einen zur Strecke gebracht, aber was war einer bei so vielen, wenn diese Torpedoangriffe elf Tage hintereinander kamen, und jeden Tag viermal, da die Maschinen nach jedem Angriff nur zu ihrem norwegischen Stützpunkt zurückzurasen und neuen Brennstoff zu nehmen brauchten. Und sie erschienen in Schwärmen aus allen Himmelsrichtungen, einmal zwölf, dann wieder zwanzig, und ließen ihre stählernen Fische rund um den Geleitzug fallen, so daß sie immer etwas treffen mußten. Und wenn die Schiffe getroffen wurden und untergingen, hatten die armen Kerle an Bord sehr wenig Aussicht, am Leben zu bleiben, da Luft und Wasser eisig kalt waren. ›Vielleicht‹, dachte Barnard, ›vielleicht war die Kälte noch schlimmer als die Zerstörer und die Sturzbomber zusammen.‹ Denn diese Kälte herrschte überall, im Schiff und draußen. Du konntest einfach nicht warm werden, und wenn du dich in der Kombüse auf den Herd gelegt hättest. Den Schnee hatten sie tonnenweise von Deck geschaufelt, und immer wieder das Eis von den Geschützen getaut, und zwar mit dem Dampf schlauch, der dabei beinah noch selber zufror! Dicht an der Eisgrenze, als Saltash in Höhe des Nordkaps lief und eine Brise aufkam, biß und kratzte die Kälte einem ins Gesicht, als führe ein Schabeisen darüber. Ein Mann, der die Handschuhe ausgezogen hatte, um einen Munitionskasten zu öffnen, hatte sich von seiner Handfläche die ganze Haut heruntergerissen, die wie ein blutiger halber Handschuh an dem Eisenkasten klebenblieb, während der Mann sie anstarrte wie einen Gegenstand im Schaufenster. Aber das war nicht so schlimm wie das, was den armen Kerls passierte, die in den ›Bach‹ fielen. Da konnte einer höchstens ein paar Minuten am Leben bleiben – die Kälte packte ihn, sobald der Körper das Wasser berührte. An einen Fall erinnerte sich Barnard besonders deutlich: eines ihrer Seeflugzeuge vom Träger, das versuchte, feindliche Bomber in größerer Höhe abzufangen, hatte wahrscheinlich Treffer bekommen, so daß der Pilot vor der Spitze des Geleitzuges ›aussteigen‹ mußte. Während er noch am Fallschirm schwebte, hatte Saltash schon ein Boot zu Wasser gebracht, das schleunigst der Stelle zusteuerte, wo er niedergehen mußte – ungefähr eine Meile vom Schiff. Aber schon eine Meile war zuviel gewesen bei dieser Kälte. Der Pilot hatte gewinkt, als er im Wasser landete, und vom Boot winkten sie auch. Sie brauchten höchstens drei Minuten bis zu ihm, aber in diesen drei Minuten war er schon kalt wie ein Stein, brettsteif gefroren! So konnte man in dieser Gegend zu Tode kommen – in drei Minuten, zwischen Winken und Rettung, zwischen einem Lächeln und einem für immer gefrorenen Grinsen. – Barnard, der ganz in seine 366
nicht gerade glücklichen Träumereien verloren dastand, merkte, daß sich in seiner Nähe etwas bewegte, und sah, daß Oberleutnant Allingham, der Artillerieoffizier, zu ihm an die Reling kam. Die beiden hatten sich schon gut miteinander angefreundet: sie lächelten sich jetzt zu, um sich dann, ohne zu sprechen, dicht nebeneinander über die straffe Drahtreling zu lehnen und auf den Kai hinunterzublicken. Unter ihnen hielt gerade ein waffenstarrender russischer Posten am Ende seines Patrouillenweges an, machte kehrt und blickte, ohne eine Miene zu verziehen, die Rechte am Pistolenkolben, zu ihnen hinauf – ein bewaffneter Mann in einem dunklen Dämmerzustand, der hier an der äußersten Spitze eines sagenhaften Kontinents stand, wie festgeschmiedet an die eigene Fußspur im Schnee. Sie beobachteten ihn eine Weile, dann seufzte Allingham, richtete sich etwas auf und fragte: »Tun Sie einen Blick nach Rußland, Bootsmann?« Barnard nickte. »Ja, wenn Sie es so nennen wollen. Und Rußland blickt auf mich, wie es immer blickt.« Er wies auf den bewaffneten Posten, der sie unter seinem fremdartigen Stahlhelm hervor noch scharf musterte, als wollte er sagen: ›Wagt nur ja nicht, hier an Land zu kommen oder euer Schiff einen Zentimeter dichter an mein Vaterland zu bringen!‹ Barnard, den dieser stierende Blick anödete, winkte dem Mann zu, der anstatt zu antworten an seinem Gewehr herumfingerte. »Sei mal’n bißchen lustiger, Towaritsch!« rief Barnard, der sich nicht abschrecken ließ. Der Mann da unten warf einen Blick nach rechts, einen nach links, und ruckte dann den Kopf zu ihnen empor. »Churchill!« antwortete er mit Verschwörermiene. Aber trotzdem lächelte er kein bißchen. »Churchill!« wiederholte Barnard sehr bereitwillig. »Komisches Volk hier, Sir«, sagte er kopfschüttelnd, »mit denen kommt man nicht klar. Ein paar von unseren Jungs haben schon Schlägereien gehabt, drüben in der Kantine. Die wollen einfach nichts davon wissen, daß –« »Es ist völlig anders, als ich’s mir vorgestellt hatte«, sagte Allingham ohne abfällige Kritik. Auch er hatte sich in den letzten paar Tagen seine festen Ansichten über Rußland gebildet, aber man durfte doch nicht die notwendige Solidarität der Alliierten außer acht lassen, die in den ›Vertraulichen Richtlinien‹ der Admiralität so sehr in den Vordergrund gestellt wurde. »Es ist ja schließlich auch nicht zu erwarten, daß sie genau so sind wie wir.« Barnard nickte. »Wir sind weit weg von zu Hause. Und von Ihrer Heimat besonders weit, Sir.« »Kann man wohl sagen. – Wenn man bedenkt, was für eine Strecke wir bis hierher zurückgelegt haben, um dann bloß lauter grimmige Gesichter zu 367
sehen und jeden Morgen und Abend einen Luftangriff –!« »Und was wir auf dem Wege hierher erlebt haben!« Barnard zog zischend die Luft ein. »Da muß ja der Kommandant bald einem Zusammenbruch nahe sein.« »Ich hätte eine ganze Woche durchschlafen können. Und das hätte ich tatsächlich getan, wenn nicht ewig diese verfluchten Luftangriffe dazwischenkämen.« »Ich hoffe nur, daß wir nicht zuviel solche Reisen zu machen brauchen.« Der Posten blickte sie jetzt wieder an, als hätte er plötzlich diesen geringschätzigen Gedanken verstanden. »Glauben Sie im Ernst, Sir, daß die hier das wert sind?« »Ich denke doch. Die Russen brauchen das Material, und sie kämpfen doch verdammt tapfer, das müssen Sie zugeben: ihr Land ist bisher das einzige, wo die Deutschen wirklich geschlagen werden.« Allingham machte eine Armbewegung, mit der er den Schneematsch auf der Pier, die häßliche vereiste Stadt und den einzelnen Mann, der da so wachsam im Schnee stand, umschloß: »Wenn man diesen kleinen Schrotthaufen hier sieht, ist es schwer vorstellbar, aber da unten« – er deutete südwärts ins Ungewisse – »geht allerlei Gewaltiges vor sich. Wenn die Russen noch ein paar Stalingrads inszenieren und wir ihnen durch die Hintertür helfen können, wird der Krieg allmählich zum Stillstand kommen. Und das ist wohl ein paar solcher Reisen wert.« »Ja, falls die lieben Verbündeten einsehen, was so ein Geleit durchmachen muß, um hierherzukommen! Ich möchte mal wissen, warum diese Menschen so in sich gekehrt sind.« Er deutete wieder auf den im Schnee stehenden Wachtposten. »Sehen Sie sich nur diesen Burschen an: entweder haßt er uns, weil wir Courage haben, oder hat Todesangst, bei Verbrüderungsversuchen ertappt zu werden. Und so sind alle, die ich bisher gesehen habe. Aber einerlei wie wir’s betrachten: von einem netten Empfang ist hier wahrhaftig keine Rede.« »Vielleicht, weil sie so schwer kämpfen müssen und unsere bisherigen Taten nicht auf der Landkarte finden können. Das einzige, was sie hören wollen, ist, ob wir eine zweite Front gebildet haben, und ehe sie das nicht in der Zeitung lesen, denken sie, wir lungern bloß unnütz herum.« »Aber trotzdem. –« Barnard blickte finster. »Ein komisches Volk, Sir«, wiederholte er. »Wissen Sie noch: wie wir eine Leine um den nächsten Poller legen wollten, kurz nachdem wir hier festgemacht hatten? Da erlaubten sie uns noch nicht mal, zwei Mann auf die Pier zu schicken, bis einer ihrer Offiziere an Bord gewesen war und unsere Leute nachgezählt hatte. Eigentlich eine tolle Unverschämtheit, wenn ich überlege, was wir für die Leute aus368
gehalten haben.« Allingham nickte gegen seinen Willen. »Ja-a – komisch ist das… Wenn diese Burschen in Sidney einliefen, würden wir sie vielleicht auch nicht gerade küssen, aber begrüßen würden wir sie doch wenigstens und sie zu einem Umtrunk einladen.« »Was trinkt man denn so in Sidney?« »Bier, und zwar in rauhen Mengen.« »Haben Sie schon mal Wodka probiert, Sir?« »Ja, probieren soll man jedes Getränk. Vielleicht ist es kein Wunder, daß diese Kerls so mißmutig sind.« Die Sirenen heulten ›Fliegeralarm‹, zum dritten Mal seit Tagesanbruch. Gleich danach schrillten auf Saltash die Alarmglocken, und sofort erwachte das Schiff zum Leben – die Nachmittagsruhe war wieder dahin. Der Mann auf der Pier zog sich ein paar Meter vom Schiff in ein kleines, durch Sandsäcke geschütztes Schilderhaus zurück, beobachtete sie aber unentwegt weiter mit mißtrauischer Miene, vielleicht weil er Sabotage erwartete oder plötzlichen Gebrauch von Geheimwaffen. In der Nähe begannen ein paar Geschütze zu feuern, aus dem grauen, tiefhängenden Himmel drang das gleichmäßige Surren von Flugzeugpropellern. Also mußten sie auch heute wieder eine Extrarunde mit dem Feind ausfechten und hatten sich so schön vorgestellt, wie geschützt und friedlich sie hier liegen würden. »Murmansk!« sagte Allingham angewidert. »Auf der ganzen Reise kein Schlaf zu kriegen, und hier auch keiner. Ich wünschte, wir dampften bald wieder ab.« »Aber wenn man’s zweimal macht, muß schon eine Pause dazwischen sein«, sagte Barnard breit lächelnd. »Bootsmann«, antwortete Allingham, die zweideutige Bemerkung ergänzend, »das sagen einem alle Mädchen…« Dann begann er, noch lachend, seine Geschützmannschaften zu kontrollieren, ob alles feuerbereit war, während der stumme Mann auf dem Kai mit Augen und Ohren diese Possen einer fremden Welt verfolgte und seine eigene ängstlich bewachte. Lockhart hatte schon mehrere Zusammenstöße mit dem russischen Dolmetscher gehabt, einem kleinen temperamentvollen Mann, der in jeder Bitte um Proviantabgabe oder irgendeine Erleichterung für Schiff und Besatzung offenbar nur ein weiteres typisches Beispiel hochnäsiger Kapitalistenmanieren sah, reine Vorwände, dem harmlosen Proletariat die Nahrung zu entziehen. An ihrem letzten Morgen in Murmansk, eine Stunde vor dem Auslaufen, geriet er mit diesem Mann in einen Streit, bei dem sie sich so heftig die abwegigsten Vorwürfe machten, daß Lockhart kaum noch wußte, was der An369
laß gewesen war: eine Beschwerde über die Qualität des von den Russen an Bord gelieferten Frischfleischs. Nachdem sie tüchtig über alles geschimpft hatten, beginnend mit einem Vergleich zwischen dem russischen und dem britischen Lebensstandard und weiter bis zu einer scharfen Analyse der beiderseitigen Kriegsanstrengungen, – und nachdem sie sich beide mit geballten Fäusten bedroht hatten, – denn Lockhart ahmte hier die derbe Geste nicht ungern nach – zog der Dolmetscher vor Zorn dampfend ab. An der Gangway drehte er sich um und rief zum Abschied noch ein paar Sätze. »Ihr Engländer«, rief er schrecklich giftig, so laut und scharf er konnte, »ihr denkt, wir wissen gar nichts, aber wir wissen verdammt genau alles!« Zweite Szene: Ein Sturm in See. Ein Schiff tritt auf: schwer im Sturm und groben Seegang arbeitend… Aber selbst diese einfache Direktive eines Regisseurs hätte nicht befolgt werden können, weil hier kein Schiff ›auftreten‹, kein Schiff auf einer solchen Bühne auch nur um einen Fuß vorankommen konnte. Nein: die Sturmlandschaft selbst hätte sich fortbewegen müssen, um dem Schiff zu begegnen, und das, – so dachte Ericson, als in der fünften Morgendämmerung sein Schiff sich noch immer in sagenhaft hartem Ringen bemühte, auf einem Weg nach Süden voranzukommen, und sei es ›nur‹ so weit südlich wie Island – das, eine völlige Umkehr des natürlichen Geschehens, hielt Ericson jetzt nicht für unmöglich, denn dieses Wetter mußte doch wohl das schlimmste des ganzen Krieges sein, nein: das schlimmste überhaupt. Was da heulte, war mehr als ein Orkan: eher ließ es sich mit einem von Geschützdonner brüllenden und erbebenden Schlachtfeld vergleichen, über das Schiffe hingeweht wurden wie Papierfetzen. Der Geleitzug hatte mit einem Geleitzug keine Ähnlichkeit mehr, und genau genommen glich hier ein Schiff kaum mehr sich selbst, während es in dieser heulenden Wasserwildnis vom Sturm gehetzt und von einer Falle in die andere geworfen wurde. Aus diesem Chaos, das der Südsturm in seiner von Tag zu Tag wilderen Wut anrichtete, gab es kein Entweichen: jedes Schiff glich einem Verzweifelnden, der vor einem Lynchmord durch den Pöbel flieht, dessen Attacken sich allmählich zu sinnloser Wut gesteigert haben. Riesige Wellen, eine Meile von Kamm zu Kamm, stürzten brüllend auf die Zwerge, die ihnen zur Beute fallen sollten. Manchmal wurde buchstäblich die ganze Oberfläche des Meeres fortgerissen, und jedes Schiff, das in diese Wassermassen geriet, schüttelte sich schwankend, wenn sich mit Tonnengewichten die grüne See über das Deck warf und in reißender Wut alles überspülte. Boote wurden zerschmettert, Brücken und Aufbauten zu unkenntlichen Formen zerdrückt: Männer verschwanden spurlos und ohne Schrei über 370
Bord, mit einem machtvollen Streich hinweggewischt wie Bilder von einer Wandtafel. Und selbst wenn die grünen Seen einen Moment aufhörten zu schlagen, jagte der Sturm, der sich heulend in die Takelage krallte, Furcht in alle Herzen. Denn wenn die festen Gegenstände und zähen Segeltuchverkleidungen einfach verschwanden, dann konnten gewiß auch Männer von dieser Wucht und Wut fortgepeitscht werden… Für die Besatzung von Saltash gab es jetzt keinen Konvoi, für sie existierte nur noch das eigene Schiff, mit dem sie sich durch furchtbare Tage und Nächte zu behaupten suchten, um nicht von der nackten Gewalt dieses unheimlichen Wetters vernichtet zu werden. Saltash war sonst durchaus seetüchtig: sie hatte viele Stürme ausgehalten und oft noch Kraft für andere in Not befindliche Schiffe übrig gehabt, aber allein auf sich gestellt hatte sie jetzt schwerste Mühe, sich schwimmend zu halten. Müde und matt umhergeworfen, mußte sie bei den tollen Kapriolen, die sie tagelang Stunde um Stunde vollführte, ausgesehen haben, als sei das einzige Kunststück, das sie auch unter dem stärksten Zwang verweigerte, der Kopfstand. Und in der ganzen Zeit erscholl aus den Lautsprechern in allen Räumen von einer Grammophonplatte, die ein Satiriker aufgelegt haben mußte, die Melodie: Someone’s rocking my dream-boat. Wie jeder andere an Bord, hatten auch die Offiziere neben den allgemeinen Problemen ihre ganz persönlichen: wie man essen sollte, ohne daß einem die Mahlzeit ins Gesicht flog, schlafen, ohne aus der Koje geschleudert zu werden, oder wieder warm und trocken werden nach dem Elend einer vierstündigen Wache, und schließlich das Problem, unverletzt zu bleiben. Scott-Brown, der Arzt, hatte mit den Folgen dieses Sturmes alle Hände voll zu tun: stundenlang mußte er Schnitte, Risse und gebrochene Rippen behandeln und Seekrankheit, die manche so übel mitnehmen konnte, daß sie am Leben verzweifeln wollten. Sein schwerster Fall, der schon unter den besten Bedingungen in einem erstklassigen Operationsraum seine ganze Kunst und Geduld erfordert hätte, war ein Matrose, der im Mannschaftsdeck buchstäblich von einer Bordwand gegen die andere geworfen worden war und sich dabei die Kniescheibe in ein Dutzend blutiger Stücke zerschlagen hatte. Johnson, der Leitende Ingenieur, rang endlos mit dem gleichen Problem, das höchste Wachsamkeit verlangte: bei den wilden trunkenen Bewegungen des Schiffes stieß in jeder zweiten See das Heck hoch aus dem Wasser, so daß, wenn nicht im selben Moment die Maschine gedrosselt wurde, immer die Gefahr bestand, daß die rasenden Schrauben die Welle zu Fetzen zerrissen. Raikes sah sich bei der Navigation vor wirklich hoffnungslosen Aufgaben: Tag um Tag war keine Sonne sichtbar und kein Stern, um ein Besteck nehmen zu können, nie blieb die Geschwindigkeit konstant, um wenigstens ganz 371
ungefähr die Position nach der gelaufenen Strecke zu ermitteln. Wo Saltash sich nach den fünf chaotischen Tagen und Nächten befinden mochte, ließ sich nur ganz ungefähr erraten, so wie es jeder Heizer oder Trimmer schließlich auch gekonnt hätte. »Um den Polarkreis taumelnd, einige sechzig Grad Nord und unbekannt West« – genauer hätte er es nicht feststellen können. Irgendwo in diesen grob gezogenen Grenzen lag Saltash und trieb langsam heimwärts innerhalb des sturmdurchtobten Dreiecks zwischen Island, Jan Mayen und Norwegen. Die Organisation an Bord, für die, wie üblich, Lockhart die Verantwortung trug, war bald nur noch eine grimmige Ironie. Im Zwischendeck regierte das Chaos, die Messe war unbewohnbar, die Mannschaftsdecks sahen aus wie ein Schlachtfeld. Es gab keine Möglichkeit mehr, warmes Essen zuzubereiten, kein Stück Zeug konnte getrocknet werden, niemand hatte einen Augenblick Ruhe unter dem unaufhörlichen Wüten des Sturmes. An Deck rissen Gegenstände sich los, Boote sprangen aus den Klampen und zerschlugen zu Stücken, tonnenweise drosch die See überall auf das Schiff. Lockhart, der tausendmal die Dämmerung eines neuen Morgens mit neuer Hoffnung erwartet hatte, mußte sich jetzt jede Nacht vor dem Bilde fürchten, das sich ihm am Schluß seiner Wache bieten mochte, wenn das Tageslicht durch das wilde, niedrige Gewölk drang und ihm das Schiff wieder sichtbar machte. Ein völlig kahlgefegtes Oberdeck, eine ganze Wache von dreißig Mann über Bord verschwunden – so quälten ihn im Dunkeln die unheilvollsten Vorstellungen, die durch eine einzige Drehung des Schicksalsrades zur furchtbaren Wahrheit werden konnten. Während Saltash stöhnend, ächzend und haltlos schwankend dahintrieb und kein neuer Tag besser anfing als der vorige, blieb auch ihm nichts weiter übrig als durchzuhalten wie alle andern, und die grausame See zu verfluchen. Keiner an Bord hatte mehr Grund, sie zu verfluchen, und zeigte das weniger nach außen als Ericson, der, in einen Brückenwinkel verkeilt, wieder einmal, wie er es immer mußte, das Ganze zusammenhielt. Nachdem der Sturm fünf Tage und fünf Nächte getobt hatte, war der Kommandant so erschöpft, daß er schon gar nicht mehr empfinden konnte, wie sehr. Ins Deck verankert mit bleischweren Beinen in durchnäßten Seestiefeln, mit müden, halb erfrorenen Armen an die Brückenreling geklammert, schien er ein Teil des Schiffskörpers geworden zu sein, nur noch bestehend aus einem Paar geradeaus gerichteter Augen und einem wachen Verstand und so ganz und gar mit dem Gebilde, das Saltash hieß, zusammengeschweißt. Auf dem Weg gen Norden nach Murmansk war er unaufhörlich zu der Gehirnakrobatik gezwungen gewesen, die die Lenkung von zwanzig Geleitfahrzeugen und die Abwehr von drei oder vier verschiedenen Angriffsmethoden von einem 372
Gruppenführer verlangte, und jetzt knüppelte dieser unheimliche Orkan auch noch buchstäblich auf seine Körperkraft los und begann seine in einem ganzen Leben erworbene Ausdauer zu untergraben, die noch niemals so lange unter so schweren Strapazen erprobt worden war. Im tosenden Lärm unaufhörlich hin und her geschleudert, mußte er zusehen und fühlen, wie dasselbe seinem Schiff geschah. Von der Brücke aus bot sich immer das gleiche Bild des sinnlosen Wütens der Natur. Bei Tage sah er eine Quadratmeile aufgewühlter Wassermassen, in die gewaltige Seen stürzten, wie eine Lawine, die über den ganzen Globus hinabrollen will. Fast ununterbrochen sprühte dampfartig oder hart und scharf die Gischt darüber hin, und immer wieder taten sich vor dem Schiff so tiefe und so weite Abgründe auf, als sei der ganze Ozean begierig, es zu verschlingen. Gegen den bleigrauen Himmel abgezeichnet, stieß und schwankte der Mast in jähem Bogen durch den Raum, so daß die Antennen und Flaggleinen hin und herschlugen, als wollten sie die See für ihre Bosheit auspeitschen. Und nachts kamen dazu noch die Schrecken unbestimmten Unheils: die Nächte waren pechschwarz, undurchdringlich für das Auge, von gräßlichen Geräuschen angefüllt und von jähen, tückischen Überraschungen: schwere Seen, die sich wie aus dem Nichts über Deck stürzten, beißende Gischt, die einem in Gesicht und Augen schlug, bevor man sich ducken konnte. Allein in rabenschwarzer Finsternis, mußte Saltash alle Schläge erleiden, die See und Sturm auszuteilen vermochten: sie stampfte, schlingerte und arbeitete verzweifelt. Mußte Wellenberge ertragen, die sie vom Bug bis zum Heck durchschütterten, mußte schaudernd in steile Täler hinabstoßen, indes riesige Wassermengen mit dem Lärm einstürzender Häuser über sie brachen, und erhob sich dann unendlich langsam, unendlich mühsam, um die Wasser von sich abzuwälzen, sich freizuschütteln und bereitzumachen für den nächsten Anhieb. Ericson beobachtete und erlitt alles mit seinem Schiff, fühlte dessen ganzes Leiden körperlich, besonders das Verzweifelte des langsamen Wiederaufrichtens unter dem zermalmenden Gewicht der schweren Seen. Oft vermochte er kaum noch zu glauben, daß Saltash überhaupt wieder hochkommen werde. Bei solchem Wetter waren Schiffe spurlos verschollen, da konnte ein Schiff der grausamen Heimsuchung ebenso erliegen wie ein Mensch. Und hier, am Ende der Welt, wo der Sturm sein Heulen zu irrsinnigem Toben steigerte und die See buchstäblich kochte: hier konnte ein Schiff ermordet werden. Hier, wo vielleicht noch Tote von Compass Rose ziellos im Meer trieben, hier sollte er wohl vereint werden mit ihnen und seine ganze Besatzung mit sich nehmen…? Er blieb, wo er war, – auf der Brücke – und wartete, ob das geschah oder nicht geschah. Er, Ericson, bestand nur noch aus zwei roten Augen, die ent373
zündet waren von Sturm und Salzwasser, aus einem Gehirn, das müde und zerrüttet war, aber durch seinen eisernen Willen noch gezwungen wurde, an eins zu denken: an Wachsamkeit. Und er bestand manchmal nur noch aus einer Stimme, die dem Rudergänger zubrüllte, aufzupassen, wenn ein neuer schwerer Hieb der wütenden See drohte. Er bestand aus einem Kern von Angst und Beherrschung, der fest in sich geschlossen in seinem Körper saß, dessen Kräfte er zuerst nur mißbraucht, nach und nach aber, unter den ungeheuren Schlägen der Natur, ganz zu mißachten gelernt hatte. Kein Sturm von solcher Gewalt konnte ewig anhalten, sonst wäre die ganze Struktur unseres Erdballs schon längst völlig zerstört. Auf einmal machte das Wetter, wie durch einen unwillig gewährten Gnadenakt, eine Wendung zum Besseren. Das Meer war noch immer wild aufgewühlt, aber nicht mehr im Angriff, der Sturm heulte noch in hohen Tönen, hatte jedoch sein giftiges Fauchen verloren: das Schiff rollte und schlingerte noch, konnte aber nun wenigstens einen klaren Kurs steuern. Dann kam ein Tag, an dem das Oberdeck zu trocknen begann und mit dem Aufräumen des wüsten Durcheinanders unter Deck angefangen werden konnte; der Tag, an dem warme Mahlzeiten gekocht und in Ruhe gegessen werden konnten; an dem ein Mann vom Vorschiff bis zur Brücke gehen konnte, ohne Spießruten zu laufen zwischen grünen Seen, die ihn in die Speigatten zu fegen oder glatt über Bord zu spülen drohten; der Tag, an dem der Kommandant die Brücke für länger als eine halbe Wache verlassen und länger als eine Stunde hintereinander schlafen konnte… Die Sonne drang zum erstenmal seit vielen Tagen durch die Wolken und glänzte über dem grauen Wasser: sie wärmte den Rücken ihrer Lederjacken, und von den trocknenden Decks stieg unter ihren Strahlen ein leichter Dampfdunst auf. Sie brachte ihnen auch drei Schiffe in Sicht, genau drei auf einer Ozeanfläche von hundert Quadratmeilen, auf der sich vierundfünfzig Schiffe in geordneter Geleitformation befinden sollten. Aber das zu erwarten, war wohl nicht gerecht… Den Geleitzug wieder zusammenzubringen, brauchte Saltash fast achtundvierzig Stunden: diese ganze Zeit dampfte sie mit durchschnittlich zwanzig Meilen nach einem Dutzend verschiedener Suchsysteme kreuz und quer. Und diese Arbeit wurde ihr nicht erleichtert dadurch, daß alle übrigen Sicherungsfahrzeuge sich zur selben Zeit einzeln der gleichen Aufgabe widmeten, indem sie jedes in ihrer Nähe erreichbare Handelsschiff in eine Kolonne einzuordnen versuchten, so daß zeitweise nicht weniger als sechs dieser kleinen Geleitzüge bestanden, jeder ungefähr sechs Schiffe stark, die alle versuchten, – weil sie meinten, der Kern zu sein – noch weitere an sich zu ziehen, und die verschiedensten Kurse steuerten. So ergab sich, daß Saltash, als sie die Fregatte Streamer in Sicht bekam, die mit fünf Dampfern ihres Weges zog und ihr signalisierte: »Der 374
