Mike Resnick Die größte Show im ganzen Kosmos Band 01
Hereinspaziert zur Monsterparty!
Beginn einer dreiteiligen SF-Zi...
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Mike Resnick Die größte Show im ganzen Kosmos Band 01
Hereinspaziert zur Monsterparty!
Beginn einer dreiteiligen SF-Zirkusserie: Besonders hervorgehoben wird im ersten Band die bei uns unbekannte Zirkusvariante der "Freak-Show" und der "Strip-Show", knallharter Unternehmungen, die den Besuchern das Geld aus der Tasche ziehen sollen. Wer kann da auch ahnen, daß außerirdische Touristen sich gerade solch ein Unternehmen als Tarnung ausgesucht haben? ISBN 3-442-23470-0 Original: Tales Of The Galactic Midway No 1:Sideshow Aus dem Amerikanischen übertragen von Jürgen Saupe 12/1984 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlagentwurf: Design Team München Umschlagillustration: Don Punchatz/Agt. Luserke, Leonberg
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Von Mike Resnick sind für die Science Fiction-Reihe in Vorbereitung: Applaus für die 3beinige Stripperin! Die größte Show im ganzen Kosmos, Band 2 • 23471 (Februar 1985) Manege frei für fremde Bestien! Die größte Show im ganzen Kosmos, Band 3 • 23472 (April 1985)
Wie immer für Carol und für Sheila Gilben, aus der kleinen Gruppe von Lektoren, die noch den Mut zu eigenen Ansichten haben.
1 Der Junge mit dem Hundegesicht hätte mich fast zum Losheulen und Weglaufen gebracht. Er hatte diesen kurzen Kopf, den man von Bulldoggen und Möpsen kennt, und dazu mächtige Falten in der schlaffen Haut, die runzlig von der Stirne hingen. Die untere Hälfte seines Gesichts bestand vor allem aus Kinnbacken. Seine Nase hatte nichts von einem Hund - sie war weder schwarz noch ledrig. Solche Nüstern hatte ich aber noch nie gesehen. Ihr Abstand voneinander war so groß, als wäre der Junge mit dem Gesicht voran gegen eine Ziegelmauer gerast und hätte sich nicht darum gekümmert, den Knorpel wieder in Ordnung bringen zu lassen. Seine Ohren waren so winzig klein, daß man den Eindruck hatte, etwas Leiseres als ein Gewehrschuß sei für ihn kaum hörbar. Doch seine Augen faszinierten mich. Sie waren dunkelbraun und von rührender Traurigkeit. Alte Augen, zu alt für dieses Gesicht, Augen, die nie mehr erschüttert oder erschrocken oder belustigt blicken würden. Und sie hatten wie Hundeaugen doppelte Hornhäute, dünne Häutchen, die als inneres Lid vor Wind und Schmutz schützten. Ich begriff nicht, wie er sich das Gesicht in einem Spiegel ansehen und noch an einem Weiterleben interessiert sein konnte. Es entsetzte mich, stieß mich ab, auch wenn mich eine Woge von Mitleid ergriff. »Nicht übel«, sagte Thaddeus, steckte sich eine Zigarette an und blies den Rauch in das Gesicht des Jungen. »Gar nicht übel.« »Es ist abscheulich«, sagte ich. »Aber eindrucksvoll«, erwiderte Thaddeus. »Ich möchte wissen, was er für Geräusche von sich gibt.« -4-
Als ob es auf das Stichwort gewartet hätte, stieß das Hundegesicht dreimal gellendes Gebell aus, das mehr nach Seehund als nach Haushund klang. »Sehr ergreifend«, sagte Thaddeus. »Wenn wir zurück sind, erinnere mich daran, daß ich mich ein bißchen mit Elmer unterhalten will.« Elmer war - nach dreistündigem Schminken und zweijähriger Erfahrung mit Sommertheatern - unser Junge mit dem Hundegesicht. Wir gingen zum nächsten Stand und sahen uns den Eidechsenmann an. Der Eidechsenmann war bis auf ein Paar Shorts nackt. Er saß auf einem kleinen Holzschemel auf einer erhöhten Plattform, hielt den Rücken steif, stützte die Hände auf die Knie und starrte uns unverwandt an. Man konnte unmöglich sagen, was sein Gesicht ausdrückte, da es wie der gesamte Körper mit Schuppen bedeckt war. Keine leprösen Wunden, die an Schlangenhaut denken ließen, nicht der bleibende Hautschaden, den so viele Eidechsenmenschen haben, sondern geschmeidige, glänzende Reptilienschuppen, in denen sich das Licht wie in Prismen brach. Seine Haut wirkte feucht und ölig und bewegte sich wie lebender, leicht grünlicher Stoff über seinen Muskeln. Sein Körper war gä nzlich unbehaart, und als es mir schließlich gelang, seine Gesichtszüge auszumachen, war mir klar, daß ich sie nicht mochte: Die Augen waren zu kalt, zu tot, und seine Kinnlade hing recht seltsam an seinem Kopf. »Hier gefällt es mir nicht, Thaddeus«, sagte ich. »Gehen wir heim.« »Halt Den Mund«, sagte Thaddeus Und ließ den Eidechsenmann nicht aus den Augen. »Siehst du irgendwo einen Reißverschluß ?« »Einen Reißverschluß?« wiederholte ich. »Thaddeus, das ist kein Kostüm!« -5-
»Ich hab' auch keinen gesehen«, sagte er finster. »Verdammt!« Als nächstes blieben wir vor der Frau mit drei Busen stehen. Sie war in einen Schleier gehüllt, und als sie uns näher kommen sah, ließ sie ihn zu Boden gleiten. Sie trug eine Art Harems- oder Bauchtanzkostüm - weite, durchsichtige Pluderhosen mit Kettchen an den Knöcheln und klingelndem Gürtel. Die drei Brüste waren nackt bis auf drei münzgroße Aufkleber mit jeweils einer baumelnden Quaste. Sie legte die Hände hinter den Kopf und ließ Hüften und Schultern kreisen, bis alle drei Quasten wie Hubschrauberrotoren kreisten. Ich wurde feuerrot und schlug die Augen nieder. Die dreibusige Frau fand das sicher lustig, denn sie begann, mich auszulachen. Dann führte sie ein paar Drehungen vor, die Thaddeus schockieren sollten. Ich hätte ihr sagen können, daß das Energieverschwendung war. Thaddeus ist mit nichts zu schockieren. Er sah einige Minuten zu, dann kam er mir nach. »Alle drei sind schweißbedeckt«, sagte er. »Kein Wunder, daß unser Geschäft nachläßt.« Wir zogen am Affenmenschen, am menschlichen Nadelkissen, am Mann der vielen Farben, am Zyklopen vorüber und blieben endlich vor dem Gummimenschen stehen. Er lächelte uns an, stand auf, reckte seinen Körper weitere dreißig bis vierzig Zentimeter in die Höhe und bog Beine und Arme und Finger in alle möglichen und unmöglichen Richtungen. In der Zuschauermenge begannen zwei Kinder zu kreischen, und für einen Augenblick meinte ich, eine der Frauen wolle in Ohnmacht fallen. Plötzlich trat ein großer, schlanker Mann mit durchdringenden Augen und einer Hakennase hinter einem Vorhang hervor. Er trug eine Jacke mit bonbonfarbenen Streifen und einen Strohhut, die beide gar nicht zu ihm passen wollten. Er sah aus, als würde er sich in einem bodenlangen schwarzen Gewand oder zumindest in einem Umhang, wie sie einem aus Draculafilmen vertraut sind, wohler fühlen. -6-
»Ich hoffe, die Ahasuerus-Monstrositätenschau hat Ihnen gefallen«, sagte er in einem Englisch, das beinahe zu perfekt war. »Sollte jemand der Ansicht sein, unsere Reklame sei auf irgendeine Weise irreführend gewesen oder unsere Schaustücke entsprächen nicht der Ankündigung, werde ich selbstverständlich den Eintritt zurückerstatten.« Seinem Blick nach zu urteilen rechnete er nicht mit Ansprüchen, und er täuschte sich nicht. Der größte Teil der Menge ging schweigend hinaus. »Sind Sie Mr. Ahasuerus?« fragte Thaddeus und spazierte zu ihm. Er war einer der wenigen Leute, zu denen Thaddeus aufblicken mußte. »Ich habe das Vergnügen, für ihn zu arbeiten«, sagte der große Mann. »Mein Name ist Romany.« »Also, Mr. Romany«, sagte Thaddeus und streckte ihm die Hand entgegen, »ich würde gern wissen, ob es möglich wäre, Mr. Ahasuerus unter vier Augen zu sprechen.« »Ich fürchte, das kommt überhaupt nicht in Frage, Mr. Flint«, sagte Mr. Romany und starrte die Hand an, die Thaddeus ihm reichen wollte. »Woher wissen Sie meinen Namen?« fragte Thaddeus. »Ach, wir erwarten Sie schon seit einiger Zeit.« »Der Konkurrenz ein bißchen auf den Zahn fühlen«, sagte Thaddeus. »Sie haben da eine Wahnsinnsmonstrositätenschau.« »Wir nennen sie lieber Wunder der Natur«, sagte Mr. Romany mißbilligend. »Monstrositäten ist ein so häßliches Wort, meinen Sie nicht auch?« »Ach, ich weiß nicht«, sagte Thaddeus. »Ich nenne das Kind gern beim Namen.« Er blickte zu mir herab. »Was meinst du, Tojo?« »Es ist ein erniedrigendes Wort«, sagte ich. Das heißt, ich versuchte es zu sagen, hatte aber wie gewöhnlich -7-
Schwierigkeiten, die Worte herauszubringen, und Thaddeus mußte als mein Übersetzer einspringen. »Sie müssen meinen Freund entschuldigen«, sagte Thaddeus. »Er ist selbst ein Wunder der Natur.« »Ich kann nichts dafür, daß ich stottere«, brachte ich glücklich heraus. »Sind Sie ein Mitarbeiter von Mr. Flint?« fragte Mr. Romany. »Er ist mein Leibwächter«, sagte Thaddeus lächelnd. »Verstehe«, sagte Mr. Ro many ohne jede Regung. Danach blieb es ungemütlich still. »Wenn Sie nichts mehr zu sagen haben, muß ich jetzt an meine Arbeit«, sagte Mr. Romany schließlich. »Es war mir eine Ehre, Sie kennenzulernen.« »Dürfen wir uns noch ein wenig umsehen?« fragte Thaddeus unschuldig. »Herzlich gern«, erwiderte Mr. Romany. Auf seinem Gesicht zeigte sich Enttäuschung, aber ich hatte das Gefühl, daß seine Augen belustigt blickten. »Wir halten uns allerdings an eine Regel, Mr. Flint: Unseren Zuschauern ist es nicht gestattet, mit den Ausgestellten zu reden.« »Sie haben doch nicht etwa Angst, daß ich ein paar mit Geld auf meine Seite ziehen will, oder?« fragte Thaddeus. »Nein«, sagte Mr. Romany, und dieses Mal war er ohne Zweifel belustigt. »Wir glauben lediglich, daß sich bei einer Unterhaltung der Hauch von Rätselhaftigkeit, oder sagen wir lieber Ungewöhnlichkeit, verflüchtigt.« »Sie sagen es«, versetzte Thaddeus. Mr. Romany ging ohne ein weiteres Wort, und Thaddeus spazierte langsam am Rand des riesigen Zeltes entlang. »Siehst du die Tür mit dem Schild ›Kein Eintritt«?« flüsterte er mir zu. -8-
»Ja«, sagte ich. »Was, glaubst du, verbirgt sich hinter ihr?« Ich sagte ihm, ich wüßte es nicht, und er lachte leise. »Ich wette mit dir, daß dort das Büro von diesem Kerl Ahasuerus ist«, sagte er. »Mr. Romany sagte uns doch, daß er niemand zu sich läßt«, meinte ich. »Ich bin aber kein Niemand«, erwiderte Thaddeus. »Während ich Romany ablenke, kannst du ja mal rüberflitzen und nachsehen, wo sie hinführt.« »Aber -« »Jemand, der soviel Zeit mit Lesen vergeudet wie du, kann wohl kaum behaupten, daß Unwissenheit selig macht.« »Ich möchte keinen Ärger«, sagte ich. »Also«, grinste Thaddeus, »überleg dir's ein paar Sekunden, und versuch, rauszukriegen, wer dir mehr Ärger machen kann, Romany oder ich.« Ich seufzte und näherte mich so unauffällig wie möglich der Tür, während Thaddeus Mr. Romany nachging und versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Als ich sie erreichte, sah ich, daß es sich nicht nur um eine Öffnung in der Zeltbahn, sondern um eine feste Metalltür handelte. Ich blickte mich um, wollte sichergehen, nicht beobachtet zu werden, und faßte nach der Klinke. Sie war verriegelt. Ich legte ein Ohr an die Tür und lauschte. Stimmen konnte ich keine hören, jedoch ein merkwürdiges Grunzen oder Knurren. Ich ging rasch fort, weil mich diese unbekannten Laute erschreckten. Thaddeus sah mich und kam sofort zu mir. »Und?« wollte er wissen. »Sie war verriegelt.« »Ich wußte es! Dort muß das Büro von diesem Ahasuerus -9-
sein.« »Glaub" ich nicht«, antwortete ich. »Ich hab' da drin seltsame Geräusche gehört.« Ich versuchte, sie ihm vorzumachen, hatte aber dabei noch mehr Schwierigkeiten als beim Sprechen, und schließlich wurde es Thaddeus zuviel. »Nun, ganz gleich, was es ist, ich möchte einen Blick hineinwerfen!« sagte er entschlossen. »Vielleicht kommen wir später noch einmal her, wenn die Schau zugemacht hat.« »Das halte ich nicht für gut«, sagte ich. »Wenn ich auf dich hören würde, wären wir beide aufs Sozialamt angewiesen«, knurrte er. »Dieser Kerl hat mehr Monstren, als er braucht. Ich hab' einen Haufen frustrierter Schauspieler, die mit einer Wassermelonenparty nicht mal Fliegen anlocken würden. Ich möchte diesen Ahasuerus treffen, ihm auf den Zahn fühlen und rauskriegen, was ihn anmacht.« »Solang es kein Geld ist«, sagte ich. »Wenn ich Geld hätte, wäre ich nicht hier, um einen Handel zu versuchen, du verdammter Zwerg!« sagte Thaddeus. »Geld kann nicht das einzige sein, was ihn lockt, sonst wäre er nicht hier mitten in Vermont, mit einem zusammengeflickten Zelt ohne Heizanlage, würde auch mehr verlangen als nur einen Vierteldollar oder einen halben. Vielleicht kann ich ihm einreden, sich mit einem Mädchen von unserer Fleischbeschau zusammenzutun.« »Vielleicht will er auf so eine Abmachung überhaupt nicht eingehen.« »Dann tausche ich dich vielleicht gegen den Gummimenschen«, sagte Thaddeus gereizt. »Wenn du nur einmal aufhören würdest, mir zu sagen, was ich nicht kann.« Sein Blick fiel auf die Frau mit den drei Brüsten, und er drehte sich zu ihr hin. »Wäre die nicht was für die Fleischbeschau?« -10-
Als ich antworten wollte, sah sie mich an und blinzelte mir zu. Ich errötete entsetzlich, wandte mich ab und sagte nichts. »Also, es besteht kein Grund, daß dieser Ausflug völlig umsonst sein muß«, sagte Thaddeus und lächelte die Frau mit den drei Brüsten an. »Geh mal spazieren, Tojo.« »Wohin?« »Irgendwohin. Ich möchte nicht, daß ein so häßlicher kleiner Bolzen wie du mir den Stil verdirbt.« »Mr. Romany hat es verboten, mit den Ausgestellten zu sprechen.« »Und Thaddeus Flint sagt, hau ab!« knurrte er. Das gewohnte Raubvogelgrinsen auf seinem Gesicht zeigte mir, daß ihn weder Worte noch Taten von der Frau mit den drei Brüsten fernhalten konnten, und ich zuckte die Achseln und lief zum Ausgang. Ich wußte, Thaddeus hatte keine Lust, von einer Frau ein Nein hinzunehmen - von überhaupt keiner Frau -, und so hatte ich den Eindruck, mir mindestens eine halbe Stunde vertreiben zu müssen, auch wenn seinem Vorhaben schließlich kein Erfolg beschieden sein würde. Der kalte Oktoberwind drang durch meine Jacke, und ich zog den Reißverschluß bis oben zu. Die Leute kamen in Scharen herbeigeströmt. Auf dem Jahrmarkt gab es nur drei Fahrbetriebe: eine Raupe, ein Teufelsrad, ein Riesenrad - und keiner machte großen Umsatz, wahrscheinlich wegen des Wetters. Etwa zwanzig Spielbuden säumten die Hauptstraße. Ich konnte aber keine Anzeichen von einer Stripschau entdecken, obwohl die örtliche Polizei ziemlich nachsichtig war, was den Grad der Arbeit der Mädchen betraf. Es gab drei Imbißstände, die ihren Kaffee, ihre Würstchen ganz gut verkauften, und in einem war sogar eine riesige Suppenterrine aufgebaut. Ich kam zum selben Schluß wie Thaddeus: Es war die -11-
Monstrositätenschau, die uns das Geschäft verdarb. Unsere Fahrbetriebe waren besser, unsere Spiele waren aufregender, unsere Mädchen hatten keine Konkurrenz, selbst unsere Imbißbuden waren besser bestückt. Von der Monstrositätenschau mal abgesehen, war das ein recht zusammengewürfelter und durchschnittlicher Jahrmarkt, die Sorte, die von Stadt zu Stadt zieht und sich jedes Wochenende den Hinterwäldlern zur Verfügung stellt. Die Monstrositätenschau war dem Rest allerdings überlegen. Wenn zweitausend Leute auf dem Gelände waren, befanden sich achtzehnhundert sicher in jenem Zelt oder standen für Karten an. Ich begriff nie, wie man Geld ausgeben konnte, um mißgestaltete Menschen zu begaffen - aber ebenso wurde mir nie klar, wieso sich glücklich verheiratete Männer Karten für unsere Stripteaseschau kauften. Als es ganz dunkel war, beschloß ich, zurückzugehen und nachzuschauen, ob Thaddeus schon an eine Rückkehr dachte. Während ich zum Zelt lief, heftete sich eine Gruppe Männer an meine Fersen. Ich trat zur Seite, um sie vorbeizulassen, aber sie hielten ebenfalls an. »Warum, zum Teufel, ist der nicht in der Freak-Schau?« sagte einer, und die anderen lachten. »He, Bürschchen, gehörst du nicht schon längst ins Bett?« sagte ein anderer. Ich hielt meine Augen fest auf das Zelt gerichtet und ging weiter. Plötzlich reckte sich eine Hand vor, packte mich an der Schulter und riß mich herum. »Wo sind deine guten Manieren?« sagte ein blonder Mann mit langem, schmierigem Haar und einem Gesicht, das von Aknenarben übersät war. »Hast du nicht gehört, daß ich dich eben was gefragt habe?« Ich versuchte, ihm zu sagen, er solle mich in Ruhe lassen, -12-
aber die Worte wollten nicht heraus. »Was ist denn?« lachte ein anderer, und ich sah jetzt, daß sie zu fünft waren. »Hast einen Kloß im Maul?« Ich setzte zu einer Antwort an, brachte jedoch wieder nichts heraus. »Warum Geld für eine Freak-Schau ausgeben, wenn wir dich umsonst anschauen können?« sagte der Blonde. Ich gab meine Sprechversuche auf und blickte ihn wütend an. »Ein häßlicher kleiner Kerl, was?« sagte einer. »Komm«, sagte der Blonde. »Langsam wird's mir zu blöd, ihn anzuschauen.« »Vielleicht wird's ihm zu blöd, dich anzuschauen«, sagte eine vertraute Stimme hinter mir. »Wer, zum Teufel, sind Sie denn?« sagte der Blonde. »Ich bin einer, der dich zwingen wird, dich bei meinem Freund zu entschuldigen«, sagte Thaddeus und trat zwischen die Gruppe und mich. »Sie und wer noch?« lachte der Blonde. Thaddeus gab keine Antwort. Er machte einfach einen Schritt und schlug dem Blonden voll gegen das Kinn, rammte einem anderen Mann die Faust in den Bauch, noch bevor der erste zu Boden gestürzt war. »Mein Freund wartet auf die Entschuldigung«, sagte Thaddeus und grinste boshaft. Die anderen drei sprangen ihn an. Ich rannte los und suchte einen Polizisten, während Thaddeus mit gleicher Kraft losfluchte und wild um sich schlug. Als ich eine Minute später mit zwei Wachleuten zurückkam, lagen drei der Männer auf dem Boden, während Thaddeus und die beiden anderen noch immer aufeinander eindroschen. Die Wachleute setzten der Schlägerei ein Ende und -13-
beschlossen, alle vom Gelände zu weisen, statt irgendwelche Verhaftungen vorzunehmen. Sie ließen Thaddeus und mich als erste gehen. »Also«, sagte er, als wir vom Parkplatz fuhren, »willst du mir nicht danken, daß ich deinen häßlichen kleinen Hals gerettet habe?« »Das war nicht nötig«, sagte ich. »Die haben mich nur gehänselt. Was du auch die ganze Zeit machst.« »Ich habe ein Recht dazu«, sagte er. »Sie nicht.« »Die hätten mir nichts getan«, meinte ich hartnäckig. »Woher, zum Teufel, willst du das wissen?« schoß er zurück. »Außerdem mag ich ab und zu eine Schlägerei.« »Vor allem, wenn dir eine Frau einen Korb gegeben hat«, sagte ich leise. »Irgendwas muß ich ja mit der ganzen Energie anfangen«, pflichtete er mir bei. Plötzlich sah er mich an. »Wieso kommst du auf die Idee, sie hätte mir einen Korb gegeben?« fragte er scharf. »Nur eine Vermutung«, sagte ich. »Nun, wenn sie mir keinen gegeben hätte, wäre ich nicht dagewesen, um dich aus der Patsche zu holen«, sagte er verdrießlich. »Die hätten mir nichts getan«, wiederholte ich. »Die wollten gerade gehen.« »Verdammter, undankbarer, kleiner Zwerg«, murmelte er. Den Rest des Weges legten wir schweigend zurück.
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2 Thaddeus nennt mich einen Zwerg, aber ich bin keiner. Ich habe einen Buckel. Er weiß das natürlich, aber einen Buckligen in einer Monstrositätenschau auszustellen bringt kein Geld. Er sagt, die Leute hätten die bedauerliche Neigung, Mitleid mit Buckligen zu haben, statt von ihnen fasziniert zu sein oder sie zu fürchten. Er versteht das überhaupt nicht, vor allem, wenn man an das großartige Beispiel Quasimodo denkt, aber so ist es eben, meint er. Er versuchte sogar, mich als den kleinsten Buckligen der Welt anzupreisen - als den Besten zweier Welten, wie er das formulierte -, aber es klappte nicht. Wenn ich mich gerade hinstellen könnte, wie mir das als Heranwachsender noch möglich war, wäre ich wahrscheinlich um die einssechzig groß: nicht gerade riesig, aber auch kein Zwerg. Er nennt mich auch Tojo: Mein Name ist das nicht - oder war es wenigstens nicht immer. Meine Augen sind jedoch ein bißchen schmal, mein Haar ist schwarz, und meine Haut hat wegen der vielen Krankheiten einen gelben Schimmer bekommen. Als mich Thaddeus zum ersten Mal sah, war er überzeugt, daß ich Tojo heißen müßte oder wenigstens so heißen sollte - und da ich von meinen Eltern nicht aufgespürt und ins Heim zurückgeschickt werden wollte, dachte ich mir, Tojo sei so gut wie andere Namen und besser als die meisten. Ich glaube, Thaddeus kennt meinen richtigen Namen heute noch nicht. Wir teilen uns einen Wohnwagen, außer wenn Thaddeus in weiblicher Gesellschaft ist. Das bedeutet, daß wir den Wohnwagen nicht sehr häufig teilen. Als wir abends von der Ahasuerus-Monstrositätenschau zurückkamen, riß Thaddeus ein Mädchen vom Ort auf, und ich verbrachte die Nacht bei Jupiter Monk, unserem Dompteur. Er ist ein netter, freundlicher Kerl und einer der wenigen auf dem Jahrmarkt, mit dem ich über -15-
Bücher reden kann, aber er hat ein Paar Leoparden in seinem Wohnwagen. So brachte ich den Großteil der Nacht in Jupiter Monks Badewanne zu und versperrte die Tür. Das war immer noch besser, als die Nacht bei einigen der übrigen zu verbringen. Jason Diggs - er kümmert sich um unsere Spiele - und ist, nicht gerade schmeichelhaft, unter dem Namen Schieber Digger bekannt - läßt mich nur rein, wenn ich in ein Kartenspiel mit ihm einwillige. Selbst wenn man nur um kleine Münzen spielt, kann die Miete für die Nacht recht hoch kommen. Und Billybuck Dancer, unser Kunstschütze, sitzt die ganze Nacht auf seinem Stuhl und starrt auf Fotografien von Doc Holliday und Johnny Ringo. Ich halte ihn für ein bißchen verrückt, auch wenn er der beste Kunstschütze und Messerwerfer ist, den ich je auf einem Jahrmarkt gesehen habe. Da Thaddeus ein unglaublich kompliziertes Liebesleben hat, verbringe ich im Lauf einer Saison zwei, drei Tage hintereinander in jedem Wohnwagen. Abgesehen von dem, der Alma gehört. Alma heißt Alma Pafko. Sie wird auch Honeysuckle Rose genannt und ist eins der Mädchen von der Stripschau, auch wenn sie vergangenes Jahr von Thaddeus als Hauptattraktion abgesetzt wurde. Sie ist außerdem Thaddeus' fester Bettschatz, obwohl auch das ein wenig problematisch ist. Sie weiß, daß er mit anderen Frauen aus der Schau schläft, und findet sich damit ab, weil es ja sozusagen in der Familie bleibt. Sie dreht nur durch, wenn er ein Mädchen aus dem Ort aufreißt. Sie liebt ihn und schläft sonst mit niemandem. Alma und ich waren mal Freunde. Sie war eigentlich lange Zeit mein einziger Freund. Sie kümmerte sich um mich, wenn ich krank war, und sie hielt zu mir, wenn Thaddeus an mir etwas auszusetzen hatte. Sie stellte sogar eine Art Wandschirm auf, damit ich in kalten Nächten nicht aus dem Wohnwagen mußte. Ich lieh ihr Bücher, und obwohl sie sich nie wirklich für sie interessierte, gab sie sich doch Mühe, sie zu lesen. Wir tauschten -16-
sogar Weihnachtsgeschenke aus. Wir brachten lange Nachmittage damit zu, im Wohnwagen zu sitzen und uns die Zukunft auszumalen. Alma wollte immer die Stripteaseschau verlassen, was sie freilich nie tat. Ich glaube, sie kam sich beim Ausziehen nicht gerade erniedrigt vor, aber es ärgerte sie immer, wenn Thaddeus herumposaunte, die Polizei sei entschärft und die Mädchen könnten kräftig loslegen. Es machte ihr nichts aus, von Männern begrapscht und geküßt zu werden, aber es störte sie ungeheuer, daß es ihm auch nichts ausmachte. Sie sprach immer davon, eine richtige Schauspielerin auf New Yorker Bühnen werden zu wollen (außer sie konnte Thaddeus zum Heiraten überreden). Ich glaube nicht, daß sie je ein Stück auf der Bühne gesehen hat, aber ihr Ehrgeiz war auch nicht alberner als meiner: Seit ich Thaddeus zum ersten Mal auf der Plattform vor der Stripteaseschau gesehen hatte, wie er das Publikum neckte, mit ihm scherzte, es verspottete und dazu brachte, Karten zu kaufen, wie er die Zwischenruf er der Lächerlichkeit preisgab, wollte ich ein Ausrufer auf einem Jahrmarkt sein. Ich machte sogar ein paar Fernkurse für besseres Sprechen mit, aber mein Stottern wurde dadurch genausowenig besser, wie die Stücke von Albee und Williams, die ich Alma lieh, ihre schauspielerischen Künste steigerten. Trotzdem war es hübsch, dazusitzen und zu träumen, und wir taten das ausgiebig - bis zu dem Tag, als Thaddeus eine Gelegenheit sah, den Jahrmarkt seinem Besitzer Jonas Stark abzukaufen. Er bettelte und lieh sich die Anzahlung zusammen, aber am Ende fehlten ihm einige tausend Dollar. Der Handel schien schon zu platzen, aber eines Tages kam Thaddeus in den Wohnwagen spaziert, in dem Alma und ich plauderten, und verkündete, daß er einen Weg gefunden hatte, das restliche Geld aufzutreiben. Es stellte sich heraus, daß einer aus dem Ort zwei Wochen lang jeden Abend in der Stripschau gewesen war und wirklich -17-
etwas für Alma übrig hatte. Er hatte gehört, daß Thaddeus auf Geldsuche war, und hatte ihm angeboten, für die fehlende Summe aufzukommen, wenn er dafür etwas›Besonderes‹bekäme. Dieses Besondere sollte ein privat gedrehter Film sein, extra für ihn. Er wollte sehen, wie Alma es mit einem der Scheusale aus der Monstrositätenschau trieb, aber da die ja nur ein Haufen geschminkter Schauspieler waren, hatte sich Thaddeus entschlossen, mich einzusetzen, da ich der einzige war, der Ähnlichkeit mit einer Monstrosität hatte. Wir widersetzten uns beide, doch Thaddeus explodierte und schrie, daß das Geld bis zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgetrieben werden müßte und daß keiner von uns bis jetzt einen roten Heller verdient hätte. Ich war überzeugt, Alma würde aufstehen und gehen, aber sie blieb nur sehr still sitzen und sagte, er solle seine Kamera holen. Als die Apparatur aufgebaut war, fing Alma mit ihrem üblichen Striptease an. Plötzlich richtete Thaddeus die Linsen auf mich, und ich begann wie Espenlaub zu zittern. Ich war noch nie mit einer Frau im Bett gewesen und hatte Todesangst - außerdem war das nicht irgendeine Frau. Es war Alma, und ich kam mir erbärmlich und schäbig vor. Thaddeus bettelte und flehte und höhnte und schmeichelte, wie er es mit den Gimpeln auf der Hauptstraße des Jahrmarkts machte eine Parallele, die keinem von uns entging. Ich sah Alma an, die sich nackt auf das Bett legte, das Gesicht ausdruckslos, die Beine gespreizt, die Klitoris in ihrem samtigen Sitz eine Perle in feuchtem Glanz. Tränen liefen ihr über die Wangen, und ich begann ebenfalls zu weinen. Ich hatte davon geträumt, eines Tages eine Frau zu lieben, aber nicht so. Von einer Erektion war ich so weit wie noch nie in meinem Leben entfernt. Aber dann gab Thaddeus Anweisungen, was Alma mit mir tun sollte, und fast gegen meinen Willen war ich plötzlich in der Lage, mitzuhalten. Ich fühlte sie zittern - vor Abscheu? Wer weiß - als ich auf ihr lag und ihre Arme mich umfingen und -18-
meinen Buckel berührten, sah ich, daß sich unsere Tränen auf ihrem Gesicht, an ihrem Hals mischten. Ich spürte, wie ihre Muskeln gegen den Drang kämpften, aufzuspringen und aus dem Wohnwagen zu rennen. Schließlich war es vorüber... Thaddeus erhielt sein Geld und war Besitzer des Jahrmarkts. Ich bin nie wieder mit einer Frau im Bett gewesen. Es dauerte Wochen, bis Alma und ich uns ein›Hallo‹zunicken konnten. Wir setzten uns nie wieder zusammen und redeten wie früher. Das ist das einzige, was ich Thaddeus nie verzeihen werde. Er nahm mir eine Freundin, und niemand hat genug Freunde, um es sich leisten zu können, einen zu verlieren. Vor allem ich nicht. Alma und ich blieben beim Jahrmarkt, auch als Thaddeus ihn übernahm. Ich wußte nicht, wo ich sonst hin sollte, und sie liebte ihn noch immer, so lächerlich das auch klingen mag. Ich glaube nicht, daß sie ihn noch mochte, aber offenbar konnte sie zwischen den beiden Dingen unterscheiden. Nach einiger Zeit heilten unsere Wunden, auch wenn die Erinnerung blieb. Thaddeus hatte im Nu eine recht seltsame Mannschaft zusammengestellt. Er stellte den alten Stogie ein - einen alternden Clown in Sackhosen, der eigentlich Max Bloom hieß und der vielleicht seit zwanzig Jahren nicht mehr gearbeitet hatte. Während der Stripschau sollte er auftreten, damit sich die Mädchen zwischendurch etwas ausruhen konnten. Stogie hatte Witze auf Lager, die so alt waren, daß schon vor einem halben Jahrhundert kaum jemand darüberlachen konnte. Andererseits, teilte mir Thaddeus im Vertrauen mit, sei er so schrecklich alt und schwach, daß er überhaupt keine Konkurrenz für die Mädchen darstellte. Was Alma und die übrigen anging, schätzten sie die kurze Pause, in der sie sich von den lüsternen alten Männern zurückziehen konnten. Diese Regelung hatte freilich gar nichts mit Nächstenliebe zu tun: Thaddeus war lediglich der Ansicht, sie würden weniger Geld machen, wenn sie müde wirkten, aber da die Sache insgesamt gut lief, hatte -19-
niemand etwas gegen seinen Beweggrund einzuwenden. Ob Stogie je einen Lacher bekam, weiß ich nicht. Gehört habe ich keinen. Ich glaube, er hatte ungefähr die gleiche Funktion wie ich: Die Leute sahen mich oder hörten ihn, und plötzlich waren sie ein bißchen mehr als sonst mit sich selbst zufrieden. Als ein paar Mädchen belästigt wurden, weil sie kräftig loslegten, beschloß Thaddeus einen rechten Rowdy für die Schau anzustellen. Richtige Rausschmeißer kosten zu viel, und so gabelte er einen ehemaligen Profifußballer auf, der Big Alvin hieß. Big Alvin war ein großes Lamm - er hörte mit dem Fußball auf, weil er den gegnerischen Spielern nicht weh tun wollte -, aber er sah wie ein Koloß aus. Wenn die Unruhestifter ihn sahen, versuchten sie gar nicht erst, sich so zu benehmen, daß man sie hinausschmeißen mußte. Thaddeus warb sogar einen ehemaligen Stripstar aus der Blütezeit des Varietés an, mit Namen Joannie Pym. Sie sollte sich sozusagen wie eine Mutter um die Mädchen kümmern. Ich weiß bis heute nicht genau, warum sie offiziell Queen Bee, die Bienenkönigin, hieß. Alle nannten sie Queenie, und ihre Aufgabe bestand darin, aufzupassen, daß die Mädchen nur mit Thaddeus ins Bett gingen. Außerdem kümmerte sie sich um ihre Kostüme (was nicht sehr viel Arbeit war, da die meisten so gut wie nackt auftraten) und half den Mädchen, wieder nüchtern zu werden - eine Aufgabe, die fast jeden Abend anstand. Thaddeus wollte immer eine Monstrositätenschau haben. Jonas Stark hatte sie für pervers und widernatürlich gehalten. Deshalb mußte Thaddeus eine von Grund auf einrichten, als er den Jahrmarkt übernahm. Die einzige echte Monstrosität, die er je ergatterte, war Merrymax, ein richtiger Hermaphrodit. Ganz gleich, wie sehr er auch suchte, eine zweite trieb er nie auf. Genau das war einer der Gründe, warum ihm die AhasuerusMonstrositätenschau so nahe ging. Ein paar Abende versuchte er, mich auszustellen, aber niemand war sonderlich interessiert. Er stellte einen Kerl namens Bill Koonce ein, der über -20-
zweizwanzig groß war und es einmal beim Basketball versucht hatte. Er nannte ihn Baumlang und kaufte ihm sogar ein Paar Schuhe mit sehr dicken Sohlen, doch nach einer Woche stellte Baumlang Zelte und Buden der Hauptstraße wie jeder normale andere auf. Die einzige, die außer Merrymax blieb, war Little Lulu, eine Zwergin, knapp über einen Meter groß, die eigentlich Lulu Toole hieß. Ich glaube, Thaddeus behielt sie, damit ich etwas von ihr hätte, aber es geschah nichts. Ich fand sie ganz und gar nicht anziehend, und sie wurde beim Versuch, mich zu verstehen, immer ärgerlich. Wir hatten noch einen seltsamen Menschen, Hunkie, der ekelhafte Dinge vorführte. Es hieß, er sei früher Zeitungsschreiber gewesen, bevor er Gefallen an Koksschnüffeln fand und Hühnern die Köpfe abbiß. Als Thaddeus schließlich einsah, daß es ihm unmöglich war, einen Satz echter Monstrositäten aufzutreiben, begann er, mit Fälschungen zu arbeiten. Er wurde vom Seltsamen und Bizarren sehr angezogen, und vielleicht war er deshalb so felsenfest davon überzeugt, mit einer Monstrositätenschau enorme Gewinne machen zu können. Auf jeden Fall hielt uns Schieber Digger über Wasser, wenn auch knapp, und die Stripschau brachte im ersten Jahr auch ein wenig. Eines Tages stöberte Thaddeus irgendwo unterwegs Billybuck Dancer auf. Der Dancer ist der höflichste, zurückhaltendste Mensch, den man sich nur denken kann - er steht immer auf, wenn eine Frau das Zimmer betritt, zieht immer den Hut und redet sogar die Stripperinnen in seinem breiten Texanisch mit »Ma'am« an, trinkt nicht, raucht nicht - aber wie ich schon sagte, ist er ein bißchen verrückt. Einmal ging sogar die Geschichte um, daß er einst eine Schießerei mit einem argentinischen Verbrecher gewann, der sehr berühmt war. Wie man sich erzählt, mieteten sie ein riesiges Fußballstadion in Buenos Aires und verkauften Karten. Ich weiß nicht, ob es wahr ist, aber ich sehe keinen Grund, warum es nicht stimmen sollte. Der Dancer ist auf jeden Fall ein aufregender Artist: Er ist ein -21-
Meisterschütze! Thaddeus machte mich einen Monat lang zu seinem Assistenten - ich kann also meine Hand dafür ins Feuer legen. Er sieht so gut aus, daß alle Mädchen zahlen und ihn sehen wollen, während sich ihre Männer oder Freunde die Stripschau anschauen. Ich fand, daß er immer ein wenig traurig aussah, als wollte er irgendwo anders oder vielleicht in einer anderen Zeit leben. Eins weiß ich aber: Er ist der einzige Mann bei uns, mit dem Thaddeus nie einen Streit angefangen hat. Und dann gibt es noch Jupiter Monk. Als das Publikum begann, zum Dancer zu strömen, war Thaddeus der Ansicht, daß wir noch etwas Besonderes brauchten. Ich weiß nicht, woher er von Monk gehört hatte, aber er ließ ihn kommen. Eines Tages erschien Monk vor unserer Tür, ein großer, stämmiger Mann mit einem weit ausladenden Schnauzbart, gekleidet wie ein wilder Kosak. Begleitet wurde er von einem Bären, einem Löwen und zwei Leoparden. Er versteht sein Handwerk, nehme ich an, aber ich glaube, bei den Spielen würde er noch bessere Arbeit leisten: Er ist der einzige, den der Schieber nie schlagen konnte, weder mit Karten noch mit Würfeln. (Oder vielleicht verliert der Schieber absichtlich: Ich möchte auch nicht, daß ein Löwenbändiger eine Wut auf mich hat.) Eine Zeitlang hatten wir auch einen Schwertschlucker. Er nannte sich Carlos der Großartige, aber eigentlich hieß er Julian Levy. Er hatte immer ein großes Publikum, bis er eines Abends betrunken erschien und sich praktisch selbst aushöhlte. Vor etwa einem Jahr war Thaddeus der Ansicht, Alma arbeite nicht mit ganzem Herzen. So schrieb er an eine Stripteaseschule irgendwo in Kalifornien gibt's wirklich eine - und stellte Gloria Stunkel ein, ein prächtiges Mädchen, das unter dem Namen Butterfly Delight auftrat. Vom Tag ihrer Ankunft an war sie die Nummer eins. Ich glaube, Alma war eigentlich froh darüber, da der Star noch kräftiger loslegen sollte als die anderen Mädchen. Doch stellte sich heraus, daß Gloria in zweifacher Hinsicht seltsam war: Sie wollte sich nicht kräftig ins Zeug legen, und -22-
mit Thaddeus ins Bett wollte sie auch nicht. Das Publikum mochte sie nicht, da es nicht für künstlerischen Striptease gezahlt hatte. Aber Thaddeus behielt sie entweder weil er sie lustig fand oder weil sie für ihn eine Herausforderung war. Ich bin mir da nicht ganz sicher. Wir waren schon ein zusammengewürfelter Haufen, aber wir kamen ganz gut miteinander aus, vor allem, wenn Thaddeus nicht in der Gegend war. Ich kann nicht sagen, daß ich bei dem Jahrmarktstrupp wirklich glücklich gewesen wäre, aber ich wußte, ich war weniger unglücklich als anderswo. Thaddeus behandelte mich möglicherweise wie Dreck - aber er behandelte mich wie normalen Dreck, wegen meines Stotterns auch ein bißchen wie einen Dummkopf, aber darüber brauchte man sich nicht aufzuregen. Und wenn er manchmal nicht gerade auf meine Gefühle achtete, wußte ich ja, daß er es mit allen so machte. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie wichtig mir das war. Schließlich war ich ein Leben lang bevormundet worden. Am Morgen nach unserem Besuch bei der AhasuerusMonstrositätenschau setzte ich mich an einen Holztisch in der Nähe der Imbißbuden, trank Kaffee und versuchte, mich warm zu halten, als Queenie und Alma sich mir gegenüber niederließen. Alma hielt einen gewissen Abstand zu mir, aber Queenie beugte sich vor, bis ihr Gesicht kaum einen halben Meter von meinem entfernt war. »Wie ich höre, bist du gestern abend mit ihm gegangen«, sagte sie. »Stimmt«, antwortete ich. »Um euch die Freakschau anzusehen, von der alle reden?« Ich nickte. Sie zog eine kleine Whiskyflasche aus ihrer Manteltasche und nahm einen Schluck, bot sie dann Alma an. »Nein, danke«, sagte Alma und sah an uns vorbei. »Komm, Süße, das macht dich warm«, sagte Queenie und legte Alma einen Arm um die Schulter. Alma schüttelte nur den -23-
Kopf und rückte ab. »War sie gut?« wollte Queenie wissen. Es dauerte eine Minute, bis ich begriff, daß sie mit mir sprach. »Was soll gut gewesen sein?« fragte ich. »Die Freakschau, du verblödete kleine Kröte!« fuhr mich Queenie an. »Von was haben wir denn sonst geredet?« »Sie war gut«, sagte ich. »So gut, wie die Leute sagen?« »Ja.« »Mist!« sagte sie. »Da wird er seine Finger danach ausstrecken, was?« Ich schob ein paar Blätter zur Seite, die neben meine Kaffeetasse lauf den Tisch geweht waren. »Ich glaub' nicht, daß sie zu kaufen ist«, sagte ich. »Wer redet denn von Kaufen? Du solltest ihn besser kennen. Er wird sie irgendwie übernehmen, und wir stehen alle auf der Straße.« »Das wird er nicht tun, Queenie«, sagte ich. »Du meinst, er mag dich!« schnaubte Queenie. »Die blöde kleine Ziege« - sie zeigte auf Alma - »meint, er liebt sie. Also, dann sag' ich euch: Er mag oder liebt niemand. Er benutzt euch, wie er alle anderen hier benutzt.« Alma zuckte bei den Worten leicht zusammen. »Das stimmt nicht«, sagte ich. »Ich weiß, er liebt Alma.« Nicht nur wußte ich das nicht, sondern bei einer Geschwindigkeit von sechs Worten in der Minute war es auch schwer, Trost und Vertrauen in die Stimme zu legen. Ich versuchte es trotzdem. »Ach, halt den Mund, Tojo«, sagte Alma und sah noch immer an mir vorbei. Ich wollte meine Hand ausstrecken und die ihre berühren, -24-
wollte sie trösten, wußte aber nicht, wie, und blieb still sitzen. »Wenn man jemanden liebt, behandelt man ihn nicht so, wie er Alma behandelt«, sagte Queenie. Ihr Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, sie wisse schon, wie der Mensch zu behandeln sei, den sie liebe. »Selbst wenn das stimmt«, sagte ich endlich, »selbst wenn er alle entläßt, das wäre doch nicht so schlimm, oder, Alma? Schließlich willst du seit Jahren schon weg.« Sie blickte mich endlich an. »Ich bin neunundzwanzig«, sagte sie bitter, »und ich kann nur eins, nackt auf eine Bühne laufen und mich von einem Haufen Fremder begrapschen zu lassen.« »Ich dachte, du wolltest Schauspielerin werden«, sagte ich. Ich wußte, daß es dumm von mir war, davon zu sprechen, aber mir fiel nichts anderes ein. »Glaubst du, jemand gibt eine Million Dollar aus, damit ich am Broadway Blanche Du Bois spielen kann?« sagte sie und ließ ein leises, mißbilligendes Lachen hören. »Schau mich an, Tojo. Wer würde mich nehmen?« »Also komm, Baby«, sagte Queenie und legte ihr wieder einen; Arm um die Schultern. Diesmal rückte Alma nicht fort. »Siehst du, was du gemacht hast?« sagte Queenie zu mir. »Du hast sie jetzt zum Weinen gebracht.« »Das wollte ich nicht«, sagte ich. »An ihm liegt's«, sagte Queenie. Das war ihre Art, meine Entschuldigung anzunehmen. »Wir sind lang genug mit ihm zusammen, und plötzlich verhalten wir uns wie er.« Meiner Meinung nach verhielt ich mich nicht wie Thaddeus, aber ich sagte nichts. »Du hältst uns auf dem laufenden, was diese Freakschau betrifft«, sagte Queenie, stand auf und half Alma hoch. »Du informierst uns über den Stand der Dinge, okay?« Ich nickte. -25-
Alma ging ein paar Schritte mit Queenie und wandte sich zu mir zurück, die Augen voller Tränen. »Wieso bleiben wir hier, Tojo?« fragte sie kläglich. »Weshalb lassen wir ihn so mit uns umgehen?« »Weiß ich nicht«, sagte ich. Das war gelogen. Man brauchte sich nur umzusehen, und man begriff, weshalb. Da waren der Dancer, ein Jahrhundert zu spät geboren, Monk, der seine Tiere mehr als die Frauen liebte, der Schieber, der kein ehrliches Spiel kannte, die Mädchen, die vorgaben, Tänzerinnen und Unterhaltungskünstlerinnen zu sein, Stogie, der immer noch meinte, im Varieté zu sein, ich, Queenie, wir alle. Wir sind alle Freaks, Monstrositäten. Wie Fahnenflüchtige, die sich mitten auf dem Schlachtfeld verbergen, suchen wir die Anonymität des Scheinwerferlichts. Die Welt zeigt uns die kalte Schulter, und wir schmiegen uns aneinander, der Wärme wegen.
