Grauen im Grand Hotel
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 131 von Jason Dark, erschienen am 25.02.1992, Titelbild: J.K...
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Grauen im Grand Hotel
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 131 von Jason Dark, erschienen am 25.02.1992, Titelbild: J.K. Potter
Majestätisch schaute das auf einem Hügel stehende Grand Hotel über den kleinen schweizer Ferienort Sils Maria hinweg. Es vermittelte Ruhe, Gemütlichkeit, Erholung. Stammgäste kamen seit Jahren. Niemand hatte sich bisher beschwert. An einem Tag änderte sich alles. Plötzlich waren Tote nicht mehr tot. Menschen verschwanden, kehrten nicht mehr zurück. Die Angst drang ein in das Refugium des Friedens. Aber auch ich war da. Und mein russischer Freund Wladimir Golenkow. Gemeinsam stemmten wir uns dem Grauen im Grand Hotel entgegen...
Der Himmel über den Südalpen schimmerte klar wie ein Tuch aus hellblauer Seide, in dem sich die Strahlen der wunderschönen Herbstsonne verfingen, als wollte sie ein goldenes Nest weben. Das Wetter kam den Menschen entgegen. Es machte sie fröhlich, es ließ ihre Urlaube noch schöner werden und sorgte für ein unvergeßliches Erlebnis. Nicht alle dachten so. Cornell Degen wartete auf den Tod! Er sehnte ihn herbei, er wollte sterben. Er hockte in seinem Zimmer auf dem Bett, den Rücken gegen die Wand gedrückt, den Blick auf das Fenster gerichtet, dessen Scheibe von den Vorhängen verdeckt wurden, weil Degen die Dunkelheit haben wollte. Er haßte die Sonne, er haßte das Licht, er haßte das Helle, er haßte alles, was damit zusammenhing. Nur die Dunkelheit war schön, sie war herrlich, so wunderbar, sie umschwemmte ihn, sie gab ihm Sicherheit, er ließ sich gern von ihr tragen und hatte dann das Gefühl, dem Tod ganz nahe zu sein. Ja, dem Tod . . . Immer wenn Degen daran dachte, glänzten seine Augen. Er mochte ihn, er sehnte sich nach ihm, und er wußte auch, daß er sich genau am richtigen Ort befand. Er würde sterben . . . Und hoffentlich in der nächsten Nacht, vielleicht sogar schon am Abend, sie hatten es ihm versprochen. Bereits seit mehr als einer Stunde hockte er auf dem Bett. Den Rücken gegen die Wand gedrückt, die Beine angezogen, die Hände um die Knie gelegt. Er atmete mit offenem Mund, der Schweiß rann über sein Gesicht und lief auch in die Augen. Cornell Degen trug ein dünnes T-Shirt und eine Röhrenhose aus verwaschenemjeansstoff. Sein Haar war so kurz geschnitten, daß es wie ein dunkler Schatten auf seinem Kopf lag. Das Gesicht darunter wirkte wie gelber Teig, in den jemand Augen hineingepreßt hatte. Der Mund war ein Spalt, sehr breit und dünn. Dunkel, dachte Degen, es muß doch einfach dunkel werden. Ich will nicht mehr im Grau der Dämmerung hocken, ich will es nicht, verdammt, ich will es nicht! Aus seinen Gedanken hervor formten sich Worte, die er keuchend und stotternd in die Stille hineinstieß. Immer wieder leckte er über seine Lippen, als würde ihm der Schweiß besonders gut schmecken. Dann hörte er die Tritte. Sie klangen draußen im Flur auf. Die Person, die durch den Gang ging, bewegte sich neben dem roten Teppich, der den Flur wie ein breiter Blutstreifen zerteilte. War das da draußen schon der Bote, der ihm den Tod bringen würde?
Cornell Degen hoffte es. Sein Blick bekam einen sehnsuchtsvollen Glanz, als er den Kopf drehte und auf die Tür schaute, vor der die Schritte verstummt waren. Er hatte abgeschlossen, aber das machte der anderen Person nichts aus. Sie besaß einen Generalschlüssel. Dann glitt die Tür nach innen. Sie war schwer, trotzdem bewegte sie sich lautlos. Degen wartete und lauerte. Er saß wie auf dem Sprung, seine Blicke starr gegen die Tür gerichtet. Aus dem Mund strömten hechelnde Laute, die Lippen zuckten zugleich, als würden sie sich nach einer Musik bewegen, die nur er hörte. Die Tür schwang weiter nach innen . . . Wie ein Schlund, dachte Degen. Wie ein Schlund, der sich öffnete um der Dunkelheit freie Bahn zu lassen, damit sie mich endlich verschlingen kann. Doch der Schlund entließ kein Ungeheuer, sondern eine Frau! Wie eine Gestalt angenommene Drohung stand sie auf der Schwelle und schaute in das Zimmer. Sie war schwarz angezogen. Das Kleid sah aus wie eine Kutte, war an der Taille umschnürt vom Band der Schürze, die in einem hellen Weiß strahlte und erst dicht über dem Saum des knöchellangen Kleides aufhörte. Eine sehr strenge Kleidung, zu der auch das Gesicht paßte, das asketisch wirkte, was an den zahlreichen Fältchen und Falten liegen konnte. Der Mund fiel in diesem Gesicht kaum auf, auch die Augen nicht. Ihre Pupillen hatten sich der grauen Haut im Laufe der Zeit angepaßt und waren kaum zu erkennen. Sie trug ein Tablett. Auf ihm stand eine weiße Schüssel mit einem dunklen Deckel, der nicht ganz paßte, denn beim Gehen schob er sich hin und her, wobei er kratzende Geräusche verursachte. »Deine Henkersmahlzeit, Degen!« Degen holte tief Luft. Es hörte sich an, als hätte ein Raubtier eingeatmet. Er hüpfte auf seinem Bett, anders konnte er seiner Freude keinen Ausdruck verleihen. Dann schaute er zu, wie die Frau mit sehr sicheren Schritten auf den Tisch zuging, der gerade ausreichte, um zwei Personen Platz zu bieten. Die Frau stellte das Tablett ab und drehte sich dem noch immer auf dem Bett hockenden Mann zu. »Du kannst essen!« Der federte auf und ab. »Ist das ... ist das wirklich meine letzte Mahlzeit?«
»Ja, verdammt. Oder glaubst du, daß ich dich hier noch anlüge.« Die Frau ging zur Tür und schloß sie. »Wenn du die Schüssel leer hast, sehen wir weiter.« »Ja, das ist gut, das liebe ich. So ist es mir aber auch versprochen worden«, sagte er mit einem schon vorwurfsvollen Ton in der Stimme. »Ihr müßt euch daran halten.« »Keine Sorge, Degen.« Die Frau hatte den Tisch wieder erreicht und hob mit einem Ruck den Deckel ab. Der Dampf hatte freie Bahn. Gleichzeitig mit ihm breitete sich ein scharfer Fleischgeruch aus. »Kennst du den Geruch, Degen?« »Ich . . . ich weiß nicht so recht.« »Komm her.« Sie holte aus ihrer Tasche einen Löffel. »Es ist dein Lieblingsgericht.« »Ja, danke, danke, ich komme.« Er jubelte die Antwort. Plötzlich steckte er wieder voller Energie, er sprang vom Bett und holte schwungvoll den Stuhl mit einem sicheren Griff herbei, damit er vor seinem Teller Platz nehmen konnte. Er nahm den Löffel, schielte noch einmal hoch in das Gesicht der neben ihm stehenden Frau, sah ihr aufforderndes Nicken und fing damit an, seine letzte Mahlzeit einzunehmen. Es war kein Essen, es war ein Schaufeln, ein Schlingen, begleitet von schmatzenden, schlürfenden und keuchenden Geräuschen, denn bei dieser Eile hatte er Schwierigkeiten, Luft zu holen. »Du weißt, daß du die Schüssel leeren mußt, nicht wahr, Degen?« Der Mann nickte, ohne sich beim Essen stören zu lassen. Es machte ihm nichts aus, daß die Soße wie braune, alte Blutstreifen an seinem Kinn entlangrann. Was er mit der Zunge weglecken konnte, das leckte er weg, alles andere glitt den Hals hinab, um im Kragen des T-Shirts zu versickern. Die Frau schaute ihm zu. Ihr Gesichtsausdruck verriet, daß sie mit ihrem >Patienten< sehr zufrieden war. Wie alle anderen auch hielt er sich an die Regeln, und er kratzte auch den letzten Rest Fleisch und Soße aus der gekanteten Schüssel. Die Frau nickte ihm zu. »War es gut?« »Ja«, stöhnte er, drückte sich auf dem Stuhl zurück, rieb seinen Bauch. »Sogar sehr gut.« »Das freut mich.« »Bin ich jetzt würdig, in den Tod zu gehen?« Sie streichelte über seinen Kopf. Das borstige Haar schien dabei zu knistern. »Ja, mein Lieber, du bist würdig. Die große Chance wartet auf dich.« »Und wann?« »Sofort, wenn du willst.«
Hätte die Frau ihn nicht an der Schulter festgehalten, so wäre er in die Höhe gesprungen. Aber er blieb sitzen und leckte noch einmal über seine Lippen wie eine Katze, der es ausgezeichnet geschmeckt hat. Zwei Finger steckte die Frau in den Mund. Ein schriller Pfiff ertönte. Wieder drangen Schritte vom Gang her in den Raum. Und dann kamen die Henker! *** Sie waren zu zweit! Sie trugen feuerrote Kittel und hatten ihre Schädel kahl geschoren. Die Gesichter wirkten künstlich, wie gemalt und so, als wären tote Schädel auf tote Körper gesetzt worden. Die Frau war einen Schritt zur Seite getreten, um Degen den Blick nicht zu versperren. Er starrte sie an, er war glücklich, er nickte ihnen zu, er breitete die Arme aus, ohne jedoch eine Chance zu bekommen, die beiden zu umfangen. »Meine Freunde!« rief er. »Meine lieben Freunde. Bringt mich auf den letzten Weg, meine Freunde. Begleitet mich. Bringt mich zu meiner neuen Welt — bitte . . .« Die Frau nickte. Degen wünschte sie eine gute Reise in die andere Welt, dann verließ sie den Raum. Erst als sie nicht mehr zu sehen waren, kamen die beiden Henker näher. Ihre Bewegungen waren identisch. Die beiden hätten Zwillinge sein können, und sie faßten auch zugleich zu. Der eine die rechte, der andere die linke Schulter des Mannes. Degen schrak zusammen, als er die harten Griffe spürte, dachte an sein Schicksal und schaute zum Fenster, wobei er wissen wollte, ob es draußen schon dunkel war. »Dunkel genug!« »Ich danke euch . . .« Mit unbewegten Gesichtern und hart klingenden Schritten schleiften sie Cornell Degen aus dem Raum in den düster wirkenden Hotelflur. Sie gingen nicht zum normalen Lift, sondern nahmen die Nottreppe, um eine Etage tiefer zu gehen. Erst dort befand sich die Stahltür mit der roten Aufschrift EINTRITT VERBOTEN. Das galt nicht für die Henker. Sie schlossen auf und stießen den Delinquenten in ein von Metallwänden umrahmtes Kabuff. Er ging vor bis zur gegenüberliegenden Wand und drehte sich dort um. Einer der Henker schloß die Tür. Es wurde stockfinster. Und Degen lachte. Er zitterte dabei, aber er steckte voller Freude auf das Kommende.
Der Lift ruckte, als er anfuhr. Dann glitt er in die Tiefe, und Degen hatte schon jetzt den Eindruck, der Hölle, dem Feuer und gleichzeitig der Dunkelheit entgegenzufahren. Das war alles so herrlich, so wunderbar, daß ihm die Worte fehlten, um es zu beschreiben. Es lief alles bestens, die große, entscheidende Sekunde rückte immer näher. Er konnte es nicht mehr erwarten, bis der Lift endlich stoppte. Wieder der Ruck. Die Kabine hielt. Einer der Henker öffnete die Tür. Frische Luft strömte in das enge Gefängnis. Er roch nach Tannen, nach Heu und vielleicht auch ein wenig nach Regen. Schatten breiteten sich vor ihm aus. Gewaltige Schatten, wie die Schwingen des Todes, die ihn bald umfangen würden und dafür sorgten, daß er hineinglitt in eine andere ferne Welt. Das hier war sein Platz. Er ging schnell, die beiden Henker brauchten ihn nicht erst anzustoßen. Seine Füße schleiften schon sehr bald durch das dichte, saftige Gras des Hangs, auf dem die so mächtigen und starken Tannen wuchsen, die ihren Schatten ausbreiteten. Er nickte dorthin, wo die Tannen wuchsen. »Ist es dort? Finde ich da mein Ende?« Die Henker in den roten Kitteln gaben keine Antwort. Sie hielten ihn fest und zerrten ihn auf den Waldsaum zu, der einen dunkelgrauen Schatten bildete. Cornell Degen schaute zurück, während er voranstolperte. Er sah die Rückfront des mächtigen Grand Hotels, das auf dem Hügel stand und aus einer Mischung aus Lärchen- und Tannenwäldern hervorwuchs. Es war ein gewaltiges Hotel, beinahe schon ein Schloß. Es hatte Geschichte und Geschichte gemacht, und es stand wie eine Trutzburg über dem kleinen Ort Sils-Maria nahe des Nobeldorfs St. Moritz im Engadin. Degens Lippen zuckten, als er die viereckige Turmspitze sah, dort wehte die Schweizer Flagge, ein weißes Kreuz auf rotem Grund. Es kam ihm vor, als wollte ihm diese Fahne einen letzten Gruß zusenden. Niemand schaute zu. Die zahlreichen Fenster an der Rückseite waren leer. Niemand hatte sie geöffnet, um sich hinauszulehnen. Die Scheiben sahen in der Dämmerung beinahe schwarz aus. Der Hang endete dort, wo der Ort Sils-Maria begann. Erst dann hörten die Bäume auf, weil dort das große breite Tal begann, dessen Mittelpunkt der Silvaplana-ner See war, ein herrlich reines Gewässer, das im Winter zugefroren war und Langläufern als Piste diente.
Cornell Degen hatte das Gewässer nur bei seiner Ankunft in natura gesehen. Danach hatte er sein Zimmer so gut wie nicht verlassen. Er wollte sich eben auf die große Stunde vorbereiten. Und die war nicht mehr weit entfernt. Zweige peitschten hart gegen die Gesichter der Männer, als sie sich in den Wald hineindrückten und damit anfingen, sich einen Weg zu bahnen. Die Bäume wuchsen sehr dicht zusammen, ihre Zweige berührten sich, sie waren wie starre Arme ineinander verschlungen, bildeten grüne Dächer in unterschiedlicher Höhe, während auf dem Erdboden ein Teppich aus Nadeln lag. Es war eine klare, eine saubere Gegend, eine zum Erholen und nicht zum Sterben. Die Henker wußten Bescheid. Sie hatten sich eine besonders günstige Stelle ausgesucht. Die Tanne war sehr stark. Sie hatte dicke Äste, die wie mächtige Arme vom Baum abwuchsen. Und über einem Arm hing das Seil! Es endete in einer Schlinge, die zuvor fachmännisch geknüpft worden war. Der Kopf des Delinquenten würde genau hineinpassen, das wußten die beiden Henker, denn sie gehörten zu den routinierten Killern. Als sie Cornell losließen, rutschte der noch ein Stück vor, hielt sich fest, atmete heftig und schaute hoch gegen die Schlinge, die vor seinen Augen hing. Sie bewegte sich leicht, der Wind spielte mit ihr. Sie war noch jungfräulich, der Hanf glänzte hell, und der Delinquent lächelte. »Wann macht ihres denn?« »Sofort!« Einer der Henker griff zu. Er hievte ihn an und so weit hoch, daß der zweite die Schlinge bequem über seinen Kopf streifen konnte. Degen spürte den Hanf, als er über seinen Hals scheuerte. Seine Zunge wischte aus dem Mund, noch einmal feuchtete er seine Lippen an. Der zweite Henker prüfte den Sitz, der andere stemmte ihn noch immer hoch. Wenn er ihn losließ, würde Degen in die Schlinge hineinfallen und getötet werden, denn seine Füße würden keinen Kontakt mehr mit dem Boden bekommen. Das Gelände war einfach zu schräg. Im Nacken wurde die Schlinge noch einmal festgezurrt. Der Knoten saß gut, schon perfekt. »Jetzt?« fragte der Festhalter. »Ja.« Degen lachte. Er freute sich, er erwartete den Tod, auch die anderen hatten ihn erwartet. Der Mann ließ ihn los. Degen lachte noch immer, bis dieses Geräusch zu einem Würgen würde, das überging in ein dumpfes Gurgeln und dann nicht mehr zu hören war. Die Beine bewegten sich zuckend, auch das Gesicht veränderte sich, und die beiden Henker schauten zu.
So lange blieben sie stehen, bis sich der Mann nicht mehr rührte. Erst dann waren sie sicher, einen Toten vor sich zu haben, nickten sich zu und gingen zurück. Cornell Degen aber ließen sie zunächst hängen... *** In der Wohnung war es düster, weil die Vorhänge nur wenig Licht durchließen. Deshalb setzte ich mich auch an den Schreibtisch und schaltete die Lampe ein, deren Lichtstrahl in schräger Bahn auf meine Hände fiel, die einen Brief hielten. Es war ein interessanter Brief. Geschrieben hatte ihn ein Mann namens Cornell Degen. Gefunden worden war der Brief in Degens Wohnung, in der ich mich zusammen mit einem Mann vom Secret Service aufhielt, denn Cornell Degen hatte für den Geheimdienst gearbeitet. Daß diese Typen sich wieder einmal an meinen Chef gewandt hatten, ließ darauf schließen, daß sie allein nicht mehr zurechtkamen und trotz ihrer Machtfülle so ziemlich nebenher standen, weil der Fall okkulte Dimensionen bekommen hatte, wie meinem Chef, Sir James, gesagt worden war. Und er hatte mich losgeschickt. Informationen besaß ich so gut wie keine. Angeblich sollte der Inhalt des Briefs die Brisanz einer Bombe besitzen, aber das mußte ich erst überprüfen. Untersucht worden war das Schreiben bereits. Die Experten des Secret Service hatten sich damit beschäftigt, aber nur die Fingerabdrücke des Briefschreibers gefunden, mehr nicht. Für mich mußte einzig und allein der Inhalt zählen. Und der war kurz, knapp, aber brisant. Ich las den Text halblaut und murmelnd vor. »Was ich bisher geleistet habe, dazu stehe ich nicht mehr. Es war eine Arbeit, die mir den falschen Weg gewiesen hat. Ich habe meine Erfüllung gefunden. Ich gehe den Weg in den Tod, um das Leben zu gewinnen. Ich fahre ihm entgegen, ich werde im Grand Hotel in Sils-Maria auf ihn warten, und ich werde bald wieder da sein, um von dem zu berichten, was das Jenseits für uns Menschen als Botschaft bereithält.« Ich las ihn einmal, ich las ihn zweimal, ich hätte es auch im Büro tun können, aber der Mann vom Geheimdienst hatte darauf bestanden, daß ich mir Degens Wohnung in der City anschaute und mir eine eigene Meinung darüber bildete. Ich ließ den Brief sinken und legte ihn auf dem Jugendstil-Schreibtisch ab. Überhaupt war diese sehr große Wohnung im Jugendstil eingerichtet. Wer hier in der City of London diese Zimmer mietete, konnte ein halbes Vermögen als Mietzins loswerden. Bei Degen war das nicht der Fall gewesen, er hatte die Wohnung geerbt.
Seinen Job hatte er gewissermaßen nur als Hobby ausgeübt. Er lebte von den Zinsen seines Vermögens. Ich hatte mich über seine Tätigkeit lautstark gewundert, aber die Antwort bekommen, daß Degen ein guter Agent gewesen wäre. Einer der besten, weil er so harmlos wirkte und ihn jeder für einen Playboy hielt, der nur sein Vermögen verpraßte. Und jetzt war er verschwunden. Im Grand Hotel hatte man angeblich nichts von ihm gehört. Er war dort unbekannt gewesen, was die Kollegen aber nicht glauben wollten. Zudem hatte es sich bei ihnen herumgesprochen, daß es einen Mann wie mich gab, der sich um rätselhafte Fälle kümmerte. Das stimmte auch, es stimmte ferner, daß ich schon mehr als einmal für den Secret Service in die Bresche gesprungen war. Ich stand im Arbeitszimmer und schaute mich um. Die Möbel atmeten ein Stück Vergangenheit aus. Sie waren mehr als achtzig Jahre alt, sehr wuchtig, ziemlich geometrisch, ohne große Schnörkel. Da gab es einen Bücherschrank, der bis zur Decke reichte und mit Folianten vollgestopft worden war. Ich trat auf die Glasscheiben zu und ließ meine Blicke über die Rücken der Bücher gleiten. Oft kann man anhand der Bücher auf das Wesen und die Person des Besitzers schließen, aber diese Schwarten sahen aus, als wären sie von Degen nie gelesen worden. Sie erinnerten mich an ein Stück Erbmasse, das er von seinen Eltern übernommen hatte. Das Zimmer war so groß, um auch einen zweiten Bücherschrank fassen zu können. Zwischen den beiden Schränken befand sich die breite Tür. Sie war nicht völlig geschlossen. Unterarmlang stand sie offen. Deshalb hörte ich auch das Geräusch von außerhalb. Ich hatte mich wieder umdrehen und zum Schreibtisch gehen wollen, erstarrte aber in der Bewegung. Das Geräusch hatte mir gar nicht gefallen. War da jemand mit einem dumpfen Prall auf den Boden geschlagen? Ich dachte sofort an Ryman, den Mann vom Secret Service. Ob er tatsächlich so hieß, wußte ich nicht. Jedenfalls hatte er sich mir gegenüber mit diesem Namen vorgestellt, und er kam mir so ähnlich vor wie ein Aufpasser. Ich ging auf leisen Sohlen der Tür entgegen. Das fiel mir nicht schwer, denn der dicke Teppich machte meine Schritte absolut geräuschlos. Ich schien einfach über den Boden zu gleiten und blieb neben der Tür stehen, die Hand ausgestreckt und auf die mächtige Klinke gelegt. Das Geräusch wiederholte sich nicht. Ich konnte auch nichts sehen, als ich in den breiten Gang peilte, der mich mehr an den in einem Hotel erinnerte.
Aber er gehört zu diesen großen Wohnung, die aus mehreren Zimmern bestand. In einem davon mußte Ryman sich aufhalten. Ich zog die Tür weiter auf. Auch jetzt, nachdem sich mein Blickwinkel gebessert hatte, sah ich nichts von ihm. Stille wehte mir entgegen. Eine trügerische Ruhe, die ich nicht mochte und die bei mir eine Gänsehaut hinterließ. Irgend etwas stimmte nicht. Dafür hatte ich zwar keine Beweise, das sagte mir einzig und allein das Gefühl, denn darauf konnte ich mich verlassen. Der Verkehr am Picadilly war nicht zu hören. Die Doppelverglasung der Fenster wehrte den Lärm ab, und ich zog die Tür weiter auf, weil ich in den Gang gehen wollte. Holzwände verdeckten das Mauerwerk. Unter der ebenfalls getäfelten Decke brannte eine breite Leuchte, die aus fünf Armen bestand. Sie erinnerten mich an helle Krallen. Keine Spur von Ryman. Die übrigen Türen waren geschlossen. Dennoch hatte ich den Laut gehört. War Ryman irgendwo gegengestoßen? Damit mußte ich rechnen, wenn ja, dann würde er sich ja melden. Ich rief nach ihm. Das Holz der Wände schluckte meine Stimme, so daß ich einen zweiten, lauteren Ruf folgen ließ. Auch jetzt bekam ich keine Antwort. Ich schaute nach rechts. Am Ende des Flurs befand sich die schwere Wohnungstür. Sie war geschlossen. Hatte Ryman die Wohnung vielleicht verlassen? Das wiederum wollte mir nicht in den Sinn. Es war einfach unlogisch, denn dann hätte er mir Bescheid gesagt. Auch wenn der Secret Service oft Informationen zurückhielt, so wenig kollegial arbeitete er trotzdem nicht. Ryman meldete sich auch nach dem dritten Ruf nicht. Allmählich wurde mir mulmig zumute. Ich dachte an eine Gefahr, an eine Überraschung, die man nicht einkalkulieren konnte. Möglicherweise an einen Joker in diesem gefährlichen Spiel, der eine Falle gestellt hatte. Mir standen mehrere Türen zur Auswahl, hinter denen die verschiedenen Zimmer lagen. Ich dachte darüber nach, was mir Ryman mitgeteilt hatte, kam jedoch zu keinem Ergebnis. Er hatte nur gesagt, daß er sich noch einmal umschauen wollte. Ich hatte die freie Auswahl der Seiten, der Türen, der Zimmer und entschied mich für die linke. Im Nebenzimmer sah ich ihn nicht. Es war als Wohnraum eingerichtet. Ich fand ein Schlafzimmer, zwei Gästezimmer und gelangte dann in einen Trakt, in dem die Küche untergebracht war. Man hatte hier aus zwei Räumen einen gemacht, dementsprechend groß und mit mehreren Fenstern bestückt war er.
Draußen rollte der Verkehr um den Piccadilly herum, hier aber herrschte eine bedrückende Stille. — Vor einigen Jahren war der Platz umgestaltet worden, der Brunnen bildet seitdem keine Insel mehr und ist ohne Einsatz des Lebens erreichbar. Es waren neue Fenster eingebaut worden, damit mehr Licht in die Räume fallen konnte. Ich fragte mich allerdings, wer hier seine Kochkünste ausprobiert haben könnte. Am Ende der Küche fiel mir eine schmale Tür auf. Dahinter lag ein ebenso schmaler Flur, der einen Knick machte und abermals vor einer Tür endete. Als ich sie öffnete, stand ich wieder im normalen Gang. Die Wohnung war groß genug, um einen Fremden verwirren zu können. Von Ryman hatte ich noch immer nichts entdeckt, und deshalb war mein Mißtrauen auch nicht verschwunden. Mir fiel ein, daß ich zwar zahlreiche Zimmer durchwandert hatte, nicht aber die Toiletten, Duschen und Bäder. Und die mußte es einfach geben. Aber wo? Ich rechnete nach, erinnerte mich wieder an die Lage des Schlafzimmers und ging davon aus, daß die Naßräume nicht allzuweit davon entfernt lagen. Ich betrat noch einmal den Schlafraum, der mit sehr hellen Möbeln eingerichtet war, und mir fiel dabei ein Einbauschrank auf. In der Mitte war er geteilt. Es sah so aus wie eine Nische. Tatsächlich aber war es eine Tür, auch wenn diese eine nur sehr kleine Klinke aufwies, die man leicht hätte übersehen können. Ich drückte sie, stieß die Tür auf und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Das Bad war einfach toll. Hell gefliest, dekoriert mit Pflanzen, die aus großen Töpfen wuchsen. Spiegel zierten die Wände, und die Decke über mir schimmerte in einem matten Glanz. Großartig aber war die Badewanne. Sie bildete den pechschwarzen Mittelpunkt und war nicht einfach nur eine Wanne, sondern zugleich auch Whirlpool. Aus mehreren Hähnen konnte Wasser in das runde Gefäß strömen, das ziemlich hohe Wände hatte. Zischend stieß ich den Atem aus, als ich Ryman verkrümmt in der Wanne liegen sah. Beim ersten Blick schon sah ich, daß er nicht mehr lebte, denn jemand hatte ihm den halben Schädel zertrümmert... ***
Tot, ermordet, vernichtet auf brutalste Art und Weise. Ich merkte, wie sich in meinem Magen etwas zusammenzog, wie der Speichel im Mund zu einem klebrigen Leim wurde und sich ein galliger Geschmack zwischen meinen Zähnen ausbreitete. Ryman war tot. Er war gekillt worden, und ich konnte nicht unbedingt davon ausgehen, daß sein Mörder die Wohnung verlassen hatte. Der Mann war nicht grundlos gestorben, zudem mußte man auf ihn gelauert haben, und derjenige, der dies getan hatte, wußte genau, daß Ryman nicht allein gekommen war. Er kannte also auch mich. Als ich auf die runde Wanne zuging, kam ich mir vor wie mit Draht umwickelt. Ich schaute mich dabei um, die zahlreichen Spiegel halfen mir dabei, den Raum sehr schnell und auch sehr gründlich zu durchforsten, aber ich entdeckte keinen Feind. Neben der großen Wanne blieb ich stehen. Der Geruch von Blut wehte gegen meine Nase. Eine einzelne Fliege hatte ihr Ziel gefunden und umsummte den halbzerstörten Schädel des Agenten. Daß dieser Fall derartig eskalieren würde, damit hätte ich nie und nimmer gerechnet. Allerdings zeigte es mir auch, daß es die andere Seite gab, die sehr genau aufpaßte und nicht auf den Kopf gefallen war. Sie reagierte eiskalt und blitzschnell. Ich drückte mich wieder hoch. Auch wenn ich die Leiche nicht direkt anschaute, konnte ich mich von ihrem Anblick nicht befreien. Er hatte sich in meine Erinnerung eingegraben, vielleicht auch deshalb, weil dieser Tote ganz und gar nicht in diese perfekt durchgestylte Landschaft hineinpaßte. Wo aber lauerte sein Mörder? Noch in der Wohnung, oder hatte er sie heimlich verlassen? Letztere Möglichkeit wäre unlogisch gewesen, denn mit einem Toten war ihm nicht gedient. Wenn er schon Klarschiff machen wollte, dann mußte er auch den zweiten Zeugen töten und eventuell Beweismaterial verschwinden lassen. Bei diesem Gedankengang fiel mir wieder der Brief ein, den ich im Arbeitszimmer zurückgelassen hatte. Verflixt noch mal, es konnte durchaus sein, daß der Mörder seinen Weg dorthin gefunden hatte. Das wäre ein Hammer gewesen. Ich hatte es plötzlich eilig, behielt aber meine Vorsicht bei und zog sogar die Beretta, als ich das Bad verließ und in den Flur ging, der nach wie vor leer war. Auch die Tür zum Arbeitszimmer hatte ich geschlossen. Ich hatte sie zugezogen, oder war es nach mir der Mörder gewesen? Mit dem Fuß stieß ich die Tür auf und schaute nach, wie sie langsam in den Raum hineinschwang. In einen leeren Raum.
Die Möbel standen da wie stumme Zeugen. Auch der Brief lag noch auf dem Schreibtisch, dessen Rückseite dem bis zum Boden reichenden Fenster zugewandt war. Ich ging auf ihn zu. Plötzlich blieb ich stehen. Gefahr! Die Warnung hatte mich wie ein Blitzstrahl überkommen. Ich wußte mit einem Mal, daß ich nicht mehr allein im Raum war. Außer mir hielt sich darin noch jemand auf. Ich fuhr herum. Die Waffe wies ins Leere, im Flur hielt sich niemand auf. Ich drehte mich wieder — und sah den Schatten. Er hatte hinter dem Schreibtisch gelauert, jagte jetzt wie ein Irrwisch in die Höhe, und während der nächsten beiden Sekunden, in denen ich mich in Lebensgefahr befand, bekam ich genau mit, wer Ryman gekillt hatte. Eine bleiche, in dunkle Kleidung oder schwarze Tücher gehüllte Gestalt, von einem zwergenhaften Wuchs, die in die Höhe schnellte und eine schreckliche Waffe mit sich führte. Sie setzte sich zusammen aus einem kurzen handlichen Griff, einer längeren Kette, an deren Ende eine Eisenkugel befestigt war, die mit Eisennägeln bestückt war. Die Gestalt schwang den Arm. Wie von der Schnur gezogen, wirbelte die tödliche Kugel auf mich zu. Ich kam nicht zum gezielten Schuß, feuerte zwar, doch die Kugel fehlte, da ich mich in Bewegung befand. Ich lag am Boden, rollte über den Teppich, und die Kugel hieb krachend auf die Schreibtischplatte. Der Killer sprang auf den Tisch. Ich sah ihn, als ich mich drehte. Er schlug wieder zu. Ich entkam der verfluchten Kugel durch eine schnelle Drehung. Die Stahlnägel rissen den kostbaren Teppich auf wie ein mörderisches Gebiß. Aber der andere gab nicht auf. Er holte wieder aus. Diesmal drehte er sich, er schwang seine mörderische Waffe wie ein argentinischer Cowboy seine Bola. Dabei schlug er einen Kreis zuviel. Meine Kugel war schneller. Bevor er die Stahlkugel auf die Reise schicken konnte, hatte ihn das geweihte Geschoß genau in die Brust getroffen. Er taumelte trotzdem noch auf mich zu, kam dabei sehr nahe heran, so daß ich sein Gesicht deutlicher erkennen konnte. Es war eine gelbliche teigige Fratze, wie ich sie eigentlich nur von Zombies her kannte. War er ein Zombie?