Konvoi liegt auf 200 Grad, vierzehn Meilen von Ihnen«, die Antwort erhielt: »Der Konvoi ist hier.« Das war natürlich für einen übermüdeten Gruppenoffizier, der kaum noch seine Nerven im Zaum zu halten vermochte, ein kritischer Moment, und Ericson hätte nur zu gern seinem Zorn nachgegeben. Aber er durfte sich den Luxus, Zeit zu vertun, nicht leisten: der knappe Befehl, den er Streamer zugehen ließ, war weder brutal noch sarkastisch, aber sachlich und keinen Widerspruch duldend. Und da er zu all seinen andern knappen Befehlen der letzen zwei Tage paßte, bekam Ericson auf einmal die Kontrolle wieder in die Hand: Saltash konnte sich wieder an die Spitze eines Verbandes setzen, der wirklich aussah wie ein Geleitzug – noch nicht völlig geordnet und von der See elend zugerichtet, aber doch jedenfalls ein Schiffsverband, der in Ehren Ihren Lordschaften als ›Geleit RC 17‹ gemeldet werden durfte. Ericson gab diese Meldung ab, wies den anderen Sicherungsfahrzeugen ihre Nachtpositionen an und übergab das Kommando an Allingham, der Offizier vom Dienst war. Und dann schleppte er, fast betäubt vor Müdigkeit, aber dankbar, seinen schmerzenden Körper die Treppe hinab, um zwischen den schützenden Wänden seiner Kajüte die lang ersehnte Ruhe zu suchen. Das Wetter gebärdete sich noch wild, doch da der Geleitzug intakt und das schlimmste Chaos entwirrt war, schienen die kommenden Stunden erträglicher und ließen mehr Hoffnung, vor allem versprachen sie Vergessen der bösen letzten Tage. Da wurde knapp eine Meile achteraus von Saltash ein Schiff torpediert… Ericson war gerade in den ersten tiefen Schlaf gesunken, als die Alarmglocken schrillten. Einen Augenblick vermochte er einfach nicht zu glauben, daß sie es wirklich waren, und als er dann den verhaßten Ton tief in sein Hirn dringen fühlte, empfand er eine so gewaltige Wut und Enttäuschung, daß er fast wie ein Kind in Tränen ausgebrochen wäre. Das war nun wirklich zu viel, das war ungerecht vom Schicksal… Schwer erhob er sich aus seiner Koje und folgte den vielen andern trappelnden Füßen wieder die Leiter hinauf: er empfand dabei nichts weiter als ungeheure Mattigkeit und den Schmerz eines Gehirns, das jäh und roh des Schlafes beraubt war, den es so qualvoll begehrte. Wie konnte ein Mensch, wie konnte ein Schiff all dies noch immer aushalten? Wer durfte von ihnen verlangen, daß sie außer dem Kampf gegen das Wetter noch einen anderen Kampf führten? Und es sah aus, als müßten sie das: als sei in dem Moment, da das Wetter nur ein wenig nachgab, der andere Feind, sprungbereit in der Kulisse, mit frischer Wucht und neuer Tücke hervorgekommen. Das Bild, das Ericson jetzt von Deck aus sah, glich ganz dem vertrauten Muster von hundert Geleitzügen: es zeigte ihm die Schiffe auf vorschriftsmäßiger Position, während die Dämmerung 375
sich um sie verbreitete, zeigte ihm die wogende See und dann – die böse Entstellung, die Unheil verkündete: das einzelne zur Reise ins Jenseits bestimmte Schiff, das hinter der Kolonne zurückblieb, bereits mit tödlicher Schlagseite dem Verderben geweiht. Es war ein kleiner Dampfer: was mußte der, als Vorspiel seiner Vernichtung, in der letzten Sturmwoche für eine höllische Zeit durchgemacht haben…! Ericson blickte Allingham an. »Was ist passiert, A.O.?« »Er begann einfach wegzusacken, Sir.« Seine australische Aussprache hatte, wie zumeist in der Erregung, in ihrer Fülle etwas Beruhigendes. »Feuerte erst vor ungefähr einer Minute eine Rakete als Notsignal. Aber wie, zum Teufel, konnten sie den treffen bei so einem Wetter?« »Hm«, knurrte Ericson nur. Die Frage, wie das möglich war, hatte er sich auch schon gestellt, aber es war zwecklos, darüber zu grübeln. Wahrscheinlich gab es wieder eine noch neuere Waffe: vielleicht konnten die U-Boote jetzt einen Torpedo sogar senkrecht vom Meeresgrunde emporschießen und ein Schiff genau in den Bauch treffen. Dafür hätte man einen hübschen, passenden Ausdruck finden können. Aber staunen durfte man in diesem verdammten, ungeheuerlich langen Kriege über nichts mehr… »Wer fährt Seitensicherung?« »Pergola, Sir. Sie fährt einen Suchbogen nach Steuerbord.« Ericson knurrte wieder. Ja, mehr ließ sich im Moment nicht machen: Pergola konnte das verdächtige Gebiet absuchen, und die Achteraussicherung mochte ein übriges tun. Saltash konnte an der Spitze des Geleits weiterlaufen, und er selbst durfte sich einen Plan ausdenken, mit messerscharfer Logik und einem eiskalten Gehirn… Er sah, daß Allingham ihm einen Blick herben Mitleids zuwarf, der seine entzündeten, vor Müdigkeit halb eingesunkenen Augen, sein geschwollenes Gesicht und den zuckenden Unterkiefer umfaßte – diese Zeichen der Erschöpfung, deren er selbst sich bewußt war, ohne sie verbergen zu können. So lächelte er kläglich: »Ich hatte mich gerade hingelegt –«. »Pech, Sir.« Allingham wartete einen Moment, dann sagte er: »Soll ich aufs Vorschiff gehen, Sir, oder hier oben bleiben?« Ericson lächelte wieder, Allinghams gute Absicht dankbar anerkennend. »Sie gehen an die Geschütze, A.O. Das Kommando habe jetzt ich.« Als Allingham gegangen war, trat Schweigen bei den gefechtsklar auf der Brücke stehenden Männern ein: Ericson beobachtete den Geleitzug, Lockhart das sinkende Schiff, Holt und die Signalgasten beobachteten Pergola, die Ausguckposten ihre Sektoren, und der Läufer Brücke behielt Ericson im Auge. Es war ein geschlossener Kreis von Männern, die nun in der Gefahr nichts unternehmen konnten in einem Augenblick, da jede Aktion eine Erlö376
sung für sie gewesen wäre, auf einem Schiff, das vielleicht, weil ein einzelnes Glied in der Beweiskette fehlte, jetzt das Falsche tat. Ericson sagte plötzlich laut: »Wir werden abwarten« – damit wollte er nicht allein die eigenen momentanen Zweifel überwinden, sondern auch die Männer seiner Umgebung informieren. Aber die Pause der Unsicherheit währte nicht lange. Von Fähnrich Holt kam ein erstaunter Ausruf. Er sagte aufgeregt: »Pergola hat ein Signal geheißt!« Angespannt verfolgte er durch sein Glas die Korvette, die wie ein wild suchender Terrier nach Steuerbord durch die See wühlte. »Große Flagge, Sir!« Der Signalmeister rief: »Pergola hat Kontakt, Sir.« ›Da bin ich neugierig‹, dachte Ericson, ohne es auszusprechen. Pergola, jung und begeistert, war stets bereit, mit Wasserbomben anzugreifen, und wäre es gegen einen Haufen Seetang oder einen Schwarm Sardinen gegangen. Er wollte ihr nicht den Mut nehmen: Wasserbomben waren billig, Schiffe und Männer aber nicht… Jetzt hatten alle Mann auf der Brücke, außer den Ausguckposten, die unbeirrt ihren Abschnitt im Auge behielten, den Blick auf Pergola, die drei Meilen an Steuerbord schräg vom Konvoi wegsteuerte: sie schlingerte und stampfte wie betrunken und warf bei der erhöhten Geschwindigkeit große Gischtwolken über ihre Brücke. ›Äußerste Kraft voraus‹, dachte Ericson anerkennend. Ja, sie mußte auf gut Glück ein paar Bomben werfen. Und während er dies dachte und sich wünschte, mit Saltash unter irgendeinem Vorwand dasselbe tun zu können, flatterte schon eine andere Flagge an der Gaffel von Pergola, und der Signalmeister rief: »Pergola greift an, Sir!« Nun beobachteten sie noch aufmerksamer die Korvette. Ob ihr Kontakt im Horchgerät wirklich echt war? Wie schwierig es sein mußte, bei voller Fahrt in dieser gewaltig aufgerührten See die Wasserbomben wurfklar zu machen, das konnten sie sich nach eigener Erfahrung wohl vorstellen. ›Genau so hat Compass Rose es auch gemacht‹, dachte Lockhart, als Pergola ganz tückisch zur Seite wegschor und eine schwere grüne See sie von achtern überrannte: Compass Rose pflegte ganz unelegant, sozusagen auf einem Ohr und einem Bein, zum Angriff vorzustürmen, während der gute Ferraby vor der Wasserbombenreling förmlich Polka tanzte, um die Bomben wurfklar zu machen, wobei ihn ein Haufen Heizer mit Händen wie Schinken unterstützte und beißende Kommentare von der Brücke nachhalfen. Es war doch gut, der Korvetten-Klasse entwachsen zu sein… Lockhart beobachtete Pergola mit solchen Erinnerungen, Holt und die Signalgäste beobachteten sie mit dem fachmännischen Auge für Signale; unten am Plantisch beobachtete Raikes, der Navigationsoffizier, sie mit dem tastenden Lichtfinger des Radargeräts, 377
und Ericson betrachtete sie mit dem Interesse des Eigentümers. Für ihn war Pergola nichts anderes als eine Erweiterung seiner eigenen Armierung, eine Hand, mit der Saltash ausgriff, um den Feind zu finden und zu treffen. Das torpedierte Schiff war ›seins‹ gewesen, und ebenso war Pergola ›sein‹ Schiff. Wenn sie die Rechnung für das versenkte ausgleichen könnte, so wäre das gewiß nicht schlecht: es würde die Geleitsicherung rechtfertigen, und der Gedanke, versagt zu haben, der sein ermüdetes Hirn so peinigte, wäre beschwichtigt. Und er könnte wieder einmal ruhig schlafen. Pergola preschte zum Angriff vor wie ein Schnellzug, der plötzlich auf eine Berg- und Talbahn umgeleitet wird: sie sahen die Bomben der Korvette ins Meer fallen, sahen Pergola sofort hart nach Backbord abdrehen und gleich danach die gewaltigen Säulen graugrünen Wassers, das die Explosion emporwarf. Als die schäumenden Garben zusammenfielen, warteten sie wieder, ihre Gläser auf den Kampfplatz richtend, aber die Meeresfläche glättete sich harmlos – der erwartete dunkle Leib eines Unterseeboots kam nicht zum Vorschein! Pergola lief jetzt mit halber Fahrt auf die Wurfstelle zu, unsicher offenbar, wie ein kleiner Junge, der in Mutters guter Stube zuviel Spektakel gemacht hat und gern unauffällig wieder ins Kinderzimmer verschwinden möchte. Nach einer Weile stieg über ihrer Brücke eine dritte Flagge zur Gaffel. »Von Pergola, Sir«, meldete prompt der Signalmeister: »Kontakt verloren.« »Morsen Sie folgendes«, sagte Ericson: »Weitersuchen in Ihrem Sektor. Meldung über Art des ursprünglichen Kontakts.« Zwischen den beiden Schiffen blinkten die Signalscheinwerfer. »Kontakt war deutlich, sich nach links bewegend. Als U-Boot ausgemacht«, kam die Antwort von Pergola. »Was halten Sie jetzt davon?« lautete Ericsons nächstes Signal. »Glauben noch, daß es ein U-Boot war«, erwiderte Pergola standhaft. Und setzte hinzu, gleichsam mit biederem Lächeln: »Jedenfalls befand es sich da, wo U-Boote erwartet werden konnten.« ›Ja, in dem Punkt mögt ihr wohl recht haben‹, dachte Ericson. Von dieser Seite mußte der Angriff erfolgt sein, und wenn das U-Boot logischerweise versucht hatte, nach Steuerbord wegzukommen, stimmte auch der Kurs, den Pergola vorausgesetzt hatte, und das Boot mußte sich ziemlich genau an der Stelle befunden haben, wo sie ihre Wasserbomben warf. Bei dieser Annahme lohnte es sich, Pergola die Jagd fortsetzen zu lassen. ›Noch mehr als das‹, dachte er in plötzlichem Eifer, ›es lohnt sich auch, mit Saltash dabeizubleiben und die Jagd planmäßig mit zwei Schiffen weiterzumachen!‹ Gewiß war es ein Risiko, zwei Sicherungsfahrzeuge vom Geleit abzuziehen, aber sehr 378
wahrscheinlich gehörte das U-Boot nicht zu einem Rudel, denn bei solchem Wetter konnte der Geleitzug eigentlich nur durch Zufall entdeckt worden sein, und nur aus unmittelbarer Nähe, so daß kaum Zeit gewesen wäre, noch andere U-Boote zu einem Massenangriff heranzuholen. Also handelte es sich um einen Einzelgänger, einen einsamen Wolf, der seine Fänge nur schnell in eine Beute schlug, um wieder in den schützenden Wald zurückzuschleichen. Einsame Raubtiere dieser Sorte verdienten besondere Aufmerksamkeit und spezielle Behandlung. Ja, er wollte das Risiko eingehen… Sofort war in seinen Überlegungen der Plan für die Jagd klar, als habe er trotz aller Ermüdung in seinem Gehirn nur auf einen Knopf zu drücken brauchen mit der Aufschrift ›Zwei Geleitfahrzeuge zur Einzeljagd abteilen‹, um sogleich einen fertigen Operationsplan zur Verfügung zu haben. Die erforderlichen Anweisungen diktierte er so rasch und glatt hintereinander, daß alle drei Signalgasten voll beschäftigt waren: Meldungen an die Admiralität und den Kommodore über den erfolgten U-Boots-Angriff, geplante Maßnahmen, Abgabe des zeitweiligen Befehls über die Gruppe an den Kommandanten von Harmer, Befehl an Pergola, die Suche fortzusetzen, bis Saltash zur Unterstützung kommen konnte; Befehle an Rose Arbour, die Geleitposition von Pergola zu übernehmen, Befehl an Streamer, den sinkenden Dampfer durch Geschützfeuer auf Grund zu schicken und sofort wieder aufzuschließen, und Befehle an die übrigen Sicherungsfahrzeuge, ihre Positionen gemäß dem neuen Marschplan einzunehmen. Er ließ Lockhart und Johnson, seinen Ingenieur, auf die Brücke kommen und erklärte ihnen sein Vorhaben; er besprach ausführlich mit Raikes am Planungstisch gewisse technische Einzelheiten. Dann legte er Saltash in einem weiten Bogen nach Steuerbord auf Kurs in Richtung Pergola, während er an die Korvette einen langen Winkspruch gehen ließ, der mit den Worten begann: »Wir werden unsere Suche auf die zwei folgenden Möglichkeiten einstellen…» Lockhart hatte seinen Kommandanten nie so bewundert wie in den nächsten zwölf Stunden, in denen er erkannte, daß der Krieg letzten Endes, trotz aller neuen Technik und Wissenschaft, doch von Männern geführt wurde… Er wußte, daß Ericson schon vor dieser neuen Krise zum Umfallen müde gewesen sein mußte: hätten ihm das nicht schon die überaus harte Reise auf der Nordroute nach Murmansk und die letzten fünf Tage verheerenden Wetters bewiesen, so redeten Ericsons aschgraues Gesicht mit den tief eingegrabenen Falten und seine vorgebeugten Schultern eine deutliche Sprache. Und doch entdeckte Lockhart in allen seinen Handlungen, jetzt wie später bei der langen, schwierigen und zähen Jagd auf das U-Boot, an ihm keine Spur von Schwäche oder den Wunsch, es sich leichter zu machen: Ericson paßte sich ganz der Lage an und vermochte sich so stark zu konzentrieren, als sei er 379
frisch aus einem sechswöchigen Urlaub gekommen. Und der Endeffekt war entsprechend: nicht nur bewies er als Kommandant eine ungewöhnliche physische Kraft, sondern mit der Aufspürung des U-Bootes auch taktisches Genie. ›Er muß ganz sicher sein, daß ein U-Boot da ist‹, dachte Lockhart, ›und daß Pergola – die draufgängerische Pergola – wirklich diesmal eine richtige Spur gefunden und das U-Boot wahrscheinlich beschädigt hat.‹ So hatte Ericson sicherlich seine große Erschöpfung niedergezwungen durch die Oberzeugung, einer Beute dicht auf den Fersen zu sein. Denn er durfte es nicht dabei bewenden lassen, zur Kenntnis zu nehmen, daß ein Schiff versenkt war und Menschen ums Leben kamen, – das geschah auf dem Atlantik alltäglich, und das erste starke Verlangen nach Rache am Feind pflegte bald abzuebben – nein, bei Ericson entschied hier die berufliche Moral, die zur Triebfeder verstärkter und langdauernder Willensanstrengung wurde: das Pflichtbewußtsein, daß der führende Offizier einer Geleitgruppe in erster Linie dazu da war, U-Boote zur Strecke zu bringen, und daher keins, das in seinen Bereich kam, entkommen lassen dürfe. Und Ericson klammerte sich wirklich so energisch an diese Beute – oder zumindest an die Hoffnung, daß ein Gegner da war – als sei es für ihn, und nur für ihn eine Schande, wenn er die Gelegenheit, einen Feind zu erledigen, vorbeigehen ließ… Es war sechs Uhr abends, als Saltash und Pergola sich wieder trennten, um einzeln nach bestimmtem Plan vorzugehen, und es wurde Mitternacht, bis sie den Lohn für ihre Mühen finden sollten. Ericson hatte zunächst am Planungstisch mit Raikes die drei Möglichkeiten besprochen, die ihm vorschwebten. Erstens: daß das U-Boot, falls es durch den Angriff von Pergola leicht beschädigt war, auf Tiefe gegangen sein und stilliegen würde, in der Erwartung, die jagenden Gegner dadurch täuschen zu können und inzwischen die Schäden auszubessern. Zweitens: war es schwer beschädigt, dann mußte es, so schnell es noch konnte, dem nächsten eigenen Stützpunkt zustreben. Und schließlich: es konnte unbeschädigt entkommen oder gar nicht an der Stelle gewesen sein, wo Pergola angriff. In diesem Fall würde es sich wahrscheinlich, zunächst abgeschreckt, für eine Verfolgung des Konvois in sicherem Abstand entscheiden, um erst im Laufe der Nacht zum zweiten Schlage auszuholen. Zwischen diesen drei Möglichkeiten lagen noch Varianten, aber im großen ganzen war das die Situation, wie Ericson sie sehen mußte, als er das Rätselraten begann, aus dem er, um zum Erfolg zu kommen, seine taktischen Folgerungen sehr sorgsam und schnell entschlossen zu ziehen hatte. Die dritte Möglichkeit – daß das U-Boot dem Konvoi nachfolgen werde – schied für Saltash jetzt natürlich aus: machte es einen neuen Angriffsversuch, 380
so mußten Harmer und die andern Geleitfahrzeuge sehen, wie sie mit dem Gegner fertig wurden. Also blieben noch zwei Möglichkeiten: das Boot lauerte untätig in großer Tiefe oder kroch mühsam nach Hause. Lauerte es am Ort, so konnten die jagenden Schiffe nur dann etwas erreichen, wenn sie lange und geduldig warteten, unter Umständen sogar vierundzwanzig Stunden langsam das verdächtige Gebiet umkreisten und dabei ohne Unterlaß schärfstens aufpaßten, daß der Gegner nicht ausbrach. Falls sich dagegen das U-Boot bereits auf dem Heimweg befand, konnte es in drei Richtungen laufen: entweder ostwärts nach Norwegen oder südostwärts nach einem deutschen Hafen oder südwärts nach einem Stützpunkt in der Biskaya. In jedem der drei Fälle hätte sofort eine Jagd einsetzen müssen, die sich rapide über so weite Flächen ausdehnte, daß sehr bald die Aussicht, das U-Boot zu fassen, nur noch mit der berühmten Stecknadel im Heuhaufen verglichen werden konnte. Ericson entschied sich für das geduldige Warten, genau an der Stelle, wo nach seiner Schätzung das U-Boot sein mußte. Versuchte der Feind zu entwischen, so besaß Saltash in den verbesserten Horch- und Radar-Geräten die geeigneten Mittel, ihn noch zu packen. War das U-Boot auf dem Rückweg, so bot die Verfolgung, da der Kreis immer weiter gezogen werden mußte, nur geringe Aussichten. Während Ericson diese Aufgabe jetzt Pergola übertrug, war ihm das Bewußtsein, daß er dem jüngeren Schiff damit nur eine schwache Chance gab, sich auszuzeichnen, gar nicht behaglich. Und der kampffrohe Kommandant von Pergola mußte wohl ähnlich gedacht haben, denn er gab im Abdampfen noch den Winkspruch: »Vergessen Sie nicht, daß ich den Vogel zuerst auf getan hatte.« Ericson überlegte kurz, ob er antworten sollte ›Wir werden uns die Orden teilen‹ oder ›Beschränken Sie Ihren Signalverkehr auf das Notwendigste‹, ließ aber gar nichts erwidern. Denn was er eigentlich Pergola am liebsten gesagt hätte, als sie davonzog und die Dunkelheit sich zwischen die beiden Schiffe schob, nämlich: daß er ihr aufrichtig viel Glück wünsche – dergleichen pflegte man nicht in dienstlichen Signalen zu äußern. Die nächsten sechs Stunden brachten an Bord der Saltash niemand in die geringste Spannung, denn sie verliefen in einer stumpfen Monotonie, die, für übermüdete Menschen die schwerste Geduldsprobe, ihre Energie immer mehr einschläferte. Ericson blieb die ganze Zeit auf der Brücke: er saß gebeugt, aber hell wach, auf seinem Decksstuhl, während Saltash das verdächtige Gebiet in halber Fahrt durchquerte. Stunde um Stunde zeigte das Asdic-Gerät keinerlei Kontakt an, und auf dem Radarschirm erschien nichts weiter als der schwächer werdende Lichtfleck, der Pergola darstellte, die ihre Suchkurven immer weiter nach Südosten ausdehnte. Ericson aß um acht Uhr eine Klei381
nigkeit und bekam jede Stunde einen Becher Kakao auf die Brücke. Der Mond brach durch und verschwand bald wieder, der Wind flaute ab, die See glättete sich. Es war kalt, die Kälte ergriff nicht nur den Körper, sondern auch den Geist, so daß es immer schwieriger wurde, wachzubleiben und an den Sinn des ganzen Unternehmens zu glauben. Bisweilen schweiften seine Gedanken so weit ab, daß er es fast wie eine körperliche Anstrengung empfand, sie wieder zu konzentrieren: als werde in seinem Hirn ein Nervenstrang grausam in die Länge gezerrt. ›Ich bin sehr müde‹, dachte er, ›ich spüre diese Ermüdung in den Beinen, im Rücken, und auch an meinem Herzen merke ich sie, und in meinem Kopf fängt wieder alles an sich zu drehen. Diese Suche kann noch stundenlang, sie kann Ewigkeiten dauern. Wahrscheinlich tun wir das Falsche, haben sicher alles falsch beurteilt, von Anfang an: wahrscheinlich trieb sich doch diese ganze Zeit ein Rudel von sechs oder acht U-Booten hier herum, und die bereiten sich jetzt vor, über den Geleitzug herzufallen, während wir fünfzig Meilen hinter ihm sinnlos umherturnen. Ich habe den Geleitschutz in diesem kritischen Zeitpunkt geschwächt, habe von acht Schiffen zwei weggenommen, ein ganzes Viertel, habe unverzeihlich dumm und übereilt gehandelt. Ich bin reif fürs Kriegsgericht…‹ Das Horchgerät surrte ununterbrochen wie ein lästiges Insekt, aus dem Sprachrohr traf das pausenlose Ticken des Motors am Plantisch in sein Ohr wie ein teuflischer Taktmesser, der ihn ständig erinnern wollte, daß alles, was er tat, verkehrt sei. Die Stunden krochen dahin, und die viertelstündlich erfolgende Kursänderung schien eine nutzlose Abwechslung in einem schon längst nutzlosen Plan. Ab und an sprach er mit Raikes, dem Navigationsoffizier, der die erste Wache ging, und Raikes antwortete ihm gemächlich, ohne sich von seinem Platz vorn an der Brückenkante herumzudrehen. In diesen Gesprächen kam nichts von dem vor, was Ericson in Wirklichkeit sagen oder hören wollte: sie brachten nur Bemerkungen über das Wetter oder eine Frage nach der gelaufenen Distanz, neutrale Worte zu allerlei neutralen Themen, wie sie ihnen gerade einfielen. Zu seinem eigenen Trost, zur Stillung seines Gedankenhungers, hätte er fragen mögen: ›Glauben Sie, daß wir das Richtige tun, oder vergeuden wir unsere Zeit hier? Ist überhaupt ein U-Boot in der Nähe oder habe ich durch die Schwächung des Geleitschutzes um ein Viertel einen tödlichen Fehler begangen?‹ Aber keine dieser Fragen durfte ein Kommandant an Untergebene stellen, und so blieben sie ungefragt, gefangen in seinem Gehirn, während Saltash jede Stunde einmal dasselbe Quadrat des Ozeans umfuhr, Pergola allmählich ganz aus der Reichweite kam und die schwarze leere See, sogar vom Mondschein verlassen, Saltash nur kalt und höhnisch anzischte. 382
Aber der Wachwechsel um Mitternacht bedeutete auch den Wechsel ihres Kriegsglücks: kaum hatten Allingham und Vincent die Wache von Raikes übernommen, – Raikes war sogar noch dabei, seine dürftigen Eintragungen in die Logkladde zu machen – da wurde die eintönige Nacht plötzlich unterbrochen und die Denkkraft der Männer wieder aufgefrischt. Im Lautsprecher des Horchgeräts, der, auf der Brücke deutlich zu hören, sechs Stunden lang nur immer den gleichen verwünschten Ton von sich gegeben hatte, war jetzt eine verblüffende Variante zu vernehmen: ein festes Echo, ein Kontakt mit Eisen in einer reinen Wasserwüste! Ericson zuckte zusammen, als er das hörte, und alle, die es vernahmen, mit ihm: auf der Brücke wurde es lebendig, als sei die Finsternis plötzlich von einer elektrisierenden Spannung erfüllt, die jeden sofort traf. »Sir!« rief Allingham als erster. »Brücke!« rief der Mann am Horchgerät. »Captain, Sir!« der Signalmeister. »All right«, sagte Ericson und ließ sich von seinem Stuhl gleiten, »ich hab’s gehört… ein willkommenes Geräusch! Halten Sie es fest… Alle Mann auf Gefechtsstationen! – Signalmeister!« »Sir?« »Geben Sie an Pergola: ›Mit äußerster Kraft sofort zu mir zurücklaufen.‹« ›Das ordne ich aufs Geratewohl an‹, dachte er, während er den Befehl aussprach – aber das Echo, laut und klar, bekräftigte seinen Glauben, daß in dieses Gebiet, auf dieses kahle Stück Ozean jetzt alle zur Jagd verfügbaren Kräfte gehörten. So klangen nur U-Boote, nur U-Boote gaben im Asdic dieses schöne metallische Klingen. Und dieses U-Boot, das ein einziges Mal zugeschlagen und sich dann so lange ins Versteck gelegt hatte, mußte jetzt endlich in die Enge getrieben werden. Pergola würde über zwei Stunden brauchen, um bis hierher zurückzulaufen, selbst bei ›äußerster Kraft‹, – der höchsten Fahrtstufe der Marine – aber Pergola hatte verdient, bei dieser Versenkung zugegen zu sein, und konnte sich auch noch nützlich machen, falls das U-Boot auszubrechen versuchte… Das Echo im Horchgerät wurde schärfer. Lockhart, der jetzt beim Gerät stand, meldete: »Ziel bewegt sich langsam nach rechts.« Vincent meldete vom Achterschiff die Wasserbomben wurfklar, Saltash fing bei gesteigerter Fahrt an zu beben und kam rasch in Angriffsposition. Aber es sollte kein schneller ›Kill‹ werden, vielleicht sollte es überhaupt keiner werden. In der folgenden Stunde warf Saltash nicht weniger als achtundvierzig Wasserbomben, offensichtlich ohne die geringste Wirkung: das Echo blieb gleichmäßig wie es war, das U-Boot drehte und wendete sich und machte volle Kehrtwendungen, es schien immer noch neue Tricks zu wissen. Keiner der Angriffe, so 383