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3 Es war Mittag, als Thaddeus den Kopf aus dem Wohnwagenfenster steckte und nach mir schrie. Die Sonne war herausgekommen, und obwohl die Luft noch frisch war, schien es mir wärmer als ein paar Stunden zuvor zu sein, als ich mit Alma und Queenie geredet hatte. »Komme schon!« murmelte ich, stand vom Klapptisch auf und schlurfte zum Wohnwagen. Als ich die vier Stufen hinaufkletterte, rutschte ich - wie gewöhnlich - aus und schürfte mir die linke Hand auf. Thaddeus saß splitternackt auf der Bettkante, hatte den Kopf in die Hände vergraben und bemühte sich, das Licht von den Augen fernzuhalten. Neben ihm lag ein junges, ebenso nacktes Mädchen, das ich nicht kannte, in tiefem Schlummer. »Kaffee!« krächzte er. Ich ging in die Küche, setzte Wasser auf und kam zurück. Thaddeus blieb noch eine Minute bewegungslos sitzen und stieg dann langsam in seine Shorts. »Sie ist ganz schön jung«, sagte ich. Er warf einen Blick auf das Mädchen. »Sie möchte in der Fleischbeschau arbeiten«, sagte er mit einem Lachen. »Sie wird das Glück nie zu schätzen wissen, daß ich nicht jede einstelle, mit der ich geschlafen habe. Zum Teufel, wenn sie überhaupt schon siebzehn ist, bin ich Whistlers Mutter. Daß ihre Eltern nicht besser auf sie aufpassen!« Er schwieg, seufzte dann. »Tu ihr zwanzig Dollar in die Handtasche, und schaff sie fort.« »Hast du schon einmal bedacht, daß sie sich gedemütigt fühlen könnte?« sagte ich. »Meinst du wirklich?« Er sah überrascht aus. »Ja, allerdings.« -27-
»Wie kann man sich sonst einem Mädchen ihres Alters erkenntlich zeigen? Ihr eine Puppe kaufen?« Er sah sie wieder an, zuckte die Schultern und blitzte mich mit einem zynischen Lächeln an. »Ich füge mich, weil du soviel Erfahrung mit Frauen hast. Behalt das Geld und werde sie los.« »In ein paar Minuten«, sagte ich. »Ich hab' Alma draußen gesehen.« »Und?« sagte er unheilvoll. »Also, ich glaube einfach, du solltest warten, bis sie außer Sichtweite ist, bevor du -« »Seit wann geht es dich etwas an, was zwischen Alma und mir läuft?« sagte er hitzig. »Ihr hat es nie etwas ausgemacht, wenn die Leute sie hier weggehen sahen. Sie weiß, daß ich nicht allein schlafe.« »Aber das Mädchen ist vom Ort. Sie ist keine von uns.« »Das ist doch Almas Meise, nicht meine.« »Zur Schau mußt du sie doch nicht -« »Ich erinnere mich, um Kaffee gebeten zu haben«, sagte er. »Eine Moralpredigt habe ich nicht bestellt.« Ich seufzte, kehrte in die Küche zurück und brachte einige Zeit damit zu, die schmutzigen Teller im Ausguß zu waschen. Als der Kaffee fertig war, goß ich eine große Tasse ein schwarz, kein Zucker - und brachte sie Thaddeus. Er war ganz angezogen und riß mir den Kaffee aus der Hand, nahm einen großen Schluck und reichte mir die leere Tasse zurück. »Mehr«, sagte er. Als ich mit neuem Kaffee zurückkam, stand Thaddeus neben dem Bett und sah das Mädchen an. Er beugte sich hinab und stieß sie sanft an der Schulter an. »Komm schon, Babe, - nichts wie auf und los.« Sie gähnte, reckte sich ein-, zweimal, setzte sich auf und rieb sich die Augen. Dann sah sie mich, schrie auf und zog sich die -28-
Bettdecke über den kleinen Busen. »Was, zum Teufel, ist das denn?« rief sie. »Mein Geschäftsführer«, sagte Thaddeus, nahm mir die Tasse aus der Hand und trank sie wieder leer. »Er wird dich nach Hause bringen.« »Das wird er nicht, zum Teufel!« sagte sie und wich bis zur Wohnwagenwand zurück. »Sie da!« kläffte sie mich an. »Ja, Sie! Drehen Sie sich um, bis ich mich angezogen habe, und kommen Sie ja nicht in meine Nähe!« Ich zuckte die Schultern und lief in die Küche. »Aber wir sind doch Teilhaber, Schatz«, hörte ich Thaddeus mit ihr reden. »Wir teilen uns alles, wenn du verstehst, was ich damit sagen will.« »Wenn mich das kleine Monster auch nur mit einem Finger anfaßt, schicke ich meinen Vater und meine Brüder so schnell hierher, daß dir der Kopf brummen wird!« Ich hörte ein Geraschel, dann fiel die Tür zu, und Thaddeus rief, ich könne ins Schlafzimmer zurückkommen. »Wie oft habe ich dich schon gebeten, mich nicht in eine so peinliche Lage zu bringen?« sagte ich. »Die schnellste Art, die ich kenne, sie loszuwerden«, antwortete er lächelnd. »Außerdem, wer weiß, vielleicht findet eine eines Tages Gefallen an der Idee.« Er sah zum Fenster hinaus und blinzelte. »Hübscher Tag. Wie spät ist es?« »Fast halb eins«, sagte ich. »Haben wir gestern abend Geld eingenommen?« »Nicht viel, wie der Schieber meint.« »Klar. Was den Schieber betrifft, lauf doch los und such unseren Freund und bring ihn her«, sagte Thaddeus. »Ich habe einen kleinen Auftrag für ihn.« -29-
»Hat der was mit der Monstrositätenschau zu tun?« fragte ich argwöhnisch. »Zwerg neugierige Nase, was?« grinste er. »Ja, eigentlich schon.« »Du glaubst doch nicht etwa, daß du Mr. Romany oder Mr. Ahasuerus dazu bringen kannst, mit Diggs Karten zu spielen?« »Nein«, versetzte Thaddeus. »Romany sah mir nicht nach einem Spieler aus.« »Was also dann?« »Hör mal, bleib bei deinen Gedichtbänden und überlaß mir das Denken, ja?« Er ging ins Bad und begann, sich zu rasieren, und ich machte mich auf die Suche nach Diggs, dem Schieber. Er war sogar in einer Menge rasch zu finden: kurzes, schneeweißes Haar, sauber getrimmter Spitzbart, elegant gekleidet, die Finger voller Diamanten, die Schuhe gewöhnlich glänzender als die Sonne. Und da die Budenstraße mittags an einem Wochentag nie voll war, hatte ich ihn in fünf Minuten aufgespürt. Er stand vor dem Zelt der Sonderschauen und versuchte mit einigen früheren Besuc hern zu wetten, ob Billybuck Dancer auf eine Entfernung von zwanzig Metern den Kopf des Pickönigs durchschießen könne. (Ich wußte, daß er es konnte: Als ich mit ihm arbeitete, mußte ich, zur großen Belustigung von Thaddeus, die Karte zwischen den Zähnen ha lten.) Der Schieber war richtig böse auf mich, als ich mich in sein Gerede einmischte und die Gimpel sich trollten. Wahrscheinlich hätten sie kaum mehr als einen Dollar gewettet, aber ihm war das Spiel immer wichtiger als die Summe. Auf jeden Fall beschimpfte er mich den ganzen Weg zum Wohnwagen. »Du willst mich sprechen?« sagte er, als Thaddeus uns begrüßte. »Wie geht's deinem Poker?« fragte Thaddeus. Er hatte den -30-
Wohnwagen etwas ordentlicher als sonst aufgeräumt, was nicht viel hieß, drei Billigsessel aus dem Kaufhaus zum Kaffeetisch gestellt, auf dem er die Schecks für die Löhne ausstellte. »Du läßt mich den ganzen Weg vom Zwerg herzerren, um mich so etwas Blödes zu fragen«, schnaubte der Schieber. »Wenn ich dich schon zu einem Spiel einsetzen will«, sagte Thaddeus, »kannst du, glaube ich, wenigstens meine Frage beantworten.« »Ich wiederhole noch mal«, sagte der Schieber langsam. »Du willst es auf ein Spiel mit mir ankommen lassen?« Thaddeus lächelte. »Stimmt.« »Mein Poker ist so wie immer.« »Du wirst mit Karten spielen, die anderen Leuten gehören«, sagte Thaddeus. »Was kümmert mich das?« »Die sind wahrscheinlich gezinkt.« »Es gibt nicht ein gezinktes Kartenspiel auf der Welt, das ich nicht so gut wie der Eigentümer spielen kann«, sagte der Schieber mit Stolz. »Bist du dir sicher?« sagte Thaddeus. »Alles, was ich auf dieser Welt besitze, sind im Augenblick achthundert Dollar. Ich gebe sie dir lieber nicht, wenn du irgendwelche Zweifel hast.« »Keine Bange«, sagte der Schieber, aber er wirkte jetzt ein wenig ernster, ein bißchen gespannter - oder vielleicht sogar aufgeregt. »Sind die Leute, mit denen ich spiele, gut?« »Sie halten sich schon für gut.« »Wie kommst du drauf, sie könnten gezinkte Karten verwenden?« »Sie beschlagnahmen sie die ganze Zeit«, gluckste Thaddeus. »Es handelt sich um Bullen.« -31-
»Glaubst du, ich laufe einfach in eine Polizeiwache, setze mich an einen Tisch und mache ein nettes Spielchen?« fragte der Schieber. »Ich habe es gestern abend ausgemacht.« »Mit Bullen?« wiederholte der Schieber ungläubig. »Mit Bullen.« »Wenn ich gewinne, machen die uns den Laden dicht und verhaften die Hälfte der Mädels.« »Nein, werden sie nicht«, sagte Thaddeus. »Was die Fleischbeschau betrifft, sind sie schon auf unserer Seite. Und dann geht es mir nicht um ihr Geld.« »Ich wiederhole noch mal: Du setzt mich mit achthundert Dollar ein, und du willst ihr Geld nicht haben. Hab' ich das bis jetzt richtig kapiert?« »Ja.« »Was willst du von ihnen?« »Ihre Unterschriften«, sagte Thaddeus. »Du spielst mit ihnen um Bargeld. Wenn sie keins mehr haben, werden sie aufhören. Du spielst dann auf Schuldscheine, und die werden was drauflegen. Am Anfang verlierst du ein paar hundert, damit ihr Vertrauen wächst.« »Ich kapier' noch immer nicht. Bullen haben doch nicht soviel Geld. Wozu sollen da Schuldscheine gut sein?« »Ach, mir wird schon was einfallen, sie einzulösen«, sagte Thaddeus, und plötzlich war mir klar, was er vorhatte. Er wandte sich zu mir. »Du begleitest ihn, Tojo, und behältst mein Geld im Auge. Ich möchte alles wieder zurück, die hundert abgerechnet, mit denen der Schieber seine Zeit vergütet bekommt.« -32-
Ich folgte Diggs ins Treibhaus - das geheizte Zelt, das der Truppe von Mittag bis Mitternacht für ihre Arbeitspausen zur Verfügung steht - und sah ihm zu, wie er die nächsten drei Stunden an einem Tisch verbrachte und sich auf das Spiel vorbereitete. Erst absolvierte er Übungen, die die Finger warm machten. Dann machte er drei neue Kartenspiele auf, legte sie vor sich hin und begann zu mischen. Er tat das etwa fünf Minuten lang, deckte dann jedes Spiel Karte für Karte auf: Irgendwie hatte er alle drei Spiele der Reihenfolge nach geordnet. »Nichts Besonderes«, lachte er, als er meinen Gesichtsausdruck sah. »Die sind gezinkt«, sagte ich, obwohl ich es eigentlich nicht glaubte. Er schüttelte den Kopf, mischte eins der Spiele. »Sag mir, was du in der Hand haben möchtest.« »Irgendwas?« fragte ich. »Was du willst.« »Vier Asse.« Er mischte weitere zwanzig Sekunden, gab uns dann je fünf Karten mit der Rückseite nach oben. Ich nahm meine Karten und sah sie mir an: vier Asse und eine Pik-Dame. Ich hielt sie ihm mit einem Ausruf des Erstaunens hin. »Ziemlich gute Karten«, meinte der Schieber. »Möchtest du ein wenig Geld auf sie setzen?« »Nein, ich spiele nicht.« »Schade«, sagte er und deckte auf. Er hatte fünf Kreuz, einen Straight Flush von der Sieben zum Buben. Er lachte fröhlich, meinte dann, meine Erziehung weise traurige Lücken auf, und zeigte mir, wie man mischen und austeilen mußte. Ich versuchte es auf seine Art, aber meine -33-
Bewegungen waren zu ungeschickt. Er erklärte mir, wie man Karten unter den Armen halten konnte, weihte mich in die Grundzüge des falschen Austeilens ein und zog schließlich eine zweischneidige Klinge aus der Brieftasche und führte die hohe Kunst der Markierungs arten vor. »Faszinierend«, sagte ich, als er aufhörte. »Spielst du eigentlich jemals ehrlich?« »Paß auf deine Zunge auf, Junge«, sagte er mit hochgezogenen Augenbrauen. »Wenn der alte Phineas T. das hört, dreht er sich pausenlos im Grab.« »Aber dich in einem Spiel gegen einen normalen Menschen einzusetzen ist, als nehme man einem Baby den Lutscher weg.« »Tojo«, sagte er, »wenn Gott nicht gewollt hätte, daß man sie schert, hätte er sie nicht zu Schafen gemacht. Du hast doch nichts dagegen, daß bei den Spielen in der Budenstraße geschoben wird?« »Aber da geht es ja nur um Vierteldollar«, sagte ich. »Heute abend wirst du um großes Geld spielen.« »Du meinst, um Pfennige darf man sie betrügen und um Dollar nicht?« Mir ging auf, daß ich es genauso gemeint hatte. Ich schwieg also und überlegte eine Weile. Es gab eine Zeit, als ich jeden Betrug für unmoralisch hielt. Es fiel mir jetzt schwer, eine philosophische Rechtfertigung dafür zu finden, warum man weder um hohe wie geringe Summen betrügen sollte. Ich glaube, das kommt davon, wenn man länger mit Thaddeus zusammen ist. Bei Einbruch der Dämmerung verließen wir den Jahrmarkt und erreichten die Polizeiwache, wo man uns schon erwartete. In einer leeren Zelle waren Tisch und Stühle bereitgestellt. Diggs spielte so geschickt mit ihnen, wie Isaac Stern seine Violine streicht. Das erste Spiel gewann er, dann verlor er sechs -34-
nacheinander und begann, über sein Pech zu klagen. Die nächste Stunde hielten sich bei ihm Gewinn und Verlust die Waage, während ein Bulle an die anderen beiden verlor. Dann schlug Diggs wie eine Kobra zu Und warf den Mann mit dem wenigsten Geld aus dem Spiel. Schuldscheine erwähnte er überhaupt nicht, ließ den Bullen einfach zusehen, wie er drei weitere Runden verlor, machte dann das Angebot, ihm etwas Geld zu leihen. Er begann zu trinken und schwerfällig zu sprechen, worauf sie sich weniger verspannt und wachsam gaben, brachte es zwischendurch fertig, ein Full House gegen einen Straight und zwei Flush zu setzen. Da waren zwei von ihnen erledigt, und wieder bot er ihnen an, sie könnten einen Teil des Gewinns von ihm leihen. Er teilte das Geld so betrunken aus, daß sie glauben mußten, es sei an der Zeit, ihn zu rupfen - und natürlich machten sie ansehnliche Gewinne. Dann kam das Hammerspiel, in dem er vier Neunen hatte und vier Dreien und ein Full House schlug. Eine Stunde ging es noch so weiter, bis Diggs schließlich umfiel. Das Spiel war offensichtlich beendet, und ich zählte die Schuldscheine zusammen: Die Summe machte beinahe sechzehntausend Dollar aus. Plötzlich begriffen die Polizisten, wieviel sie verloren hatten, aber ich sagte ihnen, sie sollten sich keine Sorgen machen, wir würden einen Ausweg finden. Sie schnappten wie die Fische nach dem Köder. Ich schlug ihnen vor, in einer Stunde zu Thaddeus in den Wohnwagen zu kommen, und bat sie, mir zu helfen, den Schieber ins Auto zu tragen. Glücklicherweise dachte keiner daran, mich zu fragen, wie ich ihn nach Hause fahren wollte, da ich ja einen besonderen Sitz, besondere Pedale hätte haben müssen. - Eine Minute nachdem sie gegangen waren, setzte sich Diggs auf, lachte leise und völlig nüchtern vor sich hin und rückte auf den Fahrersitz. »Hast du kein Mitleid mit ihnen?« fragte ich, während wir -35-
zum Jahrmarkt zurückrasten. »Ein Tiger lebt nicht lange, wenn er beginnt, Mitleid mit seiner Beute zu haben, mein Junge«, sagte er und lächelte. »Außerdem«, fuhr er fort, »glaubst du, die hätten Mitleid mit mir gehabt, wenn ich so betrunken gewesen wäre, wie sie meinten, und sie mir dann! das Hemd ausgezogen hätten?« »Zweimal falsch ergibt nicht richtig«, sagte ich. »Stimmt«, sagte er. »Daher ist es so wichtig, ein geschickter Falschspieler zu werden - dann kann niemand mit einem falschspielen.« »Verlierst du eigentlich mal?« »Nur gegen den großen Löwenbändiger.« »Warum gegen ihn?« »Er hat Geduld«, sagte Diggs. »Man braucht viel Geduld, wenn man mit den Raubkatzen arbeitet, und das hat Einfluß auf seine anderen Angewohnheiten. Er ist es gewöhnt, mit gefährlichen Tieren zu arbeiten - und ich bin auch gefährlich, wenn ich ein Spiel Karten in der Hand habe. Junge - ein gefährliches Tier bin ich dann! Er beobachtet mich, er prüft mich, macht erst einen Zug, wenn er soweit ist.« »Aber du bist doch geschickter als er.« »Manchmal genügt das nicht. Die Katzen sind stärker als er, aber er gewinnt, oder?« »Ich hab' dich nie mit Thaddeus spielen sehen«, sagte ich. »Könntest du ihn schlagen?« »Thaddeus wird nie mit mir spielen«, sagte der Schieber. »Für den Fall, daß es dir bis jetzt entgangen ist, Thaddeus läßt sich auf nichts ein, wo er nicht der Sieger ist.« Diggs überlegte. »Würde ihm vielleicht ganz guttun, wenn er eines Tages mal durch die Mangel gedreht würde. Vielleicht würden sich seine Kanten ein wenig abschleifen.« Er überlegte wieder und schüttelte den Kopf. »Nicht sehr wahrscheinlich, was?« -36-
Ich dachte an den bevorstehenden Auftritt und stimmte mit ihm überein, daß es nicht sehr wahrscheinlich war.
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4 Der Morgen war kalt und windig, und die Luft roch ein bißchen nach Schnee. Während der Nacht waren die meisten Blätter von den Bäumen geweht worden und wirbelten über den Boden. Sie bildeten in der Morgensonne rotgoldene Muster. Thaddeus hatte sich in der vergangenen Nacht privat mit den drei Polizisten getroffen. Kaum hatten sie seinen Wohnwagen verlassen, gab er Befehl, die Buden und die Stripschau abzubauen und auf unsere Lastwagen zu laden. Ich dachte, er sei mit den Bullen vielleicht zu weit gegangen und sie hätten ihn aus der Stadt vertrieben, aber dann telefonierte er ein paarmal und verkaufte alle Fahrbetriebe, sogar das Riesenrad, an Ort und Stelle. Da wußte ich, daß er erreicht hatte, was er wollte, sonst hätte er die Fahrbetriebe nie zurückgelassen. Sie aufzugeben machte uns viel beweglicher, und ich hatte das Gefühl, daß Beweglichkeit in der nächsten Zukunft wichtig war, ganz gleich, worauf Thaddeus aus war. Bei Tagesanbruch fuhren wir los und entfernten uns zehn Meilen von der Stadt. Ohne Zweifel steuerten wir einen verabredeten Treffpunkt an, da sich Thaddeus immer wieder eine Karte ansah, die er auf die Rückseite eines Papierhandtuchs gekritzelt hatte. Schließlich bogen wir in der Nähe eines verlassenen Bauernhofs von der Straße ab und hielten neben einer ungestrichenen Scheune. Thaddeus stieg aus, sagte Jupiter, er solle seinen Tierwagen bringen - ein umgebauter GreyhoundBus mit vierundzwanzig Käfigen - und direkt neben uns fahren. Den Schieber wies er an, zu wenden und mit allen übrigen Fahrzeugen zu einem Treffpunkt fünf Meilen weiter zu fahren. Dann kletterte er in den Wohnwagen und wartete, während ich zur Straße hin Ausschau hielt und Monk sich um seine vier Tiere kümmerte. Fünf Minuten vergingen, zehn - niemand zeigte sich. -38-
»Bist du sicher, daß sie kommen?« fragte ich endlich. Er nickte. »Die kommen schon. Vielleicht haben sie einige Schwierigkeiten mit Romany und Ahasuerus, aber die werden herkommen.« Er blickte auf seine Armbanduhr, seufzte und lehnte sich zurück. Zwanzig Minuten verstrichen. Plötzlich bogen zwei Gefangenenwagen der Polizei von der Straße ab und kamen neben uns zum Stehen. Die drei Bullen, die an dem Spiel teilgenommen hatten, stiegen aus, und Thaddeus trat zu ihnen und begrüßte sie. »Alles in Ordnung?« fragte er zuvorkommend, knöpfte seinen Ledermantel zu und stellte den Kragen auf. »Ja, Sir, Mr. Flint«, sagte einer der Polizisten. Ich glaube, er hieß Joe. »Hat Ihnen Romany Schwierigkeiten gemacht?« »Ein wenig«, sagte Joe und lachte. Thaddeus schwieg und betrachtete einen Schwarm Gänse, die hoch über uns nach Süden flogen. »Was war mit Ahasuerus?« fragte, er schließlich. »Der Bursche ist nicht aufgetaucht.« Thaddeus war überrascht. »Auch nicht, als Sie Romany verhafteten?« »Ganz richtig, Mr. Flint.« »Sie teilten Romany doch sicher mit, daß ich all die Freaks übernehmen würde, wenn Ahasuerus nicht zu einer Verhandlung bereit wäre?« »Klar«, sagte Joe. »Wie lange können Sie ihn festhalten?« »Also, da wird's ein bißchen seltsam, Mr. Flint«, sagte Joe. »Wenn Sie mich vor zwei Stunden gefragt hätten, würde ich gesagt haben, wir halten ihn vielleicht einen halben Tag fest, bis -39-
man ihn rausholt. Genug Zeit, um hier zu verschwinden, aber auch nicht gerade viel Zeit. Aber als wir ihm sagten, er könne seinen Rechtsanwalt anrufen, ging er nicht darauf ein.« »Was heißt das?« fragte Thaddeus scharf. »Das heißt, daß er zweiundsiebzig oder sechsundneunzig Stunden sitzt. Das hängt davon ab, wann sein Fall drankommt.« »Und dann?« »Also, wir haben eigentlich nichts, was sich gegen ihn verwenden läßt, nur daß was mit seinem Gewerbeschein nicht in Ordnung ist und daß er seine Monstrositäten nicht richtig versorgt.« Joe schwieg und warf rasch einen Blick auf die beiden Gefangenenwagen. »Haben Sie sich die Dinger gut angesehen, Mr. Flint? Ich habe eine Reihe von Monstrositätenschauen gesehen, so wie Ihre, aber so was wie die hab' ich noch nie erlebt. Die sind unheimlich, sage ich Ihnen!« »Noch mal zu Romany«, sagte Thaddeus. »Sind Sie sicher, daß Sie ihn drei Tage festhalten können?« »Mindestens«, sagte Joe. »Wer weiß, vielleicht bringen wir sogar eine Woche zusammen, wenn er dumm genug ist und nicht nach einem Rechtsbeistand verlangt.« »Okay«, sagte Thaddeus, zog drei Schuldscheine hervor und reichte sie dem Polizisten. »Sie haben Ihr Teil getan, und ich tue meins.« »Danke, Mr. Flint«, sagte Joe, prüfte seinen Schuldschein und zerriß ihn. Die anderen Polizisten machten es ebenso. »Jetzt zum anderen Teil unserer Abmachung.« »Richtig«, sagte Thaddeus und zog das dickste Bündel Hundert-Dollar-Scheine heraus, das ich in meinem Leben gesehen hatte. »Tausend pro Stück, so war's doch?« »So war's abgemacht«, nickte einer der anderen Polizisten und warf einen hungrigen Blick auf die Scheine. -40-
»Wem gehört das Geld?« wollte ich wissen. »Mir«, sagte Thaddeus. »Was hast du denn gedacht?« »Aber du hast mir doch gesagt, du hast nur noch achthundert Dollar!« sagte ich. »Ich hab' dich angelogen«, erwiderte er belustigt. »Da hab' ich nicht zum ersten Mal gelogen, und ich glaube, du kannst mit Recht erwarten, daß es nicht das letzte Mal war.« »Und du kaufst die Monstrositäten?« ließ ich nicht locker. »Hör mal, Kleiner«, sagte Joe. »Niemand kauft irgendwas. Romany ist im Gefängnis, Ahasuerus ist verduftet, und niemand auf dem Jahrmarkt weiß, was los ist. Die armen Monster müßten verhungern, wenn sie dort bleiben. Wir tun ihnen einen Gefallen.« Ich wurde so wütend, daß ich kein Wort herausbrachte. »Nur die Ruhe, Dreikäsehoch«, sagte der dritte Polizist. »Eine Stadt wie unsere kann mit einem Haufen Freaks nichts anfangen. Es macht einen großen Unterschied, sie in der Schau anzuglotzen oder sie zu unterstützen, wenn die Schau Pleite gemacht hat. Mr. Flint hier hat sich hochherzigerweise einverstanden erklärt, sie mitzunehmen. Wenn sie ihm ein bißchen Geld bringen, freut er sich. Wenn wir für unsere Bemühungen belohnt werden und dem Staat eine Bürde mehr ersparen, freuen wir uns. Sie erhalten die Aufmerksamkeit und Pflege, die sie brauchen, und sie machen die einzige Arbeit, zu der sie fähig sind, und so freuen sie sich am meisten.« »Das klappt in jeder Hinsicht wunderbar!« sagte Joe und grinste auf mich herab. »Sieht so aus, als wären alle zufrieden bis auf dich.« »Ach, der wird auch bald glücklich sein«, sagte Thaddeus. »Er braucht nur seine Zeit, bis er sich an neue Ideen gewöhnt hat.« Er gab mir einen freundlichen Klaps auf die Schulter, gerade fest genug, als Warnung, nicht weiterzureden. »Können -41-
Sie sie mir jetzt übergeben?« »Ah... ich rede nicht gern über finanzielle Dinge«, sagte Joe, »aber es geht um die Kleinigkeit von Zwölftausend Dollar, Mr. Flint.« »Ich hab' nur elf gezählt, als ich dort war«, sagte Thaddeus. »Sie werden mir doch nicht Tojo hier in Rechnung stellen?« »Nein, Sir, Mr. Flint. Dave, gib mir die Liste.« Der Bulle mit Namen Dave kramte in einer Tasche und zog ein verknittertes Stück Papier heraus. »Also, schauen wir mal, was wir hier haben«, sagte Joe und sah mit zusammengekniffenen Augen auf das Blatt. »Der Mann der vielen Farben, der Zyklop, der Junge mit dem Hundegesicht, die Frau mit drei Busen, das sind vier. Der Gummimensch und der Eidechsenmann. Macht sechs. Das Nadelkissen, der Affenmensch und die Elefantenfrau. Sind neun. Der blaue Mann, der gehörnte Dämon und der Sphinx. Ein rundes Dutzend.« »Der blaue Mann?« wiederholte Thaddeus. »Ich erinnere mich nicht an einen blauen Mann.« »Wirklich nicht?« lachte Joe. »Teufel auch, der ist der Unheimlichste der ganzen Gruppe.« »Sind Sie sich sicher, daß Sie den Mann der vielen Farben nicht zweimal gezählt haben?« sagte Thaddeus scharf. Joe zuckte die Schultern. »Sehen Sie selbst nach, wenn Sie mir nicht glauben.« »Tojo«, sagte Thaddeus, »steck deinen Kopf da drüben rein und schau, ob wir einen blauen Mann haben.« Ich lief zum ersten Gefangenenwagen. Ich war zu klein, um durchs Fenster zu blicken, und machte die Tür auf, während Dave neben mir stand und seine Pistole in die Hand nahm. Ich sah sechs Freaks: den Jungen mit dem Hundegesicht, den Gummimenschen, den Affenmenschen, den Zyklopen und die -42-
beiden Frauen. Ich machte rasch die Tür zu und ging zum zweiten Wagen. Innen war es dunkel, aber ich hatte keine Schwierigkeiten, den Mann der vielen Farben zu entdecken: als er der kalten Luft ausgesetzt wurde, verfärbte sich sein helles Rot zu einem kühlen, fahlen Blau. Ich erkannte vier weitere und sah dann hinter dem Fahrersitz eine Bewegung, etwas Blaues, das die selben brummenden und knurrenden Geräusche hervorbrachte, die ich hinter der verriegelten Tür in der Monstrositätenschau gehört hatte. Ich sah kurz ein satanisches Antlitz, viel bösartiger und schrecklicher als das Gesicht des gehörnten Dämons. Ich warf die Tür zu und eilte zu Thaddeus zurück. »Er ist da«, rief ich. Thaddeus begann, hundertzwanzig Scheine abzuzählen, und Joe half ihm dabei. »Ich bin wirklich überrascht, daß Ahasuerus noch nichts unternommen hat«, sagte Thaddeus. »Wenn er etwas macht, wissen wir schon, was wir mit ihm anfangen«, versicherte ihm Joe. »Ich frage mich, wie diese Burschen bis jetzt überhaupt im Geschäft geblieben sind. Ich stattete ihrer Schau abends einen kleinen Besuch ab und teilte Romany mit, daß ein paar Sachen nach Schiebung aussehen, und wissen Sie, was er gemacht hat?« »Was?« »Er hat sie geschlossen!« lachte Joe. »Er versteht eben nicht die Rolle der Gesetzeshüter in einer Gesellschaft des Freien Marktes«, sagte Thaddeus. Joe und er lächelten, aber ich wußte, daß er beunruhigt war, und ich konnte mir denken, was in seinem Kopf vorging: Welcher Geschäftsführer auf dem Jahrmarkt weiß bei diesen Tönen nicht, daß ein paar Hände geschmiert werden wollen? -43-
Plötzlich lärmte in der Scheune etwas los, und alle drei Polizisten zuckten zusammen. »Wahrscheinlich nur eine Katze, die eine Feldmaus fängt«, sagte Thaddeus. »Aber ich glaube, wir sollten die Schau hier weiterrollen lassen. Tojo, sag Jupiter, er soll mit seinem Bus rückwärts an die Gefangenenwagen ranfahren.« Ich wies Monk mit seinem riesigen Bus ein und half ihm dann, verschiedene Käfige aufzuschließen. Die drei Bullen standen Wache, und wir begannen, die Freaks herüberzubringen, einen nach dem anderen. Die Elefantenfrau mit ihrem gewaltigen, wassermelonenartigen, leicht schwankenden Kopf hätte beinahe das Gleichgewicht verloren und wäre gestürzt, wenn Monk sie nicht gestützt hätte, aber sonst hatten wir mit dem ersten Wagen keine Schwierigkeiten. Der Mann der vielen Farben war hellgrün, als ich den zweiten Wagen öffnete. Er ging scheu in den Bus, und die drei anderen folgten ihm. Der Sphinx wollte sich anscheinend nicht bewegen, doch der blaue Mann berührte ihn leicht an der Schulter. Daraufhin hüpfte er rasch vom Wagen zum Bus und lief gleich in den Käfig, neben dem Monk stand. Als der blaue Mann aus dem Gefangenenwagen stieg, konnte ich ihn zum ersten Mal gut sehen, und ich bekam einen Schreck. Er war über zwei Meter groß, der dünnste Mensch, den ich je erblickt hatte. Seine Augen waren stärker als bei Orientalen geschlitzt, und die Iris der Augen war orange. Er hatte keine Nase, dafür zwei große Schlitze dort, wo die Nasenlöcher hätten sein müssen. Der Mund war klein und zart und machte den Eindruck, als könne er nie lächeln. Er war völlig kahl, selbst die Haare der Augenbrauen fehlten. Arme und Finger hatten die Gelenke an seltsamen Stellen sitzen, als hätte ein Kind in der Eile ein Strichmännchen gezeichnet. Er richtete sich zu voller Größe auf und starrte mich an. Ich wich ein paar Schritte zurück, bis ich zwischen Thaddeus -44-
und Joe stand. Er blickte Thaddeus und die Polizisten der Reihe nach an, und die Augen schienen in seinem kahlen, eckigen Schädel zu glühen. Langsam stieg er die Stufen in den Bus hinauf. Selbst Jupiter, der sein Leben jeden Tag mit seinen Tieren aufs Spiel setzte, wich zurück, als der blaue Mann in den Käfig ging, den er ihm anwies, und die Tür hinter sich zuzog. »Alles klar?« fragte Thaddeus, und ich bemerkte, daß auch er vom Aussehen des blauen Mannes betroffen war. »Die machen meine Katzen unruhig«, sagte Monk, und tatsächlich zischten und fauchten die beiden Leoparden den Sphinx an. der Löwe, der neben dem blauen Mann untergebracht war, stand einfach mit triefender Nase da, wandte die Augen zur Seite und zitterte vor Angst. »Das wird schon okay«, versetzte Thaddeus rasch. »Fahr bis zur Gruppe hinter mir her und halte dich dann mit dem Bus irgendwo in der Mitte. Wenn wir aus irgendeinem Grund angehalten werden, möchte ich nicht, daß jemand hier hereinsieht.« »Du solltest lieber den Dancer hier mit der Flinte mitfahren lassen«, knurrte Monk, schloß den Bus zu und kletterte auf den Fahrersitz. »Du fährst mit Jupiter, Tojo«, sagte Thaddeus. »Ich will nicht«, widersetzte ich mich. »Weshalb?« »Ich möchte nicht mit ihm fahren.« Er wußte, wen ich meinte. »Der steckt sicher in einem Käfig.« »Das kümmert mich nicht«, sagte ich. »Also, du kleiner, verflixter Zwerg, du fängst besser an, dich ein bißchen zu kümmern. Um alle da drin.« »Was meinst du?« »Von sofort an bist du der Hüter deiner Brüder.« Er grinste, als ich widersprechen wollte. »Du bist es doch, dem sie so leid -45-
tun oder hab' ich mich verhört?« »Die anderen, ja«, sagte ich und ließ Worte in dem Bemühen aus, meine Entgegnung herauszubringen. »Ihn nicht.« »Alle«, sagte Thaddeus. Das Grinsen auf seinem Gesicht wirkte wie festgefroren, aber ich konnte sehen, daß er es ernst meinte. »Bitte!« sagte ich. »Zwing mich nicht dazu!« »Ich kann dich zu nichts zwingen«, sagte er. »Aber ich kann bestimmt dafür sorgen, daß du dir wünschst, ich hätte dich gezwungen. Laß dir das durch den Kopf gehen, Tojo.« Ich war so beunruhigt und ängstlich, daß ich wie wild zu stottern begann, doch keine Worte herausbrachte. Schließlich seufzte ich auf und stieg zu Monk in den Bus. »Ich frage mich, ob sich der Chef mehr eingebrockt hat, als er auslöffeln kann«, sagte Monk, als wir Thaddeus' Wagen folgten. Als wir in die Straße einbogen und uns auf den Weg machten, die restliche Schau einzuholen, stieß der Löwe ein entsetztes Brüllen aus, als wolle er Monks Worte bestätigen.