Wenn ja, würde er die Silberkugel nicht überleben. Dann zerstörte sie sein unseliges Dasein. Seinen Waffe wurde ihm zu schwer. Der rechte Arm sank dem Boden entgegen. Schwer prallte die Kugel auf den Teppich und hinterließ dort ein dumpfes Geräusch. Der Killer selbst ließ den Griff los. Die Kugel steckte in seiner Brust. Er wankte zurück, ich hörte ihn ächzen und würgen. Seine Zunge schnellte aus dem Mund, dick belegt mit einer gelblichen Flüssigkeit. Dann prallte er gegen den Schreibtisch, schlug mit dem Rük-ken auf die Platte und räumte mit einer unkontrollierten Bewegung noch das Telefon ab. Dann rollte er selbst herum, bekam das Übergewicht, fiel und blieb vor dem Möbelstück bewegungslos liegen. Ich stand breitbeinig und mit angeschlagener Waffe vor ihm. Wartete einige Sekunden, doch er rührte sich nicht. Die Kugel oder das geweihte Silber mußte ihn vernichtet haben. Mit dem Fuß rollte ich ihn auf den Rücken. Seine Kleidung bestand wirklich aus sehr weit geschnittenen, langen Hemden, die mich irgendwie an düstere Leichentücher erinnerten. Wenn er ein Zombie war, paßten sie auch zu ihm. Mit dem Waffenlauf drückte ich gegen sein Gesicht. In der Wange blieb eine Kuhle zurück und verformte sein Gesicht. Für mich der Beweis, daß ich es mit einem lebenden Toten zu tun gehabt hatte. Und wer hatte ihn geschickt? Es hatte zwar keinen Sinn, ich trat trotzdem an das Fenster und schaute von der ersten Etage hinaus auf den Piccadilly. Der Verkehr rollte wie immer. Mir fiel niemand auf, der mich unter Kontrolle gehalten hätte. Aus eigenem Antrieb hatte er sicherlich nicht gehandelt. Ich hob das Telefon auf. Es hatte den Aufprall überstanden und funktionierte noch. Dann rief ich meinen Chef an, erklärte ihm die Situation, und er versprach mir, sich mit dem Geheimdienst in Verbindung zu setzen. Ein paar Minuten würde ich Ruhe haben. Die nutzte ich aus, um eine Zigarette zu rauchen. Ich dachte dabei auch an Suko, meinen Partner. Ihn hätte ich gern an meiner Seite gehabt, doch ein schlimmer Fluch hatte aus ihm ein Kind werden lassen. Wann und ob wir das Problem überhaupt lösen konnten, stand für mich in den Sternen. Vorrang hatte der Fall Degen, der von mir zunächst nicht ernst genommen worden war. Nun allerdings dachte ich anders darüber. Ich konnte mir auch vorstellen, eine Dienstreise in die Schweiz zu unternehmen...
*** Das Büro war zwar groß, aber nicht so groß, als daß ich noch hätte dort bleiben können, ohne die anderen zu stören. Ich hatte mich deshalb in den Wohnraum verzogen, saß in einem hochlehnigen Ledersessel und nuk-kelte an einem Whisky, der mir nach diesem Schreck so richtig guttat. Sir James hatte versprochen, bei mir zu erscheinen, und dieses Versprechen hielt er auch. Er machte nicht gerade einen zufriedenen Eindruck, als er die Tür öffnete, auf einen zweiten Sessel zuging und sich dort niederließ. Hinter den dicken Gläsern der Brille funkelten die Augen. Den Ausdruck kannte ich, wenn Sir James so schaute, dann hatte man ihn entweder geärgert, oder er knobelte wieder an einer neuen Idee. »Schmeckt Ihnen der Whisky, John?« »Ich bin zufrieden.« »Schön, den gönne ich Ihnen auch. Sie sind dem Zombie ja knapp genug entwischt.« »Ja, Sir, es war ein Zombie, und ich frage mich, wer ihn geschickt hat und weshalb.« Der Superintendent griff in die Innentasche und holte Degens Abschiedsbrief hervor. »Deshalb.« »Dann sollte er nicht gefunden werden, nehme ich an.« »Ja, er ist eine Spur, mit dem unsere Feinde nicht gerechnet haben.« Sir James räusperte sich. »Es muß für sie etwas schiefgelaufen sein. Davon gehe ich aus.« »Sicher.« »Was halten Sie von dem Brief, John?« Ich streckte die Beine aus und stellte das leere Glas zur Seite. »Er ist zumindest ein ungewöhnlicher Abschiedsbrief, wenn ich das so sagen darf. Ich kenne mich zwar da nicht genau aus, denke aber, daß nicht jeder Selbstmörder einen derartigen Text hinterläßt. Oder wie stehen Sie dazu, Sir?« »Es ist schon ungewöhnlich. Er wollte in den Tod gehen, um das Leben zu gewinnen. Was soll das?« »Ich begreife es nicht.« »Wurde er gelockt?« »Denken Sie an den Teufel?« fragte ich gegen und hörte Sir James leise lachen. »Ja, so ungefähr. Ich habe überlegt, daß unser Freund Asmodis nie genug bekommen kann. Er will Seelen haben, er will es seinen Feinden zeigen, daß er es im Endeffekt ist, der die Macht über die Menschen hat. Darauf könnte es letztendlich hinauslaufen.« »Und dafür benutzt er ein Grand Hotel in den Schweizer Bergen?« Sir James hob die Schultern. »Wir kennen zu wenig von diesem Fall, John.«
»Das heißt also, daß ich mich auf die Reise nach Sils-Maria machen kann, Sir?« »Es wäre bestimmt hilfreich.« »Ich werde mich gern dort umschauen.« Sir James trommelte mit den Fingerkuppen auf der rechten Armlehne. »Beim Secret Service steht natürlich alles auf Sturm. Natürlich würden sie gern den Fall allein klären, aber sie trauen sich nicht so recht. Sie haben Angst davor, zu sehr in die Öffentlichkeit zu geraten, und da sind auch Aspekte, die in unseren Bereich hineinspielen. Deshalb steht fest, John, daß Sie bei Ihrer Mission für uns und den Geheimdienst arbeiten werden, wenn sie fahren.« »Das ist mir klar. Ich möchte aber noch einmal auf den Killer zurückkommen. Für mich steht fest, daß wir es mit einem Zombie zu tun gehabt haben. Sind Sie auch der Meinung?« Sir James nickte. »Wer also schickt uns diese Wesen?« »Sie könnten sich die Antwort leichtmachen, wenn Sie an Cigam denken, diesem Kunstgeschöpf des Satans. Ich gehe davon aus, daß er wieder alte Zeiten auferstehen lassen will. Bewiesen hat er das ja vor nicht allzu langer Zeit.« »Stimmt. Nur glaube ich nicht daran.« »Und weshalb nicht?« »Cigam wäre anders vorgegangen. Mit einer größeren Macht, viel geballter.« »Meinen Sie?« »Ja.« »Wer steckt dann dahinter?« »Wenn ich das wüßte, brauchte ich die Reise nicht anzutreten, obwohl es im Engadin sicherlich wunderschön sein wird. Der Herbst ist ja die ideale Reisezeit.« »Wenn Sie Reisen sagen, erinnert mich das an dieses Grand Hotel. Ich habe Erkundigungen darüber einholen lassen. Es ist nichts Negatives bekannt, im Gegenteil, es hat einen ausgezeichneten Ruf und eignet sich bestens zur Erholung. Es gehört einem gewissen Reto Kirchner. Er und seine Familie leiten es. Zudem befindet sich das Hotel seit Generationen im Besitz dieser Familie, da kann man nichts dagegen sagen.« »Dennoch hat es Degen erwähnt. Er ist in das Grand Hotel gefahren, um zu sterben.« »Ja. Auch da habe ich nachfragen lassen. Das Ergebnis war negativ. Die Kollegen in der Schweiz haben erst gelacht. Als ich nicht lockerließ, wurden sie ärgerlich. Ich möchte die deshalb nicht noch mehr ärgern und bitte Sie, den nächsten Teil als eine Geheimmission anzusehen. Ein Einzelzimmer hat Glenda schon für Sie reservieren lassen.« »Schade.« »Wieso?«
Mein Grinsen wurde breit. »Ich hätte lieber ein Doppelzimmer gehabt und Glenda mitgenommen.« Sir James schaute mich scharf an. Dann nickte er und erwiderte mit voller Inbrunst. »Ja, John Sinclair, ja, das kann ich mir sehr gut vorstellen. Das traue ich Ihnen auch ohne weiteres zu, aber sie müssen leider darauf verzichten, ich kann Miß Perkins nicht entbehren.« »War auch nur ein Vorschlag.« »Und lassen Sie bitte auch Jane Collins aus dem Spiel, falls Sie irgendwelche Gelüste verspüren! Es ist wirklich besser, wenn Sie allein reisen und sich auf den Fall konzentrieren.« »War nur Spaß, Sir.« »Ihre Spaße kenne ich.« Ich kam wieder zur Sache. »Daß dieser zwergenhafte Killer nicht vom Himmel gefallen sein kann, steht fest. Haben Sie irgendwelche Ergebnisse erhalten, was sein Kommen angeht. Haben Sie herausgefunden, wo er möglicherweise herkam?« »Leider nichts. Es sind Hausbewohner befragt worden, die aber haben nichts gesehen.« »Pech.« »Ob Sie es wollen oder nicht, John, die Aufklärung finden Sie nicht hier, sondern in Sils-Maria. Es soll ein wunderschöner Ort sein, praktisch am Ende der Welt. Umgeben von Bergen, wo man eigentlich mal richtig ausspannen müßte.« »Danke für diesen Rat, Sir.« »Sie werden natürlich versuchen, den Fall so rasch wie möglich zu lösen. Entspannen gilt nicht.« »Bin ich gewohnt, Sir.« Ich streckte die Hand aus. »Kann ich den Brief mitnehmen?« »Sie bekommen eine Kopie.« »Ist mir auch recht.« Jemand klopfte an die Tür und unterbrach unser Gespräch. Bevor wir ihn hereinbitten konnten, betrat der Mann den Raum und nickte uns zu. Ich wußte nur, daß er beim Geheimdienst so etwas wie ein Abteilungsleiter spielte und hier den Chef markierte. Dabei sah er nicht danach aus. Er war mager, ziemlich klein, trug einen grauen Anzug, eine farblose Krawatte und eine meiner Ansicht nach zu kleine Brille, die ihn auf der Nase klemmen mußte. Seine Augen aber waren kalt wie Gletschereis. Mich übersah er und nickte Sir James zu. »Nehmen Sie Platz, Roberts.« Der Mann setzte sich. Sir James kannte ihn besser. »Ich will zwar nicht spekulieren, Roberts, doch Ihrem Gesicht entnehme ich, daß Sie fündig geworden sind. Sie haben etwas entdeckt.« »Das stimmt.« »Und was haben Sie herausgefunden?« .<
Roberts legte die Stirn in Falten und seine Hände gegeneinander. »Es ist so, daß wir uns mit diesem Killer beschäftigt haben, weil einer meiner Leute der Ansicht war, den Mann zu kennen.« »Hatte er recht?« »Ja. Er hat sich nicht geirrt. Dieser zwergenhafte Killer ist in unseren Kreisen tatsächlich bekannt. Ich will nicht gerade sagen, daß er einer von uns ist, aber er arbeitet auf demselben Gebiet, steht allerdings auf der anderen Seite.« »Also Agent.« »Sicher. Er läuft unter dem Decknamen Donauschiffer und ist für den rumänischen Geheimdienst tätig gewesen. Seit etwa einem halben Jahr ist er verschwunden. Wir gingen davon aus, daß er ein Opfer des Aufstands damals geworden ist. War wohl ein Irrtum, wie wir nun feststellen müssen. Es gab ihn nach wie vor.« Sir James nickte. »Und für welche Seite wäre er Ihrer Meinung nach später tätig gewesen?« »Da fehlt uns die Kenntnis. Wie gesagt, er trat in der Szene nicht mehr auf.« »Wie kommt es, daß Sie so gut über ihn informiert sind?« wollte ich wissen. Roberts warf mir einen bösen Blick zu und gab mir eine ausweichende Antwort. »Wir haben unsere Quellen.« Damit wollte ich mich nicht zufrieden geben. »Oder arbeitete er als Doppelagent?« Roberts bewegte seinen Mund. Er überlegte, schließlich gab er die Antwort. »Hin und wieder tat er uns einen Gefallen, aber das soll nicht Ihr Problem sein«, fuhr er mit scharfer Stimme fort. »Wir möchten natürlich alle, daß dieser Fall gelöst wird. Cornell Degen war ein guter Mitarbeiter. Ein Mann, der nicht einfach alles hinwirft und dann verschwindet. Das kommt nicht in Frage, das kann ich nicht akzeptieren. Mit ihm muß etwas geschehen sein, und Sie, Mr. Sinclair, gehören ja zu den Spezialisten, die einen derartigen Fall aufklären können, habe ich mir sagen lassen. Außerdem waren Sie uns schon öfter behilflich.« »Worauf ich nicht stolz bin.« Diese Antwort irritierte den Bürohengst mit den kalten Augen. Er schaute Sir James an, als wollte er sich über mich beschweren, doch der Superintendent lächelte nur, und es war ein Lächeln, das den Knaben vom Geheimdienst zur Vorsicht mahnte. Ich wußte ja, daß Sir James den Diensten auch nicht gerade superfreundlich gegenüberstand. »Nun ja«, sagte Roberts, bevor er sich mit einer steifen Bewegung erhob, »Sie wissen jedenfalls Bescheid und werden sicherlich schon Pläne geschmiedet haben.« »In der Tat.« »Wann wird Mr. Sinclair fliegen?« »Morgen.« »Gut. Das Zimmer ist gebucht?«
»Auch das haben wir erledigt.« Roberts schaute den Superintendent an. »Es freut mich, daß Sie so gut mitdenken, zeigt es mir doch, daß sich der Fall bei Ihnen in den besten Händen befindet. Guten Tag.« Er ging zur Tür und verschwand. Ich schüttelte mich. »Am liebsten würde ich die Fenster öffnen, um den trockenen Geruch, den Roberts hinterlassen hat, aus dem Zimmer zu bekommen.« »Regen Sie sich ab, John, er kann eben nicht aus seiner Haut.« Sir James schaute sich um. »Hier haben wir wohl nichts mehr verloren. Wir werden die Wohnung den Spezialisten überlassen. Kann ich Sie mit ins Büro nehmen?«. »Ja, ich habe keinen Wagen mit dabei. Die U-Bahn ist schneller.« »Da sagen Sie was.« Ich ging nicht mehr zurück in das Mordzimmer, sondern nach draußen, wo mich ein milder Septembertag empfing, dessen Himmel eine sehr klare Bläue zeigte. Sir James Dienstwagen stand auf dem Gehsteig, zusammen mit den anderen Fahrzeugen der Kollegen. Ich erkannte auch den dunklen Leichenwagen. Die Toten waren also noch nicht aus dem Haus geschafft worden. Wie immer hatten sich Zuschauer versammelt, die von einigen Beamten stets zurückgedrängt werden mußten. Sir James Fahrer stand neben dem Wagen. Er schaute mich an und fragte locker: »Kommt der Chef auch gleich?« »Ja.« Sir James kam. »Zum Yard, bitte.« »Sehr wohl, Sir.« Ihm wurde die Tür geöffnet, mir nicht. Ich setzte mich in den Fond und sah, daß Sir James einen sehr nachdenklichen Eindruck machte. »Woran denken Sie?« »Das will ich Ihnen sagen, John.« Er rückte seinen Bowler zurecht. »Ich habe den Eindruck, daß mehr hinter diesem Fall steckt, als wir bisher annehmen.« »Da stehen Sie nicht alleine, Sir.« »Und was meinen Sie?« »Degen war ein Agent, dieser Zombie ebenfalls. Vielleicht haben wir es mit einem ganzen Agentennest zu tun.« »Genau.« »Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter, Sir. Möglicherweise mit untoten Agenten.« Mein Chef schwieg, schaute aus dem Fenster, als wäre es besonders interessant, einen Stau zu beobachten. »Malen Sie den Teufel nicht an die Wand, John.« »Aber vergessen kann ich ihn auch nicht.«
Sir James nickte. »Das stimmt wohl.« Dann atmete er tief durch. »Aber sehen Sie zunächst, was Ihnen der kleine Ausflug in das Engadin bringen wird.« »Bestimmt keinen Urlaub, Sir.« Er widersprach mir nicht... *** Er war bis Zürich geflogen, hatte sich dort einen Leihwagen genommen und war über Chur, Lenzerheide und den Julier-Paß in das Engadin gefahren. Auf der sehr kurvenreichen Strecke wäre ihm beinahe schwindlig geworden, aber ein Mann wie Wladimir Golenkow biß die Zähne zusammen und dachte nie an Aufgabe. Das hatte er schon vor der Umgestaltung nicht getan. Einmal jedoch hatte er Furcht gehabt, als in seinem Land geputscht wurde, der Umsturz aber nicht klappte, so daß die Bewohner jetzt viel freier als sonst atmen konnten. Wladimir Golenkow war KGB-Mann. Er gehörte ausgerechnet einer Organisation an, die in der letzten Zeit stark ins Zwielicht geraten war und deren alte Strukturen dicht vor der Auflösung standen, um neu formiert zu werden. Viele seiner Kollegen wurden abgeschoben, sie mußten gehen, einige landeten auch hinter Gittern, doch Wladimir brauchte keine Sorge um seine Zukunft zu haben. Er hatte schon immer zu den Leuten gehört, die auf Seiten der Reformer standen und oftmals gegen den Strom geschwommen waren. Er hatte viel Menschlichkeit in seinem Job gezeigt, und er hatte gleichzeitig bewiesen, daß es auch in einem sozialistisch geführten Land Dämonen gab, die sich um Macht- und Parteistrukturen nicht kümmerten, sondern ihren eigenen Zielen nachgingen. Zu Beginn hatte es Wladimir schwer gehabt, sich da durchzusetzen, aber als erste Erfolge eintraten, dachte man anders darüber und ließ ihn in Ruhe. Zudem ging ein Freund von ihm, John Sinclair, dem gleichen Job nach, und er war mittlerweile auch in Rußland bekannt geworden, vor allen Dingen deshalb, weil Wladimir und er die großen Erfolge gemeinsam errungen hatten. Auch jetzt hätte Wladimir den Freund gern bei sich gehabt, sah aber ein, daß der neue Fall doch zu geheimnisvoll und nebulös und auch nicht eben ein Ruhmesblatt für den KGB war, denn es ging um verschwundene Agenten, die sich irgendwann vor ihrem Verschwinden gemeldet oder einfach einen kurzen Abschiedsbrief hinterlassen hatten, in dem sie erklärten, daß sie zum Sterben in die Schweiz fahren würden. Nicht nur einfach irgendwohin, sondern an einen bestimmten Ort, in ein bestimmtes Hotel.
Sosehr man auch daran interessiert war, die Vergangenheit aufzuarbeiten, gab es doch Punkte, die nicht unbedingt an die Öffentlichkeit sollten. Dazu gehörte eben das Verschwinden der KGBAgenten. Zuerst hatte man sie als Überläufer angesehen. Aber es gab keine Spuren, es passierte nichts, was auf einen Wechsel hingedeutet hätte. Es wurde nichts verraten, es gab keine Auseinandersetzungen, was blieb, das war allein die Ruhe vor dem Sturm. Man konnte sich gut vorstellen, daß sich in der Schweiz ein neues Nest bildete und linientreue Mitarbeiter den alten Zeiten nachtrauerten und nicht einsehen wollten, daß diese vorbei waren. Wladimir war in die Schweiz gefahren, um dieses Nest zu zerstören, bevor es richtig aufgebaut werden konnte. Und er hatte einen Namen. Dr. Satorius! Ein Typ, der sich als Weltenbürger ansah, der immer wieder mal in Erscheinung trat, schon Sekten gegründet und seine Dienste auch den Geheimdiensten angeboten hatte. Er sollte sich ebenfalls in der Schweiz aufhalten, dazu noch im Engadin, wo sich der kleine Ort Sils-Maria mit dem Grand Hotel befand. Das alles hatten Wladimir und seine Mitarbeiter herausgefunden, aber er selbst war dann losgefahren, um sich um die verschwundenen Agenten und Satorius zu kümmern. Es fiel ihm nicht leicht, sich während der Fahrt gedanklich mit dem Fall zu beschäftigen, weil ihn die grandiose Landschaft einfach zu stark ablenkte. Sie war manchmal das, was man als ein Wunder der Natur bezeichnen konnte. Mächtige Berge, hohe Gipfel, Schnee und schillerndes Eis, saftgrüne Almen, herrliche Weiden, dichte Wälder und eine wunderbare Luft, die immer kühler wurde, je höher er kam. Es war die richtige Urlaubszeit für Bergwanderer. Auf dem Julierpaß legte er eine kleine Pause ein. An einem Kiosk trank er eine Flasche Wasser und schaute über die Geröllhalden hinweg, die manchmal teilweise von großen Altschneeflecken verdeckt wurden. Es herrschte ziemlich viel Betrieb auf der Paßhöhe, denn im Tal, in ungefähr 1900 Meter Höhe lag St. Moritz, einer der berühmtesten Skiorte der Welt. Auch im Sommer herrschte dort Betrieb, allerdings nicht so stark wie im Winter. Es gab aber viele Tagestouristen, die St. Moritz einen Besuch abstatteten. Etwa eine halbe Stunde ließ sich der Russe Zeit. Er hockte auf einer kleinen Bank, hatte die Beine ausgestreckt, schaute durch seine Sonnenbrille nicht nur den Bergen entgegen, sondern beobachtete auch die Menschen, die ihn umgaben.
Zumeist Ehepaare, die eine Rast eingelegt hatten, ihren Urlaub genossen und sich über das Wetter ebenso freuten wie über die herrliche Bergkulisse. Golenkow war immer mißtrauisch. Es lag wohl an seinem Job, daß er nicht so leben konnte wie andere. Er sah die Menschen und seine Umgebung mit anderen Augen an, und das Mißtrauen gehörte ebenfalls dazu. Auf dem Paß nicht. Da wollte ihm keiner etwas, da wurde er nicht beobachtet, und da observierte er auch nicht. Wladimir Golenkow hatte sich vorgenommen, am frühen Mittag in SilsMaria zu sein, und den Termin würde er auch einhalten können. Sils Maria und St. Moritz lagen in einem Tal, und es war der Silvaplananer See, der die beiden Orte praktisch trennte. An ihm entlang führte auch die Straße nach Sils-Maria. Für den Russen war es ein Genuß, an diesem Gewässer entlangzufahren. Trotz des einfallenden Sonnenlichts zeigte seine Oberfläche eine dunkelgrüne Färbung, ein Zeichen, daß der See doch ziemlich tief war. Sein Wasser war eisig, denn er wurde von den tauenden Eismassen gespeist. Golenkow bewunderte die Surfer, die ihre Bahnen zogen. Für diesen Sport war der See bestens geeignet, hier herrschten ideale Windverhältnisse. Wie gezeichnet hoben sich die Berge in der klaren Luft ab. Als hätte der liebe Gott einen besonderen Bildhauer beauftragt, diese Gegend zu schaffen, um die Menschen zu erfreuen. Daß die Menschen aber auch viel zerstört hatten, wußte Wladimir ebenfalls. Besonders im Winter, wenn Legionen von Skifahrern einfielen, stöhnte die Natur auf und bekam in den folgenden Monaten kaum eine Chance, sich zu erholen. Auch in seinem Heimatland bekamen die Menschen allmählich einen Sinn für die Umwelt, und Wladimir hoffte, daß es noch nicht zu spät war, doch leider waren weite Gebiete schon verseucht. Er rollte am Ufer entlang. Der Leih-Volvo hatte die Strecke bisher bestens bewältigt. Er war für die Berge ideal. Am Ende des Sees mußte er nach links ab und las schon bald das Ortsschild Sils-Maria. Er dachte auch daran, daß Nietzsche, der deutsche Philosoph, hier einige Zeit gelebt hatte und es in Sils-Maria noch ein Nietzsche-Haus gab, das besichtigt werden konnte und das nicht einmal weit vom Grand Hotel entfernt stand. Das Hotel hatte er bereits auf der Fahrt sehen können. Es war einfach nicht zu übersehen, weil es auf einer von Tannen und Lärchen bewachsenen Anhöhe lag und sein Turm über die Baumwipfel stolz hinausragte. Er war geschmückt mit der Schweizer Fahne, die im leich-
ten Westwind flatterte, als wollte sie die Gäste anlocken. Ein wunderschöner Ort nahm ihn auf. Kein Gedanke an irgendwelche Betonsilos, in die Touristen hineingepfercht wurden, diese Häuser hier zeigten die typische Bauweise des Engadin und hatten den rätoromanischen Einschlag, was sich auch an den zahlreichen Bemalungen der Wände widerspiegelte, an den schmalen, oft lukenhaften Fenstern und dem hellen Mauerwerk. Herbstblumen quollen aus Kästen und Kübeln, im Ort herrschte so etwas wie eine Aufbruchstimmung. Das mochte an den Touristen liegen, die durch Sils-Maria flanierten oder es sich in den Gärten und Terrassen bequem gemacht hatten, um etwas zu essen oder einen Schluck zu nehmen. Aus der Ferne grüßten die Bergspitzen des Piz Palü, des Piz Nair oder des Piz Cor-vatsch. Die Gletscher der Bernina-Kette funkelten, als hätte man sie mit Diamanten bestreut, und Wladimir Golenkow vergaß, weshalb er nach Sils-Maria gekommen war. Brutal wurde er wieder daran erinnert. Er befand s ich im Mittelpunkt des Ortes, wo auch die Post war und die Busse hielten, als er die drei Männer sah, die aus einem kleinen Lokal traten. Der eine davon war Dr. Satorius! Er war nicht zu übersehen, denn so etwas wie ihn gab es nur einmal. Trotz des wunderbaren Wetters hatte er auf seinen dunklen Mantel nicht verzichtet, der beim Gehen wie eine Glocke um seine Gestalt schwang. Er war nicht allein. Zwei Männer begleiteten ihn. Sie trugen dicke Lederjacken und Pudelmützen. Satorius war stehengeblieben und redete mit den beiden Leuten. Sie schauten ihn fast gläubig an, lauschten seinen Worten. Wladimir Golenkow schreckte zusammen, als er hinter sich das Hupsignal hörte. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er gestoppt und den Verkehr aufgehalten hatte. Rasch fuhr er weiter und fand auch nicht weit entfernt einen Parkplatz. Sofort stieg er aus. Die drei Männer standen noch immer vor der Post. Sie wirkten wie unschlüssige Personen, die noch nicht herausgefunden hatten, was sie in den folgenden Stunden unternehmen sollten. Das kam dem Russen sehr gelegen. Er wollte von Beginn an Nägel mit Köpfen machen, damit dieser Satorius wußte, woran er war. Sie kannten sich, sie waren keine Freunde, denn Wladimir haßte Typen wie diesen Kerl, der seinen Fahne immer nur in bestimmte Windrichtungen drehte. Er würde ihm die entsprechenden Fragen stellen und war gespannt, wie Satorius darauf reagierte.
Wladimir ließ einen Geländewagen passieren und überquerte die Fahrbahn. Auf dem Platz vor der Post blieb er stehen, allerdings im Rücken der drei Männer. Sie hatten ihn nicht gesehen, unterhielten sich weiter, so daß sich Wladimir an sie heranschleichen konnte. Leider war es zu laut, um verstehen zu können, was sie sagten. Er jedoch wurde von ihnen gehört, als er sie ansprach. »Machen Sie hier Urlaub, Satorius?« Nicht der Angesprochene fuhr herum, sondern seine beiden Leibwächter. Sie glotzten den Sprecher an, der schnell eine zweite Frage stellte. »Oder wollen sie nur das Nietzsche-Haus besichtigen, da ja auch Sie sich als eine Art Psychologe bezeichnen?« Jetzt drehte sich auch Satorius um, und der Russe konnte erkennen, daß der Psychologe sich seit ihrem letzten Zusammentreffen so gut wie nicht verändert hatte. Sein Gesicht zeigte stets einen verkniffenen Ausdruck, wenigstens um den Mund herum. Weiter oben, etwa in Höhe der Wangen, zeigte es genau das Gegenteil. Da wirkte es sanft, richtig nett, und die Augen flößten Vertrauen ein. Er trug sein blondes Haar sehr lang zurückgekämmt. Nachdem er die Überraschung verdaut hatte, löste sich auch der verkniffene Zug um seinen Mund. Er schob die Lippen vor und spitzte sie. Dabei schnalzte er mit der Zunge, als würde vor ihm ein besonders leckeres Essen stehen. »Sieh an, ein Freund aus alten Tagen.« »Meinen Sie das wirklich, Satorius?« Erhob die Schultern. »Keine Ahnung, Golenkow.« Er lächelte und legte einen Finger gegen sein Kinn. »Lassen Sie mich nachdenken, weshalb ich Sie hier treffe.« »Das ist einfach.« »Nein, nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann mir vorstellen, daß Ihnen die Entwicklung in Ihrem Land nicht in den Kram gepaßt hat. Der KGB ist out, Demokratie ist in, und dafür hat Ihre Organisation ja noch nie gestanden. Sie sind also unterwegs, um sich eine neue Heimat zu suchen. Sie sind auf der Flucht, und sie haben sich ein Land ausgesucht, das von vielen Flüchtlingen bevorzugt wird, aber meist aus steuerlichen Gründen.« »Sie reden Unsinn.« »Ach ja?« »Sicher. Ich kann Ihnen sagen, weshalb ich hier bin.« Wladimir wollte gleich zum Kern vorstoßen. »Ich bin Ihretwegen nach Sils-Maria gekommen, Satorius.« »Nein.« »Doch.« Der Russe behielt seine kalte Freundlichkeit bei. »Nur Ihretwegen, bitte sehr.«
»Zuviel der Ehre. Wenn Sie mich hätten treffen wollen, hätten Sie nicht eine derart weite Reise zu unternehmen brauchen. Wir hätten telefonisch einen Ort und einen Termin vereinbaren können, der uns beiden entgegengekommen wäre.« »Das ist nicht allein der Grund«, sagte Wladimir. »Welchen gibt es noch?« »Ich will Ihnen das Handwerk legen, Satorius. Ich will Antworten auf bestimmte Fragen, verstehen Sie?« »Nein. Werden Sie deutlicher.« »Gern. Ich mag es nicht, wenn sich Menschen praktisch verabschieden, um hier in Sils-Maria in den Tod zu gehen, von dem sie glauben, ein besseres Leben zu bekommen, obwohl dies mehr als paradox ist. Wissen Sie nun Bescheid?« Satorius wußte es. Er schaute den Russen mit einem bestimmten Blick an. Andere wären darunter zusammengezuckt, denn über seine Pupillen hatte sich ein Eisfilm gelegt. »Ich will Ihnen etwas sagen, Golenkow. Verschwinden Sie aus Sils-Maria. Verschwinden Sie so schnell wie möglich. Kommen Sie mir nie mehr unter die Augen!« Wladimir lächelte ihn an. »Das ist schlecht möglich. Ich habe bereits im Grand Hotel gebucht. Und glauben Sie nicht, daß ich vor Ihren beiden Wachhunden Angst hätte. Diese Kettenköter verspeise ich normalerweise zum Frühstück.« Satorius gab keine Antwort. Er schüttelte nur leicht den Kopf. Dann drehte er sich um und ging. Seine Kettenhunde auf zwei Beinen folgten ihm. Sie allerdings schauten noch einmal zurück. Wenn Blicke töten könnten, wäre Wladimir Golenkow nicht mehr am Leben, so brutal schauten sie ihn an. Er aber ging zurück zu seinem Wagen. Und plötzlich kam ihm Sils-Maria gar nicht mehr so nett vor... *** Es war der Hotelbesitzer, Herr Kirchner, der den neuen Gast mit einem Händedruck und einem strahlenden Lächeln begrüßte und sich danach erkundigte, ob er eine gute Reise gehabt hätte. »Ja, das hatte ich.« »Dann darf ich Sie jetzt bitten, die Anmeldung auszufüllen. Danach wird man Ihnen Ihr Zimmer zeigen und das Gepäck hochschaffen. Wir werden uns noch öfter sehen, und ich darf Ihnen einen angenehmen Aufenthalt bei uns wünschen.« »Danke sehr, das werde ich bestimmt haben.« Wladimir konnte gut lügen, denn dieser Satorius war ihm nach wie vor nicht aus dem Sinn gegangen.