sorgfältig sie überlegt waren, schien zielsicher genug zu sein, um diesen Feind zur Strecke zu bringen: ihre Wasserbomben schienen wirkungslos wie ins Feuer geworfene Schneebälle oder Wattekugeln in einem Kindergarten. Wieder und wieder stieß Saltash zum Angriff vor: die Wasserbomben klatschten ins Meer, dessen Fläche wild hinter ihr brodelte, aber sobald sie gedreht hatten, in einem engen Kreis, traf ihr Scheinwerfer nur wieder auf die kahle See. Und sogleich war der Kontakt von neuem im Gerät, stark wie zuvor, ohne Unterbrechung, aber nie endgültig zu fassen und allem Anschein nach völlig unbeeinträchtigt durch die Wut der schnellen Angriffe. ›Achtundsechzig Wasserbomben‹, dachte Ericson müde, ›und die meisten davon in großer Nähe, – die Männer in dem U-Boot müssen Furchtbares durchmachen – aber warum geschieht nichts, weshalb bleibt hier alles ohne Wirkung…?‹ Er ließ das Schiff zu erneutem Angriff ansetzen, dem Kontakt nachgehend, der noch immer so fest war, doch dann hob er plötzlich den Kopf und schnupperte. »I.W.O.!« rief er. »Sir?« kam es von Lockhart. »Riechen Sie nichts?« Nach einem Augenblick: »Yes, Sir – Öl.« Öl. – Dieser verhaßte Geruch, der ihnen immer nur sinkende Schiffe angekündigt hatte, konnte jetzt ein sinkendes U-Boot bedeuten… Ericson ging in die Brückennock und schnupperte angestrengt: dick und stark drang ihm der Ölgeruch in die Nase. Wenn nicht alles täuschte, so hieß das: sie hatten das U-Boot beschädigt, zumindest ihm ein Schott eingedrückt, so daß es leck war. Und es konnte bedeuten: das Boot ist erledigt. Er ließ den Scheinwerfer rechts voraus richten, und da, an der Stelle wo sie ihre letzten Bomben geworfen hatten, sahen sie sofort die verölte Fläche, sie glitzerte fahl und reflektierte das starke Licht. Und sie breitete sich aus, das war ermutigend! Während sie den Ölfleck überquerten, warfen sie noch einen Satz Bomben, und dann, als sie abermals wendeten, blieb das Echo im Asdic aus, und Lockhart meldete: »Kontakt verloren!« Das Schweigen, das auf der Brücke eintrat, hätte man deuten können als stummen Glückwunsch zu einem Erfolg, aber Ericson hatte dieses Gefühl nicht. Wie gern hätte er ganz an diesen Ölfleck geglaubt und wie alle andern die Überzeugung gehabt, daß das Verschwinden des Kontakts nur ein Zeichen für ein unter dem toten Winkel des Horchgeräts sinkendes U-Boot sein konnte! Aber er mußte plötzlich erkennen, daß er daran nicht glauben konnte, Öl, das besagte noch längst nicht genug: er wollte Wrackteile und Holzstücke sehen, eine Detonation unter Wasser hören, Stücke von Menschen geräuschlos aufschwimmen sehen, Öl konnte auch von einem nur kleinen Leck stam384
men, Öl konnte sogar nur ein Trick sein: absichtlich konnte das U-Boot etwas Öl ausgespritzt haben und dann fortgeschlichen sein, indem es die schwachköpfigen englischen Seeleute zurückließ, damit sie ihre Versenkung mit schwachem englischen Bier feiern konnten. Nein: Öl konnte den Menschen zum besten halten, genau wie der Alkohol… ›Das Boot ist wieder auf Tiefe gegangen‹, sagte er sich, auf einmal gegen jegliche Logik davon überzeugt. ›Beschädigt mag es sein, aber wir haben es nicht zerstören können. Es wird warten und wird wieder hochkommen. Aber auch wir werden warten‹, sagte er grimmig zu sich mit neuer Entschlußkraft, die aus dem äußersten Winkel seines gequälten Hirns kommen mußte. Und laut rief er Lockhart zu: »Suchverfahren neu beginnen. Ich will die Angriffe fortsetzen.« Bei seinen überreizten Nerven schien es ihm, als hätten auf der Brücke alle Mann, als hätte das ganze übermüdete Schiff hörbar geseufzt bei diesem Befehl. »Mir ist es egal, wie elend ihr seid«, sagte er, beinah laut, in jähem Zorn. »Wenn ich der letzte Mann auf meinem Schiff sein sollte, der sich noch wach hält, wenn ich der letzte bin, der am Leben bleibt – ich werde das Schiff, und euch, und mich selbst so lange treiben, wie es mir paßt…« Aber keiner hatte geseufzt, und keiner hatte gesprochen außer Lockhart, der den Befehl »Suchverfahren neu beginnen« an den Mann am Asdic weitergab. Und Saltash begann abermals, in gleichmäßiger halber Fahrt, ihre endlos erscheinende Suche, als hätten die letzten sechs Stunden gar nicht gezählt und es werde erst frisch angefangen. Lächerlich und ärgerlich war, daß es gar keinen Ansatzpunkt gab: zum zweiten Mal war das U-Boot mit seinem Leck oder mit einem Öltrick, mit seiner schwer erschütterten oder frohlockenden Besatzung, mit oder ohne die undefinierbare Beschädigung verschwunden. Wenn Ericson sich das nüchtern überlegte, schien es ihm unglaubhaft. Sobald er länger darüber nachdachte, verdrängte gleich eine blinde Wut seine sachlichen Gedanken. Als Lockhart meldete »Kontakt verloren«, hatte er geglaubt, das Echo sei nur ausgefallen infolge der Erschütterung der See durch die Explosionen und das U-Boot würde in Minuten wieder als Kontakt erscheinen, wie bisher jedesmal. Als aber die Minuten vergingen, fünf Minuten, und zehn, und schließlich zwanzig, ohne die Spur eines Kontakts im Gerät, mußte er sich darauf gefaßt machen, daß sie das Boot ganz verfehlt haben konnten. Und das nach siebenstündigen Versuchen, nach fast achtzig Wasserbomben, nach dieser enormen und langen Anspannung, die die letzten Reserven seiner Ausdauer verbrauchte…! Er stand hinter den beiden Bedienungsleuten am Horchgerät, und als er so auf ihre stumpfsinnigen Hinterköpfe blickte, hätte er am liebsten einen Revolver aus dem Waffenständer gerissen und ihnen beiden eine Kugel in die Schädel gejagt! – Ihm konnte so etwas nicht passieren, – das U-Boot war 385
dagewesen – sie hatten es doch fast greifen können! Und nun hatten Lockhart und diese zwei verdammten Idioten hier mit ihrem verfluchten Gerät es wieder entschlüpfen lassen –! Als Lockhart jetzt meldete, zum zehnten Mal: »Kein Kontakt«, und hinzufügte: »Es ist möglich, daß wir das Boot versenkt haben, nicht wahr, Sir?« – da antwortete er in einem Anflug von Wut: »Wenn Sie doch, zum Henker, sich um Ihren eigenen Kram kümmern und nur Ihre Sache machen wollten!« Und hatte den Horchraum verlassen, als sei die Luft darin so verpestet, daß er es nicht aushaken konnte. Aber sofort dachte er: ›Das hätte ich nicht sagen sollen‹. Er lehnte sich an die Brückenreling. ›Das kommt nur von meiner Übermüdung, und davon, daß ich das U-Boot verloren habe, nachdem wir es so greifbar nah hatten…‹ Er drehte sich um: »I.W.O.!« Lockhart kam aus dem Horchraum und ging im Dunkeln auf ihn zu. »Sir?« fragte er in seinem kühlsten dienstlichen Ton. »Ich bedaure meine letzten Worte«, knurrte Ericson. »Vergessen Sie das.« »Ist schon gut, Sir«, sagte Lockhart, der einer Entschuldigung schwer widerstehen konnte, schon gar nicht, wenn sie so schnell erfolgte. »Ich glaube nicht, daß wir das Boot versenkt haben«, fuhr Ericson fort. »Nicht genügend Beweise.« »No, Sir«, antwortete Lockhart. Er hatte eine andere Ansicht, aber die durfte er gerade jetzt nicht äußern. »Ich will die Suche in dem Quadrat wieder aufnehmen. Alles bleibt auf Gefechtsstationen.« »Aye, aye, Sir.« ›Nicht Gefechtsstationen, sondern Schlaf‹, dachte Lockhart, indem er wieder ans Gerät ging. ›Das ist es, was ich brauche, und was er braucht, und wir alle. Und keiner von uns soll Schlaf bekommen, bloß weil dieser hartnäckige alte Kerl sich nicht belehren lassen will…‹ Er war fest überzeugt, genau wie sein Mechanikersmaat am Asdic, daß das U-Boot durch die Massenwirkung von siebzig bis achtzig in seiner Nähe detonierenden Wasserbomben zerstört, zermalmt und in Stücke zerschlagen sein mußte. Vermutlich war es einfach zusammengedrückt und sank langsam auf Grund, wobei die Ölspur nach oben trieb, deren Anblick den Kommandanten zuerst so erfreut hatte. Aber nachher schien ja schon der leiseste Hinweis darauf ihn in Wut zu versetzen. Also lieber ohne Kritik weitermachen. Er schloß die Tür zur Brücke und sagte in gleichgültiger Ruhe: »Normales Suchverfahren. Wir suchen wieder nach Planquadrat.« Der Mechanikersmaat am Gerät wiederholte: »Normales Suchverfahren, Sir.« Dann zog er, als unmißverständlichen Vorwurf, laut die Luft durch die Zähne. 386
»Unterlassen Sie gefälligst dieses ekelhafte Geräusch!« rief Lockhart scharf. – ›Gar nichts zu sagen wäre ebenso gut gewesen‹, dachte er.– »Habe ‘n hohlen Zahn, Sir«, erwiderte der Mann empört. »Bedienen Sie Ihr Gerät weiter.« Der Mann, der jetzt hörbar atmete, beugte sich tiefer über sein Gerät und regulierte irgend etwas, wobei er möglichst viel Lärm machte. ›Jeder hat jetzt schlechte Laune‹, dachte Lockhart, ›das steckt an und ist ja auch kein Wunder bei dieser Übermüdung‹. Er mußte lächeln, als er den Mann am Gerät betrachtete, mit dem er sonst so gut auskam, denn er konnte sich recht genau vorstellen, was dem jetzt durch den Kopf ging. – ›Dauernd wird man hier angeschnauzt! Der Alte hat ihm ‘ne Zigarre verpaßt und jetzt läßt er das an uns aus. Diese verdammten Offiziere. Wenn bloß erst meine zwölf Jahre ‘rum sind!‹ – In einem Ton, der freundlich genug war, um die Dinge wieder ins richtige Gleis zu bringen, aber ohne sich etwas zu vergeben, sagte Lockhart: »Wir wollen uns lieber nochmal frischen Kakao kommen lassen, die Geschichte wird noch eine ganze Weile dauern.« Sie dauerte wirklich noch eine ganze Weile. Und als die Stunden ohne jedes Ergebnis verstrichen, schien es bald, als solle diese zwecklose Jagd bis in alle Ewigkeit weitergehen, oder doch bis, ganz unabhängig von den Anstrengungen der einzelnen Parteien, der Krieg zu Ende war und der eine Teil zum Sieger, der andere zum Verlierer erklärt wurde, und Saltash, durch eine Postkarte davon unterrichtet, gerade noch rechtzeitig Kurs auf die Heimat nehmen konnte, bevor ihr Anspruch auf eine Altersrente erlosch… Pergola stieß um drei Uhr früh wieder zu ihnen: sie kam auf in einem Tempo, als wolle sie die vergeudeten Stunden wieder einholen. Ihr Erscheinen ermöglichte Ericson, sein Suchgebiet zu erweitern und sozusagen auch die Hintertür bewachen zu lassen, aber Pergola gelang es ebensowenig wie Saltash, die verlorene Fährte wiederzufinden. Um vier Uhr wechselte die Wache, der im Osten aufhellende Himmel beleuchtete eine See, die so grau und flach und unscheinbar aussah wie ein verwaschenes Aquarell. Ferner ließ das matte Morgenlicht auf diesem Meer die zwei Schiffe erkennen, die, fünf Meilen voneinander entfernt, dem Anschein nach sehr sorgfältig etwas ganz Bestimmtes suchten, tatsächlich aber wie zwei kurzsichtige alte Weiber wirkten, die in Abfalltonnen wühlen, ohne zu merken, daß diese schon vor Stunden geleert worden sind. Ericson wurde, als der Morgen dämmerte und ihm die Umrisse seines Schiffes und die fahlen Gesichter der Männer auf der Brücke zeigte, von trostlosen Zweifeln überfallen. Handelte er nicht falsch? Verschwendete er hier nicht nur die Zeit? Zweierlei Vorstellungen begannen ihn unwiderstehlich zu bedrängen: das U-Boot konnte viele Meilen von ihnen entfernt sein, 387
oder aber: sie hatten es bereits bei ihrem ersten Angriff vernichtet. Jetzt, in der Stunde zwischen Nacht und Tag, nachdem Saltash ununterbrochen elf Stunden lang gejagt hatte und er selbst die ganze Zeit ohne Pause auf der Brücke gewesen war, bedrängte ihn das Gefühl, völlig sinnlos zu handeln, so stark wie noch nie: er kam in Versuchung, die Sache aufzugeben, den Ölfleck als vollen Beweis gelten zu lassen und damit einen Erfolg zu beanspruchen, den ihm niemand ernstlich abstreiten würde. Diese Gedanken arbeiteten in ihm, sie wurden so lästig wie eine Katze, die endlos vor einer geschlossenen Tür miaut – vor seiner Tür, die er früher oder später öffnen mußte. Dann mußte ja dieses Geräusch aufhören. Und dann kam auch, um ihn endlich zu befreien, die Aussicht auf Schlaf…. Er merkte, daß alle die Männer um ihn schon lange nur noch an dies eine dachten und daß Lockhart von der Vernichtung des U-Boots überzeugt und die überanstrengte Bedienung am Horchgerät aus demselben Grunde so mürrisch war. Der Kommandant von Pergola mußte sich beim Lesen des Berichts, den er hinübergegeben hatte, um ihn gleich bei der Ankunft über alles ins Bild zu setzen, sehr gewundert haben, warum in aller Welt sie die Suche nicht aufgegeben hatten, schon vor Stunden wieder zum Geleit gelaufen waren und der Admiralität eine einwandfreie Versenkung meldeten. Die Zweifel und die Ungewißheit machten ihn noch müder und erschöpfter: als er jetzt zusammengesunken auf seinem Decksstuhl saß und nichts die Eintönigkeit unterbrach, kein Schimmer eines Erfolges ihm neuen Auftrieb gab, da bekam er panische Angst, plötzlich einzuschlafen. Er fühlte sein Gehirn und den Körper durch die Geräusche ringsum in wohltuenden Halbschlaf versinken – das Surren des Horchgeräts, das stetige Zischen des durchs Wasser schneidenden Stevens, das Deckwaschen der Mannschaft, ja sogar die Bewegungen der halbstündigen Ablösung der Ausguckposten und Rudergänger, all das verband sich zu einem einschläfernden Geräusch. Dem Schlaf zu widerstehen, bereitete ihm starke Schmerzen – ihm nicht zu widerstehen, machte ihn, da böse Vorahnungen ihn bedrängten, ganz krank. Er fühlte, daß er weinen mußte, wenn er weiter wach blieb; schlief er ein, dann fiel er sicher vom Stuhl, und dann mußten alle denken, er könnte nicht mehr, und das stimmte dann auch… Lockhart, der jetzt seine Wache hatte, kam aus dem Horchraum, wohl zum zwanzigsten Mal, und sagte: »Kein Kontakt im Gerät, Sir.« Ericson gingen gegen seinen Willen die Nerven durch: »Wozu sagen Sie mir das?« Lockhart blickte ihn verdutzt an: »Kein besonderer Grund, Sir: nur routinemäßige Meldung. Wir sind wieder mit einer Suchkurve fertig.« »Was meinen Sie mit wieder einer?« 388
Lockhart schluckte, wie er in den letzten zwölf Stunden schon oft hatte tun müssen. »Ich dachte, Sie hatten gesagt, Sir. –« »Herr des Himmels, I.W.O.« begann Ericson, hielt aber gleich inne. Sein Herz schlug hart, sein Gehirn kam ihm vor wie ein Käfig, in dem ein kleiner Vogel hin und her flatterte. Er dachte: ›So geht es wirklich nicht, dabei gerate ich aus den Fugen. Noch eine Minute, dann werde ich einen über den Haufen knallen…‹ Er stand auf und reckte die Schultern, so daß der Schmerz, den er quer über den Rücken fühlte, erst schlimmer wurde und dann nachließ. Es wurde ihm dabei schwindlig im Kopf, aber er wußte jetzt, was er zu tun hatte. Zwei Minuten später stand er in seiner Kajüte vor dem Schiffsarzt. ScottBrown, der von einem verstörten Läufer mit dringendem Auftrag aus dem Schlaf gerissen worden war, trug nur seine Schlafanzughose und eine aufgeblasene Schwimmweste, aber auch in dieser Verfassung behielt er ganz und gar die Miene des erfahrenen, verläßlichen Arztes aus der Harley Street. Er betrachtete den Kommandanten nur flüchtig und sagte dann in vorwurfsvollem Ton, den Ericson ihm nicht übelnahm: »Wird Zeit, daß Sie sich schlafenlegen, Sir.« »Das weiß ich, Doktor. Aber ich kann’s jetzt nicht.« »Wie lange sind Sie denn auf der Brücke gewesen?« »Seit der Versenkung des Dampfers.« »Das ist zu lange.« »Ich weiß«, wiederholte Ericson, »aber ich muß noch oben bleiben: Haben Sie nichts zum Aufpulvern für mich?« Scott-Brown runzelte die Stirn. »Ist das notwendig? Und warum diese ganze Aufregung?« Ericson brauste auf: »Herr Gott! Fangen Sie auch noch an –?« Sein Herz schlug wieder heftig, er setzte sich rasch hin. »Hier ist ein U-Boot im Gebiet«, sagte er dann ruhig und zwang sich, jede Anstrengung und Erregung zu vermeiden. »Ich weiß verflucht genau, daß es da ist, und ich werde es kriegen. Ich möchte ein Mittel haben, das mich so lange wach hält.« »Für wie lange?« »Eine ganze Nacht vielleicht noch. – Können Sie das?« »Oh, ja, das kann ich ohne weiteres. Es kommt nur darauf an, daß. –« Ericsons Nerven drohten schon wieder zu zerreißen. »Na also, dann machen Sie’s doch«, unterbrach er den Arzt grob. »Was ist dazu nötig? Eine Einspritzung?« Scott-Brown lächelte, da er recht gut wußte, wann die ärztliche Klugheit sich der Disziplin unterordnen mußte. »Nur ein paar Tabletten«, sagte er. »Benzedrin. Danach werden Sie sich fühlen wie ein Lämmchen im Frühling.« 389
»Und wie lange wirken die?« »Wir wollen es zunächst mal für vierundzwanzig Stunden machen.« Wieder lächelte der Arzt, als er sich zur Tür wandte. »Wenn die herum sind, gehen Sie aus wie eine Kerze und wachen später mit einem schweren Kater auf.« »Ist das alles?« »Wahrscheinlich. Wie alt sind Sie, Sir?« »Achtundvierzig.« Scott-Brown zog die Nase kraus. »Mit Benzedrin ist nämlich nicht zu spaßen.« »Es soll ja auch nicht zur Gewohnheit werden«, sagte Ericson mißmutig, »aber dies ist ein besonderer Fall.« Nach zwei Minuten kam Scott-Brown wieder mit zwei grauen Tabletten und einem Glas Wasser. Ericson hatte kaum die erste geschluckt und die zweite noch auf der Zunge, da rasselte die Glocke am Kopfende seiner Koje. Er beugte sich, noch an der Tablette schluckend, über das Sprachrohr und rief: »Kommandant!« »Brücke, Sir!« hörte er Lockharts Stimme, sich überschlagend vor Erregung. »Pergola hat einen Kontakt.« Er hätte fast geantwortet »Habe ich’s Ihnen nicht gleich gesagt?« oder gebrüllt »Ihr seid ja alle verrückt« – da fiel sein Blick auf Scott-Brown, der ihn belustigt ansah. Und er sagte: »Schönen Dank, Doktor« und ging sofort zur Tür. Hinter ihm sagte der Arzt: »Theoretisch müßten Sie erst zehn Minuten liegen und –«, aber Ericson hörte diese gemessene Stimme schon nicht mehr, als er um die Ecke in den Gang bog und die Treppe hinaufrannte. War es nun das Benzedrin oder das Gefühl der in letzter Minute gelösten Spannung oder Pergolas tüchtige Leistung, oder war es die ermunternde Wirkung des vollen Tageslichts, das jetzt herrschte – er fühlte sich, als er wieder auf der Brücke stand und Umschau hielt, wie ein König. Ja, jetzt war alles völlig anders… Fünf Meilen von Saltash auf glatter See drehte Pergola gerade mit harter Ruderlage und äußerster Kraft: das Wasser schäumte an ihrem Bug empor, als sie, in schrägem Winkel auf Saltash zu, zum Angriff vorbrauste. Sie hatte zwei Flaggen gesetzt: »Ich habe einen Unterwasserkontakt« und »Ich greife an.« Sie sah ganz so aus, wie eine Korvette nach langer schwerer Nacht im Licht des Morgens aussehen mußte… Ericson rief Lockhart im Horchraum zu: »Haben Sie was drin?« Eine kurze Pause, dann antwortete Lockhart: »Kontakt! Steuerbord voraus, peilt eins – neun – null.« Und aus dem Lautsprecher vom Asdic klang sin390
gend ein lautes, klares Echo, das nichts anderes sein konnte als das jetzt von Pergola angegriffene U-Boot. Die Wasserbomben der Korvette detonierten eine halbe Meile vor Saltash, und Saltash, die jetzt in rechtem Winkel auf die Wurfstelle zustürmte, warf die ihren knapp zwanzig Meter von dem verfärbten, noch schäumenden Fleck. Dann drehten beide Schiffe gleichzeitig und strebten dieser entscheidenden Stelle entgegen, bereit zu weiteren Würfen, aber diesmal war es nicht mehr nötig: eine jähe, dumpfe Explosion, im ganzen Schiff hörbar, dröhnte unter Wasser, eine große Blase öligen Wassers platzte mitten aus der brodelnden Fläche, und ihr folgten andere Dinge – Holzteile, Kleidungsstücke und gewisse Stücke und Fetzen, die später noch genau untersucht werden mußten… Ericson befahl »Maschinen stop –«, und Saltash kam zum Stillstand, umgeben von einem Kranz blutiger Wrackstücke. Die Besatzung drängte sich an der Reling, die seltsamen Überbleibsel im Wasser vermehrten sich und schwammen auseinander, während schon eine Arbeitsgruppe vom Achterdeck aus mit Eimern und Bootshaken allerlei Teile aufzufischen begann. Denn dies war ein Sieg, der durch Trophäen bestätigt werden mußte… ›Zwölf Stunden hat uns das in Atem gehalten‹, dachte Ericson, der sich tief befriedigt an die Brücke lehnte, ›aber wir haben es geschafft, denn das Boot war da, die ganze Zeit. Ich hatte recht –.‹ Als er sich umdrehte, blickte er Lockhart in die Augen. Lockhart, dessen letzter Angriff auf fünf Meter genau gelegen haben mußte – lächelte niedergeschlagen und sagte: »Verzeihung, Sir«, Entschuldigung suchend für seinen Unglauben während der Nacht und für die falsche Beurteilung der Lage, aus der seine Zweifel entstanden waren. Aber das spielte jetzt keine Rolle: Ericson setzte sich auf seinen Decksstuhl, und ihm tat nur eins leid: das Benzedrin, das er doch vielleicht gar nicht nötig gehabt, sondern lieber hätte aufsparen sollen für eine wirklich erschöpfende Strapaze… Die Glocke vom Achterdeck schlug an, und Vincent, dessen Stimme anzumerken war, daß ihm allzufrüh am Morgen ein grausiger Anblick geboten wurde, meldete: »Wir haben viel Holzwerk aufgefischt, Sir, auch einiges Zeug, und andere Sachen. Zwei Eimer voll.« »Was für andere Sachen, Sub?« Nach einer Pause sagte Vincent: »Der Arzt sagt, sie gehörten unbedingt in sein Ressort, Sir.« Die Männer, die um die zwei übervollen Eimer standen, und, auf den Inhalt stierend, Kakao tranken, machte die Siegesfreude gesprächig. »Was will denn der Alte bloß mit diesem Zeugs hier? So ein blutrünstiger Bursche!« »Das ist Beweismaterial, das müssen wir mit nach Hause nehmen, anders glaubt uns keiner den Erfolg.« 391
»Nur so wie hier mag ich den Jerry sehen«. »Sieht mehr aus wie Hack mit Zwiebeln.« »Laßt bloß um Himmels willen den Koch nichts davon wissen!« »Ist mindestens eine Fleischration für vier Wochen. Das muß ich meiner Frau erzählen.« »Bootsmann«, sagte Ericson später, »wo sind die Eimer verstaut?« »In der Kombüse, Sir.« Ericson schluckte. »Die wollen wir doch lieber ins Lazarett stellen, bis wir zu Hause sind.« »Sir, mir scheint, der Admiral steht auf der Pier«, sagte Lockhart. »Oh.« Ericson war so mit dem Anlegemanöver beschäftigt, daß er nur knurrte, denn es wehte eine ablandige Brise, und der Strom drückte Saltash hart unters Heck. Er befahl: »Steuerbordmaschine stop, Backbord langsam zurück!« und sagte zu Lockhart: »Ich möchte wissen, warum der herkommt.« »Vielleicht unseretwegen.« »Backbordmaschine stop!« befahl Ericson. »Beeilung da mit den Wurfleinen, sonst werden wir wieder abgedruckt…« Er warf durchs Glas einen kurzen Blick über die Pier. »Ja, er will zu uns«, sagte er. »Das ist wirklich nett von ihm. – Backbord langsam voraus…! Hoffentlich machen wir beim Anlegen nicht noch was kaputt.« »Achterleine ist fest, Sir… Ich glaube, das würde er uns unter diesen Umständen sogar verzeihen.« Das vom Schiff gegen die Pier gequetschte Wasser schäumte wie kochend, und das von den Schrauben aufgewühlte sog klatschend an den verölten hölzernen Duckdalben. Saltash schob sich näher heran, Ericson wurde geschickt mit Winddruck und Tide fertig. Das Spill auf der Back klapperte kräftig beim Anholen der Vorleinen. Der Admiral winkte Ericson, als er ihn auf der Brücke sah, freundlich zu, Ericson salutierte. »Lassen Sie eine Wache zum Seitepfeifen antreten, I.W.O.«, sagte er. »Das sieht mir doch offiziell aus.« »Wollen Sie ihn selbst begrüßen, Sir?« »Ja. Ich will sogar gleich zu ihm ‘runtergehen, damit er keine Turnkunststücke macht, bevor die Stelling fest ist. Machen Sie hier inzwischen weiter.« Er lächelte. »Werden mich ja nicht blamieren, wie?« Es dauerte noch gut zehn Minuten, bis Saltash sicher an ihrem Platz lag und Lockhart durch Kreuzen der Hände den abschließenden Befehl: »Leinen belegen« gab und die Maschinen abstellen ließ. Er blieb noch ein Weilchen auf der Brücke, um das Gefühl, wieder in der Heimat zu sein, auszukosten: sah zu, wie die Signalgasten ihre Flaggen und Bücher verstauten, wie seine Männer auf der 392
Back sich mit andern auf der Pier unterhielten, studierte die am Heck vorbeiziehende Strömung und freute sich wieder über die schöne, weite Bucht des Clyde, die sie sechs lange Wochen nicht gesehen hatten. Es war nett vom Admiral, zu ihrer Begrüßung extra von Glasgow zu kommen, wenn sie auch schließlich nach dieser bösen Geleitfahrt und dem abschließenden Erfolg mit dem U-Boot eine Anerkennung verdient hatten. Lockhart beobachtete, wie der Admiral, von den Trillern der Bootsmannspfeifen empfangen, an Bord kam, Ericson die Hand schüttelte, einen Augenblick lachend mit ihm sprach und dann mit ihm unter Deck ging. Vielleicht ließen sie ihn gleich nachkommen und an den Glückwünschen teilnehmen, aber wenn nicht, sollte es ihm auch einerlei sein: sie hatten ihr U-Boot, sie waren wieder zu Haus, Saltash hatte wieder ein Geleit geschafft und lag gesichert an ihrem Platz, und die Kessel mußten gereinigt werden. Er rief zum Bootsmann, der noch beim Ruder blieb, hinunter: »Pfeifen Sie aus: Backbordwache hat Landgang von siebzehn bis acht Uhr.« Dann nahm er seine Sachen zusammen und stieg die Treppen zu seiner Kammer hinab. Er war müde, die Beine schmerzten ihm, er kam sich schmierig und unrasiert vor, doch ein heißes Bad und zwei Glas Gin rasch hintereinander helfen da gewiß ganz gut, und endlich winkte dann auch das Glück einer ganzen Nacht ruhigen Schlafs. Vom Gang aus sah er einen bewegten Schatten aus seiner Kammer fallen und dachte: ›O je, was mag das denn nun wieder sein?‹ Er schob den Vorhang zur Seite – da stand neben seinem Schreibtisch Julie Hallam. Lange blickten sie einander in die Augen, er lächelnd, sie ernst und verlegen. Schließlich sagte sie: »Euer Steward war entsetzt, aber er ließ mich doch herein.« Er ergriff ihre Hand und drückte sie. »Natürlich. Für dich gelten hier keine Verbote. – Julie, wie herrlich, dich wiederzusehen, und wie herrlich, daß du schon hier bist!« »Der Admiral fuhr ja her, um euch zu gratulieren, und da dachte ich mir: dann kannst du auch fahren.« »Ich habe dich aber auf der Pier nicht gesehen.« »Ich hatte mich hinter einem Kran versteckt. Ich muß dich ja anders beglückwünschen als er.« Plötzlich warf sie ihm die Arme um den Hals und sagte: »Oh, Lieber, ich bin ja so froh, daß du wieder da bist!« Er konnte sich nicht erinnern, daß sie schon jemals ›Lieber‹ zu ihm gesagt hätte, und wurde, als sie ihn so herzlich umarmte, ganz schwach vor Staunen und Erregung. Er konnte so eine schöne Heimkehr kaum fassen. – »Ich bin leider ziemlich stachelig«, sagte er, küßte sie aber trotzdem auf die Lippen, die sich ihm so warm darboten. Dann schob er sie sanft von sich, um ihr ins Gesicht sehen zu können, und fragte sie: »Bist du wirklich Julie?« 393