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5 Man hätte kaum glauben mögen, daß die Fahrt von Vermont nach Maine einen derart großen Unterschied im Wetter mit sich brachte. Auf dem Boden lag Schnee, und der Wind peitschte so ungestüm durch die Zelte, daß uns selbst trotz der aufgestellten Heizgebläse nicht wirklich warm wurde. Die Imbißbuden packten ihre Eismaschinen ein und konzentrierten sich auf Suppe und Kaffee. Thaddeus hatte die Leute der Fahrbetriebe schon in Vermont entlassen und ihnen geraten, in der Nähe zu bleiben und sich mit dem Kerl zusammenzutun, der die ganzen Dinger gekauft hatte. Er entließ auch Elmer und den Rest der Schauspieler. Von der Freakschau behielt er nur Merrymax und Little Lulu. Thaddeus war sich sicher, daß Ahasuerus auftauchen, Romany gegen Kaution freibekommen und hinter uns mit einer Horde bezahlter Schläger her sein würde. Und da wir nach unserer Tour durch Vermont eigentlich in den Süden wollten, führte er uns hinauf nach Maine, in der Annahme, daß Ahasuerus nie daran denken würde, bei Einbruch des Winters im Norden nach uns zu suchen. Als wir in eine Stadt kamen, die uns die Ausübung unseres Gewerbes gestatten wollte, ließ Thaddeus einige Männer Zelte für die Monstrositätenschau, die Stripmädchen und die Sonderschauen aufbauen. Dann errichtete Diggs seine Spielbuden, die Imbißstände wurden zusammengesetzt, und wir konnten anfangen. Da ging es mit den Problemen los! Jupiter Monk brachte das erste zur Sprache. »Was hast du eigentlich mit all den Freaks vor?« sagte er und trat zu Thaddeus, der die Aufstellung einiger Scheinwerfer in der Budenstraße überwachte. »Sie ausstellen«, sagte Thaddeus. »Was hast du denn gedacht?« Monk schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht -47-
gemeint«, sagte er. »Was willst du zwischen den Auftritten mit ihnen machen?« »Ich nehme an, wir lassen sie in deinem Bus«, sagte Thaddeus. »Dort sind sie sicher.« »Ich habe mir gedacht, daß du das sagen würdest«, meinte Monk. Er holte tief Luft. »Die bleiben nicht im Bus. Du suchst besser einen anderen Platz für sie.« »Was ist los?« fragte Thaddeus und lächelte. »Machen sie dich nervös?« »Das sind Menschen, Thaddeus«, sagte Monk. »Du kannst sie nicht in Käfigen lassen, wenn sie nicht auf der Bühne sind. In meinem Bus geht das auf jeden Fall nicht.« »Das ist ein Haufen verdammter Freaks und Monster«, sagte Thaddeus. »Was soll ich deiner Meinung nach tun - ihnen Hotelzimmer besorgen? Zum Teufel, die Hälfte ist so gebaut, daß sie ein Klo gar nicht benutzen kann, auch wenn ich eins zur Verfügung stelle.« »Mir ist gleich, was du sagst«, antwortete Monk unnachgiebig. »Die müssen raus. Ich verstaue die Katzen und den Bären auch nur in den Käfigen, wenn wir fahren, und das nur zu ihrem Schutz, damit ich sie nicht von der Decke und den Wänden kratzen muß, wenn wir einen Unfall haben. Du kannst mit Menschen nicht machen, was ich nicht einmal meinen Tieren zumute.« »Es hat nicht zufällig etwas damit zu tun, daß der blaue Mann deinen Löwen zum Zittern bringt?« sagte Thaddeus. »Das ist ein weiterer Grund«, sagte Monk beunruhigt. »Dann bring den Löwen woanders hin«, sagte Thaddeus. »Das macht weniger Arbeit.« Monk schüttelte den Kopf. »Die verschwinden, oder ich -48-
nehme meinen Bus und fahre.« Ich dachte, Thaddeus würde ihn schlagen, aber Monk trat einen Schritt zurück und lachte. »Wenn du mich anrührst, Chef, wachst du mal mit einem Löwen in deinem Wohnwagen auf. Vor dir hat er keine Angst.« Thaddeus öffnete die Faust, zuckte die Schultern und ging. Einen Augenblick später befahl er Baumlang und Big Alvin, noch ein Zelt aufzubauen und es mit dem zu verbinden, das er für die Freaks vorgesehen hatte. »Sobald wir sie reingeschafft haben«, sagte er zu ihnen, »paßt ihr zwei Kerle auf sie auf. Wenn auch nur einer ausreißt, werde ich dafür sorgen, daß von euch keiner mehr eine Arbeit findet.« Das war eine leere Drohung - Thaddeus kennt außerhalb der Welt des Jahrmarkts niemanden, und in ihr hatte er auch nicht eben viele Verbindungen -, aber sie glaubten ihm, und eine Stunde später stand das Zelt. Die Monster wurden eins nach dem anderen hineingeschafft. »Meine Güte, wie die stinken!« sagte Thaddeus, der sich die Unterkunft ansah, als der letzte eingetroffen war. »Sorg dafür, daß sie vor heute abend noch alle duschen, Tojo. Vor allem die Elefantenfrau und der Eidechsenmann.« Er holte tief Luft. »Himmel! Ich verstehe nicht, wie die sich gegenseitig ertragen können.« »Wir brauchen eine tragbare Duschkabine«, erinnerte ich ihn. »Wir haben nur eine, und die ist für die Mädchen.« »Kannst du nicht noch eine auftreiben?« fragte ich. »Glaubst du, ich hab' Geld wie Heu?« wollte er wissen. »Die Freaks haben mich schon Zwölftausend Dollar gekostet, und ich habe mit ihnen noch nicht einen Penny eingeno mmen. Hol Seife und Wasser und schrubb sie ab.« »Alle, nur ihn nicht.« »Ihn auch!« knurrte Thaddeus. »Wenn du fertig bist und sie stinken noch, leihst du dir von Alma oder Gloria Parfüm und -49-
bespritzt sie damit.« »Hier ist es kalt, Thaddeus«, sagte ich. »Es ist überall kalt im Winter«, sagte er angewidert. »Die könnten sich eine Lungenentzündung holen, wenn ich sie hier wasche«, sagte ich. »Können wir uns nicht Heizgebläse von der Stripschau ausborgen?« Er schüttelte den Kopf. »Die arbeiten nackt. Willst du, daß sie Lungenentzündung kriegen?« »Können wir sie nicht so lange haben, bis wir mit dem Waschen fertig sind?« drängte ich. Er überlegte einen Moment, nickte dann Baumlang zu. »Bring einen her«, sagte er, »aber schaff ihn sofort zurück, wenn Tojo fertig ist.« Baumlang nickte und rollte ein paar Minuten später ein riesiges Gebläse herein. Und zwei Minuten später stürmte Gloria ins Zelt. »Was habt ihr euch dabei gedacht?« wollte sie wissen. »Thaddeus sagte, wir könnten es uns eine Weile ausborgen«, teilte ich ihr mit. »So? Dann sagst du dem Dreckskerl, daß ich nicht arbeite, bis wir es nicht zurückhaben. Teufel, ich hab' eine so dicke Gänsehaut, daß man die Brustwarzen nicht mehr sieht.« Ich fürchtete schon, sie würde sich zum Beweis entblößen, aber sie starrte die Monster kurz und finster an und stolzierte fort, um Thaddeus zu suchen. Nach ein paar Minuten ließ er Baumlang zu sich rufen, und bald darauf waren wir unser Gebläse los. Ich füllte also einen Eimer mit warmem Wasser, nahm Seife und begann, den Eidechsenmann zu säubern. Während der Arbeit entschuldigte ich mich bei ihm, aber er blickte weder nach links noch nach rechts, sagte kein Wort, nahm mich nicht einmal wahr. -50-
Danach ging ich zur Elefantenfrau. Als sie mich kommen sah, wich sie zurück. »Ich werde Ihnen nicht weh tun«, sagte ich sanft. Ich ging wieder auf sie zu, und wieder wich sie mir aus. »Nicht«, sagte eine sehr heisere, seltsame Stimme. Ich fuhr zusammen, weil ich wußte, aus welcher Richtung sie gekommen war. »Lassen Sie sie in Ruhe«, sagte der blaue Mann, der an einem der Zeltmasten lehnte. »Aber -« »Sie kann Wasser nicht ausstehen«, sagte er. »Meine Güte, das kann man aber laut sagen«, sagte Big Alvin und rümpfte die Nase. »Pfui!« »Was ist mit den anderen?« fragte ich mühsam. »Wenn sie sich säubern wollen, werden sie selber baden«, sagte der blaue Mann. »Können sie das?« fragte ich und ließ den Blick über die Ansammlung von Monstern und Scheusalen gleiten. »Ja«, sagte der blaue Mann. Er schwieg, sah mich an und wirkte plötzlich ein bißchen weniger teuflisch. »Sie können sich allerdings selbst keine Nahrung erzeugen.« Mir fiel ein, daß sie vermutlich seit mehr als vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hatten. Baumlang hatte das Heizgebläse in das Zelt der Mädchen zurückgebracht und kam eben wieder. Ich ließ ihn von einem der Stände drei Dutzend Würstchen und ein Dutzend Tassen Kaffee holen. »Danke«, sagte der blaue Mann. »Nichts zu danken«, erwiderte ich. Ich versuchte, Big Alvin loszuschicken, um Feldbetten und Stühle aufzutreiben, aber er weigerte sich, seinen Posten zu -51-
verlassen, und selbst Baumlang, den die paar Minuten des Essenholens nicht gestört hatten, fürchtete, Thaddeus könne bemerken, daß er längere Zeit fort gewesen sei. Ich verließ also selbst das Zelt und begann, Bettzeug und Stühle einzusammeln, die nicht benötigt wurden. Ich bin nicht sehr kräftig, und ich mußte alles Stuhl für Stuhl und Bett für Bett zusammentragen. Dann besorgte ich einen Stapel Decken. Das Ganze nahm etwa zwei Stunden in Anspruch. »Sie sind sehr freundlich«, sagte der blaue Mann, als ich fertig war. »Ich wollte, wir könnten Ihnen irgendwie danken.« Er reichte mir eine grotesk verformte Hand, deren Fingergelenke alle an den falschen Stellen waren. Meine erste Reaktion war, zurückzuweichen, aber dann fiel mir ein, wie viele Menschen vor mir zurückgewichen waren, und ich biß die Zähne zusammen, damit ich nicht aufschreien konnte. Ich schüttelte ihm die Hand. Sie fühlte sich warm und trocken und sehr stark an. »Was hat Flint mit uns vor?« fragte der blaue Mann nach einer Minute des Schweigens. »Dasselbe, was Mr. Ahasuerus machte«, sagte ich. »Er wird Sie zur Schau stellen.« »Wie lang?« »Bis durch Sie kein Geld mehr hereinkommt.« »Ich verstehe«, sagte der Blaue. Dem Anschein nach versuchte er, die Stirn zu runzeln, aber die Haut saß so straff auf dem schmalen, eckigen Kopf, daß er seinen Gesichtsausdruck kaum groß ändern konnte. Auf jeden Fall sah er wieder recht teuflisch aus, und ich wich zurück. »Keine Angst, Kleiner«, sagte er, so freundlich es mit seiner rauhen Stimme gehen wollte. »Ich tue Ihnen nichts.« Ich sagte ihm, das sei sehr beruhigend, aber ich hätte noch etwas zu tun. Ich entfernte mich so weit wie möglich von ihm -52-
und begann, die Feldbetten aufzustellen. Big Alvin überlegte, daß es okay wäre, mir zu helfen, weil er dabei das Zelt ja nicht verlassen mußte. So waren wir nach ungefähr zehn Minuten fertig. Dann klappten wir die Stühle auf. Die Freaks beachteten uns nicht. Als wir die Arbeit beendet hatten, setzte oder legte sich auch keiner hin. Einen Augenblick später kam Jupiter Monk, einen Heuballen auf dem Rücken. »Thaddeus hat ihnen vermutlich keine Toiletten zur Verfügung gestellt?« sagte er. »Nein«, antwortete ich. »Dachte ich mir. Nun, das hier ist besser als nichts.« Er warf das Heu auf den Boden und zog eine Drahtzange aus dem Gürtel. Der blaue Mann lief zu ihm, wollte neugierig zusehen, und Monk richtete sich auf. »Bleiben Sie mir vom Leib, sonst passiert Ihnen was!« knurrte er und reckte ihm einen narbigen, schwieligen Zeigefinger entgegen. Der blaue Mann setzte einen Schritt zurück. »Kommen Sie ja nicht in meine Nähe!« fuhr Monk fort. »Sie haben meinen Löwen halb zu Tode erschreckt, Sie verdammtes Monster.« Dann machte er sich wieder an dem Draht zu schaffen, der das Heu zusammenhielt, nahm schließlich ein Drittel des Haufens und brachte es in die andere Ecke des Zeltes. Er kam zurück, nahm den Rest und trug ihn an eine Stelle, die vom ersten Drittel ein wenig entfernt war. Er ließ sich von Baumlang helfen und zog ein Seil um die beiden Haufen. »Okay«, sagte er und streifte sich das Heu ab. »Häng ein paar Decken auf, damit sie ein bißchen vor Blicken geschützt sind -, und sag Thaddeus, wenn er nicht will, daß seine MillionenDollar-Schau alle möglichen Krankheiten kriegt, soll er rasch ein paar Toiletten herbeizaubern.« Er ging und behielt den blauen Mann im Auge, so wie er es bei dem Bären Bruno hielt, dem gefährlichsten seiner Tiere. -53-
Ich drehte mich um, sah ihm nach, und als ich mich wieder umwandte, wäre ich fast mit dem Blauen zusammengestoßen, der wieder herübergekommen war. »Wenn Sie ihn draußen sehen, richten Sie ihm bitte unseren Dank aus«, sagte er. »Ich wollte ihn nicht erschrecken.« »Jupiter kriegt so leicht keinen Schreck«, sagte ich abwehrend. »Er ist unser Dompteur.« »Danken Sie ihm in unserem Namen, Kleiner«, sagte der blaue Mann. »Werde ich«, sagte ich. »Und ich heiße Tojo.« »Danken Sie ihm, Tojo.« »Wie heißen Sie?« fragte ich. »Sie können mich blauer Mann nennen«, erwiderte er und ging. Da Big Alvin und Baumlang aufpaßten, glaubte ich, zum Essen gehen zu können. Am Imbißstand traf ich Thaddeus, der den gleichen Gedanken gehabt hatte. »Ich begreife es nicht«, sagte er, als ich mich neben ihm niederließ. »Ich hab' eben Vermont angerufen, und Romany sitzt immer noch im Loch.« »Jupiter sagt, die Monster brauchten eine Toilette«, sagte ich. »Sobald sie sich eine verdient haben«, versetzte Thaddeus. »Bis jetzt ist nur Geld ausgegeben worden. Da muß mal welches reinkommen.« »Jupiter sagt, wenn du nicht -« »Genug!« schrie er. »Wenn ich wissen will, was Jupiter sagt, gehe ich hin und rede mit ihm.« Den Rest der Mahlzeit aßen wir schweigend. Als ich gehen wollte, legte er mir eine Hand schwer auf die Schulter und hielt mich auf meinem Sitz fest. »Hat der Blaue irgendwas zu drehen versucht?« sagte er. -54-
»Zu drehen?« wiederholte ich. »Auf ihn muß man aufpassen«, sagte Thaddeus. »Zu mir war er sehr nett«, antwortete ich. »Du meinst also, es ist nur eine Frage des Äußeren, ob man ein Freak ist«, sagte er grinsend. »Wie großzügig von dir.« »Laß mich gehen«, sagte ich. »Ich muß zu ihnen zurück.« »Sag ihnen, daß sie in zwei Stunden dran sind«, rief er mir nach. Als ich in das Wohnzelt zurückkam, umringten einige von ihnen den Mann der vielen Farben, der seit der Ankunft ein mattes Blau gezeigt hatte. Man hatte ihn in Decken gehüllt, und Big Alvin stand in seiner Nähe und wirkte recht verstört. »Was ist los?« fragte ich. »Der blaue Bursche - nicht der Wilde da, der andere hier - hat sich vor ein paar Minuten übergeben. Ein grünliches Zeug, roch wirklich widerlich. Dann fing er zu zittern an, und die anderen haben ihn in ein paar Decken gewickelt.« Ich wühlte mich mit den Schultern zum Mann der vielen Farben durch, der auf seinem Feldbett saß. Er zitterte leicht, und seine Augen waren etwas glasig. »Was ist los?« fragte ich. »Geht's Ihnen schon besser?« Er und die anderen gaben keine Antwort. »Soll ich Ihnen irgend etwas holen?« fragte ich. Er schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. »Ich hole lieber Thaddeus«, sagte ich, drehte mich um und wollte fort. »Das wird nicht nötig sein«, sagte der blaue Mann. »Sagen Sie aber Mr. Flint, daß der Mann der vielen Farben heute abend nicht auftreten kann.« »Was hat er?« fragte ich. »Eine Erkältung.« -55-
»Sagen Sie ihm, er soll sich zu seinen kurzen Hosen noch etwas anziehen«, sagte ich. »Die trägt er eben«, sagte der Blaue. Ich wußte nicht, handelte es sich um eine Frage, eine Feststellung oder eine Erklärung, aber es schien auf jeden Fall unwiderruflich zu sein. Ich zuckte die Schultern und ging, um es Thaddeus mitzuteilen. Ich fand ihn in einer Telefonzelle, den Hörer am Ohr. Er murmelte einige Sätze, fluchte und hängte ein. »Verdammt!« sagte er. »Ahasuerus ist noch immer nicht aufgetaucht, um ihn gegen Kaution rauszuholen!« »Ich dachte, du wolltest, daß er im Gefängnis sitzt.« »Ich wollte beide im Gefängnis haben«, sagte Thaddeus. »Was weiß ich, vielleicht ist Ahasuerus schon auf zehn Meilen an uns herangekommen.« Er blickte auf mich herab, als bemerke er mich zum ersten Mal. »Was, zum Teufel, willst du denn? Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du sollst bei den Freaks bleiben.« »Der Mann der vielen Farben ist krank«, sagte ich. »Er wird heute abend nicht raus können.« »Und ob er das wird!« fuhr mich Thaddeus an. »Er ist wirklich krank«, sagte ich. »Ich hab' ihn gerade gesehen.« »Wenn man diese Ärsche am ersten Tag Blödsinn machen läßt, hört das nie auf!« sagte Thaddeus. »Krank, gesund oder tot, er geht raus!« Er schwieg, um sich eine Zigarette anzuzünden. »Du sagst ihnen das. Du sagst es vor allem dem blauen Mann. Und sag ihnen, daß ich die Monsterschau ausrufe, damit ich ein Auge auf sie haben kann.« »Wer sagt dann die Stripschau an?« »Swede.« Swede war ein großer, blonder Kerl, fast so groß wie Big Alvin, und arbeitete für Diggs bei den Spielbuden. »Weiß er schon, wie man es macht?« -56-
»Er wird's lernen«, sagte Thaddeus. »Wenigstens verheddert er sich nicht mit seiner Zunge, wie gewisse Leute, die ich kenne. Jetzt bewegst du deinen Arsch zum Zelt und sagst ihnen, daß heute abend alle arbeiten.« Ich ging durch den leichten Schnee zurück und verzehrte mich vor Bitterkeit. Swede war glücklich, in den Spielbuden zu arbeiten und die Gimpel zu rupfen. Er hatte wahrscheinlich etwas dagegen, die Stripschau ausrufen zu müssen. Ich hätte alles drum gegeben, mit ihm zu tauschen, und Thaddeus wußte das. Ich würde nie ein Ausrufer sein, das wußten wir beide, aber die Äußerung über die Zunge, mit der ich mich verhedderte, hätte er sich sparen können. Ich weiß nicht, wieso ich stottere. Vielleicht deshalb, weil ich als Kind lange Zeit still war und daher ein Leben lang reden könnte. Die Worte überstürzen sich deshalb. Ich wußte, daß ich nicht vor die Menge treten und zu ihr sprechen konnte, aber er brauchte mit mir nicht so zu reden, und er mußte es nicht einem Burschen überlassen, der etwas gegen diese Arbeit hatte. Es war einfach ungerecht.»Sie sehen besorgt aus«, meinte der blaue Mann, als ich ins Zelt stapfte. »Alle arbeiten heute abend«, sagte ich, »er auch.« Ich zeigte auf den Mann der vielen Farben. Dann dachte ich daran, wer schuld hatte und wer nicht, und fügte hinzu: »Tut mir leid.« »Sie tragen keine Schuld«, sagte der Blaue. »Thaddeus glaubt nicht, daß er krank ist«, sagte ich. »Würde es etwas ändern, wenn Flint ihn selbst untersuchen würde?« fragte der blaue Mann. »Nichts«, sagte ich, und der blaue Mann ließ ein krächzendes Seufzen hören. »Was sein muß, muß sein«, sagte er leise. Er blickte auf den Mann der vielen Farben und wandte sich wieder an mich. »Wo ist Mr. Romany?« »Im Gefängnis.« -57-
»Für wie lang?« »Wahrscheinlich noch ein paar Stunden, es sei denn, Mr. Ahasuerus will ihn nicht gegen Kaution herausholen.« »Und wenn er ihn nicht herausholt?« »Dann vielleicht eine Woche.« »Geht es ihm gut?« »Niemand hat etwas Gegenteiliges gesagt«, erwiderte ich. Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, aber in diesem Augenblick kam Big Alvin zu uns. »Wird langsam Zeit für den Auftritt, Tojo«, sagte er unruhig. »Na und?« sagte ich. »Ich muß rüber zur Stripschau«, sagte er. »Gloria wird in ein paar Minuten dran sein.« »Thaddeus sagte, du sollst hierbleiben«, meinte ich. »Wenn ich nicht da bin, läßt er sie richtig loslegen«, sagte Big Alvin. »Ich weiß es genau.« Er ballte die riesigen Fäuste, bis die Knöchel weiß wurden. »Wenn er sie zwingt, sich auf die Bühne zu legen, damit die Kerle an ihr rummachen können...« Die Stimme versagte ihm für eine Weile. »Ich hab' noch nie jemand was getan, Tojo, aber wenn er sie dazu zwingt, geht es ihm schlecht. Mein Gott, dann tu' ich was!« »Ist schon gut«, sagte ich. »Thaddeus arbeitet mit dieser Schau hier.« »Wer sagt dann die Fleischbeschau an?« »Swede«, sagte ich. »Swede«, wiederholte Big Alvin langsam. Er dachte einen Augenblick nach. »Swede ist okay. Da muß sie nichts machen, was sie nicht will.« »Klar, der wird sie zu nichts zwingen«, sagte ich freundlich. »Außerdem hatten wir, glaube ich, noch keine Zeit, die Bullen zu schmieren.« -58-
»Na schön«, sagte Big Alvin. »Ich bleib' hier. Aber wenn Thaddeus nicht die Freaks ausruft, gehe ich.« »Ich werde dich nicht aufhalten, selbst wenn ich könnte«, sagte ich ihm wahrheitsgemäß. Wir blieben noch ein paar Minuten einfach sitzen, und dann spazierte Thaddeus in seinem sogenannten Elvis-Anzug herein Goldlamé vom Hals abwärts bis zu den Schuhen. Er wirbelte einen goldenen Stock durch die Luft. »Okay, schafft sie raus«, sagte er. Big Alvin und Baumlang geleiteten die Freaks in das angebaute Zelt, wo sie auf getrennten Plattformen Aufstellung nahmen. Als sie alle ihre Plätze eingenommen hatten, zog Thaddeus vor jeder Plattform einen behelfsmäßigen Vorhang aus farbenfrohem, metallischem Stoff zu. »Du bleibst beim blauen Mann«, teilte er mir mit. »Wenn er komisch werden will, läßt du einen Schrei los.« Dann schob er mich auf die Plattform des blauen Mannes und zog den Vorhang vor. Die Menge strömte ein paar Minuten später herein. Ich konnte Thaddeus' Stimme hören, wie er sie draußen einsammelte, wie er scherzte und spottete. Aber erst als er sie ins Zelt ließ, wurden seine Worte für mich verständlich. »Aus dem fernen, exotischen Afrika«, donnerte er, »aus der verruchten Hafenstadt Mozambique, aus den Abgründen der Hölle kommt unser erstes Ausstellungsstück. Treten Sie ein bißchen zurück, Ma'am. Die beiden ersten weißen Jäger, die hinter ihm her waren, tötete er, und erst letzte Woche ging er auf einen Besucher los. Sie fragen sich jetzt vielleicht, warum ich Sie alle umsonst hereinlasse, warum ich keinen Eintrittspreis verlange. Weil Thaddeus Flint eben nicht so vorgeht. Sie, meine junge Dame, würden -59-
Sie bitte neben mich treten? Hierher, genau. Also, meine Damen und Herren, ich lasse die junge Dame hier einen kostenlosen Blick auf den Eidechsenmann werfen. Sie wird Ihnen mitteilen, was wir zu bieten haben, ob wir hier versuchen, Sie zu beschwindeln. Dann werde ich Sie alle bitten, mir einen knisternden Eindollarschein zu reichen, und wenn die Hälfte von Ihnen bereit ist, zu zahlen, können ihn alle sehen. Wenn nicht, dann ist die Schau aus, und wir gehen alle nach Hause und sehen uns in der Glotze einen Film an. Ist das ein klares Angebot?« Ich konnte nicht sagen, was er dann tat, aber einen Augenblick später hörte ich einen spitzen Schrei, daraufhin ein Geraschel, als würden alle auf einmal ihr Geld herausziehen. »Und da ist er, meine Damen und Herren«, rief Thaddeus. »Halb Mensch, halb Eidechse, aber ganz bösartig. He, Mann, warum bleiben Sie im Hintergrund? Angst vor Schlangen? Hoffentlich erfährt Blondie das nicht, sonst glaubt sie noch, Sie hätten noch vor ganz anderen Sachen Angst.« So dröhnte er noch mindestens fünf Minuten weiter. Dann machte er das Ganze von neuem, diesmal mit dem Zyklopen. Er spottete so lange, bis ein Mann zwanzig Dollar für die Menge springen ließ. Bei jeder Vorführung machte er, was das Bezahlen betraf, einen anderen Vorschlag, und den Geräuschen nach zu schließen mußte er nach den ersten neun schon ungefähr sechshundert Do llar in der Tasche haben. Der Mann der vielen Farben war die Nummer zehn. Ich konnte ihn nicht sehen, aber ich konnte mir denken, daß sich seine Farben nicht veränderten, denn Thaddeus begann, ihn zu verhöhnen und zu beleidigen, und schließlich teilte er der Menge mit, er werde ihr bei diesem Ausstellungsstück das Geld zurückerstatten, da der Mann offensichtlich ein Drückeberger ohne Verantwortungsgefühl war. Obwohl ein fahlblauer Mann reichlich merkwürdig sei, hätten sie ja für etwas anderes gezahlt. -60-
Der blaue Mann gab ein komisches, kehliges Geräusch von sich, und als ich zu ihm aufblickte, sah ich eine Träne über seine Backe laufen. »Die nächste Nummer lasse ich Sie umsonst sehen«, fuhr Thaddeus fort, und wieder stieg ein Schrei aus der Menge auf. »Das gilt aber nur für heute abend. Von morgen an wird diese hübsche junge Dame nebenan in unserer Abteilung für Erwachsene auftreten. Sie wird wackeln und sich drehen, wie Sie das noch nie gesehen haben, weil sie mit mehr wackeln, weil sie mehr drehen kann, als Sie je gesehen haben. Und obwohl dieses köstliche Spiel der Natur um die Hälfte länger als gewöhnlich auftreten wird, verlangen wir nicht fünfzig Prozent mehr Geld, wirklich nicht, mein Herr... Sie blicken entsetzt, Madam... nein? Dann vielleicht neidisch... auf jeden Fall nicht verständnisvoll. Ach, Sie sind voller Verständnis? Dann erwarte ich Sie und den grinsenden Glatzkopf neben Ihnen morgen abend in der ersten Reihe der Stripteaseschau. Versprechen Sie es?« »Meine Schuld«, flüsterte der blaue Mann. »Meine Schuld.« Thaddeus beschrieb ein paar Minuten die Naturwunder, die in der Stripschau gezeigt würden, erwähnte Monk und den Dancer, erzählte ein paar Geschichten, die sich anhörten, als zielten sie unter die Gürtellinie, und die erst mit der Pointe entschärft wurden, und die Leute lachten eher erleichtert als belustigt. Schließlich führte Thaddeus das Publikum ins Freie. Der blaue Mann und ich warteten auf der Plattform. Ich fragte mich, warum er ihn übergangen hatte, wollte aber durch ein Verlassen der Plattform nicht seinen Zorn auf mich ziehen. Thaddeus führte im Verlauf des Abends noch sieben Gruppen. Den Mann der vielen Farben zeigte er nach zwei mißlungenen Versuchen nicht mehr vor. Nach der letzten Vorstellung wies Thaddeus Baumlang und Big Alvin an, die Freaks zurückzubringen und das Zelt zu schließen, eine gewisse Plattform aber in Ruhe zu lassen. Ich -61-
nahm an, er zeigte auf uns, als er das sagte. Und so blieben wir mehr als zwanzig Minuten, wo wir waren, bis das Zelt leer war und nur noch eine Lampe brannte. Dann kam Thaddeus zu uns und zog den Vorhang auf. Auf seinem Gesicht lag ein breites Grinsen. »Ich kann manchmal ziemlich beschränkt sein«, sagte er und blieb vor uns stehen, die Hände in die Hüften gestemmt und im Mundwinkel eine Zigarette. »Ich brauchte bis heute abend, ehe ich begriff, was gespielt wird.« Er hob den Blick und sah den blauen Mann an. »Mr. Ahasuerus, nehme ich an?« Der blaue Mann starrte ihn an, bewegte sich nicht, verzog keine Miene. »Du bist verrückt!« sagte ich. »Das ist der blaue Mann. Er ist einer der Freaks.« »Das ist Mr. Ahasuerus, und ich glaube, er ist alles andere als ein Monster«, sagte Thaddeus und grinste bis zu den Ohren. »Was redest du?« wollte ich wissen. »Schau ihn dir doch an!« »Schau du ihn doch an, Tojo«, sagte Thaddeus. »Schau sie dir alle an. Ich hab' noch nicht alles begriffen, aber eins weiß ich: Menschliche Eltern haben noch nie solche Monster wie diesen Haufen in die Welt gesetzt. Auf jeden Fall«, fügte er hinzu und zeigte einen mächtigen Stoß Geldscheine, die er offenbar während des Abends eingenommen hatte, »bin ich keiner, der einem geschenkten Gaul ins Maul schaut. Mr. Ahasuerus, es ist ein Vergnügen, Sie an Bord zu haben.« »Das Vergnügen ist nicht gegenseitig«, erwiderte Mr. Ahasuerus kühl.
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6 »Sie können sie von hier nicht sehen«, sagte Mr. Ahasuerus und hielt die orangenen Augen auf einen unvorstellbar fernen Punkt gerichtet, Milliarden Milliarden Meilen weit. »Eine idyllische Welt mit ausgedehnten Ebenen und majestätischen Bergen, eine Welt, wo die Sterne so dicht am Himmel stehen, daß die Nächte aussehen... wie Ihre Budenstraße, wenn alle Lichter brennen.« Es war zwei Uhr morgens, und der Jahrmarkt hatte vor über einer Stunde zugemacht. Thaddeus hatte Baumlang und Big Alvin durch zwei neue Wachposten ersetzt, die ihre Plätze an entgegengesetzten Enden des Zeltes eingenommen hatten. Die meisten der fremden Wesen schliefen, doch zwei - der Gummimensch und der Eidechsenmann - kümmerten sich um den Mann der vielen Farben, dessen fahlblaue Tönung sich nic ht verändert hatte. Ich saß bei Mr. Ahasuerus, nippte an einer Tasse Kaffee, während er in einer Schüssel Suppe rührte. Wir hatten uns in Decken gehüllt, die uns ein wenig Wärme gaben und uns vor dem Wind schützten, dem die Zeltbahnen kein Hindernis zu sein schienen. »Kommen alle aus Ihrer Welt?« fragte ich. »Nein«, sagte er. »In der Milchstraße gibt es Abertausende von bewohnten Welten. Sie kommen von anderen.« »Jeder stammt aus einer verschiedenen Welt?« »Das ist richtig.« »Auch Mr. Romany?« »Ja.« »Ist das das Vorspiel einer Invasion?« fragte ich und war überrascht, daß ich bei diesem erschreckenden Gedanken ruhig blieb. -63-
Mr. Ahasuerus lachte leise, ein gräßliches Geräusch. »Habe ich etwas Komisches gesagt?« wollte ich wissen. Er schüttelte den Kopf. »Ich lache lediglich, damit ich nicht weine. Haben Sie es noch nicht begriffen, Kleiner?« »Vermutlich nicht«, gab ich zu. »Weshalb sind Sie hier?« »Wir sind auf einer Besichtigungsreise«, sagte er verärgert. »Wir reisen durch unsere Galaxie, die Milchstraße, und suchen jene Planeten auf, die sich noch nicht unserer Gemeinschaft der Welten angeschlossen haben.« »Sie sind Touristen?« wiederholte ich ungläubig. Er nickte. »Wir tarnen uns als Monstrositätenschau, damit wir sowenig wie möglich öffentliche Aufmerksamkeit erregen. Dadurch lernen wir die durchschnittliche Bevölkerung kennen, ohne unsere Herkunft preiszugeben oder ihre politischen oder religiösen Strukturen in Unordnung zu bringen.« »Diese Gruppe bereist die gesamte Milchstraße?« »Nein. Wir nehmen für eine Reise zu einem Planeten nur Bewerber auf, die sich nicht zu sehr von der dort dominanten Lebensform unterscheiden. So atmet jedes Mitglied dieser Gruppe Sauerstoff, bis auf zwei haben alle wenigstens die Grundzüge Ihrer Sprache begriffen, und alle können ohne Ausnahme die Nahrung zu sich nehmen, die auch Sie essen, ohne großen Schaden zu erleiden. Als ich feststellte, daß keine der Eingeborenenrassen blaue Haut hatte, beschloß ich, mich nicht zu zeigen. Ich zögerte auch, Amphrawse den wir den Sphinx nannten - auftreten zu lassen.« »Er war am merkwürdigsten«, sagte ich. »Von Ihnen mal abgesehen.« »Weiß ich«, sagte Mr. Ahasuerus. »Er hatte viel Geld - oder das, was auf seinem Planeten die Rolle des Geldes spielt gespart, drei Jahre lang, um Ihren Planeten für zwei Wochen aufzusuchen. Im Verlauf der zielstrebigen Verwirklichung -64-
seines Ziels hatte er - wie kann ich es nur nennen - seine Familieneinheit aufgelöst, was auf seiner Welt viel ernstere Folgen als auf der Erde hat. Wie sollte ich ihm sagen, daß er sich während unseres Aufenthaltes hier verstecken mußte?« Er schwieg einen Augenblick, als erinnere er sich wieder an das Bitten und Flehen des Sphinx. »Ich bin froh, daß er nichts zu unserer gegenwärtigen Lage beigetragen hat. Meine Entscheidung war falsch und hat die anderen in Gefahr gebracht.« Er seufzte. »Der Verstand stellt Unterschiede fest, trifft Entscheidungen, und das Herz erhebt Einspruch. Ein recht untaugliches System.« »Es scheint überall vorzukommen«, sagte ich. »Nicht überall«, erwiderte er und warf einen Blick in die Richtung von Thaddeus' Wohnwagen. »Auch bei ihm«, sagte ich. »Sie täuschen sich«, zischte der Eidechsenmann, der uns zugehört hatte. Er zischte nicht etwa, weil er aufgeregt war. Seine Stimme konnte nichts anderes als Zischlaute hervorbringen. »Er behandelt mich anständig«, sagte ich abwehrend. »Sie haben keinen sehr hohen Begriff von Anständigkeit«, sagte der Eidechsenmann. »Was wissen Sie denn?« sagte ich gereizt. »Thaddeus gab mir eine Arbeit, während mich die anderen immer nur auslachten. Er ist der einzige, der mich wie einen Menschen behandelt.« »So behandeln sich also die Menschen?« versetzte der Eidechsenmann. Da er die Klangfarbe seiner Stimme nicht ändern konnte, war ich mir nicht sicher, ob es sich um eine echte oder eine sarkastische Frage gehandelt hatte. »Er muß eine Menge Leute ernähren«, sagte ich. »Er muß an vieles denken.« »Wieso verteidigst du ihn immer noch?« sagte eine Stimme -65-
hinter mir. Ich wandte mich um und sah Alma am Eingang stehen. »Was machst du denn hier?« fragte ich sie. »Ich hab' eben gehört, daß ein neues Mädchen zu unserer Schau kommt«, sagte sie in offener Feindseligkeit. »Ich dachte, ich komm' mal rüber und sehe nach.« Sie lief durchs Zelt bis zur Frau mit den drei Busen, die in eine Decke gehüllt auf einem Stuhl kauerte. Alma riß ihr die Decke weg, bevor die Frau noch zurückweichen konnte. »Verdammt noch mal!« sagte sie. »Was haben wir dagegen zu bieten? Warum bleiben Sie nicht bei den Monstern, wo Sie hingehören?« Die Frau mit den drei Busen starrte sie entsetzt an, und Mr. Ahasuerus trat zu ihr. »Sie spricht kaum Englisch«, sagte er höflich und stellte sich zwischen die beiden. »Wie hat sie dann Thaddeus dazu gebracht, sie aus der Monstrositätenschau herauszunehmen?« wollte Alma wissen. »Ihr blieb keine Wahl«, sagte Mr. Ahasuerus. Almas Verhalten änderte sich völlig. »Sie meinen, Thaddeus zwingt sie dazu?« Mr. Ahasuerus nickte. »Weiß sie, was auf sie zukommt?« sagte Alma. »Niemand von uns weiß etwas«, antwortete Ahasuerus. Sie wandte sich an mich. »Und du läßt zu, daß er so etwas macht, du bösartiger kleiner Kerl!« »Wie kann ich ihn aufhalten?« sagte ich. »Na schön, verdammt noch mal!« fuhr sie mich an. »Ich gehe und rede selbst mit ihm.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging. -66-
»Ob sie Erfolg ha t?« fragte Ahasuerus leise. Ich zuckte die Schultern. »Weiß ich nicht.« »Was geschieht, wenn sie keinen Erfolg hat?« »Zerbrechen wir uns doch darüber den Kopf, wenn es soweit ist«, sagte ich. Ich wollte nicht darüber nachdenken, aber machte mir trotzdem Gedanken. Vielleicht wäre es gar nicht so schlimm, auch wenn Thaddeus sie alles machen ließe. Schließlich führte sie sich ja wie eine Nackttänzerin auf. Vielleicht würde sie eine Schau abziehen, die sogar Alma schockieren würde. Ich fragte Mr. Ahasuerus, was die dreibusige Frau machte, wenn, sie nicht durch die Milchstraße reiste. »Sie ist eine... ich kenne das entsprechende Wort in Ihrer Sprache nicht. Sie hat etwas mit ihrer Religion zu tun.« »Wie eine Nonne?« »Was ist eine Nonne?« Ich erklärte es ihm, und er meinte, das entspräche recht gut ihrer Tätigkeit. »Lebt sie... äh... heiligmäßig?« fragte ich, suchte nach dem passenden Wort. »Ich verstehe nicht.« »Im Zölibat?« Auch das Wort kannte er nicht, aber als ich es ihm unter einigem Rotwerden und schlimmerem Gestammel als gewöhnlich erklärte, nickte er und sagte, daß alle, die aktive Mitglieder ihrer Religion waren, seines Wissens nach unverheiratet blieben. »Ach du meine Güte!« murmelte ich. Er schien meine Besorgnis zu spüren und verstummte. Als ich ein paar Minuten erfolglos versucht hatte, nicht daran zu denken, was eine ehelose Nonne in der Fleischbeschau -67-
erwartete, schlurfte ich zum Mann der vielen Farben, der sehr ruhig auf einem der Feldbetten lag, während sich der Eidechsenmann und der Gummimensch abwechselten, ihm die Handgelenke kräftig zu massieren und den Schweiß von der Stirn zu wischen. »Was ist mit ihm los?« fragte ich. »Er ist der Kälte ausgesetzt worden«, zischte der Eidechsenmann. »Aber die anderen sind doch auch in die Kälte gekommen«, sagte ich. Der Eidechsenmann drehte sich um und starrte mich mit seinen toten Augen an. »Für den Fall, daß es Ihnen bis jetzt entgangen sein sollte, möchte ich Sie darauf hinweisen, daß wir alle verschieden sind. Er kommt aus einem heißen, trockenen Land, heißer selbst als meine Welt. Wenn er gesund ist, zeigt er ein lebhaftes Rot. Ist er müde, wird er hellgrün. Er kann sich beinahe willentlich von Rot über Geld bis Braun verfärben. Blau ist jedoch die Farbe des Todes. Wenn er schwächer wird, nimmt sie einen fahleren Ton an. Wenn sie verschwindet, ist es mit seinem Leben aus.« »Sollten wir ihn dann nicht näher ans Heizgerät bringen?« meinte ich. »Würden Sie einen Ertrinkenden in der Wüste aussetzen?« erwiderte der Eidechsenmann. »Oder würden Sie das Wasser aus seinen Lungen holen? Wir müssen ihn gesund machen, nicht heiß.« »Kann ich irgendwie helfen?« fragte ich. Er starrte mich lediglich an, wandte sich dann wieder dem Mann der vielen Farben zu. Ich lief zu meinem Stuhl zurück, setzte mich und kam mir völlig überflüssig vor. Das Gefühl war mir nicht unbekannt. Ich mußte eingedöst sein. Ich nahm Alma erst wahr, als sie -68-
schon vor mir stand und mich an den Schultern rüttelte. »Was ist?« sagte ich und blinzelte. »Was ist passiert? Ist er gestorben?« »Wer?« sagte sie verwirrt. »Der Mann der vielen Farben.« »Woher soll ich das wissen?« sagte sie hitzig, und ich konnte ihrem Gesicht ansehen, daß sie sich über etwas schrecklich ärgerte. »Aber du kannst der mit den drei Titten sagen, daß sie in der Monstrositätenschau bleib en kann.« »Das höre ich gern«, sagte ich. »Prima für dich.« »Warum weinst du, Alma?« »Er hatte wieder eines dieser blöden Mädchen vom Ort bei sich!« fuhr sie mich an. »Tut mir leid«, sagte ich. Ich stotterte absichtlich mehr als nötig, damit ich nicht noch mehr sagen mußte, denn mir fielen keine tröstenden Worte ein. »Ist ihm denn alles gleich, Tojo?« sagte sie mit tränenüberströmtem Gesicht. »Weiß er nicht, wozu er mich treibt?« »Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte ich. »Ich meine, jeder braucht ein gewisses Maß menschlicher Zuneigung«, sagte sie und trocknete sich das Gesicht mit einem zerknüllten Papiertaschentuch. »Jeder braucht Wärme und Beistand und das Gefühl, er wird gebraucht.« »Aber nicht jeder kann das haben«, sagte ich leise. Plötzlich sah sie zu mir herab, als nehme sie mich zum ersten Mal wahr. »Ach, Tojo, tut mir leid! Ich wollte nicht -« Sie brach mitten im Satz ab, beugte sich vor und küßte mich auf die Backe. »Ach Gott«, murmelte sie und richtete sich auf, »ich hoffe, er stirbt.« -69-
Sie dreht e sich um und ging, und ich wußte, daß sie nicht noch einmal zurückkommen würde. Ich ging zu Mr. Ahasuerus und sagte ihm, daß die Frau mit den drei Busen bei den anderen Fremden bleiben würde. »Vielleicht hat er doch ein Fünkchen Anstand«, sagte Mr. Ahasuerus. »Möglich«, sagte ich, obwohl ich wußte, daß er höchstwahrscheinlich nur zugestimmt hatte, um Alma loszuwerden, damit es vor seinem neuesten Bettschatz zu keiner längeren Szene kam. Ich schlief wieder ein und erwachte erst, als Gloria und eins der Mädchen etwas zum Frühstücken brachten - wie üblich warme Würstchen und Kaffee. Etwa gegen neun Uhr trat Jupiter Monk ein und führte den Bären Bruno an einer kurzen Kette. Bruno trug einen Maulkorb und zog eine große, transportable Toilette hinter sich her. Monk lenkte ihn zur Ecke, in der das Heu lag. Dort löste er Brunos Geschirr, drehte die Toilette mit der Tür zu uns und trat zurück, stemmte die Hände in die Hüften und bewunderte sein Mitbringsel. »Daß ihr mir nur nicht alle auf einmal dankt!« sagte er mit lauter, nervöser Stimme. »Sicher sind dir alle sehr dankbar«, sagte ich. »Andererseits brauchst du keine Angst zu haben, daß alle auf dich losstürmen und sich bedanken, solang du Bruno bei dir hast.« »Bruno tut keiner Fliege was zuleide«, sagte Monk, tätschelte dem Bären den Kopf und wich einem niederträchtigen Hieb der Tatze aus. »Leuten vielleicht schon«, fügte er grinsend hinzu. »Ich dachte, wir hätten keine Toiletten«, sagte ich und achtete darauf, daß Monk zwischen Bruno und mir blieb. »Es waren keine frei«, verbesserte Monk. »Wie hast du die dann ergattert?« -70-
»Der Schieber hat sie an mich verloren!« lachte Monk. »Jetzt muß er in den Schnee pissen und friert sich hoffentlich den Schwanz ab.« »Du hast sie gewonnen? Wie?« »Ich hab' ihn reingelegt«, sagte Monk und wirkte übermäßig zufrieden mit sich selbst. »Niemand legt Diggs rein.« »Also, man muß ihn schon auf besondere Art reinlegen, das gebe ich zu«, sagte Monk. »Der Kerl ist mit allen Wassern gewaschen und sucht immer nach einem Haken. Ich bot ihm eine Wette an, und als er den Haken nicht fand, setzte er die Toilette gegen zweihundert Dollar, einfach nur um die Antwort herauszukriegen. Mach dir aber keine Sorgen um den alten Schieber. Wenn er sich nicht in einen Schneemann verwandelt, wird er sein Lehrgeld schon wieder hereinholen, und ein paar tausend Dollar dazu.« »Um was ging es bei der Wette?« »Ich wettete mit ihm, daß ich ihm ein Pferderennen um einen Grand Prix nennen kann, bei dem das halbe Feld aussichtsreich startete. Er sagte, ohne zu überlegen, das Pferd hätte Man O'War geheißen, das Rennen sei in Belmont gewesen und es wären nur zwei Pferde gelaufen und Man O'War hätte etwa einen Cent pro Dollar gebracht. Ich sagte nein, das wäre keine Schwindelwette und daß es sich um ein Feld von sechs Pferden gehandelt habe.« Monk schwieg, um seine Worte wirken zu lassen. »Also, das macht ihn wahnsinnig, denn so, wie der Totalisator die Gewinnchancen anzeigt, können unmöglich mehr als zwei Pferde aussichtsreich starten, und selbst dann würde für das restliche Feld fünfzig zu eins gelten oder mehr. Er schimpft und schreit und weigert sich, auf die Wette einzugehen. Ich verlasse seinen Wohnwagen, aber ich weiß, er wird keine Ruhe finden, bis er die Lösung hat. Er weiß, es gibt eine Antwort, weil ich auf der Stelle zweihundert Eier setzen wollte, und er wird schier -71-
verrückt. Er ruft sogar ein paar Buchmacher an, aber die sagen ihm, das gibt es nicht, und das macht ihn noch wilder. Schließlich hält er es nicht mehr aus, sagt mir also, ich soll rüberkommen und die Toilette holen, weil er die Antwort einfach wissen muß.« »Gab es eine Antwort?« »Klar«, grinste Monk. »1957 beim Rennen in Belmont waren sowohl Bold Ruler und Gallant Man aussichtsreich. Bei einem Feld von sechs.« »Aber das sind nur zwei«, meinte ich. »Das sagte auch der Schieber. Aber da war noch ein Pferd mit Namen Bold Nero im Feld. Für sich allein hätte es für dieses Pferd eine Billion zu eins gestanden, aber es hatte den selben Besitzer wie Gallant Man. So liefen die beiden als eine Nennung. Ein Besitze r, eine Wettbeteiligung - und so war es auch aussichtsreich. Wenn du die Ohren spitzt, kannst du den Schieber immer noch›Betrug‹schreien hören.« »Also besten Dank für die Toilette«, sagte ich. »Gern geschehen. Die Versammelten hier meinen vielleicht, ich habe ständig was mit Scheiße zu tun, aber eigentlich will ich nur meine Jugendtorheit wiedergutmachen.« »Ich verstehe nicht«, sagte ich. »Geh mal und fang einen Winter lang Kodiakbären am Klondike, und du wirst verstehen, warum ich soviel Wert auf ein bequemes Heim lege«, sagte er lachend. »Auf jeden Fall habe ich gern geholfen. Zwei Jahre habe ich gewartet, Diggs die Wette zu servieren. Ich glaube, ich habe den rechten Zeitpunkt erwischt.« Bruno wurde jetzt unruhig. Monk gab ihm ein paar Schläge auf den Kopf und führte ihn hinaus. Big Alvin, der wieder auf Wache war, begann das Heu fortzuräumen. Ich sah nach dem Mann der vielen Farben. Er war noch -72-
immer fahlblau, zeigte weder eine hellere noch eine dunklere Farbe als am vergangenen Abend. Der gehörnte Dämon und die Frau mit den drei Busen kümmerten sich jetzt um ihn. Ich konnte ihrem Verhalten entnehmen, daß meine Hilfe nicht benötigt wurde, und ging zurück zum Tisch, den Gloria aufgestellt hatte. »Ein interessantes Getränk«, sagte der Gummimensch neben mir, der sich gerade eine Tasse Kaffee einverleibte. »Was trinken Sie auf Ihrer Welt?« »Das kann ich kaum beschreiben«, sagte er. »Ihrer Sprache fehlen die passenden Worte.« »Können Sie mir erzählen, wie es auf Ihrer Welt zugeht?« »Es ist eine Welt wie andere auch.« »Ich bin nie auf einer anderen gewesen«, sagte ich. »Es gibt gute Leute, und es gibt auch schlechte. Wir leben und lieben und hassen, beten an und fürchten. Wir versuchen jeden Tag so zu leben, daß wir denen, die uns nahe sind, keinen nicht wiedergut zumachenden Schaden zufügen.« »Aber wie sieht sie aus?« »Ganz gewöhnliche Merkmale«, sagte er mit einem Schulterzucken, das sich bis in seine knochenlosen Zehen fortsetzte. »Ich hätte gedacht, daß vor allem Sie kaum Wert auf äußere Erscheinungen legen-« »Aber andere Welten sehen«, ließ ich nicht locker, »das muß doch -« »Sie sind nur Bühnen. Auf die Spieler kommt es an.« »Weshalb haben Sie sich entschlossen, hierherzukommen?«Er zuckte wieder auf beunruhigende Art die Schultern. »Weil Sie hier sind. Weil ich nie hier gewesen bin. Weil ich wissen wollte, wie Sie sind.« »Unterscheiden wir uns sehr von den anderen, die Sie besucht haben?« fragte ich. -73-
Er schüttelte den Kopf, und einen Augenblick meinte ich, der Kopf würde sich vom Rumpf lösen. »Nein. Die Leute sind überall gleich. Sie haben Bedürfnisse und Wünsche, Begierden und Ängste. Ich muß allerdings gestehen, daß Sie mir ein Rätsel sind.« »Ich?« »Ja. Wie können Sie sich damit abfinden, von ihm beschimpft zu werden?« »Von wem? Meinen Sie Thaddeus?« »Ja.« »Er beschimpft auch andere Leute. Weshalb greifen Sie mich heraus?« »Weil sich die anderen über ihn ärgern, Sie aber nicht.« »Treten Sie gern als Freak in einer Monstrositätenschau auf?« antwortete ich. »Eine annehmbare Maskerade.« »Aber Ihr ganzes Leben lang möchten Sie es nicht tun?« »Nein«, sagte er fest. »Ich auch nicht«, erwiderte ich. »Ich habe hier ein Zuhause. Das hier ist meine Familie. Selbst die Gimpel behandeln mich, als gehörte ich dazu.« »Das verstehe ich«, sagte der Gummimensch. »Aber weshalb müssen Sie mit Flint zusammenbleiben? Weshalb gehen Sie nicht zu einem anderen Jahrmarktsbetrieb, zu einer anderen Monstrositätenschau?« »Weil man seine Familie nicht verläßt, nur weil jemand in einer anderen glücklicher ist«, sagte ich. In Form eines Gedankens war das viel überzeugender als die Worte, die ich endlich herausgebracht hatte. Wie kann man einem knochenlosen Menschen, der eine halbe Galaxie weit von zu Hause entfernt ist, sagen, was es heißt, endlich ein Zuhause zu -74-
haben? Der Gummimensch zeigte mir mit seinem Blick, daß ich noch merkwürdiger war, als er zunächst angenommen hatte, und lief zu seinen Gefährten. Einige Minuten später brachten Big Alvin und Baumlang die Monster zu ihren Plattformen. Als ich die Stimme von Thaddeus in das Wohnzelt dringen hörte, spürte ich ein wenig von dem Ärger, den der Gummimensch bei mir vermißt hatte. Ich spürte noch etwas anderes: das Band, das mich mit Thaddeus Flint und seiner Welt meiner Welt - mit ihrer unendlichen Vielfalt grotesker Wesen verknüpfte. Es war eine Rettungsleine, die mir Trost und Lebensunterhalt gab, und ich wußte, daß ich mich durch nichts von ihr lösen wollte. Und dann dachte ich an Thaddeus, der von irgendwelchen Teufeln getrieben wurde, sich so zu geben, wie er war. Wir sind alle Gefangene unserer Bedürfnisse, und da Thaddeus viel größere Bedürfnisse als Alma oder Monk oder ich oder sonstwer hatte, kam ich nicht um das Gefühl herum, daß er sich noch viel heftiger an die Leine klammerte als wir anderen.