Bevor der dunkelhaarige und sonnenbraune Reto Kirchner sich zurückziehen konnte, hielt ihn der Ruf des neuen Gastes auf. »Einen Moment bitte noch, Herr Kirchner.« »Ja . . .?« Er kam wieder näher. »Ich hätte da eine Frage.« »Gern.« »Es geht um einen Bekannten, der hier in Sils-Maria wohnen soll. Vielleicht kennen Sie ihn.« »Das kann schon sein. Wie heißt er denn?« »Dr. Satorius.« Wladimir hatte den Hotelbesitzer bei seiner Antwort nicht aus den Augen gelassen, doch in seiner Reaktion nichts gesehen, was seinen Verdacht erregt hätte. Im Gegenteil, er lächelte ihm sogar offen und ehrlich zu. »Den Doktor kenne ich in der Tat.« »Das ist gut. Wo wohnt er?« »Bei uns.« Wladimir schüttelte den Kopf. Er konnte es nicht richtig fassen. »Wie meinen Sie?« »Er lebt in einem kleinen Haus, das auf unserem Grundstück steht und zum Hotel gehört. Wir vermieten es...« »Ahhh — so ist das.« Wladimir räusperte sich. »Führt er denn auch seine Seminare durch?« »Sie denken an die Behandlungen?« »Das ist besser — ja.« Kirchner nickte. »In der Tat führt er sie durch. Schon seit zwei Jahren. Und immer im Sommer. Seine Patienten wohnen bei uns.« Er lächelte gequält. »Der Ausdruck Patienten gefällt mir nicht. Es sind Gäste, und zwar internationale.« »Ja, das ist mir bekannt.« »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Herr Golen-kow?« »Nein, danke, das war schon sehr viel. Ich bin beeindruckt, Herr Kirchner »Oh — vielen Dank.« Ein junger Hotelangestellter stand bereit, der sich um den Koffer der Russen kümmerte. Wladimir dachte daran, daß er waffenlos in die Schweiz geflogen war: Er wollte sich allerdings so schnell wie möglich eine Pistole oder einen Revolver besorgen, denn wahrscheinlich konnten die beiden Kettenhunde nur so in Schach gehalten werden. Sein Zimmer lag in der dritten Etage. Ein sehr breiter und hoher Gang nahm ihn auf. Alles in diesem schon älteren Hotel war hoch und wuchtig. Man sah diesem Bau den Jugendstil an. Der junge Mann hatte sichtlich Mühe mit dem schweren Koffer und atmete auf, als sie die Zimmertür erreicht hatten. »Den Rest mache ich allein«, sagte Wladimir, ließ eine Münze in die Hand des Jungen fallen und schloß auf.
Das Zimmer gefiel ihm. Es war kein Luxusraum, aber man konnte sich durchaus wohl fühlen. Er stellte den Koffer ab, öffnete ihn und verteilte seine Sachen. Dann schaute er im Bad nach. Es gab nur eine Dusche, keine Wanne, was ihm sogar recht war. Sein nächster Weg führte ihn zu dem kleinen Fenster, das er öffnete, um die frische Gebirgsluft durch den Raum strömen zu lassen. Wladimir nickte und freute sich darüber, daß er, was die Lage des Zimmers betraf, Glück gehabt hatte. Vom Fenster aus konnte er einen Teil des Ortes praktisch überblicken und sogar die Stelle sehen, wo er mit Satorius zusammengetroffen war. Von ihm und seinen beiden Leibwächtern war nichts mehr zu sehen. Er dachte daran, daß Satorius seine Seminare auf dem Hotelgrundstück in einem dafür vorgesehenen Anbau abhielt. Und seine Patienten oder Gäste wohnten im Grand Hotel. Wenn das alles stimmte, konnte der KGBMann davon ausgehen, daß er so manch alten Bekannten wiedertraf und vielleicht auch die Typen, die ihm nicht eben wohl gesonnen waren. Zimmer hatte das Grand Hotel genügend. Wer kam freiwillig in diese herrliche Umgebung, um zu sterben? Oder anders ausgedrückt, um in ein neues Leben zu tauchen, das Wladimir allerdings mit dem Tod gleichsetzte? Verrückte? Wohl kaum, dann wären zahlreiche Agenten, auf die viele Geheimdienste gesetzt hatten, verrückt. Es mußte schon einen anderen Grund geben, der sie an dieses Ziel lockte. Satorius! Sein Einfluß mußte es sein. Er war schon immer eine schillernde Figur im negativen Sinne gewesen, hatte oft auf mehreren Hochzeiten getanzt und dementsprechend viele Verbindungen knüpfen können. Es mußte ihm gelungen sein, die Leute nach Sils-Maria zu locken. Wo starben sie? Wie starben sie? Spuren hatte es bisher kaum gegeben. Auch Wladimir hatte keinen der Vermißten je wieder zu Gesicht bekommen. Die konnten seiner Meinung nicht alle hier verscharrt worden sein. Er spürte den Wind auf seinem Gesicht, der einen sauberen Tannendurft mitbrachte. Im Ort unten herrschte normaler Verkehr. Er sah auch einen kleinen Teil der Serpentinenstraße, die hoch zu dem mächtigen Grand Hotel führte. Wladimir schloß das Fenster. Es brachte nichts, wenn er in seinem Zimmer blieb. Hier bekam er keine Auskunft, was Satorius anging. Und er wollte mehr über dessen Aktivitäten hier in Sils-Maria wissen. Da war es gut, wenn er sich den Anbau einmal anschaute, in dem er seine Stunden durchführte.
Wie er sich erinnern konnte, waren Satorius und seine Gorillas zum Ortsausgang gegangen. Das Haus mußte leer sein. Möglicherweise ergab sich für ihn eine Chance, einen kleinen Blick hineinzuwerfen. Er steckte den Schlüssel ein und verließ sein Zimmer. Der Gang war leer. Nicht ein Zimmermädchen saugte, nicht ein Geräusch war zu hören. Auch aus dem Querflur nicht, dessen Eingang seiner Zimmertür beinahe gegenüberlag. Dort gab es keine Fenster, deshalb wirkte der Flur auch wie ein düsterer Tunnel. Golenkow schaute hin. Es war zwar nicht der Weg, den er nehmen wollte, doch es gehörte zu seinem Job, immer wieder mit Blicken die Umgebung zu sichern. Er hörte den Ruf. Wäre es nicht so still gewesen, hätte er nichts mitbekommen. So aber blieb er in einer angespannten Haltung stehen, das rechte Bein schon vorgesetzt, das linke etwas zurückgedrückt. Seine Augen hatten sich verengt, er ging mit leisen Schritten auf den Flureingang zu, der quer zum normalen Gang lag. Wiederholte sich der Laut? Wladimir hoffte darauf, weil leider zu viele Türen zur Auswahl standen. Da hätte hinter jeder etwas passieren können. Auf dem Teppich blieb er stehen und lauschte, doch er hörte noch immer nichts. Hatte er sich getäuscht? Das wollte Wladimir nicht glauben. Er ging den einfachsten Weg und lauschte an jeder Tür. Hinter einer erklang das Stöhnen. Das war es! Es fieberte in seinem Innern. Normalerweise waren die Türen abgeschlossen. Viele Hoffnungen machte er sich nicht. Er probierte es trotzdem, drückte die alte Klinke nach unten und zog die Tür auf. Das Zimmer sah aus wie seines, nur war es etwas schmaler. Durch den engen Flur konnte er nach vorn in den normalen Raum schauen. Er sah das untere Drittel eines Betts und darauf zwei Beine. Die Füße steckten in Halbschuhen mit dicken Sohlen. Auf Zehenspitzen glitt Golenkow näher. Er hatte das Gefühl, der Lösung einen großen Schritt entgegengekommen zu sein, betrat den Raum, schaute nach rechts — und erstarrte. Ein älterer, grauhaariger Mann saß auf dem Bett. Er lehnte mit dem Rücken an der oberen Kante. Aufrecht saß er. Den rechten Arm hatte er angewinkelt. Seine Hand umklammerte den Griff eines Revolvers, auf dessen Lauf ein Schalldämpfer geschraubt worden war. Dessen Mündung berührte den Kopf, der Finger lag am Abzug.
Der Mann mußte den Russen gesehen haben, denn sein Blick flackerte für einen Moment. »Nicht!« flüsterte Wladimir. Da drückte der andere ab! *** Golenkow nahm es hin wie eine eigene Niederlage. Wie im Zeitlupentempo kamen ihm die nächsten Sekunden vor. Das Geschoß war mit einer derartigen Wucht quer durch den Schädel gejagt, daß es an der anderen Seite wieder hervortrat und eine schreckliche Wunde riß. Dann sackte der Selbstmörder zusammen. Er kippte einfach weg, war zu einem Puppenkörper geworden, und die Waffe rutschte ihm aus der Hand. Sie blieb neben ihm auf der Decke liegen. An der anderen Seite war sie durch Blut und Gehirnmasse beschmutzt. Golenkow stand da, wie vom Donner gerührt. Der Tote bot wahrhaftig keinen schönen Anblick, er wollte ihn sich auch nicht länger und so genau ansehen, doch das gehörte leider zu seinem Job, denn es war durchaus möglich, daß er den Mann kannte. Geräuschlos trat er an das Bett heran. Von der Seite her beugte er sich dem Toten entgegen. Über die rechte Gesichtshälfte war Blut gelaufen. Es gab dem Toten ein monsterhaftes Aussehen. Zudem stand der Mund offen wie das Maul bei einem Nußknacker. Sehr genau schaute sich Golenkow das Gesicht an. Ja, er hatte sich nicht geirrt. Dieser Mann war ihm bekannt. Er stammte nicht aus dem westlichen und auch nicht aus dem östlichen Lager. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatte man ihn den Wiener genannt. Doch seine Zeit war vorbei gewesen. In den sechziger Jahren hatte er als Nachrichtenhändler von sich reden gemacht. Wladimir hatte ihn zuvor nie persönlich kennengelernt, nun stand er da, schaute auf seine Leiche und stellte sich verzweifelt die Frage nach dem Grund des Selbstmords. Wer hatte ihn dazu angetrieben? Wer steckte dahinter? Satorius! Nur eine Gestalt wie dieser angebliche Psychologe konnte so etwas in die Wege leiten. Das war ein Satan in Menschengestalt, ein widerlicher Parasit, der all die Jahre im Hintergrund gelebt und auf seine Chance gelauert hatte. »Hatte ich dir nicht gesagt, mir nicht mehr unter die Augen zu kommen, Russe?« Nein, diese Stimme bildete sich Wladimir nicht ein. Er packte die Waffe mit dem Schalldämpfer, fuhr herum und richtete die Mündung auf die Gestalt, die im Zimmer stand. Dr. Satorius mußte lautlos gekommen sein. Nicht das geringste Geräusch hatte Wladimir von ihm gehört, aber auch nicht von seinen
beiden Kettenhunden, die sich hinter ihm aufgebaut hatten und sich nicht rührten. Der KGB-Mann lachte scharf auf. »Okay, Satorius, okay, ich habe dich verstanden. Aber glaube nur nicht, daß ich deinen Befehlen nachkomme. Da hast du dich geirrt. Ich habe die Waffe, und bei mir spielt die Musik, verlasse dich drauf!« Satorius nahm die Hände nicht einmal aus den Manteltaschen, als er nickte. »Ja, da hast du recht.« »Wie schön, daß du es einsiehst. Jetzt zu deinen Kettenhunden. Ich will, daß sie ihre Kanonen ziehen und sie wegschleudern. Denn ich bin überzeugt davon, daß sie bewaffnet sind.« Der Psychologe nickte. »Da gebe ich dir sogar recht, mein Freund. Es stimmt alles.« »Schön. Dann sollen sie sich mal bewegen.« Satorius zeigte sich von der schallgedämpften Waffe unbeeindruckt. Er schüttelte den Kopf, hob gleichzeitig den Zeigefinger an und bewegte ihn hin und her. »Nein, Russe, den Befehl werde ich ihnen nicht geben. Um keinen Preis der Welt.« »Wohin willst du die Kugel haben, Satorius?« »Überhaupt nicht!« »Ich jage sie dir genau zwischen die Augen. Ich verpasse dir einen Blattschuß!« »Versuche es!« Wladimir Golenkow war lange genug im Geschäft, um Reaktionen genau analysieren zu können. Diese Sicherheit des Kerls machte ihn mißtrauisch, der bluffte nicht, diese Nerven besaß kein Mensch, vorausgesetzt, Satorius war einer. Dennoch visierte er die Stirn an. »Ja, schieß!« Golenkow hatte bereits seinen Zeigefinger um den Abzug gelegt. Er brauchte ihn nur um eine winzige Idee nach hinten zu ziehen. Das tat er. Nichts geschah, bis auf ein leises >Klick<. Er versuchte es noch einmal, auch ein drittes Mal. Und mit jedem Versuch breitete sich das Lächeln stärker auf den Lippen des Mannes vor ihm aus. Die Waffe wurde so schwer, so verflucht schwer. Gleichzeitig spürte Wladimir, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Sein Herz begann zu flattern, es schlug viel zu schnell, auch wenn er sich äußerlich ruhig gab. »Muß ich es dir erklären?« fragte Satorius. »Es ist sehr simpel. In der Waffe steckte nur eine Kugel, und die hat ausgereicht, um den Mann umzubringen.« »Ja, ich weiß.«
Satorius nickte. »Möchtest du noch immer, daß meine beiden Freunde ihre Waffen hervorholen?« Golenkow starrte ihn an. In seinen Augen leuchtete es kalt wie Sternenlicht. Dann schüttelte er den Kopf, holte tief Luft und flüsterte: »Ich glaube nicht, daß es nötig ist.« »Das denke ich auch, Russe. Bisher lief es nach deinen Regeln ab. Jetzt sind meine an der Reihe.« Wladimir nickte. Es sah aus, als würde er aufgeben wollen. »Sicher«, wiederholte er, »jetzt bist du an der Reihe. Und das glaube ich dir sogar. Tut mir leid, daß ich . . .« Er riß den rechten Arm hoch, noch bevor sich die beiden Kettenhunde bewegten. Mit ungeheurer Wucht schleuderte er die schallgedämpfte Waffe auf den Psychologen zu... *** Unter den Reifen meines kleinen Leihgolfs knirschten die kleinen, grauen Steine, als ich den Serpentinenweg zum Hotel hochrollte. Ich stand noch immer unter dem Eindruck der Gegend, die ich durchfahren hatte, und auch der Ort Sils-Maria war ein Traum. Kaum vorstellbar, daß sich hier das Verbrechen oder das Grauen eingenistet haben sollte. Dem großzügig gebauten und mit einer ebenfalls großzügigen Treppe versehenem Eingang lagen die Parkplätze gegenüber. Sie waren überdacht und erinnerten mich an eine Pergola. Es waren noch genügend Plätze frei, so daß ich mir die Parktaschen aussuchen konnte. Ich hätte den Wagen auch in die Tiefgarage fahren können, deren Zufahrt in der Nähe lag, darauf verzichtete ich aus naheliegenden Gründen, wenn ich schnell starten wollte, war es besser, das Fahrzeug greifbar zu haben. Ich stieg aus, nahm den Koffer vom Beifahrersitz und schloß die Tür ab. Tief atmete ich die klare Bergluft ein. Das war Balsam für meine Lungen. Meine Ankunft war beobachtet worden. Mit hastigen Schritten lief ein noch junger Hoteldiener die Treppe hinab, der sich um mein Gepäck kümmern wollte. »Es ist nur der eine Koffer.« »Darf ich trotzdem?« »Bitte.« Hinter ihm ging ich die Treppe hoch und erreichte einen vorgebauten Windfang. Eine Tür führte an der rechten Seite zu einem Keller hin, wo im Winter die Ski-Utensilien aufbewahrt wurden. Flankiert wurde der breite Glaseingang von ebenfalls gläsernen Vitrinen, in denen die Dinge ausgestellt waren, die man im tiefer liegenden Ort auch in den entsprechenden Geschäften käuflich erwerben konnte.
Zumeist Sachen, die irgend etwas mit Folklore und dieser herrlichen Umgebung zu tun hatten. Von innen wurde uns die Tür aufgehalten, so daß ich die große, prächtige, rund gebaute Jugendstilhalle betreten konnte, deren Parkettboden mit dicken Teppichen belegt war. Die Sessel, Tische und bequemen Lehnstühle paßten dazu und auch die breiten Fenster im Hintergrund, die einen herrlichen Blick auf die hohen Tannen und Lärchen freigaben, deren Zweige sich im leichten Wind bewegten. Eine ideale Urlaubslage. Ein kleiner Teil der Halle wurde von der Rezeption eingenommen. Neben ihr führte eine sehr breite Treppe nach oben. Ein bunter Läufer bedeckte die Mitte, und glänzende Messingstangen hielten den Teppich fest. Neben dem schmiedeeisernen Geländer lief noch eine Kordel entlang. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß in diesem Grand Hotel die Zeit stehengeblieben war, aber mir gefiel es. Hier war man nicht eingeklemmt wie in vielen modernen Schuppen der Mittelklasse, sondern konnte noch richtig durchatmen, ohne jedoch auf die Errungenschaften der Zivilisation verzichten zu müssen. Selbstverständlich gab es auch einen Lift. Ein braunhaariger Mann, dessen Gesicht eine gesunde Farbe hatte aufwies, trat lächelnd auf mich zu. Er stellte sich als Reto Kirchner vor und war der Besitzer des Hauses. Herzlich hieß er mich willkommen und sprach davon, daß das Wetter so bleiben würde. »Darauf hoffe ich«, gab ich lächelnd zurück. »Schließlich will ich die langen Spaziergänge genießen.« »Da sind Sie bei uns in Sils-Maria gerade richtig.« Er verbeugte sich knapp. »Wir werden uns sicherlich beim Dinner noch sehen.« »Das denke ich auch.« An der Rezeption arbeiteten zwei nette, junge Frauen. Eine davon hieß Lisa Kirchner. Sie trug ihren Namen auf einem kleinen Schild aufgedruckt, das an der Bluse klemmte. Auch sie hieß mich willkommen und stellte sich als Schwester des Hoteliers vor. »Nur Familie?« fragte ich. »Nicht nur.« Sie schob mir den Anmeldeblock zu. »Heute sind Sie schon der zweite neue Gast, der allein anreist.« »Das kommt vor.« »Dann nehmen Sie auch an den Kursen teil?« Ich unterbrach meine Eintragung. »Von welchen Kursen sprechen Sie, Frau Kirchner?« »Die Dr. Satorius in einem der Nebengebäude abhält. Er hat sich dort eine Schule eingerichtet.« »Das hatte ich nicht vor. Aber ich könnte es mir überlegen.«
Sie schaute mich an. Ihr lockiges Haar umringelte ein schmales Gesicht. Der gelbe Pullover hatte die Farben der Sonnenblumen. »Ich weiß nicht so recht, ob Sie der Typ sind, der einen Kurs bei dem Doktor braucht.« »Kann man nie wissen. Was macht er denn?« Ich fragte es und unterschrieb den ausgefüllten Wisch. »Er ist Psychologe und Psychotherapeut.« »Nun ja, das ist wohl nicht so ganz mein Fall, wenn ich ehrlich bin. Wollte denn der andere Gast zu ihm?« »Herrn Golenkow, meinen Sie?« Lisa Kirchner hatte die Frage in einem völlig harmlosen und normalen Tonfall gestellt. Ich aber schrak zusammen, als hätte man mir mit einem Brett einen kräftigen Hieb auf den Kopf versetzt. Und ich duckte mich dabei unwillkürlich. Lisa Kirchner bekam meine Reaktion mit. Sie streckte den Arm aus, ohne mich jedoch zu berühren. »Was haben Sie denn?« Ich räusperte mich und bemühte mich gleichzeitig, meine Überraschung zu verbergen. »Es... es ist nichts, was Sie beunruhigen könnte. Heißt dieser Gast zufällig Wladimir mit Vornamen?« »Ja.« Sie lachte. »Er heißt so. Ich habe mir den Namen deshalb merken können, weil er so ungewöhnlich war. Wladimir Golenkow. Sagen Sie nur, Sie kennen ihn.« »Gut sogar.« »Und Sie beide wußten nicht, daß Sie unabhängig voneinander in dieses Hotel reisen?« »So ist es.« »Puh«, sagte sie und stieß die Luft aus. »Das ist aber wirklich eine Überraschung.« »Kann man wohl sagen. Aber ich möchte ganz sicher gehen. Können Sie den Gast beschreiben?« »Ja, das kann ich.« Ich erhielt eine gute Beschreibung und mußte zugeben, daß sie haargenau auf Golenkow zutraf. Er war also hier. Ein Zufall? Nein, bestimmt nicht. Wladimir gehörte nicht zu den Leuten, die sich zufällig an einem Ort aufhielten, an dem auch ich zu tun hatte. Das war einfach nicht drin, das konnte nicht stimmen. Da liefen möglicherweise zwei Fälle zusammen und wurden zu einem. Ich hob meinen Blick. Lisa schaute mich an. »Man sieht Ihnen an, Herr Sinclair, wie überrascht Sie sind.« »Stimmt. Ich hätte noch eine Frage.« »Bitte.« »Können Sie sich auch an einen weiteren Bekannten von mir erinnern. An einen Mann namens Cornell Degen?« Sie holte tief Luft und drückte ihren Kopf zurück. Aber sie nickte noch nicht, sondern flüsterte: »Natürlich kann ich mich an ihn erinnern. Er hat auch bei uns gewohnt.«
»Und weiter?« »Er reiste ab. Sehr schnell sogar. Aber das lief alles über Dr. Satorius, der ja eines unserer Häuser gemietet hat. Cornell Degen war unser Gast, gehörte aber mehr zu ihm.« Ich hätte mir selbst gern auf die Schulter geklopft. Sehr früh schon nahm der Fall Konturen an. So hoffte ich auch, daß die Quelle Lisa Kirchner noch weiter sprudeln würde. Um das Telefon kümmerte sich ihre Kollegin, und ich wollte mehr über Cornell Degen wissen. »Ist Ihnen an Mr. Degen eigentlich sonst noch etwas aufgefallen?« erkundigte ich mich. Sie runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?« »Nun ja, ich habe Ihnen erzählt, daß ich ihn kenne. Er war immer ein wenig zurückgezogen, in sich gekehrt, wenn Sie verstehen. Nie der große Aufreißer. Vielleicht sogar schüchtern.« Ich drückte mir beide Daumen, daß ich mit dieser Beschreibung ins Schwarze getroffen hatte. »Das ist nicht einfach.« »Weiß ich, Frau Kirchner . . .« Lisa strich ihr Haar zurück. »Ja, Sie haben recht. Er war etwas komisch. Er war immer so blaß, so unsichtbar . . .« Ich stolperte über den letzten Begriff. »Er war was — bitte?« Sie lachte. »Das war der falsche Ausdruck. Es gibt doch Menschen, die nicht auffallen.« »Ah — so meinen Sie das.« »Ja, man sah ihn und fragte sich, ob man ihn überhaupt zur Kenntnis genommen hat.« »Und er war Patient von Dr. Satorius?« »So ist es.« »Wohnen all seine Patienten in Ihrem Hotel?« »So war es abgemacht. Wir sind mehr ein Wintersport-Hotel. Im Sommer finden Sie hier oft einen Platz. Und der Doktor hat einige Zimmer für seine Patienten angemietet.« »Aber Herr Golenkow gehört nicht dazu, wie ich annehme?« »Nein. Das heißt, ich glaube es nicht. Jedenfalls stand sein Name nicht auf der Liste.« »Ich würde ihm gern einen guten Tag wünschen. Wo kann ich ihn denn finden?« »In der zweiten Etage. Dort Sind auch die Zimmer, die von Dr. Satorius angemietet wurden. Sie befinden sich in einem Quergang. Es ist ein kleiner Extratrakt.« »Ah ja, danke. Welche Zimmernummer hat mein Bekannter?« Sie schaute nach. »Zweihundertzweiundzwanzig.« »Danke. Und ich habe welche?« »Zweihundertvierundzwanzig.« Ich mußte lachen und nahm den Schlüssel an mich, den Lisa Kirchner mir zuschob. »Na, das ist ja wunderbar. Dann bin ich ja nicht weit von ihm weg.« »Ja, Sie haben Glück. Einen angenehmen Aufenthalt wünsche ich Ihnen bei uns im Grand Hotel, Herr Sinclair.«
»Ich bedanke mich. Den werde ich bestimmt haben, wenn man so herzlich aufgenommen wird wie ich. Was sollte da noch schiefgehen?« »Nichts«, lachte sie. »Und das Wetter wird auch so bleiben, habe ich gehört.« »Alles bestens — danke.« Der Kofferboy hatte gewartet. Er nahm mein Gepäck wieder hoch und ging vor mir her zum Lift. Ich konnte zufrieden sein, denn der Fall lief sehr gut an. Besser konnte es nicht laufen... *** Die Waffe traf! Nicht das Gesicht des Mannes, wie es Wladimir vorgesehen hatte, sondern hämmerte gegen die Brust des Psychologen, der sich im letzten Augenblick gedreht hatte, als hätte er geahnt, daß die Waffe auf ihn zujagte. Er fluchte, prallte gegen die Wand, und Wladimir Golenkow, einmal so richtig in Form, ließ sich nicht stoppen. Natürlich ärgerte er sich über die Enge des Zimmers, die schränkte allerdings auch die Bewegungsfähigkeit der beiden Gorillas ein, die deshalb nicht gemeinsam angreifen konnten. Der erste warf sich dem Russen entgegen. Knallhart und kurz angesetzt war der Hieb, der den Leib des Kerls traf. Der Mann schnaufte, schwankte, aber er griff mit seinen langen Armen zu, fiel nicht und erwischte das Haar des Russen. Wladimir rammte seine Faust gegen das Kinn des Gorillas. Im Mund hörte er etwas knacken, dann war schon der zweite da, und seine Handkante fuhr wie eine Sichel schräg in die Tiefe. Wladimir zog den Kopf ein. Mehr konnte er nicht tun. Etwas fuhr wuchtig über seinen Nacken. Der Hieb ließ ihn stolpern. Ein Tritt beförderte ihn bis zum Bett. Rücklings kippte er darauf nieder. Der zweite Kerl hatte einen Totschläger gezogen. Wuchtig sauste die heimtückische Waffe auf Golenkow zu. Der rollte sich gedankenschnell zur Seite. Es klatschte dumpf, als der Totschläger mit vehementer Wucht das dünne Oberbett traf. Der Schläger fluchte. Golenkow kam wieder hoch — und sah vor sich ein Gebirge. Der erste Gorilla hatte sich breitbeinig aufgebaut, die Hände zusammengelegt, um sie wie eine Ramme auf den Kopf des Russen sausen zu lassen. Der KGB-Mann stieß seinen Schädel vor. Er traf den Unterleib, aber auch er wurde getroffen. Der Schlag erwischte seinen Rücken, und Golenkow hatte das Gefühl, keinen mehr zu haben.
Alles bestand nur aus Schmerzen, aus Feuer, aus einem wahnsinnigen Brand, der in die Höhe flutete und sich sogar in seinem Nacken ausbreitete. Er verlor die Übersicht, hörte sich selbst schreien und mußte noch einen Kniestoß hinnehmen, der ihn an der Schulter erwischte und ihn wieder zurückschleuderte. Er lag auf dem Bett, von Schmerzen durchtobt. Seine drei Gegner sah er nicht mehr deutlich. Dabei spielte es keine Rolle, daß auch die beiden Bastarde etwas abbekommen hatten, sie standen wenigstens noch auf den Beinen, und sie hielten die verfluchten Totschläger in den Händen. Dabei strömten sie einen Willen aus, der keinen Zweifel daran ließ, daß sie ihren Gegner erschlagen wollten. Dagegen hatte Satorius etwas. Er griff unter seinen Mantel, holte eine Pistole hervor. Es war eine Luger. Er richtete die Mündung auf den Russen. »Laßt ihn«, sagte er. Seine Stimme klang gelassen, was er sich auch leisten konnte, denn er war der Sieger. »Ich werde mich um ihn kümmern. Ich habe umdisponiert. Was sollen wir ihn jetzt schon töten, wenn es viel bessere Methoden gibt.« Die Gorillas gehorchten. Satorius beugte sich zu Golenkow nieder. Sein Gesicht sah aus wie ein flacher Pfannkuchen. In den Augen stand ein wildes Leuchten, die Lippen hatte er in die Breite gezogen. »Diese Waffe ist geladen, Russe. Damit kann ich dir das Gehirn aus dem Schädel pusten.« »Ja, das glaube ich sogar.« Wladimir hatte das Gefühl, mit einer fremden Stimme zu sprechen. »Ich habe andere Methoden, Golenkow. Neue, von mir entwickelte. Ich werde an dir ausprobieren, wie sie sich in der Praxis bewähren. Du hast meinen Rat nicht befolgt. Du hättest wissen müssen, daß ich hier die Akzente setze. Das ist mein Spiel. Hier regiere ich, hier probiere ich aus. Hier ernte ich die Früchte einer jahrelangen Arbeit. Ich habe lange gesucht und endlich den Platz gefunden, um meine Pläne in die Tat umzusetzen. Sie sind groß, sie sind weit, sie sind weltumspannend, das kann ich dir schwören, Russe.« »Okay, du hast gewonnen. Wie geht es weiter?« »Dreh dich nur um.« »Hier auf dem Bett?« »Wo sonst?« Der Mann aus Rußland wußte, daß er von Satorius keine Gnade erwarten konnte. Zwar sprach der Mann weich, fast freundlich, aber hinter dieser Fassade steckte ein Tier. Es fiel ihm schwer, sich zu bewegen. Noch immer hatte Wladimir das Gefühl, als würde sein Rücken allmählich in Stücke gerissen. Es gab keine Stelle, die nicht brannte.
Als er auf dem Bauch lag, wurde ihm zudem noch übel. Sein Kreislauf war angegriffen. Und jetzt, da die Anspannung des Kampfes ein wenig nachgelassen hatte, spürte er die Folgen der Schläge, erwischte ihn der Schock, und er konnte sich auf seinen Zustand konzentrieren. »Ihr seid an der Reihe!« Satorius hatte den Befehl mit leiser Stimme gegeben. Die beiden Leibwächter gehorchten wie Roboter. Sie schlugen zu. Wladimir bäumte sich nicht mal auf. Es sah so aus, als wollten ihn die beiden Treffer in die Matratze hineintreiben. Sekunden später zuckte bei ihm nicht mehr ein Muskel. Satorius nickte seinen Leuten zu. »Schafft ihn weg!« befahl er. »Los, raus mit ihm!« *** Das Grand Hotel gehörte zu den älteren Häusern. Im letzten Jahrhundert noch war es gebaut, aber immer wieder renoviert worden, so daß der Gast auch auf modernen Komfort nicht verzichten mußte. Dennoch war das Ursprüngliche erhalten geblieben, und das galt auch für die breiten Gänge, die die Etagen wie Arme durchzogen. Es fiel nur wenig Licht hinein, jedenfalls zu wenig für die Flure, so daß auch am Tage das Licht eingeschaltet werden mußte. Der junge Mann lief mit meinem Gepäck vor mir her. Unsere Schritte schluckte ein Teppich. Niemand hielt sich hier oben auf. Die meisten Gäste waren sicherlich in den Bergen unterwegs, und so waren wir beide von einer gewissen Einsamkeit umgeben. Vor der Tür mit der Nummer 224 blieb der Boy stehen. »Darf ich um den Schlüssel bitten?« »Gern.« Er schloß auf, während ich mich umschaute. Zwei Türen weiter lag das Zimmer meines Freundes Golen-kow. Das interessierte mich mehr als mein eigenes. »Bitte, der Herr.« Ich ging vor. Der Raum war groß und mit alten Möbeln eingerichtet, die sehr wuchtig aussahen. Das Fenster hatte eine geteilte Scheibe. Wenn ich hinausschaute, konnte ich den Ort Sils-Maria überblik-ken. »Gefällt es Ihnen?« Der Boy legte den Koffer auf die Ablage und nahm das Trinkgeld entgegen. »Ja, ich bin zufrieden.« »Danke, der Herr, und schöne Ferien noch.« »Einen Moment.« Ich hielt den jungen Mann zurück. »Ich hätte da noch eine Frage.«
»Bitte?« »Sagen Sie, dieser Dr. Satorius, wohnt er auch hier im Hauptgebäude?« »Er wohnt nebenan.« »Aber seine Patienten nicht?« »Nein. Sie haben ihre Zimmer in dem Querflur, der Ihrem Raum praktisch gegenüberliegt.« »Danke.« »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« »Nein, im Moment nicht.« »Sind Sie denn auch bei Dr. Satorius angemeldet?« »Noch nicht. . .« »Pardon, ich will mich nicht in Ihre Angelegenheiten mischen, aber ich glaube nicht, daß Sie ein Mensch sind, der den Doktor unbedingt nötig hat.« Ich mußte lachen. »Wie meinen Sie das denn?« »Das ist schwer zu sagen. Sie machen nicht den Eindruck, wenn Sie mich verstehen, bitte.« »Nicht so hundertprozentig. Aber reden Sie weiter, bitte.« »Die Gäste, die bei Dr. Satorius einen Kurs belegt haben, sind nicht so locker.« »Kann sein.« »Sie sind in sich gekehrt und reisen immer plötzlich ab. Dabei habe ich nie einen gesehen.« »Dürfte ich das genauer wissen?« Der Boy nickte und trat näher auf mich zu. Er war noch jung. Unter seinem dunklen Haar wirkte das Gesicht blaß. Auf seiner Oberlippe schimmerte der Ansatz eines Bartes. »Ich weiß auch nicht, weshalb ich Ihnen das erzähle, Herr Sinclair, aber ich habe zu Ihnen Vertrauen gefaßt. Mir macht dieser Doktor Angst.« »Tatsächlich?« »Er ist so düster, wenig offen. Und er hat einen Blick, als wollte er mit dem die Seele eines Menschen durchbohren. Vielleicht täusche ich mich auch, aber ich glaube nicht.« »Kennen Sie ihn näher?« Diese Frage erschreckte ihn, denn er hob beide Arme. »Nein, um Himmels willen. Ich kenne ihn nicht näher, und ich möchte ihn auch nicht näher kennenlernen, aber ich möchte Ihnen davon abraten, seinen Kursus zu besuchen, denn eine Kollegin von mir, sie ist Zimmermädchen, hat des öfteren schon Schreie in der Nacht gehört, als sie ins Dorf ging.« »Wo war das?« »In seinem Haus.« »Angstschreie?« Er hob die Schultern. »Das müßte man eigentlich annehmen, aber so genau weiß ich es nicht.« »Hm«, brummte ich und nickte. »Da hätte ich dann noch eine Frage. Kennen Sie auch den Gast aus Zimmer zweihundertzweiundzwanzig?« »Den Russen?« Er gab sich selbst die Antwort. »Ja, den kenne ich. Er wohnt erst seit heute hier.«
»Und Sie haben ihn nicht gesehen?« »Nur bei seiner Ankunft. Ich weiß auch nicht, ob er sich auf seinem Zimmer aufhält. Ist es ein Bekannter von Ihnen?« »Ja, ein Freund.« Der junge Mann wurde plötzlich verlegen. »Bitte, vergessen Sie, was ich Ihnen sagte. Es ist sonst nicht meine Art, mit einem Gast über andere Gäste zu sprechen. Ich weiß auch nicht, was über mich gekommen ist. Ich mußte einfach reden.« »Keine Sorge, das macht nichts. Im Gegenteil, Sie haben mir sehr geholfen. Ich darf mich herzlich bei Ihnen bedanken. Und habe trotzdem noch eine Frage. Werden die Kurse nur von Männern besucht oder auch von Frauen?« »Nein, gemischt.« »Danke.« Der junge Mann drehte sich um und verschwand so schnell, als hätte er ein schlechtes Gewissen. Die Tür hatte er hinter sich geschlossen, und mein sehr nachdenklicher Blick streifte das dunkle Holz. Dann drehte ich mich um, denn ich wollte den Koffer so schnell wie möglich auspacken. Viel hatte ich nicht mitgenommen. Wichtig waren vor allen Dingen meine Waffen. Ich besaß so etwas wie einen Persilschein, der mich dazu berechtigte, auch in anderen Ländern Waffen zu tragen. Deshalb gab es keine Schwierigkeiten beim Zoll. Auf diesen Satorius war ich wirklich gespannt. Den Aussagen nach schien er Macht über Menschen zu haben. Er gehörte wohl zu den modernen Gurus, denen viele nachlaufen. Psychologe nannte er sich. Ich traute ihm nicht, denn mir fiel wieder der Text in Degens Abschiedsbrief ein. Der Mann hatte geschrieben, daß er in den Tod gehen wollte, und daß dieser Tod für ihn so etwas wie ein neues Leben wäre. So etwas konnte man einem Menschen einreden, wenn man es geschickt genug anfing. Wenn das tatsächlich stimmte, dann fragte ich mich, was dieser Satorius den Leuten alles versprach. Hinzu kam noch, daß die Kursteilnehmer ungewöhnlichen Berufen nachgingen und für den Geheimdienst gearbeitet hatten. Und ich hatte das Problem mit der lebenden Leiche erlebt. Das kam auch noch hinzu. Der Gedanke lag nahe, daß dieser Satorius möglicherweise ein Zombiemacher war und sich ausgerechnet seinen Platz hier in dieser herrlichen Gegend ausgesucht hatte, weil niemand damit rechnete, daß hier das Böse Einzug halten konnte. Bisher waren es Vermutungen. Ich aber nahm mir vor, die Beweise dafür zu finden.