Sie lachte, indem sie ihn wissend und vertraut anblickte, und antwortete: »Nun, die Uniform ist jedenfalls noch dieselbe.« »Du kamst mir aber verändert vor, fühlst dich ganz anders an als früher. Was hast du denn inzwischen gemacht?« »Auf dich gewartet habe ich – die Reise deines Geleitzuges verfolgt und achtgegeben, was da noch alles passieren mochte… Oh, Lieber«, sagte sie wieder, »was für ein gräßliches Geleit war das! Die ganze Zeit diese Bombenflugzeuge, – und die Zerstörer – ich dachte schon, ihr kämet nie ans Ziel. Und dann das Wetter auf der Rückreise, und zuletzt noch das U-Boot! Nein, wir müssen sehen, daß du nun ein Landkommando bekommst.« Sie war auf einmal tiefernst. »Ich kann das nicht ein zweites Mal durchmachen!« ›Nanu, – was ist denn das?‹ dachte Lockhart, aber er wollte es gar nicht genau wissen: diese wunderbare Wandlung war ihm genug. Wenn er Julie im Arm hielt, war alle Müdigkeit verschwunden. Die nüchterne Kammer wurde durch sie unvorstellbar reich und hell. Julie in den Armen zu halten, die schönen vergangenen Tage Wiederaufleben zu lassen und neue hinzuzufügen, das war überwältigend. Er küßte sie noch einmal, und jetzt war es kein kurzer Kuß. Da flüsterte sie ihm ins Ohr: »Bis vor kurzem wußte ich noch nicht, was es heißt: einen Menschen lieben. Begriffe wie Abschied und Gefahr brachte ich mit dir gar nicht in Verbindung: Krieg war eben Krieg für mich, und ein Geleit nur eine Ansammlung von Schiffen. Und da warst du – alles waren voneinander getrennte Dinge und durchaus übersehbar. Erst als ich eure Meldung las: ›Greife feindliche Zerstörer an‹, da wurde mir auf einmal alles klar, ich sah dich und mich mitten in dem großen Betrieb, und dich auf einmal in ganz großer Gefahr. Bis dahin hatte ich mich nicht am Kriege beteiligt gefühlt, aber von dem Moment an fühlte ich mich tief in ihn verwickelt, und in allem sah ich nur dich – du warst der Geleitzug, du warst alles.« Sie preßte ihn fest an sich und streichelte glättend an seinem rauhen Düffelrock. »Du warst plötzlich so wertvoll für mich geworden«, fuhr sie mit tiefer, weicher Stimme fort, »und ich wußte, daß ich es nicht ertragen würde, wenn dir etwas passierte, und dann kam dieses endlose Warten auf deine Rückkehr: vier Wochen, beinah fünf…« Sie lächelte. »Also siehst du: die Uniform mag die gleiche sein, aber unter ihr, hier drinnen…« »Du bist entzückend«, sagte er, »und ich liebe dich. Und was geschieht jetzt?« »Alles, was du sagst, alles, was du willst.« »Bist du wirklich Julie?« fragte er wieder. »Ein neues Modell«, gab sie zurück. Bei diesen Worten sah ihr Gesicht besonders hübsch aus, in ihren Augen lag so viel Zärtlichkeit. »Ich empfinde 394
jetzt wie eine Frau, und das ist etwas vollkommen Neues für mich, und es soll mir einerlei sein, wer es weiß und was es für Folgen hat. Sag mir, was wir tun wollen.« »Mir steht jetzt Urlaub zu«, sagte er zögernd. »Wann?« »Sobald wir an Bord alles klargemacht haben – in ungefähr vierzehn Tagen.« »Und wohin möchtest du fahren?« »Wohin du willst.« »Irgendwohin mit mir«, sagte sie. Ein Sonnenstrahl, der durch das offene Bullauge fiel, glitt über den Fußboden, doch sie sahen ihn nicht, denn ihre Blicke waren ineinander versunken, aber nicht mehr verwirrt: sie waren ganz erfüllt von einem einzigen Verlangen und einer großen Erleichterung. Als er sagte: »Ich liebe dich, Julie«, hielt sie ihm mit den Worten »Ja, das ist jetzt beiderseits wahr«, ihren Mund zum Kuß hin. Es war ein Landhaus, das Julie von einer Freundin, die Arbeit in London übernehmen mußte, gemietet hatte, ein Haus, das nicht nur Vorzüge besaß. Tief in der Einsamkeit, am Fuße einer Talschlucht beim Loch Fyne gelegen, war es nur durch einen täglich einmal verkehrenden Autobus zu erreichen, und der nächste Laden lag fünf Meilen entfernt. Ein alter zugiger Steinbau war es, verqualmt von den Holzfeuern im Kamin, durchdrungen vom starken Petroleumgeruch der Öllampen mit dem romantisch gedämpften Licht. Das Dach über der Küche leckte, über dieser Küche, die sich mit einem bösartigen alten Herd wichtigtat, auf dem das Fleisch entweder gleich verschmorte oder eiskalt blieb. An den niederen Tragbalken in den Korridoren stieß man sich den Kopf, und die Treppe war vorzüglich geeignet für Verstauchung und Verrenkung von Füßen und Knöcheln. Eine primitive Wasserleitung war da und eine unzuverlässige Warmwassereinrichtung. Außerdem war es feucht. Und es gab zweifellos Mäuse. Und sie hatten keinerlei Bedienung im Hause. Es war herrlich. Herrlich nicht vom ersten Moment an, aber schon bald – sobald sie das erste große Staunen, nun plötzlich so beisammenzusein, überwunden hatten. Als sie aus dem Dorfomnibus stiegen, ganz verlegen mit ihren Koffern in der Hand, war es noch früher Nachmittag: vor ihnen lag ein Anstieg von einer halben Meile durch das stille Tal, und diese halbe Meile schien sie immer tiefer in Verlegenheit und Unsicherheit zu bringen. ›Alles wird gut sein, sobald ich sie küsse‹, dachte Lockhart, als er die Gartentür öffnete und Julie 395
eintreten ließ. ›Alles wird sich aufs schönste lösen, sie wird dann genau so sein wie in meiner Kammer an Bord!‹ Aber wie kam es, daß sich dieser Moment nicht zum Küssen zu eignen schien…? Als sie zusammen das Haus erforschten, taten sie das fast schweigend: die Treppe ging Julie allein hinauf, während Lockhart ihrem Schritt lauschte. Als er sie in einen Raum eintreten hörte, der wahrscheinlich das Schlafzimmer war, fragte er sich auf seinem Platz da unten, ob ihre gemeinsame Flucht in die Einsamkeit vielleicht doch nicht so schön verlief, wie er sich’s vorgestellt hatte. Schon hörte er sie wieder die Treppe hinabkommen: sie blieb in der Haustür stehen und sah ihn prüfend an. Was mochte er denken? Dann sagte sie: »Was nun?« Nach einer Weile antwortete er: »Es ist feucht hier, ich werde erst einmal überall Feuer machen.« »Ja, tu das…« Sie lächelte nun über sich selbst und ihrer beider Verlegenheit, ging näher zu ihm und sagte: »Wir können nicht erwarten, daß wir uns sofort ganz hier hineinfinden.« Und, in festerem Ton: »Daß ich hier gern mit dir bleiben möchte, kannst du mir glauben.« Und von da an war für die nächsten paar Stunden alles sehr schön. Aber es lagen ja vor ihnen noch der Abend und die Nacht. An diesem Novembertag wurde es früh dunkel: gleich nachdem die Sonne gesunken war, füllte das Tal sich mit Schatten, das kleine Haus verschmolz mit ihnen, frostig legte sich die Nacht darüber und hielt sie mit fester Hand verborgen. Sie aßen, sie unterhielten sich, sie hörten Musik aus dem altmodischen Radio mit Batterie. Es war jetzt warm im Hause, sie schienen unerreichbar von der Außenwelt abgeschlossen. Für Lockhart aber brachte der Abend sogleich wieder das Gefühl der Beengung und der Verlegenheit, die er anfangs empfunden hatte. Es war neu und aufregend, mit Julie allein zu sein, in dieser abgeschlossenen Welt, an die er vorher so viel und voller Verlangen gedacht hatte: sie sah entzückend aus, das Haar lose aufgesteckt, die Augen im Lampenschein dunkel und groß. Der leichte Hausmantel, den sie trug, schmiegte sich so weich ihrem Körper an, daß sie ihm auf einmal ganz anders vorkam. Aber dem Verlangen nach einander, das sie beide innerlich spürten, stand eine Spannung entgegen, die, so reizvoll sie war, auch bedrückende Unsicherheit hervorrief. Vielleicht übertrug sie sich erst von ihm auf sie, vielleicht empfand sie sie schon vorher – bei ihm jedenfalls entsprang sie dem selbst jetzt noch vorhandenen Zweifel, ob sie sich nun einander ganz hingeben würden. Gewiß lag die Erfüllung ihrer Liebe hier vor ihnen, aber er war sehr in Zweifel, ob es soweit kommen würde oder ob Julie überhaupt danach verlangte. Er empfand noch die gleiche Veränderung an 396
ihr, die sie zusammengeführt hatte – nicht ihren Wunsch, abhängig zu sein, aber doch eine Bereitschaft, sich ganz von ihm führen zu lassen. Das spürte und konnte er oft in ihrem Blick und an ihrer Stimme erkennen. Und er fürchtete so sehr, diese Bereitschaft zu mißbrauchen, indem er zu früh oder zu derb die Grenzen ihrer Willfährigkeit überschritt. Aus seiner Furcht entsprang noch Schlimmeres als nur Scheu: vielleicht hatte er alles zu sehr überstürzt, wenn er nicht überhaupt von falschen Vorstellungen ausgegangen war: vielleicht hatte sie gar nicht daran gedacht, sich ihm hinzugeben, sondern eben nur den Urlaub gemeinsam mit ihm verbringen wollen? Vielleicht verdiente er eine so schöne Frau gar nicht und war sowieso nichts wert. Sie beseitigte bald diese törichte Ungewißheit auf ganz einfache Weise, die ihm sofort wieder die ursprüngliche Julie zeigte, diese umsichtige und tüchtige Person, die so klare Entscheidungen über Schiffe und Menschen treffen konnte und der keine Arbeit zu viel war. Hier galt es zwar eine Entscheidung anderer Art… Sie hatten noch Radio gehört, er stand am Kamin, sie saß zurückgelehnt auf dem Sofa. Da erhob sie sich plötzlich, ging zu ihm und küßte ihn. Und es schien ihnen ganz natürlich, daß jetzt, als sie sich zärtlich umarmten und noch auf die Musik hörten, das Klopfen ihrer Herzen bald die Musik übertönte… Im Radio sang eine Frauenstimme ein Lied mit den Worten: ›Laß mich fest ans Herz dich drücken‹, und bei diesen Worten fühlte er, wie Julies Körper sich unter dem dünnen Stoff ihres Kleides bewegte. Sie hob den Kopf und fragte leise: »Hast du das gehört? Genau so ist mir zumute.« Lockhart sagte: »Auch mir ist genau so zumute.« Und sie lächelte verliebt und sagte, als müsse sie ihm ihre glühende Sehnsucht so deutlich erklären, daß kein Zweifel blieb: »Ich glaube, ich werbe um dich.« Und nun war wieder alles gut, und es sollte für immer so bleiben. Vielleicht war der Gegensatz so überraschend: nach Kampf und Strapazen auf See diese stille Zurückgezogenheit, diese Zärtlichkeit, die seinen abgehärteten Körper aufnahm. Und es war eigentlich für beide ein Kontrast: er kam aus der rauhen, unerbittlichen Schule des Krieges, und sie von anstrengender Arbeit für dieselben Ziele. Und weil diese sie so sehr beschäftigt hatten, waren sie enthaltsam geblieben und hatten das bis zu ihrer Begegnung richtig gefunden. Aber jetzt nicht mehr. Das Aufgeben dieser Enthaltsamkeit war überwältigend: sie konnten nur staunen, wie herrlich es war, sie ertranken in sinnlicher Glut, ihre ernsten Gesichter wurden heiter wie durch Zauber… Nichts bei ihren früheren Begegnungen, überhaupt nichts in ihrem bisherigen Leben hatte sie so eine Leidenschaft und ein so starkes Gefühl der Erlösung auch nur ahnen lassen. 397
Lockhart erwachte in dieser ersten Nacht kurz vor der Morgendämmerung aus dem tiefen Schlaf, in den sie beide verfallen waren. Und als er spürte, daß sie sich neben ihm regte und er sie murmeln hörte »Du solltest doch noch schlafen«, da antwortete er: »Schlafen kann man immer noch«, zündete die Kerze auf dem Nachttisch an, um die Freude und Beruhigung zu haben, Julie wirklich an seiner Seite zu sehen. Was er nun in ihr erblickte, fand er ebenso rührend wie ihre ganze leidenschaftliche Hingabe in der vergangenen Nacht: ihr Gesicht auf dem Kissen sah so zart und ermattet aus unter dem dunklen, wirren Haar, und ihre Augen, so groß und sanft, betrachteten ihn wie ein geliebtes Kind, das soeben etwas besonders Liebes getan hatte und ganz besondere Belohnung verdiente. Schön waren ihre Augen auch vorher gewesen, nach nüchternem Urteil sogar vollkommen schön, aber jetzt, nachdem sie seine Leidenschaft erlebt und erwidert hatten und im erlösenden Schlaf noch weicher geworden waren, lag in ihnen eine sichere Zufriedenheit, die ihm ungeheuer wohltat; die Dankbarkeit, die Wärme und die selige Ermattung, die aus ihnen sprach, brauchte Julie nicht zu verbergen. Sie streckte ihm beide Arme entgegen, so daß er ihre bloße Brust fühlte, und als sie ihn umschlungen hielt und sie sich weiter fest anblickten, änderte sich der Ausdruck ihrer Augen – sie betrachtete ihn nicht mehr wie ein geliebtes Kind, sondern ergeben und demütig, in glücklicher Zuversicht, aber mit derselben Glut. Bebend nahm er sie, in einem Schweigen, das keiner von ihnen zu brechen wünschte. Dann schliefen sie nicht mehr: es war, als mache diese zweite Hingabe, indem sie das Wunderbare der ersten so recht offenbarte, sie nun frei, um alles übrige zu genießen, was sie einander zu geben hatten. Sie sprachen ohne jede Unruhe bis zum Morgen miteinander, während das graue Licht, das nun die Talschlucht wieder erfüllte, kaum merklich in ihr Zimmer drang. ›Von all den unzähligen Morgendämmerungen des Krieges‹, dachte Lockhart, ›war dies die erste wirklich ruhige, die erste, die nichts beeinträchtigte, die erste, die den Namen ›Julie‹ trug…‹ Sie sprachen über vielerlei: vom Lieben und Geliebtwerden, über das, was sie zueinander zog, von ihrer Nervosität am letzten Abend. Dieser Vorgang, wie sie sich gegenseitig über einander Rechenschaft gaben, war abwechselnd erleichternd und erregend für sie und ließ sie alle Befürchtungen und Prüfungen der Vergangenheit vergessen. ›Nun ist sie mein‹, dachte Lockhart, während er über Julie hinweg auf das helle Fensterviereck blickte, das den Tag verkündete. ›Und sie muß mein bleiben: es sind nicht nur diese Augen, ist nicht nur dieser Körper, der so kühl und zugleich so heiß sein kann, so rein und so ohne Scham, ihr Körper, der mir so schnell gehören kann, wie sie oder ich es will – nein: sie ist der Mensch für mich, 398
durch sie bekommt alles erst Sinn…‹ Er richtete sich auf und sah sie verliebt an, und sie erwiderte glücklich seinen Blick und sagte: »Du bist ganz blaß… Was wollen wir denn heute machen?« »Nun – dies hier«, sagte Lockhart etwas zögernd. »Dafür bin ich auch.« Sie betrachtete nachdenklich die Zimmerdecke. »Aber sag’ mal: war nicht vor langer Zeit einmal die Rede davon, daß du ein Puritaner seist?« »Das bin ich auch«, erwiderte er energisch. »Wieso zweifelst du daran?« »Weil ich seit heute nacht so viel Schönes erlebe, fast ohne Pause… Zu welcher Sorte von Puritanern gehörst du denn, und warum erzählst du mir lauter so schreckliche Lügen?« »Das sind keine Lügen«, sagte er ernst. »Ich bin nämlich im Grunde durchaus kein sinnlicher Mensch. Du machst mich dazu – und dann gibt es nur dich. Im ganzen Krieg hat es dergleichen für mich nicht gegeben, auch vorher nicht: es ist eine vollständige Wandlung, ein vollständiger Bruch.« »Ein Bruch – mit was?« »Mit der Wirklichkeit, glaube ich.« Sie sah ihn fragend, mit leisem Vorwurf an. »Ich meine«, sagte er etwas unsicher, »daß Krieg ist und du ihn als entzückende Überraschung für mich unterbrochen hast – ich wünschte bei Gott, du könntest das alles für immer ändern, aber noch ist der Krieg nicht zu Ende.« »Und du machst ihn nachher einfach wieder weiter?« »Ich kann ihn nicht mehr als derselbe Mensch mitmachen, aber mitmachen muß ich ihn. – Das müssen wir beide, Julie«, setzte er hinzu, als er im Zwielicht die Spur eines Lächelns auf ihrem Gesicht entdeckte, »du brauchst gar nicht zu versuchen, mich ins Unrecht zu setzen, das kann ich ganz gut selber. –« »Mein Puritaner«, murmelte sie, »was kann ich nur tun, damit du mich liebst?« »Es gibt drei Mittel«, sagte er mit Nachdruck, indem er das unsichere Fahrwasser verließ: »du mußt aussehen, wie du jetzt aussiehst, mußt so empfinden wie vor zwei Stunden und – mußt so sprechen, wie du immer sprichst. Schon einem allein könnte ich nicht widerstehen. Alle zusammen aber…«, er unterbrach sich. »Ist das wirklich schon zwei Stunden her?« »Ja.« »Das ist echtes Puritanertum.« »Ich verbitte mir, mich in diesem Punkt ins Unrecht zu setzen…« Ein neues, sanftes Geräusch ließ ihn zum Fenster blicken. »Weißt du ei399
gentlich«, fragte er nach einer Weile, »daß es schneit?« Sie richtete sich auf, um hinauszusehen: ihre Brust und Schultern hoben sich zart gegen das grobe Bettzeug ab. »Wie herrlich!« rief sie. »Dann kann uns tagelang kein Mensch erreichen…!« »Nein, nie«, sagte er. »Es soll weiter schneien – wir haben Eier zu essen, viele Sachen in Dosen und einen riesigen Schinken aus Kanada…« Die Einsamkeit, die ihnen am Abend zuvor beinah drückend vorgekommen war, schien ihnen jetzt das Schönste, was das Leben bieten konnte. »Schneie weiter, schneie uns vollkommen ein, Himmel, und laß uns hier in Frieden!« »Und dein Krieg?« »Der Krieg«, verbesserte er, »der braucht nie bis zum Loch Fyne zu reichen, und wir brauchen ihn nie wiederzusehen… Mein Liebling«, sagte er, indem er sich wieder ausstreckte, »es ist jetzt sieben Uhr, und es schneit mächtig. Du sagtest vorhin ›Was wollen wir heute machen?‹ Und ich antwortete – nun: was sagte ich?« Sie beugte sich wieder ganz dicht über ihn, er fühlte ihre Wärme so stark pulsieren, als hätten seine Worte etwas tief in ihrem Innern angerührt. »Ich glaube mich zu erinnern«, flüsterte sie, »daß du gesagt hast: ›Dies hier.‹« »Und was ist ›dies hier‹?« »Dies hier…« Sie hatte alle seine Sinne gefangengenommen in dieser ersten Nacht, und sie tat es immer – es mochte sein durch ein Lächeln, einen Blick oder eine Bewegung, durch reglose Verzückung oder einen besonders innigen Klang in ihrer Stimme, etwa wenn sie, die glatte Haut seiner Brust streichelnd, sagte: »Du mußt wieder sehr viel Feuer machen, denn ich kann dir gar nicht sagen, wie wenig ich in den nächsten neun Tagen anziehen werde…« Denn darin lag auch für sie ein ungeheurer Reiz. Bisweilen überraschte sie ihn durch die Wildheit ihrer Umarmungen, wenn sie sich zärtlich und beinahe schmerzhaft an ihn preßte. »Mein Sturm«, flüsterte er am Schluß, und als ob es ein Signal wäre, fühlte er dann, wie unter ihm die alles verschlingende Woge ihrer Leidenschaft stieg und stieg, und, als sei das ebenfalls ein Signal, überschlug sich im gleichen Augenblick auch die Woge seiner Leidenschaft, so daß sie zusammen an den Strand höchster Lust brandeten. Während all dieser Tage und Nächte schien die Traumwelt, in der sie sich bewegten, sie immer mehr zu durchdringen, so daß sie schließlich ganz in ihr versanken. Alles an ihr: ihre Augen, ihre Stimme, ihr geliebter Körper, riß ihn hin, und auch sie schien, gleichzeitig führend und sich unterwerfend, seinen Körper zur Erfüllung ihrer äußersten Leidenschaft zu befähigen. Oft glaubten sie, besondere Menschen zu sein, wie es sie noch nie gegeben hatte… 400
Als sie wieder auf dem Clyde waren, mußten sie sich trennen: Julie mußte in ihr nüchternes Büro, Lockhart wieder in See. Er schrieb ihr zum Abschied einen Brief voll Liebe und tiefer Dankbarkeit, in dem er hin und wieder zärtliche sinnliche Erinnerungen erwähnte, Gedanken, die nach einem so bewegenden Erlebnis ganz selbstverständlich waren. Der Brief schloß: »Ich glaube, es gibt sonst nichts mehr zu schreiben, höchstens: daß ich dich unermeßlich liebgewonnen habe und daß mich nach allem verlangt, worin diese Liebe begründet ist. Sie konzentriert sich nicht allein auf jenen Teil deines Leibes, für den ihr im Jargon der Marinehelferinnen sicher einen ziemlich drastischen Ausdruck habt. Aber es wäre sinnlos, abzustreiten, daß sie auch ihn umschließt, so eng und so glücklich, wie er vorige Nacht mich umschlossen hat… Ich bin dir ganz ergeben.«
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VI 1944 DER SIEG NAHT Der Buckingham-Palast zeigte sich an diesem nassen Januarmorgen nicht von der besten Seite: Unaufhörlich tropfte es von den kahlen Bäumen, die königliche Standarte hing schlaff um ihren Mast, zerbröckeltes Mauerwerk und verschalte Fenster zeigten, daß Seine Majestät mit ihren Untertanen nicht nur die Gefahren des Krieges unmittelbar teilte, sondern auch ebensowenig wie sie fähig war, deren Auswirkungen in weniger als zwei Jahren beseitigen zu lassen. Auf Grace Ericson und ihre Mutter konnte das freilich nicht den mindesten Eindruck machen: für sie hatte dieser Tag einen unzerstörbaren Glanz. Sie waren beide so elegant gekleidet wie nur möglich, denn sie erschienen hier auf Einladung des Obersten Kammerherrn Seiner Majestät und sollten Zeuge sein, wie ihr nächster und liebster Verwandter nicht nur dem König die Hand schütteln, sondern möglicherweise sogar mit ihm sprechen durfte. Denn diese Ordensverleihung war eine höchst persönliche Angelegenheit, anscheinend nur ihretwegen arrangiert: zu diesem Ereignis war Korvettenkapitän George Eastwood Ericson D.S.O. D.S.C. R.N.R. ersucht worden, zu erscheinen, um aus des Königs eigener Hand die erstgenannte Auszeichnung in Empfang zu nehmen. Ein riesiger Andrang herrschte, im Vorzimmer drängten sich die Menschen, und die Schlange, die für den Eintritt in den großen Audienzsaal geordnet wurde, erinnerte an die Kassenschlange bei einem erfolgreichen Film. »Mir war doch so, als hättest du gesagt, daß mit jedem nur zwei Verwandte erscheinen dürften«, brummte Mrs. Ericsons Mutter, als sie von der langsam vordrängenden Menge mitgeschoben wurden. Sie warf kampflustige Blicke um sich, wozu sie als Schwiegermutter eines Helden ja wohl das gute Recht hatte. »Ich bin fest überzeugt, daß hier Schiebungen gemacht worden sind.« »Psst, Mutter!« sagte Grace Ericson, nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Male. »Du mußt dich gut benehmen – was soll denn George sonst denken!« Die alte Dame schnaubte. »George will bestimmt nicht, daß wir so gedrängt und umhergestoßen werden, soviel weiß ich jedenfalls! – Hast du auch die Karten nicht vergessen?« Grace gab keine Antwort: für sie war dieser Anlaß – obwohl sie ebenso große Genugtuung empfand, hier sein zu dürfen wie ihre Mutter – von ganz anderer Bedeutung. Für sie war es nicht nur eine Schaustellung, für die man 402
Schlange steht und über die man jammert, nein: es war ein stolzer Augenblick und ein feierlicher, und den wollte sie weder mit andern teilen noch sich von jemand verderben lassen. Sie war sehr stolz auf die Leistungen ihres Mannes, um so mehr, als sie genau wußte, was sie ihn gekostet hatten. Er hatte seine Orden verdient, und verdient, daß der König selbst sie ihm anheftete, und seine Begegnung mit dem König war das, worauf sie so lange schon gehofft hatte: eine feierliche Zeremonie zur Bekräftigung ihres Vertrages und zur Anerkennung der Tatsache, daß George für ihn sein Leben einsetzte, daß er oft in der schlimmsten Gefahr schwebte und das alles ohne weiteres auf sich nahm, weil der König sein Vertragspartner war… Sie hoffte, daß er hinter den Kulissen schon seiner Wichtigkeit entsprechend geehrt wurde. Schließlich war das jetzt seine zweite hohe Auszeichnung. Gerade in diesem Moment sagte ein äußerst vornehm aussehender Herr in schwarzen Kniehosen ziemlich schroff zu Ericson und den übrigen: »D.S.O.-Empfänger und höhere Orden in zwei Gliedern hier links antreten.« Die Zeremonie wurde nach genauen Formalitäten eingeleitet. Die Besucherschaft kam allmählich zur Ruhe, der König trat auf die Estrade, die Vorhut der Auszuzeichnenden erschien im Türrahmen, während weitere von hinten nachdrängten. Es war eine sehr gemischte Gesellschaft, die dem Auge zum Teil bewegende Gegensätze bot: unter den ersten empfing ein junger Flieger mit engelhaft zartem Gesicht das Viktoriakreuz, ein stark ergrauter Admiral den Ritterschlag für eine hohe Adelsklasse, während ein Infanterist mit zernarbtem Gesicht und dunkler Brille sich vortastete, um den Georgsorden entgegenzunehmen. So rückte die Prozession vor, in Viererreihen, Gruppe auf Gruppe von Männern, die sich durch Tapferkeit und große Leistungen bewährt hatten: da erschienen junge Soldaten so nervös, daß ihre ganze Tapferkeit schon lange, bevor sie dem König gegenüberstanden, dahin war, ergraute Stabsoffiziere mit den Ordensbändern aus vielen Schlachten an der Brust, wohlbeleibte ältere Ritter, die an Falstaff in seinen besten Tagen erinnerten… ›Wievielerlei verschiedene Menschen‹, dachte Grace Ericson. Und warum kamen eigentlich so viele noch vor ihrem George an die Reihe? »Wo ist er denn?« brummte neben ihr die alte Dame. »Sie haben ihn zurückgestellt – sage ich dir.« »Psst, sei doch still, Mutter«, sagte Grace, »er muß jeden Augenblick kommen.« Gerade in diesem Moment wurde Ericson im Türrahmen sichtbar: er marschierte vor zwischen einem Staffelkapitän der Air Force und einem rothaarigen Maschinenmaat mit glühendem Gesicht, der so schwitzte und mit den Augen zuckte, als habe er gerade einen Hundertmeterlauf unter heißen, hellen Lampen gemacht. ›Wie erschöpft und alt George aussieht!‹ dachte Grace, 403