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7 Nach drei Tagen war der Mann der vielen Farben so weit geheilt, daß er mit den anderen fremden Wesen zur Schau gestellt werden konnte, auch wenn mir Mr. Ahasuerus sagte, daß die Farben noch lange nicht so leuchtend wie vor seiner Krankheit waren. Als die dreibusige Frau begriffen hatte, wofür sie von Thaddeus eigentlich ausersehen worden war, hielt sie sich vor den Gimpeln recht zurück. Wenn sich Thaddeus zeigte, gab sie sich ganz und gar jungfräulich. Die anderen machten ihre Arbeit, einige verbittert, andere eher resigniert. Ich glaube, sie erwarteten alle von Mr. Ahasuerus, er werde ihnen die Freiheit wie einen Hasen aus dem Hut zaubern, doch der blaue Mann war anscheinend weder willens noch fähig, etwas zu unternehmen. Schließlich war er auf einem fremden Planeten gestrandet, und den Weg zurück zu seinem Raumschiff hätte er wohl kaum ohne Hilfe von Erdbewohnern gefunden - und meiner Erfahrung nach zahlen die Leute lieber viel Geld, um sich sonderbare Wesen anzusehen, als ihnen zur Freiheit zu verhelfen. Nach einigen Tagen war Queenie der Ansicht, daß unsere »Freaks« - nur Thaddeus und ich wußten, welche Bewandtnis es mit ihnen hatte - eine Köchin brauchten und daß die Nackttänzerinnen auf eine Gewandmeisterin verzichten konnten. Sie richtete im Wohnzelt eine behelfsmäßige Küche ein und machte sich an die Arbeit. Das Essen für die Fremden wurde um einiges besser. Der Tag nach dem Wiederauftreten des Mannes der vielen Farben war Zahltag. Als der Jahrmarkt geschlossen hatte und die Fremden im Bett waren, suchte ich Thaddeus in seinem Wohnwagen auf, um mir mein Geld zu holen. Ich trat ein und sah, daß Jupiter Monk und Billybuck Dancer bei ihm waren. Sie saßen in der Runde und tranken Bier, und Thaddeus lud mich -76-
ein, mich zu ihnen zu setzen. Ich spürte, daß Thaddeus guter Laune war. Er hatte in den vergangenen vier Tagen mehr Geld eingenommen, als er je in den Fingern gehabt hatte. Er lächelte zufrieden, während Monk eine ergötzliche Geschichte aus der Zeit seiner ersten Jagdexpedition zum besten gab. »Brauchte fünfzehn Gibbons für irgendeinen Zoo«, erzählte Monk, »und den Jägern wurden verdammt viele Beschränkungen auferlegt. Ich durfte nicht einmal ein Gewehr mitführen. Wirklich! Schließlich stöbere ich eine riesige Horde Gibbons auf und gebe meinen Trägern und Fährtenlesern einige Befehle, aber die spucken marxistische Philosophie aus und streiken schließlich. Wir verhandeln zwei Tage, und die dann nichts wie auf und weg. Sie ließen mir nur einen Lastwagen, eine Reihe Holzkäfige und meinen Vorrat an Alkohol zurück. In meiner Lage blieb mir nichts anderes übrig, als die Gibbons betrunken zu machen. Ich mischte eine Riesenmenge Fruchtpunsch, würzte ihn mit Wodka und stellte ihn hin. Es dauerte einen Tag, bis sie näher kamen und zu trinken anfingen, aber nach ein paar Stunden war der ganze verdammte Haufe n so betrunken, daß keiner mehr gerade schauen konnte. Ich mußte sie nur noch zusammentreiben und in die Käfige stecken.« »Die haben das mit sich machen lassen?« fragte ich. »Na ja, ein paar waren so betrunken, daß ihnen gleich war, was ich mit ihnen anstellte. Andere ließen es auf einen Kampf ankommen, aber ich war nüchtern und sie betrunken. Ich wurde zwar ganz schön zerkratzt, aber nach einem halben Tag hatte ich meine fünfzehn Gibbons. Ich liefere sie also ab und krieg' einen Auftrag für zehn weitere. Und diesmal ziehe ich mit einem Fährtenleser aus der alten Zeit los, der noch nichts von Marx oder Engels oder Patrice Lumumba gehört hatte. Wir stöbern ein paar Gibbons auf, und ich hole den Verbandskasten raus und sage dem Mann, wie er mich verpflastern soll, wenn ich sie in -77-
die Käfige geschafft habe. Er lächelt ein bißchen und sagt, daß die Leute seit Jahrhunderten Affen betrunken machen und fangen, daß ich aber der erste bin, der lieber mit ihnen ringt, als die Getränke gleich in die Käfige zu stellen! Wir machten es also auf seine Art, hatten die Menge in einer Stunde beisammen.« Thaddeus lachte so heftig, daß ich dachte, er würde sein Bier verschütten. Der Dancer lächelte höflich, aber wie immer hatte ich das Gefühl, er sei in Gedanken räumlich wie zeitlich weit fort. »Was ist mit dir, Dancer?« sagte Monk. »Hast du mit deinen Pistolen mit den Perlmuttgriffen je Tiere geschossen?« »Ich schieße keine Tiere«, sagte er sanft und breit auf texanisch. »Was hast du davon, Kunstschütze zu sein«, drängte Monk, »wenn du nicht ab und zu auf die Jagd gehst?« »Ich mag nicht auf etwas schießen, was keine Möglichkeit hat, zurückzuschießen«, sagte der Dancer. »He, Dancer, stimmt es eigentlich«, sagte Thaddeus, »daß du unten in Südamerika einen Banditen mit der Pistole besiegt hast?« Der Dancer zuckte unverbindlich die Schultern. »Also, wenn ich das gewesen wäre, würde ich aber ganz sicher damit angeben«, fuhr Thaddeus fort. »Wenn man der Beste ist, will man, daß es alle Leute wissen.« »Wenn man der Beste ist«, sagte der Dancer höflich, »kümmert man sich kaum drum, was die anderen denken.« »Woran liegt dir denn etwas?« sagte Thaddeus. »Am Geld liegt dir ganz sicher nichts.« Er wandte sich an uns. »Wißt ihr, daß ich den Scheck mit dem Lohn jede Woche nach Hause zu seiner Mama schicke?« Er begann wieder zu lachen, aber etwas im Gesichtsausdruck -78-
des Dancers ließ ihn still werden. »Du gibst mir Essen und Wohnung und zahlst meine Patronen«, sagte der Dancer nach einer langen, ungemütlichen Pause. »Was soll ich mit Geld?« »Jeder braucht Geld«, sagte Thaddeus leidenschaftlich. Der Dancer schüttelte den Kopf. »Jeder möchte Geld haben. Das ist nicht das gleiche, Thaddeus. Was würdest du tun, wenn du all das Geld hättest, das du dir wünschst?« »Sofort den Laden hier aufgeben«, sagte Thaddeus inbrünstig. »Nein, das würdest du nicht tun, Thaddeus«, sagte der Dancer. »Ach?« »Du hast es gern, die Gimpel zu rufen, und du spielst liebend gern den Herrgott«, fuhr der Dancer fort. »Geld ist nur das Maß, wie gut du es machst.« Thaddeus starrte eine Weile in sein Glas. Dann war es an ihm, die Schultern zu zucken. »Vielleicht hast du recht. Daß ich bleibe, meine ich. Mit dem Geld hast du nicht recht. Wenn das Geld schon nichts bringt, so kann man sich dafür zumindest eine bessere Sorte Frauen kaufen.« »Die bessere Sorte Frauen würde dich rascher fallenlassen, als der Dancer seine Pistole ziehen kann«, lachte Monk. »Nicht alle sind so verständnisvoll wie Alma oder so erpicht auf Scheinwerferlicht wie einige der Mädchen aus den Orten, die du hier anschleppst, Thaddeus.« Thaddeus stieß ein rauhes, verächtliches Lachen aus. »Nicht alle Frauen finden sich damit ab, wie Dreck behandelt zu werden«, fuhr Monk unbeirrt fort. Thaddeus starrte Monk und den Dancer wütend an, wandte sich plötzlich an mich. »Nun?« wollte er wissen. -79-
»Was?« sagte ich. »Alle fallen sie über mich her. Wie steht's mit dir?« »Ich glaube kaum, daß du die Frauen anders als die Männer behandelst«, sagte ich vorsichtig. »Das meine ich ja gerade«, sagte Monk lächelnd. »Tojo, eine Schande, daß du so über deine Zunge stolperst und so klein bist. Die könnten dich im Außenministerium brauchen.« »Er ist mein Gesandter im Freakzelt«, sagte Thaddeus. »Da wir gerade von den Freaks sprechen, wie geht's denen?« fragte Monk. »Ich hatte schon seit Tagen keine Gelegenheit vorbeizuschauen.« »Ganz gut«, sagte ich. »Was macht der Regenbogenmann?« »Es geht ihm besser.« »He«, sagte Monk, »übrigens kein schlechter Name für ihn.« »Der Regenbogenmann?« wiederholte Thaddeus, ließ sich den Vorschlag durch den Kopf ge hen. »Ach, nicht fürs Publikum«, sagte Monk rasch. »Wie du ihn nennst, ist schon gut für die Leute. Aber in Anbetracht der Annahme, daß du die Monster nicht an Mr. Ahasuerus zurückgeben wirst -« Er schwieg, wollte hören, was Thaddeus sagen würde, aber der starrte ihn nur an. »- sollten wir ihnen Spitznamen für den Jahrmarktsgebrauch geben. Ich meine, wer geht schon hin und sagt›wie geht's, Gummimensch?‹. Ich glaube, wir sollten den Kranken Regenbogen nennen.« »Mir recht«, sagte Thaddeus. »Und den Gummimenschen?« »Einfach: Elasto«, versetzte Monk. »Vielleicht haben sie schon Namen«, sagte ich. »Vielleicht haben wir alle schon Namen«, sagte Monk. »Heißt du etwa Tojo?« »So heiße ich jetzt.« -80-
»Und ich Jupiter«, sagte Monk. »Ist doch nicht schlimm, den Monstern Namen zu geben?« »Allen, nur nicht dem blauen Mann«, sagte Thaddeus. »Weißt du, wie er heißt?« fragte Monk. »Nein«, sagte Thaddeus. »Ich möchte nur nicht, daß ihr mit ihm redet.« Nun, sie warfen eine halbe Stunde mit Einfällen um sich, während ich zuhörte und Billybuck Dancer in die Luft starrte. Sie fanden sieben weitere Namen. Regenbogen und Elasto, und der Junge mit dem Hundegesicht war Snoopy. Das menschliche Nadelkissen war Schießscheibe, der Affenmensch Dapper Dan. Der gehörnte Dämon war der Leibhaftige. Der Zyklop wurde mit wahrer Jahrmarktslogik zu Vier Augen, und der Eidechsenmann war der Alligator Albert (Monk war ein leidenschaftlicher Pogo-Fan, auch wenn diese Comicserie seit Jahren schon nicht mehr erschienen war; einmal zeigte er mir ein Notizbuch, in das er drei Jahre lang täglich die Streifen aus der Zeitung eingeklebt hatte). Und der Sphinx hieß Numa. Thaddeus meinte, das Wesen sehe mehr nach Pferd als nach Löwe aus, und fing einen Streit an, weil er es Hinkebein nennen wollte. Monk erklärte ihm, was es mit einem Sphinx auf sich hatte, bis Thaddeus schließlich nachgab. Da blieben noch die beiden Frauen. »Wenn du dir den Kopf der Elefantenfrau ansiehst, was fällt dir da ein?« »Daß ich was Schlechtes träume«, versetzte Thaddeus. »Also, wenn ich sie anschaue, denke ich an eine Wassermelone«, sagte Monk. »Ja, kann ich verstehen«, meinte Thaddeus. »Und wenn wir sie also Melone nennen?« »Nicht gut«, sagte Thaddeus und schüttelte den Kopf. »Wenn ich die Frau mit den drei Busen anschaue, sehe ich nichts als -81-
Melonen.« »Da ist was dran«, sagte Monk. »He, Dancer, was meinst du?« ', Sie blickten den Dancer an, der irgend etwas anstarrte, was nur er sehen konnte, und nichts von dem hörte, was besprochen wurde. »Heute nacht ist es schlimmer mit ihm als sonst«, bemerkte Thaddeus. »Meckere nicht«, sagte Monk. »Wir versuchen alle, nicht an den Jahrmarkt zu denken. Er kann es halt ein bißchen besser als die anderen.« »Ich kannte einen Jungen, damals als Kind in Kalifornien«, sagte Thaddeus. »Schließlich hörte er eines Tages auf zu essen, zu reden, sich zu bewegen. Sie mußten ihn in die Klapsmühle bringen. Das heißt, sie hoben ihn einfach an Ort und Stelle hoch und trugen ihn fort. Ich glaube, er wußte gar nicht, was mit ihm geschah.« »Du bist in Kalifornien aufgewachsen?« fragte Monk und ließ das Thema Dancer und sein tranceartiger Zustand fallen. »Ja. Du wirst doch noch einen Beachboy erkennen, wenn du einem gegenübersitzt?« »Was haben deine Eltern gemacht?« »Die waren geschieden. Meine Mutter war Krankenschwester. Meinen Vater hab' ich nie gut gekannt.« »Tot?« fragte Monk. »Denke ich mir. Verschollen.« »Was heißt das?« »In Vietnam nach Kampfhandlungen vermißt. Man hat nie herausgefunden, was mit ihm geschehen ist. Er war dort, als man uns noch›Berater‹nannte.« »Kein schönes Ende«, sagte Monk. »Gibt's in Kalifornien Jahrmärkte?« -82-
»Nicht wie der hier«, sagte Thaddeus. »Mit den Monstern jetzt gibt es sicher keinen zweiten Jahrmarkt wie den unseren.« »Das hab' ich nicht gemeint«, erwiderte Thaddeus. »Die haben Spielbuden und Riesenräder, aber irgendwie ist alles ein bißchen schäbig. Disneyland macht ihnen Konkurrenz.« »Keine Fleischbeschau?« »Nein, nein. Komisch, was? Die könnten doch drauf kommen, daß sie was zeigen müssen, was es in Disneyland nicht gibt, eine Stripschau, eine Monstrositätenschau.« »Vielleicht sollten wir nach Kalifornien rüber«, schlug Monk vor. »Zu viele Polizisten, die geschmiert werden wollen«, sagte Thaddeus. »Du hast jetzt die Freaks«, meinte Monk. »Du könntest die Mädchen aufgeben und dich an die Gesetze halten.« Einen Augenblick lang machte Thaddeus ein seltsames Gesicht, als überlegte er es sich wirklich. Dann verlor sich der sehnsüchtige Blick. »Zu viele Probleme«, sagte er schließlich, und ich wußte, daß er an Mr. Ahasuerus dachte. »Außerdem kommt durch die Mädchen mehr Geld rein als durch dich und den Dancer.« »Na ja, ich bin nicht mehr ganz taufrisch, aber meiner Meinung nach würde der Dancer den Mädchen nicht nachstehen, wenn er die Frauen machen ließe, was die Männer mit den Stripperinnen tun.« Ich warf rasch einen Blick auf den Dancer, aber er nahm noch immer nicht wahr, was gesprochen wurde. »Er würde sie vermutlich alle niederschießen«, antwortete Thaddeus und lachte trocken. »Ich frage mich, wie er gelernt hat, so gut mit der Pistole umzuge hen.« »Wieso fragst du ihn nicht?« sagte Monk. -83-
»Schau ihn dir an«, sagte Thaddeus. »Er ist drüben in Dodge City oder Tombstone, beschützt anständige junge Damen und ihre jungfräulichen Tanten vor den Brüdern Clanton.« Auf eine Wette hätte ich mich nicht eingelassen. Er hatte das geistesabwesende Gesicht eines Träumers in Aktion. Ich glaube, unser Beruf macht uns alle zu Träumern. Der Dancer läßt sich nur eher fallen. Und Monk träumt davon, in einer richtigen Zirkusarena aufzutreten, Alma träumt von der Ehrbarkeit, und Thaddeus träumt von weiß Gott was. Und ich - ich träume davon, einen Meter achtzig zu sein und klar zu sprechen. Das einzig Gemeinsame ist, daß wir unsere Träume nie wahr machen werden. »Na ja«, sagte Monk, nahm einen letzten Schluck und stellte das leere Glas auf den Tisch, »ich muß gehen und für Sauberkeit bei meinen Tieren sorgen.« »Nimm Wild Bill Hickok mit«, sagte Thaddeus. Monk stieß den Dancer an der Schulter an, und der erhob sich mit der Grazie eines Leoparden. »Danke für das Bier, Thaddeus«, sagte er, legte die Finger an seinen breiten Hut und lief zur Tür. Monk lachte leise, schüttelte den Kopf und ging ihm nach. »Was ist mit dir?« fragte mich Thaddeus. »Sind all deine Tiere sauber?« »Das sind keine Tiere«, sagte ich. »Was macht die Elefantenfrau? Hast du eine Möglichkeit gefunden, wie du sie baden kannst?« »Ja. Als Gloria in die Stadt zum Einkaufen fuhr, habe ich sie in eine Tierhandlung geschickt. Sie hat eine Art Trockenshampoo geholt, mit denen die Hunde bei Ausstellungen behandelt werden.« »Schön«, sagte Thaddeus. »Wundert mich, daß du dich interessierst«, sagte ich. -84-
Ihm war unbehaglich zumute. »Ich muß meine Geldanlage pflegen«, sagte er hastig. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, aber seinem Verhalten nach zu schließen wollte er weitersprechen. »Du hast nie erwähnt, daß du aus Kalifornien kommst«, sagte ich, um ein Gespräch in Gang zu bringen. »Ist das so schwer zu glauben?« »Nein. Du hast nur noch nie von deiner Vergangenheit gesprochen.« »Sie spielt keine Rolle«, sagte er. »Nur heute und morgen zählen. Wenn man anfängt, über gestern nachzudenken, wird man höchstwahrscheinlich so wie der Dancer.« »War es dort angenehm?« »Wärmer war's«, sagte er lächelnd. »Und die Mädchen - also das Lied stimmt. Die Mädchen in Kalifornien sind wirklich anders. Ich lag immer am Strand und sah zu, wie sie vorbeihüpften und fast aus ihren Bikinis sprangen. Es war angenehm, so aufzuwachsen. Ich verrate dir was, Tojo: Die Mädchen in Kalifornien sagen nie nein. Niemals.« Er lehnte sich mit halbgeschlossenen Augen zurück, lächelte, als durchlebe er wieder die Tage in der Sonne. Plötzlich setzte er sich auf. »Ich verrate dir noch was: Nicht eines von ihnen würde in einer Fleischbeschau arbeiten. Die haben zuviel Klasse.« »Du solltest nicht so über die Stripschau reden«, sagte ich. »Das sind anständige Menschen, Alma und die anderen - und sie bringen dir Geld.« »Du siehst das alles falsch, Tojo«, sagte er. »Eines Tages wird es dich noch verrückt machen.« »Was meinst du?« »Anständige Leute verdienen so nicht ihren Lebensunterhalt«, sagte er langsam und nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. -85-
»Du hast gehört, wie sie selber drüber reden. Als ob sie die Zuschauer wären, und das Publikum die Darsteller. Es ist die einzige Möglichkeit, bei dieser Art Leben nicht verrückt zu werden. Sie müssen alle Gefühle in sich ersticken. Du mußt es genauso machen. Wenn du sie als anständige Menschen betrachtest, kannst du sie plötzlich nicht so weitermachen lassen, und was würde dann aus uns allen werden?« Er schien auf einmal verlegen zu werden, als sei er mit seinen Worten zu weit gegangen. »Red von was anderem, du verdammter Zwerg«, sagte er ärgerlich. »Und hör auf, mich so anzustarren.« »Welches Gesprächsthema soll's denn sein, Thaddeus?« fragte ich ihn. »Weiß ich nicht. Was machen die Monster?« »Die sind unglücklich. Und sie sind keine Monster - sie sind fremde Wesen.« »Wie du willst«, murmelte er. Er leerte sein Bier und öffnete ein neues. »Warum, zum Teufel, kamen die überhaupt her? Ich meine, dort, wo die herkommen, kann's doch gar nicht so grauslich sein.« »Aus Neugierde«, sagte ich. »Genau wie die Mädchen«, sagte er. »Das Publikum soll ihnen die Schau liefern.« Er runzelte die Stirn, und mir war klar, daß er den Vergleich weitergeführt und begriffen hatte und daß er damit gezwungen war, sie wie die Stripperinnen zu sehen. »Also hör mal, heute nacht leistest du mir nicht gut Gesellschaft, wirklich«, sagte er.»Tut mir leid.« Er erhob sich schwankend. »Ich glaube, ich mache mich auf die Suche nach Alma und bringe sie her«, verkündete er. »Keine gute Idee, glaube ich«, sagte ich. -86-
»Und warum, zum Teufel, nicht?« »Sie hat eine Wut auf dich.« »Na, großartig«, sagte er. »Sie hat immer eine Wut auf mich.« »Diesmal ist es anders.« »Es ist jedesmal anders«, sagte er und schlurfte zur Tür. Ich trat rasch vor die Tür. »Nicht, Thaddeus«, sagte ich. »Du verbirgst mir was, du kleiner Tropf«, sagte er. »Was ist los?« »Nichts.« »Raus damit!« schrie er. »Sie verbringt die Nacht in Queenies Wohnwagen«, sagte ich leise. »Willst du damit etwa sagen, daß sie ein bißchen lesbisch ist?« wollte er wissen und lachte grob und ungläubig. »Ich bin nämlich zufällig in der Lage, genau sagen zu können, daß sie es nicht ist.« »Nein«, sagte ich. »Ich will damit nur sagen, daß sie verletzt und einsam ist und einen Weg gefunden hat, sich weniger verletzt und einsam zu fühlen.« Er runzelte wieder die Stirn, und einen Moment lang dachte ich, er würde mich schlagen. Dann ließ er einen tiefen Seufzer hören und ging zu seinem Sessel zurück. »Du nimmst mich wirklich nicht auf den Arm«, sagte er ruhig nachdem er geraume Zeit aus dem Fenster gestarrt hatte. »Nein, Thaddeus.« »So sehr haßt sie mich?« »Das ist keine Frage von Liebe oder Haß«, sagte ich. »Es geht um Bedürfnisse.« »Aber Queenie, um Himmels willen?« -87-
»Queenie kümmert sich um sie.« »Queenie kann es sich leisten, sich um sie zu kümmern«, sagte er bitter. Wir blieben stumm, während er noch zwei Bier trank und sich über eine Flasche Whisky hermachte. Er sank bald um, plötzlich und ohne jede Vorwarnung. Ich wußte, ich war nicht kräftig genug, ihn ins Bett zu tragen oder ihn auch nur dorthin zu schleppen. Ich breitete also eine Wolldecke über ihn, machte das Licht aus und kehrte ins Wohnzelt zurück. Vielleicht träumte er von Alma oder den kalifornischen Mädchen mit der goldenen Haut, die geschmackvolle Bikinis trugen, sanft geschwungene Busen zeigten, leicht erröteten und die lebten und starben, ohne jemals erfahren zu haben, daß es überhaupt Menschen wie Alma gab.
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8 Der Zyklop - wir alle nennen ihn jetzt Vier Augen - war am nächsten Morgen sehr krank. Mr. Ahasuerus rüttelte mich kurz vor Anbruch der Dämmerung wach, entschuldigte sich für die Störung und führte mich zu Vier Augen, der in einiger Entfernung saß. Ich brauchte kein Arzt für fremde Wesen zu sein, um zu sehen, daß es ihm schlechtging. Er zitterte heftig, seine Pupille war sehr geweitet, die Zunge belegt, Schweiß rann über seinen Leib, und er fühlte sich heiß an. »Seit wann geht es ihm so?« fragte ich. »Seit etwa zwei Stunden«, sagte Mr. Ahasuerus. »Ich wollte Sie nicht belästigen, aber es ist so ernst, daß man sich um ihn kümmern muß.« »Was ist mit ihm?« »Ich glaube, sein Körper wehrt sich schließlich doch gegen das Essen, das er zu sich nimmt«, erwiderte Mr. Ahasuerus. »Als ich Ihnen mitteilte, daß wir Ihre Speisen in gewissem Umfang ertragen können, vergaß ich, darauf hinzuweisen, daß wir insgesamt nicht länger als vierzehn Tage auf Ihrem Planeten bleiben wollten.« »Wie lange sind Sie schon hier?« »Erst elf«, antwortete er, »aber offenbar belastet es einige von uns mehr als andere.« Ich warf wieder einen Blick auf Vier Augen. »Ich hole besser Thaddeus«, sagte ich und eilte zu seinem Wohnwagen. Er lag, wie ich ihn verlassen hatte, auf einer schmalen Couch. Ich weckte ihn und sagte ihm, daß er am besten sofort ins Wohnzelt kommen sollte. -89-
Wenn er einen Kater hatte, konnte es eine Stunde dauern, bis er sich aus dem Bett gewälzt hatte. Ich hatte ihn schon tief schlafen sehen, obwohl vor seinem Fenster draußen Monks Löwe brüllte. Aber wenn man erwähnte, daß auf dem Jahrmarkt etwas nicht in Ordnung war, konnte er in zehn Sekunden auf und hellwach sein. Da er noch angekleidet war, genügte es, ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen, und schon rannte er los. Ich nehme an, er glaubte, Mr. Ahasuerus habe zu einem Aufstand aufgerufen, denn er machte ein überraschtes Gesicht, als er bei seiner Ankunft bemerkte, daß es im Zelt der Fremden ganz ruhig war. »Was ist los?« fragte er mich. »Vier Augen«, sagte ich. »Er ist sehr krank.« »Wer, zum Teufel, ist das denn?« »Der Zyklop. Du hast ihm gestern nacht den Namen gegeben.« »Ach ja. Richtig.« Er lief zu Vier Augen und wandte sich an Mr. Ahasuerus. »Wie schlecht geht es ihm eigentlich?« wollte er wissen. »Weiß ich nicht«, antwortete Mr. Ahasuerus. »Und warum, zum Teufel, nicht?« knurrte Thaddeus. »Sie sind doch der verdammte Reiseleiter, oder?« »Ich bin kein Arzt«, sagte Mr. Ahasuerus. »Und er braucht einen.« »Also, zufällig haben wir keine Ärzte, die Spezialisten für vieräugige Marsmenschen sind«, sagte Thaddeus. Er faßte nach der Hand von Vier Augen und fühlte den Puls. »Welcher Pulsschlag ist bei ihm normal?« »Ich habe keine Ahnung«, antwortete der blaue Mann. »Wissen Sie überhaupt irgend etwas über ihn?« fragte Thaddeus verächtlich. -90-
»Ich glaube, das Essen hat ihn krank gemacht.« »Wie ich sehe, ist sonst niemand davon krank geworden«, sagte Thaddeus, »oder haben Sie alle vor, mit schäumendem Mund zusammenzubrechen?« »Wir sind alle verschieden«, sagte Mr. Ahasuerus. »Wir sind in einer uns fremden Umgebung. Sie wirkt auf jeden von uns anders.« Thaddeus ließ die Hand von Vier Augen fallen und runzelte die Stirn. »Versuchen Sie herauszubekommen, was er braucht, und wir werden uns bemühen, es aufzutreiben.« »Er braucht Freiheit«, zischte der Alligator Albert. »Freiheit kann man nicht essen«, sagte Thaddeus kühl. Er sagte zu Mr. Ahasuerus: »Sie müssen herausbekommen, was es ist: Kalium, Jod, Schlagsahne oder was immer.« »Und wenn er das nicht beantworten kann?« fragte Mr. Ahasuerus. »Dann müssen Sie sich überlegen, wer mehr schuld hat - Sie oder ich«, sagte Thaddeus. Er drehte sich um und wollte das Zelt verlassen. Ich schlurfte hinter ihm her und holte ihn am Eingang ein. »Thaddeus, ich glaube, er liegt im Sterben«, sagte ich. »Bockmist«, sagte Thaddeus. »Er hat Bauchweh.« »Aber -« »Schau mal«, sagte er, »wenn ihn unser Essen sofort umbringen würde, wäre er schon tot. Wenn es ihn langsam tötet, hat er Selbstmord begangen, und wir können nichts mehr rückgängig machen. Und wenn er ein Selbstmörder wäre, hätte er schon früher versucht, sich das Leben zu nehmen, also ist das, was er hat, Bauchweh. Es ist wahrscheinlich so wie mit schwerem Essen: Eine Mahlzeit ist okay, drei sind okay, und zwanzig nacheinander bringen dich an den Punkt, wo du am liebsten sterben würdest. Versuch herauszubekommen, was er -91-
braucht, und gib es ihm. Und laß ihn um Himmels willen nicht wieder Queenies Essen versuchen, wenn er sich erholt hat.« »Hoffentlich hast du recht«, sagte ich. »Ich hab' recht«, sagte er selbstsicher. »Und du teilst dem Blödmann mit, daß ich ihn spätestens morgen abend zur Arbeit zurückerwarte.« Es stellte sich heraus, daß vier Augen gewaltige Mengen an Eisen und Natrium brauchte. Als ich das von Mr. Ahasuerus erfahren hatte, ließ ich Gloria eine Menge davon besorgen, und schon nach ein paar Stunden ging es dem Kranken merklich besser. Zwei Tage lang ging alles glatt. Dann brach der erste Schneesturm des Winters über uns herein. Der Wind peitschte mit achtzig Stundenkilometern übers Land. Überall türmte sich der Schnee, so daß wir vor Einbruch der Dämmerung schließen mußten. Irgendwann während der Nacht brach eine der Stromleitungen zusammen. Die Männer vom Elektrizitätswerk hatten sie nach ein paar Stunden repariert, doch Regenbogen war inzwischen wieder hellblau geworden. »Weshalb, zum Teufel, haben Sie ihn mitreisen lassen?« wollte Thaddeus von Mr. Ahasuerus wissen, als er sich den Mann der vielen Farben angesehen hatte. »Irgendeine Form von Lebenskraft habe ich bei ihm noch nicht entdeckt.« »Unter normalen Umständen wäre es ihm gutgegange n«, sagte Mr. Ahasuerus leise. Thaddeus sah ihn zornig an. »Es hätte schon vor einer Woche schneien können.« »Hat es aber nicht«, versetzte Mr. Ahasuerus. Thaddeus wandte sich an mich. »Geh zu dem Wohnwagen der Mädchen und schau nach, ob jemand eine elektrische Bettdecke hat. Wenn nicht, besorgst du dir ein paar Wärmflaschen.« -92-
»Danke«, murmelte Regenbogen. »Dank ist überflüssig. Ich sichere nur meine Geldanlage«, knurrte Thaddeus. Er blickte sich im Zelt um. »Regenbogen bleibt hier. Alle anderen arbeiten. Wir fangen schon mittags an.« Er ging ohne ein weiteres Wort. Ich konnte von Gloria eine elektrische Bettdecke leihen. Ich schloß sie an und zeigte Regenbogen, wie man die Temperatur regelte. Es war gegen halb elf, und ich beschloß zu frühstücken, bevor die Schau begann. »Ich begreife ihn nicht«, sagte der Leibhaftige, als er zu mir kam und sich neben mich setzte, während ich etwas Rührei und Speck aß, die Queenie zubereitet hatte. Ich widerstand dem Zwang, von ihm abzurücken. Die letzten Wochen hatte ich mich bemüht, die meisten der fremden Wesen kennenzulernen, doch vor dem Leibhaftigen hatte ich Angst. Es war nicht die Furcht, die mir Mr. Ahasuerus zunächst eingeflößt hatte, sondern eine tiefere, rätselhaftere. Er war vermutlich ein sehr anständiges Wesen, und jemand hatte mir gesagt, daß er zu Hause auf seinem Heimatplaneten ein Mathematiker und Dichter war, aber die rötliche Farbe und die beiden großen Hörner an der Stirn gaben ihm ein teuflisches Aussehen. Thaddeus hatte ihn in roten Satin und einen schwarzen Umhang gehüllt, und er sah aus, als gehöre er auf den Thron der Hölle. »Sie meinen Thaddeus?« fragte ich und lehnte mich ein wenig zurück. »Ja«, sagte der Leibhaftige. »Sie sind ein anständiger Mensch, und Sie hassen ihn nicht, und so hat er zweifellos auch bewundernswerte Eigenschaften.« Ich hätte schwer überlegen müssen, welche das wohl wären, und so starrte ich ihn einfach an und wartete, daß er weitersprechen würde. »Dennoch finde ich, daß er aus einer Masse von Gegensätzen -93-
besteht«, fuhr der satanische Fremde fort. »Er kümmert sich um unsere Krankheiten, aber läßt uns nicht frei. Er läßt seine Gefährtin Dinge tun, die in Ihrer Gesellschaft als Erniedrigung angesehen werden, aber er läßt sich von ihr überzeugen, daß die Frau mit den drei Busen diese Erfahrung nicht machen soll. Er behandelt uns wie Tiere, aber gestern wollte er einen Besucher körperlich angreifen, weil der eine Bemerkung fallenließ, die weit weniger beleidigend war als die, die er ständig von sich gibt. Weshalb?« Ich zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Das Leben ist nicht so einfach, wie ich einmal dachte. Und, nur zur Information, Alma ist nicht seine Gefährtin.« »Aber ich meinte, er hätte gesagt...« »Er sagt nicht immer die Wahrheit«, klärte ich ihn auf. »Wird er uns je freilassen?« fragte der Leibhaftige. »Das weiß ich nicht«, teilte ich ihm wahrheitsgemäß mit. »Früher oder später werden wir anfangen zu sterben«, sagte er ungerührt. »Die Nahrung, die Luft, die Temperatur, die Schwerkraft, die Belastung werden uns erledigen. Er wird den Tod von zwölf denkenden Wesen herbeiführen. Macht ihm das keine Unruhe?« Ich wußte nicht, was ich ihm antworten sollte, und schwieg. »Nein, vermutlich macht es ihn nicht unruhig«, fuhr der Leibhaftige fort. Er stieß, wie es schien, einen Fluch aus. »Ich sehne mich nach meiner Gefährtin und meinen Kindern. Ich muß zurück zu meiner Arbeit. Was soll ich tun?« »Ich bin überrascht, daß Sie nicht versucht haben, zu fliehen«, sagte ich so gleichgültig wie möglich. »Weshalb fliehen?« sagte er. »Ach, wir könnten hier fort, selbst Flint würde uns nicht aufhalten. Aber wo sollen wir hin? Was sollen wir tun? Wir würden unsere Raumfähre nie finden, und schon bald würden Ihre Leute auf uns aufmerksam.« -94-
»Wäre das denn so schrecklich?« fragte ich. »Ich persönlich ha lte es auch nicht für schrecklich, aber man sagte mir, die paar Welten, die auf uns aufmerksam gemacht wurden, hätten sich aufgrund dieses Wissens auf unnatürliche Art gewaltig geändert. Vor der Abreise von unserem Planeten mußten wir einen heiligen Eid schwören, die Geheimhaltung um jeden Preis zu wahren.« Er wirkte plötzlich nicht mehr so satanisch. »Da sind Sie ja in Teufels Küche«, sagte ich. Er verstand mich freilich nicht, und ich mußte ihm erklären, was der Teufel ist. Er war ziemlich belustigt. »In unserer Religion gibt es drei Teufel«, sagte er lächelnd. »Einer sieht genau wie Monk aus, und ein anderer könnte eine Kusine von Alma sein.« »So verstehen Sie hoffentlich, warum ich in Ihrer Gegenwart ein bißchen nervös bin«, sagte ich. »Sehr genau haben Sie mich nicht angesehen, als wir von Monk in die Käfige geführt wurden«, sagte der Leibhaftige. »Ich zitterte vor Angst so sehr, daß ich meinte, in Ohnmacht zu fallen.« »Drei Teufel«, sagte ich. »Eine Menge Schreckgespenster zum Fürchten.« »Und keiner sieht wie Flint aus«, sagte er und starrte zum Eingang. Dann fügte er mit verträumter Stimme hinzu: »Ist das nicht merkwürdig?« Er blieb noch ein wenig schweigend sitzen, ging dann fort. Ich sah nach Regenbogen, der ernste Beschwerden zu haben schien. Ich konnte aber nichts für ihn tun und lief schließlich in die behelfsmäßige Küche und bat Queenie um eine Tasse Kaffee. »Ah, der Helfershelfer kommt«, sagte sie verächtlich.