Ich atmete tief durch, öffnete die Tür der Minibar und trank eine kleine Flasche Wasser. Dabei überlegte ich, ob Wladimir Golenkow an demselben Fall arbeitete wie ich. Bestimmt, denn daß hier zwei Fälle zusammenliefen, war doch mehr als unwahrscheinlich. Es war für mich jetzt wichtig, das ich mit meinem russischen Freund Kontakt bekam. Er wohnte nur zwei Zimmer entfernt. Obwohl mich das Bett irgendwie lockte, überwand ich den Zustand der Müdigkeit und verließ mein Zimmer. Wenige Schritte später blieb ich vor der Tür mit der Nummer 222 stehen. Ich klopfte. Keine Reaktion. Dann drückte ich einfach die Klinke und war überrascht, daß sich die Tür öffnen ließ. Für einen Moment überkam mich ein schreckliches Gefühl, Wladimir auf dem Bett und in seinem Blut liegen zu sehen, aber das war nicht der Fall. Niemand außer mir befand sich in dem Zimmer, das meinem bis aufs Haar glich. Wladimir war aber hier gewesen. Er hatte seinen Koffer ausgepackt und die Kleidung säuberlich aufgehängt. Dann war er wieder gegangen. Zwar kannte ich sein Ziel nicht, richtete mich jedoch darauf ein, ihn in der Nähe dieses seltsamen Psychologen zu treffen. Bestimmt hatte auch der KGB Verluste unter seinen Agenten zu verzeichnen, und wer konnte den Fall besser aufklären als Wladimir Golenkow. Ich verließ das Zimmer sehr schnell wieder, ging einige Schritte zurück und blieb dort stehen, wo ein schmalerer Quergang abzweigte, der in ein finsteres Halbdunkel führte. Licht brannte dort nicht, und am Ende des Ganges befand sich auch kein Fenster. Dort also sollten die Personen wohnen, die wegen eines Dr. Satorius gekommen waren. Ich hörte kein Geräusch. Das mochte in einem Grand Hotel zwar zum guten Ton gehören, aber diese Stille gefiel mir überhaupt nicht. Sie war irgendwie beklemmend und kam mir vor, als wäre dort etwas passiert, das sie überdecken sollte. Bildete ich mir das ein? Ich wußte es nicht. Ich kam auch nicht zurecht. Ich hatte das Gefühl, als einziger Mensch nichts zu wissen. Alle anderen wußten Bescheid, hielten aber mit ihrem Wissen zurück. Dann hörte ich Schritte. Sie kamen von links. Ich mußte mich drehen. Ein Gast hatte den Lift verlassen. Sehr bald sah ich, daß es ein ungewöhnlicher Gast war. Ein breitschultriger Mann, der auf seinem Kopf eine Pudelmütze trug. Seine Parkajacke stand offen, die Schöße bewegten sich flatternd bei jedem Schritt, den er rollend setzte.
Ja, er ging tatsächlich wie jemand, der zuviel Kraft hatte, und es sah so aus, als wollte er in dem schmalen Flur verschwinden. Daß ich da stand, störte ihn wohl, denn er stoppte. Wir schauten uns an. Ich hatte den Eindruck, von einem verschlagenen Blick taxiert zu werden und überlegte dabei, wer diese Type wohl sein konnte. Ich entschloß mich zu einem Lächeln. »Ja bitte?« »Eine Frage hätte ich. Haben Sie zufällig etwas mit Dr. Satorius zu tun?« »Und wenn?« »Ich würde ihn gern sprechen.« In seinem Gesicht zeigte sich kein Ausdruck. Es blieb glatt und wirkte wie gemalt. »Sind Sie angemeldet?« »Nein, das nicht.« »Kein Kursteilnehmer?« »Auch das nicht.« »Wie kommen Sie dann auf ihn?« »Ich hörte von ihm. Wissen Sie, ich bin Gast hier im Hotel. . .« »Ja, das habe ich mir gedacht.« »Da dachte ich mir, daß ich vielleicht seine Dienste in Anspruch nehmen könnte. Nach einer guten Streßtherapie habe ich schon lange gesucht. Sie verstehen?« »Da sind Sie falsch.« »Wieso?« »Der Doktor ist kein Streßforscher. Er beschäftigt sich mit anderen Dingen. Außerdem sind die Kurse besetzt.« »Schade.« Er hob die Schultern und verschwand. Seine Gestalt wurde vom Halbdunkel verschluckt. Trotzdem bekam ich noch mit, daß er vor der letzten Tür stehenblieb. Ich ging langsam weiter. Wenn sich Satorius mit solchen oder ähnlichen Typen umgab, dann war er jemand, dem ich nur mit äußerster Vorsicht gegenüberstehen würde. Denn welcher Psychologe beschäftigte Mitarbeiter, die mehr an Killer erinnerten als an Therapeuten? Vielleicht wußte Wladimir Golenkow mehr. Es war wichtig, daß ich ihn fand. Ich fuhr wieder nach unten in die Halle. Lisa Kirchner sah ich nicht mehr hinter der Rezeption. Dafür die andere Mitarbeiterin. Ich störte sie bei ihrer Schreibarbeit. Lächelnd fragte sie nach meinen Wünschen. »Ich suche Herrn Golenkow. Wissen Sie, ob er das Hotel vielleicht verlassen hat?« Sie überlegte einen Moment. »Nein, hier ist er nicht vorbeigekommen. Ich hätte ihn sicherlich gesehen. Tut mir wirklich leid.« »Macht nichts, danke sehr.« Ich verließ das Hotel und blieb auf der Treppe sehr nachdenklich stehen. Hier lief einiges an mir vorbei, und das gefiel mir gar nicht. Plötzlich kam
mir die Luft nicht mehr so rein und klar vor, sondern mehr morbide und nach Tod riechend... *** Wenn man vom Hotel aus ins Dorf gehen wollte, mußte man sich nach rechts wenden und den Serpentinengang hinabschreiten. So nett und freundlich Sils-Maria auch war, ich ging in die andere Richtung, wo die Straße weiterlief, aber in einem dichten Wald aus Tannen, Fichten und Lärchen verschwand. Mein Gott, es war ein Genuß, hier Urlaub zu machen. Ich hatte einem Ehepaar zugehört, das bis in das einsame Fextal wandern wollte, denn dort sollte die Welt zu Ende sein. So weit wollte ich nicht. Mich interessierte mehr ein anderer Teil des großen Grundstücks, auf dem das Haus untergebracht worden war, wo dieser angebliche Psychologe seine Seminare abhielt. In der Tennishalle sicherlich nicht, deren Fassade durch das Grün der Bäume schimmerte. Ich fand einen schmalen Weg, der an der Halle vorbeiführte und praktisch in einen Park hineinglitt, wo ein einsames Landhaus stand. Das mußte es wohl sein.- Für mich gab es keine andere Alternative, denn ein weiteres Haus war nicht zu sehen. Ich blieb in Deckung stehen, schaute zu dem Eingang und auch zu den halbrunden, großen Fenstern, die ihn flankierten. Das Haus hatte ein ziemlich breites Dach. Keine Spur von Satorius. Ich ging weiter, aber nicht auf das Haus zu, sondern umrundete es in einem großen Bogen. Der Wald lichtete sich, ein kleiner Park öffnete sich mir. Wenn ich nach links schaute, konnte ich die Rückseite des Hotels sehen, bei der die untere Etage nur aus Glas bestand. Ein Zeichen, daß sich dahinter ein großer Saal verbarg. Sicherlich das Restaurant. Ich schlenderte weiter, und mir fiel auf, daß der Untergrund nicht mehr so eben blieb, wie ich ihn bisher kannte. Nicht daß er aufgewühlt oder aufgegraben worden wäre, ich sah nur dunklere Flecken, als wäre dort der Rasen nachträglich eingelegt worden, weil man ihn zuvor ausgestochen hatte. Absicht? Zufall?« Meiner Ansicht nach paßte das nicht zu dieser glatten Fläche. Dort mußte jemand etwas vergraben haben. Ich schaute nach rechts. Schon zuvor war mir das helle Schimmern aufgefallen. Beim Näherkommen sah ich, daß zwischen zwei Bäumen und schräg gestellt eine helle Holzbank stand. Sie war besetzt.
Eine Frau saß dort. Sie trug Jeans und hatte die Beine übereinandergeschlagen. Ihr langes, dunkles Haar zeigte einige helle Strähnen. Die Füße steckten in dünnen Schuhen, sie wippte mit dem rechten und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ihr roter Pullover leuchtete wie ein heller Fleck. Ich ging lässig auf die Bank zu. Für mich war es wichtig, mit der Frau zu reden, denn ich hielt sie für eine von Satorius' Patientinnen. Sie nahm mich kaum zur Kenntnis und nickte nur, als ich mich danach erkundigte, ob ich neben ihr Platz nehmen dürfte. Ich ließ mich nieder. Aus den Augenwinkeln sah ich sie an. Ihre Haut war bleich, das Gesicht schmal. Kein Rouge und kein Lippenstift lagen auf ihrem Gesicht, und ihr Blick war in eine Ferne gerichtet, die irgendwo in einer anderen Welt zu liegen schien. Sie saß da wie eine Tote. Ich mußte schon sehr genau hinschauen, um sehen zu können, daß sie überhaupt atmete. Ich fing es blöd an, aber das war halt so. »Schöner Tag heute, nicht wahr?« Sie hob nur die Schultern. »Das meint auch der Doktor.« Jetzt zeigte sie eine Reaktion. Für einen Moment versteifte sie sich, dann drehte sie mir ihr Gesicht zu. »Gehörst du auch zu uns?« fragte sie mit leiser Stimme. »Ja. Ich bin heute angekommen.« »Deshalb kenne ich dich nicht.« »Ich bin übrigens John Sinclair. Und du?« »Monica Grandi.« »Italienerin?« »Nein, ich stamme aus dem Tessin.« »Sehr schöne Gegend. Ich kenne Ascona. Da läßt es sich schon aushalten, finde ich.« Sie zuckte mit den Schultern. Ich bohrte weiter. »Wie ist der Doktor denn? Bisher habe ich nur von ihm gehört. . .« »Er gibt dir den Mut«, sagte sie leise. »Wozu?« »Den neuen Weg zu gehen. Du mußt ihn einschlagen. Er öffnet das Tor zu einer anderen Welt.« »Das habe ich schon gehört.« »Es ist eine wunderbare Welt, die man mit keiner auf dieser Erde eintauschen kann.« »Vielleicht das Jenseits?« fragte ich vorsichtig. Auch jetzt blieb sie völlig ausdruckslos. Mehr als ein Nicken deutete sie nicht an. »Wie gelangt man dorthin?« »Das darfst du mich nicht fragen«, sagte sie leise. »Da muß du dich bei Dr. Satorius erkundigen.«
»Wann kann ich ihn denn sprechen?« »Ich kenne seinen Terminkalender nicht.« »Kann ich mir vorstellen, sicher.« Ich nickte und beugte mich vor. Meine Hände hatte ich ineinander verknotet und die Arme ausgestreckt. »Und weshalb sitzt du hier?« »Ich warte auf das neue Leben.« »Ach ja?« Jetzt nickte sie. »Es ist zum Glück mein letzter Tag. Ich nehme Abschied von hier.« »Du willst sterben?« »O nein«, flüsterte sie und fing an zu lächeln. Sie schaffte es zudem, einen engelhaften Ausdruck auf ihr Gesicht zu zaubern. »Das hat mit sterben nichts zu tun. Ich werde nur den Weg gehen, der für mich vorgesehen ist. Der Doktor hat mich lange darauf vorbereiten können. Endlich ist es soweit.« »Aber stimmt es dich nicht traurig, daß du alles zurückläßt? Familie, Freunde, Bekannte . . .« »Nein.« »Und auch nicht deinen Beruf?« »Er war nicht wichtig.« Ich fragte dennoch weiter, weil ich mich in eine bestimmte Spur verbissen hatte. »Warum war er nicht wichtig? Was hast du denn getan?« »Ich war Sekretärin.« »Und wo?« »In Genf, bei einer Behörde . . .« Das konnte nichts, aber auch alles bedeuten. Für mich ging ich davon aus, daß Monica Grandi einer gewissen Agententätigkeit nachgegangen war, hakte aber nicht näher nach, denn mich interessierte Satorius. Ich fragte sie, ob sie mich zu ihm führen könnte. »Nein, das kann ich nicht.« »Was hindert dich daran?« »Du mußt den Weg allein gehen.« »Ich bin aber nicht allein. Ein Freund von mir ist auch bei euch. Wladimir, kennst du ihn?« Sie dachte einen Augenblick nach, bevor sie den Kopf schüttelte. »Nein, nie gehört. In unserer Gruppe war er wohl nicht.« »Das ist möglich.« Sollte ich mich darüber freuen oder nicht, daß sie von Wladimir noch nichts erfahren hatte. Ich wußte es nicht. Ich mußte alles so nehmen, wie es kam. »Du magst den Doktor, nicht wahr?« »Ja«, sagte die junge Frau. »Er ist wunderbar. Er hat uns den Weg gezeigt, den richtigen, meine ich. Er ist so überzeugend. Er hat uns auch klarmachen können, daß wir bisher den falschen Pfad gegangen sind. Den absolut falschen.
»Warum das denn?« »Viele haben verraten, betrogen, sie haben . . .«, Monica Grandi schluckte, dann schloß sie den Mund so heftig, als hätte sie etwas völlig Böses gesagt. »Warum redest du nicht weiter?« Die Antwort bekam ich von einem Mann. Er gab sie mir als Frage. »Und warum bist du so neugierig, Schnüffler?« Ich drehte mich nicht um, ich veränderte nicht einmal meine Haltung, hielt den Kopf leicht nach vorn gebeugt und schielte zur Seite, um Monica Grandi beobachten zu können. Sie mußte den Sprecher auch gehört haben, aber sie reagierte nicht darauf. Starr hockte sie auf der Bank, war allerdings innerlich aufgeregt, denn eine leichte Röte überzog ihr Gesicht. Ich hörte die Schritte, als sich der Sprecher in Bewegung setzte. Es sah so aus, als wollte er die Bank umrunden, doch er blieb stehen, als er sich mit mir auf einer Höhe befand. Er schaute auf mich hinunter, ich hob den Kopf an und ließ meinen Blick an der mächtigen Gestalt hochgleiten. Zuerst dachte ich, es mit dem Kerl zu tun zu haben, der mir schon oben im Flur begegnet war. Er trug die gleiche Kleidung, auch die Pudelmütze, nur war diese nicht schwarz, sondern grau. Und das unterschied die beiden eben. Ich blieb gelassen. »Wieso Schnüffler?« »Weil du so dumm redest.« »Ich will mich nur informieren. Ich habe von dem Doktor gehört und möchte bei ihm einen Kurs belegen.« »Das bestimmst nicht du, sondern er.« »Ich weiß es. Aber man darf doch wohl mit ihm sprechen — oder etwa nicht?« »Der Doktor allein bestimmt, mit wem er sich unterhält. Ich glaube kaum, daß du da Chancen hast.« »Können wir das nicht auf einen Versuch ankommen lassen?« »Nein!« Er hatte sehr entschieden gesprochen, wechselte seinen Standort und baute sich vor Monica Grandi auf, beide Hände in die Hüften gestemmt, so daß er einen furchteinflößenden Eindruck hinterließ. Auch auf sie schaute er kalt nieder. Die junge Frau kam mir vor, als würde sie noch stärker in sich hineinkriechen. Sie machte sich so schmal wie eine Katze, die durch einen bestimmten Türspalt kriechen wollte, und sie traute sich auch nicht, etwas zu sagen. »Der Doktor will nicht, daß du jedem Hergelaufenen über uns berichtest. Weißt du das nicht?« »Aber er hat mich gehen lassen. Ich wollte nur noch Abschied nehmen, verstehst du?«
»Nein, du kommst jetzt mit.« Er streckte ihr seine Hand entgegen, aber Monica rührte sich nicht. Ich mischte mich ein. »Aber wenn sie nicht will . . .« Er fuhr herum. »Halte du dich raus, wenn dir deine Gesundheit lieb ist.« »Denkt dein Doktor auch so?« Die Frage paßte ihm nicht. Er sah so aus, als wollte er sich auf mich stürzen, hielt sich aber zurück. Er brauchte seinen Befehl nicht zu wiederholen. Die Frau erhob sich von allein. Sie bewegte sich dabei mit mario-nettenhaften Zuckungen, als würde jemand in unregelmäßigen Abständen an irgendwelchen Fäden ziehen, um sie von der Bank her in die Höhe zu bekommen. Der Mützenträger grinste mir zu. Hart umfaßte er ihr Handgelenk. Monica Grandi zuckte zusammen. »So, meine Liebe, jetzt werden wir wieder in das Haus gehen, wo der Doktor wartet. Du bist etwas zu redselig gewesen, das mag er nicht.« »Kann ich ihn nicht trotzdem sprechen.« Der Aufpasser fuhr herum, ohne die Frau loszulassen. »Hau endlich ab, verdammt!« »Ja, ja, ist schon gut, Mann.« Ich hob beide Hände, spielte den Ängstlichen, zitterte noch und blieb sitzen. Die beiden gingen weg. Nach einigen Schritten hörte ich den Kerl noch einmal sprechen. »Der Doktor hat entschieden, meine Liebe. Du wirst endlich dein altes Leben abgeben können.« »Wann denn?« »Gleich.« Mich hatte dieser kurze Dialog elektrisiert. Das war nichts anderes als ein verklausulierter Mordauftrag. Dagegen mußte ich etwas tun... *** Wo Wladimir Golenkow lag, wußte er nicht. Er wußte nur, daß es ihm schon besser gegangen war, viel besser sogar, aber in diesem Fall wußte er nicht, was ihm mehr schmerzte, der Kopf oder der Rücken, denn diese Stiche waren überall. Jedenfalls hatte man ihn außer Gefecht gesetzt. Und das war schlimm. Er ärgerte sich darüber, daß er seinen Job nicht mehr ausführen konnte. Bewußt hatte man ihn mit dieser brisanten Aufgabe betreut, man hatte viel Vertrauen in ihn gesetzt, dessen ersieh nicht würdig erwiesen hatte. Wie ein Anfänger war in die Falle gegangen. Er wollte sich bewegen. Nur das klappte nicht.
Zuerst dachte der Russe, es läge an ihm und an den Folgen der Schmerzen. Dann aber stellte er fest, daß er auf einem glatten Holztisch lag, und man hatte ihn da regelrecht festgeschnallt. Über seinen Körper — angefangen von den Beinen bis hoch zur Brust — liefen breite, graue Bänder aus einem Material, das er auch mit noch so großer Körperkraft nicht in die Höhe biegen konnte. Gummi war es nicht, wahrscheinlich handelte es sich dabei um Blech. « Es war nicht dunkel im Raum. Über einer Tür leuchtete eine Lampe, die ihr Licht gut verteilte, so daß er die zahlreichen Gegenstände erkennen konnte, die ihn umstanden oder an den kahlen Wänden lehnten. Es war eine Werkstatt. Gut ausgerüstet, vom einfachen Nagel bis hin zur Kettensäge, die in einer Ecke stand. Als er sie sah und den Schein auf dem blanken Blatt entdeckte, so daß es wirkte wie ein Spiegel, da wurde ihm noch mulmiger zu Mute. Er sah auch die Säge an einer Seite des Blatts und den wuchtigen Griff, der gleichzeitig den Motor enthielt. Scharf stieß er die Luft aus. Zwar war Golenkow kein Mensch, der schnell aufgab, diese Situation aber gefiel ihm überhaupt nicht. Er war zu hilflos, man konnte mit ihm machen, was man wollte, und so etwas kam einem Mann wie Satorius nur zu gelegen. Die Werkstatt mußte in einem Keller untergebracht worden sein, denn ein Fenster war nicht zu sehen. Er lag in einem muffigen, nach Öl und Holz riechenden Raum, dessen Boden aus Steinen mit glänzender Oberfläche bestand. Geräusche hörte er nicht, nur seinen eigenen Atem. Daß sie ihn nicht hier liegen und verschimmeln lassen würden, war ihm auch klar. Irgendwann würden sie zu ihm kommen und anfangen. Aber womit? Er dachte an ein Verhör der dritten Stufe, was nichts anderes bedeutete als Folter. Und da wiederum schaute er auf die Kettensäge und stellte sich vor, wie es sich anhörte, wenn jemand den Motor anließ. »Scheiße!« keuchte er, verzog das Gesicht und versuchte, sich unter den straffen Fesseln ein wenig zu bewegen. Schon beim ersten Ansatz durchschossen die Schmerzen seinen Rücken. Er gab auf. Wie lange er hier unten schon lag, wußte er auch nicht zu sagen. Dieser Keller war wie ein Grab, da spielte Zeit keine Rolle. Allerdings ging er davon aus, daß ihn Satorius noch einmal besuchen würde, und er irrte sich nicht, denn als er die Schritte hörte und danach das Quietschen der Kellertür, als diese aufgezogen wurde, da stand plötzlich Satorius im Raum, diesmal nur von einem Leibwächter begleitet, der sich hinter ihm aufgebaut hatte.
Der Psychologe lächelte. Er strich über sein welliges Haar, das ihm in die Stirn gefallen war, kam auf den Gefangenen zu und schüttelte dabei den Kopf. »Wladimir Golenkow, ich hätte dich für schlauer gehalten. Du enttäuschst mich.« Der Russe wollte nach dem Grund fragen, mußte aber feststellen, daß er so gut wie kein Wort hervorbringen konnte, weil seine Kehle wie zugeschnürt war. Er räusperte sich. »Geht es jetzt wieder?« »Vielleicht.« Satorius kam näher. Sein Gorilla blieb an der Tür stehen, den hungrig wirkenden Blick auf die Kettensäge gerichtet, was dem Gefangenen überhaupt nicht gefiel. »Nun?« »Was wollen Sie von mir, Satorius?« Dessen Finger strichen über seine Brust. »Eigentlich möchte ich dich bemitleiden. Du bist in der Branche angesehen. Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, wie jemand so dumm sein kann, mich festnageln zu wollen. Ich habe lange für meine Pläne gebraucht, ich habe gewartet, bis einige Geheimdienste so durcheinander waren, daß sie kurz davor standen, sich aufzulösen. Vorreiter ist der KGB, oder habe ich mich da geirrt?« »Das hast du nicht.« »Danke.« »Trotzdem funktionieren wir noch. Es sind nur andere Leute an die Spitze gekommen.« »Die dich ins Feuer geschickt haben.« »Ich tat es freiwillig.« Satorius schreckte zurück, als wäre ihm diese Antwort tief unter die Haut gefahren. »Nein, das kann ich nicht glauben. Das . . . das ist doch unmöglich.« »Wieso?« »Du gehst freiwillig in den Tod?« »Das habe ich nicht gesagt.« »Aber es ist doch so. Du bist schon so gut wie tot.« Satorius beugte sich vor. Seine Augen glänzten, die Lippen lächelten diabolisch. »Weißt du was, Golenkow, du paßt zu mir. Ja, du paßt zu mir und meinen lieben Kunden.« »Das glaube ich kaum.« »Laß es dir gesagt sein. Auch meine Patienten kommen zu mir, weil sie ihr Leben leid sind.« »Das mag für sie zutreffen, aber ich bin es nicht leid.« »Das wirst du wohl müssen!« »Nie.«
Satorius räusperte sich. »Glaubst du nicht, daß du dich da ein wenig überschätzt, Russe? Ich weiß, daß du gewisse Erfolge erzielt hast, du gehörst zu den besten Agenten. Du hättest dich nur eben nicht auf diesen Fall einlassen sollen.« »Noch bist du nicht der Sieger.« »Nicht ganz, das stimmt. Ich sehe mich als der große Unruhestifter an. Oder willst du abstreiten, daß ich keine Unruhe in die geheimen Dienste hineingebracht habe. Vorsätzlich in die östlichen.« »Das ist richtig.« »Deshalb hat man dich geschickt. Aber du wirst diejenigen, die du suchst, nicht mehr sehen können, wie sie einmal waren.« »Dann sind sie tot?« Satorius überlegte sich die Antwort, und er ließ den Russen dabei zappeln. »Ja, sie könnten tot sein, meine ich. Aber kannst du dir vorstellen, daß es ein Zwischenstadium gibt?« »Wie meinst du das?« Er hob den Zeigefinger wie ein Schullehrer. »Denke mal darüber nach, Freund.« Wladimir Golenkow war kein heuriger Hase. Zu oft schon hatte er mit schwarzmagischen Kräften zu tun gehabt, und er hatte die Erklärung des Psychiaters auch begriffen. Nur wollte er es nicht direkt zugeben. Zuviel Wissen konnte manchmal tödlich sein. Er ging bei seiner Antwort einen Umweg. »Ich habe nicht soviel Phantasie, um dich richtig begreifen zu können. Wer tot ist, der ist tot, es sei. . .« »Was sei . . .?« »Nun ja, es gibt da gewisse Theorien. Tiefenhypnose, der Scheintod. Es ist mir bekannt, daß gewisse Spezialisten die menschliche Seele und den gesamten Menschen beherrschen können.« »Und zu diesen Spezialisten zählst du mich?« »Leider ja.« Satorius lächelte. Der KGB-Mann wußte nicht, ob er sich geschmeichelt fühlte, aber eine direkte Antwort erhielt er auch nicht. »Ich will dir sagen, daß du nahe an die Lösung herangekommen bist. Sehr nahe sogar, aber mehr auch nicht.« »Sammelst du Agenten?« »So könnte man es ausdrücken.« »Welcher Sinn steckt dahinter?« Satorius schaute auf ihn nieder. Seine Augen waren eisig. »Ich weiß nicht, ob ich es dir sagen soll. Ich bin mir zudem nicht sicher, was ich mit dir anstellen werde. Ich könnte dich töten lassen, aber das wäre zu simpel. In gewisser Hinsicht habe ich Achtung vor dir. Du bist weit gekommen, du hast gut ermittelt, und ich möchte dir eigentlich die Früchte meiner Arbeit zeigen.«
Golenkow mußte lachen. »Sag nicht, daß es die beiden Gorillas sind, die dich normalerweise begleiten.« »Nein, das nicht.« »Sondern?« Er strich über sein Kinn. Manchmal hatte er etwas Feminines an sich. »Die nächsten Sekunden sind wichtig für dich. Wenn ich mich gegen dich entscheide, wird Rocco die Kettensäge nehmen, sie anstellen und dich nicht mehr als einen Menschen ansehen. Du verstehst, was ich damit meine, oder soll ich deutlicher werden?« Der Russe schluckte. »Nein, danke«, flüsterte er. »Es ... es reicht auch so.« »Gut.« Der Doktor lachte. »Es ist schwer, wirklich. Für mich ist es eigentlich besser, wenn du tot bist, aber du hast dich wirklich angestrengt, ich sollte dich doch belohnen.« »Dann gibst du Rocco keinen Befehl?« »So ist es.« Wladimir stieß erleichtert darüber die Luft aus, daß man ihm eine Galgenfrist eingeräumt hatte. Wie lange sie dauern würde, lag allein in der Hand seines Gegners. »Und wie geht es dann weiter?« fragte er. »Das muß ich mir noch überlegen. Ich will dir sagen, daß ich dich bis zum Einbruch der Dunkelheit hier im Keller lasse, denn ich habe noch einiges zu tun. Erst wenn die Dämmerung hereingebrochen ist, sehen wir weiter. Ist dir das recht?« »Fast.« »Was fehlt noch?« »Ich mag es nicht, wenn man mich gefesselt hat.« Satorius wollte sich ausschütten vor Lachen. Er streckte seinen Arm aus und tätschelte einige Male die Wange des Russen. »Du bist manchmal ein großer Scherzbold. Ja, du hast Humor. Irgendwie beeindruckt mich das. Verliere ihn nicht.« »Keine Sorge.« Satorius drehte sich um. Er gab Rocco ein Zeichen. Der Leibwächter überprüfte die Fesselung. Zufrieden nickte er. »Aus eigener Kraft kann er sich nicht befreien.« »Das dachte ich mir.« »Soll ich trotzdem bei ihm bleiben?« »Nein, mein Lieber, du kommst mit mir. Ich möchte noch zu meinen Freunden reden.« »Will jemand den neuen Weg gehen?« »Monica hat sich dazu entschlossen . . .« Es waren die letzten Worte, die Golenkow mitbekam, denn die beiden Männer verließen den Keller.