indem sie ihm begierig mit den Augen folgte. Sie war jetzt, als er in der Nähe des Königs stand, noch stolzer auf ihn, und sein D.S.O. und das D.S.C. zeigten ihr, daß auch andere Leute stolz auf ihn waren, aber der Preis ihres Stolzes war nur allzu deutlich in sein faltiges Gesicht eingegraben und erkennbar an dem grau und dünn gewordenen Haar. Als sie das nun sah, hätte sie fast geweint. Denn das Elende war ja, daß er in diesem endlosen Kriege immer älter und müder wurde, bis – bis… Denn selbst jetzt war der endgültige Preis, den er zahlte, ja noch nicht vorauszusehen: immer, wenn die Gesamtsumme fällig, der Augenblick der Abrechnung gekommen zu sein schien, verschob er sich wieder und verspottete sie beide jedesmal, wenn wieder ein Jahr vorüber war. Ein hartes Kriegsjahr folgte dem andern ohne jede Aussicht auf Erholung: George wurde bald neunundvierzig, sah aber aus wie sechzig – und jetzt fing ein weiteres Kriegsjahr an, wieder zwölf Monate schwerer Prüfungen und Strapazen. Vielleicht wurde dieses Jahr das letzte, aber wer weiß! Es hieß, der ›D‹-Tag stehe nahe bevor, doch der hatte so lange schon kommen sollen, und nichts war geschehen: der Krieg ging weiter, derselbe bittere Kampf, der Männer wie den ihren verbrauchte, sie zwanzig Jahre vor der Zeit zu Greisen machte… Grace wandte sich ab und flüsterte, kaum die Tränen zurückhaltend, ihrer Mutter zu: »Findest du nicht, daß er recht alt wird?« Die alte Dame reagierte sonderbar bissig: »Dazu hat er doch wahrhaftig allen Grund! Hat doch auch Sorgen genug und schrecklich viel zu tun! Und daß sein Bruder so umkommen mußte, und obendrein noch der zerbombte Palast.« Grace stutzte und erwiderte dann: »Ich meine doch George, Mutter.« »Rede nicht so respektlos vom König«, gab ihre Mutter noch grimmiger zurück, »du solltest dich schämen.« Grace gab es auf. Außer ihrem Mann alterten auch andere. Und jetzt kam der Augenblick, in dem sie beide ganz still sein mußten: sie hielten den Atem an, als Ericson vom König ausgezeichnet wurde… Nachdem Saltash ein paar Monate dieses neuen Jahres, des fünften in der trübseligen Reihe der Kriegsjahre, im Einsatz gewesen war, bekamen Schiff und Besatzung unerwartet besondere Ferientage. Sie befanden sich zwischen zwei Geleitzügen in St. Johns auf Neufundland, als die Neuigkeit sie erreichte: ein kurzer Befehl, wonach sie zur Überholung in eine Werft mußten. Und damit war ein langer Urlaub verbunden. Aber sie sollten für den Zweck nicht heimkehren, sondern ein Dock auf der anderen Seite des Atlantik beziehen, in der Marinewerft von Brooklyn, mitten im unteren New York, und dort zwei Monate Ruhe genießen. 404
»New York!« sagte Lockhart, als Ericson ihm den Befehl zeigte. »Warum sollen wir denn nicht zum Clyde?« »Ist wahrscheinlich alles überfüllt«, erwiderte Ericson. »Sie können doch auch nicht immerfort nur Glück haben.« Lockhart quittierte sein Lächeln, indem er bekümmert zugab, was ihn bedrückte: »Da werde ich sie ja eine Ewigkeit nicht sehen.« »Krieg ist eine Teufelei«, sagte Ericson überzeugt und heiter. Er begrüßte die Werftzeit, einerlei wo das war, und die Nachricht, daß sie diese Zeit in noch unbekannter und interessanter Umgebung verbringen sollten, hatte ihn schon in Ferienstimmung versetzt. »Amerika«, murrte Lockhart wieder, indem er finster auf den Befehl blickte. »Mir gänzlich unbekannt. Was verstehen sie denn da von Schiffsreparaturen?« Aber diese kritische Einstellung hielt nur bis zu ihrer Ankunft vor, denn als sie vier Tage später vor Long Island aufkreuzten und an der Freiheitsstatute vorbei dem phantastischen Wolkenkratzermassiv von New York und der Einfahrt in den Fast River entgegendampften, mußte Lockhart erkennen, daß ihn das erste Bild von Amerika ebensosehr beeindruckte wie jeden anderen an Bord. Vom englischen Gesichtswinkel aus mochte dieses Land weit vom Mittelpunkt der Ereignisse liegen, aber soviel sie jetzt schon nach den Größenmaßen und den Geräuschen beurteilen konnten, mußten die Menschen hier sich auf Arbeit verstehen. – Dieser Eindruck von Tüchtigkeit bestätigte sich schnell: sobald Saltash festgemacht hatte, stürzte sich eine ganze Schar Männer in flottem Tempo an Bord, wo sie sich, fast ohne zu sprechen und ohne sich um irgend jemand zu kümmern, daran machten, das Schiff sozusagen in Stücke zu reißen. »Na, nun gönnen Sie sich mal ein bißchen Erholung, Kapitänleutnant«, sagte einer der Werftbeamten, als Lockhart ihm eine Frage betreffs der Beleuchtung an der Pier stellte. »Wir werden Ihr Schiff tadellos in Schuß bringen… Wissen Sie, was ich an Ihrer Stelle tun würde?« fügte er hinzu, ohne eine Miene zu verziehen, »ich würde wie der Blitz von hier verschwinden und erst in sechs Wochen wiederkommen.« »Es ist nicht ganz einfach«, sagte Lockhart später zu Scott-Brown, »man weiß nicht einmal, ob sie unhöflich sind oder nicht…« »Umgekehrt ist’s dasselbe: die wissen auch nicht, ob wir beleidigt sind oder nicht.« Sobald sie im Dock lagen, hielt Ericson, bevor er Landurlaub erteilte, der Besatzung auf dem Achterdeck eine Ansprache. »Wir sind hier«, begann er, »in erster Linie, weil die Werften bei uns zu Hause mit Arbeiten überlastet sind, aber damit ist nicht gesagt, daß wir einen schlechten Tausch gemacht 405
haben. Ich bin überzeugt, daß diese Werft uns genau so gut bedienen wird wie eine am Clyde oder in Liverpool, und wenn einer von Ihnen anderer Meinung ist, so ersuche ich ihn, das für sich zu behalten. Und außerdem möchte ich Ihnen noch einiges sagen über den Aufenthalt hier. Erstens, daß wir, sobald wir den Fuß von Bord setzen, Gäste dieses Landes sind, und Gäste müssen sich ganz besonders gut benehmen, müssen sich dem Hause ihres Gastgebers und seinen Sitten anpassen, auch wenn ihnen das manchmal nicht leicht fallen mag. Alles andere zeugt von schlechten Manieren. Vergessen Sie nicht, daß die Leute hier ganz England nach der Art Ihres Auftretens beurteilen werden. Benehmen Sie sich lärmend und flegelhaft, dann wird das gleich auf ganz England übertragen… Zweitens – einerlei, wie verschieden von unseren Gewohnheiten hier dies oder jenes gemacht wird – kritisieren Sie das nicht laut, und vor allen Dingen lachen Sie über nichts, wenn Sie nicht ganz sicher sind, daß die Amerikaner selbst darüber zu lachen bereit sind. Es ist sogar möglich, daß sie manches hier besser machen als in England – und wenn das nicht stimmt, dann ist nicht zu empfehlen, Vergleiche zwischen den verschiedenen Methoden und Maßstäben anzustellen.« Er machte eine Pause. »Und das dritte, was ich erwähnen wollte, betrifft Ihr rein persönliches Benehmen. Ich hoffe, daß Sie recht viele Freundschaften schließen. Aber auch das übertreiben Sie lieber nicht, insbesondere nicht mit Frauen. Daß Sie sich in einem fremden Lande befinden, bedeutet noch nicht, daß Sie in jeder Frau, die Ihnen begegnet, eine Prostituierte sehen und sie so behandeln dürfen. Behandeln Sie die Frauen so, wie Sie es zu Hause tun würden, denn sie sind hier auch nicht anders: es gibt auch hier gute und schlechte, und zwar in demselben Verhältnis wie in London oder Glasgow. Im übrigen werden Sie feststellen, daß das Bier hierzulande ziemlich schwach ist, der Whisky aber recht stark und – billig. Wenn Sie sich betrinken wollen, tun Sie das im privaten Kreise. Fallen Sie mir nicht auf der Fifth Avenue lang hin, denn das kommt dann wahrscheinlich in die Zeitungen und« – für einen Augenblick sprach er sehr streng – »es darf kein Mensch in der Uniform der Royal Navy, und ganz besonders keiner von diesem Schiff, in die Zeitung kommen, in keinerlei Zusammenhang.« In dem großen Rundfunkhaus, wo geschäftiges Treiben herrschte, glänzte und blitzte es in allen Räumen. Das Studio, in dem Lockhart interviewt wurde, glich einem Aquarium, hinter dessen Glaswänden Männer und Frauen in lächerlichem Schweigen den Mund bewegten wie Futter erwartende Fische. »Nur ein kurzes Zwiegespräch«, sagte der Programmleiter, ein grauhaariger Mann, der aussah, als leide er insgeheim fortwährend Qualen. »Aber es muß natürlich viel Schwung haben. Also, wollen mal sehen… Haben Sie 406
viele Unterseeboote vernichtet?« »Nur zwei«, erwiderte Lockhart. »O je, das ist weniger schön. Aber wir werden uns schon was ausdenken… Haben Sie mal irgendwie mit unserer Marine zusammen operiert?« »Wir sind einigen Ihrer Zerstörer begegnet, aber nicht mit ihnen in einer Gruppe gefahren.« »Das wird noch kommen, wird schon noch kommen«, sagte der andere, als müsse er dem Engländer mehr Mut machen, »sobald Sie sich erstmal richtig organisiert haben… Wie lange sind Sie denn im Kampfdienst gewesen?« Lockhart wußte nicht gleich eine Antwort. »Wie soll ich das genauer verstehen – Kampfdienst?« Der Radiomann starrte ihn an. »Ach je, Kapitänleutnant, Sie sind nicht recht im Bilde, wie?« »Nein, ich bin schrecklich wenig im Bilde«, sagte Lockhart. »Well, ich möchte jedenfalls dieses Programm machen, denn das wird vom Gesichtspunkt der alliierten Solidarität eine Zugnummer. Und Sie hatten mir doch gesagt, Sie hätten erst gestern ein ganz smartes Interview gegeben in – wo war das noch?« »In der Frauenabteilung der Organisation für Pakete nach England.« »Klingt wie Muttertag in der Hölle. – Also nun wollen wir aber etwas zu Papier bringen.« In einer Ecke des riesigen volkstümlichen Restaurants am Times Square genoß Scott-Brown, der Arzt, – korrekt, nüchtern und zufrieden – ein besonders zartes Steak. Die Kellnerin neben ihm, eine vollbusige junge Frau in apfelgrünem Kleid mit Rüschen, beobachtete ihn gespannt, die Hände in den Hüften. Jedesmal, wenn er einen Bissen zum Munde führte, schien ihr Interesse sich zu steigern. Als ihm ihre musternden Blicke auffielen, drehte er sich lächelnd zu ihr um. Sie erwiderte sein Lächeln, während sie Schultern und Hüften wiegte. »Sind Sie Brite?« fragte sie nach einer Weile. »Ja«, sagte Scott-Brown höflich. »Ich komme aus England.« Die Kellnerin nickte außerordentlich zufrieden. »Euch Boys kann ich schon von weitem erkennen, sobald sich einer über ein Fleischgericht hermacht. Wissen Sie, wieso?« »Nein«, erwiderte er. »Woran erkennen Sie uns denn?« Die Kellnerin wies auf seine linke, dann auf seine rechte Hand. »Dies komische Arbeiten mit Messer und Gabel«, erklärte sie. »Ich meine: mit beiden Händen, als wenn Sie kutschieren oder so ähnlich. Kein anderer Mensch macht das so. Schmeißt mich jedesmal um.« 407
Fähnrich Holt trat in den selbsttätigen Fahrstuhl, nachdem eine große verwegen aussehende Frau mit bläulich weißem Haar eingestiegen war. Sie waren allein in dem Lift und schwiegen, während er abwärts sank. Dann sagte plötzlich die Frau, die Holts Rangabzeichen, die beiden weißen Aufschläge mit der gedrehten Borte auf den Rockkragenecken, studiert hatte: »Sie, können Sie mir eine Auskunft geben?« »Aber gewiß, Madame«, sagte der Fähnrich, der für sein Dienstalter vorzüglich gespeist hatte. »Wegen dieser Dinger auf Ihrem Jackett.« Sie wies auf die weißen Aufschläge. »Was bedeutet das da?« »Das darf ich eigentlich keinem Menschen sagen«, antwortete der Fähnrich. »Verulken Sie mich auch nicht?« fragte die Frau. »Ich glaube, ihr Briten seid ganz gerissene Leute.« »Aber Ihnen will ich’s verraten«, sagte der Fähnrich mit vielsagendem Lächeln: »es bedeutet Geheimdienst, Nummer M.I.5.« »Wirklich kein Scherz?« fragte die Frau wieder. Sie neigte sich zu ihm hinüber. »Und noch so jung…!« Der Mann, ein Maat der U.S.-Marine, mit aufgedunsenem Gesicht und zwei Reihen Ordensbändern, hatte sich, leicht schwankend, Allingham in den Weg gestellt. Die Menschenmengen, die auf dem Bürgersteig vorbeizogen, gaben sich Mühe, von dem Vorgang keine Notiz zu nehmen, denn im unteren New York gab es oft solche Szenen, und es war besser, ihnen aus dem Wege zu gehen. Der Maat tippte Allingham vor die Brust. »Was, zum Teufel, ist das für ‘ne Uniform?« fragte er mit schwerer Zunge. »Wo kommst du denn her, Bürschchen?« »Von Australien«, sagte Allingham und wollte an ihm vorbeigehen. »Auch so ‘n Land von den Limeys, was?« fragte der Seemann und hielt ihn fest. »Es gehört zum Britischen Empire, jawohl.« »Gehört zum Britischen Empire«, äffte der Mann wütend nach. »Warum redet ihr alle wie ‘n Haufen Huren?« Allingham erwiderte nichts. »Diese gottverdammten Limeys«, sagte der andere. Sein verschwitztes Gesicht glänzte im Lichtschein des nahen Schaufensters. »Glaube, wir müssen mit euch auch noch aufräumen, wenn wir die Japse erledigt haben.« Allingham schwieg. »Ihr redet nicht, was? Vielleicht machst du’s richtig, Bürschchen. Kämpfen 408
tut ihr auch nicht, wie ich schon gehört habe. Kommen diese Kerls von ganz da drüben in einer hübschen Uniform, bloß um mal gutes amerikanisches Essen zu futtern und möglichst viel Weiber bei uns flachzulegen. Wann fangt ihr eigentlich an zu kämpfen, was?« »Nicht heute abend«, sagte Allingham. »An gar keinem Abend«, verhöhnte ihn der andere. »Laßt alles die Amerikaner machen – die blödesten Kerle der Welt.« Er wankte nach vorn auf Allingham zu, dem die Fäuste juckten, während er einen Schritt zurücktrat. »Wenn ihr nicht wollt, dann wollt ihr nicht«, fuhr der Amerikaner fort. »Aber komm mir bloß nicht wieder in den Weg, sonst gibt’s ‘ne Wucht, ist mir ganz wurscht, woher du stammst oder wie fix du rennen kannst!« »Ich renne gar nicht«, sagte Allingham fest. »Aber ich lasse mich auch nicht auf Straßenprügeleien ein.« »Jessas!« rief der Maat, »jetzt haben sie schon Märchenprinzen eingezogen…« Er machte unvermutet kehrt und sauste durch die nächste Tür, die in eine große, mit viel Messing dekorierte Bar führte. Dieses schnelle Verschwinden, das eine kritische Situation beseitigte, war eine große Erleichterung für Allingham, dessen Zorn nun zum Teil verflog. Es war eine glückliche Befreiung, in vieler Hinsicht… Als er den Eingang zu der Bar betrachtete, fiel ihm etwas Ungewöhnliches auf: die reich verzierte elektrische Leuchtschrift über der Tür. WILLKOMMEN ALLEN HELDEN DER U.S.A.! stand da zu lesen. Und darunter: DURCH DIESEN EINGANG GEHEN DIE BESTEN KÄMPFER DER WELT. Ericson stand auf der Brücke des neuen amerikanischen Zerstörers. Er sagte nichts, sondern beobachtete nur alles. Es freute ihn sehr, eine Kriegsübungsfahrt den Long Island Sound hinab mitmachen zu dürfen: ein Tag in See war nach dem langen Aufenthalt an Land gerade das, was er brauchte. Der amerikanische Kommandant beugte sich über ein Sprachrohr. »Was liegt an?« fragte er seinen Rudergänger. »Zwohundert Grad, Sir«, kam die Antwort in unverfälschtem New Jersey Dialekt. Der Kommandant wandte sich mit freundlichem, nichtssagendem Lächeln an Ericson. »Feines Wetter. Freut mich, daß Sie mitgekommen sind –.« Inzwischen hatte er den Kurs vergessen und fragte nochmals am Sprachrohr: »Was liegt an da unten?« »Herrjeh, Käpt’n«, antwortete es vom Ruder, »ich hab’s Ihnen doch eben erst gesagt!« »Die sind mit uns gar nicht zu vergleichen«, sagte Johnson, der Leitende Ingenieur, mißbilligend am Tisch in der Messe. »Haben gar keine Disziplin.« 409
»Mein einzig Geliebter« – schrieb Julie – »ich werde ein Baby bekommen, mir scheint’s jedenfalls so. Morgen werden die Frösche mir sagen, ob es stimmt. Es tut mir leid. Ich wollte es dir erst gar nicht schreiben, aber so wie wir zusammen stehen, halte ich es doch für besser. Dennoch sollst du dir darüber gar keine Sorgen machen. Wenn wir uns schon früher liebgehabt hätten, hätte es ja auch schon eher passieren können, und es ist ja kein Weltuntergang: ich werde rasch mal nach London fahren, wo man sich – wie du mir einmal in so überlegener Art gesagt hast – auf diese Dinge versteht. Du darfst dir keine Sorgen darum machen! Aber komm bald wieder zu mir: es ist so einsam, so langweilig, und es schmerzt, doch so lange entbehren zu müssen. Die Frauen in New York mögen viele Vorzüge haben, – du mußt mir eine Liste davon machen – aber sie haben nicht dieses Herz, das so warm für dich schlägt. Was ich damit meine, werde ich dir zeigen, sobald wir wieder zusammen sind. Bitte mach’, daß das recht bald ist.« Lockhart behielt den Brief lange reglos in der Hand: ihm war, als hielte er da ihr Herz. In ganz schneller Folge sah er alle möglichen Bilder von ihr vor sich, schreckhafte und zärtliche Vorstellungen; er wußte nicht, was überwog: seine Schuld oder seine Liebe. Der Brief war echt Julie: keine unnütze Aufregung, kein Vorwurf, keinerlei zweifelnde Frage. Sie nahm die Situation wie sie kam, und war bereits zu energischem Handeln entschlossen. Vielleicht hatte sie gar schon gehandelt? Keinen Augenblick schien sie zu bezweifeln, daß er ihren Ansichten auch zustimmte. Ihre klare Einstellung zu den Tatsachen und ihre Entschlossenheit verletzten tief in ihm etwas: fand sie sich nicht nur deshalb mit der Lage ab und setzte sie nicht nur deshalb voraus, daß er ihren nächsten Schritt billigte, weil er sich so ungeschickt benommen hatte? Weil er so oft gesagt – oder angedeutet – hatte, sie könnten an Heiraten nicht vor Kriegsende denken und daß ihre Liebe und ihre Hingabe ein ›Bruch mit der Wirklichkeit‹ sei? Er erinnerte sich seiner krassen Worte mit Scham und Widerwillen. Und wußte jetzt, daß sie nicht ehrlich gewesen waren. Nein: Julie war der Mensch, den er haben mußte, und zwar nicht erst später, in unbestimmter Zeit, sondern jetzt. Er brauchte sie – um sie zu lieben und von ihr geliebt zu werden, um sich vor der Trostlosigkeit zu retten, um das freudige warme Versprechen, das sie sich gegeben, unversehrt zu erhalten, ob sie jetzt Zusammensein konnten oder nicht. Das Kind sollte der Anlaß zu ihrer Heirat werden, aber nicht der Grund dazu. Der Grund war ja etwas Tieferes und Stärkeres, das sie viel mehr bewegte. Das hatte sich ihnen in ihrer ersten Liebesstunde offen410
bart, und es durfte nicht wieder verlorengehen. Weder durch sein Handeln noch durch ihres. Es gab doch nur eins: sie war das Kostbarste in seinem Leben geworden, das er immer heilig halten und sich nun ganz sichern wollte. Neben dieser Selbstverständlichkeit bedrückten ihn nur seine schmerzliche Reue und der gräßliche Gedanke, daß an ihrem Körper manipuliert werden sollte. Er kabelte ihr: »Bekomme es« und setzte sich dann hin, um ihr in einem Brief sein ganzes Herz auszuschütten. »Es ist eine nackte Tatsache«, erzählte ihnen Scott-Brown, dem immer noch die Verwunderung anzumerken war: »da saßen also diese beiden Leute bei mir am Nebentisch, ein alter Knabe mit weißem Haar, wie man sie in ›Esquire‹ abgebildet sieht, und ein junges Ding mit gewaltigem Busen und einem entsprechenden Nerzmantel. Sie sprachen über dies und jenes – ich mußte es einfach mithören – und dann beugte sich der alte Herr plötzlich zu ihr hinüber – es war, wie gesagt, beim Mittagessen und im hellen Sonnenschein – und fragte sie, sehr respektvoll: ›Kleines Fräulein, ich möchte Sie so gern besitzen‹.« »Und was antwortete sie?« »Sie sagte« – und jetzt sprach Scott-Brown wirklich entrüstet – »sie sagte: ›Süßer, da muß ich aber erst mal meine Hormone bürsten und kämmen!‹« »Natürlich«, sagte der Mann in der Bar, »natürlich haben wir Amerikaner ganz andere Ansichten über die Frauen als ihr Engländer.« »Ja, das habe ich schon gemerkt«, sagte Raikes, der Navigationsoffizier, der am längsten von allen Gästen in der Bar saß. »Yes, Sir«, sagte sein Nachbar, der beinah ebensolange da war, »wir setzen sie auf einen hohen Thron.« »Sehr klug«, stimmte Raikes zu, »dann sehen Sie Ihre Beine am besten.« »Und dann«, fuhr der andere fort, ohne hinzuhören, »dann bringen wir ihnen unseren Tribut, Schokolade und Blumen, und unsere Hochachtung.« »Das sollte eigentlich genügen«, meinte Raikes. »Und deshalb ist auch Amerika«, sagte der andere, »das einzige Land der Welt, wo sich die Frau stets hundertprozentig sicher fühlen kann. Unsere amerikanischen Girls« – er verbreitete sich mit Genuß über das Thema – »sind sauber und anständig und haben keine dummen Gedanken im Kopf, und das gilt besonders für den Staat Missouri, aus dem ich stamme. Unser amerikanisches Heim ist geheiligt, unsere amerikanischen Mütter werden im ganzen Lande geehrt, und unser amerikanisches Frauentum ist – wie allgemein bekannt – das reinste auf der Welt.« 411
»Gut gesprochen«, sagte Raikes. »Hatten Sie vorhin etwas über Beine gesagt, Captain?« fragte der Mann ihn plötzlich. »Ja, hatte ich«, erwiderte Raikes. »Ich persönlich bin mehr für Titten.« »Was haben Sie denn getrunken?« fragte Lockhart neugierig. »Peppermint frappé«, antwortete der Fähnrich. »Ein Hurengesöff«, kommentierte Lockhart. »Finden Sie, Sir?« fragte der Fähnrich erstaunt. »Der Vorschlag kam von ihr.« »Ich liebe meinen Mann«, sagte das Mädchen, indem es sich im Bett aufrichtete, »aber verliebt bin ich in dich, verstehst du?« »Das ist schön«, sagte Allingham. »Aber Süßer: du verstehst das doch wirklich, nicht wahr? Das ist nämlich wichtig.« »Aber klar verstehe ich dich. Nun lieg’ aber mal still.« »Es war zwischen zwei Tänzen«, berichtete Raikes bescheiden. »Wir gingen in den Garten, und da sagte sie ›Sie dürfen jetzt‹, und da hab ich’s getan.« »Soweit ich bemerkt habe, brauchten Sie dazu recht wenig Zeit«, sagte Scott-Brown streng. »Ja. Sie mußte wohl so eine Art Schnellauslöser um die Taille haben. Ging alles höchst einfach.« »Hauptsache, es stört nicht die anglo-amerikanischen Beziehungen.« »Huri«, schnaubte Raikes. »Das ist nichts gegen das, was die Yankees mit unseren machen.« »Die haben gar keine Ähnlichkeit mit uns«, sagte Johnson bitter, »überhaupt keine Moral.« Lockhart schrieb aus dem New Yorker Hotel, wo er eine Woche seines Urlaubs verbrachte, an Julie: »Ich habe fast die ganze Nacht mit ein paar Zeitungsleuten Poker gespielt. Wie sind die Leute nett im Umgang, und wie großzügig haben sich alle Amerikaner uns gegenüber gezeigt! Und wie sehr sehne ich mich jetzt, nach zwei Monaten, zurück zu dir! Heute ist Sonntag, es dämmert, die Vögel zwitschern, die Karten fallen aus den nervösen Händen, die Nacht ist vorbei. Ich liebe dich und denke an dich, auch in dieser kalten, nüchternen Stunde im 412
vierzehnten Stock eines New Yorker Hotels. Ich denke daran, daß wir bald verheiratet sein werden, und denke an das Kind, das du für mich behütest. Aber bist auch du bei mir, in dieser Morgendämmerung? Schläfst du, oder bist du unruhig, denkst du an mich und träumst auch von mir? Kommt unser kleines Haus, in dem wir uns liebten, in deinem Traum vor? Schreien dort die Seemöven, kannst du durch feuchtes Heidekraut wandern, halten wir uns bei den Händen, regt sich etwas in unseren Körpern? Lebt die Liebe, wächst sie, bewegt sie sich in uns? Wie sehen deine Augen aus, deine bebenden Lippen, deine Brust, die sich gegen meine preßte? Was kommt von uns beiden in deinem Traum vor und in deinen wachen Gedanken? Nein, diese Stunde ist nicht kalt, nicht nüchtern: immer verlangt mich nach dir, überall vermisse ich dich. Du bist immer Julie, die Schwester meiner Sinne, mein Kind, meine Geliebte! Ich breite jetzt die Arme nach dir aus: wir fahren oft in der Morgendämmerung beisammen, und früher Morgen war es auch, als wir Abschied nahmen vor vielen Wochen. So gehört uns auch diese Stunde gemeinsam, so schrecklich getrennt wir sie erleben – es singen dieselben Vögel. Die Stadt beginnt sich zu rühren, durch die Gardine kommt Tageslicht. Ich berühre dich und hoffe, daß du wach bist. Erwache, Liebste: das war ein Kuß, und das meine Hand auf deiner Schulter. Wie warm du bist! Was hast du geträumt? Dies hier? O du Einzige: der frühe Morgen ist immer so, auch dieser rein männliche, in einem Raum, wo zerbrochene Gläser und Zigarrenstummel liegen, der kalte Rauch lagert und schales Wasser im Eiseimer steht. Vielleicht ist es schlecht, in solcher Umgebung zu schreiben, und schlecht, dir das zu schicken. Aber es ist nicht grausam, dich zu mahnen, daß all das, von dem ich vorher sprach, stets da ist für uns beide und wir es bald, bald wiederfinden werden. Und jetzt, in der Dämmerung, küsse ich dich und sage dir Lebewohl.« »Halt!« rief Oberbootsmann Barnard. »Mütze ab! – Signalmatrose Blake, Sir.« »Was liegt gegen ihn vor, Bootsmann?« »Hat ein Stück Kaugummi am Signalscheinwerfer kleben lassen, Sir.« »Oh –! Sie haben Ihre Ausrüstung sauberzuhalten, Blake, ob wir in See gehen oder nicht. Andernfalls wird’s unangenehm für Sie, klar? Verwarnung!« »Verwarnung, Sir. Mütze auf! Kehrt, marsch, Beeilung!« »Kaugummi, Bootsmann? Ist ja widerwärtig!« »Wir sind eben schon zu lange hier, Sir.« »Kommen Sie zum Frühstück nicht ‘runter«, hatte Ericsons Gastgeber beim Gutenachtgruß gesagt. »Das tut sonntags keiner bei uns. Schlafen Sie sich 413