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»Ich bin nicht sein Helfershelfer, Queenie«, sagte ich. »Gefällt dir›Lakai‹besser?« fragte sie. »Ich ziehe Tojo vor«, sagte ich. »Mein Name.« »Ist der dir von ihm verliehen worden?« »Und wenn schon?« »Namen kann er gut erfinden«, sagte Queenie. »Er sagt einem Mädchen, das es nicht besser weiß, daß er sie liebt, und dann nennt er sie Honeysuckle Rose und läßt sie auf die Bühne raus, wo sie weiß Gott was mit einem Haufen verkorkster, zurückgebliebener Hinterwäldler anfangen muß!« »Ich weiß nicht, was du von mir dazu hören willst.« »Ich möchte, daß du ihn einen bösartigen Dreckskerl nennst, dem man die Eier kappen müßte!« fuhr sie mich an. »Nur einmal möchte ich erleben, daß du gegen ihn aufstehst!« »Du arbeitest noch für ihn«, stellte ich leise fest. »Nur weil Alma noch hier ist«, sagte sie. »Er hat ihren Kopf so durcheinandergebracht, daß sie nicht mehr weiß, was sie machen soll. Ich sag' dir aber eins: Wenn er meine Alma noch mal anfaßt, bring' ich ihn um!« »Ist sie jetzt deine Alma?« fragte ich.« »Allerdings.« »Und sie ist damit einverstanden?« »Sie war nicht dagegen.« Sie reckte ihr Kinn vor. »Hast du was dagegen?« »Wenn sie glücklich ist, nein«, sagte ich. »Ich werde sie glücklicher machen als er, das ist klar«, sagte Queenie. »Wird sie in der Schau weiterarbeiten?« »Ihr ist es gleich, was man mit ihr macht«, sagte Queenie, und einen Augenblick glaubte ich, ihr würden die Tränen kommen. Ihr Gesicht verhärtete sich wieder. »Thaddeus hat sie so weit -96-
gebracht. Wenn es ihr nicht mehr gleich ist, wird sie kündigen.« »Das hoffe ich auch«, sagte ich. »Das weiß ich«, antwortete sie sanft. »Tut mir leid, Tojo. Manchmal kann ich einfach nicht klar zwischen euch beiden unterscheiden. Mein Gott, weißt du, wie das ist, wenn man mit ihr im Bett liegt und man sieht sie zum Fenster hinaus zu seinem Wohnwagen blicken und die Tränen rinnen ihr übers Gesicht?« »Ich weiß, wie ihr Gesicht mit Tränen aussieht«, sagte ich. »Das ist nicht dasselbe.« »Nein, wahrscheinlich nicht«, antwortete ich leise. Ich dankte ihr für den Kaffee und verbrachte die nächste Stunde auf einem Stuhl neben Regenbogen. Ich wartete, daß er seine Farbe ändern würde. Die Farbe blieb gleich, aber er schien sich ein bißchen besser zu fühlen. Mittags begleitete ich die anderen fremden Wesen ins Zelt der Monstrositätenschau. Thaddeus kam zehn Minuten zu spät und wirkte sehr aufgeregt. Sein Schwatzen ging daneben, und er hätte sich fast mit einem Zuschauer gestritten. Kurz vor drei Uhr befahl er Swede, der die Karten verkaufte, er solle den Schalter schließen. Nachdem er die letzten Zuschauer durchgeschleust hatte, ließ Thaddeus mich die Fremden ins Wohnzelt zurückbringen. Er kam nach und spie beinahe Flammen. Den Aufpassern befahl er, draußen zu warten. Dann ließ er die Fremden vor sich treten und sah sie unheilvoll lächelnd an. »Ich bin eben aus Vermont angerufen worden«, sagte er und blickte von einem Fremden zum nächsten. »Heute morgen wurde Romany freigelassen.« Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Er sagte, er würde in Maine nach uns suchen.« Keiner der Fremden sagte etwas dazu, keiner bewegte sich. »Ich hab' mir das durch den Kopf gehe n lassen«, sagte Thaddeus. -97-
»Wie, zum Teufel, kommt er drauf, in Maine nach uns zu suchen, wenn einem die Vernunft sagt, daß wir sicher nach Süden gezogen sind, wenn nach seiner Verhaftung nicht einmal ich wußte, daß wir nach Maine fahren würden? Ich hab' der Polizei nicht gesagt, wir würden nach Maine ziehen, und ich weiß, daß es keiner von Ihnen gesagt hat. Wie kann er es also wissen?« Stille. »Er weiß es«, sagte Thaddeus triumphierend, »weil einer von euch verdammten Freaks ein Telepath ist! Ihr habt ihm gesagt, wo wir uns befinden, und ihr werdet ihn Schritt für Schritt herführen!« Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte sie finster an. »Na schön«, sagte er. »Wer ist es?« Keine Bewegung. »Jemand wird sich eine Menge Scherereien zuziehen«, sagte er. »Da passiert ganz bestimmt was, entweder ihm allein oder allen.« »Wir sind entführt und schlecht behandelt worden«, sagte Mr. Ahasuerus schließlich. »Sie haben uns leiblich wie geistig in eine Notlage gebracht. Womit wollen Sie uns da noch drohen?« »Sie sind noch am Leben«, sagte Thaddeus hart. »Das muß nicht unbedingt so bleiben.« »Sie werden uns nicht töten«, sagte Mr. Ahasuerus und lächelte gequält. »Was würde aus Ihrem Gewinn?« »Überlegen Sie sich mal, ob ich mit sechs Monstern spürbar weniger Gewinn als mit zwölf machen werde, und wenn Sie eine Antwort haben, lassen Sie's mich wissen«, sagte Thaddeus. »Und Sie überlegen sich, wie Sie uns vorführen wollen, wenn wir zum Beispiel in einen Hungerstreik treten«, sagte Mr. -98-
Ahasuerus. »Eine semantische Frage«, sagte Thaddeus. »Ich verstehe nicht.« »Ob Sie einen Hungerstreik anfangen oder ob ich Sie auf Hungerdiät setze, das Resultat bleibt das gleiche: Sie werden verdammt wenig zu essen kriegen.« »Was sein muß, muß sein«, sagte der blaue Mann. »Überlegen Sie es sich gut«, sagte Thaddeus. »Was meinen Sie, wie lang es der Regenbogenmann in seinem jetzigen Zustand ohne Nahrung aushält? Wie lange kommt der Zyklop ohne seine Pillen klar? Ich möchte heute noch eine Antwort!« Er drehte sich zu mir. »Du kommst mit mir!« knurrte er. Er lief aus dem Zelt und eilte zu seinem Wohnwagen. Ich hielt es für nutzlos, mich ihm zu widersetzen, und heftete mich an seine Fersen. Ich erwartete, er würde zu schimpfen und zu schäumen beginnen und Sachen an die Wand werfen, aber er setzte sich bloß mit einem selbstzufriedenen Lächeln auf seine Couch. »Ich nehme an, das hat ihnen eine Riesenangst eingejagt!« lachte er leise und steckte sich eine Zigarette an. »Du hast es nicht ernst gemeint?« fragte ich. »Selbstverständlich nicht! Zum Teufel, niemand wird Geld rausrücken, nur um ein paar sterbende fremde Wesen zu sehen.« »Warum hast du dann so geredet?« »Man muß ihnen zeigen, wer der Boß ist, Tojo«, sagte er. »Außerdem wollte ich nicht, daß sie mich für blöd halten und meinen, ich wüßte nicht, was vor sich geht.« »Aber wenn sie merken, daß du nichts unternimmst -« »Meine Güte, du bist so blöd wie die!« sagte er ärgerlich. »Glaubst du wirklich, ich blase mich so auf und lasse keine Taten folgen?« -99-
»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte ich. »Ich sagte ihnen, ich möchte wissen, wer der Telepath ist«, sagte er grinsend. »Sie werden es mir sagen.« »Die werden es dir nie sagen«, meinte ich. »Ich weiß es schon«, sagte er lachend. »Es kann nur das Nadelkissen sein.« »Schießscheibe?« sagte ich. »Bist du dir sicher?« »Er ist der einzige, der nie redet. Wie soll er denn sonst mit ihnen Verbindung aufnehmen?« »Warum hast du es ihm nicht auf den Kopf zugesagt?« »Teilen und herrschen«, sagte Thaddeus. »Ich werde sie mir einzeln vorknöpfen. Wenn ich es hinter mir habe, werde ich verkünden, daß es mir einer gesagt hat.« »Weshalb denn?« »Bei jedem hat sich eine Menge Zorn und Argwohn angestaut«, sagte er. »Warum sollen sie sich immer an einem ehrlichen Geschäftsmann wie mir abreagieren, der nur seine Arbeit tut? Eine kleine Meinungsverschiedenheit, ein bißchen Mißtrauen, ein wenig Zweifel an den Mitstreitern, und alles müßte ein bißchen glatter laufen. Wer, zum Teufel, wird eine Revolution anzetteln, wenn sich in den eigenen Reihen ein Spion verbirgt?« Ganz tief hatte ich es vermutlich die ganze Zeit gewußt, aber in diesem Augenblick begriff ich ohne den geringsten Anflug eines Zweifels, daß Mr. Ahasuerus und die anderen auf jemand gestoßen waren, der ihnen mehr als ebenbürtig war.
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9 Thaddeus befragte die Fremden der Reihe nach und verkündete anschließend, daß ihm einer verraten hatte, wer der Telepath sei. Er lehnte sich zurück, um das Theater zu genießen. Sie sprachen nicht viel, aber ich spürte, daß die Spannung im Wohnzelt erneut zugenommen hatte. Außerdem hatte ich das Gefühl, Mr. Ahasuerus wisse genau, was gespielt werde, aber aus irgendwelchen Gründen unterließ er es, seine Genossen über den wahren Sachverhalt aufzuklären. Regenbogen ging es weder besser noch schlechter, und als sich Vier Augen wieder völlig erholt hatte, war der nächste Fremde krank. Diesmal war es Kalebasse - diesen Namen hatte Monk schließlich für die Elefantenfrau gefunden. (Mir gefiel er; er war weiblich und beschrieb ihren Kopf so gut wie vielleicht kein zweites Wort.) Es stellte sich heraus, daß sie mit einem ernsten Hautausschlag auf das Trockenshampoo reagiert hatte, das wir ihr besorgt hatten. Aber ihre Haut war von so seltsamer Beschaffenheit und Farbe, daß sie zwei Tage krank war, bevor wir der Sache auf den Grund kamen. Thaddeus wollte sie sofort waschen und den Ausschlag mit einer Salbe behandeln, aber Mr. Ahasuerus meinte, das Wasser würde noch viel ärgere Folgen als das Hundeshampoo haben. »Also, womit können wir sie dann behandeln?« wollte Thaddeus wissen. »Man muß ihr Zeit lassen«, erwiderte der blaue Mann. »Ich glaube, jede ungewohnte Substanz - und Sie begreifen sicher, daß alle Ihre Substanzen fremd für sie sind - wird ihren Zustand nur noch mehr korrumpieren.« Ich glaube kaum, daß Thaddeus wußte, was›korrumpieren‹bedeutete, doch brummte er zustimmend und befahl Kalebasse, im Zelt zu bleiben, bis es ihr besserginge. -101-
Da Regenbogen noch nicht wieder auf dem Posten war und Thaddeus ein Auftreten von Mr. Ahasuerus nicht erlaubte, konnten dem Publikum wegen der kranken Kalebasse nur neun fremde Wesen gezeigt werden. Die Einnahmen gingen ein wenig zurück. Ich machte das schlechte Wetter und die Tatsache dafür verantwortlich, daß wir schon länger als eine Woche in der Stadt waren, doch Thaddeus war überzeugt, die Abwesenheit zweier angekündigter Monster habe einige Leute zu dem Schluß geführt, daß bei den beiden der Schwindel aufgeflogen sei. Er hielt es für absolut erforderlich, sie wieder auszustellen, und verbrachte viel Zeit im Wohnzelt, ihre Behandlung zu überwachen. Kalebasse ließ sich von ihm nicht berühren und wich schon zurück, wenn er nur in ihre Nähe kam. Regenbogen war es aber ziemlich gleich, wer was mit ihm machte, wenn ihm nur ein bißchen wärmer wurde. Als ich eines Abends eintrat, sah ich Thaddeus, der Hemd und Jacke auf den Boden gelegt hatte, mit schweißbedecktem Körper dem Mann der vielen Farben eine kräftige Massage geben. Dabei belebte sich der Farbton Regenbogens. Wenn er aber aufhörte, um eine Pause zu machen, wurde die Farbe wieder blasser. Es war wie ein Zermürbungskrieg, den Regenbogen endlich gewann, da Thaddeus trotz seiner Stärke und Kraft nicht die ganze Nacht dem Körper Regenbogens Leben und Farbe einmassieren konnte. »Wie fühlen Sie sich jetzt?« fragte er keuchend, als er den Kampf schließlich aufgegeben hatte. »Besser, danke«, sagte Regenbogen, obwohl die Farbe seine Worte Lügen strafte. »Wie heiß wird es denn dort, wo Sie leben?« fragte Thaddeus, griff nach einem Handtuch und rieb sich trocken. »Das ist irgendwie relativ«, sagte Regenbogen schwach. »Mir kommt es gar nicht heiß vor, aber Sie würde es wahrscheinlich -102-
umbringen.« »Wieso sind Sie dann ausgerechnet hierhergekommen?« fuhr Thaddeus fort. »Ich wollte es sehen«, sagte Regenbogen. »Jetzt haben Sie es gesehen. Hat sich die Reise gelohnt?« »Nein«, sagte Regenbogen. »Nein, es hat sich nicht gelohnt.« Er blickte zu Thaddeus auf. »Werden Sie uns je freilassen?« »Das soll noch eins der kleinen Geheimnisse des Lebens bleiben«, sagte Thaddeus. Er zog sich sein Hemd über und kam zu mir. »Wenn du später nichts zu tun hast, kannst du ihn noch mal massieren«, sagte er. »Viel hat es nicht genützt«, antwortete ich. »Schau ihn dir an.« »Es gibt eine alte Geschichte von einer Spinne, die immer wieder versuchte, über einen Abgrund zu springen oder aus einer Grube herauszuklettern oder so«, sagte Thaddeus. »Ich weiß nicht mehr genau, wie es weiterging, aber der springende Punkt ist, wenn du nicht versuchst und versuchst, Regenbogen wieder zum Auftreten zu bringen, jag' ich dich mit Fußtritten über die Budenstraße.« »Na schön, Thaddeus«, sagte ich. »Ich mach's.« »Ich wußte, ich kann mich auf dein christliches Mitgefühl verlassen«, lachte er und verließ das Zelt. Ich massierte Regenbogen nachts noch einmal, dann wieder am Morgen, und seine Farbe wurde seltsamerweise nach jeder Behandlung ein wenig besser. Als ständig weniger Zuschauer kamen, beschloß Thaddeus endlich weiterzuziehen. Er meinte, wir müßten mindestens hundert Meilen fahren, da Maine so dünn besiedelt ist, daß die meisten unserer Zuschauer mehr als eine Stunde bis zu uns fuhren. Er rief den Wetterdienst an, erkannte, daß es zu kalt war, -103-
um weiter in den Norden zu ziehen, und entschloß sich, nach Vermont zurückzukehren. Obwohl er nicht davon sprach, bin ich mir sicher, daß der Gedanke an Mr. Romany, der uns in Maine suchte, etwas mit seiner Entscheidung zu tun hatte. Schießscheibe wußte offensichtlich nicht genau, wo wir uns befanden, sandte auch nicht die Art von geistigem Signal aus, das Mr. Romany zu uns führen konnte; denn sonst hätte er uns längst schon gefunden. Wir kehrten nach Vermont zurück. Als uns Diggs die notwendigen Genehmigungen besorgt hatte, bauten wir den Jahrmarkt in einer ländlichen Gegend auf. Thaddeus täuschte den Fremden vor, daß wir uns noch in Maine befänden, und ließ Schießscheibe zufä llig ein Gespräch›belauschen‹, in dessen Verlauf er sagte, wir befänden uns in New Hampshire und Mr. Romany würde uns jetzt nie finden. Im Wohnzelt sah es langsam schlampig und abgenutzt aus. Die Möbelstücke waren eigentlich nicht für die Fremden geeignet und begannen zusammenzubrechen. Die meisten der fremden Wesen hatten leichte Schwierigkeiten mit dem Essen. Obendrein stellten wir fest, daß uns der Winter ins nördliche Vermont gefolgt war. Der Wind blies einem noch immer die Knochen aus dem Leib, und die Heizgebläse richteten nicht viel aus. Kalebasse schien auf dem Weg der Besserung, aber Regenbogen zeigte noch immer ein gespenstisches, fahles Blau. Als wir zwei Tage auf dem neuen Platz waren, stellte Dapper Dan, der flotte Dan, unser Affenmensch, das Essen ein. Er saß regungslos auf dem Rand seines Feldbettes, hatte die Ellbogen auf den Knien, den Kopf in den Händen und wollte sich nicht mehr bewegen. Körperlich schien ihm nichts zu fehlen - auf jeden Fall konnten wir nichts feststellen. Schließlich war Thaddeus der Ansicht, er sei gesund genug, um zu arbeiten. Dapper Dan hörte nicht den Befehl, mit dem ihn Thaddeus ins Zelt der Monstrositätenschau schicken wollte, und Big Alvin mußte ihn hinüberschleppen. Nach der ersten Vorstellung ließ -104-
ihn Thaddeus durch Alvin zurückbringen. Thaddeus rief die Schau weiter aus, bis die Menge am späten Nachmittag spärlicher wurde. Nach der letzten Vorstellung stapfte er ins Wohnzelt und dorthin, wo der flotte Dan regungslos lag. »Na schön!« knurrte er. »Heraus damit! Was wollen Sie erreichen?« Der flotte Dan gab keine Antwort. »Ihnen fehlt überhaupt nichts!« fuhr Thaddeus fort. Er beugte sich hinab, packte den flotten Dan an den Schultern und schüttelte ihn heftig. »Gib's zu, du blöder Affe! Dir fehlt so wenig wie mir!« Der flotte Dan machte keine Anstalten, sich zu befreien, begegnete den wütenden Blicken mit einem Gesichtsausdruck, der ebensogut ein Zeichen der Resignation wie der Langeweile sein konnte. »Jetzt hört mal her!« brüllte Thaddeus aus Leibeskräften, und alle Fremden drehten sich zu ihm um. »Ich ließ Regenbogen und Kalebasse hier im Zelt, weil sie krank waren, und plötzlich versucht der Affenmensch was ganz Schlaues! Das hat man davon, wenn man Mitgefühl zeigt. Wenn ihr verdammten Monster meint, mit so was durchzukommen, steht euch eine Überraschung bevor. Entweder arbeitet der flotte Dan morgen, oder er kann im Zelt sitzen und schmollen. Dann aber gehen Regenbogen und Kalebasse an seiner Stelle raus!« »Das ist ihr Tod, und Sie sind daran schuld«, sagte Mr. Ahasuerus. »Ich nicht, mein Freund!« fuhr ihn Thaddeus an. »Wenn Regenbogen rausgeht und zu einem blauen Eiszapfen wird, wissen Sie, wem Sie die Schuld geben können. Der liegt nämlich hier auf dem Bett. Sie Affenmensch, Sie hören mich doch? Ich gebe Ihnen zu essen, ein Dach über dem Kopf, besorge Ihnen Arzneien, wenn Sie welche brauchen, aber dafür arbeiten Sie so schwer wie ich, oder Sie werden es noch -105-
bereuen, daß Sie es nicht getan haben. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht.« Er stapfte wieder aus dem Zelt und zu seinem Wohnwagen. Mr. Ahasuerus ging zum flotten Dan, während die anderen Fremden ihre Aufmerksamkeit rasch auf etwas anderes richteten. »Was ist denn los?« fragte der blaue Mann freundlich. »Ich kann die Situation nicht länger ertragen«, sagte der Affenmensch. »Soll er mich töten, wenn er das will. Ich blicke zum Himmel empor und kann meinen Heimatstern nicht entdecken. Ich werde meine Familie nie wiedersehen.« Er schwieg, sah Mr. Ahasuerus in die Augen. »Ich werde den Rest meines Lebens nicht als Tier in einem Käfig zubringen und von den Launen eines Verrückten abhängig sein, vor allem nicht mit diesem Minimum an Bequemlichkeit, das er uns zukommen läßt.« »Wir können gar nichts machen«, sagte Mr. Ahasuerus. »Wir können fliehen!« sagte der flotte Dan leidenschaftlich. »Wir können diesen bösen Menschen töten und gehen!« Mr. Ahasuerus schüttelte traurig den Kopf. »Nein, das können wir nicht.« »Aber weshalb denn nicht?« flehte der flotte Dan mit Tränen in den Augen. »Warum muß ich ohne die Sakramente meiner Religion sterben? Warum muß ich auf diesem Stück Dreck sterben, das um einen Stern kreist, den die Karten meiner Welt gar nicht verzeichnen? Warum soll meine Seele zu einer Ewigkeit ziellosen Wanderns im leeren Raum verdammt sein, in unausdenkbarer Ferne von anderen ihrer Art?« »Wir haben gelobt, unser Hiersein geheimzuhalten«, sagte Mr. Ahasuerus. »Sie haben das gelobt!« sagte der flotte Dan. »Sie aber auch«, betonte Mr. Ahasuerus. -106-
»Ich habe gelobt, in meiner Heimatwelt meinen Gott zu ehren«, sagte der flotte Dan. »Ich habe gelobt, mein Leben mit denen zu verbringen, die ich liebe. Warum sollte das andere Gelübde Vorrang haben? Ich habe es einer seelenlosen Gesellschaft gelobt, die keine Ahnung hatte, welche Folgen unsere Reise hierher haben würde.« Mr. Ahasuerus seufzte, ein schreckliches Geräusch, das jedoch irgendwie rührend war. »Ich kann Sie nicht aufhalten«, sagte er endlich. »Sie sind ein vernunftbegabtes Wesen mit freiem Willen, und ich habe ebensowenig ein Recht, in Ihr Leben einzugreifen wie Flint. Aber ich werde Ihnen nicht helfen, und die anderen auch nicht. Unser Wort muß bindend sein, ganz gleich, wie Sie das sehen.« Er wandte sich an mich. »Tojo, wenn er fliehen sollte, wie weit würde er kommen?« »Nicht sehr weit«, sagte ich. »Wenn man Sie nicht aus Angst niederknallt, könnten einige von Ihnen ein Stück weit kommen, der flotte Dan aber nicht. Er ähnelt mehr als alle anderen einem irdischen, wilden Tier. Ich glaube, er würde vom ersten Farmer, der ihn sieht, niedergeschossen werden. Und der erste Mensch ohne Gewehr, der ihn erblickt, würde die Polizei rufen, und die würde ihn dann töten.« »Und selbst wenn Sie einen Bogen um die Menschen machen könnten«, sagte Mr. Ahasuerus freundlich, »wo wollten Sie hin? Wie kann ein fremdes Wesen in einer fe indlichen Welt überleben? Sie wissen nicht einmal, wo Sie sich befinden, wie wollen Sie also unsere Raumfähre finden?« »Dann ist es hoffnungslos, und ich werde hier sterben. Meine Seele wird bis in alle Ewigkeit ziellos umherstreifen«, sagte der flotte Dan. Er legte sich in einer seltsamen und scheinbar unbequemen Haltung auf das Bett zurück, und ich glaube, daß es sich dabei um die Stellung eines Embryos seiner Gattung handelte. »Ich bitte Sie, an Ihre Mitreisenden zu denken«, sagte Mr. -107-
Ahasuerus. »Wenn Sie morgen nicht in die Monstrositätenschau gehen, wird einer von ihnen gewiß sterben, und der andere wird auf jeden Fall kränker werden.« Der flotte Dan lag völlig bewegungslos. Er sagte nichts, gab nicht einmal ein Zeichen, daß er den blauen Mann gehört ha tte. Mr. Ahasuerus wandte sich an mich. »Die Wahrheit, Tojo: Wird Flint tun, was er sagte?« »Das weiß ich nicht«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. »Ich bezweifle es. Er hat keinen Grund, Regenbogen sterben zu lassen, und er hat sehr gute finanzielle Gründe, ihn am Leben zu erhalten. Aber wenn er meint, ein Nachgeben könnte seine Autorität untergraben...« Ich ließ meine Stimme ersterben, was mir nicht schwer fiel. Sie bricht die ganze Zeit über immer wieder ab. Dann blickte ich zu ihm auf. »Ich weiß es wirklich nicht.« »Ich weiß, daß er ein habgieriger Mensch ist«, sagte Mr. Ahasuerus. »Ich weiß, daß er eigennützig und rücksichtslos ist.« »Er ist nicht, was man selbstlos nennen würde, das ist klar«, warf ich ein. »Ich habe ihn jedoch nicht für einen durch und durch bösen Menschen gehalten, einen Menschen, der jemandem absichtlich das Leben nehmen würde, nur um recht zu behalten.« »Hoffentlich haben Sie recht«, sagte ich. »Aber um einfach sicherzugehen, versuchen Sie vielleicht lieber, den flotten Dan dazu zu bringen, morgen zur Arbeit zu gehen.« »Ich kann ihn nicht zu etwas zwingen, was er nicht will«, sagte Mr. Ahasuerus. »Flint ist ein geriebener Kerl, ein Meister der geschickten Menschenbehandlung, aber Tatsache ist, wenn der Mann der vielen Farben stirbt, trägt Flint ganz allein die Verantwortung.« »Das wird ihn nicht lebendiger machen«, sagte ich. »Ich glaube, Sie sollten mit dem flotten Dan reden.« -108-
Der blaue Mann ließ ein trockenes Lachen hören. »Er hat sogar aus Ihnen einen Pragmatiker gemacht, wie?« »Vermutlich schon«, versetzte ich. Mr. Ahasuerus ging zur anderen Seite des Zeltes. »Lassen wir ihn nachdenken«, sagte er leise. »Ich werde später mit ihm sprechen.« Mir blieb noch eine halbe Stunde bis zur nächsten Schau, und so ergriff ich die Gelegenheit, einen kurzen Rundgang durch den Jahrmarkt zu machen, wozu ich schon seit Tagen nicht gekommen war. Ich sah, wie Monk den Bären Bruno zurück zu seinem Bus führte. Das hieß, daß Billybuck Dancer gerade seine Sonderschau zeigen würde. Ich ging in das Zelt, in dem er seine Auftritte hatte. Er hatte eine Helferin - eine der Stripperinnen, in einem metallisch glänzenden Cowgirl-Anzug -, sie hielt vier Figurenkarten in die Höhe und zeigte sie dem Publikum. Dann fragte sie den Dancer, ob er bereit sei. Er neigte leicht den Kopf - das einzige Zeichen, daß er nicht eingeschlafen war. Daraufhin warf sie alle vier Karten in die Luft. Der Dancer reagierte so geschmeidig und weich, daß man, hätte man das Ergebnis nicht gesehen, meinen konnte, er bewege sich viel langsamer als in Wirklichkeit - doch das Ergebnis war immer das gleiche: vier rasend schnelle Schüsse, genau mitten durch die vier Karten. Den nächsten Trick sah ich mir nie gern an. Der Dancer band das Mädchen an ein großes Rad, gab ihm in jede Hand eine Karte und begann das Rad zu drehen, bis es so schnell kreiste, daß seine Helferin nur noch undeutlich zu sehen war. Er drehte ihr den Rücken zu, ging etwa zwanzig Schritt weit, zog ein Paar Messer und zeigte es dem Publikum. Er wirbelte herum und schleuderte die Klingen, wobei zwischen den beiden Würfen kaum eine halbe Sekunde lag. Das Publikum stöhnte auf, aber die beiden Messer trafen ins Ziel und spießten die Karten an die Radspeichen. Der Dancer tippte sich an den Hut, verbeugte sich mit leicht traurigem Gesicht wie immer und bereitete das nächste Kunststück vor. Dabei ging es darum, dem Mädchen -109-
eine Zigarette aus dem Mund zu schießen. Ich entschied mich, nicht zusehen zu wollen, und ging hinüber zur Stripschau. Gloria wurde eben als Butterfly Delight angekündigt, und das Publikum, zu 95 Prozent Männer, begrüßte sie mit heftigem Applaus. Als deutlich wurde, daß sie nur einen Striptease bieten würde, der dort enden sollte, wo die anderen Mädchen anfingen, brach der Applaus ab, doch Gloria achtete nicht auf das enttäuschte Murmeln. Sie wogte und kreiste und zuckte und lockte, als ahme sie Ann Corio oder Gypsy Rose Lee nach, die vor fünfzig Jahren aufgetreten waren. Ich hatte Angst, man werde sie mit Buhgeschrei von der Bühne jagen - ich hatte immer Angst, sie würde ausgebuht werden -, aber auch diesmal war es so wie immer. Ein paar bewunderten die Arbeit, die in ihrem Auftritt steckte, und die restlichen wurden ruhig und warteten auf die nächste Nummer. Hoffentlich war das nicht Stogie. In einer so knallharten Schau wie der unseren wollte ich nicht der Komiker sein, der die Gimpel zehn Minuten bei Laune halten mußte, nachdem Gloria sich bemüht hatte, der Fleischbeschau ein wenig Klasse zu geben. Ich verließ das Zelt, lief die Budenstraße auf und ab und sah mir die Spiele an. Diggs hatte ein paar der ungeschickteren Mitarbeiter entlassen und sie durch zwei schnell sprechende junge Männer ersetzt. Das Geschäft lief prächtig - so prächtig es eben im Herbst in Vermont laufen kann. Der Schieber selbst hatte in einer der Buden Schwierigkeiten, die Schaulustigen zum Geldausgeben zu bewegen, und da ich seit unserer Ankunft noch nicht in der Budenstraße aufgetaucht war, beschloß ich, ihm zu helfen. Sein Auge fiel auf mich, und er begann, mich zu locken und zu verspotten, bis ich schließlich einwilligte, ein Spielchen zu wagen. Ich gewann zweihundert Dollar in ungefähr fünf Minuten und brachte es fertig, das Geld einem der heimlichen Helfer wieder zuzustecken, als sich die Gimpel alle um die Bude drängten, um ein Spiel zu machen, das selbst ein zurückgebliebener Buckliger gewinnen konnte. -110-
Thaddeus' Stimme drang aus dem Lautsprecher, und ich wußte, es war Zeit, zur Monstrositätenschau zurückzukehren. Im Wohnzelt erfuhr ich, daß Snoopy - der Junge mit dem Hundegesicht während meiner Abwesenheit zusammengebrochen war. Er behauptete, es handle sich um Magenkrämpfe, doch Mr. Ahasuerus war der Ansicht, es sei die Langzeitwirkung unserer Schwerkraft, die offenbar viel stärker war als die auf seiner Heimatwelt. Wir verheimlichten es Thaddeus so lang wie möglich, aber schließlich mußte ich ihm mitteilen, daß Snoopy nicht arbeiten konnte. Ich hatte befürchtet, er würde noch vor dem Publikum einen Wutanfall bekommen, doch er schüttelte nur angewidert den Kopf und schwatzte weiter. Als die letzte Schau gelaufen war, ging er mit mir ins Zelt, um selbst einen Blick auf Snoopy zu werfen. Der Junge mit dem Hundegesicht atmete schwer und sabberte heftig. Es stand außer Frage, daß er ernste Beschwerden hatte. »Also?« sagte Thaddeus und wandte sich an Mr. Ahasuerus. »Ich kann es nicht genau sagen«, meinte der blaue Mann, »aber ich denke, Ihre Schwerkraft ist die Ursache.« »Warum ist er nicht schon eher erkrankt?« »Aus demselben Grund, warum Sie die ersten paar Sekunden unter Wasser auch noch nicht sterben.« »Wollen Sie damit sagen, daß er stirbt?« wollte Thaddeus wissen. »Nein, aber er braucht Ruhe. Sein Körper war gewaltigem Druck ausgesetzt.« »Wieviel Ruhe braucht er?« »Einen Tag, eine Woche, einen Monat«, sagte der blaue Mann. »Wer kann das wissen?« -111-
»Ich«, erwiderte Thaddeus. »Er arbeitet morgen abend.« »Und wenn er nicht arbeiten kann?« »Dann wird er merken, was es heißt, körperlichem Druck ausgesetzt zu sein!« verkündete Thaddeus. Er lief in die Mitte des Zeltes und stieß einen lauten Pfiff aus. »Damit muß Schluß sein!« rief er, als alle auf ihn aufmerksam geworden waren. »Snoopy ist verdammt noch mal der letzte, der krank werden kann, oder ich sperre euch alle zwischen den Auftritten in Käfige, und ihr kriegt nichts als Hundefutter und Wasser.« Er blickte die fremden Wesen der Reihe nach an. »Ich meine es ernst«, sagte er schließlich. »Wenn noch einer von Ihnen krank wird oder sich krank stellt oder mich überzeugen will, daß er krank ist, werden alle zu leiden haben.« Er stapfte zu einem der Tische, die wir aufgestellt hatten, und sagte mir, ich solle ihm eine Tasse Kaffee bringen. »Die sind wirklich krank, Thaddeus«, sagte ich bei meiner Rückkehr. »Das sind fremde Wesen. Die sind nicht für ein Leben hier gebaut.« »Niemand hat sie gezwungen, herzukommen«, sagte er gereizt. »Aber du zwingst sie, hierzubleiben«, stellte ich fest. »Jetzt gib bloß du mir keine Schuld, du kleiner Zwerg«, fuhr er mich an. »Ich bin nicht durch die halbe Milchstraße geflogen. Sie sind ein Risiko eingegangen und haben Pech gehabt.« »Dann willst du sie wirklich einsperren, wenn einer krank wird?« »Das habe ich ihnen gesagt«, meinte er. »Hast du Zweifel?« »Es wäre nicht das erste Mal, daß du etwas sagst, was du nicht so meinst«, antwortete ich. »Zum Teufel, wie oft kann ich einen Rückzieher machen? Die Dreckskerle denken dann, man kann mich rumschubsen, und dann sind wir ganz rasch auf dem Mond und werden -112-
ausgestellt.« Ich begriff, daß ein Gespräch mit ihm zu nichts führen konnte, und schwieg. Schließlich machte Thaddeus sich auf den Weg zu seinem Wohnwagen. Als ich erfahren hatte, daß die gesunden Fremden einen Pflegedienst rund um die Uhr eingerichtet hatten, überwand ich mich und folgte ihm. Ich war nicht eben begeistert, die Wohnung mit Thaddeus zu teilen, auch wenn er sich für diese Nacht keine' Frau zugelegt hatte, aber ich hatte fast zwei Wochen auf Feldbetten geschlafen, was meinem Rücken gar nicht guttat. Richtig bequem hatte ich es nie gehabt, seit sich mein Rücken verkrümmt hatte, aber so zerschlagen wie nach einer Nacht auf einem Feldbett war ich mir noch nie vorgekommen. »Na, wer kommt denn da?« sagte Thaddeus, als ich den Wohnwagen betrat. »Ich dachte schon, du würdest dich hier überhaupt nicht mehr blicken lassen.« »Probleme mit dem Rücken«, sagte ich. »Von Problemen mit dem Gestank ganz zu schweigen«, sagte er und verzog das Gesicht. »Meine Güte, diese Kalebasse stinkt, was?« »Das kommt vom Ausschlag«, sagte ich. »Wir haben nichts, womit wir ihn behandeln können.« »Wenn die alle solche Schwächlinge sind, wird der Mensch, glaube ich, zehn Jahre nachdem er etwas entwickelt hat, was ihn von Stern zu Stern trägt, das ganze verflixte Universum erobert haben«, sagte Thaddeus. »Ich hab' noch nie eine solche Ansammlung kränklicher Wesen gesehen.« »Bring einen Haufen Menschen auf eine ihrer Welten, und du siehst noch eine«, sagte ich. Er zuckte die Schultern. »Du hast vielleicht recht.« Er wollte noch etwas sagen, aber in diesem Augenblick wurde -113-
an die Tür geklopft. »Sie ist offen!« rief Thaddeus. Alma kam in einem dicken Pullover und ausgeblichenen Jeans ins Zimmer. Thaddeus sah sie einen Augenblick überrascht an, dann wurde sein Gesicht ausdruckslos. »Kann ich mich setzen?« fragte sie. Er zeigte auf einen Sessel. »Danke. Thaddeus, ich muß mit dir reden.« »Ich gehe lieber«, sagte ich und erhob mich von der Couch, doch Thaddeus hielt mich fest. »Bleib nur, Tojo«, sagte er. »Das ist auch dein Wohnwagen.« »Mir wäre es lieber, wir könnten uns allein unterhalten«, sagte sie unsicher. »Kann ich mir denken«, sagte Thaddeus. »Aber wir haben doch keine kleinen Geheimnisse mehr, oder? Es sei denn, du hast mir ein paar neue mitzuteilen.« »Du machst es mir sehr schwer, Thaddeus«, sagte Alma. »Ich kann mir nicht denken, wieso«, sagte er bitter. »Wir haben nicht mehr viel miteinander zu tun, warum sollte also ein kleines Gespräch schwierig sein?« »Ich bin heute nacht in dem Zelt drüben gewesen«, sagte sie. »Ach?« erwiderte Thaddeus und zündete sich eine Zigarette an. »In welchem Zelt?« »Du weißt, in welchem«, sagte sie. »Ist es wahr?« »Wahrscheinlich schon. Aber was meinst du denn?« »Willst du sie wirklich in Monks Käfig stecken, wenn noch einer krank wird?« »Was geht dich das an?« sagte er. »Du hast mir nicht geantwortet«, sagte Alma. -114-
»Das ist dir aufgefallen?« sagte er und grinste grob. »Wieso fragst du nicht Queenie? Soviel ich weiß, hat sie neuerdings die Antworten.« »Willst du Regenbogen zeigen, wenn der flotte Dan morgen nicht auftritt?« »Da kannst du aber Gift drauf nehmen!« knurrte Thaddeus. »Krankheit ist eine Sache, Streik eine andere.« »Siehst du denn nicht, daß der flotte Dan von allen der Kränkste ist?« sagte sie. »Er ist so gesund wie ich«, sagte Thaddeus. »Körperlich schon. Aber er glaubt, er muß sterben und daß du seine Seele der ewigen Verdammnis ausgeliefert hast.« »Wer hat dir das gesagt?« wollte Thaddeus plötzlich aufmerksam wissen. »Mr. Ahasuerus.« »Hat er gesagt, welcher Religion der flotte Dan angehört?« »Weiß ich nicht«, sagte Alma. »Wahrscheinlich irgendeiner östlichen. Wo ist da der Unterschied? Er glaubt, du schickst ihn zur Hölle. Darauf kommt es an.« Ich konnte sehen, wie die Spannung von ihm wich, als er begriff, daß sie die Fremden immer noch als Monstrositäten ansah, sonderbar und entstellt, aber doch Wesen dieser Welt. »Was soll ich deiner Meinung nach tun?« fragte er schließlich. »Die Schau zumachen, wenn einer von denen anderswo sein möchte?« Sie schüttelte den Kopf. »Behandle sie einfach wie Menschen. Sie sind vielleicht anders, Thaddeus, aber sie sind keine Monster. Du mußt anfangen, auf ihre Würde zu achten.« »Also, wer spricht denn da plötzlich von Würde?« sagte Thaddeus, ein grausames Grinsen auf dem Gesicht. »Du machst -115-
vor zweitausend fremden Männern jeden Tag die Beine breit, und dann gehst du heim und kriechst zu einer dicklichen Fünfzigjährigen ins Bett, die nicht ma l wußte, auf welcher Seite sie ihren Scheck von der Sozialhilfe unterschreiben mußte, als ich sie aufgabelte. Das nenn ich mir schöne Würde!« »Wer hat mir beigebracht, in einer Fleischbeschau zu arbeiten?«sagte Alma ohne Anzeichen des Zorns. »Und was Queenie angeht die liebt mich.« »Hah!« schnaubte Thaddeus. »Doch, Thaddeus. Ich bin ihr wichtig. Sie nimmt mich als Mensch, nicht bloß als Körper. Du bist mit mir so wie mit denen umgesprungen. Du kannst nicht dein ganzes Leben die Leute so benutzen. Das muß mal aufhören!« Sie zog ein zerknülltes Kleenex aus der Tasche und schneuzte sich. »Ich wollte dir keine Strafpredigt halten, Thaddeus«, sagte sie langsam. »Das hilft nie etwas, und deshalb kam ich auch nicht her.« »Da du jetzt beim Thema bist, was machst du eigentlich hier, davon abgesehen, daß du mir sagst, wie ich meinen Laden führen soll?« »Ich will dir einen Handel vorschlagen«, sagte sie. »Handel magst du doch, oder?« »Ich höre.« Sie setzte sich in ihrem Sessel unbehaglich zurecht und blickte zu Boden. »Wenn du mir versprichst, sie nicht in Käfige zu stecken und daß Regenbogen erst arbeiten muß, wenn er gesund ist, komme ich wieder zu dir.« Ich wußte nicht, was Thaddeus erwartet hatte, das aber ganz gewiß nicht. Eine Sekunde wirkte er überrascht. Dann zeigte sich auf seinem Gesicht ein seltsamer Ausdruck - vielleicht Betroffenheit, vielleicht etwas anderes. -116-
»Hast du dich mit Queenie gestritten?« fragte er nach einer langen, ungemütlichen Pause. »Nein«, sagte Alma, starrte weiter auf den Boden. »Weiß sie, daß du dieses Angebot machst?« Alma schüttelte den Kopf, und eine Träne rollte über ihre Wange. »Liebst du sie?« fragte er leise. »Ich brauche sie. Ich brauche jemanden«, flüsterte sie, und weitere Tränen folgten. »Und du bietest mir einfach wegen dem Haufe n Monstern an, zurückzukommen?« Sie bemühte sich, ihn anzusehen. »Abgemacht?« fragte sie, und ihr Gesicht war sehr blaß und feucht. »Ich würde dich unglücklich machen.« »Das machst du doch immer.« »Ich würde weiter mit anderen Frauen schlafen«, sagte er. »Ich bin zu alt, um mich zu ändern.« »Weiß ich«, antwortete sie und schneuzte sich wieder. »Queenie würde dich noch mehr hassen als mich«, stellte er fest, »Wenn du zu mir kommst, wird sie dich nie zurückhaben wollen. Sie ist nicht so großzügig wie ich.« »Queenie kann ohne mich weiterleben. Die armen Geschöpfe können das nicht.« »Glaubst du wirklich, ich würde sie umbringen?« »Irgendwie bringst du jeden um, mit dem du in Berührung kommst«, sagte Alma und blickte ihn unverwandt an. »Schlimmer als in der Scha u arbeiten wäre das für mich auch nicht.« »Auch nicht besser?« fragte er mit einem schiefen Lächeln. -117-
»Auch nicht besser.« »Und trotzdem«, sagte er wirklich verblüfft, »willst du zurückkommen? Für diese Wesen?« »Ja.« Sie wischte sich mit dem Ärmel die Träne n vom Gesicht. »Weißt du was, Thaddeus?« sagte sie und lächelte wehmütig. »Als ich neun oder zehn war, war ich eine wilde Hummel. Ich spielte mit den kräftigsten Jungs Fußball und Baseball, und wenn ich nach Hause ging, war ich zerschrammt und voller blauer Flecken, aber geheult hab' ich nie, kein einziges Mal.« Sie fuhr sich mit dem durchweichten Kleenex über das Gesicht. »Das Heulen fing erst mit dir an.« Er starrte sie an und sagte nichts. Ich glaube, sie kam sich nackter als je auf der Bühne vor. Sie wurde wieder unruhig. »Also?« fragte sie schließlich, und ihre Stimme bebte ein wenig. »Ist es abgemacht?« »Geh zurück, wo du hingehörst«, sagte er müde. Es hätte niederträchtig klingen können, tat es aber nicht. »Was?« fragte sie und blinzelte, als sei sie sich nicht ganz sicher, recht gehört zu haben. »Geh zurück zu Queenie.« »Du willst mich nicht?« sagte sie, und Schamesröte überzog ihr Gesicht. »Ich lasse mich auf keinen Handel ein.« Sie drehte sich zu mir, und ich wußte, sie würde wieder zu weinen beginnen. »Gute Nacht, Tojo. Tut mir leid, daß du dir alles anhören mußtest.« »Gute Nacht, Alma«, sagte ich. »Alles Gute.« Sie wandte sich um und ging ohne ein weiteres Wort aus dem Wohnwagen. -118-
»Sie hat wirklich angenommen, ich würde sie in Käfige sperren«, sagte Thaddeus und blickte ihr durchs Fenster nach, wie sie zu Queenies Wagen rannte. »Hattest du das nicht vor?« sagte ich. »Bei allem, was ich getan habe, wollte sie doch zurückkommen, einfach, um denen zu helfen«, sagte er, ohne auf meine Frage einzugehen. »Ist das nicht sonderbar?« Er zündete sich wieder eine Zigarette an und warf einen langen Blick auf das Wohnzelt. »Es fängt wieder an zu schneien«, sagte er. »Weiß ich«, antwortete ich. »Tojo«, sagte er wie geistesabwesend, »beweg mal deinen Hintern da rüber und sag Regenbogen, er soll morgen lieber im Bett bleiben. Sieht so aus, als ob es morgen kalt wird.« Als ich den Wohnwagen verließ, um seinen Auftrag auszuführen, starrte er noch immer auf das Zelt.