Wieder blieb er allein zurück, und wieder konnte er sich gedanklich mit seinem Schicksal beschäftigen. Seinen Blick richtete er automatisch auf die Kettensäge. Allein ihr Anblick flößte ihm einen Schauder ein. Bis zur Dunkelheit hatte man ihm eine Galgenfrist gegeben. Was würde dann geschehen? Würden die anderen dann eine verdammte Jagd auf ihn veranstalten? Womöglich mit der Kettensäge? Er verzog die Lippen, seine Wangen zuckten, der Schweiß verdichtete sich noch mehr. Wenn er ehrlich gegen sich selbst war, hatte er so große Chancen wie ein Stück Eis im heißen Ofen... *** Ich wartete, bis die beiden verschwunden waren. Daß Monica Grandi nicht freiwillig mitgegangen war, stand für mich fest, auch wenn es nicht so ausgesehen hatte. Sie war einem indirekten Zwang gefolgt, zudem wußte sie, was geschehen würde, wenn sie nicht gehorchte. Dann zog dieser Satorius andere Seiten auf. Was wurde hier gespielt? Eins stand fest. Dieser Satorius hatte es geschafft, Menschen unter seine Kontrolle zu bringen. Da reagierte er nicht anders als ein Guru und Anführer einer Sekte, nur setzten sich seine Patienten nicht aus allen Schichten der Bevölkerung zusammen, sondern gehörten einzig und allein einer gewissen Gruppe an. Irgendwie hatten sie mit dem Geheimdienst zu tun, waren entweder direkt oder indirekt mit ihm verbunden. Und diese Verbundenheit konnte auch als global angesehen werden, sie war nicht auf ein oderzwei Länder beschränkt, sonst hätte nicht auch mein Freund Wladimir Golenkow den Weg in dieses Grand Hotel gefunden. Ich ging fest davon aus, daß die Besitzerfamilie und deren Mitarbeiter von den hintergründigen Aktivitäten des Dr. Satorius' nichts ahnten. Sie waren ihm gewissermaßen auf den Leim gegangen und froh gewesen, das Haus vermieten zu können. Was aber steckte tatsächlich dahinter? Mir kam der Fall vor, als bestünde er aus Kaugummi. So sehr dehnte er sich. Je mehr ich an ihm zog, um so weniger begriff ich etwas von der gesamten Tragweite. Ich mußte mich zunächst auf die einzelnen Schicksale konzentrieren. In diesem Fall hatte das Schicksal sogar einen Namen, nämlich Monica Grandi.
Ihre Gestalt und vor allen Dingen ihr Gesicht wollten mir nicht aus dem Sinn. Ich dachte über den Ausdruck nach. Wie war er gewesen? Entspannt, entrückt, freudig, eher nachdenklich? Es hatte keinen Sinn, sich länger darüber Gedanken zu machen. Ich mußte versuchen, mit ihr klarzukommen und sie vor allen Dingen aus den Klauen des Psychologen holen. Ich hatte gesehen, daß die beiden so unterschiedlichen Personen auf das Haus zugegangen waren. Ferner ging ich davon aus, daß Satorius es bewachen ließ, also mußte ich wieder einmal Indianer spielen und mich so leise wie möglich anschleichen. Zum Glück war der Baumbewuchs dicht genug, um mir dieses Vorhaben zu erleichtern. Ich kam gut an das Haus heran, war davon überzeugt, nicht entdeckt worden zu sein und schaute zudem hin und wieder in die Höhe gegen die dicht wachsenden Zweige der Nadelbäume, denn diese eigneten sich sehr gut als Verstecke für irgendwelche Überwachungs-Kameras. Noch immer herrschte auf dem Gelände eine nahezu himmlische Ruhe. Auch aus dem Ort drangen keine Geräusche hoch. Nur der Wind wehte durch das weite Tal und spielte mit den natürlichen Hindernissen, die sich ihm in den Weg stellten. Neben einer wuchtigen Tanne blieb ich stehen. Ihre Nadeln schimmerten in einem sehr intensiven Blaugrün. Es war eine Freude für mich, einen gesunden Baum zu sehen. Das Haus lag in meinem Blick. Zumindest die Vorderseite, aber dort hatte sich leider nichts verändert, was mich hätte weiterbringen können. Das Haus lag eingepackt in die Friedfertigkeit dieser wunderschönen Umgebung. Ich kam mir schon wie ein Störenfried vor. Wenn ich allerdings an das Gesicht der jungen Frau dachte und an ihre tranceartigen Bewegungen, dachte ich anders darüber. Hier hatte ich also keine Chance, etwas zu sehen. Natürlich wäre es am besten gewesen, in das Haus einzudringen, das allerdings erschien mir zu diesem Zeitpunkt noch zu riskant. Nicht daß ich Angst gehabt hätte, doch ich wollte nicht schon jetzt alles auf eine Karte setzen und mich zunächst einmal orientieren. Jedes Haus hat zwei Seiten, da machte auch dieses keine Ausnahme. Wieder durch Bäume gedeckt, bewegte ich mich auf die Rückseite zu. Unterwegs begegnete mir ein Eichhörnchen, das sogar vor mir sitzenblieb und Männchen machte. Das war schon beinahe zuviel heile Welt. Es ging auch nicht zur Seite, als ich dicht an ihm entlangstreifte und an der Hausecke stehenblieb, wobei ich mich mit der Schulter gegen die Fassade lehnte. Abwarten . . .
Nichts war zu sehen. Es gab keinen Garten, keinen umzäunten Weg, nur einen Pfad, der zur Hinterseite des Grundstücks führte. Dort schlug er einen Bogen, um irgendwo auf die normale Straße zu münden. Keine Wachtposten, keine Kameras, nur die Ruhe, hin und wieder unterbrochen durch das Zwitschern von Vögeln. Sie steckten irgendwo in den dichten Zweigen der Bäume. Ich gönnte mir eine Pause, damit sich auch mein Atem beruhigen konnte. Nicht daß ich erschöpft gewesen wäre, aber die innere Spannung hielt mich doch umklammert. Vor mir befand sich ein Fenster. Als ich weiterging, mußte ich mich ducken. Schattengleich glitt ich unter der Fensterbank hinweg. Mein Haar wurde beinahe noch von den Blumen gestreift. Sie hingen wie krumme Arme über den Rand des Kastens hinweg nach unten. Wieder blieb ich stehen. Das Hell der Mauer wurde von einer grüngestrichenen Tür unterbrochen. Allmählich hatte ich das Gefühl, so etwas wie einer Lösung oder einer Entdeckung näher zu kommen. Ich konnte nicht sagen, woher dieser Eindruck kam, er war einfach da. Die Tür zog mich wie magisch an. Sie kam mir vor wie der Eingang, hinter dem die Höhle lag, in der sich alle Probleme wie von selbst erledigten. Leider blieb es ein Wunschtraum. Die Tür war zu, wie ich durch das Drücken der Klinke feststellen konnte. Aber zwei Schritte weiter quollen mir wieder Blumen entgegen, und hinter der kleinen Bank malte sich der viereckige Umriß einer Fensterscheibe ab. Hatte ich diesmal Glück? Ich blieb zunächst einmal in Deckung. Sehr langsam schob ich mich dann höher. Über meinen Rücken rann ein Prickeln, auf der Stirn lag ein feiner feuchter Film. Die Blumen wuchsen nicht so dicht zusammen. Ihre Stengel waren in verschiedene Richtungen weggebogen, so daß genügend Lücken entstanden waren, durch die ich schauen konnte. Ich entschied mich für eine in der Mitte. Zum Glück stand die Sonne nicht so, daß sie gegen die Fensterscheibe schien und mich blendete. Der Raum dahinter war ziemlich dunkel. Man hatte schwere, wuchtige Möbelstücke in ihm verteilt. Zwei Sessel, ein Tisch, eine Couch. Letztere stand so, daß ihre Frontseite dem Fenster zugerichtet war. Dort saß Monica Grandi! Sie hockte dort wie ein kleines, schüchternes Mädchen, das darauf wartete von seinem Lehrer bestraft zu werden.
Den Kopf hielt sie wieder leicht gesenkt, der Blick war ins Leere gerichtet, die Hände lagen auf ihren Knien, und ich wurde wieder an das Bild erinnert, wie sie auf der Bank gesessen hatte. Monica schien in tiefer Trance zu sein. Man hatte sie ja weggeführt, damit sie ihren Weg gehen konnte, der mit ihrem Tod endete. Das würde ich verhindern. Es gab zwei Möglichkeiten. Ich konnte die Scheibe einschlagen und selbst in das Zimmer klettern oder ihr aber durch Klopfen ein Zeichen geben, damit sie herkam und öffnete. Das Einschlagen der Scheibe hätte zu viele Geräusche verursacht. Ich entschied mich für das Klopfen, wollte auch nicht länger zögern, da ich den Eindruck hatte, daß jede Sekunde wichtig war. Ich hatte den Arm halb erhoben, als es passierte. Im Hintergrund des Zimmers befand sich die Tür. Für mich nur sehr schwach zu erkennen. Aber ich bekam sehr genau mit, daß sie von außen aufgedrückt wurde. Mein Arm zuckte zurück. Die schon gekrümmte Hand streckte sich wieder, denn jetzt war ein Eingreifen zu riskant. Ein Mann betrat das Zimmer. Hochgewachsen, dunkel gekleidet, mit blonden, welligen Haaren, die er nach hinten gekämmt hatte. Es war Satorius, der, kaum daß er den Raum betreten hatte, die Aufmerksamkeit der jungen Frau auf sich zog. Sie drehte den Kopf. Ich verstand nicht, was er zu ihr sagte. Daß er mit ihr sprach, erkannte ich an seinen Mundbewegungen. Zudem hatte er sein Gesicht der Frau zugewandt. Er mußte ihr etwas gesagt haben, mit dem Monica Grandi einverstanden war, denn sie nickte zur Bestätigung. Sie blieb auch weiterhin sitzen. Der Psychologe schlug einen Bogen, als er durch den Raum ging. Dabei schaute er auch zum Fenster, und ich machte mich so klein wie möglich. Ich wollte auf keinen Fall entdeckt werden. Wie ein Schwalbennest klebte ich an der Hauswand. Nur daß ich Kontakt mit dem Erdboden hatte. Wieder einmal dehnte sich die Zeit. Die Sekunden flössen für meinen Geschmack zu träge dahin. Wieder huschte in meiner Nähe ein Eichhörnchen vorbei. Ich wartete so lange, bis es unter den Zweigen einer dunklen Tanne verschwunden war. Dann riskierte ich es und drückte meinen Körper behutsam höher. Beinahe wäre ich noch mit dem Kopf gegen den Blumenkasten gestoßen. Ich peilte wieder durch dieselbe Lücke, konnte auch in das Zimmer hineinsehen und stellte fest, daß sich im Prinzip nichts verändert
hatte. Satorius stand noch immer, Monica saß auf der Couch. Aber anders als zuvor. Zwar noch so steif, dennoch hatte sich bei ihr etwas Entscheidendes verändert. Den rechten Arm hielt sie halb angehoben. Ihre Finger waren zur Faust geschlossen und umklammerten etwas, dessen Spitze breit und blinkend aus der Faust hervorstach. Es war ein Messer. Und es befand sich, verdammt noch mal, nicht weit von ihrer eigenen Kehle entfernt... *** Noch passierte nichts, noch saß sie bewegungslos. Nicht einmal die Messerklinge zitterte. Satorius blieb ebenfalls ruhig. Er sprach mit seinem Schützling, er hatte sich nach vorn gebeugt, er unterstrich seine Worte mit Handbewegungen, er nickte auch hin und wieder und deutete dann mit ausgestrecktem Zeigefinger auf das Messer. Für mich stand fest, was er damit bezweckte. Er wollte Monica Grandi zum Selbstmord treiben. Und das genau durfte ich nicht zulassen! Meine alten Pläne konnte ich vergessen. Sie würde nicht mehr aufstehen und zum Fenster laufen können. Es gab nur noch das Mittel der Gewalt, der Kugel. Ich zog die Beretta. Wenn ich auf Satorius feuerte, dann wollte ich ihn nur verletzen. Ein Schuß in das Bein würde nicht nur ihm einen Schock versetzen, sondern auch der blassen Frau. Möglicherweise kam ihr dann zu Bewußtsein, auf was sie sich eingelassen hatte. Ich mußte den Lauf ebenfalls zwischen Blumenzweige schieben. Ideale Zielbedingungen waren es nicht. Immerhin befand sich die Fensterscheibe als Hindernis zwischen uns. Das Glas verzerrte die Perspektive glücklicherweise nicht so stark. Ich visierte den Mann an. Er trat zurück . . . Meine Waffe wanderte mit. Dabei hatte ich das Gefühl, nicht mehr zögern zu dürfen. Ich kam nicht zum Schuß. Das Schicksal hatte es anders gemeint und schlug unerbittlich zu. Hinter mir hörte ich ein lautes, röhrendes Geräusch. Ich schrak zusammen, dachte an einen Mann, der mit einem Rasenmäher über den Grasteppich fuhr. Der Lautstärke nach zu urteilen, mußte er schon verflucht nahe herangekommen sein.
Schießen oder . . . Ich drehte mich. Die Gestalt sah ich sehr gut. Was sie allerdings mit beiden Händen festhielt, war kein Rasenmäher. Genau konnte ich den Gegenstand nicht erkennen. Schlimm genug war, daß dieser Mann mit seinem kracherzeugenden Ding auf mich zulief. Noch konnte ich mich drehen. Ich tat es. Satorius befand sich bereits auf dem Weg zum Fenster. Er hatte nicht mehr als einen Schritt zurückgelegt, und auch er mußte das Geräusch gehört haben. Die Frau saß noch auf ihrem Platz. Sie bewegte sich jetzt. Es war furchtbar. Sie hatte die Klinge gegen ihren Hals gepreßt, leicht zugedrückt und sie mit einer einzigen Bewegung von einer Seite zur anderen gezogen. Sie kippte zurück. Am Hals sah ich einen dunklen Streifen. Die Tatsache, daß ich sie nicht hatte retten können, traf mich wie ein Keulenschlag. Der Kerl mit dem röhrenden Gegenstand tobte näher. Es gab keinen Zweifel, daß er mir ans Fell wollte, aber auch Satorius befand sich auf dem Weg zum Fenster. Noch einmal schaute ich in das Zimmer. Zum Glück. Er hatte eine Waffe gezogen, mußte mich gesehen haben, denn plötzlich schoß er. Im letzten Augenblick zog ich den Kopf ein. Über mir zersplitterte die Scheibe. Kleine Glasstücke regneten mir entgegen. Die meisten blieben zwischen den Blumen hängen, und ich war einen Schritt zur Seite gehuscht. Plötzlich war mir klargeworden, daß ich mich in Lebensgefahr befand. Ich hatte auch herausgefunden, welche Waffe der anstürmende Kerl bei sich trug. Es war eine Kettensäge! Bilder von schrecklichen Filmen schössen mir durch den Kopf. Mochten andere sie auch als Kultstreifen ansehen, noch weniger gefiel mir, daß ich mit einer derartigen Waffe angegriffen werden sollte. Ob es genau der Typ gewesen war, der die junge Frau in meinem Beisein von der Bank weggeholt hatte, war für mich nicht genau zu erkennen, jedenfalls sah er so ähnlich aus. Ich kam nicht zum Schuß. Satorius nahm mich unter Feuer. Er hatte die dicke Tür geöffnet, stand dahinter und schoß auf mich. Nur seine Waffe war zu sehen. Ich mußte weg.
Dabei gab ich einen Schuß auf die Tür ab, zwang Satorius in Deckung und hörte das Geräusch der Kettensäge überlaut. Sie sang in hohen Todestönen. Der Kerl war mir verflucht nahe gekommen. Er und das blanke, glänzende Blatt tanzten vor meinen Augen. Wieder feuerte Satorius. Er schoß schlecht. Die Kugel irrte vorbei. Ich feuerte auf den Mann mit der Kettensäge. Die Kugel erwischte seine Waffe, prallte dort ab. Er rannte weiter, und ich hatte die andere Ecke des Hauses erreicht. Endlich Deckung! Keuchend fiel ich auf die Knie! Ich wußte selbst, daß ich mich nicht eben ideal verhalten hatte. Das mußte an der Enttäuschung gelegen haben, die junge Frau nicht mehr retten zu können. Ich war einfach zu stark auf sie konzentriert gewesen und hatte nicht so schnell umdenken können. Im nachhinein wurde mir klar, daß ich verdammtes Glück gehabt hatte, nicht erwischt worden zu sein. Vielleicht lag es auch daran, daß Satorius zu schlecht schoß. Seine Waffen waren eben andere. Erst jetzt merkte ich, daß es still geworden war. Der Kerl mußte den Motor der Kettensäge ausgeschaltet haben. Ich hörte überhaupt nichts mehr, blieb aber wachsam. Keine Schritte, kein Schleifen, deshalb riskierte ich es und schaute um die Hausecke. Ich sah keinen Gegner mehr. Vor dem zerschossenen Fenster lagen noch einige Scheiben, das war alles. Auch die Tür war wieder zugezogen worden. Keine Spur von Satorius und seinem Helfer. Die Stille des Todes hatte in dieser Umgebung Einzug gehalten. Ich hörte mich selbst atmen, schaute zurück und entdeckte auch an dieser Hauswand Fenster. Ideal war der Platz nicht. Trotz allem wollte ich ins Haus. Aber wie? Einfach hineingehen und mich Satorius stellen? Da lag eine Tote, und die mußte weggeschafft werden. Satorius und seine Helfer konnten sich nicht für immer verstecken. Irgendwann mußten sie sich zeigen. Das taten sie nicht. Als etwa drei Minuten vergangen waren, riskierte ich es und ging dorthin, wo sich der Eingang befand. Ich hatte ihn noch nicht erreicht, als ich den Wagen hörte, der startete. Dann rannte ich. Trotzdem kam ich zu spät. Mein Blick fiel auf das Heck eines Kleinbusses, der mit ziemlich hohem Tempo verschwand. Verloren . . .
Satorius und sein Helfer waren geflüchtet, und ich hatte mich wie ein Idiot benommen. Ich drehte mich um, als ich hinter mir das Räuspern hörte. Meine Augen weiteten sich, denn in der offenen Tür stand Satorius, schaute mich an und tat, als wäre nichts geschehen. Er nickte mir sogar zu, fragte: »Wollten Sie zu mir?« »Und ob!« »Hatten Sie einen Termin?« »Das interessiert mich einen Scheißdreck!« fuhr ich ihn an. »Wo ist die Tote?« Er hob die Augenbrauen und strich wieder durch sein Haar. »Darf ich fragen, von welcher Toten Sie sprechen, mein Herr...?« *** Klar, dachte ich. Klar, so hat es ja kommen müssen. Nur nichts zugeben, sich dumm stellen, alles abstreiten, lächelnd lügen und den großen Max markieren. »Das wissen Sie genau, Satorius!« »Nein, tatsächlich nicht.« »Dann haben Sie auch nicht auf mich geschossen?« »Ich?« Er lachte mir schallend ins Gesicht. »Leiden Sie an Halluzinationen?« »Bestimmt nicht. Und dieser Wagen ist nicht zufällig abgefahren — oder?« »Doch — ja.« »Wie schön.« Er kam auf mich zu, deutete auf meine Waffe. »Warum stecken Sie das Ding nicht weg. Ich weiß nicht, was das soll, was Sie hier vorhaben? Wollen Sie mich ausrauben?« »Nein.« »Dann ist es doch einfach lächerlich, wenn Sie hier mit einer Pistole herumlaufen.« »Für mich nicht. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, daß Monica Grandi sich umbrachte.« »So. Und wo soll das gewesen sein?« »In Ihrem Haus, Satorius.« Er verzog den Mund und tat so, als wolle er nachdenken. Dann meinte er, wobei er sehr jovial tat: »Da ich das Gegenteil behaupte und wir uns wahrscheinlich nicht einig werden können, schlage ich vor, daß Sie einen Blick in mein Haus werfen. Ich könnte es auch ablehnen, aber ich gehe hier meiner Arbeit nach, einer sehr wichtigen übrigens, und ich möchte nicht, daß sie gestört wird.« »Ich nehme das Angebot an.« »Gern.«
Er zeigte nicht einmal die Spur einer Überraschung, was mich mißtrauisch machte. Bevor ich noch einen Fuß in das Haus gesetzt hatte, wußte ich, daß ich der zweite Sieger sein würde. Er und sein Helfer hatten nur wenige Minuten Zeit gehabt, diese aber optimal genutzt. Wahrscheinlich war die Leiche in dem Kleinbus weggeschafft worden. Dr. Satorius wollte mir den Vortritt lassen, ich aber war dafür, nach ihm zu gehen. »Wie Sie wollen.« »So verlangt es doch die Höflichkeit — oder?« »Selbstverständlich.« Das Haus war innen größer, als es von außen ausgesehen hatte. Bereits hinter dem Eingang befand sich ein Therapieraum, in dem eine Reihe Korbstühle standen, auf denen jeweils rote Sitzkissen lagen. »Sitzen hier Ihre Patienten, Satorius?« »Meine Gäste, bitte. Als Patienten möchte ich sie nicht bezeichnen. Das hört sich zu stark nach Krankheit an.« »Ist das nicht gleich?« »Für mich nicht.« Er deutete in die Runde. »Wo, um aller Welt, haben Sie etwas Schlimmes gesehen?« »In einem Wohnraum.« »Ah ja«, sagte er, hob einen Arm und deutete nach vorn. »Kommen Sie mit, ich weiß Bescheid.« Wieder ging er vor mir her. Wir durchquerten einen sehr kleinen Flur, an dessen Wänden Bilder hingen, die alpenländische Motive zeigten. Ich nahm dies aus den Augenwinkeln wahr, wichtig war es nicht. Zudem blieb ich auf der Hut, meine Hand befand sich stets nahe der Beretta, doch der vor mir gehende Psychologe traf keinerlei Anstalten, sich verdächtig zu benehmen. Er hielt mir die Tür auf. »Dieses Zimmer haben Sie wohl gemeint, nehme ich an.« »Ja, das stimmt.« »Schauen Sie sich um.« Ich sah die Couch, den Sessel, ich sah auch das zerstörte Fenster. Es war der einzige Hinweis auf die Schießerei. Satorius hatte meinen Blick bemerkt. Er lachte plötzlich. »Sie nehmen an dem Fenster Anstoß?« »So ist es.« »Ein Mißgeschick«, erklärte er. »Ich werde es noch heute reparieren lassen.« »Es wurde nicht durch eine Kugel zerstört?« Er schüttelte beinahe wütend den Kopf. »Was haben Sie immer mit Ihrer Kugel? Sehen Sie eine?« »Draußen werde ich welche finden.« »Ich kann Sie daran nicht hindern. Da fällt mir ein, mein Herr. Wer sind Sie eigentlich?«
»Ich komme aus London.« »Ah — wie nett. Ich kenne die Stadt. Hübscher Ort. Sie hätten dort bleiben sollen. Oder wollen Sie hier im Engadin Urlaub machen?« »So kann man es nicht gerade nennen.« Ich war an den Platz getreten, wo Monica Grandi gesessen hatte. Mich interessierte dessen Umgebung, und Satorius wunderte sich darüber, daß ich mir sie so genau anschaute. »Suchen Sie etwas?« »Blut.« Er mußte lachen. »Glauben Sie, daß sich jemand in den Finger geschnitten hat?« »Das nicht gerade. Eher in die Kehle.« Er schüttelte den Kopf. »Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber jetzt verstehe ich gar nichts mehr.« »Macht nichts, das ist mein Problem.« Ich ärgerte mich darüber, daß ich nichts sah. Dieser Kerl hatte es geschickt verstanden, die Spuren zu verwischen, falls je welche existiert hatten. Der war aalglatt und rutschte durch jede Hand. »Nun?« fragte er. Seine Stimme hörte sich an, als wollte er jeden Moment anfangen zu singen. Ich richtete mich wieder auf und drehte mich ihm zu. Verlogen lächelnd erklärte ich ihm: »Da muß ich mich wohl geirrt haben. Tut mir wirklich leid.« »Wir Menschen sind eben nicht perfekt. Manchmal leiden wir auch an Krankheiten, die zwar äußerlich keinen Schaden anrichten, unsere Seele aber zerstören.« »Da kennen Sie sich aus, nehme ich an.« »Sicher, denn ich beschäftige mich damit. Ich arbeite daran, ich sorge für eine Heilung.« Mein Lächeln fiel ziemlich kantig aus. »Darf ich fragen, wen Sie schon alles geheilt haben?« »Sehr viele Patienten.« »Aus zahlreichen Ländern, nehme ich an.« »Stimmt.« »Dann kennen Sie sicherlich einen Mann namens Cornell Degen?« Ich erhielt die Antwort nicht sofort. Er mußte erst nachdenken und tat es für meinen Geschmack zu auffällig. »Das ist natürlich mehr als außergewöhnlich, wenn Sie mir diese Frage stellen.« »Weshalb?« »Ich habe nicht alle Namen meiner Gäste im Kopf. Hat er bei mir einen Kursus belegt?« »Er hatte.« »Ah, dann liegt es länger zurück.« »Jetzt ist er tot.«
Satorius schaffte es tatsächlich, ein trauriges Gesicht zu machen. »Das tut mir wirklich leid für ihn. Waren Sie mit ihm befreundet — ahm, wie war doch gleich Ihr Name?« »John Sinclair. Mr. Degen hat sich übrigens selbst umgebracht, falls es sie interessiert.« »Und Sie haben ihn nicht daran hindern können?« »Leider nicht. Ich las nur seinen Abschiedsbrief. Und dessen Text brachte mich auf Sie.« »Wie interessant.« »Kann man wohl sagen.« »Kann ich Ihnen sonst noch helfen?« »In gewisser Hinsicht schon. Ich hätte gern von Ihnen gewußt, wen Sie noch alles hier im Kursus haben?« Er holte schnaufend Luft. »Aber Herr Sinclair, ich bitte Sie. Nein, Sie können doch nicht von mir verlangen, daß ich Ihnen die Namen meiner Gäste preisgebe. Sie unterliegen dem Datenschutz, den muß ich einhalten.« »Degen war Agent.« »Die Berufe interessieren mich nicht.« »Er arbeitete nicht für eine Versicherung.« Ich ließ nicht locker. »Er arbeitete für den Geheimdienst. Agent des Secret Service. Man ist dort über sein Ableben sehr beunruhigt.« »Kann ich verstehen.« »Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und meine, daß nicht Degen die einzige Person aus Ihrer Gruppe war, die für den Geheimdienst tätig war. Ich kann mir vorstellen, daß auch ihre anderen Kunden nicht so ganz unbelastet sind.« »Ah«, sagte er, »das müssen Sie erklären, bitte schön. Es ist mir im Moment zu hoch.« »Ich nehme an, daß sich Ihre Gäste aus Agenten oder ehemaligen Agenten zusammensetzen. Sie laden diese Leute hier ein und führen einen Kursus mit ihnen durch.« »Und weiter.« »Den Rückweg treten sie nie an.« Satorius lachte. Er wollte sich ausschütten vor Lachen, was mir verdammt aufgesetzt erschien. »Jetzt komme ich nicht mehr mit. Sie erzählen mir ja irre Märchen. Darf ich sie weiterspinnen?« »Gern.« »Sie gehen also davon aus, daß sich in meinen Seminaren Menschen aufhalten, die man als Spione und Agenten bezeichnet. Liege ich da falsch?« »Nein.«
»Ich sammle sie also, halte ihnen Vorträge, versuche, sie auf den rechten Weg zu bringen, das heißt, ihre psychischen Störungen zu beheben und dann? Ja, was geschieht dann mit den Leuten?« »Dann sterben sie. Wie Cornell Degen und wie Monica Grandi, deren Tod ich miterlebt habe.« »Wahnsinn.« »Für mich nicht.« »Sie haben eine blühende Phantasie. Ich locke doch keine Leute hierher, um sie zu töten. Ich bin Psychologe, ich will ihnen helfen, ich will sie heilen. Sie suchen bei mir Schutz, sie wollen ihr Leben wieder in die richtigen Bahnen lenken . . .« »Geben Sie zu, daß Ihre Gäste in Berufen tätig sind, die . . .« »Nein, ich gebe gar nichts zu. Es kann sein, daß sie nicht eben normale Berufe haben, aber dieses Seminar ist auch nicht billig. Da muß man schon etwas für hinlegen.« »Das kann ich mir denken.« Dr. Satorius schaute demonstrativ auf seine Uhr. »Wenn ich Sie jetzt darum bitten darf, mich allein zu lassen, wäre ich Ihnen sehr verbunden. Meine Zeit ist kostbar.« »Eine Frage gestatten Sie noch?« »Die letzte.« »Sicher. Wo kann ich einen Mann namens Wladimir Golenkow finden?« Ich hatte ihn nicht aus den Augen gelassen, um jede Reaktion bei ihm erkennen zu können, doch der Psychologe schüttelte den Kopf, wobei sich ansonsten bei ihm nichts regte. »Kenne ich nicht. Der Name ist mir unbekannt. Ich habe ihn noch nie gehört. Klingt russisch oder bulgarisch.« »Er ist Russe und Mitarbeiter des KGB!« »Dann hat er seit kurzer Zeit schlechte Karten.« »Das kann ich nicht beurteilen, darum geht es auch nicht. Sie kennen ihn also nicht?« »So ist es.« »Er wohnt hier im Grand Hotel.« Satorius breitete die Arme aus. »Ich bitte Sie. Schauen Sie sich das Hotel an. Es ist sehr groß. Oder kennen Sie jeden Gast, der hier gebucht hat?« »Nein.« »Ich auch nicht.« »Wann beginnt Ihr nächster Kurs?« »Das ist schon die zweite Frage. Sie strapazieren meine Geduld sehr, aber ich will Ihnen eine Antwort geben. Der zweite Kurs beginnt im nächsten Jahr.« »Dann ist es vorbei?« »Ja, wir haben uns für den Spätsommer und den Frühherbst entschieden. Die letzten sind abgereist.« »Wie?« »Weg, nicht mehr hier.« »Und Monica Grandi?« »Die kenne ich nicht.«
»Klar, entschuldigen Sie, daß ich Sie aufgehalten habe. Es war nur eine Frage.« »Und ich werde bald auch abreisen, Herr Sinclair. Dann können Sie in aller Ruhe Ihren Urlaub genießen, Wanderungen durchführen, die herrliche Frühherbstsonne genießen und . . .« »Woher wollen Sie wissen, daß ich hier Urlaub machen will?« »Wären Sie sonst hergekommen?« »Möglicherweise bin ich beruflich unterwegs.« »Ja, das ist dann Ihr Problem.« Er hatte mich zur Tür begleitet und versuchte es dort mit dem puren Hohn. »Falls Sie Probleme haben, bei deren Lösung ich Ihnen behilflich sein kann, lassen Sie es mich wissen.« Ich schaute in seine hellen Augen, deren Blick mir so falsch und verlogen vorkam. »Ich glaube, daß ich dieses Angebot sogar annehme. Ich bin fest davon überzeugt, daß Sie mir helfen können.« »Dann erwarte ich Ihren Bescheid.« Er drehte sich um und ging wieder zurück in das Haus. Wie einen Schulbuben hatte er mich abgefertigt. So jedenfalls sah es aus. Ich hoffte zugleich, sein Mißtrauen erweckt zu haben. Wenn er nicht zu überheblich war, dann mußte er erkannt haben, daß ich auch seinetwegen gekommen war. Wo steckte Wladimir Golenkow? Hatte er auch zu den Gästen des Psychologen gehört? Hatte er sich eingeschlichen, um ihm das Handwerk zu legen? Beides war möglich. Ich ging durch den stillen Park zurück zum Hotel. Es war noch wunderbar warm, obwohl der Nachmittag bereits weit fortgeschritten war. Die ersten Wanderer kehrten von ihren Touren zurück. Sie waren erschöpft, aber glücklich. In Gruppen standen sie vor der Hoteltreppe und ließen ihre Blicke schweifen. Als wollten sie Abschied nehmen, so genossen sie noch einmal die herrliche Landschaft. Ich stieg langsam die Stufen hoch. An der Rezeption war es zwar nicht so leer wie am Mittag, aber die junge Dame, die mir schon einmal so freundlich Auskunft gegeben hatte, legte soeben den Hörer auf und entdeckte mich. »Ah, Herr Sinclair. Haben Sie Ihren Freund gefunden?« »Leider nein.« Ihr Gesicht verschloß sich. »Das ist schade. Er wird sicherlich noch unterwegs sein.« »Vielleicht treffen Sie ihn beim Dinner.« »Davon gehe ich aus. Ich hätte eine andere Bitte an Sie.« »Gern.« Ich beugte mich vor und sprach leiser, damit mich keiner der anderen Gäste hörte, die das Hotel betraten. »Es geht um diesen Psychologen.« »Dr. Satorius?« »Richtig.«
»Was ist mit ihm?« »Nun, ich lernte ihn kennen. Er hat auch über sich und seine Arbeit gesprochen. Ich interessierte mich dafür, aber er erklärte mir, daß er seine Zelte für dieses Jahr abbrechen würde.« »Das stimmt.« »Und seine Gäste sind schon weg?« Sie lächelte mich an. »Ja, es ist keiner mehr hier. Er hat die Rechnung beglichen. Morgen wird er ebenfalls abreisen und erst im nächsten Jahr zurückkehren.« »Haben Sie denn gesehen, wie die Gäste abreisten?« »Nein, ich nicht. Das erledigte alles Dr. Satorius. Außerdem gehört ihm ein kleiner Bus. Er bringt die Leute zum Bahnhof nach St. Moritz, falls diese nicht mit dem eigenen Fahrzeug gekommen sind. Es geht alles seinen Gang. Wir haben eigentlich nicht viel mit den Menschen zu tun. Wir stellen nur oben einen kleinen Trakt zur Verfügung, ansonsten sind sie und der Doktor autonom.« »Ich danke Ihnen.« »Gern geschehen.« Sie warf ihre blonden Locken zurück. »Gefällt es Ihnen denn bei uns?« »Ja, sehr gut.« »Und falls Ihr Freund erscheint, soll ich Ihnen dann Bescheid geben lassen, vorausgesetzt, Sie halten sich in Ihrem Zimmer auf.« »Ja, Sie können es versuchen.« »Gut.« Ich ging zum Lift, fuhr hoch in die zweite Etage und schaute im Zimmer Nummer 222 nach. Es war leer. Es sah noch so aus, wie ich es auch beim ersten Hinschauen gesehen hatte. Keine Spur von Wladimir . . . Ich ahnte aber, daß der Fall nicht beendet war. Eigentlich hatte er für mich noch nicht richtig begonnen... *** Kaum hatte der Mann den Psychologen verlassen, war es mit dessen Beherrschung vorbei. Er ballte die Hände zu Fäusten, stieß sie einige Male in die Luft und schrie die Flüche so laut, daß sie von den Wänden widerhallten. Er haßte diesen Mann, denn er hatte mit einem sicheren Instinkt gespürt, daß er ihm gefährlich werden konnte. Der hatte dieses Hotel nicht zufällig gebucht, der war ihm auf der Spur. Satorius war kein Dummkopf. Er kannte sich in der Branche aus, er hatte auch den Namen des Mannes erfahren, doch mit ihm konnte er nichts anfangen. Er hätte sich dank seiner Beziehungen erkundigen können, das hätte wiederum Zeit gekostet, die er nicht hatte. Zudem fiel ihm ein, daß
Sinclair von einem Mann namens Wladimir Golenkow gesprochen hatte, und der war sein Gefangener. Es wäre ihm am liebsten gewesen, jetzt schon zu verschwinden, doch er brauchte die Nacht, die Dunkelheit, um das große Ziel zu erreichen. So dicht wie nie stand er vor der Lösung. Da durfte ihn dieser Sinclair auch nicht stören, auch nicht der Russe, obwohl der keine Gefahr bildete. Sollte sich Sinclair noch einmal einmischen das traute er ihm durchaus zu —, würde er keine Chance haben. Dann verlor er sein Leben, dann war alles vorbei. Er stand vor einer Tür, zu der nur er den Schlüssel besaß. Dahinter lag einer der wichtigsten Räume des Hauses, praktisch das Zentrum, das Herz. Er schloß auf. Dunkelheit drang ihm entgegen und gleichzeitig ein schlimmer, feuchter Gestank. An ihn hatte er sich zunächst gewöhnen müssen, aber was über Jahrtausende hinweg gehalten hatte, dem konnte man nicht ohne Kompromisse hinzunehmen gegenüberstehen. Er machte kein Licht, sondern holte Zündhölzer aus der Tasche, riß eines an und lenkte die kleine Flamme gegen den Docht einer Kerze. Das Licht reichte aus, um eine kleine Insel der Dunkelheit zu schaffen. Der Raum war leer, bis auf zwei Dinge! In der Mitte wuchs vom Boden eine Säule hoch. Sie war knorrig und erinnerte an einen alten Baumstumpf. Auf der Säule stand ein Kopf! Kein normaler Menschenkopf, sondern einer, der aus Stein oder dicker Rinde geformt zu sein schien. Auch hatte er keine runden Umrisse, er wirkte mehr quadratisch, war gezeichnet von Kerben und breiten Rissen, zeigte aber auch kleine Vorsprünge, die aussahen wie winzige Aststücke. Und er hatte zwei Augen! Sie lebten, sie leuchteten in einer Farbe, die irgendwo zwischen Rot und Violett lag. Vor dem Kopf blieb der Psychologe stehen. Als er Luft holte, hörte es sich an wie ein Stöhnen, und seine Worte hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Gebet. »Die Zeit der Schande ist vorbei. Ich habe dich gefunden, ich habe gewußt, daß du vor mehr als eintausendfünfhundert Jahren hier ein Regiment des Schreckens geführt hast und dich gegen den Gott der Christen stemmtest. Du, Farrax, hast hier geherrscht. Dich hat man angebetet. Du hast den Bergvölkern den Weg in die Unsterblichkeit gezeigt, aber man hat dich mit den fremden Symbolen der Christen überhäuft und versucht, dich zu vernichten. Man grub dich tief ein in eine große Höhle, aber man wußte nicht, daß du nicht zu töten warst. Daß du es bist, der den Tod und das Leben schon längst besiegt hattest. Daß du
aus einer vorsintflutlichen Zeit gekommen bist, aus einem Reich, in dem die Finsternis, das Chaos und der Schrecken zu Hause waren. Die Menschen haben auf dich gehört, die Erde hier war dir geweiht, und das soll sich in der folgenden Nacht wiederholen. Die alte Zeit kehrt zurück, das alte Grauen. Einmal hast du es bisher geschafft und mir gezeigt, daß die Toten auch leben können. Ich habe danach versagt, als ich den lebenden Toten nach London schaffte, wo er ein Problem lösen wollte. Aber er war nur ein Versuch, andere Versuche werden folgen, und sie werden auch erfolgreicher sein, das kann ich dir versprechen. Ich will dir nur noch sagen, daß jemand erschienen ist, vor dem wir uns in acht nehmen müssen, doch ich vertraue auf dich und auf deine alte Dämonenkraft. Sie wird es schaffen, sie wird wieder einmal den Tod besiegen, wie es schon vor urlanger Zeit geschehen ist. Das schwöre ich dir, mein Freund, daran geht kein Weg vorbei . . .« Der Psychologe verneigte sich vor dem alten Schädel, in dessen Augen das Strahlen zunahm und so aussah, als wollte es gegen das Licht der Kerze ankämpfen. »Noch ist die Zeit nicht reif, Farrax, noch bin ich gezwungen, bis zur Dunkelheit zu warten. Dann aber bekommst du den Platz, der dir zusteht. Dann bringe ich dich zurück zu dem Ort, der dir allein gehört und nicht denjenigen, die heute hier leben.« Er verneigte sich noch einmal und verließ den Raum. Die Flamme hatte er zuvor ausgeblasen. Satorius fühlte sich besser, auch wenn er seine Hände unruhig bewegte. Der Sichtkontakt und die von ihm gesprochenen Worte, auch wenn sie ohne Antwort geblieben waren, hatten ihm den nötigen Mut gegeben, seine Aufgabe in Angriff zu nehmen. Es hätte alles so wunderbar laufen können, wenn nicht diese beiden Störenfriede gewesen wären. Der Russe und dieser Sinclair! Wobei Golenkow ihm keinen Ärger bereiten würde, aber Sinclair traute er nicht über den Weg. Für ihn mußte er sich noch etwas einfallen lassen, denn er sollte die nächste Nacht ebenfalls nicht überleben. Sein Weg führte ihn in den Keller. Die Treppe war alt, krumm, und sie bestand aus hohen Stufen. Das Licht aus dem Flur versickerte hinter ihm, und er fand sich auch in der Dunkelheit zurecht. Die Tür zum Verlies war so niedrig, daß er seinen Kopf einziehen mußte. Zielsicher fand er das schmale Schloß, bewegte den Schlüssel, dann war die Tür offen. Sie knarrte und ächzte, als er sie nach innen drückte. In den Angeln kratzte der Rost. Daß Wladimir Golenkow noch lebte, hörte er an dessen heftigen Atemzügen. Seine Hand fand den Lichtschalter, und über der Tür erhellte sich die Lampe.