ordentlich aus, Frühstück wird Ihnen nach oben gebracht.« Jetzt, an einem sonnigen Sonntag, erwartete Ericson im Bett, auf ein fernes Radio und ländliche Geräusche unterm Fenster lauschend, das versprochene Frühstück. Körperlich fühlte er sich wohl, aber seine Gedanken waren unbehaglich: Besseres als dieses Bett, dies gemütliche freundliche Zimmer und die liebenswürdige Aufnahme im Hause hätte er sich nicht wünschen können, doch er hatte dabei das bittere Gefühl einer Schuld, das er nicht loswerden konnte. Es lag natürlich am Krieg, dem sie hier entronnen waren. Saltash war nun schon über zwei Monate im Hafen und mußte noch zwei oder sogar drei Wochen in der Werft liegen, denn obgleich die Brooklyner Marinewerft gut und rasch gearbeitet hatte, ergab sich eine Verzögerung, weil Ersatzteile für die Maschine fehlten, die sich nicht herbeizaubern ließen. In normalen Zeiten wäre nichts schöner gewesen als so ein paar faule Feiertage. Da aber die Zeiten nicht normal waren, vermochte Ericson solche Ferien nur mit Beschämung hinzunehmen: während sie hier vom Besten des gastlichen Landes lebten, ging der Krieg draußen weiter, und andere mußten ihn führen: Männer, die schon fünf Jahre lang nicht im Schlafzimmer gefrühstückt hatten und deren Morgenimbiß durchweg recht kümmerlich war… Die Amerikaner hatten sich bei ihrer Aufnahme außerordentlich nett gezeigt, – ihn zum Beispiel hatte ein vollkommen fremder Mensch eingeladen – aber er wie seine Besatzung waren nun diesen Gastfreunden schon viele Wochen verpflichtet, und das Wohlleben schwächte und zerstörte die ganzen harten, langsam entwickelten Gewohnheiten des Seekrieges. Durch das Warten war alles aus dem Gleis gekommen: die Männer wie die Maschinerie. Saltash kam ihm jetzt vor wie ein nutzloses abgetakeltes Schiff, das sich vom Kampf drückte, und ihre der See entfremdete Mannschaft wurde währenddes auch der so notwendigen Disziplin entfremdet. Sie waren eben tatsächlich schon zu lange hier, und das einzige Heilmittel: wieder in den Kampf zu ziehen, war ihm noch nicht in die Hand gegeben. Es klopfte an der Tür: ein hübsches, kleines Mädchen von zehn oder elf Jahren in knallroten, langen Kattunhosen trat mit einem überladenen Tablett ein. »Guten Morgen, Kapitän«, sagte sie sehr selbstsicher, »wie haben Sie geschlafen?« »Danke, sehr gut.« »Ich werde Ihnen die Witzblätter bringen, sobald es geht, aber« – sie erklärte das ganz ernst – »in unserer Familie kann man die vor Mittag kaum ‘mal ergattern.« »Das eilt ja auch wirklich nicht.« »Papa sagt, Sie sollten tüchtig frühstücken, und vielleicht hätten Sie nach414
her Lust zu einer Partie Golf.« »Das habe ich schon lange nicht mehr gespielt«, sagte Ericson, »aber ich würde gern einen Spaziergang machen.« »Fein. – Außerdem sagte Papa noch«, fuhr sie fort, indem sie ihn feierlich musterte, »ich sollte ja keine Bemerkung über Ihre Sprache machen. Aber ich finde sie einfach fabelhaft.« »Vielen Dank. Wie heißt du denn?« »Ariane, nach meiner Großmutter, ist wohl französisch.« Sie blickte jetzt auf das Tablett. »Also hier ist Ihr Frühstück. Reicht das auch?« Ericson folgte ihren Augen. Das Frühstück bestand, außer Kaffee, aus einer mächtigen ovalen Schüssel, auf der hübsch angerichtet eine Auswahl von Speisen lag, die sich kaum mit einem Blick übersehen ließen. In der Hauptsache waren es: Speck, Würstchen, zwei Eier, ein Stück Fisch, ein indisches Reisgericht, vier Scheiben Feinbrot, Senf, Marmelade, eine Tomate, eine gebackene Banane, drei Scheiben Toast und eine Waffel mit einem dicken Klumpen Ahornsirup. »Es reicht«, sagte Ericson. »Aber bleib noch hier und erzähle mir was.« »Möchte ich gern, aber ich darf nicht lange bleiben – habe noch zu arbeiten.« Es gab Dispute, gemütliche und heftige. Es gab geteilte Meinungen über die Führung von Völkern und über das Gewinnen von Kriegen, gab Streitigkeiten mit Arbeitern an Bord, mit Kellnern an Land, mit Gästen in Bars und mit Weibern im Bett. Unterdrücktes Murren in den Mannschaftsräumen, jähes Aufflammen von Streit bei Vergnügungen, majestätischen Zorn oder üble Laune – wenn andere Leute nicht denselben Standpunkt einnahmen. Urlaubsüberschreitungen, Betrunkenheit beim Anbordkommen, Rüpeleien mit Werftwächtern, Beschwerde einer Frau über Belästigung, die an Vergewaltigung grenzte. Es kamen Vergleiche mit den Zuständen in England, Ärger über dieses Nichtstun, über den Luxus im Lande, über diesen unverdient reichen Komfort mitten im Kriege. Es gab Dankbarkeit für die netten Amerikaner, die sich bei schlechter werdender Stimmung wandelte: da war alles Nette auf einmal selbstverständlich. Es gab Gelächter, – und kein sehr freundliches – wenn Yankees dicke Töne redeten, über ihre Rationen klagten, Yankees mit Reihen von Orden, die sie sich nur damit verdient hatten, daß sie von A nach B gereist waren, Yankees, die sich großartig vorkamen und das laut zum Ausdruck brachten. Erinnerungen, anfangs nur flüchtig, an die zwei ersten Jahre der Neutralität, in denen England die blutigen Schläge bezog und fast zusammenbrach. Schlägereien und Streit, zwecklose Verglei415
che, Bitterkeit, Langeweile. Alles das gehörte zu der Periode des Stillstands, zu diesem Warten, daß es weiterginge. »Klingt mir ganz so, als ob ihr Briten bloß neidisch seid, daß Patton’s Truppen vorstoßen und eure irgendwo festsitzen.« »Nein, das ist es nicht! Aber wir mögen eben keine lauten Generale.« »Der Jammer mit diesen Menschen ist«, sagte Vincent, der ruhige, bedächtige kleine Leutnant, der seit 1939 auf Korvetten fuhr, »daß sie den Krieg nicht ernst genug nehmen. Sogar jetzt, noch 1944, stehen sie bloß mit einem Bein darin. Der reine Witz, wenn die von ›Rationierungen‹ reden, und was für ein Theater machen sie damit! Dabei kann jeder hier soviel Fleisch, soviel Butter, soviel Benzin kaufen wie er will, besonders, wenn er den Mann hinterm Ladentisch gut kennt oder den Mann, der Vorzugsscheine ausschreibt, oder den Mann in der Garage. Und dabei kommen sich die Leute immer noch schneidig vor, wenn sie mehr als ihren Anteil ergattert haben! Was mich aber am meisten stutzig macht, ist ihre Einziehungsmethode. Neulich war bei einer Gesellschaft ein Mann, der sich mächtig in die Brust warf, weil er eine Frau mit vier Kindern hatte und aus diesem Grunde zurückgestellt war. Das finde ich sinnlos… Überall sonst in der Welt: in Rußland, oder England oder Deutschland, fühlt man sich gerade, wenn man eine Familie mit Kindern hat, zum Frontdienst verpflichtet, und nicht umgekehrt: da bedeutet es, daß der Mann ganz Besonderes zu verteidigen hat und nicht allein an sich denken darf, und es ist der stärkste Grund, sich nicht zu drücken. Aber als ich das erwähnte, nahm mich kein Mensch ernst… Sie sehen den Krieg überhaupt nicht als Kampf, und nicht, daß es wichtig ist, ihn zu gewinnen: für sie rechnet er nur zu den Unannehmlichkeiten, ein Ereignis, das nur den Great American Plan stört. Aber wer schlau genug ist, kann sich heraushalten und überläßt es dem nächsten, zu kämpfen oder sich abzurackern und auf seine Bequemlichkeit zu verzichten. Auf diese Art kann kein Krieg geführt werden… Die haben lausiges Glück gehabt, daß wir den ersten Anprall abgefangen haben.« »Du hast das alles in den falschen Hals gekriegt«, sagte Raikes. »Es ist vielleicht nicht die richtige Art, Krieg zu führen, aber die richtige, um als Sieger aus ihm hervorzugehen –.« »Der Jammer mit diesen Menschen ist«, sagte Scott-Brown, »daß sie den Krieg zu ernst nehmen. Sie sehen das Ganze als höchst persönliches Drama: wirst du eingezogen, so ist das ›schrecklich‹, mußt du aus der Garnison in ein Übungslager, so ist das eine ›Quälerei‹, und wirst du über See geschickt, so ist das einfach ›Mord‹… Den Krieg sollte man so nehmen, wie er kommt, ihn nicht noch zehnmal so groß aufblasen wie er ist, bis schließlich alle zu heulen 416
anfangen. Die Zeitungen bauschen ihn natürlich auf, jetzt, nachdem Amerika eingegriffen hat: alles ist gleich eine Katastrophe, alles gleich der ›größte Sieg seit Bunker Hill‹, jeder einzelne ist ein Held, selbst wenn er nur eine schmuddlige rosa Uniform anzieht, um ein paar Messestewards in der erstbesten Kantine zu beaufsichtigen. Ich möchte mal wissen, was passiert, wenn New York einen richtigen Luftangriff erlebte! Alles, was sonst für echte Tapferkeit reserviert bleibt, haben sie schon in kleiner Münze ausgegeben, bis zu der Stunde, da sie ihrem Joe zuwinken, wenn er zur ersten Ausbildung wegfährt. Und die Zeitungen haben überhaupt keine unverbrauchten Beiwörter mehr… Nein: sie sind durchaus keine große Nation – sie sind nur eine Masse Menschen.« »Der Jammer mit diesen Leuten ist«, sagte Lockhart, »daß man sie einfach gern haben muß, auch wenn’s einem eigentlich gegen den Strich geht… Wer erinnert sich noch, wie es in der Mitte der dreißiger war? Da haben sie uns jahrelang belehrt und uns angeschrien, wir sollten Mussolini bremsen, Franco bremsen, Hitler bremsen, und das konnten sie leicht aus ihrer sicheren Entfernung, dreitausend Meilen hinter dem Atlantik. Als der Krieg ausbrach, warteten sie über zwei Jahre, bevor sie mitmachten: warteten, während wir bei Dünkirchen zur Hölle gebombt wurden und fast zweitausend Schiffe und Gott weiß wie viele Menschen verloren hatten; während wir uns bankrott machten und ihnen nahezu alle unsere überseeischen Besitzungen überließen für ihre Aufrüstung; während wir britische Stützpunkte wie Bermuda und Antigua hergaben gegen fünfzig verrottete Zerstörer, die ewig in Reparatur gelegen hatten. Dann erst entschlossen sie sich, selbst einzugreifen. Etwa stürmisch? Daß ich nicht lache! Sie kamen, weil sie von den Japanern angegriffen wurden und aus gar keinem anderen Grunde: wäre das nicht geschehen, so könnten wir noch heute auf sie warten, und Hitler ebenfalls. Wenn es wieder mal Krieg gibt«, sagte er grübelnd, »dann werde ich mich zunächst zweieinhalb Jahre davon drücken, denn das ist bisher die durchschnittliche Periode amerikanischer Neutralität. Und in der Zeit werde ich massenhaft Ermahnungen zur Tapferkeit und zum Durchhalten an die Front schicken oder vielleicht sogar einen Verein ›Kriegspakete für beide Seiten‹ aufmachen, falls gewisse Leute nett genug zu mir sind… Aber wenn dieser Krieg aus ist, wird der Amerikaner ganz obenauf sein, und dann möchte ich mein Engländertum nicht für das gesamte Gold von Fort Knox hergeben. Sie aber werden die Welt regieren, weil wir verarmt und erschöpft sein werden: sie werden alles in der Hand haben – diese kurzsichtigen Kindsköpfe, die noch nicht einmal um die erste Ecke der Weltgeschichte blicken können, diese Produkte eines maßlosen Chauvinismus –.« »Na, nun mal Ruhe«, sagte Allingham. »Das ist Krieg mit Worten, aber 417
was besagen die?« »Sie besagen, daß ich die Yankees trotzdem leiden mag, aber die freie Rede Englands entbehre. Trinken Sie noch einen Rum und Cola mit mir, Kollege.« »Der Jammer mit diesen Leuten ist«, sagte Johnson düster, »daß sie keine Vernunft besitzen: sie sind gar nicht mit uns zu vergleichen.« Er begann, ihn erneut zu lesen, ohne ihn überhaupt zu begreifen, diesen furchtbaren Brief eines Freundes: »Du wirst schon gehört haben, was mit Julie Hallam geschehen ist« – hieß es in dem Brief – »es ist entsetzlich tragisch und ein furchtbares Unglück. Sie befand sich nur zufällig in dem Wachboot in Vertretung einer erkrankten Kollegin. Soweit ich herausgehört habe, trifft niemand eine Schuld: das Boot machte spät abends die lange Strecke von Hunter’s Quay zurück, als ganz unerwartet eine scharfe Bö aufsprang; vielleicht hat außerdem der Motor versagt. In den nächsten Stunden hörte kein Mensch von dem Boot, bis schließlich ein Mann telephonisch mitteilte, er habe gesehen, wie die Laterne des Wachboots verschwand, und ob das wichtig wäre. Bis zu dieser Zeit hätten die Insassen, falls sie überhaupt so lange umherschwimmen konnten, in dem eiskalten Wasser nicht aushalten und bis ans Ufer kommen können. Schließlich gelang es uns, alle Leichen aufzufischen, – siebzehn, fast alles Urlauber, und vier Helferinnen. Ich dachte, du würdest gern Näheres erfahren, da du mit ihr befreundet warst. Wir vermissen sie hier sehr. Wann ziehst du mit Saltash wieder in den Krieg?« Vielleicht war es am besten, das so zu erfahren, fast nebenher, und von einem, der voraussetzte, daß er es schon wisse, und der deshalb nicht erst nach allerlei törichten Redewendungen suchte. Aber – ertrunken…? Die gräßlichen Bilder glitten an Lockharts Augen nur allzu willig vorüber, weil er Julie so genau kannte und weil er vom Ertrinken so viel wußte. Er sah, wie sich im Wasser ihr Haar ausbreitete um ihren hin und her wiegenden Kopf, sah, wie der trübe Fluß sie herumwälzte, während das ungeborene Kind unter ihrer Brust erkaltete. ›Ophelia‹, mußte er sogleich denken. Er war vollkommen verzweifelt in seinem Kummer, als ihm der genaue Text einfiel – »Doch lange währt’ es nicht, bis ihre Kleider, die sich schwer getrunken, das arme Kind von ihren Melodien hinunterzogen in den schlamm’gen Tod.« Schlamm in Julies Augen und Nase, Schlamm in ihrer Kehle, die eisige Kälte, die sie erfaßte, und dann die Strudel, dort, wo der Fluß sich mit dem Salzwasser vermengte… Es war wieder wie bei Compass Rose, nur war es diesmal ein einziger Schwertstreich. Aber derselbe Feind: eine kleine Welle der grausamen See hatte sie ihm für immer geraubt. Vielleicht war es wirklich besser, 418
diese Nachricht wie einen todbringenden nächtlichen Degenstoß ganz unvermittelt zu erfahren. Aber – ertrinken, Julie und ertrinken… Er schritt allein zwischen hohen Gebäuden hin, die über ihm einzustürzen schienen, ohne ihn zu zermalmen, so daß seine Gedanken nicht zur Ruhe kamen. ›Auf dieser Straße haben nie Männer geweint‹, dachte er. Keine Tränen auf der Eighth Avenue – aber was bedeuten solche Begriffe, wenn für ihn alle Begriffe im Himmel und auf Erden mit einem Schlage hinfällig geworden waren: Das Bild der toten Julie bedrängte ihn nicht mehr so stark: jetzt waren es der Kummer, das Begreifen ihres Verlustes und seine wilden Selbstvorwürfe, Vorwürfe, daß er sie nie hätte verlassen dürfen, sie sofort hätte heiraten sollen, daß er vielleicht ihren Tod verschuldet, daß er vielleicht seine Hingabe und auch ihre verraten hatte… Sie war sogar schon tot gewesen, als er seinen letzten Brief absandte: also hatte er an ein Gespenst, an einen Geist geschrieben, an eine armselige, bleiche Julie, die, als er sie zu erreichen suchte, schon verging und ihn so kalt und allein zurückließ, wie er jetzt war: niedergeschmettert und zitternd inmitten der Menschen, des Verkehrs und der Gebäude, die doch nicht einstürzten. Plötzlich sah er sie vom Ende der Straße her auf sich zukommen: Julie selbst, ihr dunkles Haar hoch frisiert, mit ihrem eigenartig knappen Gang, der das Weiblichste an ihr war. Wie gelähmt wartete er sehnsüchtig, bis sie näherkam: sie war es – keine andere ging so, keine andere hatte so herrliches Haar, keine diese Form des Kopfes. Sie war es! Der Brief mußte ein Irrtum sein, sogar die Länder waren darin verwechselt. Als sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, streckte er unsicher die Hand aus, und in dem Moment zerriß der irrsinnige Spuk, schmerzlich schwer fand er in die Wirklichkeit zurück. Die Fremde schritt erstaunt an ihm vorüber. Nicht das abscheuliche Bild des Todes, nicht der Schmerz des Alleinseins beherrschten ihn jetzt, er hatte nur noch den wilden Wunsch, sich abzulenken, zu arbeiten, Beschäftigung zu haben, um Zeit und Erinnerungen zu töten. Auf der Back hatte ein Matrose eine Trosse schlecht aufgeschossen. »Sieh mal«, fing Lockhart an, um ihm einen leichten Verweis zu erteilen, und dann fiel ihm etwas ein – er wandte sich ab, unfähig, den Satz weiterzusprechen, so daß der Mann ihn ganz verwundert ansah und froh war, so davonzukommen. »Sieh mal«, das war Julies Redensart gewesen, immer wenn er ihr zuhören sollte. »Sieh mal«, hatte sie gesagt, »du weißt ja gar nicht, was Liebe ist«, und »Sieh mal: wenn du alles von einer Frau haben willst, dann muß es von mir sein.« So jäh über dieses »Sieh mal« zu stolpern, so in einer unschuldigen Redensart ihre Stimme zu hören und ihre Berührung zu spüren, 419
das erschütterte ihn aufs tiefste und drohte ihn ganz zu vernichten, wenn es ihm nicht gelang, sich völlig von der Vergangenheit zu befreien. Denn jetzt, in seinem Unglück, war er jedem flüchtigen Traum, jeder Sehnsucht ausgeliefert, die ihr einmal gegolten hatten. ›Der Kummer verzehrt mich‹, hatte er gedacht. Und hatte gleich darauf in Ericsons Kajüte seinen Kommandanten ziemlich wild mit der Bitte überfallen: »Können wir denn nicht fort, Sir? Nicht endlich in See?« »Bald«, antwortete Ericson und betrachtete ihn voll Mitleid, das schon fast Liebe war. »Sobald wir können, geht’s los. Sie wissen, ich tue mein Bestes.« Es war – grausame Ironie – gerade jetzt eine ›gute Zeit‹, sich dem Kriege zu widmen und Körper und Geist zu kasteien. Denn als Saltash wieder auslief, war ein großartiger Moment gekommen: der Beginn des Siegens. Noch war es nicht der Sieg: der Feind hatte noch scharfe Zähne, mit denen er bei jeder Gelegenheit gefährlich zuschnappte, aber der Erfolg wurde nun sichtbar nach den langen Kriegsjahren, und Saltash kehrte zurück zu einer Flotte von Siegenden. Nur zweieinhalb Monate waren sie nicht draußen gewesen, und inzwischen war der Wandel erfolgt. Es schien, als habe der Atlantik noch eine Farbe mehr, der Himmel noch ein neues Blau bekommen, und nachts blinkten die Sterne von einem Himmel herab, der tröstend den Sieg versprach. Denn nach viereinhalb Jahren erbitterten Ringens, als die Gegner sich in verbissenem Zweikampf zu tödlicher, tückischer Wut angestachelt hatten, begann der Feind zusammenzubrechen. Das zeigte sich an kleinen Dingen und zeigte sich an großen. Es zeigte sich in der Zahl der vernichteten Unterseeboote: neunzig wurden in den ersten fünf Monaten des Jahres vernichtet. Eine Geleitgruppe allein hatte auf einer Reise von zwanzig Tagen sechs erledigt. Es zeigte sich daran, daß ungeheuer große Geleitzüge unbehelligt den Atlantik überqueren und in Massen das Material für den letzten Ansturm ausschütten konnten. Im März zum Beispiel wurde von der enormen Anzahl der in beiden Richtungen den Ozean kreuzenden Dampfer nur ein einziger versenkt. Es zeigte sich in der Taktik der UBoote, die zu einem blassen Schatten der früheren geworden war: die Boote brachen jetzt, vorsichtig und ohne Tatkraft, sobald sie auf Widerstand trafen, den Kampf gleich ab und zeigten nachher nicht die geringste Neigung, wiederzukommen. Es zeigte sich an einem U-Boot, das sich schmachvoll ergab: sein Kommandant war der erste von der Besatzung, der auf das angreifende Schiff zuschwamm. Es zeigte sich auch in einem Signal der Korvette Rose Arbour an Saltash, als diese wieder zur Gruppe stieß und das Kommando übernahm: »Freuen uns, daß Sie wieder da sind. Hatten schon Angst, Sie würden den 420
letzten Akt versäumen.« Der Mai 1944 war noch nicht ganz der letzte Akt, aber er war doch so nahe, daß dies heitere Signal seinen Sinn hatte. Das Rampenlicht für die letzten Szenen wurde heller: viel heller konnte es nicht werden, denn das Schauspiel war nun so weit fortgeschritten, daß mit großen Überraschungen am Schluß nicht mehr zu rechnen war. Bevor aber dieser Schluß erreicht werden konnte, gab es noch eine Sache für die Soldaten zu tun… An dem hellen und verhängnisschweren Morgen des Invasionstages befand sich Saltash zum ersten Mal seit vielen Monaten in nicht vertrauten Gewässern. Sie gehörte zu einer Reihe von Geleitgruppen, die in weitem Bogen vor den Ausläufern des Ärmelkanals patrouillierten, um alle U-Boote abzufangen, die in Versuchung kommen mochten, den fragwürdigen Schutz des Atlantik zu verlassen und der Invasionsküste zuzusteuern. Somit waren sie sozusagen als Wächter an die Hintertür postiert, aber Ericson zumindest war sehr froh, daß er eine wenn auch noch so locker mit dem noch sagenhaften Hauptangriff verbundene Aufgabe hatte. Am 6. Juni 1944 gab es nur ein Stück Land und Wasser, auf das die Kraft zu konzentrieren sich lohnte, und jeder Soldat, Seemann oder Flieger, der da nicht mitmachen konnte, verpaßte einen einmaligen geschichtlichen Augenblick. Weit zu beiden Seiten von ihnen erstreckten sich die Linien der Zerstörer, Fregatten und Korvetten, die mit ihrem Suchsystem eine Fläche von fünfhundert Quadratmeilen deckten. Dieses pausenlose Patrouillieren verlangte Geduld, während alle halben Stunden neue Nachrichten im Rundfunk durchkamen und nachher, als sie wußten, daß in ihrer Nähe, dicht hinter dem Horizont, die gigantische Armada ihren ersten Vorstoß gemacht hatte. Da sie der Schlacht nur aus der Ferne folgen durften und über die Bedeutung des Unternehmens nicht im Zweifel waren, konnten sie nur hoffen und beten. So standen die Männer auf den Sicherungsfahrzeugen von fern ihre Wache, doch andere, die drüben kämpften und starben, während Saltash friedliche Kreise zog, machten diese Stunden zu den feierlichsten und packendsten des Krieges, die jeder Nichtbeteiligte nur in Bescheidenheit hinnehmen durfte. »Ich bin froh, daß wir immerhin ziemlich in die Nähe gekommen sind«, sagte Ericson, der auf der Brücke stehend die übrigen Schiffe seiner Gruppe beim Wenden an der Grenze ihres Sektors beobachtete. »Ist nicht gerade großartig für uns, aber wir gehören doch wenigstens mit zum Hauptkriegsschauplatz.« »Ich wollte, wir hätten mit ‘rübergehen dürfen«, sagte Lockhart schwermütig. »Ein paar Fregatten sind ja mit eingesetzt.« Er blickte nach Nordosten, wo in der Ferne die Umrisse von Land’s End und den Scilly-Inseln wie vio421
lette Schatten am Horizont lagen: »Eigentlich seltsam: jetzt bin ich zum ersten Mal in all diesen Jahren in der Nähe unseres Kanals.« »Ist die richtige Zeit, hierherzukommen«, sagte Allingham, der, von der allgemeinen Spannung erfaßt, auch auf die Brücke gekommen war, denn dies war kein Tag, um allein oder von seinen Freunden getrennt zu sein. Er blickte auf die Uhr. »Schon Mittag. Möchte wissen, wie die Sache verläuft.« »Sie muß gut verlaufen!« sagte Lockhart fast heftig. »Es ist der Wendepunkt des ganzen Krieges… Und ausgerechnet wir müssen jenseits der Mauer stehen.« Zum ersten Male fand sich die Besatzung an einem anderen Kriegsschauplatz als ihrem ›eigenen‹ beteiligt. An diesem Tage bedeutete der gewaltige Atlantik gar nichts: der gesamte Seekrieg und alle Kriegsschauplätze waren zusammengeschrumpft auf ein paar Meilen Strand und wenige Meter flachen Wassers – alles übrige zählte jetzt nicht mit. Saltash bewachte die Hintertür: nordwärts ging ihr Weg bis nach Land’s End, ostwärts den Kanal hinauf bis zum Sund von Plymouth, südwestwärts bis Brest. Der Sektor wurde täglich geändert, aber Zweck und Verfahren blieben die gleichen. Als Sicherheitsmaßnahme erwies dieser Patrouillendienst seinen Wert: die U-Boote verließen tatsächlich den Atlantik, wohl weil sie meinten, sich aus den Schiffsmassen vor der Normandie leichte und reiche Beute holen zu können. Daher hatten die Sicherungsfahrzeuge, die zu Dutzenden in ihrem Weg lagen, Gelegenheit zu entscheidenden Schlägen. Von den U-Booten brachen nur ganz wenige durch, und diese kamen zu keinerlei Angriffen auf die den Kanal kreuzenden Geleitzüge. Allerdings versuchten sie es, erlitten aber Verluste, die im Verhältnis zu ihrer Anzahl die schwersten des ganzen Krieges wurden. Auch Saltash trug, unter Mitwirkung von Streamer, zu dieser Verlustquote bei: sie trieb ihre Beute dicht unter Land in die Enge, querab von Start Point an der Küste von Devon, und jagte sie mit erstaunlich wenig Mühe an die Oberfläche. Die Besatzung fand es sonderbar, und auch ein bißchen aufregend, daß sie, während sie ein U-Boot zu Tode hetzten, ständig scharf auf die Wassertiefe unterm Kiel und die Felsen vor der Küste achten mußten, denn bisher hatten sie immer so reichlich viel Platz zum Jagen gehabt, daß sie jetzt – nachdem sie ihr wahres Element verlassen hatten, in einem Goldfischteich zu plätschern meinten. Noch verblüffender war für sie, daß ihnen von der nächsten Landspitze Menschenmengen zuwinken konnten. Das war ja ein völlig anderes Bild als im Atlantik. Aber schön war, daß sie in diesem kritischen Zeitpunkt wieder ihre Existenz rechtfertigen konnten, während andere das auf so harte, blutige Weise taten. Im übrigen aber – dachte Ericson – rechneten sie im großen Strom der 422
Kriegsereignisse kaum mit, sondern blieben fast wie Zuschauer am Rande. Selbst sein Sohn war stärker beteiligt: dessen Schiff war am vierten Invasionstag eingesetzt worden. Als sie bald danach wieder in ›ihrem‹ Gebiet auf dem Atlantik waren, kam es ihnen vor, als zögen sie durch die Straßen einer leeren Stadt, deren Bewohner zu einem interessanteren Schauspiel ausgewandert waren. Jetzt war der Atlantik wirklich der Ozean des Sieges: kaum je kam ein U-Boot in Sicht, während riesige Geleitzüge – einer mit der Rekordzahl von hundertsiebenundsechzig Schiffen – mit dem so nötigen Nachschub für die sich ausdehnenden französischen Schlachtfelder unbelästigt den Ozean überquerten. Einige Dampfer, die Saltash beschützte, waren bereits direkt nach Cherbourg bestimmt – welch eine Wendung im Vergleich zu früheren Zeiten, als sie unter ungeheuren Schwierigkeiten, unter ständigen Angriffen aus der Luft und in See, wie die Mäuse in die Bucht von Liverpool geschlichen waren…! Aber so standen die Dinge jetzt, und so blieben sie bis zum Ende des Jahres: die U-Boote wurden, nachdem sie ihre Stützpunkte in der Biskaya verloren hatten, bis nach Norwegen und sogar in die Ostsee zurückgedrängt, und für Störfahrten in die weiten ›Western Approaches‹ war ihr Weg von der Ostsee sehr weit und nicht leicht. Die britische Marine hatte mehr als genug zu tun, da infolge der hohen Anforderungen von Schiffsraum für den Pendelverkehr über den Kanal die Knappheit an Sicherungsfahrzeugen chronisch wurde. Außerdem konnte sich die deutsche Strategie jeden Augenblick überraschend ändern und der Versuch gemacht werden, die Lebenslinie am atlantischen Ende abzudrosseln. Zumeist aber hatten die Sicherungsboote in See jetzt einen zwar harten, aber monotonen Dienst ohne Höhepunkte und ohne große Krisen, ungefähr so wie in den ersten Kriegsmonaten, als es noch nicht genug feindliche U-Boote für eine intensive Kampfführung gab und diese wenigen noch keine fest umrissenen Operationspläne hatten. Die Sicherungsfahrzeuge hatten ihren Feldzug hinter sich, und mancher mochte glauben, daß sie, nach ihren Erfolgen zu urteilen, sich ihre fünfjährigen Anstrengungen hätten sparen und viele Schiffe und Männer erhalten können. Aber vielleicht hatte es bewiesen werden müssen – dachte Ericson, als er Saltash, zum zwanzigsten Male, in St. Johns an die Pier legte, nach einer ereignislosen vierzehntägigen Atlantikfahrt, nach der seinem Schiff nichts weiter fehlte als ein neuer Außenanstrich. Vielleicht hatte es bewiesen werden müssen, und einen anderen Weg hatte es dafür nicht gegeben, keinen andern, der ihnen ein ruhiges Gewissen verschafft hätte, als mit diesen er423