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10 Am nächsten Morgen um drei Uhr versuchte der flotte Dan sich umzubringen. Big Alvin hämmerte gegen die Wohnwagentür, bis wir endlich aufwachten. Er hatte nur Unterhemd und Jeans an, hatte Schnee und Sturm völlig vergessen und schrie, Thaddeus solle sofort ins Wohnzelt kommen. Wie immer, wenn auf dem Jahrma rkt Alarm gegeben wurde, war Thaddeus angezogen und einigermaßen wach, bevor eine Minute verstrichen war. Ich kann mich kaum so schnell wie die meisten anderen Menschen bewegen - es dauerte drei Minuten, bis ich aus dem Schlafanzug heraus und in meinen Sachen war, dann noch einmal eine Minute, bis ich das Zelt erreichte. Als ich eintrat, machte sich Thaddeus schon am Affenmenschen zu schaffen. »Senf!« fuhr er Alvin an. Der große Bursche stand mit einem Gesicht vor ihm, auf dem sich Verständnislosigkeit malte. »Verdammt, Alvin! Hol mir ein Glas Senf!« »Irgendeine bestimmte Sorte?« fragte Big Alvin. »Hol schon welchen, du Vollidiot!« brüllte Thaddeus. Alvin zuckte die Schultern und lief aus der Tür, offensichtlich auf dem Weg zu einer der Imbißbuden. Ich ging in Queenies Küche, fand einen Becher mit gelbem Senf und brachte ihn Thaddeus. Er nahm ihn mir wortlos aus der Hand und schüttete die Hälfte des Inhalts dem flotten Dan in den Mund. Der Affenmensch wehrte sich, schluckte aber schließlich das Zeug. »Einen Schritt zurück!« befahl Thaddeus den anderen Fremden, die sich herbeidrängten. »Gebt ihm etwas Luft!« Einen Augenblick später griff sich der flotte Dan an den Magen und begann, sich zu übergeben. Thaddeus machte ein -120-
angeekeltes Gesicht und hielt dem Affenmenschen den Kopf, bis er aufhörte. »Steh nicht so rum, Baumlang!« schrie er. »Hol was zum Saubermachen.« Zu mir sagte er: »Weißt du, was der Blödmann gemacht hat? Er hat eine ganze Flasche Natriumpillen von Vier Augen geschluckt. Bis zur letzten hat er sie sich einverleibt.« Er legte dem flotten Dan eine Hand auf die Schulter und sah auf ihn herab. »Du armer, blöder Affenmensch. Wenn du dich umbringen willst, darfst du erst sagen, daß du Pillen genommen hast, wenn sie schon lange genug in deinem Körper sind, um zu wirken. Das einzige, was jetzt passiert du wirst schreckliches Bauchweh bekommen.« Weniger scharf fragte er dann: »Fühlen Sie sich etwas besser?« Der flotte Dan gab keine Antwort. »Hätte das Natrium ihn umgebracht?« fragte ich zweifelnd. »Wer weiß?« antwortete Thaddeus müde. »Ich glaube, Sonnenschein und frische Luft würde die Hälfte von ihnen erledigen. Vielleicht ernährt er sich normalerweise von nichts als Vogeldreck.« »Ich werde es wieder versuchen«, sagte der flotte Dan leise. »Kann ich mir denken«, sagte Thaddeus. Der flotte Dan blickte zu ihm auf. »Weshalb haben Sie mich nicht sterben lassen?« »Das nächste Mal vielleicht«, sagte Thaddeus. »Das hoffe ich«, sagte der flotte Dan. »Herr im Himmel, was ist denn mit Ihnen los?« knurrte Thaddeus. »Sie bekommen etwas zu essen, niemand schlägt Sie, und es gibt immer noch die Möglichkeit, daß Romany Sie findet. Weshalb wollen Sie sterben?« »Laß ihn in Ruhe, Thaddeus«, sagte ich. »Jetzt sag' ich dir mal was, Tarzan«, fuhr er fort, ohne mich -121-
im mindesten zu beachten, »wenn ich du wäre, hätte ich schon zwanzig Fluchtversuche unternommen. Ich würde im Zelt ständig auf Lauer liegen. Ich würde in Hungerstreik treten und nicht nur damit drohen. Man braucht weder Hirn noch Mumm, wenn man sich töten will - oder vielleicht doch, wenn man sich Ihre Stümperei ansieht. Was für Leute seid ihr eigentlich?« Der flotte Dan schien etwas sagen zu wollen, begann aber plötzlich wieder zu würgen. Er mußte sich jedoch nicht übergeben und legte sich schließlich erschöpft auf sein Feldbett zurück. »Bleiben Sie ruhig liegen, und versuchen Sie, sich zu entspannen«, sagte Thaddeus, nahm ein Handtuch und trocknete dem Affenmenschen das Gesicht ab. »Wenn Sie sich bewegen, kommt der Brechreiz wieder. Das Maß an Dummheit ist für heute nacht voll.« »Bitte gehen Sie«, sagte der flotte Dan leise. »Wenn ich soweit bin«, erwiderte Thaddeus. Er setzte sich auf den Bettrand und fühlte dem flotten Dan den Puls. »Ich wollte, ich wüßte, was bei Ihnen normal ist«, sagte er nach einem Augenblick. Dann griff er in seine Tasche, zog eine Zigarette heraus, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug. »Das muß vielleicht eine Welt sein, aus der Sie stammen, Sie Affenmensch.« »Wie meinen Sie das?« fragte der flotte Dan. »Also, Sie bringen sich lieber um, als vo n ihr fernzubleiben.« »Ich sterbe lieber, als in Gefangenschaft zu leben«, sagte der flotte Dan. »Interessant, daß Sie schon nach zwei Wochen diesen Schluß ziehen. Gibt es auf Ihrer Welt keine Gefängnisse?« »Nein.« »Sie scherzen!« spottete Thaddeus. »Was machen Sie mit -122-
jemandem, der die Gesetze bricht?« »Das tut niemand«, sagte der flotte Dan. »Glaube ich Ihnen nicht.« »Was Sie glauben, ist mir nicht wichtig.« »Was ist Ihnen denn wichtig?« fragte Thaddeus. »Mal abgesehen von der Freiheit, in Mr. Ahasuerus' Schau so tun zu können, als seien Sie ein Monster, wobei Sie hier bei mir nun wirklich eins sind.« »Meine Familie und mein Gott«, sagte der flotte Dan. »In der Reihenfolge?« »Eine Reihenfolge gibt es nicht. Sie sind identisch.« »Ahnenkult?« Der flotte Dan schüttelte matt den Kopf. »Sie würden es nicht verstehen.« »Prüfen Sie mich.« »Weshalb? Ob ich jetzt oder später sterbe, meinen Gott muß ich allein suchen.« »Das klingt ja, als ob er verlorengegangen sei«, sagte Thaddeus lächelnd. »Gott ist nicht dahin, aber ich«, sagte Dan so leise, daß ich ihn nur mit Mühe verstand. »Was, zum Teufel, soll das denn heißen?« fragte Thaddeus. Der flotte Dan schloß die Augen und drehte sich zur Seite. »Ich habe ihn heute abend schon einmal davon reden hören«, sagte ich. »Soviel ich verstehe, glaubt er, seine Seele zu verlieren, wenn er ohne die Sakramente seiner Religion stirbt.« »Tatsächlich?« sagte Thaddeus nachdenklich. »Der Gedanke hat ihn tief bestürzt, daß er fern seiner Heimat sterben könnte«, sagte ich. »Er bringt sich also lieber um, als es darauf ankommen zu -123-
lassen, vielleicht irgendwann in der Zukunft hier zu sterben«, sagte Thaddeus. »Eine Logik haben diese Witzbolde.« »Er war reichlich deprimiert, Thaddeus«, sagte ich. »Ich glaube nicht, daß er klar denken kann.« »Also«, sagte Thaddeus und runzelte erstaunt die Stirn, »in einem Punkt ist er ja anscheinend klar.« Er berührte den flotten Dan leicht an der Schulter. »Sie stürzen lieber für alle Ewigkeiten in die Hölle, als noch einen Tag hier zuzubringen?« »Ja!« heulte der Affenmensch. Sein gewaltiger, haariger Körper wurde von Schluchzen geschüttelt, und Thaddeus richtete sich plötzlich wie von einem Stromstoß durchzuckt auf. Einen Augenblick schien er nicht zu wissen, was er als nächstes tun sollte. Dann verbrannte ihm die Zigarette die Finger, und er warf sie mit einem Fluch zu Boden und trat sie aus. »Ich glaube, der ist nicht mehr ganz da«, sagte er und starrte auf das riesige fremde Wesen, das seinen Kummer herausweinte. Er lief zu einem der Tische und setzte sich. »Ein sehr lehrreicher Abend, mit Alma und dem Affenmann«, sagte er sarkastisch. »Tojo, hol mir eine Tasse Kaffee.« Während ich sie zubereitete, trat Mr. Ahasuerus zu Thaddeus und setzte sich ungeschickt auf einen Stuhl, der für ihn viel zu klein war. »Er wird es wieder versuchen«, sagte der blaue Mann. »Das ist doch unvernünftig«, sagte Thaddeus. »Wenn er Angst hat, fern seiner Heimat zu sterben, ist Selbstmord doch das letzte, an das er denken sollte.« »Aus Vernunftgründen tut er es ja nicht«, sagte Mr. Ahasuerus. »Er hat eine schwere Depression hinter sich.« Ich brachte den Kaffee. »Danke«, sagte Thaddeus. Er wandte sich an den blauen -124-
Mann. »Möchten Sie eine Tasse?« »Nein danke.« »Hat der flotte Dan in der Gruppe einen, mit dem er besonders freundschaftlich verkehrt, jemand, der vernünftig mit ihm reden könnte?« fragte Thaddeus. »Ich kann ihn vierundzwanzig Stunden pro Tag bewachen lassen, aber es wäre für uns alle einfacher, wenn ich es nicht tun müßte.« »Auf der Reise zur Erde hat er sich ausgiebig mit dem Eidechsenmann und dem Sphinx unterhalten«, wußte Mr. Ahasuerus. »Tojo, hol Numa und Albert her«, sagte Thaddeus. Ich suchte die beiden Fremden. Numa weigerte sich, mit Thaddeus zu sprechen, doch Albert folgte mir zum Tisch. »Ihr Freund, der flotte Dan, hat sich vorhin unnötig aufgeregt«, sagte Thaddeus, als der Eidechsenmann sich niederließ. »Ich verstehe nicht.« »Er benimmt sich unvernünftig.« »Wieso?« zischte der Alligator Albert. »Weil er kein Sklave sein will?« »Weil er versucht hat, sich das Leben zu nehmen«, sagte Thaddeus geduldig. »Und seinem Glauben nach ist das, wie ich meine, nicht der beste Weg zu einem seligen Leben nach dem Tode.« »Er wird sowieso auf Ihrer Welt sterben«, zischte und wisperte Albert. »Warum nicht so schnell wie möglich Schluß machen und mit der Suche nach seiner Gottheit unverzüglich beginnen?« »Sie sind so verrückt wie er!« knurrte Thaddeus ärgerlich. »Weil ich es für richtig halte, sich zu töten, um einem Leben -125-
der Erniedrigung zu entgehen?« zischte Albert. »Wenn dieser Ausweg so verlockend ist, warum haben Sie es noch nicht versucht?« fragte Thaddeus. »Weil meine Lage anders ist«, antwortete Albert. »Dieses Erlebnis, so widerlich es auch sein mag, ist nur ein winziger Abschnitt meines Lebens. Ich werde noch in Hunderten vo n Jahren leben, wenn Sie nur noch eine unangenehme Erinnerung sind.« Thaddeus warf einen raschen Blick auf Mr. Ahasuerus, und der blaue Mann nickte. »Wie tröstlich«, sagte Thaddeus trocken. »Gehe ich richtig in der Annahme, daß all die Lebenserfahrung, die Sie gesammelt haben, Sie in die Lage versetzt, etwas zum Zustand des flotten Dan zu sagen?« »Er befindet sich in einer unerträglichen Situation«, sagte Albert und starrte Thaddeus aus kalten, leblosen Augen an. »Sie wird so lange unerträglich bleiben, bis Sie ihn freilassen.« »Eigentlich wollte ich eine andere Antwort hören«, sagte Thaddeus. »Können Sie nicht mit ihm reden, ihm von seiner prachtvollen Heimatwelt erzählen, von all den wunderbaren Sachen, die dort auf ihn warten?« »Da ist nichts Wunderbares an seinem Planeten«, zischte der Eidechsenmann. »Vielleicht nicht für einen Flüchtling aus dem Reptilienhaus«, sagte Thaddeus. »Für ihn muß es doch reizvoll dort sein.« »Ich bezweifle es«, sagte Albert. »Es ist eine Welt mit hartem, extremem Klima und einer totalitären Theokratie.« »Von der er jedoch viel hält«, sagte Thaddeus. »Aber sprechen Sie über seine Familie, wie sehr er ihr fehlen wird.« »Er wird ihr nicht fehlen«, versetzte Albert. »Wovon sprechen Sie?« »Er ist ein Ausgestoßener.« -126-
Thaddeus wandte sich an Mr. Ahasuerus. »Wie haben Sie denn diese Gruppe zusammengestellt? Alle Gefängnisse und Klapsmühlen geleert?« »Ich weiß darüber nichts«, sagte Mr. Ahasuerus. »Vielleicht teilen Sie uns mit, welche Bewandtnis es damit hat«, sagte Thaddeus zum Eidechsenmann. »Als er beschloß, hierher zu kommen, wurde er ausgestoßen«, meinte Albert. »Als er am täglichen Sakrament seiner Religion nicht mehr teilnahm, hörte er für seine Familie zu existieren auf.« »Warum, zum Teufel, ist er überhaupt gefahren?« wollte Thaddeus wissen. »Bei seiner Rückkehr hätte er sich gewisse Bußen auferlegt, gräßliche Bußen, selbst nach Ihren Begriffen, doch wäre er gerechtfertigt gewesen. Doch bis dahin ist er für seine Freunde, seine Familie so gut wie tot. Für sie ist er sogar schon mehr als tot.« »Und das hat er auf sich genommen, nur um den Fuß auf einen kleinen Dreckball zu setzen, der um eine ferne Sonne kreist?« sagte Thaddeus verständnislos. Er wandte sich an mich. »Das muß vielleicht ein unglücklicher Affenmann sein.« »Ist er auc h«, sagte ich leise. »Ich frage mich, was er hier zu finden hoffte.« überlegte Thaddeus. »Sicher etwas anderes als das, was er vorfand«, zischte Albert kühl. »Und Sie?« sagte Thaddeus, offenbar bestrebt, das Thema zu wechseln. »Weshalb sind Sie hier?« »Ich bin Exobiologe.« »Was?« »Meine Lebensart besteht darin, fremde Lebensformen zu studieren. Mir bot sich die Gelegenheit, einen Planeten -127-
aufzusuchen, den ich noch nicht gesehen hatte. Ich griff zu.« »Das heißt, Sie hätten uns auf Anhieb sagen können, warum einige von Ihnen krank wurden und wie wir sie hätten heilen können?« wollte Thaddeus wissen. »Vermutlich.« »Warum, zum Teufel, haben Sie nichts gesagt?« »Die meisten von ihnen wären wie der Affenmensch besser dran, wenn sie sterben würden«, sagte Albert. »Ja, wirklich?« sagte Thaddeus. »Nun, ich hoffe, Sie sind so unglücklich dran wie er.« »Warum?« »Ich mag Sie nicht besonders«, sagte Thaddeus. »Ich mag nicht, wie Sie aussehen, mir gefällt Ihre Art zu reden, Ihre Einstellung nicht.« »Haben Sie sich schon einmal überlegt, wie Ihre Einstellung auf uns wirkt?« fragte Albert. Thaddeus sah ihn einen langen Augenblick zornig an. »Wir kommen vom Thema ab«, sagte er schließlich. »Werden Sie mit ihm reden?« »Werde ich nicht.« »Und Sie?« sagte er und sah Mr. Ahasuerus an. »Ich werde es versuchen«, erwiderte der blaue Mann. »Es ist meine Pflicht.« »Schön«, sagte Thaddeus und stand auf. »He, Alvin!« Der große Bursche eilte her. »Alvin, behalt den flotten Dan die nächsten Tage gut im Auge. Wenn du ihn fesseln mußt, damit er sich nichts antut, machst du es. Und richte Queenie aus, sie soll Gloria losschicken, damit sie neue Natriumpillen holt.« Thaddeus ging noch einmal zum Affenmenschen. Er sagte kein Wort, blickte nur stehend auf ihn hinab. Der flotte Dan -128-
schlief jetzt, atmete tief und regelmäßig, doch sein Gesicht war unruhig, als träume er schlecht. Thaddeus streckte die Hand aus, als wolle er dem Affenmenschen aufmunternd die Schulter klopfen, doch plötzlich zog er sie auf halbem Weg zurück. »Komm, Tojo!« knurrte er. »Sinnlos, hier noch rumzuhängen. Alles wieder normal.« Ich folgte ihm zum Wohnwagen. Wir waren beide nicht müde. Thaddeus machte zwei Bier auf und gab mir eins. Wir tranken schweigend, als Jupiter Monk hereinkam. »Hoffentlich störe ich euch nicht«, sagte er, rieb sich die Hände und blies sie an, »aber der alte Alvin weckte vor ein paar Minuten alles auf, weil er ausgerechnet Senf suchte, und da ich Licht bei dir sah, dachte ich -« »Hör auf zu quasseln und greif dir ein Bier«, sagte Thaddeus. »Ich meinte schon, du würdest mich nicht mehr auffordern«, grinste Monk und lief zum Eisschrank. »Ah, wie ich sehe, bist du von Flaschen zu Dosen übergegangen.« »Es gab nichts anderes«, sagte Thaddeus und zuckte die Schultern. Monk riß eine Dose auf und kam zu uns ins Wohnzimmer. »Mann, das ist vielleicht eine grausliche Nacht«, sagte er. »Erinnert mich an den Klondike, nur brauchten wir uns da oben keine Sorgen zu machen, von Eisbären und Wölfen und einem gelegentlichen Elch abgesehen.« »Und hier unten?« fragte ich. »Bullen. Gimpel. Bauernlümmel. Thaddeus. Wenn's um Sicherheit geht, dann auf jeden Fall Klondike.« »Was soll das denn heißen?« meinte Thaddeus gereizt. »Nun, du mußt zugeben, mit dir kommt man manchmal nicht so leicht wie mit einem Eisbären zurecht«, lachte Monk. »Wenn du hergekommen bist, um über mich herzufallen, kannst du gleich wieder gehen«, sagte Thaddeus. »Heute nacht -129-
haben mir schon genug Leute erzählt, was sie von mir halten.« »Eigentlich kam ich her, weil mir endlich der letzte Name eingefallen ist.« »Wovon redest du?« »Von der Frau mit den drei Busen«, sagte Monk. »Wir haben uns doch nie auf einen Namen für sie einigen können.« »Und jetzt hast du einen?« »Klaro.« »Wie viele Stunden hast du drüber nachgedacht?« sagte Thaddeus spöttisch. »Fiel mir wie der Blitz ein«, sagte Monk. »Und wie heißt sie?« »Bei ihren Brüsten muß ich immer an D- förmige Tassen denken«, sagte Monk und lächelte versonnen, als er sie sich vor sein inneres Auge rief, »und da sie drei hat, wie war's mit 3-D?« »Grauenhaft!« schnaubte Thaddeus. »Klingt ja wie Filmwerbung.« »Weißt du was Besseres?« Er wußte nichts Besseres, und auch den anderen fiel nichts ein, und so war sie also 3-D, und die ganze Gruppe hatte endlich Spitznamen wie alle, die auf dem Jahrmarkt arbeiteten. Wir tranken noch einige Biere, bis Monk entdeckte, daß es schon fast halb sechs war. »Ich geh' lieber«, sagte er und trank seine Dose aus. »Wenn ich mich beeile, hab' ich den Kopf noch auf dem Kopfkissen, bevor der Wecker losschrillt.« Er warf einen Blick aus dem Fenster. »Mist! Es schneit wieder. Warum hast du nur Kalifornien verlassen, Thaddeus? Du mußt wahnsinnig gewesen sein.« Thaddeus zuckte nur die Schultern. »Wo warst du, im Norden oder im Süden?« -130-
»Im Süden«, sagte Thaddeus. »Ein Vorort von L.A.« »Anaheim?« »Santa Cruz.« »Schade, daß es nicht Anaheim war«, sagte Monk. »Dort gibt's die Angels und Disneyland und alles mögliche Schöne.« »Von uns aus waren's nur ein paar Meilen«, sagte Thaddeus. Monk zog seine Jacke an und knöpfte sie zu. »Wir sind beide nicht gerade die Schlauesten. Ich könnte Affen in Afrika jagen, und du könntest einen Haufen 2-Ds über einen Strand in Kalifornien wackeln sehen.« Er öffnete die Tür. »Bis morgen.« »Mach das verdammte Ding zu!« rief Thaddeus. »Es ist eiskalt!« Monk lachte und warf die Tür hinter sich zu, als er in den Schnee hinausstapfte. Thaddeus machte noch ein Bier auf und bot mir eines an. »Nein danke«, sagte ich. »Nimm schon«, sagte er und drückte es mir in die Hand. »Ich trinke nicht gern allein.« »Thaddeus«, sagte ich langsam, »wo bist du aufgewachsen?« »Was macht das schon?« »Nichts. Aber ich weiß, wo Santa Cruz ist: Es ist ein Vorort von San Francisco.« »Na, wenn schon.« »Aber ich denke, du hast gesagt -« »Zum Teufel, woher soll ich wissen, wo Santa Cruz ist?« knurrte er. »Ich hab' den Namen mal in einem Film gehört.« »Du bist dort nicht aufgewachsen?« »Ich bin mein Lebtag nicht in Kalifornien gewesen«, sagte er heftig. Wir schwiegen, saßen vielleicht zehn Minuten bewegungslos auf unseren Stühlen, während der Wind an die Fenster peitschte -131-
und der Schnee sich türmte. »Ich bin in Trento, New Jersey geboren«, sagte er schließlich. »Meine Mutter war die billigste Nutte in der Stadt. Selbst die Schwarzen wollten mit ihr nichts zu tun haben. Sie hatte nur Krüppel und Saufbrüder.« »Und dein Vater?« fragte ich leise. »Der Hut, aus dem man seinen Namen ziehen müßte - also, einen so großen Hut gibt's gar nicht«, sagte Thaddeus mit leiser und tonloser Stimme. »Ich wuchs in einem Ein- ZimmerAppartement auf, sah meiner Mutter bei der Arbeit mit zwei-, dreihundert Männern pro Woche zu, wobei sie sich jeden Cent, den sie ranschaffte, in den Arm spritzte. Der Staat holte mich immer wieder ab und steckte mich in Heime, und ich kam immer zurück. Bis ich zwölf war.« »Und was war dann?« »Irgendein Heroinsüchtiger schlug ihr den Schädel ein. Er ging, und ich fand sie.« »Was hast du dann gemacht?« »Von jedem ein bißchen.« Er sah aus dem Fenster. »Meistens hatte ich Hunger und fror. Die Mädchen in Kalifornien - hah! Ich bin noch nicht mal bis zum Mississippi gekommen.« »Warum hast du das dann erzählt?« fragte ich. »Den Leuten vom Jahrmarkt ist es doch gleich, wo du herkommst.« »Mir ist es nicht gleich«, sagte er so leise, daß ich ihn kaum verstehen konnte. »Ich hab' mein ganzes Mistleben um jeden Penny gekämpft, damit ich nur nicht wieder in diesem verdammten Zimmer in Trenton ende.« »Aber wieso Kalifornien?« »Weil's dort sauber ist«, sagte er. »Ich sag' mir gern, einmal im Leben war ich an einem sauberen Platz.« Er drehte sich plötzlich zu mir. »Wenn's dort dreckig ist, möchte ich nichts davon hören.« -132-
»Es ist dort sauber, Thaddeus«, log ich. Er trank sein Bier aus. »Wenn du weitertratschst, was ich eben erzählt habe, reiß' ich dir den verdammten Buckel ab und stopf ihn dir in den Schlund«, sagte er. »Hast du das kapiert, du dämlicher Zwerg?« »Ich sage niemandem was«, meinte ich. »Ist auch besser so«, murmelte er, legte sich auf die Couch und schlief ein. Als ich ihn in der gleichen Stellung wie der flotte Dan und mit dem gleichen unglücklichen Gesichtsausdruck liegen sah, war ich überrascht, wie wenig sie sich voneinander unterschieden. Hatte der flotte Dan vielleicht diese Welt für sein Kalifornien gehalten?