In ihrem Schein ging er auf den Gefangenen zu, der ihm gar nicht mal so ängstlich entgegenstarrte. Vor dem >Tisch< blieb der Psychologe stehen. Er untersuchte die Metallstreifen und war zufrieden, daß sie sich nicht gelockert hatten. Dann nickte er dem Gefangenen zu. »Was ist?« fragte Golenkow. »Du hast Besuch bekommen, Russe.« »Auf den kann ich verzichten.« »Ich meine nicht mich, sondern einen anderen. Er hat nach dir gefragt, er sucht dich.« Wladimir nahm die Aussage mit Galgenhumor. »Hoffentlich ist es ein weiblicher Besuch.« »Nein, ein Mann.« »Schade.« »Er heißt John Sinclair!« Wladimir Golenkow hatte das Gefühl, verrückt zu werden. Plötzlich verschwamm alles vor seinen Augen. Die Decke fing an zu tanzen, auch die Wände bewegten sich, die Lampe verwandelte sich in ein Irrlicht, und er hörte sich selbst bitter und scharf lachen. Satorius wartete ab, bis er sich beruhigt hatte. »Was findest du daran so spaßig.« Wladimir schluckte einige Male. Er mußte sich erst beruhigen. »Das kann ich dir genau sagen, du verfluchter Seelenklempner. Mich kannst du ja in die ewigen Jagdgründe schicken, aber mit John Sinclair wirst du deine Schwierigkeiten bekommen. Wenn er sich einmal festgebissen hat, bleibt dir nur die Flucht.« »Ist er so gut?« »Noch besser.« »Kann er auch den Tod besiegen?« »Das nicht, aber . . .« Satorius ließ den Russen nicht weitersprechen. »Dann ist er schlecht, verdammt schlecht sogar. Dann ist er ihm nicht überlegen, dann wird er ihn zerquetschen.« »Du sprichst nicht von dir, nehme ich an.« »Nein, von Farrax.« »Wer ist das denn, um Himmels willen?« »Ein Gott!« stieß der Psychologe hervor. »Ein dämonischer Götze. Jemand, der eine ungeheure Macht besitzt. Einer, der schon vor mehr als tausend Jahren den Tod besiegt hat. Der damals schon gegen die kämpfte, die heute versuchen, auch noch das Sagen zu haben. Aber sie sind nicht stark genug, denn ich habe Farrax wieder hervorgeholt. Ich bin dazu ausersehen, die alten Zeiten wieder auferstehen zu lassen.« »Weiß Sinclair das?« »Nein.« »Dann wird er trotzdem eingreifen und deinen komischen Farrax zur Hölle schicken.«
»Er ist zu stark«, wisperte der Psychologe. »Er stammt noch aus der Zeit der alten Römer. Er ist ihrer globalen Religion entsprungen. Du weißt möglicherweise, daß die Römer viel von anderen Religionen mit übernommen haben. Viele von ihnen beteten Farrax an. Sie wußten genau, welche Macht er ihnen gab. Sie konnten sich nicht immer durchsetzen, es gab stärkere Kräfte, aber sie haben Farrax nicht vernichtet, sondern nur lahmgelegt. Ich habe seine Begräbnisstätte gefunden und ihn wieder hervorgeholt. Sein Einfluß ging auf mich über, und ich gab ihn weiter.« »An wen?« »Meine Gäste profitieren davon.« »Ach ja? Wie denn?« »Sie merkten, daß Farrax von einer anderen Welt berichtete. Er drang ein in ihre Gedanken. Er war derjenige, der ihnen durch mich als Vermittler die Furcht vor dem Tod nahm. Er erklärte ihnen, daß es gut sei, wenn sie ihrem Leben ein Ende setzten.« »Taten Sie es?« »Alle!« keuchte Satorius den Gefangenen an, und Wladimir zuckte innerlich zusammen. »Du glaubst mir?« »Ja.« »Das ist gut, sogar sehr gut. Dann wirst du auch bald erleben, daß die Macht des Götzen auf mich übertragen wurde. Denn ich allein habe es geschafft und mir eine Armee aufgebaut, die sich noch im Zustand der Ruhe befindet, der allerdings nicht mehr lange andauern wird, das kann ich dir versprechen.« »Eine Armee aus Agenten, nicht wahr?« »Sicher. Spione und Geheimagenten. Sie gehorchen nur noch mir und nicht mehr ihren Diensten. Es war mir egal, woher sie kamen, ob vom Secret Service, von der CIA, vom Mossad oder vom BND. Wichtig ist, daß ich sie unter meiner Kontrolle hatte. Alles andere kannst du völlig vergessen, das ist unwichtig, verstehst du?« »Nicht ganz. So ein weltweites Verschwinden bleibt nicht unentdeckt. Das müßte dir klar sein.« »Es macht mir nichts.« »Nicht nur ich bin geschickt worden, um die Verschwundenen zu suchen. Wir kennen uns, Satorius, wir haben uns schon einige Male gesehen, wir wissen, was wir voneinander zu halten haben. Aber, jetzt hast du noch einen zweiten Gegner, John Sinclair. Und mit ihm wirst du dir keine Spaßte erlauben können.« »Es bleibt abzuwarten.« »Ich wette dagegen.« »Wogegen?« »Daß du es nicht schaffst.« Satorius schaute den Gefangenen an, als würde er an dessen Verstand zweifeln. »Keine Sorge, ich werde es schaffen, und ich kann dir versprechen, daß du dabei im Mittelpunkt stehen wirst. Du bist der erste, du bist mittendrin, du wirst alles mitbekommen.« »Was denn?«
Satorius lachte, er lachte auch noch, als er durch die Tür ging, das Licht löschte und aus dem dunklen Flur die Antwort rief. »Du wirst die Toten sehen, die hungrigen Toten . . .« Wladimir Golenkow zuckte zusammen. Die Stimme des Psychologen hatte sich angehört, als wäre sie direkt aus der Hölle gedrungen... *** Wie ein großes Kissen hatten die beiden Männer die Leiche der Frau auf die Ladefläche geschleudert. Dann waren sie vorn eingestiegen und sofort gestartet. Rocco fuhr, Argus saß neben ihm. Der zweite hatte den Spitznamen wegen seines Glasauges bekommen. Er fühlte sich trotzdem nicht behindert. Rocco fuhr wie ein Henker. Es machte beiden nichts aus, daß die Leiche auf der Ladefläche von einer Seite zur anderen geschleudert wurde. Auf so etwas konnten sie keine Rücksicht nehmen. Sie hatten auch die letzte Sitzreihe nach vorn gekippt, um Platz für die Leblose zu schaffen. Sehr schnell hatten sie den Wald erreicht. Die Helligkeit verschwand, sie kamen sich vor wie in einem breiten Tunnel. Hatte es zu Beginn der Fahrt so ausgesehen, als wollten sie kilometerweit fahren, so ging Rocco bereits nach der zweiten Kurve mit dem Tempo herunter. Der schmale Weg war eigentlich für Fußgänger gedacht. Er endete nahe der Tennishalle und am Schwimmbad, aber so weit fuhren sie nicht. Rocco riß das Lenkrad sehr schnell nach rechts, das Fahrzeug wuchtete seine Schnauze in eine Lücke hinein, holperte weiter, bis die mächtigen Zweige der Nadelbäume über seinem Dach zusammenschlugen und es vor einer schnellen Entdeckung schützten. Rocco atmete tief durch. Dann schaute er nach rechts auf seinen Kumpan, der bis auf die Farbe der Pudelmütze die gleiche Kleidung trug wie er. Argus nickte. »Ich bin fast zufrieden!« flüsterte er und streichelte die Kettensäge. Sie lag wie ein kleines Kind quer auf seinem Schoß, und Argus bezeichnete sie als sein Lieblingsspielzeug. »Warum nur fast?« Argus hob die Schultern. Dann starrte er durch die Scheibe. Von außen her warf das dichte Grün der Bäume Schatten dagegen. »Der Fremde war bewaffnet.« »Na und? Das sind wir auch!« »Stimmt. Denke mal nach. Wer kommt schon in diese Gegend mit einer Waffe? Bestimmt kein Urlauber.«
Rocco nickte. »Richtig, daran habe ich gar nicht gedacht. Da hast du recht.« »Kann es sein, daß er uns auf der Spur ist?« »Wenn schon . . .« Argus bewegte sich unbehaglich. »Es lief alles nicht richtig. Ich hätte ihm gern meine Säge zu schmecken gegeben, aber ... na ja, vielleicht klappt es später.« »Bestimmt sogar.« Rocco öffnete die Tür. »Willst du die Leiche nehmen oder das Werkzeug?« Damit waren der Spaten und die Schaufel gemeint. »Das Werkzeug.« »Okay.« Beide Männer verließen den Wagen. Eine kühle, aber sehr würzige Waldluft umgab sie. Doch Männer wie ihnen war es egal, ob sie den Balsam für die Lungen einatmeten, sie dachten einzig und allein an die vor ihnen liegende Aufgabe. Argus hatte sein >Spielzeug< über die Schulter gelegt. Wie auch sein Partner, so mußte er sich ebenfalls unter den oft störenden Zweigen wegducken oder sie mit einer Hand zur Seite schlagen. Dieser Teil des Geländes war dicht bewachsen, doch einer der Gäste verlief sich hierher kaum. Sie waren zu hören. Die Stimmen nahe der Tennishalle schallten über die Wipfel hinweg bis zu ihnen. Rocco öffnete die hintere Klappe. Fast wäre ihm die Tote entgegengefallen. Sie sah aus wie eine wächserne Puppe. Das Gesicht war starr, die Augen ebenfalls, und an ihrem Hals klaffte eine breite Wunde, die an den Seiten blutverkrustet war. Sie hatte mit dem Messer sehr tief geschnitten und keine Überlebenschance gehabt. Rocco zog die Leiche an der Schulter zu sich heran, wuchtete sie hoch und dann über seine linke Schulter. Er trat zurück, damit sein Kumpan an das Werkzeug herankam. Argus griff nach dem Spaten und der Schaufel. Auf seiner Schulter war noch Platz. Rechts lagen die beiden Werkzeuge, links hatte die Kettensäge ihren Platz gefunden. Beides hielt er mit den Händen fest. Den Weg kannten sie. Rocco ging vor. Einige Male fluchte er, als die Zweige zu dicht wuchsen. Immer wieder peitschten sie zurück, wenn er sich gerade freie Bahn geschaffen hatte. Auf dem weichen Boden waren ihre Schritte kaum zu hören. Nur mehr ein dumpfes Schaben hörten sie hin und wieder. Sie schreckten auch Vögel auf, die sich kreischend beschwerten, wenn sie aus dem dichten Tann in die Höhe flogen. Die Männer gingen, ohne
zu sprechen. Sie wirkten wie finstere Gestalten, denen man nicht einmal bei Tageslicht begegnen wollte. Ihr Ziel war ein bestimmter Fleck innerhalb des doch sehr großen Parkgeländes. Eine Wiese, umrahmt von dicht beisammenstehenden Nadelbäumen und an einer Seite begrenzt durch die mächtige Rückfront des schon schloßähnlichen Hotels. Das war genau der Ort, der Platz, der bei Anbruch der Dunkelheit die zentrale Rolle spielte. Bis dahin aber mußten sie alles geschafft haben, niemand durfte sie stören oder entdecken. Satorius hatte ihnen genaue Instruktionen erteilt. Sie kannten sich aus, sie wußten Bescheid, und sie führten diese makabre Arbeit nicht zum erstenmal durch. »Irgendwann werde ich mich mal als Totengräber bewerben«, sagte Rocco, der die Leiche schleppte. »Da sind bestimmt noch Stellen offen.« Er lachte. »Ich frage mich nur, ob die Stadtverwaltungen dann damit einverstanden sind, wenn ich den Typen sage, daß die Toten wieder zurückkehren werden.« »Wäre doch mal was Neues.« »Meinst du?« »Sicher.« Das Gespräch versickerte. Ab und zu stieß das Spatenblatt mit dem der Schaufel zusammen. Die dabei entstehenden Geräusche waren für die Männer die Aufforderung, weiter zu gehen und keine Pause einzulegen. Sie mußten durchhalten. Wenn sie versagten, half ihnen auch keine Kettensäge mehr. Beide lachten befreit auf, als sie den Waldrand sahen. Die einzelnen Bäume wuchsen jetzt weiter auseinander. Durch die Zwischenräume hätte auch ein Lastwagen gepaßt. Vor ihnen lagen das Feld, die Wiese, der Friedhof. Die langen, hellen, trockenen Tage waren vorbei. Besonders an den feuchten Stellen hatten sich erste dünne Schwaden gebildet, die immer mehr Nachschub bekamen und vom Wind wie blasse Tücher vorangetrieben wurden, wobei es für sie keine Hindernisse gab. Auch über der großen Rasenfläche breiteten sie sich aus. Manchmal sah das Gras aus, als würde es sich bewegen. »Ideales Horrorwetter«, sagte Rocco. »So habe ich mir Beerdigungen schon als Kind vorgestellt.« »Ich auch.« »Komm.« Argus ging hinter seinem Kumpan her. Es war kühler geworden, und die Luft klebte manchmal wie ein dünnes, feuchtes Tuch auf ihren Gesichtern. Der Rasen vor ihnen zeigte nicht nur das satte, gesunde Grün. Es gab auch Flecken, wo die braune Erde einen breiten Rand bildete. Dort war sie ausgehoben und nur unvollkommen wieder
abgedeckt worden. Sie zählten nicht nach, aber einige der Patienten hatte es schon erwischt, und es würde wieder jemand dazukommen. Als Rocco stehenblieb, da wußte Argus, daß sich der Mann für genau die Stelle entschieden hatte. Erließ die Leiche über seine Schulter rollen und kümmerte sich auch nicht darum, daß sie mit einem dumpfen Laut aufschlug. Auf dem Rücken blieb sie liegen. Rocco streckte den Finger aus. »Fang hier an zu graben.« »Und was machst du?« »Ich schaue mich mal um.« Argus glotzte ihn an, bevor er nickte. »Okay, aber du wirst auch was tun.« »Sicher. Ach ja, grab nicht zu tief. Es lohnt sich nicht.« Argus lachte und schaute auf Roccos Rücken, als der Mann davonging. Er schlug eine Richtung ein, die ihn zum Waldrand führte. Dort blieb er stehen, holte eine Zigarette aus der Packung und rauchte in aller Ruhe. Der andere hatte die Kettensäge neben sich zu Boden gelegt. Immer in Griffweite. Seit er diesen Fremden gesehen hatte, war er noch vorsichtiger geworden. Mit dem Spaten stach er die Grasnarbe auf. Es war zu erkennen, daß er diese Arbeit nicht zum erstenmal durchführte. Er hatte auch die Maße eines Grabs im Kopf, zeichnete sie zunächst in den weichen Boden und begann zu graben. Nach einer Weile kehrte Rocco zurück. Er deutete gegen den Himmel. »Bald wird es dunkel.« »Zum Glück.« »Richtig.« Argus wischte den Schweiß von der Stirn. »Ist das Grab tief genug?« »Fast.« »Dann mach mit, verflucht!« Rocco ließ sich nicht lange bitten und griff zum Spaten. Sie hatten es eilig, denn sie durften auf keinen Fall zu spät kommen. Vor ihnen lag eine Nacht, auf die sie und der Doktor sehr lange gewartet hatten. Sie war wichtig, die Nacht der Nächte, der lebenden Toten, der Zombies und des Grauens. Und sie würden zuschauen können, wie diese Geschöpfe sich die Opfer holten. Konnte es ein größeres Vergnügen geben, als endlich einen Erfolg zu erleben? »Fertig, das reicht!« sagte Rocco keuchend. Sein Partner schleuderte sofort die Schaufel zur Seite. »Nimm die Tote, Argus!« »Warum ich?« »Mach schon, verdammt!«
Es sah schaurig aus, wie sich Argus bückte und den Leichnam in dem immer dichter werdenden Dunst anhob. Beide Männer wirkten wie zwei Gestalten, die aus einem alten Gruselfilm hätten entsprungen sein können. Über ihnen verdunkelte sich der Himmel. Er nahm eine seltsame Bläue an, als wäre ein Vorhang dabei, sich allmählich zu schließen, damit diese Welt nicht mehr sichtbar war. Argus legte die Leiche flach in das Grab. Mit den Füßen stieß sie gegen die hintere schmale Begrenzung. »Gut so?« Rocco nickte. Er rauchte mittlerweile seine zweite Zigarette, ließ sie zwischen den Lippen kleben und griff zur Schaufel, während Argus den Spaten nahm und damit Erde und Gras auf die Tote schleuderte. Da sie diese Arbeit nicht zum erstenmal verrichteten, lief sie ihnen schnell von der Hand. Zum Schluß klopften sie noch die Erde glatt. »Gut so«, sagte Rocco. Auch Argus war zufrieden. Er hob seine Kettensäge an, keuchte plötzlich und drehte sich auf der Stelle, wobei er das Geräusch der Säge imitierte. Rocco schüttelte den Kopf. Seiner Meinung nach tickte Argus nicht richtig. Er war auf diese Waffe fixiert, suchte stets nach einer Chance, sie einzusetzen. »Fertig?« fragte er. Argus stoppte in der Bewegung. »Ja, wir können.« Rocco nahm Spaten und Schaufel. Er schleuderte sie ein paar Meter weiter, wo sie neben den breiten Zweigen einer Tanne liegenblieben. »Zum Haus«, sagte er dann. Es gab nichts, was Argus jetzt lieber getan hätte. Er dachte an den Fremden und hoffte, ihn noch zu finden. Dann hätte ihn keiner davon abhalten können, die Kettensäge einzusetzen. Eine zweite Begegnung würde der Mann nicht überleben... *** Ich kam mir vor wie ein unruhiger Panther, der zum erstenmal die Enge des Käfigs zu spüren bekommt. Dabei waren weder das Hotel noch das Zimmer ein Käfig, aber ich war zu aufgeregt, um ruhig zu sein. Zudem wußte ich nicht, wo ich anfangen sollte. Zuerst bei Wladimir Golenkow oder bei diesem verdammten Psychologen, der hier im Hintergrund geschickt seine Fäden zog. Vielleicht war ich auch zu schnell verschwunden. Ich hätte ihn härter anfassen sollen, nur gehörte er zu den Typen, die so leicht nicht aufgeben würden. Er hatte mir einiges von seinen Plänen verraten, trotzdem wußte ich nicht genau über ihn Bescheid. Nach wie vor blieb er ein Rätsel für mich. Eines stand fest, ich hatte es bei ihm nicht mit einem Dämon zu tun,
sondern mit einem normalen Menschen. Wobei ich das Wort normal durchaus in Klammern setzen wollte. Aber gerade dieser Mensch handelte so wie ein Dämon, und da gab es nur eine Möglichkeit. Er war beeinflußt worden. Er gehörte zu denjenigen, die den schwarzmagischen Teufeln und Götzen dienten. Die darauf stolz waren, die sich darüber freuten und die sich die entsprechende Macht und den großen Lohn von diesen Wesen versprachen. Wer aber steckte hinter ihm? Der Teufel? Ich glaubte nicht daran. Wahrscheinlich hätte er mich dann gekannt, denn Asmodis sorgte dafür, daß seine Diener auch mit den Namen seiner eigenen Feinde versorgt wurden. Wie ich es auch drehte und wendete, es sah nicht gut aus. Ich bekam einfach keine Lösung. Dreimal hatte ich mich hingesetzt, dreimal war ich wieder aufgesprungen, durch den Raum getigert, dann zum Fenster gegangen und hatte hinausgeschaut auf den kleinen Ort Sils-Maria, dessen Häuser sich so malerisch in dem Tal verteilten. Allmählich verabschiedete sich der Tag. Nur die Spitzen der über dreitausend Meter hohen Berge genossen noch das Bad in den Sonnenstrahlen, und selbst das mächtige Gletschereis schien sich in der Wärme wohl-zufühlen. Ein wunderschönes Postkartenbild, dessen Anblick ich nicht so recht genießen konnte, denn meine Gedanken wanderten in andere Richtungen. Ich dachte an diesen verdammten Fall und auch daran, daß ich ihn hoffentlich irgendwann einmal beenden konnte. Ich drehte mich wieder um. Das weiße Telefon stand neben dem Bett. Ich hob ab und rief an der Rezeption an. »Hier Sinclair, ist. . .?« »Nein, Herr Sinclair, es tut uns leid, aber Ihr Bekannter ist noch nicht eingetroffen.« »Danke.« Ich legte auf. Sehr sacht, in Gedanken versunken. Meine Lippen bildeten einen Strich. Etwas rieselte durch meinen Körper wie feines Eis, ich fühlte mich so verdammt unwohl in meiner Haut, auch deshalb, weil ich nicht wußte, wo ich ansetzen sollte. Möglicherweise wußte Wladimir viel mehr als ich. Wenn ja, hatte er mit seinem Wissen auch etwas anfangen können? Das war die Frage, und ich konnte mir sogar vorstellen, daß er auf diesen Satorius reingefallen war, einen Mann, der es auch geschafft hatte, den Hotelier und seine Mitarbeiter zu täuschen. Selbst mich hatte er abfahren lassen. Auch seine Helfer durfte ich nicht vergessen. Der Kerl mit der Kettensäge stieß mir noch jetzt auf wie sauer Bier.
An den zweiten hatte ich ebenfalls keine gute Erinnerung. Die beiden würden für ihren Herrn und Meister durch das Fegefeuer und auch durch die Hölle gehen, wenn es denn sein mußte. Nein, das Zimmer konnte mich nicht mehr halten. Ich mußte raus, weg, verließ es und traf auf dem Flur zum erstenmal Gäste. Die Menschen hatten sich umgezogen, um das Dinner einzunehmen. Mir hätte man die exquisitesten Speisen der Welt hinstellen können, ich hätte davon keinen Bissen gegessen. Der Druck und die Spannung waren zu hoch. Während sich die Hotelgäste um die beiden Lifttüren versammelten, nahm ich die Treppe. Auf ihrer letzten Etappe konnte ich in die Halle hineinschauen, die von den Klängen eines Klaviers durchweht wurde. Ein Mann im schwarzen Frack hockte vor dem Instrument und spielte mit halb geschlossenen Augen Musical-Melodien. In der Halle standen die Gäste zusammen, die sich dort verabredet hatten. Die meisten hatten sich in Schale geworfen. Zwar wurden keine dunklen Anzüge und Abendkleider getragen, aber eine Krawatte sahen die Männer als Pflicht an. Ich ließ die Treppe hinter mir und schaute zur Rezeption hin, wo die nette junge Frau einen ziemlich gestreßten Eindruck machte, mich aber trotzdem sah, die Schultern hob und mir ein wenig hilflos zulächelte. Ich ging zu ihr. »Nichts, Herr Sinclair.« »Ich weiß.« »Sollen wir Ihren Freund suchen lassen?« Ich tätschelte ihren Handrücken. »Um Himmels willen, der ist doch nicht in eine Gletscherspalte gerutscht.« »Man kann ja nie wissen.« »Nein, nein, ich schaue mich mal draußen ein wenig um. Vielleicht kommt er noch.« »Dann wollen Sie nichts essen?« »Heute nicht — danke.« Ich nickte ihr zu und ging. Die Luft war herrlich. Wunderbar kühl, würzig, als hätte ich sie extra für meine alten Lungen bestellt. Ich schaute die Stufen der Treppe hinab. Auf dem schmalen Parkplatz davor stand ein mit Getränkekisten beladener Transporter. Zwei Männer waren dabei, ihn zu entladen. Ich schlenderte auf sie zu, passierte den Wagen und schaute den normalen Weg entlang, der in das Fex-Tal führte. Das war mehr etwas für Urlauber und nichts für mich. Ich interessierte mich für das Gelände an der linken Seite des Wegs. Es wirkte in der Dämmerung wie eine wolkige Schatteninsel. Zwar standen auf dem
Grundstück einige Laternen verteilt, sie aber befanden sich zumeist dort, wo die Tennishalle und das Schwimmbad ihre Plätze gefunden hatten. Da wollte ich nicht hin. Ich mußte Satorius suchen. Ihn und seine Helfer, um von ihnen zu erfahren, was mit Wladimir Golenkow geschehen war. So hatte ich es vorgesehen. Daß alles ganz anders kam, konnte ich nicht ahnen. Noch hatte das Grauen im Grand Hotel nicht begonnen... *** Er ging durch das Haus wie ein mächtiger Dämon durch sein Reich. Er hatte noch vor wenigen Minuten mit seinen beiden Helfern gesprochen und sie genau instruiert. Wenn jetzt noch etwas schiefging, dann war es Zufall oder Schicksal, aber nicht gewollt. Kein Licht, denn der alte Dämon haßte die Helligkeit. Er mochte sie ebensowenig wie sein Diener. Satorius hatte sich inzwischen an das Dunkel so sehr gewöhnt, daß er es ansah wie einen guten Freund, der sich wie ein Schutzwall um ihn stellte. Vor der Tür zu seinem Raum blieb er stehen. Obwohl der Götzenkopf es nicht sehen konnte, verbeugte sich Satorius, bevor er öffnete. In der Finsternis leuchteten die Augen in einer intensiven Farbe, die nicht nur das Licht abgaben, sondern zudem noch etwas anderes ausströmten, das Satorius wie eine Sucht erreichte. Die Sucht aus den Tiefen der Erde, die Sucht aus der Hölle, aus anderen Dimensionen. »Ich komme!« hauchte er. »Ich komme zu dir, um dich zu holen. Ich werde dich dorthin stellen, wo du hingehörst und dich die Erinnerung wieder überfällt, pu wirst dich fühlen, als wären die vielen vergangenen Jahrhunderte ein Nichts, als hätten sie gar nicht existiert, als wäre alles so wie damals, als dich die Römer herbrachten und dir den Höhlentempel weihten, wo ich dich fand.« Nach diesen Worten der Begrüßung verbeugte sich Satorius ein weiteres Mal. Dann erst betrat er die Kammer. Die alte, verbrauchte, nach Moder und Feuchtigkeit riechende Luft störte ihn nicht. Er war einzig und allein auf den ungewöhnlichen Schädel fixiert, dem er seine Arme entgegenstreckte und ihn mit den Händen umfaßte, als er nahe genug herangekommen war. Unter seinen Handflächen spürte er die Rinde. Sie kam ihm vor wie die Haut eines Menschen, der aus einem schlammigen Bad gestiegen war, denn auf und in ihr hatte sich Feuchtigkeit gesammelt.