schütternd hohen Kosten der fünfjährigen Wege… Weihnacht in heimatlichen Gewässern, Weihnachten vor Anker im Clyde. Jeder spürte, daß es die letzte Kriegsweihnacht war, aber keiner ließ den Gedanken laut werden, aus geheimer Furcht vor der Rache der Weltgeschichte. In der Messe veranstalteten sie eine Feier, die sich von den früheren nicht unterschied: sie tranken viel, Ericson nahm eine Weile daran teil und entfernte sich dann diskret, die Stewards waren angeheitert und kippten die fette Cognacsoße über den Puterbraten. Am Kopf der Tafel präsidierte Lockhart, der mechanisch die Gebräuche des Tages erfüllte: für ihn war es nicht anders als das letzte und das vorletzte Weihnachten – Teil des Krieges und Teil seiner Aufgabe, die nie enden wollte. Aber voriges Jahr hatte es Julie gegeben, dieses Jahr nicht. Traurig, daran zu denken: er aß und trank und machte Scherze über des Fähnrichs Freundin… Am Nachmittag, als das Schiff schlief, hatte er das scheußliche Massengrab aufgesucht, in dem Julie lag. Aber auch dort hatte er nichts Besonderes empfunden, nur die Kälte des Tages, einen stechenden Schmerz in der Brust und das Alleinsein. Die üblichen leeren Gedanken, das übliche wehe Gefühl inneren Hungers. »I.O.!« »Verzeihung.« Er riß sich zusammen. »Was hatten Sie gesagt, Fähnrich?« »Ich hab’ den Junggesellenknopf im Pudding gefunden!« Er machte eine passende Bemerkung. Vielleicht wurde das Leben einmal wieder schöner für ihn, eines Tages…
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VII 1945 DER LOHN DES SIEGES »Und deshalb«, sagte Vincent, als die Unterrichtsstunde sich schleppend ihrem Ende näherte, war es absolut richtig, gleich in den Krieg einzutreten, und ist es noch wichtiger, daß wir unser Bestes tun, um ihn jetzt zu gewinnen.« Er schloß, wenig von seinen eigenen Worten überzeugt, sein Notizbuch und legte es auf das Büchlein mit dem Titel Army Bureau of Current Affairs, aus dessen Text er seinen Unterricht entwickelt hatte. Dann blickte er hoch und betrachtete unsicher die Reihen der stumpfen Gesichter seiner Männer, die ihm im unteren Mannschaftsdeck zuhörten. Dicht nebeneinander blickten die Augenpaare ihn bewegungslos an, kaum eins hatte einen besonderen Ausdruck: einige sahen gelangweilt aus, andere feindselig, die meisten aber wie betäubt durch die Wärme des Raumes. Das waren also die Augen von Männern, die einen Pflichtvortrag über die britischen Kriegsziele anhörten. Wie bei vielen früheren Gelegenheiten, dachte Vincent, hatte das Buch von Army Bureau wieder seine Wirkung verfehlt… Er räusperte sich, der ganzen Geschichte überdrüssig, und wußte nur einen Weg, um die Zeit bis zum Schluß auszufüllen. »Hat jemand noch Fragen?« Nach ein wenig Bewegung in den Reihen trat wieder Schweigen ein. Viele schlugen die Augen nieder oder blickten zur Seite, als hätten sie Angst, in diesem kritischen Moment mit Vincent zu tun zu haben. Laut summten die Lichtmaschinen, Saltash schwojte leicht um ihren Anker, die durchs Bullauge fallenden Sonnenstrahlen wanderten über die Füße der Männer in der vordersten Reihe. Im Hintergrund machte sich endlich einer bemerkbar und rief: »Sir!« »Ja – Woods?« Natürlich Signalgefreiter Woods! Er war stets der erste, und manchmal der einzige, der Fragen stellte. Woods hoffte, zum Signalmaaten vorgeschlagen zu werden, und Vincent war der einzige Offizier, von dem er das erwarten konnte. »Sir – wenn wir alle diese Nazis erledigen, wer soll dann das Land regieren? Deutschland, meine ich. Wer wird die Regierung bilden?« ›Ich müßte den Mann ermuntern‹, dachte Vincent, ›und müßte jetzt sagen: Das ist wirklich eine sehr interessante Frage, Woods. Aber das ist sie nicht, sondern eine ganz blöde, weil sie mir zeigt, daß der Mann überhaupt nicht 425
zugehört hat.‹ »Wie ich schon erwähnte«, sagte er, »sind wir überzeugt, daß es in Deutschland auch genug Nazigegner gibt, um eine vernünftige Regierung zu bilden. Diese Leute brauchen nur hervorzukommen und –« er schloß recht lahm –» dann wird das eben gemacht.« »Danke sehr, Sir«, sagte Woods höflich, da er seine Anstrengung belohnt sah. »Ich wollte es nur genau wissen.« Wieder herrschte Schweigen im Raum. ›Eigentlich sollten wir hier eine lebhafte, flotte Diskussion haben‹, dachte Vincent, ›aber es will nicht klappen. Eine ganze Reihe rascher Fragen müßte kommen, dann die Argumente für und wider, schließlich von einem intelligenten Matrosen wieder ein neuer Gesichtspunkt, und dann ganz aufgeregte Debatten über die neu angeschnittene Frage und so weiter…!‹ An diesem Versagen war er, das sah er ein, hauptsächlich selbst schuld. Der Stoff interessierte ihn zwar, aber es war ihm nicht gelungen, das Interesse seiner Hörer zu erwecken. So war die Stunde nichts weiter geworden als ein Zeitausfüllen zwischen Reinschiff und ›Backen und Banken‹, beliebter zwar als Geschützexerzieren oder Farbewaschen, aber nicht so begehrt wie Tombolaspielen oder Nichtstun. Doch da kam ja noch jemand mit einer Frage zum Vorschein, zur Abwechslung mal ein Heizer. »Sir«, sagte der stockend, »als Sie davon sprachen, daß wir für eine bessere Welt kämpfen« – ›Hat meine Redewendung denn so greulich geklungen wie jetzt bei dem?‹ dachte Vincent –, »hatten Sie da an den Völkerbund gedacht oder sowas? Daß kein Krieg mehr kommen kann?« ›Eine bessere Welt!‹ dachte Vincent. Wie sollte er das kurz und verständlich einem Heizer erklären, der vor dem Kriege als Lehrling bei einem Kesselschmied gearbeitet hatte? Er wußte wohl, welche Fragen in diesen Komplex hineinspielten: die vier Freiheiten, Achtung der Gesetze, Ende der Tyrannei, Sturz des Bösen – aber all das hatte er in diesem Unterricht doch schon so gut wie möglich erklärt, mit Einzelheiten, wo sie ihm notwendig erschienen. Und das alles hatte offensichtlich bei diesem Frager nicht den leisesten Eindruck gemacht, nichts war bei ihm haften geblieben… ›Ich kann das nicht noch einmal durchkauen‹, dachte er verzagend, ›erstens ist nicht mehr Zeit genug, und zweitens ist es zwecklos, wenn die Worte und Begriffe, die so viel bedeuteten, diesem Mann und diesem ganzen Raum voller Männer so wenig sagen.‹ »Einen Völkerbund oder eine ähnliche Einrichtung wird es in der Nachkriegszeit sicherlich geben«, sagte er. »Eins der Ziele, für das wir kämpfen, ist: dem internationalen Recht wieder Geltung zu verschaffen, und das heißt, wenn eine Nation einen Krieg anfangen will, daß sich dann die übrige Welt 426
wirklich vereint, um es zu verhindern. Aber als ich von einer besseren Welt sprach« – er schluckte – »da meinte ich: eine bessere für den einzelnen – Freiheit von Furcht, keine Arbeitslosigkeit, persönliche Sicherheit, anständige Löhne, alle diese Dinge.« Wieder herrschte Schweigen. ›Haben diesmal meine Worte Eindruck gemacht?‹ fragte sich Vincent. ›Haben sie einen Funken entzündet? Ist hier überhaupt die Möglichkeit, daß einer zündet?‹ Jetzt sprach ein Dritter, der seine Zweifel in den kurzen Satz faßte: »Wird dann also alles anders?« Was sollte er darauf antworten? Ich hoffe es? »Ich hoffe es«, erwiderte er. Ein Vierter sprach nun, verächtlich, in vermutlich auswendig gelernten Phrasen aus einem politischen Pamphlet: »Aber immer wird es Arbeitgeber und Arbeitnehmer geben, das ist doch klar.« ›Das liegt außerhalb unserer Diskussion’‹ dachte Vincent – jedoch: durfte er denn hier etwas außer Diskussion stellen? Wenn dieser Mann für eine Welt gekämpft hatte, in der nicht mehr der Arbeitgeber herrschte, warum sollte er das nicht aussprechen dürfen? Und sogar wenn er glaubt, daß sein Kampf um dieses Ziel erfolglos geblieben ist, warum soll er nicht auch das sagen? Aber es ist ja im Grunde kein Krieg um das, was der unter Arbeitgeber versteht, und ich glaube kaum, daß er sich, als er in die Marine eintrat oder eingezogen wurde, auch nur einen Moment darüber den Kopf zerbrochen hat. Aber diese Frage war tatsächlich ein Nachkriegsproblem: es konnte sogar sein, daß der Krieg im tiefsten Grunde geführt wurde, um die ganze Reihe der Sklavenhalter endlich zu erledigen, die großen Tyrannen wie Hitler und die kleinen Vorarbeiter mit scharfer Zunge. Stimmte das, so waren sie hier bei einem gefährlichen Thema. In der Broschüre stand gar nichts über das Verhältnis ›Herr und Knecht‹, da war die Tyrannei nur auf internationaler Grundlage beleuchtet… Und das war der Punkt, in dem er versagt, das Interesse seiner Zuhörer nicht angeregt hatte: die große Linie, das moralische Prinzip. – Diese Fragen waren überhaupt nicht aufgeworfen worden. Er wollte eine allgemeine Antwort geben, da meldete sich wieder Signalgefreiter Woods, diesmal in vorwurfsvollem Ton: »Mit Arbeitgebern hat das überhaupt nichts zu tun. Das ist bloß Rederei. Auf die Kriegsziele kommt’s an: was getan werden soll, wenn wir gewonnen haben.« Und nun trat ein endgültiges Schweigen ein: spontane Beteiligung war jetzt nicht mehr zu erwarten. ›Die letzte Woche ging es mit dem Unterricht viel besser‹, dachte Vincent: aber da hatte auch das Thema Geschlechtskrankheiten zur Debatte gestanden… Er suchte nach einer Redewendung, die geeignet war, neue Fragen anzuregen, fand jedoch keine: das Thema war ›durch‹. Das Ergebnis war niederschmetternd und unabänderlich. Wie aus der Ferne waren 427
jetzt Pfeifentriller vernehmbar: die Gesichter der Zuhörer hellten sich auf, sie begannen mit den Füßen zu schurren. Das Pfeifen kam näher und mit ihm die Stimme des Bootsmanns: »Backen und Banken!« In den hinteren Reihen rührten die Männer sich stärker angesichts des ersten erfreulichen Gedankens an diesem Vormittag. Vincent nahm seine Papiere auf. »Damit ist Schluß«, sagte er. »Sie dürfen sich noch weiter unterhalten.« Als er in die Messe kam, blickte Allingham ihn an: »Na, was ist los, Vincent? Nase voll?« »Ja«, erwiderte Vincent, ging zur Anrichte und schenkte sich einen Schnaps ein. »Ich glaube, mein Unterricht bringt nicht viel zuwege.« »Was für ein Thema war es heute?« »Kriegsziele – Nachkriegsaussichten…« Er drehte sich um. »Hätte eigentlich interessant sein müssen. Und ich finde es auch interessant. Aber sonst scheint es keinen Menschen zu interessieren.« »Auf ein paar von den Leuten trifft das sicherlich zu«, sagte Allingham, um ihm nicht den Mut zu nehmen. Vincent schüttelte den Kopf. »Nein. – Es ist so schwierig, diese Dinge überzeugend zu behandeln, sie auch nur einleuchtend zu erklären. Moralisch gesehen: Menschen sollten nicht gezwungen werden zu kämpfen, wenn sie nicht begreifen, worum es tatsächlich geht, und nicht daran glauben würden, wenn sie’s verständen.« Er sah Allingham gespannt an. »Meinen Sie, daß es wichtig ist?« »Daß wir genauere Erklärungen geben – den Krieg sozusagen aufputzen und ihn zu einer Frage der persönlichen Überzeugung machen?« »Ja.« Allingham überlegte mit gefurchter Stirn. »Ich habe das immer getan. Sogar schon gleich zu Anfang des Krieges. Aber jetzt habe ich da gewisse Zweifel. Gewinnen müssen wir diese verfluchte Kiste, einerlei mit welchem Material, und ob wir wollen oder nicht… Vielleicht ist der Unterschied letzten Endes auch gar nicht so groß, ob das mit oder ohne Anfeuern geschieht – sobald der Mensch im Kampf steht, mitten in der Gefahr. Der Matrose Smith schreit ja nicht, wenn er ein paar Salven auf ein Flugzeug ballert: »Wieder ein Schlag zugunsten der Demokratie!«, sondern ruft: »Ich habe den Hund!«, wenn er trifft, und »Sch….«, wenn er vorbeischießt. Jedenfalls will er nicht getötet werden, und für diesen Gedanken braucht er weder spezielle Instruktionen noch moralische Korsettstangen.« »Aber wie ist es mit Ihnen selbst – brauchen Sie dergleichen?« »Nicht einmal das könnte ich erklären. Ich bin weit hergekommen, um in diesem Krieg mitzukämpfen, weil ich ihn anfangs für eine Art Kreuzzug hielt – aber vielleicht wäre ich auch sowieso gekommen…« Er lächelte, stand auf 428
und ging auch zur Anrichte, wo er die Ginflasche ergriff. »Denn nicht dabei zu sein, ist nicht gut, nicht einmal für ferne Australier.« »Aber wenn es nichts anderes ist als ein Krieg«, sagte Vincent niedergeschlagen, »dann ist er gar nicht wert, gewonnen zu werden, und ist auch die ganzen Strapazen nicht wert.« »Aber noch weniger dürfen wir ihn verlieren, soviel steht fest«, sagte Allingham mit Überzeugung. Er erhob sein Glas und tat einen tiefen Zug, als trinke er bereits auf den Sieg und sein Überleben. Dann lächelte er wieder. »Nicht den Kopf hängenlassen, Junge! Jedenfalls ist es jetzt zu spät, darüber zu grübeln.« Nun trat eine Stille ein, die aber freundlich und nicht bedrohlich wirkte: es war eher wie eine Pause vor dem Beginn der Ferien, nicht das Anhalten am Rande des Grabes. Die transatlantischen Geleitzüge dampften ununterbrochen ihren Weg, doch ihre Fahrten verliefen jetzt anders: sie waren wieder wie in der ersten Zeit des Krieges, nur dann und wann passierte einem Schiff und einer Besatzung etwas, aber es waren eigentlich immer Außenseiter, die Pech gehabt, oder Anfänger, die wahrscheinlich einen dummen Fehler gemacht hatten… Im allgemeinen aber hielten die U-Boote sich fern, aus den verschiedensten Gründen, die sich nur erraten ließen: vielleicht war es Furcht, vielleicht ihre unterlegene Zahl, oder eine Reorganisation war im Gange, um alle Kräfte für einen mächtigen Endschlag aufzusparen. Was immer der Grund sein mochte: der Frühling in diesem Jahr gab ihnen, was jeder Frühling dem Menschen geben sollte: Erleichterung, Hoffnung und günstige Vorzeichen in reichem Maße. Ericson hatte diese Ruheperiode wohl ebenso nötig wie Saltash. Die überstandenen Strapazen konnten Kenner gewiß eher an dem Schiff ablesen als am Gesicht des Kommandanten, womit freilich nicht gesagt war, daß Ericson ihre Wirkung weniger gespürt hätte… Seine Leute hatten sich inzwischen an sein graues Haar und sein strenges Gesicht gewöhnt, das mit derselben Gemessenheit auf ein sinkendes Schiff, einen Toten, einen Mann mit blöder Ausrede beim Rapport oder eine schöne Besucherin der Messe blickte. Hinter dieser starren Maske verbarg er seine Ermattung. Saltash aber hatte keine Maske. Sie war nun seit zwei Jahren im Einsatz, hart und ohne Gnade von Wetter oder Feind beansprucht: sie sah abgekämpft aus, Salzstreifen zeichneten den Rumpf, der hier und da Beulen hatte – ein typisches Sicherungsfahrzeug aus den ›Western Approaches‹, dem seine ganze Kriegslaufbahn auf einen Blick anzusehen war. Ericson fragte sich, als er von einem Motorboot aus Saltash betrachtete, mehr als einmal, wie Compass Rose wohl ausgesehen hätte, wenn sie noch 429
am Leben und im Einsatz wäre. Bestimmt nicht so schön, wie er sie noch im Gedächtnis hatte, denn einige von diesen ersten Korvetten, die seit 1939 noch auf dem Atlantik im Einsatz waren, – zum Beispiel Trefoil, Campanula und in seiner eigenen Gruppe Petal – wirkten wie alte, verbrauchte Straßenweiber, die zu lange ihrem Beruf nachgegangen waren. ›Und so sehe ich weiß Gott auch aus‹, dachte Ericson erbittert. Er kam ins fünfzigste Jahr und sah auch nicht eine Stunde jünger aus. »Ich bin zweiunddreißig«, hatte ihm Lockhart einmal gesagt, als er ihn nach dem Alter fragte, »die besten Jahre meines Lebens sind dahin…« Das stimmte natürlich nicht ganz, wie Lockhart wohl wußte, denn für ihn waren die Jahre nicht verloren, obgleich der Krieg soviel unnütze Kraft vergeudete. Er hatte sich inzwischen rasch entwickelt und war ein ganz anderer Mensch als der siebenundzwanzigjährige, ziellose und nicht einmal sehr gute Journalist, der 1939 in die Marine eintrat. Ihm hatte der Krieg etwas gegeben, für das seine persönlichen Kosten nicht einen Deut zu hoch waren: wohl hatte er fünf Jahre für Reisen und die Schriftstellerei verloren, aber dafür in jeder andern Weise gewonnen: an Beherrschung, Verantwortungsgefühl, Selbstvertrauen und Furchtlosigkeit… Lockhart sagte sich selbst oft, daß diese Entwicklung ihm nach dem Kriege zustatten kommen werde. ›Man kann nicht mehr mit mir machen, was man will‹, dachte er, ›aber ich selbst weiß jetzt, was ich will.‹ Ihm war diese Kampfpause ebenso willkommen wie Ericson, um so mehr, als er erkannte, daß sie ganz folgerichtig kam: so mußten einfach in diesem Stadium die Dinge laufen, wenn der erhoffte Ausgang des Krieges zur Gewißheit werden sollte. ›Wenn ich die Geschichte dieses Kampfes zu schreiben hätte‹, dachte er, ›dann würde ich das Buch mit der jetzigen Periode abschließen, denn wir haben den Punkt erreicht, an dem nichts mehr geschieht: jetzt gewinnen wir eben den Krieg, und weiter hätte ich dann nichts mehr zu sagen. Das wäre tatsächlich die Pointe der ganzen Geschichte: daß am Schluß nichts mehr geschah, sondern allmählich alles in Stille überging‹ Dieses allmähliche Zur-Ruhe-Kommen war ihr Sieg… Er zitierte für sich klassische Verse über ›Unternehmen von großer Bedeutung‹, die ›den Namen Kampf verloren hatten‹. Gott sei Dank hatten ihre Unternehmungen diesen Begriff nun auch verloren: er dankte Gott, daß er in dem herrlichen Frühling des Jahres 1945 noch am Leben sein durfte, was er vorher niemals erwartet hätte, nachdem unzählige Männer, die fünf Jahre lang versucht hatten, ihn zu töten, selbst umgekommen waren. Jetzt geschah wirklich nichts mehr, und um dieses ›Nichts‹ hatten sie die ganze Zeit gekämpft. Wäre nur Julie noch am Leben, um mit ihm diesen Augenblick zu genießen und um der Stunde, die ihm nüchterne Genugtuung brachte, auch 430
Wärme und Glück zu geben… April. – Der April brachte ihnen im Atlantik die wenigen letzten Überraschungen ihres Krieges, und eine von ihnen, während der Rückreise mit einem nach Liverpool bestimmten Geleit, war die unangenehmste seit langer Zeit. Nach der Ruhe waren die letzten Wochen wieder sehr lebhaft gewesen: der Feind besaß noch ungefähr siebzig kampffähige U-Boote, und wenn auch bei dem kurzen, heftigen Aufflackern dreiunddreißig von ihnen vernichtet wurden, so kostete es doch auch viele Schiffsverluste. Bei einer dieser Gelegenheiten verlor Saltash einen Dampfer sozusagen vor der Haustür, mitten in der Irischen See, in Sichtweite der Heimat. Das Schiff wurde dicht hinter dem Steven getroffen und sank so langsam, daß mit Verlust von Menschenleben kaum zu rechnen war, aber trotzdem versetzte ihnen dieser plötzliche Zwischenfall im letzten Abschnitt einer Geleitfahrt und im letzten Teil des Krieges einen ziemlichen Schock. Als sie beobachteten, wie Streamer auf der anderen Seite des Geleitzuges einen Gegenangriff fuhr, wollten sie noch immer kaum glauben, daß hier ein U-Boot am Werk gewesen sein sollte. War nicht der Krieg so gut wie zu Ende, waren nicht die U-Boote endgültig geschlagen und, laut Bericht, ›kein feindliches U-Boot mehr in küstennahen Gewässern‹? Wohl hatten sie zu spüren bekommen, daß der April sich in See schlimm anließ, da der Feind offenbar eine letzte, verzweifelte Anstrengung machte, um die Niederlage abzuwenden, aber so deutlich war ihnen das bisher nicht vor Augen geführt oder mit so jäher Gewalt bewiesen worden. Daraus entstand ein Gefühl starker Unruhe und nervöser Vorahnungen, das noch lange nach Besserung der Lage anhielt. Wenn so etwas passieren konnte, dann erweckte es nicht nur die schlimme Vergangenheit wieder zum Leben, sondern bedrohte auch aufs äußerste die vielversprechende Zukunft. »Ihr blöden Hunde«, sagte Raikes, als die erste Aufregung vorüber, das UBoot von Streamer prompt vernichtet worden und die Besatzung des Dampfers geborgen war, »ihr blöden Hunde hättet beinah noch ein paar von uns umgebracht!« Damit sprach er aus, was alle in dieser Stunde dachten: ihre Hoffnung, lebend durchzukommen, und ihre jagende Hast, hier aufzuräumen und weiterzukommen, ehe neue Gefahren sie überfielen und sie ihr Leben nochmals aufs Spiel setzten. Vielleicht verlangte der Krieg jetzt nur noch zwei oder drei Geleitfahrten von ihnen, und so war es denkbar, daß möglicherweise nur noch ein Sicherungsfahrzeug das Opfer wurde. ›Laß es nicht unseres sein‹, dachten sie, ›nicht jetzt mehr, nicht mehr so spät, nachdem fast alles erledigt ist und schon alle so gut wie gerettet sind…‹ Ja, Raikes auf der Brücke hatte für sie alle gesprochen, und später in der Messe kamen sie wie431
der darauf und sprachen so eifrig davon, daß deutlich wurde, wie tief dieser Torpedoschuß alle Mann an Bord beeindruckt hatte. »Nie im Leben habe ich mich so erschrocken«, sagte Allingham, nahm sich einen Schnaps und trank gleich noch einen zweiten. »U-Boote in der Irischen See – zu dieser Zeit noch? Die Kerle müssen total irrsinnig sein!« »Irrsinnig oder nicht«, sagte Scott-Brown, »es ist nun einmal passiert und kann nochmals passieren. Besonders, wenn es ihre letzte Chance ist, und sie wissen das genau. Dann gehen sie eben aufs Ganze, und es ist ihnen vollkommen gleichgültig, was hinterherkommt, wenn sie uns nur schaden können. Der Angriff heute nachmittag war ja der reine Selbstmord, und trotzdem haben sie ihn gefahren. Und mit so ähnlichen oder noch schlimmeren Sachen müssen wir auch weiter rechnen.« »Meine ganze Hoffnung ist, daß nicht ausgerechnet wir dem nächsten Torpedo in den Weg laufen«, sagte Raikes. »Wozu habe ich denn alles lebend überstanden, um jetzt noch kurz vor Schluß eins verpaßt zu kriegen!« »Auch meine Kriegsziele würde das ganz beträchtlich stören«, sagte der Fähnrich entschlossen. »Aber der Kampf ist doch zu Ende!« sagte Allingham mit heftigem Nachdruck. »Wir sind über den Rhein, können schon fast den Russen die Hand geben, und Hitler ist wahrscheinlich auch schon tot. Was wollen die denn hiermit nur noch erreichen?« »Vielleicht gar nichts«, mischte sich plötzlich Vincent ein, der still neben der Heizung gesessen hatte. »Sie kämpfen eben einfach noch weiter, das ist alles… Wenn wir so kurz vor der Niederlage wären, würden wir nicht dasselbe tun, und wenn es noch so hoffnungslos aussähe?« Er blickte sie der Reihe nach an, auf eine Antwort wartend. »Ich würde genau das tun, was mir befohlen wird«, sagte der Fähnrich bescheiden, »aber ich würde mich wohl kaum noch für Sonderaufgaben freiwillig melden. –« »Aber wenn es wirklich hoffnungslos wäre –«, fing Allingham wieder an, brach jedoch den Satz ab und sagte nach einer Weile lächelnd zu Vincent: »Sie haben ganz recht: es ist das einzige, was die noch tun können, und ich hoffe, wir würden es ebenso machen. Die haben wirklich eine Bombencourage, das muß man ihnen schon lassen.« »Von mir aus können sie sich jede Anerkennung verdienen«, sagte ScottBrown, »solange sie es nicht durch die Versenkung von Saltash tun.« Raikes nickte. »Genau das dachte ich heute nachmittag. Es mag ein bißchen egoistisch klingen – aber es wäre wirklich ganz verdammtes Pech, jetzt noch zu fallen.« 432
Mai wurde es, und jetzt, jetzt konnte doch wirklich nichts mehr schiefgehen, nichts ihnen den Sieg rauben, oder das Leben. Saltash befand sich, von der Gruppe getrennt, auf einer unabhängigen Fahrt von Island nach Hause, als sie den ungewöhnlichen Befehl empfing: »Auf Patrouillenfahrt bleiben im Gebiet um Rockall.« Und nun dampfte sie in einem Quadrat von fünf Meilen um diesen einsamen, so unerklärlich spitzen Felsen, der der Gipfel eines mitten im Ozean gelegenen Berges sein mußte – Rockall, aus den Tiefen des Atlantik brechend und nur wenig über die Meeresfläche ragend, dreihundert Meilen vom Festland. Rockall, ohne Leuchtfeuer, der gemiedene Friedhof zahlloser Schiffe und vieler U-Boote. Warum gerade Rockall? fragte sich Ericson. Wollten Ihre Lordschaften Saltash für einen Notfall in Reserve halten? Und wieso ›Patrouille‹? Das hieß doch, daß etwas erwartet wurde, wofür keine ganze Geleitgruppe nötig war, sondern nur ein einzelnes Schiff. »Ich glaube, dies ist der Schluß der ganzen Geschichte«, sagte er vertraulich zu Johnson, als sie die Brennstofflage besprachen. »Über wieviel Öl verfügen Sie noch, L.I.?’ »Ungefähr zweihundert Tonnen, Sir. Also für etwa vierzehn Tage, bei normaler Marschfahrt.« »Ich glaube kaum, daß wir sehr schnell zu laufen haben werden. Vorläufig kommt es nur darauf an, daß wir hier zur Stelle sind.« Johnson blickte ihn merkwürdig an. »Für wie lange wohl, Sir?« »Weiß ich selbst nicht, L.I. Bis die Friedensglocke läutet.« Saltash dampfte langsam ihre Kreise. Schiffe waren nirgends zu sehen, auch Geleitzüge waren nicht in dem Gebiet: nur graue, flache, ruhige See umgab sie, in der Mitte der schlanke Felsen, rundum der weite Horizont und über ihnen ein glanzloser Himmel. Der Radarschirm zeigte nichts, das Horchgerät tastete überall nur durch leere See. Jede halbe Stunde drehte Saltash um neunzig Grad nach Backbord, zwischendurch lief sie plötzlich Zickzackkurse, denn vielleicht beobachtete sie ein Sehrohr. ›So oft haben wir das gemacht‹, dachte Ericson, ›mit diesem Schiff, aber auch früher mit Compass Rose: einmal, als wir bei dem havarierten Dampfer blieben; dann, als wir nach Planquadraten Überlebende suchten, und abermals, als wir zu früh zu einem Treffpunkt kamen.‹ Die Art dieser Fahrten war stets die gleiche gewesen: endlos lange suchen, dauernd in Bewegung, um nicht überrascht zu werden. Auch jetzt warteten sie so, nur diesmal auf etwas Unbestimmtes: sie zogen ihre festgelegten Kreise, anfangs unter grauem Himmel, dann unter dem schwarzen Nachthimmel und wieder unter einem grauen, gingen ihre Wache, während das Schiff ohne bestimmtes Ziel gleichmäßig seine zehn Meilen lief. Sie taten, was befohlen war, und hofften, bald Genaueres zu erfahren, ehe etwas passierte, ehe bei diesem harmlosen Karussellfahren nach 433