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11 Mittags weckte ich Thaddeus. Er hatte seinen üblichen Kater, war wie üblich gereizt und bestellte krächzend die übliche Tasse Kaffee. »Danke«, sagte er, als ich sie ihm brachte. Er nahm einen Schluck, wärmte die Hände am Becher und schloß die Augen. »Schon besser«, murmelte er. »Das war gestern vielleicht eine Nacht, was?« sagte er mit einem schiefen Lächeln. »Alma gibt sich ausgerechnet als noble Dame, und der Affenmann versucht, sich umzubringen, und...« Seine Stimme brach ab, und ich konnte dem beunruhigten Ausdruck seines Gesichtes entnehmen, daß er sich an alles erinnerte, was er mir anvertraut hatte. Plötzlich wurde ihm sehr unbehaglich zumute. Er schämte sich beinahe. Das war ein neuer Zug an Thaddeus, und obwohl ich seit Jahren darauf wartete, mußte ich mir eingestehen, daß er nicht sehr gut zu ihm passen wollte. Er trank schweigsam seinen Kaffee, kleidete sich rasch an und lief durch die Budenstraße zum Wohnzelt. Ich räumte die Küche auf, machte die Betten und folgte Thaddeus ins Zelt. Er saß auf dem Rand des Feldbettes und prüfte Puls und Herzschlag des flotten Dan, als wüßte er, was normal und was nicht normal war. Anschließend flößte er dem flotten Dan Löffel für Löffel warme Suppe ein. Der Affenmensch schien den Kampf aufgegeben zu haben - wenn man überhaupt von›Kampf‹sprechen konnte - und schluckte jeden Löffel, den Thaddeus ihm gab. Als die Schüssel leer war, wandte sich Thaddeus an Big Alvin und Baumlang, die seit dem Selbstmordversuch Wache gehalten hatten. »Hat von euch keiner daran gedacht, daß er vielleicht etwas zu essen brauchen könnte?« wollte er wissen. »Zum Teufel, der hat gekotzt, bis nichts mehr in ihm war.« -134-
Die beiden Männer gaben keine Antwort, und Thaddeus rief Mr. Ahasuerus zu sich. »Und Sie?« fragte er. »Ich dachte, Sie haben die Verantwortung für ihn übernommen?« »Ich dachte, Ruhe sei wichtiger als Essen«, sagte der blaue Mann. »Fürs Denken werden Sie nicht bezahlt!« knurrte Thaddeus. »Mist, hier ist es eiskalt! Er braucht eher Wärme als Schlaf!« Er stapfte in ohnmächtigem Zorn durchs Zelt. Schließlich blieb er wieder am Feldbett des flotten Dan stehen. »Sie!« sagte er unvermittelt. »Wenn ich Sie in meinen Wohnwagen bringe, geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie keinen Selbstmord-, keinen Fluchtversuch unternehmen?« »Nein«, sagte der flotte Dan und starrte ihn matt, aber ohne zu blinzeln, an. Thaddeus starrte einen langen Moment zurück, wandte sich wieder an die Aufpasser. »Alvin, du und Baumlang, ihr baut eins der Feldbetten zu einer Tragbahre um und schafft ihn in den Wohnwagen. Und sagt Swede, er soll sich dort um den Haushalt kümmern und ein Auge auf ihn haben.« »Ich danke Ihnen«, sagte Mr. Ahasuerus. Thaddeus warf einen Blick auf Regenbogen, der wieder einmal fahlblaue Haut hatte. »Den da auch«, sagte er und zeigte auf den Mann der vielen Farben. »Sollen wir sie zur Schau zurückbringen?« fragte Big Alvin. »Nein. Die bleiben dort, bis sie gesund sind. Und Kalebasse und Snoopy bleiben heute im Zelt. Vier Augen auch, es sei denn, Gloria kommt rechtzeitig mit den Pillen zurück.« »Ich könnte an ihrer Stelle auftreten«, schlug Mr. Ahasuerus vor. Thaddeus stieß ein trockenes Lachen aus. »Aus Ihnen werde ich nicht schlau«, gab er zu. »Weshalb wollen Sie mir -135-
einen Gefallen tun?« »Will ich gar nicht«, erwiderte Mr. Ahasuerus. »Ich möchte nur sicherstellen, daß Sie nicht allzuviel Geld verlieren und meine kranken Gefährten zwingen müssen, wieder in der Monstrositätenschau aufzutreten, wenn sie noch nicht wiederhergestellt sind.« »Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf«, sagte Thaddeus. »Tot nützen sie mir nichts.« »Na schön«, sagte Mr. Ahasuerus. »Ich ziehe mein Angebot zurück.« »Ich nehme Ihre Zurücknahme an.« »Darf ich Sie etwas fragen?« »Nur zu«, sagte Thaddeus, zündete sich eine Zigarette an, reichte die Schachtel dem blauen Mann, der ablehnte. »Seit Sie... äh... die Leitung der Monstrositätenschau übernahmen, haben Sie mich dem Publikum nic ht ein einziges Mal vorgestellt.« »Kränkt Sie das?« »Ich bin nur neugierig.« »Gut. Da haben Sie was zum Nachdenken«, versetzte Thaddeus. »Eine andere Antwort bekomme ich nicht?« fragte Mr. Ahasuerus. »Nein.« Der blaue Mann sah ihn erstaunt an. Dann zuckte er die Schultern und ging. »Die Frage habe ich mir selbst auch schon gestellt«, sagte ich. Er senkte die Stimme, bis ihn die anderen nicht mehr hören konnten. »Ganz einfach. Ihrem Anführer gibt man besondere Vorrechte, auch wenn er sie nicht verlangt und nicht will. -136-
Darüber machen sich die anderen Gedanken, und sie gehorchen ihm vielleicht weniger leicht, wenn er versucht, die Zügel an sich zu reißen.« »Glaubst du, er wird etwas versuchen?« »Selbstverständlich.« »Aber er zeigt doch Herzlichkeit und den Willen zur Zusammenarbeit, mehr, als man in seiner Situation von ihm erwarten könnte«, protestierte ich. »Tojo, der Mann arbeitet wie jeder andere auch für eine Gesellschaft. Und er muß ein ziemlich hohes Tier sein, wenn man ihm ein Raumschiff und einen Haufen Touristen aus anderen Welten anvertraut. Was folgerst du daraus?« »Was soll ich denn daraus folgern?« fragte ich. »Niemand erreicht eine Stellung mit Autorität, wenn er nicht in der Lage ist, im Notfall ein hinterhältiges Schwein zu sein. Ich weiß nicht, warum er mich weichkriegen will, aber das ist schließlich gleich. Wenn er der Anführer ist, muß er auch der Ausgekochteste von ihnen sein.« »Aber er ist doch kein menschliches Wesen«, sagte ich und wies nicht auf die Tatsache hin, daß Thaddeus zum erstenma l von ihm als einem Mann gesprochen hatte. »Vielleicht geht es auf seiner Welt anders zu.« »Soviel ich sehe, gibt es im ganzen Universum nur ein Gesetz: Die Starken schlucken die Schwachen.« »Ich glaube, du hast unrecht«, sagte ich. »Hoffentlich.« »Und wenn schon? Ein Unglück ist es nicht, und er muß sich nicht von den Hinterwäldlern angaffen lassen. Und wenn ich recht habe...« Er brach ab und lächelte mich breit an. In diesem Augenblick kam die Ablösung für Baumlang und Big Alvin, und Thaddeus ging, um die Überführung der beiden Kranken in den Wohnwagen zu leiten. Als es Zeit für die Schau -137-
war, führte er die sechs gesunden fremden Wesen auf ihre Plattformen. Da es im Zelt der Monstrositätenschau noch kälter als im Wohnzelt war, beschloß ich, eine Reihe Tassen mit Kaffee zu füllen und sie den ausgestellten Fremden auf einem Tablett zu servieren. Ich hatte Schießscheibe eben eine überreicht und wollte die nächste 3-D anbieten, als ich hinten in der Menge einen großen, gut gekleideten Mann mit durchdringenden Augen und einer Hakennase sah. Ich hatte ihn bis jetzt nur einmal gesehen, aber Mr. Romany gehörte zu der Sorte Menschen, die man in zwölf Leben nicht vergißt. Thaddeus hatte eben seine Beschreibung von Elasto und seiner frei erfundenen Herkunft beendet. Als die Menge den Gummimenschen neugierig anstarrte, lief ich zu Thaddeus und zupfte ihn am Ärmel. »Was ist los?« fragte er. »Er ist da!« flüsterte ich. »Er hat uns gefunden!« »Überrascht dich das?« sagte er lächelnd. »Was willst du machen?« fragte ich. »Den Rundgang zu Ende führen«, sagte er leichthin. »Mach dir keine Sorgen wegen Romany - der wird vor dem Publikum keine Szene machen.« Thaddeus fuhr gleich mit seinem Geplauder fort, und es verstrichen weitere fünfzehn Minuten, bis er die Menge entließ. Mr. Romany war der letzte in der Reihe, und als alles ins Freie geströmt war, blieb er dicht vor dem Ausgang stehen und drehte sich zu Thaddeus um. »Sie haben etwas sehr Törichtes getan, Mr. Flint«, sagte er. »Töricht - das hängt vom Betrachter ab«, erwiderte Thaddeus grinsend. »Also ich würde zum Beispiel sagen, daß es verdammt töricht ist, allein ins feindliche Lager einzudringen.« »Wollen Sie mir angst machen?« fragte Mr. Romany, zog -138-
eine Augenbraue in die Höhe und wirkte leicht belustigt. »Daran ist nicht zu denken«, sagte Thaddeus. »Nur eine Feststellung. Was machen Sie hier?« »Sie wissen ganz genau, was ich hier mache«, sagte Mr. Romany. »Ich will sie zurückhaben.« »Das ist ja wohl klar«, erwiderte Thaddeus und lachte leise. »Nun?« »Es ist weder der passende Ort noch die richtige Zeit, uns darüber zu unterhalten.« »Zeit und Ort sind genau richtig«, sagte Mr. Romany. »Überlegen Sie doch«, sagte Thaddeus. »Wir haben beide ein Interesse daran, die Angelegenheit geheimzuhalten. Hier kommen zu viele Leute durch.« »Wie war's mit Ihrem Büro?« »Unmöglich. In der Stadt gibt's eine Bar mit Namen Lucy's Tavern. Wir treffen uns dort in einer Stunde.« »Wer sagt mir denn, daß Sie kommen werden?« fragte Mr. Romany argwöhnisch. »Niemand«, antwortete Thaddeus. »Aber Sie wissen, daß ich länger als einen Tag brauche, um die Schau in Bewegung zu setzen, und Sie können immer herkommen und mich suchen.« Mr. Romany schien es sich zu überlegen. »Weshalb gehen wir in die Stadt? Warum unterhalten wir uns nicht hier auf dem Gelände?« »Weil ich Ihren telepathischen Freund nicht in der Nähe haben will, wenn wir miteinander reden.« »Sie wissen also von ihm?« »Natürlich weiß ich Bescheid«, sagte Thaddeus. »Was meinen Sie denn, mit wem Sie es zu tun haben?« Mr. Romany sah auf seine Armbanduhr. »In einer Stunde«, -139-
sagte er und ging aus dem Zelt. »Siehst du?« sagte Thaddeus zu mir. »Nichts dahinter.« »Es ist nicht ausgestanden«, antwortete ich. »Du verstehst noch immer nicht, wie das Spiel läuft, oder?« sagte er lächelnd. »Er wollte jetzt reden. Ich habe ihn zu einem Rückzieher veranlaßt. Er wollte hier reden. Ich brachte ihn dazu, in die Stadt zu gehen. Er wollte wahrscheinlich Schießscheibe in der Nähe haben. Er wird mich allein treffen.« »Was beweist das schon?« »Das beweist, daß er in seiner Handlungsfreiheit viel eingeengter ist als ich«, antwortete Thaddeus. »Und das heißt, daß er mir nicht wirklich drohen kann, auch wenn er unangenehm aussieht.« Er schwieg und räusperte sich. »Vielleicht kann ich den flotten Dan nicht vom Selbstmord abhalten, und vielleicht hab' ich keine Ahnung, wie man Alma glücklich macht, aber mit Romany ist das anders: Hier läuft wieder mein Spiel, und ich kenne mich mit den Grundregeln aus. Bring die Freaks weg, und schnapp dir deine Jacke. Du kommst mit.« »Weshalb denn?« »Weil ihm das nicht passen wird«, sagte Thaddeus. »Welchen Nutzen bringt ein starkes Blatt, wenn man es nicht ausspielt?« Ich führte die sechs Fremden zurück zum Zelt, vergewisserte mich, daß Gloria die Natriumpillen für Vier Augen abgegeben hatte, und suchte meine Jacke. Ich überlegte, Mr. Ahasuerus mitzuteilen, daß Mr. Romany uns gefunden hatte, beschloß aber, ihm keine Hoffnungen zu machen. Erst auf halbem Weg in die Stadt fiel mir ein, daß er es sowieso erfahren würde: Die anderen mußten Mr. Romany ebenfalls gesehen und erkannt haben. Den Rest der Fahrt machte ich mir Gedanken darüber, ob mich Mr. Ahasuerus für den Lakaien von Thaddeus hielt, weil ich es ihm nicht gesagt hatte. -140-
Die Stadt sah wie die meisten Siedlungen des nördlichen Vermont aus: schmale Straßen, ein riesiger Platz, alte Fachwerkhäuser, die zu Läden und Geschäften umgebaut worden waren, und ab und zu ein langes, niedriges Bürogebäude, so reichhaltig verglast, daß man sich fragen mußte, wie es wohl im eiskalten Winter geheizt wurde. In Lucy's Tavern verbrachten die Leute vom Jahrmarkt ihre Zeit, wenn sie nicht arbeiteten oder in ihren Wohnwagen tranken. Im ehemaligen Wohnzimmer eines alten, zweistöckigen Hauses waren eine winzige Bar und etwa ein Dutzend kleine Tische mit unbequemen Holzstühlen aufgebaut. Auf jedem Tisch stand eine Schüssel Erdnüsse, gratis, eine Aufmerksamkeit der Geschäftsführung, und der Boden war mit Erdnußschalen übersät, die man einfach liegenließ, weil das entweder zur Atmosphäre beitrug oder weil Lucy und ihre Angestellten schlicht keine Lust hatten, zu fegen. Der Nachmittag war schon etwas vorgeschritten, als wir ankamen, und das Lokal war völlig leer, von einem gelangweilten Barmann abgesehen, der seine Nase in eine Ausgabe des National Geographie vergraben hatte. Mr. Romany saß an einem Tisch in der hintersten Ecke des schwach beleuchteten Barraums und wartete vor einer Flasche SchlitzBier und einem halbleeren Glas. Thaddeus ließ mich am Tisch zurück, bestellte zwei Bier an der Bar und kam eine Minute später zurück. »Ich dachte, Sie würden allein kommen«, sagte Mr. Romany. »Ich hab' Ihnen schon mal gesagt«, grinste Thaddeus, »daß er mein Leibwächter ist.« Mr. Romany starrte mich an. »Er ist klein, aber drahtig«, fügte Thaddeus hinzu. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Hatten Sie eine angenehme Reise?« »Sobald ich das Gefängnis verlassen hatte.« -141-
»Betrachten Sie es als Berufsrisiko«, sagte Thaddeus, lächelte noch immer. »Ich habe Schlimmeres erlebt.« »Wenn Sie Spielkarten bei sich gehabt hätten, wäre für Sie viel Geld zu gewinnen gewesen«, sagte Thaddeus. »Können wir mit dem Geplauder aufhören und uns die gewisse Angelegenheit vornehmen?« sagte Mr. Romany kühl. »Ist mir recht«, willigte Thaddeus ein. »Wie steht's mit dir, Tojo?« »Gut«, sagte ich verblüfft. »Na schön«, sagte Mr. Romany. »Sie haben ein schweres Verbrechen begangen, Mr. Flint. Selbst bei den lockeren Sitten auf diesem Planeten hier wird Entführung als Schwerverbrechen angesehen.« »Dann sollten Sie mich der Polizei melden. Wenn Sie ein Verbrechen begangen hätten, würde ich nicht zögern, wie Sie sicher gemerkt haben.« »Wir beide wissen, daß das unmöglich ist.« »Dann sitzen wir also im selben Boot, was?« erwiderte Thaddeus. »Sie wollen nicht, daß die Behörden erfahren, daß es sich umfremde Wesen handelt, und ich möchte nicht, daß sie von der Entführung erfahren. Ich glaube, wir müssen uns gegenseitig vertrauen.« Ich behielt Mr. Romany sehr genau im Auge, um auf seine Reaktion zu achten, aber ihm war nichts anzumerken. Entweder konnte sein Gesicht keinen anderen Ausdruck annehmen, sicher eine Möglichkeit, oder er ließ sich überhaupt nicht in die Karten blicken. Ich entschied mich eher für letzteres: Er hatte gewußt, daß er vor Thaddeus nicht mit den Behörden bluffen konnte. Er hatte sie aus Formgründen erwähnt, damit das Thema erledigt war. -142-
»Was soll mich davon abhalten, sie Ihnen zu rauben?« sagte er, und da wußte ich, daß er bluffte. Er wollte von Thaddeus hören, wie gründlich er die Fremden abschirmte, um so seinen Widersacher kennenzulernen. »Sie kann nichts abhalten«, versetzte Thaddeus ruhig. »Natürlich werde ich, sollten Sie es versuchen, den Affenmenschen und den Mann der vielen Farben töten.« Er schwieg, um seine Worte wirken zu lassen. »Sehen Sie sich in dem Zelt um. Sie werden die beiden dort nicht entdecken.« »Wo sind sie?« »Irgendwo oben in Maine«, log Thaddeus. »Ich muß sie natürlich nicht umbringen. Ich brauche sie nur den staatlichen Stellen zu übergeben. Ich meine, wenn Sie Mr. Ahasuerus und die anderen geholt haben, werde ich doch keine finanziellen Belastungen auf mich nehmen, oder?« Diesmal reagierte Mr. Romany. Seine Muskeln in dem schmalen und angespannten Gesicht strafften sich ein wenig. Es war auch Thaddeus sicherlich nicht entgangen - und er würde es sich bestimmt für eine spätere Verwendung merken. Offenbar fürchtete Mr. Romany eine Bloßstellung mehr als den Tod zweier Fremder. »Sie zeigen sich sehr vernünftig«, sagte Mr. Romany schließlich. »Sie sind bei der Entführung ungestraft davongekommen, Sie haben daher eine beträchtliche Summe Geld eingenommen. Geben Sie sie also zurück, und es wird nichts weiter unternommen.« »Es ist noch überhaupt nichts unternommen worden«, antwortete Thaddeus. »Das wird sich ändern. Das menschliche Nadelkissen hört diese Unterredung mit. Sobald es begreift, daß Sie nicht die Absicht haben, sie freizulassen, werden sie gezwungen sein, mit oder ohne meine Unterstützung etwas zu unternehmen.« -143-
»Bockmist«, sagte Thaddeus. »Wie bitte?« »Das Nadelkissen kann kein Wort von dem hören, was wir besprechen. Es kann nur senden. Wenn es empfangen könnte, hätte es auf jeden Fall von meinem Plan gewußt, sie zu mir zu holen, und Sie wären ein bißchen besser auf mich vorbereitet gewesen. Und jetzt, Mr. Romany«, sagte er und beugte sich ein wenig über den Tisch, »wenn Sie mit dem Unsinn aufhören, können wir vielleicht zur Hauptsache kommen.« »Die Hauptsache ist, daß Sie zwölf vernunftbegabte Wesen entführt haben und gegen ihren Willen festhalten.« »Die Hauptsache ist«, sagte Thaddeus, »daß Sie jemand unter Druck gesetzt hat, das kleine Problem rasch in Ordnung zu bringen. Sie sind einfach nur ein kleines Rädchen, eine Vorhut oder ein Assistent des Reiseleiters oder so was. Jemand an höherer Stelle macht sich langsam Sorgen wegen Mr. Ahasuerus und seiner Gruppe, und Sie möchten keine Minuspunkte in Ihren Papieren sammeln. Wenn die Zeit der Beförderungen naht, soll sich niemand daran erinnern müssen, daß man Sie aus einer abgelegenen kleinen Welt freikaufen mußte.« Mr. Romany wurde beim Zuhören zusehends unruhiger und rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. »Das Problem, dem wir uns nun gegenübersehen«, schloß Thaddeus, »besteht nicht darin, wie wir einen Haufen unschuldiger Touristen vor einem Leben der Knechtschaft und Erniedrigung bewahren können, sondern wie wir Ihren Hals retten können. Meinen Sie, daß das der Lage in etwa entspricht?« Mr. Romany nickte traurig. Es wurde längere Zeit ungemütlich still, und Thaddeus grinste mich an, als wollte er sagen: Hab' ich's nicht gewußt? »Na gut«, sagte er, als deutlich wurde, daß Mr. Romany den -144-
Mund nicht aufmachen würde, »Sie sind ein Angestellter einer Gesellschaft, und Sie haben Sand ins Getriebe gebracht, und Sie möchten nicht, daß man Ihnen aufs Dach steigt. Ich kann das verstehen, und ich bin sicher, wir finden eine Lösung.« »Welche?« fragte Mr. Romany. »Ich werde überhaupt nichts verlangen«, sagte Thaddeus. »Das würde zu sehr nach Erpressung aussehen. Sie werden jetzt heim oder ins Motel gehen, oder dorthin, wo Sie eben wohnen, und überlegen, welche Regelung günstig ist. Morgen mittag treffen wir uns auf dem Jahrmarkt. Ich werde in Monks Bus sein.« »Nicht in der Monstrositätenschau?« »Nein. Und wenn ich merke, daß Sie versucht haben, mit Mr. Ahasuerus oder einem der anderen zu sprechen, wird die Sache abgeblasen.« Mr. Romany erhob sich. »Noch etwas«, sagte Thaddeus. »Ja?« »Kein Beschiß mehr. Sie haben das Zeug zu einem recht guten Thaddeus Flint - aber ich bin schon seit vierunddreißig Jahren Thaddeus Flint. Verstehen Sie, was ich sagen will?« Mr. Romany nickte und ve rließ das Lokal. Er wirkte viel weniger gefährlich als bei unserem Kommen. »Nun?« sagte Thaddeus zu mir, zündete sich eine Zigarette an und trank sein Bier aus. »Du hast es von Anfang an gewußt?« fragte ich. »Tojo, wenn man mit diesem Gewerbe so lang wie ich zu tun hat, kann man einen Hochstapler zweihundert Meter gegen den Wind riechen.« Er blickte durch die Tür dem davoneilenden Mr. Romany nach. »Der verdammte Dreckskerl interessiert sich nicht im geringsten für Mr. Ahasuerus und die anderen.« Ich sagte, nur um seine Reaktion zu sehen: »Warum sollte er -145-
sich denn für sie interessieren?« Thaddeus starrte mich lang und fest an. »Er hat keinen Anlaß«, sagte er schließlich. Er legte ein paar Münzen auf den Tisch und ging zum Wagen. »Fahren wir jetzt zurück?« fragte ich. »Gleich«, sagte er. »Ich muß nur noch rasch wo anhalten.« Wir fuhren durch die Stadt, bis wir einen Buchladen entdeckten. Thaddeus ließ mich ein paar Minuten im Wagen warten, und als er zurückkam, hatte er sich ein Buch unter den Arm geklemmt. »Das erste Buch, das ich mir in zehn Jahren gekauft habe«, stellte er ein wenig verlegen fest. »Welches Thema?« fragte ich. »Astronomie.« »Aus einem besonderen Anlaß?« »Die reine Neugier«, sagte er. Wir fuhren schweigend zum Jahrmarkt zurück. Thaddeus brachte das Buch in seinen Wohnwagen, erkundigte sich nach dem Befinden des flotten Dan. »Wie geht's ihm?« fragte er Swede. »Alles in Ordnung«, antwortete Swede. »Er ist ziemlich schwach, aber ihm scheint's nicht schlechter zu gehen.« »Schön.« »Äh - Boß?« sagte Swede, und Thaddeus wandte sich um. »Soll ich hierbleiben oder die Fleischbeschau übernehmen?« »Bleib hier.« »Wer macht dann die Fleischbeschau?« wollte Swede wissen. »Ich hol' den Schieber«, sagte Thaddeus. »Das wird ihm nicht schmecken.« »Solang ich der Boß bin, braucht es ihm auch nicht zu -146-
schmecken«, sagte Thaddeus. »Er braucht es bloß zu tun.« Er sah mich an. »Ich würde es dich machen lassen, wenn du könntest.« »Weiß ich, Thaddeus«, sagte ich. »Vielleicht einmal, wenn nicht soviel Publikum kommt.« »Schon gut, Thaddeus.« »Also okay«, sagte er verlegen. »Wie sieht Regenbogen aus?« »Unverändert«, antwortete Swede. Regenbogen schlief im Nebenzimmer. »Paß auf, daß er immer zugedeckt ist«, sagte Thaddeus. »Komm, Zwerg, an die Arbeit.« Wir liefen zum Wohnzelt und brachten die sieben gesunden Fremden in die Monstrositätenschau, nachdem wir uns vergewissert hatten, daß Vier Augen seine Pillen genommen hatte. Während der Vorführungen ging ich ins Wohnzelt, um ein Nickerchen zu machen, da ich die letzte Nacht nur ein paar Stunden geschlafen hatte. Ich wachte gegen Mitternacht auf und ging hinüber, um zu hören, wie Thaddeus die letzte Schau ansagte. Er machte es wie ein Jazzmusiker, setzte die Worte wie Noten ein, hielt sich an dieselben Grundthemen, wiederholte aber so gut wie nie die Melodien. Er überarbeitete seine Sätze und Scherze ständig, bis sie glatt wie poliertes Ebenholz waren, dann legte er sie beiseite und versuchte es mit neuen. Während ich ihn beobachtete, beschlich mich das Gefühl, daß ich, selbst wenn ich wie ein gewöhnlicher Mensch sprechen könnte, als Ansager nicht halb so gut wie er wäre. Es war eine Kunstform, und Künstler kann man nicht werden. Man wird als einer geboren, oder eben nicht. Irgendwie wußte ich, ein Künstler war ich nicht. Als die Schau vorüber und das Zelt verschlossen war, geleiteten wir die fremden Wesen zurück ins Wohnzelt. Baumlang und Big Alvin hielten wieder Wache. -147-
Baumlang stand mit einem Glas Wasser in der Hand vor Kalebasse. »Komm schon, Hübsche«, turtelte er, »nur ein kleines Schlückchen.« Kalebasse wich ungeschickt zurück. »Vielleicht werde ich dich ein bißchen baden«, sagte er und näherte sich ihr. »Himmel, du könntest ein Bad gebrauchen, so, wie du riechst.« Sie stolperte und wäre fast gestürzt. Baumlang lachte laut auf. »Bist auch nicht gerade vom Ballett, was?« kicherte er. Er wollte noch etwas sagen, aber bevor er dazu kam, hatte ihn Thaddeus an der Schulter gepackt, herumgerissen und mit einem Schwinger nach seinem Gesicht gezielt. Er war zu groß, als daß der Schlag sein Ziel hätte erreichen können, aber Thaddeus erwischte ihn seitlich am Hals. Das genügte, um Baumlang zu Boden gehen zu lassen. »Wieso hast du das gemacht?« keuchte Baumlang, kam auf die Knie und blinzelte heftig. »Du bist bezahlt worden, um auf sie aufzupassen, nicht um sie zu hänseln«, schrie Thaddeus ihn an, die Fäuste noch geballt. »Ich hab' mir nur einen kleinen Spaß mit ihr erlaubt«, sagte Baumlang kleinlaut und rieb sich vorsichtig den Hals. »Du hast zehn Minuten, um deine Sachen zu packen und deinen Arsch vom Gelände zu bewegen«, sagte Thaddeus. »Wenn du dann immer noch da bist, beginnt die zweite Runde.« »Du schmeißt mich raus, weil ich mit einem verdammten Krüppel Blödsinn gemacht hab'?« sagte Baumlang ungläubig. »He, du behandelst sie ja selbst wie Dreck!« »Noch neun Minuten, und die Uhr läuft«, sagte Thaddeus drohend. Baumlang stand schwankend auf, schüttelte verblüfft den Kopf und ging hinaus. -148-
»Alvin«, befahl Thaddeus, »du behältst ihn im Auge und sorgst dafür, daß er fährt. Wenn er in einer Viertelstunde noch hier ist, will ich es wissen.« Big Alvin nickte und verließ das Zelt mit einem Gesicht, das kaum weniger überrascht als das Baumlangs war. Thaddeus ging zu Kalebasse. »Alles in Ordnung?« fragte er, und sie nickte langsam mit ihrem Elefantenkopf. Dann wandte er sich an mich. »Tojo, bleib hier, bis Alvin zurück ist.« »Gut, Thaddeus«, sagte ich. Er lief aus dem Zelt, und Mr. Ahasuerus kam zu mir. »Wie ich höre, hat Mr. Romany uns gefunden«, sagte er. »Viel Hoffnung würde ich mir aber nicht mache n, wenn ich Sie wäre«, antwortete ich. »Ihm scheint es mehr um seine Situation als um Ihre zu gehen. Ich hatte den Eindruck, er würde für Sie arbeiten?« »Nicht genau«, sagte Mr. Ahasuerus, dem die Enttäuschung anzusehen war. »Wir arbeiten beide für das gle iche Unternehmen. Sie glauben nicht, daß er uns helfen kann?« »Das weiß ich nicht«, sagte ich. »Er trifft sich morgen wieder mit Thaddeus. Dann werde ich mehr wissen.« Der blaue Mann schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich anders und ging zu seinem Feldbett. Alvin kehrte nach zwanzig Minuten zurück und sagte mir, daß Baumlang sich seinen Lohn von Diggs geholt hatte und gefahren war. Nach einer Weile schlenderte ich zum Wohnwagen. Der flotte Dan schlief unter Swedes wachsamen Augen im Wohnzimmer, Regenbogen ruhte im Schlafzimmer - und was Thaddeus anging, der saß auf dem Küchenboden, hatte den Rücken an einen Schrank gelehnt und sich mit einer Eindringlichkeit in sein neues Buch vertieft, die er sonst nur für Frauen und seinen Vorteil aufbrachte.
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12 Ich wachte wie gewöhnlich kurz vor zehn Uhr auf und schlich auf Zehenspitzen aus dem Schlafzimmer, um Regenbogen nicht aufzuwecken. Thaddeus stand völlig angekleidet am Fenster des Wohnzimmers und blickte mit belustigtem Lächeln hinaus auf das Gelände. »Wieso bist du schon auf?« fragte ich. Er legte einen Finger an die Lippen und zeigte auf den flotten Dan, der noch in tiefem Schlaf lag, und flüsterte: »Ich bin gar nicht im Bett gewesen.« »Ist irgendwas los?« flüsterte ich zurück. »Ich hab' fast die ga nze Nacht gelesen. Als ich schließlich auf die Uhr sah, dachte ich mir, ich bleibe gleich auf, um das Treffen mit Romany nicht zu verschlafen.« Er sah wieder aus dem Fenster. »Da draußen sind zwei Bullen. Ich beobachte sie schon seit mehr als zwanzig Minuten.« »Weshalb sind die hier?« »Weshalb kommt denn die Polizei auf einen Jahrmarkt?« lächelte er. »Diese Burschen sind aber sicher noch nicht lange dabei. Sie wissen anscheinend nicht, an wen sie sich wenden sollen. Ich glaube, Monk hat ihnen einen solchen Schrecken eingejagt, als er vorhin Bruno Gassi führte, daß die beiden ein Jahr lang nicht mehr wachsen werden.« Ich trat ans Fenster und blickte hinaus. Die beiden Polizisten hatten sich in eine lebhafte Unterhaltung mit Stogie eingelassen, was immer ein Fehler war: Er würde ihnen schon sagen, was sie wissen wollten, aber erst nachdem er ein paar uralte Witze an den Mann gebracht hatte. Sie hörten ihm zunächst geduldig zu, verloren dann aber die Geduld und schrien ihn an. Stogie sah sie wegen ihrer Humorlosigkeit oder ihrem Mangel an Intelligenz oder beiden! sehr von oben herab an, bevor er endlich seine -150-
Zigarre aus dem Mund nahm und mit ihr auf unseren Wohnwagen wies. Einen Augenblick später klopften die Polizisten an unsere Tür. Thaddeus gab mir ein Zeiche n, mit ihm hinauszugehen, damit die beiden fremden Wesen nicht aus ihrem Schlaf geweckt wurden. »Sie sind Thaddeus Flint?« fragte der größere der beiden Polizisten. »Stimmt«, sagte Thaddeus, zog den Reißverschluß seiner Jacke bis oben hin zu und steckte die Hände in die Taschen. »Sie sind ein bißchen früh für die Vorstellung da, Herr Wachtmeister.« »Wir wollten eigentlich genau darüber mit Ihnen reden«, war die Antwort. »Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn wir uns bei unserem Gespräch ein wenig bewegen, oder?« sagte Thaddeus. »Zu kalt, um still zu stehen.« »Ist uns recht«, sagte der Kleinere. Thaddeus drehte sich um und nickte mir zu. Es war das Zeichen für mich, zu verschwinden. Bullen mögen keine Zeugen, wenn sie geschmiert werden. Ich beschloß, nicht in den Wohnwagen zurückzukehren, da ich die Fremden nicht wecken wollte, und ging kurz ins Treibhaus. Dort suchte ich Swede, um ihm zu sagen, daß er lieber rasch auf seinen Wachposten zurückkehren solle. Ich blieb ein wenig, um mich aufzuwärmen, steckte den Kopf hinaus, um nachzusehen, ob Thaddeus die Polizei schon abgefertigt hatte. Als ich sah, daß er allein war, rannte ich zu ihm. Er zündete sich die erste Zigarette des Morgens an. »Alles erledigt?« fragte ich. Er nickte. »Komm, leiste mir Gesellschaft, Tojo.« -151-
Wir gingen zu Schiebers Wohnwagen und hämmerten gegen die Tür, bis Diggs öffnete. »Ich hab' mich um die Bullen gekümmert«, berichtete Thaddeus. »Für dich ist alles geritzt.« »Wie lange?« fragte der Schieber. »Fünf Tage. Dann holen sie sich wieder was.« »Wollen wir noch fünf Tage in dieser arktischen Eiswüste bleiben?« »Ich habe mich noch nicht entschieden«, sagte Thaddeus. »Leg dich wieder schlafen. Du erkältest dich in deinen Unterhosen, und ich lache vielleicht, bis ich tot umfalle.« Diggs machte die Tür wortlos zu, und wir gingen rüber ins Zelt der Mädchen. Alma und drei andere saßen in Jeans und Pullover da, tranken Kaffee und Kakao, der mit Whisky gewürzt war, während Gloria im Trikot ihre Morgenübungen absolvierte: Kniebeugen, die Beine hoch, Dehnübungen. Sie nahm ihre Arbeit ernst - vielleicht zu ernst -, und ich hatte immer das Gefühl, die anderen Stripperinnen mochten sie möglicherweise nur deshalb nicht, weil sie im Vergleich mit ihr so faul wirkten. »Guten Morgen«, sagte Gloria und begann ihr Schulterwackeln zu üben. »Also?« fragte Alma. »Also was?« »Ich hab' dich mit den Polizisten reden sehen.« »Die meinten, es sei draußen sehr kalt«, sagte Thaddeus. »Komm zur Sache«, sagte Alma voller Überdruß. »Wie kräftig müssen wir loslegen?« »Aufkleber und kleines Unterteil.« »Okay«, sagte Alma. »Den Witz des Tages hast du gerissen, also was ist?« -152-
»Du hast mich gehört«, sagte Thaddeus. Gloria hörte mit den kreisenden Bewegungen auf und starrte ihn an, und Barbara, eine der Stripperinnen, lachte höhnisch los. »Komm schon, Thaddeus«, sagte sie, »was steckt dahinter?« »Nichts steckt dahinter«, sagte er mürrisch. »Ich hab' einfach keine Lust mehr, die Bullen zu schmieren.« »Schmieren und Thaddeus gehören doch zusammen wie Schinken und Brot«, sagte Barbara hartnäckig. »Was kommt da auf uns zu?« »Gar nichts, verdammt noch mal. Wenn du es ein bißchen blitzen lassen willst, das ist deine Sache - ich werde dich aber nicht gegen Kaution rausholen.« »Die Freaks bringen doch nicht soviel Geld«, sagte Barbara. »Und selbst wenn, du hast das schnelle Geld aus der Fleischbeschau noch nie verachtet«, fügte Priscilla hinzu, die unter dem Namen Silikon Superstar auftrat. »Mal raus damit, Thaddeus«, sagte Barbara. »Worum geht's bei dem Ganzen?« »Es geht darum, daß ihr Weiber anfangen müßt zu arbeiten, statt euch auf einer Bühne hinzulegen und Spielchen mit ein paar Hinterwäldlern zu treiben. Wenn ihr das nicht schnallt, könnt ihr zu Diggs in die Spielbuden.« »Das klingt so, als ob du es ernst meinst«, sagte Priscilla skeptisch. »Ich glaub's erst, wenn's soweit ist«, sagte Barbara. »Mit der ersten Schau ist es heute soweit«, sagte Thaddeus, »oder dein hübscher kleiner Hintern findet sich draußen wieder.« »Weißt du«, sagte Barbara, »ich glaub', du meinst es wirklich ernst.« Einen Augenblick schwieg sie unsicher. »Schau, Thaddeus, ich hätte nie gedacht, daß ich das je sagen würde, aber... also, seit wir hier sind, haben wir ziemlich kräftig -153-
losgelegt, und das hat sich bestimmt rumgesprochen. Wenn dir also lieber ist, daß wir bis zur nächsten Stadt warten...« »Du hörst wohl nicht zu, was?« sagte Thaddeus gereizt. »Die ganze Woche lang werden zwei recht unglückliche Bullen in der ersten Reihe sitzen und darauf warten, dich schnappen zu können.« »Wieviel wollten die denn aus dir rausholen?« fragte Priscilla. »Soviel wie immer. Ich hatte einfach keine Lust, ihnen was zu zahlen.« »Bringen die Freaks wirklich so viel Geld?« »Was die Freaks machen, geht dich gar nichts an«, sagte Thaddeus. »Was euch betrifft, so könnt ihr hier und jetzt anfangen, euch weniger wie Nutten und mehr wie Stripperinnen aufzuführen. Wenn ihr euch nicht erinnert, wie das geht, schaut euch Gloria an.« »Einen Moment mal!« sagte Barbara aufgebracht. »Wer hat uns denn zuerst beigebracht, so aufzutreten?« »Halt den Mund!« fuhr sie Alma an, die bis jetzt geschwiegen hatte, und Barbara brach verblüfft ab. »Also«, sagte Thaddeus reichlich verlegen, »das war's gewesen.« Er wandte sich an mich. »Komm, du lüsterner kleiner Zwerg. Hast du sie nicht schon genug mit den Augen verschlungen?« Er ging rasch aus dem Zelt, und ich heftete mich an seine Fersen. Bevor ich noch am Ausgang war, hatte sich Alma an mir vorbeigedrängt und Thaddeus am Arm gefaßt. »Geh rein«, sagte er. »Du wirst dich zu Tode erkälten.« »Ich weiß, wieviel dich das kosten wird«, sagte sie und blickte ihm fest in die Augen. »Ich danke dir.« »Brauchst mir für nichts zu danken«, sagte er. »Ich hatte einfach die Nase voll, den Bullen was reinzuschieben.« »Hattest du auch keine Lust, sie wegen der Spielbuden zu -154-
schmieren?« »Das geht nur den Schieber was an.« »Dann besten Dank, daß du die Nase voll hattest und den Bullen nichts gezahlt hast.« Plötzlich stellte sie sich auf die Zehenspitzen, küßte ihn rasch und verstohlen auf die Backe und rannte mit sehr verlegenem Gesicht zurück in die Wärme ihres Zeltes. »Thaddeus...«, fing ich an. »Kein Wort, du häßliche kleine Warze!« knurrte er. Wir gingen schweigend zum Wohnzelt. Thaddeus lief eilig die Feldbetten und Stühle entlang und sah sich die fremden Wesen an. Schließlich trat er zu Mr. Ahasuerus. »Also, wie sieht die Liste aus?« fragte er. »Ich verstehe nicht«, erwiderte der blaue Mann. »Wer ist noch krank?« »Niemand.« »Das ist eine Überraschung«, sagte er. »Wie geht's Snoopy?« »Viel besser. Er wird heute nachmittag auftreten können.« »Und Kalebasse?« »Sie erholt sich nicht ganz so rasch«, sagte Mr. Ahasuerus. »Sie erholt sich aber?« »Ja.« Thaddeus starrte sie einen Augenblick an und seufzte. »Okay. Gib ihr den Tag frei.« Während ich Kalebasse mitteilte, daß sie im Wohnzelt bleiben könne, spazierte Barbara herein, flüsterte Queenie etwas zu und spazierte gleich wieder hinaus. »Wir fangen heute ein bißchen später an«, sagte Thaddeus zu Mr. Ahasuerus. »Ich habe mittags eine geschäftliche Besprechung.« -155-
»Mit Mr. Romany?« »Eigentlich ge ht es Sie ja nichts an«, sagte Thaddeus. »Ja, mit Mr. Romany.« »Alles Gute«, sagte Mr. Ahasuerus. »Gestatten Sie, daß ich Ihnen ebenfalls Glück wünsche«, sagte Thaddeus mit einem spöttischen Unterton. »Sie wissen natürlich, daß er nur ein kleiner Funktionä r innerhalb der Organisation ist«, antwortete der blaue Mann. »Er ist vielleicht ein kleiner Funktionär, aber er hat ein paar große Charakterschwächen«, versetzte Thaddeus. »Ich bin sicher, daß wir zu einem Ergebnis kommen werden.« »Hoffentlich«, sagte Mr. Ahasuerus. »Ich bin ebenso überrascht wie Sie, daß gestern nacht niemand erkrankte. Alles in allem ist das hier doch eine fremde Welt, und ich vermute, daß in den nächsten Tagen vermehrt Krankheiten auftreten werden.« »Es sei denn, der Höhepunkt der Erkrankungen liegt schon hinter uns und Sie alle beginnen, sich anzupassen«, sagte Thaddeus. »Einem Schwindler können Sie nichts vorschwindeln, Mr. Ahasuerus.« Der blaue Mann zuckte lediglich mit den Schultern und ging. Sobald er wieder bei den Fremden war, näherte sich uns Queenie. »Was jetzt?« sagte Thaddeus. »Ich hab' gehört, was du gemacht hast«, sagte sie. »Ich wollte dir nur danken.« »Ich meinte schon, du wärst die letzte hier, die sich drüber freuen würde«, sagte er spitz. »Wieso?« »Jetzt mußt du wieder anfangen, Kostüme zu nähen.« »Das ist mein Job«, sagte Queenie. -156-
»Klar, so, wie es Almas Job ist, zu Musik zu tanzen.« »Du machst es mir schwer, dir zu danken.« »Niemand bittet dich darum«, sagte er. »Ich hab' das ganz bestimmt nicht getan, um dich glücklich zu machen.« »Das weiß ich«, antwortete Queenie. Sie sah ihn lang und eindringlich an. »Alma hat vielleicht recht. An dir ist möglicherweise mehr, als man auf den ersten Blick sieht.« »Weil ich die Mädchen nicht mehr kräftig loslegen lasse?« »Ja.« »Aber ich halte noch immer die Monster gegen ihren Willen fest«, betonte er. »Na und? Das sind nur Monster.« »Wenn ich dir jetzt sagen würde, daß einer ein Dichter, ein anderer ein Biologe ist?« »Das würde ich dir nicht abnehmen«, sagte Queenie. »Es ist wahr.« »Und wenn schon. Sie sind trotzdem Monster.« »Weshalb sorgst du dann für ihr Essen?« fragte er sie. »Um etwas Nützliches zu tun«, sagte sie aufrichtig. »Außerdem hat selbst ein Freak das Recht zu essen.« »Aber kein Recht auf Freiheit, was?« fragte er lächelnd. »Dann laß sie frei, wenn dir soviel dran liegt!« fuhr ihn Queenie an. »Rutsch mir doch den Buckel runter! Tut mir leid, daß ich dir überhaupt gedankt habe. Ich hab's nur wegen Alma getan.« Der belustigte Blick verschwand von seinem Gesicht. »Du machst eine Menge für Alma?« »Geht dich einen Scheißdreck an!« »Das weiß ich doch, aber trotzdem würde ich gern eine Antwort haben«, sagte er hartnäckig. »Ist sie mit dir glücklich, Queenie?« -157-