Es bedurfte nur eines kleinen Rucks, um den Schädel von seinem Platz abzuheben. Jetzt hatte er freie Bahn! Seine Augen glänzten in wilder Vorfreude, die Zunge umkreiste einige Male die Lippen. Er schluckte, er atmete heftig, er konnte nur immer wieder in die Augen schauen, die einen kalten Glanz bekommen hatten und ihm Botschaften aus tief vergrabenen Zeiten zusandten. Satorius drehte sich um. Er ging zur Tür. Mit dem Fuß schob er sie auf. Kühle Luft umfing ihn. Er schaute über das Gelände, vor die dunkle Kulisse der Bäume, hinein in den schwachgrauen Himmel, und er sah auch den Dunst, der lautlos über den Boden kroch, als würde er aus zahlreichen Händen bestehen, die keine Hindernisse kannten. Er war bereit. Der alte Dämon ebenfalls. Und Satorius beugte seinen Kopf vor, um die Lippen auf Farrax' Schädel zu drücken. Es war der dämonische Kuß, der den Pakt zwischen Mensch und Götzen endgültig besiegelte... *** Wladimir Golenkow lag in der Dunkelheit und wußte, daß sie ihn irgendwann holen würden. Es ergab keinen Sinn, wenn sie ihn verhungern oder verfaulen lassen würden, denn er war so etwas wie ein Trumpf-As in diesem dämonischen Spiel. Die Frage war nur, wann sie erscheinen würden. Außerdem wußte der KGB-Mann nicht, ob es inzwischen dunkel geworden war. Seinem Gefühl nach mußte die Dämmerung bereits eingesetzt haben. Die Schmerzen in seinem Rücken waren zwar noch vorhanden, aber der andere Druck auf seinem Oberkörper überwog. Die Metallblätter waren sehr scharf gespannt, sie preßten sich gegen seine Haut, und sie gaben auch nicht nach. Oft genug hatte er versucht, die Gurte zu lockern, es hatte keinen Sinn gehabt. Er lag auf dem Rücken starrte nach oben, wo irgendwo die Decke sein mußte. Seine Gedanken drehten sich um John Sinclair. Um sich von seiner eigenen Lage abzulenken, beschäftigte er sich mit dem Geisterjäger. War es Zufall, daß er in diesem kleinen Schweizer Ort erschienen war, oder arbeiteten sie beide an demselben Fall, ohne voneinander zu wissen. Das konnte zwar ein Zufall sein, aber es war nicht unmöglich. Dann hörte er Schritte.
Sofort stockten seine Überlegungen. Er lag stocksteif und bekam auch eine Gänsehaut. Der andere war an der Tür. Diesmal wurde kein Schlüssel gedreht, die Tür schwang nach innen, und Wladimir konnte den grauen Ausschnitt erkennen, in den sich von der Seite her eine dunkle Hand hineinschob. Finger fanden den Schalter, klickten ihn nach unten. Über der Tür erhellte sich die Lampe. Einer der beiden Gorillas stand auf der Schwelle. Starr glotzte er den Gefangenen an, so starr, daß Wladimir den Eindruck bekam, von gläsernen Augen angeschaut zu werden. »Kannst du reden?« fragte er. Argus gab keine Antwort. Er betrat das Verlies. Bereits nach dem ersten Schritt blieb er stehen, bückte sich und streckte den Arm aus. Zielsicher fand seine Hand die verfluchte Kettensäge. Er nahm sie hoch, hielt sie vor sein Gesicht, und es sah so aus, als wollte er sie küssen. Dann aber senkte er den Arm. Die Gänsehaut auf dem Körper des Russen verstärkte sich. Einige Male mußte er sich räuspern, bevor er die nächste Frage stellen konnte. »He, willst du mich zerschneiden?« Er bekam keine Antwort. Unschlüssig starrte Argus auf seine Säge, als hielte er sie zum erstenmal in der Hand und wußte nicht, was er damit anfangen sollte. Wladimir überkam das bare Entsetzen. Auf der Zunge spürte er den bitteren Geschmack, als hätte er auf Metall gekaut. Der Schweiß rann ihm über die Stirn in Richtung Wangen und das, obwohl er lag. Argus hatte sich entschlossen. Er ging den nächsten Schritt, dann noch einen. Vor dem >Tisch< blieb er stehen. In Brusthöhe sah der Gefangene den Körper vor sich hochwachsen. Er hielt die Säge schräg, daß ihre gezackte Unterkante über dem Körper des Russen schwebte. Über das Blatt hinweg glotzte er auf Wladimir nieder. Der erkannte, daß der Mann tatsächlich nur ein normales Auge hatte. Das andere bestand aus Glas. »Wer bist du, verdammt?« »Nenn mich Argus, den Zerstückler!« Er lachte drek-kig und zerrte an der Anreißschnur des Motors. Golenkow versteifte noch mehr. Er hörte das Stottern, hatte die wahnsinnige Hoffnung, daß dieses Instrument nicht anspringen würde, aber den Gefallen tat es ihm nicht. Kreischend, als würden hohe Stimmen durcheinanderschreien, >sang< die Säge ihre tödliche Melodie. Das gefiel Argus, denn auf seinen Lippen zeigte sich ein nahezu verklärtes Lächeln. Er senkte das Instrument.
»Bist du verrückt?« keuchte der Russe. Er wunderte sich, daß er überhaupt noch sprechen konnte. Dicht über ihm zitterten die Zinken des Sägeblatts. »Du kannst doch nicht. . .« »Vielleicht bin ich verrückt«, rief Argus in das häßliche Kreischen der Säge hinein, »vielleicht bin ich es.« Wladimir Golenkow konnte nicht mehr sprechen. Alles war bei ihm blockiert, nur dieses verfluchte Geräusch hörte er und sah, wie sich ihm das Blatt der Säge näherte. Der andere kantete es sogar, und es wies alles darauf hin, daß er schräg in den Körper schneiden würde. Es hat doch alles keinen Sinn! schoß es Wladimir durch den Kopf. Das ist so verflucht sinnlos! Argus machte weiter. Er hatte die Lippen gespitzt, als wollte er die Melodie der Säge nachpfeifen. Und er bekam Kontakt. Der Russe spürte es, aber er spürte keine Schmerzen, er hörte nur dieses grelle Kreischen, das durch den Keller gellte und von den Wänden als Echo widerhallte. Es lag allein daran, daß dieses Sägeblatt nicht den Körper, sondern das Metallband berührt hatte. Es schleifte darüber hinweg, es trennte es — und mit einem Sprung jagten die beiden Hälften nach rechts und links weg. Als dies geschah, lachte Argus so laut, daß er selbst das Geräusch der Säge übertönte. Dem KGB-Mann fiel ein dicker Stein vom Herzen. Drei Bänder hatten ihn festgehalten, jetzt waren es nur noch zwei. Und auch die löste Argus. Er war tatsächlich ein Meister im Umgang mit dem teuflischen Werkzeug. Nicht eine Schramme bekam der Gefangene ab. Nicht einmal die Kleidung wurde angeritzt. Dann war er frei! Er lag da, atmete heftig, wollte lachen, selbst das schaffte er nicht. In seiner Kehle war alles zu, er hörte sich nur keuchen, und der Schweiß floß wie ein Wasserstrom über sein Gesicht. Es war einfach furchtbar, es war nicht zu fassen, und es war trotzdem einfach irre gut. Argus war zurückgetreten. Die Säge hielt er hoch. Sie sang noch immer, und er stellte sie erst nach einer Weile mit einer Geste des Bedauerns ab. Plötzlich war es still, so verflucht still, und Argus ließ den Arm mit der Säge langsam sinken. »Steh auf!« Der Russe lachte. »Wie denn, verdammt? Ihr hattet mich gefesselt. Ich werde das nicht schaffen!«
Argus packte mit der freien Hand zu. Bevor er Wladimir von der Platte rollen konnte, hielt dieser sich an ihm fest. »Nein, verdammt, ich mache das schon selbst.« »Dann beeil dich!« Es war die reinste Quälerei, doch Wladimir biß die Zähne zusammen. Als seine Füße endlich auf dem Boden standen und er das Körpergewicht auf sie verlagerte, sackte er in die Knie. Beinahe schämte er sich dafür, denn es sah so aus, als würde er vor Argus niederknien. Dem schien das zu gefallen. Jedenfalls deutete sein Lachen darauf hin. Durch den Kopf des Russen zuckte ein wahnsinniger Gedanke. Was würde geschehen, wenn er jetzt versuchte, den anderen anzugreifen und ihn einfach von den Beinen zu reißen. Nichts würde geschehen, weil er zu schwach war. Zudem hörte er noch die Schrittgeräusche einer zweiten Person und dann tauchte der Argus' Kumpan im Verlies auf. Ein kurzer Rundblick, dann die Frage. »Ist alles glattgegangen, Argus?« »Ja, obwohl ich ihn lieber zerschnitten hätte.« »Das überlasse mal anderen.« Die Antwort hatte Wladimir überhaupt nicht gefallen. Wer waren die anderen? Wer lauerte da noch auf ihn? »Bleibt alles so, Roccfo?« erkundigte sich Argus. »Ja, ich habe nichts anderes gehört.« Argus nickte. Er winkte Wladimir mit einem Finger. »Komm auf die Beine, Russe, und wenn du Ärger machen willst oder plötzlich einen Anfall von Mut verspürst, kannst du den vergessen.« »Gegen wen oder was sollte ich Mut verspüren?« »Ich habe nur gemeint.« Golenkow quälte sich hoch. Er hatte den Eindruck, als müßten seine Gelenke entrostet werden, alles tat ihm weh, zerrte und zog, auch der Kopf war in Mitleidenschaft gezogen worden, und hinter der Stirn spürte er das Hämmern. Dann stand er. Rocco bückte sich. Neben der Tür hatte ebenfalls eine Kettensäge gelegen. Rocco hob sie an und warf sie über seine Schulter. Durch den Riemen konnte er sie bequem tragen. »Was wollt ihr mit den Sägen?« keuchte Wladimir. »Verdammt noch mal, was habt ihr damit vor?« »Wir lieben sie«, sagte Rocco. Argus nickte. »Ja, wir sind mit ihnen aufgewachsen. Hier gibt es viele Holzfäller, Russe.« »Das hättet ihr bleiben sollen.« »Schnauze!« Argus stieß ihn an.
Er hatte den Russen auf dem falschen Fuß erwischt. Wladimir torkelte vor, fiel aber nicht zu Boden. Er konnte sich an der Wand abstützen. Rocco stand an der Tür und winkte. »Ja, ich komme.« Golenkow war trotzdem froh, das Verlies zu verlassen. Er hatte ihm die Bewegungsfreiheit zu sehr eingeschränkt. Möglicherweise ergab sich draußen eine Chance zur Flucht. Zunächst einmal mußte es ihm bessergehen. Er kam sich noch immer vor wie eingeklemmt. Als er die Stufen hochging, stolperte er, hielt sich am Geänder fest und ärgerte sich darüber, daß er seine Schwäche auch den anderen zeigte. Sie blieben dicht hinter ihm. Zum Glück ließen sie die Motoren der verdammten Sägen aus. Allerdings sprachen sie auch nicht mehr über die anderen. Bevor sie das Haus verließen, schnitt Golenkow das Thema an. »Ich weiß ja nicht, was ihr mit mir vorhabt, aber ich würde gern wissen, wer die anderen sind.« Rocco grinste ihn an. In der grauen Dunkelheit der Flurs hatten seine Augen den Glanz von poliertem Schiefer bekommen. »Du wirst sie noch früh genug kennenlernen, keine Sorge. Noch halten sie sich versteckt, aber das kann sich ändern. Außerdem müßtest du es erraten können, schließlich bist du ihretwegen gekommen.« »Die Agenten?« »Gut geraten. Aber sie schlafen noch«, flüsterte Rocco, während er in Richtung Tür nickte, die sein Freund aufzog. »Zu einem bestimmten Zeitpunkt werden sie erwachen.« »In der Nacht?« »Genau.« Der Russe schwieg. Er hatte eine bestimmte Ahnung, nur wollte er die für sich behalten und nicht jetzt schon die Pferde scheu machen. Argus ging vor. Erst jetzt fiel dem KGB-Mann auf, daß bei jedem Schritt des Mannes etwas in seiner Tasche klimpernd gegeneinanderschlug. Als würde Metall auf Metall treffen. Golenkow konnte sich keinen Reim darauf machen, wollte auch nicht wieder fragen und war froh über die kühle, klare und würzige Luft, die er einatmen konnte. Wegen der hohen Bäume war ihm der Blick auf die Berge verwehrt, aber er sah vor sich die flache Rasenfläche, über die sich die Nebel wie dünne Tücher gelegt hatten. Die unteren Teile der Bäume wirkten so, als würden sie über dem Boden schwimmen. Zur linken Hand lag das Hotel. Lichter brannten hinter den Fenstern. Hin und wieder schimmerten die gelben Flecken in der Dunkelheit. Auch der Himmel hatte sich bereits bezogen, war aber wolkenlos, so daß ein prächtiges Sternen-Panorama
hervortreten konnte. Die Gestirne sahen aus, als wären sie zum Greifen nah. Es war einfach eine Nacht zum Genießen und nicht zum Sterben. Golenkow kam sich vor wie ein Delinquent, der zur Hinrichtung geführt wurde. Er konnte seinen Blick nie von der Kettensäge loslösen, die Argus in der Rechten hielt. Er schlenkerte sie wie ein Spielzeug. Wo lag das Ziel? Nicht im Wald, denn als sie die Mitte der Rasenfläche erreicht hatten, blieb Argus stehen, drehte sich und wollte wissen, ob das der genaue Ort wäre. Rocco bestätigte es. »Dann müßte der Doktor ja kommen.« »Bestimmt.« Noch zeigte er sich nicht, und Wladimir bekam so etwas wie eine Galgenfrist. Er versuchte, mit seinen beiden Bewachern zu reden, was Rocco nicht wollte. Er legte einen Finger auf seine Lippen und schaute ihn nur starr an. »Ja, ja, schon gut.« Golenkow dachte über eine Flucht nach. Wenn er schnell war, konnte er in wenigen Sekunden den Waldrand erreicht haben. Er traute sich zu, einen Vorsprung zu halten, und zwischen den Bäumen waren die Chancen dann gleicher verteilt. Aber Rocco zog eine Pistole. Er grinste den Russen an. »Ich kann mir vorstellen, worüber du nachgedacht hast, aber das ist nicht drin. Du kommst nicht weg.« »Da ist der Doktor!« Mit dieser Meldung änderte sich alles. Rocco und Golenkow drehten sich um. Aus dem Waldrand vor ihnen trat eine Gestalt. Sie hatte es nicht eilig, sie ging mit gemessenen Schritten und hätte eigentlich von der Dunkelheit verschluckt werden müssen, wenn da nicht etwas gewesen wäre, das wie ein Signal geleuchtet hätte. Zwei rote Augen! Satorius mußte etwas auf seinen vorgestreckten Händen liegen haben, das er unbedingt brauchte und das sehr wichtig für ihn war. Obwohl Golenkow den Gegenstand nicht erkennen konnte, flößte ihm der Anblick doch ein großes Unbehagen ein. Er wußte instinktiv, daß dieser Gegenstand mit den rot glühenden Augen für ihn von einer entscheidenden Bedeutung war. Satorius behielt seinen Weg bei. Erst als er sich in Griffweite von der Gruppe entfernt befand, stoppte er seine Schritte. Er und Golenkow schauten sich an. »So sieht man sich wieder, Russe.« »Ja, das merke ich.«
»Du wirst in dieser Nacht sterben. Ich hatte dir geraten, nicht zu kommen, aber nun wirst du eines der ersten Opfer werden, das Farrax geweiht ist.« »Wer ist das?« »Der Kopf.« Golenkow senkte seinen Blick. Zum erstenmal schaute er sich den Gegenstand genauer an, der auf den Händen des Psychiaters lag. Es war kein normaler Kopf. Dem Russe kam er vor, als wäre er aus Holz und Baumrinde geschnitzt worden. Nur eines störte dabei. Die beiden Augen! So rot, so glutvoll und doch düster. Ihr Blick war gefährlich, er versuchte, die Kontrolle über einen Menschen zu bekommen, und das haßte der Russe. Er schaute weg! Satorius lachte, als er es bemerkte. »Bist du auch schon in seinen Bann geraten?« »Wieso?« »Man kann sich nicht von ihm befreien. Farrax hat die Macht. Er hat sie schon immer gehabt. Er ist ein uralter Dämon. Ihn kannten bereits die alten Römer. Sie haben ihn mitgebracht, denn sie wußten, daß sich in ihm zahlreiche Mythen und Kräfte vereinen. Farrax ist etwas Außergewöhnliches. Er ist die Macht, er hat die Kraft über Lebende und Tote. Er beherrscht das Diesseits und das Jenseits. Manche sagen, daß er dem Teufel ähnlich wäre, was ich nicht beurteilen kann, da ich den Teufel nicht kenne. Jedenfalls ist er wichtig, und in dieser Nacht wird er dir und uns beweisen, wie groß seine Macht ist.« Golenkow nickte. »Ja, wenn du meinst. . .« Satorius wandte sich an seine Helfer. »Habt ihr die Stäbe und die Handschellen?« »Ich!« »Gut, Argus.« Der Angesprochene griff in die Tasche. Wladimir schielte zur Seite. Im nächsten Moment konnte er erkennen, was beim Gehen so geklimpert hatte. Argus holte aus der Tasche zwei Handschellen und zwei Heringe hervor, diese schmalen, unterarmlangen Stangen, die schräg in den Boden gerammt wurden, um die Schnüre zu halten, die mit den Zelten verbunden waren. »Fangan!« Argus nahm seine Kettensäge zu Hilfe. Mit dem Griff klopfte er die Heringe tief in den Boden. Sie standen sich gegenüber. Die Distanz betrug mehr als zwei Yard. Über Golenkows Rücken rieselte es kalt. Er ahnte schon etwas und wußte dann Bescheid, als Argus die Handschellen aufklinkte und die Ringe durch die Ösen der Stangen schob.
»Leg dich hin!« befahl Rocco. Er unterstrich seinen Befehl mit einer Bewegung seiner Waffe. »Und dann?« »Runter mit dir!« Dem Russen blieb nichts anderes übrig, aber er war zu langsam, und Rocco trat ihm hart gegen die Schultern. Golenkow fiel auf den Rücken. Er fluchte, die anderen lachten, dann war Argus da, umklammerte sein rechtes Handgelenk und riß ihm den Arm so heftig zur Seite, daß er in der Schulter schmerzte. Wenig später schloß sich der zweite Kreis um Golenkows Handgelenk. Es dauerte nur Sekunden, bis auch der linke Arm an den Pflock und die Schelle gefesselt war. »Na — ist das was?« Dr. Satorius war vorgetreten und schaute auf den Russen nieder. »Habe ich dir zuviel versprochen?« »Was denn?« »Das wirst du sehen, Russe. Du hättest mir nicht mehr vor die Augen kommen dürfen. Es ist gut für mich und für Farrax, so wird er sich dir offenbaren.« Satorius bückte sich. »Ja, du bist der erste, der alles mitbekommt. Eigentlich könntest du stolz darauf sein, denn das wird nicht jedem zuteil.« Wladimir ließ ihn reden. Er schaute zu, wie der Psychologe den Schädel behutsam absetzte, sich dann räusperte und wieder hochdrückte. Er hatte den Kopf vor die Beine des Mannes gestellt, aber so weit davon entfernt, daß ihn Wladimir mit Tritten nicht erreichen konnte. »Das ist ideal«, flüsterte er. Auch die beiden Helfer schauten. Sie rahmten ihren Chef ein, sie blickten einmal auf den Schädel und in dessen Augen, dann auch auf den liegenden KGB-Mann. »So ist es korrekt!« flüsterte Satorius. »Wir werden uns zurückziehen und dich mit Farrax allein lassen. Als erster Fremder wirst du seine Macht erleben. Das ist es dann wohl gewesen.« Er lächelte noch einmal spöttisch, drehte sich um und ging. Seine beiden Helfer folgten ihm. Wie Schatten blieben sie dicht an seiner Seite. Wladimir Golenkow schaute ihnen nach. Die drei Männer sahen aus, als würden sie über den Rasen hinweghuschen. Ihre Füße verschwanden im dünnen Dunst. Dann schluckte sie der dichte Wald. Golenkow blieb allein zurück. Und erfragte sich, wann der Tod ihm auf die Schulter klopfen würde... *** Waren Minuten vergangen oder erst Sekunden?
Wladimir wußte es nicht. Er hatte seinen Blick nach vorn gerichtet, die glühenden Augen erschienen ihm wie gefährliche, rote Sonnen. Ihr Blick war feurig, aber dennoch eiskalt und tödlich. Er drang tief hinein in seine Seele, als wollte er sie spalten. Und über den Rasen waberte der Nebel. Er hatte für eine unwirkliche Stimmung gesorgt. Stieg auch nicht höher, sondern blieb in einer gewissen Distanz. Er bewegte sich, er wallte, er bildete ein welliges, schweigendes Meer, und er schien sich an den Rändern des Waldes wie ein Spinnennetz auszubreiten. In der Stille hörte Wladimir nur seinen eigenen Atem. Natürlich hatte er versucht, sich zu befreien, das war ihm nicht gelungen. Die Stäbe steckten schräg und zu tief in der Erde. Er konnte es nicht mehr schaffen, sie aus der Tiefe zu zerren. Zudem schnitten dann die Ringe der Handschellen tief und schmerzhaft in seine Haut. Es war vorbei. Der verfluchte Satorius hatte gewonnen. Ein Mann, den viele unterschätzt hatten, der im Verborgenen hatte blühen können und dem es gelungen war, die Kräfte zu erwecken, die dem KGB-Offizier den Tod bringen sollten. Noch geschah nichts, es blieb alles so verdächtig still. Der Nebel gab keinen Laut ab, er würde auch Geräusche schlucken, und es waren eigentlich nur die beiden Augen, deren rote Blicke direkt auf die liegende Gestalt gerichet waren. Die bewegte sich plötzlich! Zuerst glaubte Wladimir an eine Täuschung. In seinem Zustand konnte man sich schon irren. Diesmal nicht. Sie zuckten, sie kreisten, sie schienen von innen her noch stärker zu strahlen, und er wurde den Eindruck nicht los, daß nun sein langsames Sterben begann. Vor ihm nahm der Nebel eine rote Farbe an. Er sah aus, als hätte jemand aus einer Gießkanne Blut in ihn hineingeschüttet. Die Strahlung spürte er. Sie war anders, sie war so bestimmend. Fremde Gedanken drangen gegen ihn und erreichten sein Hirn. Uralte Gedanken, entstanden in einer fernen, längst vergessenen Zeit, die jedoch mit einem bestimmten Wissen angefüllt war. Seltsamerweise konnte er sie verstehen. Sie übermittelten ihm Botschaften, sie sorgten dafür, daß sich seine Furcht zu einer beklemmenden Angst steigerte, denn sie berichteten ihm von dem Tod, dem Leben und dem Stadium dazwischen. Golenkow war kein heuriger Hase. Er wußte über das Stadium dazwischen Bescheid. Lebende Tote — Zombies!
Der Schrecken an sich. Ebenso schlimm wie Vampire oder Werwölfe. Leichen, die es nicht mehr in der Graberde aushielten, die von unheiligen Kräften wieder zurück in die normale Welt gebracht wurden. War es das gewesen, was Satorius gewollt hatte? Herr über Leben und Tod zu sein. Für einige Menschen war es das Ziel an sich. Und der Psychologe gehörte dazu. Noch war es nur Theorie, die dem Gefesselten Furcht einflößen sollte. Aber es blieb nicht dabei. Plötzlich spürte er das leichte Zittern des Bodens. Als wäre jemand dabei, von unten her mit einem flachen Gegenstand davor zu schlagen. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, bis er den Kopf nach rechts drehte und sah, daß sich dort der Untergrund bewegte. Das war nicht normal, es lag auch nicht am Nebel, diese Bewegungen besaßen im Boden ihren Ursprung. Sie kamen von unten, weil dort jemand drückte. Die Kehle verengte sich. Wladimir hatte Mühe, auch nur ein Wort hervorzubringen. Er hätte jetzt Hilfe gebraucht, dachte an John Sinclair. Aber diese Gedanke war nicht mehr als ein Blitzstrahl, der ebenso rasch wieder verschwand. Der Rasen bekam ein Loch. An dieser bestimmten Stelle wuchs er sowieso nicht so dicht. Da hatte es ausgesehen, als wäre dort zuvor etwas vergraben und nur unvollkommen wieder zugeschüttet worden. Golenkow litt unter einer unerträglichen Spannung. Er hätte seinen Blick gern von diesem Ziel genommen. Ein Zwang sorgte dafür, daß er hinschaute und das Grauen beobachtete. Es kroch aus der Erde. Der Nebel wallte darüber hinweg, ließ die Umrisse verschwimmen, konnte den Anblick aber nicht verhindern, denn aus der Erde schob sich etwas Helles hoch. Es hatte eine Nase, eine Stirn, Augen und ein Kinn. Ein Gesicht! Das Gesicht einer Frau, das immer höher glitt. In den Haaren klebte der Dreck, und unter dem Kinn sah Wladimir einen dunklen Streifen. Er war Fachmann genug, um ihn identifizieren zu können. Jemand mußte der Person die Kehle durchgeschnitten haben und hatte sie so vom Leben in den Tod befördert. Damit kam er nicht zurecht, aber er ließ seinen Blick nicht von diesem Ziel. Wo eine war, gab es bestimmt noch mehrere. Möglicherweise lag er hier auf einem Friedhof, der den lebenden Leichen Platz bot. Die Kraft dieser Götzenaugen sorgte dafür, daß die Gestalten nun aus der unheiligen Erde kriechen konnten. Er versuchte es noch einmal mit einem Tritt. Die Beine waren zu kurz. Er konnte den Kopf nicht erreichen.
Auch an einer anderen Stelle öffnete sich der Boden. Und zwar vor ihm, etwa zehn Meter entfernt. Da sah er zwei Hände, die aus der Erde gestoßen waren und sich in die Luft reckten. Die Finger bewegten sich, als wollten sie nach irgend etwas greifen. Wladimir hielt den Atem an. Die Hände zuckten, die Arme ebenfalls. Zwischen ihnen durchbrach der Kopf den Boden. Es war eine männliche Leiche. Sie krabbelte mit ungelenken Bewegungen aus dem Erdboden hervor, schwang von einer Seite zur anderen, zuckte, streifte die feuchten Erdkrumen ab. Dann endlich hatte sie den entsprechenden Halt gefunden, um sich breitbeinig hinzustellen, umwabert von den weichen Nebelwolken, die an seinen Beinen hochkrochen und in Höhe der Knie zerflatterten. Da der Russe lag, kam ihm die Gestalt noch mächtiger und furchteinflößender vor. Sie war das Grauen an sich, sie war darauf programmiert, den Tod zu bringen. Noch ging sie nicht, und Wladimir bekam Zeit, wieder nach der Frau zu sehen. Sie war noch nicht aus der Erde gekrochen. Irgendwo machte sie auf ihn einen frischeren Eindruck, der andere Zombie wirkte zerlumpt, und seine noch zu Lebzeiten getragene Kleidung hing an ihm wie ein feuchter Schmutzlappen. Er ging. Wladimir hörte ihn, denn er setzte seine Füße stampfend auf, so daß ihn das Echo erreichte. Auf ihn wirkte diese lebende Leiche wie eine schaurige Puppe, die durch ein aufgezogenes Uhrwerk angetrieben wurde, aber nicht normal laufen konnte, weil die Gelenke nicht konform arbeiteten. Er schlenkerte seine Arme, er schleuderte vor jedem Aufsetzen der Füße die Beine vor, aber er behielt die Richtung bei. Auch in der übrigen Umgebung bewegte sich die Erde. Zahlreiche kleine Haufen waren entstanden, die Graskappen brachen ab, und aus den Löchern krochen wieder die ersten Hände. Es war einfach nicht zu fassen. Dieses Rasenstück zwischen den Wäldern war ein einziger Friedhof. Und ich bin gefesselt, dachte Wladimir. Ich kann mir nicht helfen, ich werde am eigenen Leibe erfahren, wie ich von einer lebenden Leiche vernichtet werde. Er brachte dies nicht in die Reihe, zerrte an seinen Handschellen und erreichte nur, daß sich der Stahl noch tiefer in seine Haut bohrte. Jedenfalls peitschten ihn die dabei entstehenden Schmerzen hoch. Den Schädel ließ er nicht aus den Augen.
In dessen Augen lauerte nach wie vor die böse Strahlung. Die Kraft einer alten Zeit hielt den Friedhof besetzt. Sie sorgte dafür, daß der Tod überwunden wurde und mit all seinem Schrecken wieder zurückkehrte. Die Angst saß tief wie ein Stachel. Die ungelenken Bewegungen des Zombies durften nicht über seine Gefährlichkeit hinwegtäuschen. Ein Wesen wie dieses würde nie aufgeben, niemals. Sobald warmes Fleisch in seiner Nähe lauerte, drehte er durch. Er ging weiter. Noch zwei Schritte, dann befand er sich bereits auf einer Höhe mit dem Schädel. Es sah so aus, als wollte er dagegen treten, aber er drehte sich im letzten Augenblick zur Seite und passierte ihn. Das Licht aus den Augen erwischte die Beine. Es tauchte sie in die rötliche Nebelflut. Wladimir Golenkow war kein Mensch, der sich wehrlos seinem Schicksal ergab. Hier aber konnte er kaum etwas tun. Um sich überhaupt zu bewegen, zog er die Beine an, stemmte seine Füße auf den Boden und wartete noch ab. Der Zombie ging wieder vor. Jetzt hatte er die richtige Distanz! Wladimir trat zu. Blitzschnell und mit beiden Füßen. Er wußte natürlich, daß er die Gestalt nicht auf diese Art und Weise besiegen konnte, aber er mußte es einfach riskieren. Und er traf. Seine Sohlen krachten gegen die Schienbeine der lebenden Leiche. Sie geriet ins Stocken, dann aus ihrem schwerfälligen Laufrhythmus, schwankte und sah so aus, als wollte sie sich festhalten. Sie griff ins Leere! Dann fiel die lebende Leiche! Als sie aufprallte, löste sich ein leiser Schrei der Freude aus dem Mund des Russen. Er wußte allerdings auch, daß er sich auf diesem Erfolg nicht ausruhen konnte. Die Gestalt würde es immer und immer wieder versuchen. Sie kannte kein Erbarmen. Sie rappelte sich auf. Das dauerte seine Zeit, und Golenkow ließ seinen Blick über diesen schrecklichen Friedhof gleiten. Der Rasen war jetzt an mehreren Stellen aufgerissen. Das Gras war nicht mehr zu sehen, die braune Erde quoll hervor, sie war weich und locker, so daß sie den Händen und Klauen so gut wie keinen Widerstand entgegensetzte.