echt atlantischem Muster plötzlich der Teufel los war. Ericson sagte keinem, um was es sich handelte, denn er wußte es selbst ja nicht: nur der kurze Funkspruch, den jeder wissen konnte, und der Befehl ›Auf Patrouille bleiben‹ lag vor. Er war der Überzeugung, daß sie hier das Ende des Krieges abwarteten, doch das war eben nur seine Vermutung, die er nicht andern mitteilen durfte, weil sie nicht bestätigt war. Der letzte knappe Befehl der Admiralität war ihr einziger Anhaltspunkt. Einmal sagte Raikes, als er Offizier vom Dienst war: »Hoffentlich machen sie jetzt keine Dummheiten mehr, ich habe keine Lust, jetzt noch zu sterben.« Ericson runzelte die Stirn. »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht«, sagte er ziemlich kühl, »aber wer versuchen sollte, uns jetzt noch anzugreifen, dem wird es sehr schlecht bekommen.« Gegen Morgen kam der ersehnte Befehl, an einem düsteren, ruhigen Tage. Saltash kreiste noch um den Felsen, gelegentlich rasch den Kurs ändernd, immer noch befehlsgemäß patrouillierend, bei regelmäßigen drei Mahlzeiten am Tag, in größter Spannung, ob noch eine letzte Gefahr, ein neuer Angriff drohte. »Feindseligkeiten beendet«, sagte der Befehl. »Sämtliche U-Boote haben vom deutschen Oberkommando den Befehl, zu kapitulieren. Zeichen der Kapitulation ist eine große schwarze Flagge. Treffen Sie geeignete Vorsichtsmaßnahmen. Die zwei U-Boote, die vermutlich noch in Ihrer unmittelbaren Nähe stehen, sind nach dem Loch Ewe zu geleiten.« »Unmittelbare Nähe?« sagte Ericson. »Das ist ja fast eine Beleidigung … Nun, wir werden warten, bis sie erscheinen.« Und der geschlagene Feind kam zum Vorschein. Überall auf dem Atlantik, überall wo sie operiert oder versteckt gelegen hatten, tauchten die U-Boote auf als klarer Beweis, daß der Krieg aus war. Einige wurden von der eigenen Besatzung versenkt oder zerstört, in schnellem Entschluß oder weil sie ein besonderes Schuldkonto hatten, andere suchten eilig in geschützte Gewässer zu kommen, ohne zu wissen, daß es keine mehr gab, aber die meisten führten den erhaltenen Befehl aus, indem sie die schwarze Kapitulationsflagge heißten, ihre Position meldeten und auf weitere Anordnungen warteten. Sie tauchten auf, triefend und geräuschlos, in der Irischen See, in der Clydemündung, unweit von Cap Lizard im Englischen Kanal, und oberhalb der Minches in den wilden Strömungen. Sie tauchten auf in der Nähe von Island, wo Compass Rose gesunken war, vor der Nordwestspitze von Irland und dicht bei den Faröern, und auf der Route nach Gibraltar, wo so viele gesunkene Schiffe auf dem Meeresgrund lagen, und bei St. Johns und Halifax, und mitten im Atlantik, wo sie dreitausend Faden Wasser unterm Kiel gehabt hatten. Sie tauchten auf in geheimen Verstecken, verrieten 434
sich selbst und ihre vereitelten Pläne. Sie tauchten auf in Sicht von Land und in tödlichen Gewässern, in denen die versenkten Schiffe so dicht gesät lagen, daß auf der großen Karte der Atlantikschlacht, auf der sie durch Kreuze markiert waren, die Tinte zusammenlief. Sie tauchten auf über ihrem Vernichtungswerk, voll Haß oder Furcht, die einen noch in verbissener Wut, die andern dankbar für die Kampfruhe, die sie selbst andern Schiffen, anderen Seeleuten nie gewährt hatten. Sie tauchten auf im gesamten Kampfgebiet, lagen still und warteten auf die Sieger. Zwei erhoben sich vor Saltash, beim Felsen Rockall… Sie entdeckten sie erst am Horizont: ihre harten Umrisse standen über der Meeresfläche wie Zinnen einer Burg. Das konnten nur Unterseeboote sein, die verhaßten, so lange gesuchten Ziele, die jetzt zum Schrotthaufen der Besiegten gehörten. »Zwei Unterseeboote in Sicht, Sir«, meldete der Ausguck an Steuerbord, der diese ungewöhnlichste Meldung des Krieges so gleichgültig aussprach wie jede alltägliche. Und Saltash begann ihnen mit hoher Fahrt und in voller Gefechtsbereitschaft entgegenzulaufen. »Zickzack steuern, Bootsmann!« rief Ericson zu Barnard hinunter. Saltash krängte jäh, als das Ruder hart umgelegt wurde, und lief Zickzackkurse, eine Vorsicht, die Ericson noch für nötig hielt, denn er wollte nicht ausgerechnet einen noch in letzter Minute abgeschossenen Torpedo… Als sie näherkamen, sahen sie, daß die zwei U-Boote nebeneinander stillagen: ihre schwarzen Flaggen hingen schlaff am Flaggenstock, auf ihren Decks standen dicht die Besatzungen, wie auch auf Saltash alle Mann oben waren. Mit zweiundzwanzig Meilen Fahrt, alle Rohre ständig auf die Boote gerichtet, schlug Saltash einen Kreis um den stilliegenden Feind. Das stark aufgeworfene Kielwasser der Fregatte brachte die kleinen Fahrzeuge so zum Schaukeln, daß die Männer an Deck sich festklammern mußten, so gut es ging. Einige ballten die Fäuste. »Was wollen wir denn zu ihnen sagen?« fragte Ericson, dem die Freude deutlich anzusehen war. »›Sind Sie Doktor Livingstone?‹ denke ich«, erwiderte Lockhart. »Wie wäre es mit einem Warnungsschuß, Sir?« empfahl Allingham hoffnungsvoll. Ericson lachte. »Ich weiß, daß Ihnen die Finger jucken, A.O. aber die da brauchen wir wohl vor nichts mehr zu warnen.« Er überlegte. »Aber eine Wasserbombe wäre vielleicht eine gute Idee, – nicht zu nahe, nicht zu weit ab – nur um ihnen einen ordentlichen Schreck einzujagen, damit sie sich auf der Rückfahrt anständig benehmen. Geben Sie Vincent den Auftrag. Er kann sie gleich werfen lassen, sobald er sie klar hat. Aber nur eine.« 435
Die Bombe detonierte ziemlich genau m der Mitte zwischen Saltash und den U-Booten, so daß keine Gefahr bestand, deren Druckkörper zu beschädigen. Diese einzelne schwere Bombe, die dicht unter der Wasseroberfläche hart krachend detonierte, verfehlte nicht ihre Wirkung auf alle Betroffenen. Der Wasserberg, der sich emporwölbte, warf einen Schatten über die UBoote, die feine Gischt trieb wie eine nasse Gardine über sie hin. Als die Luft wieder klar wurde, sah man, daß die U-Bootsmänner auch ein moralisches Brausebad bekommen hatten: die meisten hoben die Hände über den Kopf, viele riefen kläglich durcheinander, und ein Mann kletterte am Flaggenstock empor, um die schwarze Flagge breit zu entfalten, damit sie auch deutlich zu sehen war. »Die haben gemerkt, worauf’s ankommt«, sagte Lockhart, der sie durchs Glas beobachtete. »Freut mich, daß sie einen guten Wink verstehen.« Ericson nahm das Mikrophon vom Lautsprecher zur Hand fragte: »Kann da jemand Englisch?« Von beiden U-Booten wurde zustimmend gewinkt, und Köpfe nickten. »Studententypen«, sagte Raikes. Ericson hob wieder das Mikrophon. »Das war soeben eine Wasserbombe«, sagte er hart. »Ich habe noch ungefähr neunzig Stück… Machen Sie keine Scherereien, sonst –« er machte eine drohende Geste –»Donner und Blitzen!« Die letzten beiden Worte sagte er deutsch. »Könnten Sie mir das buchstabieren?« fragte der hilflose Signalgast, dessen Pflicht es war, jedes Wort, das die Brücke verließ, aufzuschreiben. »Wir laufen nach dem Loch Ewe in Schottland«, fuhr Ericson fort, wie ein Vater, der seinen Sohn verflucht. »Wie schnell laufen Sie aufgetaucht?« Über das Wasser war schwach die Antwort zu hören: »Zehn.« »Also werden wir zwei Tage brauchen«, sagte Ericson zu Lockhart. »Ich glaube, wir laufen am besten in Dwarslinie – ich möchte nicht erleben, daß diese Kerle doch noch auf uns zielen, so klein sie jetzt auch sein mögen…« Er sprach wieder ins Mikrophon: »Schicken Sie Ihre Leute unter Deck und laufen Sie neben mir mit, ein Boot an jeder Seite. Der Kurs ist eins – null – fünnef Grad, einhundertundfünf… Haben Sie’s verstanden?« Wieder winkten und nickten sie drüben. »Dann los«, rief Ericson. »Ändern Sie auf keinen Fall Ihren Kurs, und geben Sie sich keinerlei Zeichen. Nachts sind Positionslaternen zu setzen. Und vergessen Sie nicht meine Wasserbomben.« »Liegt hier nicht ein Irrtum vor, Sir?« fragte Holt nachmittags den Kommandanten, indem er auf eine Eintragung in der Signalkladde wies. »Diese Meldung ist an die Admiralität gerichtet: ›Habe zwei Ewe-Boote eingesammelt.‹ Das ist E-W-E* geschrieben.« 436
* Wortspiel: ,Ewe’ wird im Englischen ebenso wie ,U’ ausgesprochen. »Wir bringen sie nach dem Loch Ewe«, erklärte Ericson. »Ein kleiner Scherz von mir.« Nach einer Weile sagte der Fähnrich: »Ein recht guter Witz eigentlich, Sir.« »Allright, Fähnrich.« Ericson blickte ihn an. »Jetzt werde ich keinen mehr machen.« Aber dieses seltsame Geleit sollte keine ruhige Heimreise haben: die Feststimmung an Bord erlitt noch eine letzte Störung, und die Grobheit, mit der Ericson den U-Booten die volle Wucht des Kielwassers von Saltash und den Schock mit der Wasserbombe ›verpaßt‹ hatte, mußte noch einmal angewendet werden, allerdings nicht wie vorher, halb wohlwollend, sondern mit unverhohlener Wut. Es geschah am Nachmittag des zweiten Tages, als sie sich dem Butt of Lewis näherten, der nördlichsten Spitze der Neuen Hebriden, die die Einfahrt in die Minches kennzeichnet, ihre Einfahrt zum Heimathafen. Die beiden U-Boote hatten sich in den vergangenen dreißig Stunden einwandfrei benommen: hatten haargenau ihren Kurs gehalten und tadellos ihre Positionslichter gesetzt. Zur Vorsicht hatte Ericson trotzdem das Horchgerät besetzen lassen, obgleich kaum anzunehmen war, daß es das geringste auffangen würde. Als es aber dann tatsächlich einen Kontakt bekam, und zwar einen starken, hart voraus von Saltash, löschte die entstehende Aufregung beim ersten Schrillen der Alarmglocken das ganze schöne Gefühl, daß der Krieg vorbei sei, mit einem Schlage wieder aus. Ericson ließ das Schiff sofort gefechtsklar machen, denn er wollte es bei dem Echo nicht erst auf eine Probe ankommen lassen. Und war es tatsächlich ein U-Boot, das dem Befehl zum Auftauchen nicht gehorchte, so wollte es entweder noch kämpfen oder stellte sich dumm. Und er war jetzt in der Stimmung, es in beiden Fällen zu bestrafen… So signalisierte er seinen zwei Gefangenen: »Sofort stoppen und liegenbleiben«, und nachdem sie dem Befehl entsprechend hinter Saltash zurückfielen, ließ er die Maschinen auf ›Äußerste Kraft‹ gehen und war klar zum Angriff. Lockhart sagte: »Es kommt mir vor wie ein U-Boot, Sir, auf demselben Kurs wie wir.« Und Ericson antwortete: »Wollen einen Satz werfen, I.O. Vielleicht wissen die das Neueste noch gar nicht.« Der Befehl ›Klar zum Werfen‹ war bereits an die Wasserbombengruppe ergangen, als das U-Boot hundert Meter vor Saltash auftauchte: es durchbrach die Oberfläche ganz träge und gleichgültig, als wolle es andeuten, daß 437
es ganz nach eigenem Gutdünken handle. »Beide Maschinen stop!« befahl Ericson. »Backbord zwanzig!« Saltash wurde langsamer und kam von achtern im Bogen an das U-Boot heran, während Ericson den nassen grauen Bootskörper durchs Glas betrachtete. »Ich glaube«, sagte er grimmig, »die wollen uns hier vormachen, daß sie noch nicht ganz besiegt wären. Geschähe ihnen recht, wenn –« Er sprach den Satz nicht zu Ende, so sehr er innerlich gegen eine heftige Versuchung ringen mußte. Vor allen Dingen drängte es ihn, seinen eingeleiteten Angriff auch durchzuführen, wozu ihm das Fehlen der schwarzen Kapitulationsflagge durchaus die Berechtigung gegeben hätte: er wollte das Boot rammen oder sich mit ihm schießen oder direkt neben ihm einen Satz Wasserbomben werfen; wollte ihm zeigen, daß der Krieg aus war und die U-Boote besiegt und daß eine britische Fregatte jederzeit einen solchen Gegner versenken konnte, wenn sie nur wollte. Und er wollte in diesem Moment beweisen, wie leicht das war, indem er seine Abschußzahl von drei auf vier U-Boote erhöhte… Jetzt erschien ein Mann in betreßter Schirmmütze im Kommandoturm des Bootes, der gemächlich Umschau hielt und dann sein Glas auf Saltash richtete. Ein zweiter kam herauf und stellte sich neben ihn, ebenso gleichgültig und ohne etwas zu tun. »Stellen sich noch dumm«, knurrte Ericson. »A.O.!« »Sir?« fragte Allingham durchs Mikrophon vom Geschütz her. »Legen Sie ihm einen Schuß über den Turm, so dicht wie Sie wollen!« Allingham gab Feuerbefehl: Geschütz B donnerte: die Granate schlug fünfzig Meter hinter dem U-Boot in die See, eine bräunliche Wassergarbe sprang auf. »Das muß ihm beinah einen Scheitel gezogen haben«, sagte Holt. Es schien der letzte Schuß des langen Krieges zu sein. Die beiden Männer im Turm verloren sofort ihre gleichgültige Haltung und winkten energisch. Weitere kamen neben ihnen zum Vorschein, stiegen heraus und stellten sich auf dem vorderen Deck auf. Eine schwarze Flagge stieg ruckend an dem kurzen Stock empor, und eine Morselampe begann aufgeregt zu blinken. »Signal, Sir«, sagte der Signalmeister auf Saltash sofort: »›Ich will nicht gegen Sie kämpfen.‹« »Ist mir auch egal, wenn Sie es tun!« antwortete Ericson sofort schallend durch den Lautsprecher. Er wartete auf eine Antwort, aber es erfolgte keine. Immer mehr Männer stiegen aus dem Turm und liefen mit erhobenen Händen über Deck des Bootes. »So gefällt’s mir besser«, sagte Ericson. Und durch den Lautsprecher scharf und bestimmt: »Schließen Sie sich den andern an und folgen Sie mir!« So endete ihre Schlacht, und so wurde überall auf dem Atlantik der Kampf 438
eingestellt: ein seltsam zahmes Ende nach fünfeinhalb Jahren erbitterten Ringens. Weder gab es in elfter Stunde Verzweiflungsangriffe gegen die Schiffahrt noch vereinzelte Piratenakte nach dem Kapitulationstermin: das Ende dieses tückischen Krieges kennzeichneten nur aufsprudelnde Blasen, leere Tauchtanks, eine verbissene Übergabe und der knappe Befehl »Folgen!« Aber auch ein so ruhiges Ende vermochte nicht, den Glanz dieses Sieges zu verdunkeln, der so viel gekostet hatte: dreißigtausend Seeleute waren gefallen, dreitausend Schiffe auf den Grund dieses einen Ozeans gesunken – und zum Ausgleich dafür waren siebenhundertundachtzig U-Boote versenkt worden. Dieser Kampf würde in der Geschichte fortleben, weil er so lang und so unerbittlich gewesen war, er würde fortleben im Gedächtnis der Männer durch das, was er ihnen und ihren Lieben antat, und den Schiffen, die so viele von ihnen geliebt hatten. Und vor allem würde er fortleben in der Tradition der Marine und zur Legende werden wegen des entscheidenden Dienstes, den die Seemänner ihrer Heimatinsel erwiesen und den viele mit dem Leben bezahlten, um den Siegespreis zu erringen: die undurchschnittene Lebensader zur Außenwelt. Ihre drei U-Boote wurden von drei waffenstarrenden Motorkanonenbooten in Gewahrsam genommen, die mit nahezu vierzig Meilen Fahrt aus dem Loch Ewe hervorpreschten und wie bissige Hunde auf sie losstürmten. In einem mächtigen Wirbel von Schaum und Gischt wendeten sie, ließen ohne Grund ihre Maschinengewehre kurz knattern, und setzten sich dann vor und hinter die Gefangenen, in einer so zufriedenen Haltung, als ob sie alles allein gemacht hätten. Ihr einziges Signal an Saltash lautete: »Wir haben sie.« Saltash, deren Besatzung sich wie in letzter Minute gerettet vorkam, durfte jetzt ihren Ankerplatz aufsuchen. Die große Fregatte zog durch die sturmgeschützten Gewässer des Loch Ewe der Schiffsansammlung entgegen, die am inneren Ende der Bucht lag. Die Sonne war eben untergegangen, es war kalt. Von See heimgekehrt, trugen die Männer noch immer die seltsamen Mützen und Helme, die dicken Düffeljacken. Und noch stapften sie sich in den schweren Seestiefeln und den dicken Wollstrümpfen die Füße warm. Eine sonderbare Ruhe lag über Saltash, obwohl sich alles an Oberdeck drängte: es mußten ungefähr hundertfünfzig Mann sein, die an der Reling standen oder binnenbords auf Munitionskästen und Luken saßen. Aber sie betrachteten nur schweigend das stille Wasser rundum, die Hügel, deren Kuppen noch von der Sonne goldgelb beleuchtet waren, die weißen Landhäuser am Rande der Bucht und den Ankerplatz, den sie ansteuerten. Es war das Ende ihres Tages und ihres Kampfes, es war ein überwältigender Augenblick: in solchen Momenten war es schwer, zu sprechen, es war besser, still dazustehen und vor 439
sich hin zu blicken. Als sie den Schiffen näherkamen, sahen sie, daß das alles, mit Ausnahme einer Korvette, eines Ölprahms und ein paar kleinerer Fahrzeuge, Unterseeboote waren: sechzehn Boote, in einem Päckchen an die Bojen gelegt, beaufsichtigt von der Mannschaft eines stark mitgenommenen Fischdampfers. Als sie es sahen, erhob sich ein Gemurmel, dann war es wieder still. Langsam gingen die Männer auf Saltash zur anderen Seite, an die Backbordreling, und starrten im Vorbeilaufen die ausgelieferten U-Boote an. Sie sahen, daß es nur noch leere, graue Hüllen waren: die Besatzungen waren von Bord geholt, die Geschütze verhüllt. Stumm und nutzlos lagen sie da – aber noch immer waren sie der Feind, noch immer jene Gegner, die Saltash und ihre Schwesterschiffe so lange hatten bekämpfen müssen, bis sie nun schließlich besiegt waren. Es gab viel an ihnen zu sehen und festzustellen, aber was alle Blicke auf sich zog, war das große weiße ›U‹ zu beiden Seiten des Kommandoturms. Der auf dringliche Buchstabe, widerliches Symbol einer verhaßten Kriegführung, verkörperte ihren ganzen langen Kampf: nach diesem U hatten sie durch Jahre, die nicht enden wollten, gejagt, und nun war es hier, geschlagen, unter sicherer Bewachung – und jetzt galt das U für ›unerfolgreich‹ und ›unterlegen‹, für alles, was Sieg der einen und endgültige Niederlage der andern Seite bedeutete. Saltash zog an ihnen vorüber, Ericson befahl ›zweimal langsame Fahrt‹, Raikes war damit beschäftigt, nach Landmarken die Ankerpeilung zu nehmen. Auf der Back klirrte das Spill, um das der Dampf zischte, als das erste Stück der Ankerkette ausrauschte: Allingham, der auf der Back stand, blickte zur Brücke in Erwartung des Befehls zum Ankern. Raikes rief: »Haben gleich unsere Peilung, Sir.« »Beide Maschinen stop!« sagte Ericson. Während Saltash zum Stilliegen kam, sah er sich um. Ein guter Ankerplatz, der beste, den sie sich wünschen konnten: geschützt, keine Untiefen in der Nähe, keine Schiffe, die Saltash gefährden konnten, falls sie schwojte. Und in ihrem Blickfeld die U-Boote… »Klar, Sir!« rief Raikes. »Beide Maschinen langsam zurück!« rief Ericson, und, als Saltash langsam so weit achteraus gegangen war, daß die Ankerkette glatt auf den Grund gelegt werden konnte, sagte er: »Beide Maschinen stop… Fallen Anker!« Allingham hob bestätigend die Hand und wiederholte den Befehl an seine Gruppe. Ein hartes Klirren, als der Stopper von der Kette geschlagen wurde, und schon fiel der Anker ratternd und rasselnd hinab, daß ringsum ein langes Echo erscholl und die Seevögel erregt schnatterten und schrien. Die kleinen Wellen breiteten sich aus und verliefen ganz: Saltash lag still, nur leicht an 440
ihrer Kette zerrend. »Anker trägt!« rief Allingham zur Brücke hinauf. Ericson holte tief Atem und reckte sich ein wenig in seinem Düffelrock. Das war alles… Über die Schulter sagte er: »Hauptmaschinen abstellen.« Obwohl das ganze Oberdeck schon längst verlassen war, überraschte es Lockhart nicht, Ericson auf der Brücke zu finden: die große Gestalt, die da plötzlich vor ihm im Dunkel stand, überraschte ihn keineswegs. Er hätte sich denken können, wo der Kommandant in dieser Stunde sein würde… Ericson drehte sich um, als er seinen Schritt hörte, und sagte: »Hallo, I.O.« Auch er war nicht erstaunt. Sie standen nebeneinander in der kühlen Dunkelheit, sagten eine Weile kein Wort und genossen beide dankbar den Moment der Entspannung und die wohltuende Ruhe. Es war noch früh am Abend, aber schon fast ganz dunkel: der Mond spielte silbern in der Takelage, und an Land ging ein Licht nach dem andern an: Sterne des Friedens, das erste Licht seit Anfang des Krieges! Noch war das Ufer der Bucht zu erkennen und die dunklen Hügel darüber. Hinter Saltash lag schweigend und reglos das Päckchen UBoote, als fester schwarzer Fleck auf dem unruhigen Wasser. Außerhalb ihres geschützten Hafens heulte der Wind, als wolle er Saltash wieder ergreifen, und in der Ferne, vor der Einfahrt zum Loch Ewe, brandete die grausame See. Lockhart wußte, weshalb sie hier so zusammen standen, unter dem frostigen Himmel, in die Brückennock gelehnt, aber er zweifelte, ob er diese Stunde in ihrer ganzen Bedeutung würdigen konnte. Sie standen hier, weil es der letzte Tag des gemeinsam erlebten Krieges war: die Schlacht auf dem Atlantik war beendet, und insgeheim wünschten sie der vergangenen Tage zu gedenken, selbst wenn es nur in Andeutungen geschah und nur wenig dabei gesprochen wurde. Es war der Zeitpunkt, um die Fäden zusammenzuknüpfen, doch vielleicht – dachte Lockhart – gab es allzu viele Fäden in dieser Geschichte: vielleicht gab es allzuviel zu sagen, und es wurde, wenn er es sagte, nur ein albernes Geschwätz, der Stunde nicht würdig… Dieser Mann hier freilich, den er so sehr schätzte, würde nicht schwatzen, nichts entwerten. »Fünf Jahre – so lange hat’s gedauert«, sagte Ericson plötzlich. »Nahezu sechs… Möchte wissen, wieviel Meilen wir gemacht haben.« »Für Compass Rose hatte ich’s mal zusammengezählt«, sagte Lockhart, dankbar, daß das Gespräch begann. »Achtundneunzigtausend Meilen… Aber für Saltash habe ich’s nicht getan. Aus Aberglauben.« Die Geräusche des Schiffes drangen undeutlich zu ihnen hinauf: wie meistens im Hafen spielte irgendwo ein Radio, leichte Wellen plätscherten gegen das Heck, der Bootsmann machte schweren Schrittes seine Ronde. Und jetzt 441
lagen die U-Boote, die schwarzen Schatten, die keine Furcht mehr erwecken konnten, im hellen Mondlicht, wie zu ihrer Freude. »Ich wünschte, ein paar von den andern hätten das noch miterlebt«, sagte Lockhart auf einmal. »John Morell – Ferraby.« Ericson nickte. »Ja, sie hätten’s verdient gehabt.« Und Lockhart sprach noch einige Namen vor sich hin, die ihm einfielen: »Tallow. Obermatrose Phillips. Wells.« »Wer war Wells?« »Unser Signalmeister auf Compass Rose.« »Ach, richtig…« »Der sagte doch immer zu seinen Signalgasten: ›Wenn ihr nicht klarkommt, dann weckt mich, ich komme sofort.‹« »Jetzt vermissen wir sie…« »Ja, aber vielleicht waren es wirklich zu viele, um sich genau an jeden zu erinnern? Die Namen bedeuten letzten Endes nichts. – Der junge Baker. Rose. Tonbridge. Carslake. Und alle die Kameraden von Sorrel. Und die Helferinnen, die wir bei dem entsetzlichen Gibraltargeleit verloren.« »Julie Hallam«, sagte Ericson plötzlich, zögernd ein erstes Mal den Namen aussprechend. »Ja, Julie…« Durch Lockharts Herz fuhr bei diesem Namen ein kurzer Stich, nichts weiter. Vielleicht hatte sie nun, nach einem Jahr, wirklich Ruhe gefunden, und er auch. Mit Compass Rose war es ihm ja so ähnlich ergangen: offenbar gab es eine besondere Art von Kriegserinnerungen, die wie durch eine Gnade schnell verblaßten und für immer in der Flut der allgemeinen Sorgen untergingen. »Sie haben gar keine Auszeichnungen bekommen«, nahm Ericson ohne Verbindung das Gespräch wieder auf. »Ich habe aber mein Möglichstes für Sie getan.« Lockhart lächelte im Dunkeln. »Das kann ich ertragen.« »Aber verdient haben Sie einen Orden, I.O.« »Trotzdem kann ich’s noch ertragen… Wissen Sie noch: unser Mittagessen in London, als ich sagte, ich möchte bei Ihnen auf Saltash bleiben?« »Ja. Mir war daran sehr viel gelegen.« »Danke. Mir auch.« Ein Faden war nun wenigstens geknüpft: etwas, wovon sie eigentlich nicht hatten sprechen wollen, war – zum Glück – nun doch gesagt worden… Ericson seufzte. »Und wir haben nur drei U-Boote versenkt. Drei – in fünf Jahren.« »Aber wir haben weiß Gott hart dafür gekämpft!« 442
»Ja.« Ericson war in Nachdenken versunken, schwer in die Brückennock gelehnt, in der er viele hundert Stunden hatte stehen müssen. Aus der Dunkelheit heraus sagte er – und das nun, nach achtundsechzig Monaten, von ihm zu hören, erschütterte Lockhart –: »Ich bin verdammt müde…«
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INHALT
I 1939
•
SCHULUNG
Seite
6
II 1940
•
GROSSER ATLANTIK
Seite
70
III 1941
•
VORGEFECHTE
Seite 122
IV 1942
•
KAMPF
Seite 239
V 1943
•
GLEICHGEWICHT
Seite 296
VI 1944
•
DER SIEG NAHT
Seite 403
VII 1945
•
DER LOHN DES SIEGES
Seite 426
444