Bleich und krumm wühlten sie sich hoch. Finger bewegten sich zitternd, Arme reckten sich hoch. Noch war die Erde schwer, noch schafften es die lebenden Toten nicht so leicht, die Welt des Schreckens zu verlassen, aber es würde nicht lange dauern, bis sie sich auf ihn stürzten und ihn zerrissen. Irgendwo am Rand des Waldes mußten auch die drei Zuschauer stehen. Sicherlich würden sie sich amüsieren. Es würde ihnen Spaß machen, dabei zuzusehen, welch eine Macht dieser alte Götzenschädel besaß. Der Zombie stand wieder. Wladimir schaute in dessen bleiches Gesicht — und erschrak. Nicht allein wegen dieser schmutzigen und gleichzeitig teigigen Fratze, nein, er hatte ihn erkannt. Es war ein ehemaliger Agent aus seinem Lager, der sich vor gut einem Jahr abgesetzt hatte. Auch er war in die Klauen eines gewissen Dr. Satorius gelangt, und der Russe konnte sich vorstellen, daß alle anderen Untoten auch zu diesem Kreis gehörten. Er durchschaute den Plan des Psychologen. Der hatte es tatsächlich geschafft, sich eine Zombietruppe aus ehemaligen Agenten und Spionen aufzubauen. Plötzlich hörte er das dumpfe Klatschen. Nicht weit von seinem rechten Ohr war es aufgeklungen. Er drehte den Kopf — und erkannte, daß es die bleiche Frauenleiche geschafft hatte. Sie stand da, glotzte auf ihn nieder und hielt den linken Arm ausgestreckt, die Hand dabei zur Klaue gekrümmt. Dann ging sie vor, hatte aber Schwierigkeiten und verlor das Gleichgewicht. Sie fiel ihm entgegen, den Arm noch immer vorgestreckt. Es kam, wie es kommen mußte. Die breite, teigige Hand klatschte wie Pudding auf seinen Körper. Finger bogen sich, als wollten sie sich wie angespitzte Pfähle in seine Haut bohren. Nicht der männliche Zombie würde ihn killen. Die weibliche Leiche fing damit an . . . Ich hatte mein Versteck im Wald gefunden! Es war für mich ein idealer Platz zwischen den mächtigen Tannen. In der Dunkelheit war ich so gut wie nicht zu sehen, aber es war auch nicht einfach für mich, den Weg zu finden. Stimmen wiesen ihn mir schließlich. Ich hörte Männer miteinander reden. Ob sie weit oder relativ nah von mir entfernt standen, bekam ich nicht heraus. In der Finsternis veränderte sich der Schall irgendwie. Noch steckte ich zu tief zwischen den Bäumen, als daß mir ein Blick auf die Rasenfläche gelungen wäre. Zudem hatte ich einen großen Bogen
geschlagen, denn ich wollte nicht direkt auf das Haus des Psychologen zugehen. Als ich Schritte hörte, stockte mir der Atem. Sie waren nicht einmal weit entfernt aufgeklungen. Ich hörte auch das Keuchen, dann knackten Zweige, und ich sah den Umriß einer Gestalt, die sich in meine Richtung bewegte. Der Mann sprach mit sich selbst. Er war unzufrieden, wie ich genau hörte. »Immer muß ich den Mist holen. Der verdammte Spaten und die Schaufel hätten liegenbleiben können . . .« Er wühlte sich weiter. Mit beiden Armen ruderte er, und er schlug auch mit einem Gegenstand, den er in der Rechten hielt. Als ich das Blinken sah, wußte ich, daß es nur die Kettensäge sein konnte. Ich zog meine Waffe. Der Knabe sollte nicht mehr dazu kommen, den Spaten oder die Schaufel überhaupt zu berühren. Ich würde ihn vorher ausschalten. Noch war es nicht günstig. Wieder vernahm ich seinen Fluch. Und dann war er dicht vor mir. Ich konnte seinen Schweiß riechen, blieb aber noch starr. Erst als er den nächsten Schritt tat und mich passierte, griff ich ein. Er hörte die Geräusche hinter sich nicht, weil die eignen sie überlagerten, aber er stand plötzlich wie vom Donner gerührt, als er unter dem Rand seiner Pudelmütze die Mündung auf der Haut im Nacken spürte. »Rühr dich nicht vom Fleck!« flüsterte ich. »Beweg dich nicht, wenn dir dein Leben lieb ist!« Er kannte die Regeln. Sogar die Arme spreizte er ab, ohne allerdings die Kettensäge fallen zu lassen. »Du bist Sinclair, nicht? Du kommst nicht durch. Wir und die Leichen machen dich fertig.« »Du bestimmt nicht!« Ich schlug zu, erwischte seinen Kopf. Die Pudelmütze dämpfte den Treffer nicht. Er gab noch einen erstickten Laut von sich, dann fiel er auf die Tannenzweige, die sein Gewicht nicht mehr halten konnten, unter ihm absackten und schließlich, als erlag, ein Dach über ihm bildeten. Ich atmete auf. Es war gut, daß es so glatt gelaufen war. Ein Gegner war zumindest weg vom Fenster. Und der zweite? Er war nicht zu sehen, ebensowenig wie sein Herr und Meister. Ich bückte mich und hob die Kettensäge an. Als ich sah, daß sie einen Lederriemen hatte, hing ich sie mir schräg über die Schulter. Ich war
nicht unbedingt Fan der Kettensäge, aber man konnte ja nie wissen. Außerdem wollte ich nicht, daß sie gefunden wurde. Auch dachte ich über eine bestimmte Bemerkung nach. Dieser Kerl hatte von Leichen gesprochen, die für mich tödlich werden konnten. Der Begriff Leiche war falsch. Er hätte Zombie oder lebende Leiche sagen sollen. Mit denen hatte ich meine Erfahrungen, nur hatte ich sie bisher noch nicht entdeckt. Es gab nur eine Möglichkeit, wo ich auf sie stoßen würde. Nicht im Wald, auf der großen Rasenfläche zwischen Hotel und Haus, die so etwas wie eine riesige Lichtung bildete. Ich stieg über den Bewußtlosen hinweg und schlug die Richtung ein, die zum Waldrand führte. So wenig Geräusche wie eben möglich machen, so lautete meine Devise, denn was ich hörte, konnten auch die anderen hören, und zu früh wollte ich von ihnen nicht gesehen werden. Schattenhaft bewegte ich mich vor. Auf meinem Rücken spürte ich das Kribbeln. Die Spannung wuchs. Jeden Augenblick konnte ich auf Satorius und seinen zweiten Gorilla treffen. Immer wieder drückte ich mit den Händen die hinderlichen Zweige zur Seite. Stets peitschten sie hinter mir wieder zusammen, was auch nicht lautlos geschah. Der Weg kam mir so lang vor. Verdammt noch mal, irgendwann mußte ich den Rand doch erreicht haben. Noch wuchsen die Bäume dicht, aber es existierten vor mir schon größere Lücken. Ich schlängelte mich durch die erste. Eine zweite tat sich auf, auch die nahm ich. Dann sah ich den Rasen! Mein Herz schlug plötzlich schneller. Trotz des Nebels, der eine kniehohe Watteschicht bildete, bot sich mir ein unheimliches, gespenstisches und grauenvolles Bild. An verschiedenen Stellen war die Erde aufgewühlt worden. Ich sah, wie sich bleiche Hände und Arme aus dem Boden gewühlt hatten und die Zombies versuchten, ihre Grabstätten zu verlassen. Einer hatte es bereits geschafft. Es war eine männliche Gestalt, die mit ungelenken, typischen ZombieBewegungen auf ein Ziel zuging. Wer oder was dieses Ziel war, blieb mir noch verborgen. Jedenfalls war es ein dunkler Gegenstand, der auf dem Boden lag und meiner Ansicht nach sogar menschliche Umrisse aufwies. Ich dachte unwillkürlich an Wladimir Golenkow, und mein Herz klopfte noch schneller.
Für mich hatte es keinen Sinn mehr, nach Satorius und seinem Helfer zu suchen, ich mußte auf das makabre Feld. »Nein, nein, Sinclair, bleib ruhig hier und dreh dich langsam um!« Mist auch! Wie gequält hatte sich die widerliche Stimme angehört. In meinem Rücken war sie aufgeklungen. Dieser Satorius mußte so lautlos wie der Nebel herangeschlichen sein. »Na los, Sinclair . . .« Ich tat ihm den Gefallen. Das andere Geschehen spielte sich jetzt hinter mir ab, aber vor mir stand Satorius und hielt die Luger-Pistole auf mich gerichtet. Natürlich war er nicht allein. Neben ihm stand ein Gorilla. Und der hielt seine Kettensäge so, als wollte er mir jeden Moment den Kopf vom Rumpf trennen . . . »Ist er nicht mutig, Rocco? Ist unser kleiner Bulle nicht ein ganzer großer Held?« »Ja, Doktor, und lebensmüde ist er auch.« »Das meine ich auch.« Satorius blieb gelassen. »Sicher hast du eine Waffe, Sinclair. Hol sie hervor und wirf sie weg!« Ich nickte. »Okay, Sie sitzen am längeren Hebel!« »Das sitze ich immer.« Ich holte die Beretta aus der Halfter, ärgerte mich, wieder reingefallen zu sein. Allerdings tat ich ihm nicht den Gefallen, die Pistole vor seine Füße zu werfen, ich schleuderte sie über die Schulter hinweg auf den Waldrand zu. Es schien ihn nicht zu stören, denn er nickte befriedigt. Dann fragte er mich, ob mir die Veränderung aufgefallen war. »Hinter mir?« »Ja, die.« »Natürlich.« »Es sind meine Freunde, Sinclair, es sind alles meine Freunde. Und sie alle gehorchen Farrax, dem mächtigen Götzen, dem Herrn über ein Totenreich. Ich habe ihn gefunden, ich habe seine Macht erkannt und für mich eingesetzt.« »Die sind alle von dir getötet worden?« »Nein, sie brachten sich selbst um. Agenten, Spione, Mitarbeiter der verschiedenen Dienste verließen ihren Arbeitgeber, um zu mir zu kommen. Ich brachte sie dazu, sich zu töten. Dann begrub ich sie, hatte ihnen aber zuvor erklärt, daß sie ein besseres Leben erwartete, und sie haben mir geglaubt.« »Jetzt sind sie Zombies. Ist das etwa besser?« »Für mich schon.« »Und weshalb?«
»Weil ich sie befehligen werde. Eine Truppe Zombies, die einmal ehemalige Agenten waren!« Er lachte laut auf. »Ist das nicht stark? Ist das nicht etwas Besonderes?« »Ja . ..« »Ich glaube dir nicht, Hundesohn. Du willst dich gegen mich stellen. Du willst mich stoppen, aber es ist zu spät. Der Russe hat es auch versucht und nicht geschafft. Er liegt jetzt auf dem Rasen, an Handschellen gefesselt, er kann seine Arme nicht bewegen, aber er liegt günstig. Wenn er will, kann er die Fläche überblik-ken.« Satorius begann zu flüstern. »Er wird zusehen, wie sie aus der Erde steigen, und er wird merken, wenn sie sein Fleisch riechen. Der Duft wird ihnen in die Nasen strömen. Es ist ein irres Feeling für sie, wenn sie ihrem Trieb nachkommen können. Ist dir jetzt einiges klar?« »Ja.« Er schaute mich lächelnd an. »Wenn du dich mit Zombies auskennst, dann weißt du auch, daß sie unersättlich sind. Ich hätte dich ihnen gern überlassen, aber da gibt es ein Problem. Rocco, mein Leibwächter und mir treu ergebener Diener, haßt dich. Er haßt dich so sehr, daß er dich töten will. Er wird dich zersä . . .« Das letzte Wort ging im Krach der Kettensäge unter, als der Pudelmützenträger an der Schnur riß. Satorius sprang zurück. Er machte den Weg für Rocco frei! *** Auch ich war mit einer Kettensäge bewaffnet. Nur nutzte sie mir nicht viel, weil sie auf meinem Rücken hing und ich sie erst über die Schulter zerren mußte. Das hätte Zeit gekostet, die Rocco nicht hatte. Die Kettensäge im Anschlag und dabei schräg haltend, stürmte er mir entgegen. Hinter dem Mordwerkzeug tanzte sein verzerrtes Gesicht. Er sprang, das Sägeblatt fetzte Zweige auseinander, die ihn behinderten, und als das Sägeblatt nach unten fuhr, da schrie er schon freudig auf. Zu früh. Ich hatte mich gedreht und zur Seite geworfen. Ich landete ebenso wie der erste Leibwächter auf den Tannenzweigen, die mein Gewicht natürlich nicht halten konnten und unter mir abbrachen. Ich landete auf dem Boden und rollte mich um die eigene Achse. Ich geriet unter die Zweige, war erst einmal aus der Reichweite des Killers. Der aber gab nicht auf. Er schrie, und seine Schreie mischten sich in das tödliche Singen der Säge.
Der Nadelbaum zeigte in seiner unteren Hälfte und dicht am Boden eine außergewöhnliche Breite, für mich ein Vorteil, denn ich bekam einen gewissen Schutz. Rocco fluchte, weil ich ihm entwischt war. Um mich zu finden, lief er um den Baum herum. Kleine Zweige stachen gegen mich, als ich den schlanken Stamm erreichte. Auch im Gesicht wurde ich erwischt, wo mir die Enden gegen die Haut stachen und kleine Wunden hinterließen, aus denen das Blut sickerte. Ich hörte die Säge . . . Sie kreischte, sie jaulte, sie brummte, sie knatterte — und das alles in einem. Sie spielte ihre verfluchte Todesmelodie, und plötzlich begann es zu regnen. Kein Wasser, keine Tropfen, sondern Zweige, die Rocco über mir absägte, damit er freies Blickfeld bekam. Er fluchte, kicherte und schrie Sätze, um sich selbst Mut zu machen. Ich lag auf dem Bauch, hatte die Beine angezogen, schielte in die Höhe und wartete, wie weit dieser verdammte Hundesohn noch gehen würde. »Ich kriege dich, Bulle! Ich hole dich! Ich zersäge dich in Stücke! Ich mache dich fertig!« Er brüllte, er kämpfte sich weiter, ich sah seine Beine, hörte über mir die Säge und wußte, daß er in den nächsten Sekunden so dicht an mich herankam, daß ich keine Chance mehr hatte. Aus der Höhe her trennte er immer mehr Zweige ab. Sie klatschten auf den weichen Waldboden, streiften auch mich, er bückte sich, um freie Sicht zu haben und schob dabei die Säge vor. Wie ein blankes Schwert kam sie mir vor. Sie heulte, sie drohte, sie wurde schräg gehalten, fetzte noch einige Hindernisse weg, dann war der Weg für sie frei. Aber auch für mich. Ich hockte jetzt geduckt, machte mich klein. Die Beretta hatte ich abgeben müssen, den Dolch aber behalten. Er oder ich! Ich warf die Klinge unter der Säge vorbei. Es war meine letzte Chance. Wenn ich nicht traf, war es so gut wie aus. Ich hörte Rocco schreien. Ein fast tierisches Gebrüll. Die Waffe hatte ihn völlig unvorbereitet erwischt. Und plötzlich begann die Säge vor meinen Augen zu tanzen. Der Mann schaffte es nicht mehr, sie zu halten, sie zuckte von einer Seite zur anderen, mal nach oben, dann nach unten, entfiel seinen Händen. Ich hatte Glück, daß sie mich nicht erwischte. Kaum auf dem Boden gelandet, drehte sie sich um die eigene
Achse, schleuderte Erde, Zweige und Humus in die Höhe, und ihr tödlicher Singsang erstarb mit einem letzten, schreienden Laut. Vorbei! Endlich sah ich Rocco. Er lag auf dem Boden. In der Finsternis glich seine Gestalt einem langgestreckten Schatten. Der Dolch steckte in seiner rechten Brustseite. Tot war der Mann nicht. Er wimmerte leise, hatte die Hände um den Griff geklammert, zerrte die Waffe plötzlich aus der Wunde hervor, und preßte einen Moment später beide Hände darauf. Er war schwerverletzt, brauchte ärztliche Hilfe, die ich ihm leider nicht besorgen konnte, denn für mich ging es um das Leben meines Freundes Golenkow. Und auch Satorius fehlte . . . Ich nahm den Dolch wieder an mich, warf noch einen Blick in das Gesicht des Kettensäge-Fans, das so bleich wirkte wie ein Stück altes Fett. Dann fuhr ich herum und arbeitete mich bis zum Waldrand durch. Ich hatte mir ungefähr die Stelle gemerkt, wo die Beretta gelandet war. Es durfte nicht zu schwer sein, sie zu finden. Fast wäre ich über sie gestolpert. Ich hob sie auf, stolperte noch über eine Wurzel, der Schwung aber brachte mich aus dem Wald heraus und auf den nebelgetränkten Rasen, wo das Grauen ablief wie die schauerlichste Szene eines Horrorfilms... *** Wladimir Golenkow spürte die Hand des weiblichen Zombies. Sie war weich, sie war hart, sie wollte sich durch die Kleidung in seine Haut drücken, um sie aufzureißen. Dieses fürchterliche Wesen gierte nach Blut, nach seinem Fleisch, auch wenn es noch so aussah wie ein Mensch. Monica Grandi lag auf dem Bauch. Der Russe hatte seinen Kopf nach rechts gedreht. Er starrte sie an. Ein Gesicht ohne Leben, dafür mit einem halb geöffneten Mund, umkränzt von einer eingetrockneten Flüssigkeit, die wie Schorf aussah. Unter dem Kinn zeichnete sich der dunkle Streifen ab, da klaffte die Haut auseinander und warf Falten. Aber sie lebte . . . Auch wenn sie noch nicht die Kraft besaß, um sich weiterzuziehen, doch sie benutzte den Russen als Stütze, denn die eine Hand krallte sich in seiner Kleidung fest. Sie wollte weiter, sie wollte vielleicht an seine Kehle herankommen und ihr Gebiß dort hineinschlagen. Der Mann stemmte sich gegen die Fesseln. Er dachte nicht an Aufgabe. Er hatte viel in seinem Leben durchgemacht und war in die schrecklichsten Situationen geraten.
Diese hier gehörte zu den Schlimmsten . . . Die lebende Leiche strengte sich an. Es war kein Laut zu hören, sie zuckte einige Male, griff noch stärker zu und klemmte den Stoff der Kleidung zusammen. Daß sich dazwischen noch Haut befand, bekam der Russe kaum mit. Er stand unter einem zu großen Streß, um Schmerzen zu spüren. Ihm fiel der andere Zombie wieder ein. Verdammt, der mußte doch auch schon da sein. Wladimir schaute nach vorn. Genau im richtigen Augenblick, denn die nach Verwesung stinkende Gestalt stand direkt vor ihm. Sie war dabei, sich zu bücken und die Arme auszustrecken. Ihre Hände zielten nach seinen Fußknöcheln, um sie zu umklammern. Wladimir schrie auf und trat wieder zu. Diesmal erwischte er das Gesicht der lebenden Leiche. Sie fiel wieder zurück, ruderte mit den Armen und prallte auf den alten Kopf, der hinter ihr stand. Das Holz knackte unter dem Gewicht, aber es hielt. Der Schädel stand noch so da, wie er zuvor gewesen war. Wladimir sah es, als sich der Untote zur Seite rollte. Er würde wieder angreifen, er würde sich auf ihn stürzen, er würde kein Pardon kennen, und für den Gefangenen gab es keine Chance, sich von den Fesseln zu befreien. Der ungleiche Kampf ging weiter. Jetzt war die untote Frau da. Sie hatte sich näher an ihn herangeschoben und war dabei, noch dichter an seinen Körper zu gelangen. Ihre Körper schleifte dabei über den Rasen, sie bewegte ihren Mund, und es sah so aus, als kaue sie an einer makabren Mahlzeit. Wladimir hob seine Beine. Dabei gab er seinem Körper Schwung und schleuderte ihn nach rechts. Möglicherweise schaffte er es mit einem Tritt, sie sich vom Hals zu schaffen. Er erwischte sie nicht. Der Winkel war zu schlecht, seine zusammengelegten Beine wuchteten ins Leere. Dann war sie über ihm. Sie lag quer, und ihm kam das Gewicht dieser lebenden Leiche doppelt so schwer vor. Ihre rechte Hand bewegte sich auf seinem Körper. Sie tastete sich höher, weil sie sein Gesicht erreichen wollte. Bald war sie schon am Hals, dann am Kinn, dann . . . Weiches, stinkendes Fleisch legte sich auf Wladimirs Lippen. Er empfand dies als den absoluten Horror. Der hochsteigende Ekel überdeckte sogar seine Angst.
Durch den Mund konnte er nicht mehr atmen. Ihm blieb nur noch die Nase. Darüber befanden sich seine Augen. Sie hatte er weit aufgerissen, und in deren Blick leuchtete die Panik. Die Angst war furchtbar. Bisher hatte sein Leben über dreißig Jahre gedauert. Jetzt wies alles darauf hin, daß es zu Ende war... *** Meine Füße klopften auf den weichen Rasen. Ich lief sehr zügig, ohne allerdings zu rennen und kam mir dabei vor wie in einer Alptraumwelt. Das durfte alles nicht wahr sein. An zahlreichen Stellen hatte sich der Boden geöffnet. Aus ihm hervor drangen die Hände, die bleichen Krallen, die starren Arme, hin und wieder auch ein Gesicht, das von der Verwesung gezeichnet war. Ein grauenvolles Bild, an Schrecken kaum zu überbieten, ein Panoptikum des Irrsinns, das dieser Sato-rius da geschaffen hatte. Er hatte den Vorhang zur Bühne des Schreckens zurückgezogen, über die ich jetzt lief und nicht zurechtkam. Ich schoß nicht, ich hielt mich bei keiner dieser noch in der Erde steckenden Leiche auf, aber ich hatte die Kette mit dem Kreuz über den Kopf gestreift und meinen weißmagischen Talismann in die rechte Jackentasche gesteckt. Bodennebel und Dunkelheit nahmen mir einen großen Teil der Sicht. Die Laternen waren hier nicht aufgestellt worden, sie brannten weiter hinten, wo sich auch das Haus des Psychologen befand. Vor mir bildete der dichte Wald die Grenze. Dahinter erhob sich die Fassade des Hotels. Erleuchtete Fenster sahen aus wie Beobachter, die alles unter Kontrolle halten wollten. Wladimir Golenkow hatte es geschafft und den Zom-bie zu Boden gestoßen. Aus dem Schneider war er dabei längst noch nicht. Als ich so nahe herankam, daß mir auch der Nebel nicht mehr die Sicht nehmen konnte, da sah ich den Körper, der schräg über dem meines russischen Freundes lag. Es war eine Frauengestalt. Ich erinnerte mich noch an das fahlblonde Haar und auch daran, wie sie neben mir auf der Bank gesessen und mir ihr Leid geklagt hatte. Es war Monica Grandi, die Selbstmörderin. Aber jetzt war sie zurückgekehrt, um ihrem schrecklichen Trieb nachzukommen. Töten und vernichten! Ich lief schneller. Die Beine meines Freundes zuckten. Er hätte sie sicherlich gern als Abwehr benutzt, das schaffte er nicht. Seine Tritte fuhren immer ins Leere.
Der männliche Zombie drehte sich plötzlich herum. Er wollte sich mir in den Weg stellen. Ich schoß über seine Arme hinweg. Der untere Teil des Kopfes flog weg. Dann kippte er zur Seite. Ich sah auch den Schädel auf dem Boden stehen, um ihn würde ich mich später kümmern, wichtig war Wladimir. Dann packte ich zu. Meine freie linke Hand erwischte die blonden Strähnen der Haare. Ich zerrte die Person in die Höhe. Ein Mensch hätte vor Schmerzen geschrien, nicht aber eine lebende Leiche. Sie kannte so etwas nicht. Ich bekam einen freien Blick in Wladimirs Gesicht. Was sich dort abzeichnete, war kaum zu beschreiben. Angst, Ekel, Hoffnung . . . Ich schleuderte die Untote herum. Sie schlug noch mit dem rechten Arm aus. Eine Hand klatschte gegen mein Gesicht. Es fühlte sich an, als hätte man mich mit Teig beworfen. Sie landete am Boden, fiel zusammen wie eine Marionette ohne Fäden. Ich hörte Wladimir keuchen. »Mach sie fertig, John! Verdammt, mach sie fertig!« »Okay, Towaritsch!« Danach schleuderte ich den Dolch. Er war geweiht, ebenso wie das Kreuz, und die Klinge erwischte die lebende Leiche voll. Tief wuchtete sie in den Körper, als wollte sie die Untote auf dem Rasen festnageln. Sie zuckte nicht einmal. Leblos blieb sie liegen. Ich nahm den Dolch wieder an mich. Wladimir hatte genug gelitten, ich wollte ihn befreien, dazu kam es nicht. »John, paß auf!« Im selben Moment peitschten die Schüsse! *** Als ich zu Boden tauchte, dachte ich an Dr. Satorius. Einer Kreatur, wie er es war, machte es nichts aus, einen Menschen in den Rücken zu schießen. Skrupel kannte der nicht. Aber er war kein Profi, was den Umgang mit Waffen anging. Die Kugeln lagen zwar nicht schlecht, aber auch nicht so gut, als daß sie einen von uns erwischt hätten. Wie hart geworfene kleine Steine schlugen sie in den weichen Grasboden, und die Stille der Nacht wurde zerrissen vom Krachen der Schüsse, denn er hörte nicht auf. Schießend rannte er näher. Ich feuerte zurück. Beim zweiten Schuß erwischte ich die nebulöse Gestalt. Ich hatte ziemlich tief gehalten, das geweihte Silbergeschoß war ihm in den linken Oberschenkel gedrungen.
Genau an der Seite knickte er auch weg. Sein Lauf stoppte abrupt. Er schrie und faßte mit beiden Händen dorthin, wo es ihn erwischt hatte. Dabei ließ er seine eigene Waffe fallen. Mir war die Kettensäge lästig geworden. Ich riß sie von der Schulter weg und schleuderte sie zu Boden. Jetzt war Satorius an der Reihe, diesmal standen die Vorzeichen umgekehrt, da hielt ich die Trümpfe in der Hand. »Ja, hol ihn dir, John! Hol dir dieses verfluchte Schwein!« keuchte Wladimir. Noch nie hatte ich ihn dermaßen haßerfüllt sprechen hören. Dieser Psychologe mußte für ihn mehr als ein rotes Tuch sein. Satorius gab nicht auf. Der Treffer hatte ihn in die Knie gezwungen, dort blieb er nicht, denn er stemmte sich wieder hoch. Woher er die Kraft nahm, war schon unwahrscheinlich. Er ging weiter. Er steckte voller Haß, er brüllte mich an, seine Stimme hallte über den leeren Rasen. »Ich werde nicht aufgeben! Ich bin der Sieger! Ich stehe unter seinem Schutz!« Es lag auf der Hand, daß er nur diesen Farrax meinen konnte. Ich ließ ihn gewähren, denn die Umgebung war wichtiger. Noch ein Zombie hatte die Erde verlassen. Er wollte uns unbedingt ans Leben und stellte sich dabei sehr geschickt an. Da er auf Händen und Füßen vorankroch, bewegte er sich im Schutz des Nebelstreifens. Hinzu kam noch der dunkle Untergrund, und erst als er sich aufrichtete, nahm ich ihn wahr. Ich schoß über meinen Freund Wladimir hinweg. Der Zombie fing die geweihte Silberkugel mit seiner Brust auf. Er drehte sich dem Boden entgegen und blieb starr liegen. Dann erst kümmerte ich mich um Satorius. Wladimir sagte: »Wenn ich könnte, würde ich dir Beifall klatschen. Du bist ja immer noch gut.« »Man strengt sich an!« Dr. Satorius stand noch immer. In seinem Körper mußte eine wahnsinnige Energie stecken. Bedingt auch durch sein Vorhaben, sich ganz in den Dienst des Götzen zu stellen. Farrax war seine letzte Rettung. Er hatte den Kopf hochgehoben. Er hielt ihn zitternd, denn das Gewicht war ihm zu schwer. Ich ging langsam auf ihn zu. »Satorius«, sagte ich so laut, daß er mich gerade noch verstehen konnte. »Es hat keinen Sinn mehr. Geben Sie auf, Sie haben verloren. Das hier ist mein Spiel.«
»Nein . . .!« brüllte er, »Farrax verliert nicht! Farrax ist unsterblich. Er hat alle überlebt. . .« »Aber nicht mich!« »Wie kannst du es wagen, so mit mir und ihm zu reden!« schrie er und funkelte mich haßerfüllt an. Ich blieb vor ihm stehen. »Töten!« keuchte er. »Farrax wird dich töten, vernichten und zerquetschen. Er ist auch der Herr über dein Leben, Sinclair! Merke dir das!« »Du irrst. Es gibt nur einen, der Herr über mein Leben ist — Gott!« Da lachte er brüllend. »Niemals, niemals, das hier ist mein Gott! Farrax ist uralt. . .« Ich drosch den Lauf der Beretta wuchtig und blitzschnell auf den alten Schädel. Der plötzliche Druck war zu groß. Satorius schaffte es nicht mehr, den Kopf zu halten. Er mußte mit ansehen, wie er plump auf den Rasen prallte, rollte und dann so liegenblieb, daß seine großen, roten Augen in die Höhe starrten. »Da siehst du ihn . . .« »Hundesohn, du . . .« »Keine Sorge!« Ich zielte. Satorius sprang mich an. Er war wie von Sinnen, stolperte dabei über den Schädel, verfehlte mich, fiel dafür auf den alten Kopf und umklammerte ihn wie eine Mutter ihr Kind, die es vor feindlichen Einflüssen schützen wollte. Ich steckte die Beretta weg. Dann bückte ich mich. »Was willst du?« schrie Satorius, bereits dem Wahnsinn nahe. Ich zeigte ihm das Kreuz. Sein Gesicht nahm einen Ausdruck an, der mich an den eines Vampir erinnerte, wenn ihm jemand das Kruzifix vor Augen hielt. Eine unbeschreibliche Angst zeichnete sich dort ab und zugleich ein Widerwillen vor diesem großartigen Zeichen. »Hat er nicht schon einmal dagegen verloren? War das Kreuz damals nicht auch Sieger gegen Farrax?« »Neiiiinnn — niemals! Er ist zurückgekehrt, er ist wieder hier. . .« Der Mann war wie von Sinnen. Er wollte von mir wegkriechen. Dabei kam er mir vor wie ein riesiger Wurm, der letztlich zu unbeweglich war, um zu flüchten. Ich war schneller. Plötzlich das Kreuz auf dem Schädel. Satorius hielt ihn fest, Farrax aber spürte die mächtige Magie, die seiner Kraft weit überlegen war. »Laß ihn fallen!« schrie ich Satorius an, da ich ahnte, was folgen würde.
Er hörte nicht auf mich, hielt den Schädel auch weiter fest, und das war sein Ende. Das Kreuz und dieses schwarzmagische Relikt aus uralter Zeit vertrugen sich nicht. Da kamen Feuer und Wasser zusammen, und einer nur konnte überleben. Das eine löschte das andere aus. Ich brauchte das Kreuz nicht einmal zu aktivieren. Seine Macht reichte aus, um Farrax endgültig den Garaus zu machen. Er platzte auf wie eine reife Frucht, die Augen schössen in die Höhe. Für einen Moment irrten sie durch die Finsternis wie Feuerwerkskörper, dann zerplatzten sie und kippten als Sprühregen dem Erdboden entgegen. Doch dabei blieb es nicht. Wenn das Kreuz seine Kraft einsetzte, dann richtig. Feuer schoß aus den Resten des Schädels in die Höhe. Es waren zischende, bläulich rote Flammen, die sich rasend schnell ausbreiteten, als wollten sie alles reinigen. Ich stand daneben und konnte nur staunen, denn die Flammen konzentrierten sich nicht nur auf die brennenden Schädelreste, sie fanden auch ihren Weg quer über den Friedhof. Plötzlich war der Rasen von einem Muster aus Feuer gezeichnet. Die Linien liefen in einer Zickzack-Formation, und sie bildeten dabei ein Muster, das aussah wie ein Spinnennetz. Ein schauriges Licht erhellte die Umgebung, es schlug mir als Widerschein entgegen, ohne mich zu blenden. Aber es tötete! Es vernichtete all das untote Leben, wobei es mit einer urwelthaften Kraft auch in den Erdboden eindrang und die dort noch liegenden Zombies zerstörte. Uns tat es nichts. Und auch nichts den drei Zombies, die ich zur Hölle geschickt hatte. Ich wußte nicht, wie lange die Flammen flackerten, bohrten und zerstörten. Das alles kam mir vor wie ein Traum, aber es war keiner, denn der Geruch von verbranntem Fleisch trieb über den Rasen, vermischte sich mit dem Dunst und wurde irgendwann vom Wind erfaßt und endgültig vertrieben. Einer lebte noch. Dr. Satorius. Ich hörte ihn wimmern und weinen. Um ihn besser sehen zu können, schaltete ich die Bleistiftleuchte ein. Er hockte vor mir, hob den Kopf, als ihn das Licht traf, und ich erschrak tief. Nie mehr würde er so aussehen wie früher. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ihn das Feuer verbrannt hätte. So waren sein Gesicht,
die Hände und der Hals von den Flammen verkohlt worden. Die Haut würde er abziehen können wie dünnes Papier. Ich ließ ihn in Ruhe. Jetzt war Wladimir an der Reihe. Mit einiger Mühe zerrte ich die Heringe aus dem Boden. Ich stützte den Freund aus Rußland, als er sich hinsetzen wollte. An seinen Gelenken baumelten noch die Handschellen mit den Stäben. »Jetzt ist es vorbei, John!« flüsterte er. »Was denn?« »Das Grauen im Grand Hotel.« Ich stimmte ihm zu, ließ ihn allein und ging, um Hilfe zu holen… Arzte, Polizisten, Beamte in Zivil und in Uniform, eine durch Scheinwerfer taghelle Nacht, das alles erlebten wir kurze Zeit später. Der Mann mit der Kettensäge war tot. Argus wurde noch als Bewußtloser abtransportiert, ebenso wie Satorius. Natürlich standen Wladimir und ich im Mittelpunkt. Wir ließen uns auf nichts ein, sondern verlangten den Kontakt mit einer übergeordneten Stelle. In der Hotelhalle hockten wir, umringt auch von fassungslosen Gästen, die nur Gerüchte gehört hatten. Lisa Kirchner hatte uns mit Getränken versorgt. Auch sie stellte Fragen, ohne Antworten zu bekommen. Irgendwann erschien jemand vom Schweizer Geheimdienst, um Antworten zu erhalten. Die bekam er dann auch, konnte kaum etwas glauben, telefonierte viel, stellte wieder Fragen, und irgendwann winkte er ab. Ich wollte nicht mehr, Wladimir wollte nicht mehr, denn er hatte eine bessere Idee. Er wollte feiern. Und das taten wir gemeinsam. Mit Wodka und Tonic. Dabei hatten wir nicht einmal ein schlechtes Gewissen…
ENDE