»Ein ganzes Stück glücklicher als mit dir.« »Das bezweifle ich nicht. Du solltest dir viel Mühe geben, damit sie es auch bleibt.« »Ist das eine Herausforderung oder eine Drohung?« wollte Queenie wissen. »Keins von beidem. Meinen Teil habe ich heute früh dazu beigetragen. Jetzt bist du dran.« »Was sagst du da«, fragte Queenie ve rblüfft. »Ich meine, wenn sie mit dir glücklich ist, gehört sie dir«, antwortete Thaddeus. »Für ein schlaues Weibsstück bist du ganz schön schwer von Begriff, Queenie.« Er sah auf seine Uhr. »Wird langsam Zeit, Tojo, such Monk und sag ihm, ich brauche seinen Bus ein oder zwei Stunden.« Er ging wieder zu Mr. Ahasuerus, um ihm etwas mitzuteilen. Als ich das Zelt verließ, stand Queenie noch da und starrte ihn an, als könne sie nicht glauben, was sie gehört hatte. Und, ganz ehrlich, ich hatte selbst ein bißchen Schwierigkeiten. Ich konnte mir nicht erklären, was in Thaddeus vorging, wußte aber, daß es nichts mit den kalten, gefühllosen Seiten eines Astronomiebuches zu tun hatte. Ich fand Monk schließlich im Treibhaus und sagte ihm, Thaddeus brauchte seinen Bus. »Okay«, sagte er, »aber ich habe meine Tiere drin.« »Laufen die frei herum?« »Bruno ist im Käfig. Die Katzen sind frei. Sag ihm, er soll sich nichts denken. Die tun ihm nichts.« »Ich glaube, du schließt sie lieber ein, für alle Fälle«, sagte ich. »Thaddeus kennt meine Katzen. Er hat keine Angst vor ihnen, den Löwen vielleicht ausgenommen. Wie war's, wenn ich nur die Leoparden frei rumlaufen lasse?« »Thaddeus hat Besuch«, erklärte ich. »Warum kann er mit seinen verdammten Eroberungen nicht -158-
in seinen Wohnwage n gehen?« fragte Monk gereizt. »Weil sich der vorübergehend in ein Krankenhaus verwandelt hat«, sagte ich. Ich erzählte ihm vom flotten Dan und von Regenbogen. Endlich ging Monk nach einigem Murren zum Bus und stieg hinein. »Na gut«, sagte er, als er eine Minute später wieder auftauchte, »richte Thaddeus aus, daß er heute nacht vierbeinige Gesellschaft bekommt, wenn er meine Matratze kaputtmacht.« »Es handelt sich um eine geschäftliche Besprechung.« »Wirklich? Seit wann hat denn Thaddeus angefangen, dafür zu zahlen?« sagte Monk und verschwand im Treibhaus. Eine Weile später kam Thaddeus, und wir betraten gemeinsam den Bus. Wie immer fiel mir als erstes der stechende Geruch nach Katzenurin auf, der sich mit dem Geruch von Bruno mischte. Es war nicht etwa schmutzig. Da die Tiere aber wegen des Wetters seit Wochen im Bus blieben, mußte Monk gewöhnlich das ganze Fahrzeug ausschrubben, und er war einfach noch nicht dazu gekommen. Ungefähr fünf Schritte hinter dem Fahrersitz war ein riesiger Pokertisch, der mit Fellen bedeckt war, an den Boden geschraubt. Monk hatte die gepolsterten Sitznischen entfernt, nachdem er Swede bei einem Pokerspiel ertappt hatte, als dieser ihm gerade in die Karten spähte. Jetzt hatte er eine Reihe Klappstühle aufgestellt, die sich in rege lmäßigeren Abständen um den Tisch gruppieren ließen. Thaddeus stellte drei um den Tisch und wollte eben im Eisschrank nachsehen, ob es etwas zu trinken gab, als Mr. Romany hereinkam. »Guten Morgen, Mr. Flint«, sagte er, rümpfte die Nase wegen des Geruchs und warf einen raschen Blick auf die vier Tiere in den Käfigen. »Nehmen Sie Platz!« sagte Thaddeus. »Ich bin gleich bei Ihnen.« Er holte drei Flaschen Ginger Ale, gab sie uns und brachte ein kompliziertes Taschenmesser zum Vorschein. Er -159-
suchte die Klinge heraus, mit der man Flaschen öffnen konnte, knackte seinen Kronenkorken und reichte das Messer weiter. »Das Wichtigste zuerst: Haben Sie auf dem Weg hierher mit Ahasuerus oder einem der anderen gesprochen?« »Sie haben es mir untersagt«, versetzte Mr. Romany. »Gut«, sagte Thaddeus und lächelte leicht. »Ich bewundere einen Mann, der tut, was man ihm sagt. Ich glaube, ich sagte Ihnen auch, Sie sollten sich überlegen, ob Sie mir ein für beide Seiten annehmbares Angebot machen können.« Mr. Romany nickte. »Wir wissen beide, daß Sie mich in die Ecke getrieben haben«, sagte er, »und so mache ich Ihnen mein bestes Angebot, und ich glaube, Sie werden einverstanden sein.« »Wir müssen einverstanden sein«, sagte Thaddeus. »Tojo ist auch mein Ratgeber in geschäftlichen Dingen.« »Oh, das wußte ich nicht«, sagte Mr. Romany und schien leicht verwirrt. »Jetzt wissen Sie es. Fahren Sie bitte fort.« »Mr. Flint, ich muß Ahasuerus und seine Gruppe zurückhaben. Das kann gar nicht zur Debatte stehen.« »So können Sie doch zu Beginn der Verhandlung nicht reden«, sagte Thaddeus. »Das macht mich nervös.« »Ich muß sie trotzdem zurückhaben. Meine Karriere hängt davon ab. Ich mache einfach folgenden Vorschlag: Wenn Sie sie zurückgeben, überzeuge ich meine Vorgesetzten davon, daß nur Ihr Jahrmarkt und kein anderer als Stützpunkt aller zukünftigen Reisegruppen in Frage kommt.« »Das können Sie machen?« »Ich glaube schon.« »Sie glauben das?« wiederholte Thaddeus und zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ich formuliere das anders«, sagte Mr. Romany. »Ich weiß, -160-
daß ich das kann.« »Und wenn einem Ihrer Vorgesetzten die Idee nicht gefällt?« »Die sind eine halbe Galaxie weit entfernt. Sie richten sich nach meinen Empfehlungen.« »Und wenn ihnen Mr. Ahasuerus berichtet, was hier vorgefallen ist?« »Dann steht sein Wort gegen meines. Und Ihres.« »Sein Wort und das von weiteren elf fremden Wesen«, berichtigte ihn Thaddeus. »Mr. Flint, ich möchte nicht von oben herab reden, aber Sie haben einfach keine Vorstellung, wie groß die Milchstraße wirklich ist. Die Verwaltung meines Unternehmens brauchte Jahre, ganze Leben, um die nötigen Zeugenaussagen und Beweise zusammenzutragen.« »Und was springt für Sie dabei heraus?« fragte Thaddeus. »Mein Job.« »Und was noch?« »Ein Drittel.« »Ein Drittel wovon?« »Von allem. Es wird sich lohnen, Mr. Flint. Schauen Sie, wie sehr sich Ihre Einnahmen durch Ahasuerus und seine Gruppe bereits erhöht haben. Und außerdem wird das nicht ewig so gehen. Ich werde nach drei oder vier Jahren diesen Erdklumpen verlassen.« »Wirklich? Wo gehen Sie hin?« »Ich muß noch drei weitere Planeten erschließen, solange ich diese Gestalt habe.« »Was soll das bedeuten - diese Gestalt?« »Das«, sagte er und zeigte auf sich, »ist nicht mein wirklicher Körper.« »Sie können Ihre Gestalt verändern?« fragte Thaddeus -161-
plötzlich wachsam. »Willentlich nicht«, sagte Mr. Romany und lachte kurz. »Ich bin chirurgisch verändert worden.« »Tatsächlich?« »Ja. Ein vergleichsweise einfacher Vorgang. Er dauert nur etwa zwei bis drei Wochen.« »Aber weshalb haben Sie das gemacht?« »Ich bin ein Mann der Vorausabteilung, Mr. Flint. Ich stelle die ersten Kontakte mit Planeten her, die unserer Gemeinschaft der Welten noch nicht angehören, und natürlich ziemt es sich für mich, den Eingeborenen nicht nur auf eigenem Grund und Boden, sondern sozusagen in ihrer Gestalt entgegenzutreten.« »Und es gibt drei weitere Welten, die von Menschen bewohnt sind?« fragte Thaddeus. »So kann man das nicht sagen. Ich gleiche Ihnen nicht ganz, Mr. Flint. Ich bin etwas anders gefärbt, meine Augen sind weiter auseinander, meine Fingernägel sind nicht echt, und ich habe einen rudimentären Schwanz. Aber ich bin Ihnen so ähnlich, daß ich als einer der Ihren durchgehe -, so wie ich - was von bestimmten Betonungen meines Aussehens abhängt – den Bewohnern der anderen drei Welten ähnlich genug bin, die ich noch aufsuchen werde. Eine Veränderung, mit der sich drei oder vier Welten zugleich erfassen lassen, spart beträchtliche Zeit, Ausgaben und persönliche Beschwerlichkeiten.« »Verändert jeder in Ihrem Unternehmen seine Gestalt?« »O nein. Das machen eigentlich nur wenige. Aber das beschleunigt die Karriere.« »Verstehe«, sagte Thaddeus. »Und Sie haben vor, in ein paar Jahren auf einer anderen Welt zu sein?« Mr. Romany nickte. »Spätestens in fünf Jahren«, sagte er. »Gilt die Vereinbarung?« »Nein«, sagte Thaddeus. -162-
»Nein?« wiederholte Mr. Romany erstaunt. »Aber weshalb denn nicht?« »Zum ersten halte ich es für ziemlich unwahrscheinlich, daß alle zukünftigen Fremden so fügsam sein werden wie diese Gruppe. Zweitens habe ich schon genug Schwierigkeiten, diesen Haufen am Leben zu erhalten, und wer garantiert mir, daß Sie mir nicht noch schwächlichere auf den Hals schicken. Drittens mache ich schon ganz gut Geld, auch ohne Ihnen ein Drittel abzutreten. Und viertens halten Sie sich für wichtiger, als Sie sind. Ihr Wort wird das von Ahasuerus nicht aufwiegen.« »Wie kommen Sie auf den Gedanken?« »Wenn ich Sie schon in zehn Minuten durchschaue, kann das auch jeder andere, der über den Fall zu entscheiden hat. Sie sind ein billiger Angestellter, der um seinen Job kämpft. Er ist ein ehrenwerter Mann, der nichts zu verbergen hat. Was meinen Sie, wem man Glauben schenken wird?« »Wie wollen Sie wissen, was ehrenwert ist?« sagte Mr. Romany hitzig. »Ich muß kein Pferd sein und weiß trotzdem, daß Secretariat ein gutes Roß war«, erwiderte Thaddeus. »Sie sind also nicht einverstanden?« wiederholte Mr. Romany verzweifelt. »Natürlich nicht. Ich dachte mir schon, daß Sie mit einem so angeberischen Plan wie dem da kommen würden, und so habe ich mir ein kleines Gegenangebot ausgedacht. Wollen Sie es hören?« »Nur zu.« »Okay«, sagte Thaddeus. »Kündigen Sie der Gesellschaft und arbeiten Sie für mich. Sorgen Sie dafür, daß die Fremden glücklich und gesund bleiben, und Sie bekommen fünf Prozent der Einnahmen.« »Der Gesellschaft kündigen?« -163-
»Ist besser, als rausgeschmissen zu werden, was?« sagte Thaddeus und lächelte. »Aber dann muß ich in dieser Gestalt auf dieser Welt bleiben«, protestierte Mr. Romany. »Es könnte schlimmer sein. Sie könnten Tojos Gestalt haben«, bemerkte Thaddeus. In dem Augenblick brüllte der Löwe, und Mr. Romany zuckte zusammen. Thaddeus und er brauchten eine Weile, bis sie sich beruhigt hatten. »Ich glaube nicht, daß ich das über mich bringe«, sagte Mr. Romany. »Für immer hierbleiben?« »Für immer muß es gar nicht sein«, beruhigte ihn Thaddeus. »Vielleicht hängt es mir mal zum Hals heraus.« »Sie und genug vom Geld?« »Man kann nie wissen«, sagte Thaddeus. »Ich muß es mir überlegen«, sagte Mr. Romany. »Lassen Sie sich Zeit.« »Das ist genau die Sache, die mir langsam knapp wird.« »Weiß ich«, sagte Thaddeus. »Wie lange dauert es noch, bis Ihr Mutterschiff ein Notsignal losschickt?« »Wie wollen Sie etwas von einem Mutterschiff wissen?« sagte Mr. Romany scharf. »Ich weiß, daß zwölf Fremde die Milchstraße nicht in einer kleinen Raumfähre durchquert haben. Es besteht Grund zur Annahme, daß sich noch weitere Gruppen auf der Erde befinden und daß ein großes Schiff auf einer Umlaufbahn auf Sie wartet.« »Da oben ist ein Schiff«, gab Mr. Romany zu. »Und es ist natürlich zu groß, um landen zu können.« Mr. Romany nickte. »Wenn Ahasuerus nicht in vier Tagen zurück an Bord ist, bittet man meine Vorgesetzten um Anweisungen.« -164-
»Ich dachte, die Zeit sei schon überschritten.« »Der Ausflug sollte vierzehn Tage dauern, aber die Lage wird erst nach Ablauf von zwanzig Tagen als kritisch angesehen.« »Nun, da scheinen Sie ja wirklich ein Problem zu haben, Mr. Romany«, sagte Thaddeus. »Warum gehen Sie nicht heim und denken noch einmal einen Tag lang nach?« »Fünfzehn Prozent«, sagte Mr. Romany plötzlich. Thaddeus lachte. »Verschwinden Sie, Sie windiger Amateur!« Mr. Romany ging, und Thaddeus holte aus dem Eisschrank ein paar Scheiben Schweizerkäse. Er warf sie den Leoparden hin, die ihnen aber keine Beachtung schenkten. »Na ja«, sagte er mit einem Schulterzucken, »man kann nicht jeden glücklich machen.« »Thaddeus«, sagte ich, »was wird geschehen?« »Wer weiß?« antwortete er. »Aber es wird ganz sicher interessant werden, oder?«
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13 Etwa eine Stunde, nachdem Mr. Romany gegangen war, begann es heftig zu schneien. Thaddeus schaltete das Radio ein, hörte, daß man die Autofahrer darauf aufmerksam machte, daß viele Straßen gesperrt waren, und beschloß, den Jahrmarkt einen Tag zu schließen. Er ließ durch Big Alvin und mich Schilder aufstellen. Wir brauchten etwa zwanzig Minuten und eilten ins Wohnzelt zurück, um uns aufzuwärmen und Queenies Kaffee zu trinken. Thaddeus saß mit Mr. Ahasuerus an einem Tisch, vor ihnen lag das Astronomiebuch. Er hatte ein Bild des Crab-Nebels aufgeschlagen und hörte dem blauen Mann aufmerksam zu. »Das hier erkenne ich«, sagte Mr. Ahasuerus und deutete auf das Bild. »Sie müssen verstehen, daß sich Ihre Sternbilder völlig von denen unterscheiden, die ich gewohnt bin. Auf anderen Welten sind mir vielleicht viele dieser Sterne vertraut, aber nicht in der Anordnung, in der sie Ihnen erscheinen.« Thaddeus schob ihm das Buch zu. »Gibt es noch etwas, das Sie erkennen?« Der blaue Mann sah sich die restlichen Seiten sorgsam an. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Ich bin weder Astronom noch Navigator«, sagte er. »Das hier«, fügte er hinzu und zeigte auf einen winzigen Punkt in einem großen Bild, »könnte Mr. Romanys Heimatstern sein. Er hat die richtige Farbe, scheint dem richtigen Sternhaufen anzugehören. Aber ganz sicher bin ich mir freilich nicht.« »Wieso hat Ihre Gesellschaft einen Verlierertyp wie Romany überhaupt eingestellt?« Mr. Ahasuerus zuckte die Schultern. »Für uns arbeiten Hunderttausende von Wesen. Soviel ich weiß, hat er hervorragende Papiere gehabt.« -166-
»Klar. Vorsicht vor Griechen, die Geschenke bringen, und heißblütigen jungen Angestellten mit hervorragenden Papieren.« Thaddeus schwieg einen Augenblick, um sich eine Zigarette anzuzünden. »Erzählen Sie mir ein bißchen mehr über Ihre Organisation.« »Wir sind eine lose verbundene Gesellschaft von Welten, die sich aus wirtschaftlichen und kulturellen Gründen zusammengetan haben«, antwortete Mr. Ahasuerus. »Wir haben überhaupt keine Ähnlichkeit mit jenen kriegerischen Imperien, die von Ihrer Unterhaltungsindustrie erfunden werden, die noch etwas Phantasie hat.« »Das meine ich nicht. Erzählen Sie mir von der Gesellschaft, für die Sie arbeiten.« »Was möchten Sie wissen?« »Wer leitet sie? Wie groß ist sie? Was macht sie?« Er ließ den Rauch aus seinem Mund strömen und lächelte. »Ich fühle mich wohler, wenn ich über Geschäftliches reden kann. Von galaktischen Zivilisationen verstehe ich nichts.« »Mir geht es genauso«, meinte Mr. Ahasuerus und ließ seine Zähne blitzen, vermutlich eine Entsprechung zu unserem Lächeln. »Sie würden uns einen bunten Haufen nennen. Wir haben Zweigstellen auf Hunderten von Welten, und wir beschäftigen uns mit allem, von Industrie über Immobilien bis zu Raumreisen.« »Wie kamen Sie drauf, als Monstrositätenschau aufzutreten?« »Ich sagte Ihnen doch, weil wir so weniger Aufmerksamkeit « »Das weiß ich«, unterbrach ihn Thaddeus. »Das bedeutet aber, daß Sie auf Ihrem Heimatplaneten auch Monstrositätenschauen haben müssen.« »Nein«, sagte der blaue Mann, »aber es gibt sie auf vielen -167-
Welten unserer Gemeinschaft. Wenn sie auf der Erde unbekannt gewesen wären, hätte Mr. Romany bestimmt vorgeschlagen, einen Bogen um den Planeten zu machen. Schließlich gibt es noch Tausende von anderen Welten, die interessant sind.« »Romany sagte mir, daß man ihn chirurgisch verändert hat.« »Das ist wahr. Eine schwierige und schmerzhafte Operation, wenn auch relativ kurz.« »Wie sah er ursprünglich aus?« fragte Thaddeus. »Keine Ahnung.« »Wie wußte man, welches Aussehen man ihm geben mußte?« »Wir besuchen nicht gern Welten, die keine Fernsehwellen ausstrahlen«, sagte Mr. Ahasuerus. »Ist Ihre Frage damit beantwortet?« »Ich glaube schon«, erwiderte Thaddeus. »Welches Zahlungsmittel verwenden Sie?« »Das ist auf jeder Welt anders.« »Wird das mit der Zeit nicht sehr kompliziert?« »Das ist innerhalb der Gemeinschaft nicht komplizierter als der Umgang mit Dollar und Pfund und Yen bei Ihnen. Wenn wir auf unseren Reisen die Gemeinschaft verlassen, müssen wir freilich auf dem Gebiet der Finanzen erfinderisch sein.« »Was hat sich Romany einfallen lassen, um Ihren Jahrmarkt finanziell durchzubringen?« fragte Thaddeus. »Das kann ich wirklich nicht genau sagen«, antwortete der blaue Mann. »Ich habe langsam den Eindruck, daß wir von Ihnen eine Menge über Bürokratie lernen könnten.« Thaddeus wandte sich an mich. »Der Schieber würde doch ein prachtvolles Vorauskommando abgeben!« sagte er lachend. »Den könnte man ohne einen Pfennig nur mit einem Spiel Karten und einem Paar Würfeln auf jeder Welt der Milchstraße absetzen, und bei Anbruch der Nacht würde ihm die halbe Welt gehören.« -168-
Thaddeus zog eine kleine Flasche aus seiner Jacke und nahm einen großen Schluck. Kurz darauf peitschte ein eiskalter Windstoß durch die Zeltbahn, und ich fragte, ob ich mal nippen dürfte. Er zuckte die Schultern und gab mir die Flasche. Nach einem kleinen Schluck brannten meine Lippen, und mir wurde bis in den Magen heiß. »Was ist das?« keuchte ich. »Kann dir doch gleich sein. Wird dich warm halten.« Er nahm die Flasche wieder an sich, überlegte kurz und bot sie Mr. Ahasuerus an. »Nein, danke«, lehnte der blaue Mann höflich ab. »Richtig«, sagte Thaddeus. »Es würde Sie wahrscheinlich umbringen.« Er schraubte den Verschluß zu und steckte sie zurück in seine Tasche. »Wie sind die Winter auf Ihrer Welt? Wird es dort so kalt?« »Manchmal«, sagte Mr. Ahasuerus. »Aber es ist schon lange her, seit ich auf meinem Heimatplaneten war.« »Haben Sie nie Heimweh?« fragte ich. »Wenn man so viele neue Welten sehen kann, nein«, sagte er. »Unser Freund, der Gummimensch, möchte einem einreden, daß eine Welt so ziemlich wie die andere ist, aber er hat unrecht: Jede ist einmalig und eigentümlich, jede ist auf ihre Art faszinierend.« »Auch diese hier?« fragte Thaddeus. »Selbstverständlich«, sagte der blaue Mann. »Wie lange sind Sie schon unterwegs?« »Ach, vielleicht zwanzig Ihrer Jahre.« »Und Sie verspüren nicht den Wunsch, nach Hause zurückzukehren?« »Mein Zuhause habe ich gesehen, Mr. Flint«, sagte Mr. Ahasuerus. »Die anderen«, er zeigte auf die übrigen Fremden, -169-
»sind lediglich Touristen und Urlauber. Ich bin ein Wanderer.« »Sie waren ein Wanderer«, berichtigte ihn Thaddeus. »Ich werde es wieder sein. Was Sie auch mit Mr. Romany abmachen, töten werden Sie uns nicht.« »Da sind Sie sich ganz sicher, was?« fragte Thaddeus. »Ja«, sagte der blaue Mann. »Erstens ist es wirklich in Ihrem Interesse, uns leben und arbeiten zu lassen. Und zweitens«, fügte er hinzu und sah Thaddeus fest in die Augen, »sind Sie ein Ausbeuter und kein Mörder.« »Tatsächlich?« »Allerdings.« Thaddeus schüttelte den Kopf. »Ich massiere den Regenbogenmann und versuche, den flotten Dan am Leben zu erhalten, und plötzlich denken Sie anscheinend, Sie haben es mit einem Schwächling zu tun. Vielleicht hab' ich alles zu sehr auf die leichte Schulter genommen.« »Was nützt es denn, uns grausam zu behandeln?« fragte Mr. Ahasuerus. »Möglicherweise fühle ich mich dann besser«, sagte Thaddeus. Mr. Ahasuerus wollte eben antworten, als Big Alvin an den Tisch trat. »Ja?« sagte Thaddeus. »Vier Augen hat keine Eisenpillen mehr«, sagte der große Bursche. »Das merkst du erst jetzt?« sagte Thaddeus. »Wirklich gut, daß er nicht auf dich angewiesen ist, was den Nachschub seiner Pillen angeht.« »Dann hast du noch welche?« »Als ich die Schau zumachte, hab' ich Monk losgeschickt, um sie zu besorgen«, sagte Thaddeus. Alvin ging auf seinen Posten -170-
zurück, und Thaddeus wandte sich mit einem belustigten Lächeln an mich. »Als ich hörte, daß die Straßen unpassierbar sind, wurde mir klar, daß Vier Augen eine schwere Nacht vor sich hat. Dann fielen mir Monks Geschichten ein, wie er am Klondike immer auf Jagd ging. Ich lief zu seinem Bus und bot ihm fünfzig Eier, wenn er in die Stadt geht und die Pillen holt. Als ich auf achtzig erhöht hatte, war er endlich einverstanden. Ich dachte schon, ich würde den armen Kerl in den Erfrierungstod schicken, er aber sperrte das Geld in die kleine Kasse, die er im Bärenkäfig aufbewahrt, ging zu seinem Schrank und holte ein Paar Schneeschuhe und einen Pelzmantel heraus, der aus vierzig Seehundfellen bestehen muß. Der ist so warm eingepackt, daß er bei seiner Rückkehr vermutlich als erstes nach einem kalten Bier fragen wird.« »Wann wird er zurück sein?« fragte ich. »In ein, zwei Stunden. Kommt auf den Schnee an.« Sein Blick fiel auf den Zyklopen. »Schau ihn dir an!« sagte er entrüstet. »Kerngesund.« »Soll ich noch mal nach dem flotten Dan und Regenbogen sehen?« fragte ich. »Nein. Swede ist bei ihnen. Denen geht's gut.« Er blickte hinaus in den Schneesturm. »Ich sag' dir, was du machen kannst. Wechsle dich mit Alvin ab, macht ungefähr jede Stunde einen Rundgang und seht nach, daß sich da draußen keine Leute aus der Gegend zu Tode frieren. Wenn du welche entdeckst, bring sie ins Treibhaus, bis sie sich überlegt haben, wie sie nach Hause kommen - und wenn sie Geld haben, schick den Schieber zu einem kleinen, freundlichen Besuch vorbei.« Er blickte auf und sah den Leibhaftigen, der zögernd näher kam. »Na, wer kommt denn da?« »Mr. Flint«, sagte der gehörnte Dämon. »Ja, Sie wünschen?« -171-
»Der Mann der vielen Farben ist ein besonders guter Freund von mir. Ich würde gern von Ihnen wissen, ob sich sein Befinden gebessert hat.« »Es hat sich kaum verändert«, sagte Thaddeus. »Es geht ihm vielleicht ein bißchen besser. Schwer zu sagen.« Der Leibhaftige bewegte sich unruhig. »Ich hätte gern Ihre Erlaubnis, ihn besuchen zu dürfen.« »Das kommt nicht in Frage«, sagte Thaddeus. »Niemand von Ihnen verläßt das Zelt.« »Ich weiß, daß Sie wegen uns knapp an Arbeitskräften sind«, versuchte es der Leibhaftige weiter. »Da wir heute abend nicht auftreten werden, würde ich mich glücklich schätzen, für jeden einzuspringen, der auf ihn und den Affenmenschen aufpaßt.« »Das kann ich mir denken«, sagte Thaddeus. »Sie wären sicher noch glücklicher, wenn Sie die Budenstraße hinablaufen und sich kein einziges Mal umdrehen.« »Wie weit würde ich bei diesem Wetter kommen?« sagte der Leibhaftige lächelnd. »Wohin würde ich mich wenden?« »Vorschrift ist Vorschrift«, sagte Thaddeus. »Schlagen Sie es sich aus dem Kopf.« »Es würde viel für ihn bedeuten«, fuhr der Leibhaftige fort. »Sie hören wohl nicht gut zu?« sagte Thaddeus gereizt. »Sie aber auch nicht«, sagte der Leibhaftige offensichtlich nervös, aber gewillt, nicht zu weichen. »Ich sagte Ihnen, daß ich nicht fliehen werde. Ich möchte meinen Freund einfach ein bißchen trösten.« »Swede ist schon eine ziemlich lange Zeit drüben, Thaddeus«, sagte ich. »Du auch?« sagte er und drehte sich zu mir. »Was kann da schon passieren, Thaddeus?« sagte ich. »An einem Tag wie heute läuft niemand davon.« -172-
»Mund halten, ihr beiden!« schrie er. Ich fuhr zurück, weil diesem Ton meistens ein Schlag folgte, aber Thaddeus saß nur still am Tisch, starrte in seine Kaffeetasse, während der Leibhaftige bedrückt zu seinem Feldbett ging. Nachdem fast eine halbe Stunde verstrichen war, stand Thaddeus schließlich auf, blickte durch den Eingang in den Schnee hinaus und lief zu mir. »Na schön, du dämlicher Zwerg«, sagte er seufzend, »wir machen's so, wie du willst. Besorg dir einen Mantel für den Leibhaftigen und bring ihn zum Wohnwagen, und sag Swede, er soll herkommen und was essen. Und wenn du fertig bist, sagst du dem Dancer, er soll heute nacht bei Diggs oder Monk unterkriechen. Ich will in seinen Wohnwagen.« »Wozu?« »Weil ich die Nase voll hab', meinen mit ein paar Fremden zu teilen«, sagte er. Ich brachte den gehörnten Dämon zu unserem Wohnwagen und konnte erst nach langen Mühen Swede davon überzeugen, daß Thaddeus wirklich einverstanden damit war. Dann machte ich mich auf die Suche nach Dancer. Ich fand ihn schließlich auf der behelfsmäßigen Haupttribüne im Zelt der Sonderschauen. Er starrte traurig und mit leeren Augen in die Vergangenheit. Ich glaube, er wußte noch nicht einmal, daß es schneite. Nachdem er eingewilligt hatte, für die Nacht zu Monk zu ziehen, kehrte ich ins Wohnzelt zurück, um Thaddeus mitzuteilen, daß alles abgemacht war. Während meiner Abwesenheit hatte er das ganze Whiskyfläschchen ausgetrunken und war ein bißchen wacklig auf den Beinen, als er aufstand. Ich brachte ihn zum Eingang und ging ihm zum Wohnwagen des Dancers voraus. Dort war es eiskalt, weil der Dancer vergessen hatte, die -173-
Heizung einzuschalten. Ich brachte einige Zeit damit zu, den Wagen wohnlich zu machen, während Thaddeus so lange in den Küchenschränken stöberte, bis er auf eine Flasche Scotch stieß, das Geschenk eines verliebten jungen Mädchens an Dancer. Der Wohnwagen war mehr als sauber und aufgeräumt: Er sah unbenutzt aus. Der Dancer war vermutlich noch nie unter die Bettdecke geschlüpft, seit er hier wohnte. In der Küche und auf dem Frühstückstisch fanden sich keine Brotkrümel. An den Wänden hingen Fotografien und Drucke aller berühmten Banditen und Gesetzeshüter des Wilden Westens. Ich hatte das Gefühl, Billybuck verbrachte die ganze Zeit in seinem Wohnwagen in dem großen Ledersessel, um sie anzustarren, oder er döste auf der Bettdecke vor sich hin. Dieser Wohnwagen löste ein unheimliches Gefühl aus. Aber schließlich sind alle Leute vom Jahrmarkt sonderbar. Der Dancer war nur noch ein wenig sonderbarer als die meisten anderen. Thaddeus hatte fast die halbe Flasche geleert, als ich zu ihm zurückkam, und ich legte ihm nahe, ein bißchen langsamer zu trinken. »Wieso?« sagte er. »Je eher ich richtig besoffen bin, desto eher vergesse ich die verdammten Freaks.« »Das sind fremde Wesen, Thaddeus.« »Fremde, Freaks, was ist da der Unterschied?« Er starrte düster auf eine Fotografie des O. K. Corral. »Mir gleiten die Zügel aus der Hand«, murmelte er endlich. »Ich weiß nicht, was du meinst.« »Hast du keine Augen im Kopf? Siehst du nicht, was gespielt wird?« Er sah mich mit einem seltsamen Gesicht an. Ich machte den Alkohol verantwortlich. »Das ergibt doch keinen Sinn, Thaddeus.« »Verdammt, Tojo! Ahasuerus benimmt sich eher wie mein Vater als wie mein Gefangener. Und der verflixte gehörte -174-
Dämon weiß, daß niemand das Zelt verläßt, und er glaubt trotzdem, damit durchzukommen.« »Er ist damit durchgekommen«, stellte ich fest. »Das meine ich ja eben! Es kann mir doch völlig gleich sein, ob der Regenbogenmann glücklich ist oder nicht.« Er schlug mit der Faust auf die Sessellehne. »Schau mich an! Ich sitze hier und starre Bilder von Wyatt Earp und Jesse James an. Und warum? Weil mein Wohnwagen in ein Pflegeheim für kranke Fremde verwandelt wurde!« »Es war deine Idee«, sagte ich. »Weiß ich!« schrie er. »Aber weshalb ist mir das eingefallen, Tojo? Ich mach' so was doch nicht!« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, blieb also einfach still und starrte ihn an, während er wieder trank. »Mir gleitet alles aus den Händen!« wiederholte er. »Und der verdammte blaue Mann weiß es. Der sitzt einfach da, schluckt alles, was ich loslasse, und bedankt sich dafür. Weshalb wehrt er sich nicht?« »Das weiß ich nicht, Thaddeus«. Ich griff nach dem Scotch. »Mit dem Zeug paßt du lieber ein bißchen auf.« »Finger weg!« sagte er hitzig, packte die Flasche und nahm noch einen tiefen Schluck. »Du bist auf ihrer Seite, was?« »Ich bin auf meiner Seite«, sagte ich ausweichend. »Lüg mich nicht an, du winziger Zwerg! Alle sind auf ihrer Seite - du, Alma, Queenie, Monk, selbst der Dancer, wenn er zwei Sekunden nachdenken würde. Der einzige, dem sie völlig schnuppe sind, ist Romany.« »Und du«, sagte ich. »Genau«, sagte er nicht gerade überzeugt. »Und ich.« Thaddeus blickte auf die Flasche, schleuderte sie dann gegen die Wand, wo sie in tausend kleine Splitter zersprang. -175-
Er stand auf und ging schwankend ins Schlafzimmer. Ich hörte die Federn quietschen, als er sich aufs Bett warf, ich hörte seine Schuhe zu Boden poltern, als er sie abstreifte, und ich hörte ihn mit unglücklicher, erstaunter Stimme murmeln: »Was ist denn mit mir los?«
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14 Ich wachte auf und hörte die Stimme von Thaddeus. Zuerst meinte ich, ich wäre im Wohnwagen Dancers eingeschlafen, aber als mein Kopf klarer wurde, fiel mir ein, daß ich zu meinem eigenen Bett zurückgestapft war. Ich fragte mich, ob einer der Fremden kränker geworden war, warf einen Bademantel über und ging ins Wohnzimmer. Der Leibhaftige war noch da, und Regenbogen - jetzt von tiefblauer Farbe, die am Leib von roten Wellen überrieselt wurde - saß auf einem Stuhl. Es schien ihm viel besser zu gehen. Thaddeus saß zurückgelehnt auf der Couch, die Füße auf dem abgewetzten Kaffeetisch. Die späte Vormittagssonne blitzte durch die Scheiben und trieb mir das Wasser in die Augen. »Wo ist der flotte Dan?« fragte ich. Thaddeus lächelte. »Selbst potentielle Selbstmörder müssen ab und zu aufs Örtchen.« »Hast du keine Angst, daß er aus dem Fenster klettert?« Thaddeus schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn der Schnee knöcheltief liegt. Er ist vielleicht durcheinander, aber nicht verrückt. Es dauert lang, bis man erfroren ist, und ich habe festgestellt, daß die Leute, die eine Überdosis nehmen, gewöhnlich etwas gegen schmerzhafte und langwierige Sterbeszenen haben.« Er blickte auf, als der Affenmensch ins Zimmer kam. »Was habe ich dir gesagt?« »Darf ich vorbei?« bat der flotte Dan geduldig. »Aber bitte sehr!« sagte Thaddeus und schwang die Beine vom Tisch, um dem Affenmenschen den Weg zum einzig freien Sessel im Zimmer freizugeben. »Was machst du hier?« fragte ich Thaddeus. »Ich wohne hier«, sagte er. »Ich wachte mit einem -177-
unbeschreiblichen Kater auf, und unser Billybuck hat natürlich nichts dafür auf Lager. So dachte ich mir, ich pack's lieber an und werde auf die brutale Art nüchtern. Auf dem Weg hierher dachte ich, ich würde sterben, aber als ich vor der Tür stand, fühlte ich mich wieder wie ein Mensch. Was gar nicht schlecht ist, wenn man sich unsere Gesellschaft hier anschaut.« »Sie sehen besser aus, Regenbogen«, sagte ich. »Ich bin auf dem Weg der Genesung«, antwortete er. Dann wandte er sich an Thaddeus. »Wenn Sie mich brauchen, kann ich wahrscheinlich heute nachmittag wieder ausgestellt werden.« »Schlagen Sie sich's aus dem Kopf«, sagte Thaddeus. »Bevor ich Sie im Zelt drüben hätte, wären Sie schon ein Eiszapfen. Sie bleiben noch ein, zwei Tage hier. Sie auch«, sagte er zum flotten Dan. »Das heißt, wenn Sie wollen.« »Es ist mir gleich«, sagte der Affenmensch. »Mein Gott, bei Ihnen würde selbst eine Hyäne deprimiert«, sagte Thaddeus. »Spannen Sie aus. Heute werde ich wieder mit Romany über eine Abmachung verhandeln.« »Dabei wird nichts herauskommen«, sagte der flotte Dan düster. »Mit ein bißchen Optimismus fängt der Tag gleich anders an«, sagte Thaddeus trocken. Er stand auf und ging zur Tür. »Ich nehme an, Sie haben nie daran gedacht, eine Komödiant zu werden?« »Auf unserer Welt gibt es keine.« »Irgendwie überrascht mich das nicht«, sagte Thaddeus. »Ich werde mir jetzt die anderen ansehen. Komm nach, wenn du angezogen bist, Tojo.« »Was ist mit mir?« fragte der Leibhaftige?" »Trinken Sie mir nicht das ganze Bier aus«, sagte Thaddeus und ging hinaus. -178-
»Danke!« rief ihm der Leibhaftige nach, aber die Tür war schon zu, und ich glaube nicht, daß Thaddeus es noch hörte. Nachdem ich mich gewaschen und angezogen hatte, ging ich hinaus in die Kälte. Im Lauf der Nacht hatte es zu schneien aufgehört, Schneepflüge räumten die Straßen, die Sonne schien endlich wieder, und die wenigen Vögel, die nicht in den Süden geflogen waren, suchten den Boden nach Eßbarem ab. Thaddeus hatte tiefe Stapfen im Schnee hinterlassen, die direkt zum Wohnzelt führten. Ich folgte ihnen und sah Gloria zum Zelt der Mädchen eilen, um dort ihre Morgenübungen zu machen. Wir winkten uns zu. Sonst war nur noch der Schieber zu sehen. Er rief mir zu, daß er in ein paar Minuten ins Treibhaus gehen würde, und wenn ein paar Gimpel frühzeitig kämen, sollte ich sie rüberschicken; er würde sich nur zu sehr freuen, sie ein bißchen zu unterhalten. Im Wohnzelt saßen Thaddeus und Mr. Ahasuerus an einem Tisch. Der blaue Mann sah auf, als ich kam, und begrüßte mich mit der etwas gräßlichen Grimasse, die unserem Lächeln entsprach. Thaddeus winkte mir, ich solle mir einen Stuhl holen und mich zu ihnen setzen. »Es gibt also wirklich keine?« sagte Thaddeus eben mit ganz und gar ungläubigem Gesicht. Mr. Ahasuerus schüttelte den Kopf. »Es scheint sich um eine Kunstform zu handeln - wenn das überhaupt das passende Wort ist -, die es nur auf Ihrem Planeten gibt.« »Kaum zu glauben.« »Wovon sprecht ihr?« fragte ich. »Mr. Ahasuerus hat mir eben mitgeteilt, daß es in der ganzen verdammten Milchstraße nur bei uns Stripperinnen gibt«, sagte Thaddeus. »Wenn man überlegt, wie viele Gattungen sich auf den Welten Ihrer Gemeinschaft tummeln müssen, kommt es -179-
einem irgendwie weithergeholt vor, daß die sich so wenig für Sex interessieren.« »Sie verwechseln Sex mit Kitzel«, versetzte der blaue Mann. »Viele der Gattungen tragen noch nicht einmal Kleider.« »Komisch«, bemerkte Thaddeus. »Ich hätte mir gedacht, alle zivilisierten Völker tragen Kleidung.« »Die meisten vernunftbegabten Gattungen können ihre Umwelt beeinflussen. Wer noch den Wunsch verspürt, sich zu bekleiden, tut das meistens aus Gründen, die nichts mit dem Schutz vor der Witterung zu tun haben: aus Scham, aus moralischen Gründen oder weil es Mode ist.« »Wie steht's mit Löwenbändigern?« fragte Thaddeus. »Die meisten unserer Zirkusse und Jahrmärkte haben Dompteure«, erwiderte Mr. Ahasuerus. »Einige von ihnen arbeiten mit Tieren von einer Größe, bei der es sich Ihr Freund Monk zweimal überlegen würde, ob er zu ihnen in den Käfig ginge.« »Und Kunstschützen?« »Ein paar«, sagte der blaue Mann. »Aber, um ehrlich zu sein, keiner mit dem Können von Billybuck Dancer. Ich habe mich schon oft gefragt, wie er es sich erworben hat und wo.« »Da geht's mir nicht anders«, sagte Thaddeus. Alvin kam eben herein und brachte alle Schilder, auf denen Geschlossen stand. »Was machst du denn da?« wollte Thaddeus wissen. »Die Straßen sind geräumt«, antwortete Big Alvin. »Ich hab' dir nicht befohlen, die wegzunehmen.« »Aber-« »Stell sie wieder auf. Wir ziehen weiter.« »Wohin?« fragte ich. »Das weiß ich noch nicht. Aber das Wetter ist zu schrecklich, -180-
als daß wir noch hier oben bleiben könnten.« Alvin zuckte die Schultern und ging hinaus, um die Schilder wieder aufzustellen. »Mr. Flint«, sagte Mr. Ahasuerus. »Ich glaube, ich muß jetzt etwas sagen.« »Sie können sich die Mühe sparen«, sagte Thaddeus. »Ich weiß, was Sie sagen wollen.« »Wirklich?« »Sie wollen mir mitteilen, daß der Teufel los sein wird, wenn Sie sich nicht innerhalb der nächsten zweiundsiebzig Stunden bei Ihrem Mutterschiff melden.« »Woher wissen Sie das?« fragte Mr. Ahasuerus überrascht. »Ihr Freund Romany hat ein ziemlich großes Mundwerk.« »Allerdings«, stimmte ihm Mr. Ahasuerus zu. »Das ändert aber nichts an der Wahrheit dessen, was er sagte.« »Weiß ich«, sagte Thaddeus. »Was werden Sie machen?« »Ich habe mir viele Gedanken gemacht. Ich werde Ihnen Bescheid geben.« Er durchsuchte seine Taschen nach Zigaretten, zog eine hervor und zündete sie an. »Übrigens, Regenbogen ist auf und läuft herum.« »Das freut mich zu hören.« »Und Sie brauchen sich auch, glaube ich, keine Sorgen mehr zu machen, daß sich der flotte Dan umbringen könnte. Er hat jetzt einige Zeit damit zugebracht, sich zu überlegen, was seiner unsterblichen, wenn auch etwas verirrten Seele beinahe zugestoßen wäre.« »Schön.« »Ich denke mir«, bemerkte Thaddeus, »daß Sie ganz schön oft das Kindermädchen spielen müssen, wenn Sie Ihre Touristen durch die Milchstraße führen.« -181-
»Die meisten sind keine erfahrenen Reisenden«, pflichtete ihm Mr. Ahasuerus verschmitzt bei. »Aber es war trotzdem in vieler Hinsicht eine befriedigende Arbeit.« »Wie haben Sie das hingekriegt?« »Wie bitte?« »Ich meine, wie haben Sie Ihre Arbeit bekommen?« sagte Thaddeus. »Ich wurde ausgewählt.« »Wirklich? Was waren die Voraussetzungen - Sprachen und so weiter?« »Das auch«, sagte Mr. Ahasuerus. »Wann wird Mr. Romany zurückkommen?« Thaddeus zuckte die Schultern. »Wer weiß? Heute, irgendwann.« »Was hat er Ihnen bis jetzt für Angebote gemacht?« fragte der blaue Mann. »Nichts, was mich interessieren könnte«, versetzte Thaddeus. »Tojo, anstatt wie ein Felsklotz rumzusitzen, sag doch bitte allen, daß wir die Zelte abbrechen und die Lastwagen packen.« Ich zog wieder meinen Mantel an, lief über das Gelände und teilte Diggs und Monk und wen ich sonst noch finden konnte, mit, daß sie anfangen sollten, den Jahrmarkt abzubauen. Die meisten wollten wissen, wohin die Reise ginge, und obwohl ich ihnen das nicht beantworten konnte, waren sie alle glücklich über die Entscheidung. In ihren Augen war alles besser als Vermont im Schnee. Als ich zurückkehrte, saßen Thaddeus und Mr. Ahasuerus noch immer am Tisch. »Du hast draußen nicht unseren Freund Romany gesehen, oder?« fragte Thaddeus. »Nein«, antwortete ich. »Der arme Kerl liest wahrscheinlich die Hilfsangebote in der -182-
Zeitung«, sagte Thaddeus lache nd. »Wissen Sie schon, was Sie ihm sagen werden?« fragte Mr. Ahasuerus. »Ziemlich genau«, sagte er. »Er muß natürlich erst einmal erscheinen. Im Augenblick sitzt er vermutlich in seinem Zimmer und denkt nach, wie er mich bestechen oder erpressen kann.« »Meinen Sie wirklich?« fragte der blaue Mann neugierig. »In dem Burschen kann ich lesen wie in einem Buch«, sagte Thaddeus lächelnd. »Der einzige, mit dem ich Probleme habe, sind Sie.« »Ich?« fragte Mr. Ahasuerus. »Tun Sie nicht so verdammt unschuldig. Aus all den anderen werde ich schlau. Aus Ihnen nicht.« »Wie das?« »Romany ist einfach ein Kerl, der mit aller Gewalt darum kämpft, seinen Job zu behalten. Der flotte Dan ist verwirrt und leidet an religiösem Wahn. Der Eidechsenmann würde mir ein Messer zwischen die Rippen stechen, wenn ich ihm den Rücken zukehrte. Ebenso der Sphinx. Der Rest, das sind unbedeutende Touristen, Urlauber. Aber Sie - Sie müßten eigentlich bereit sein, mich zu töten, oder Sie haben so viel Angst vor mir, daß Sie nicht mehr wissen, wo oben und unten ist.« »Und das finden Sie so ungewöhnlich?« »Meiner Erfahrung nach kann das gesamte, verdammte Universum in Fleisch und Fleischfresser eingeteilt werden. Sie liegen irgendwo in der Mitte.« »Und das stört Sie?« »Das hat mich gestört«, gab Thaddeus zu. »Jetzt verwirrt es mich nur.« »Vorhin fragten Sie mich, weshalb ich für diese Stellung ausgesucht wurde«, sagte der blaue Mann. Er legte einen Finger an sein Gesicht. »Das hier ist der Grund.« -183-
»Ich glaube nicht, daß ich Sie verstehe«, sagte Thaddeus. »Um im Ton Ihrer religiösen Lehren zu sprechen, ich habe zwei Wangen. Wenn ich die zweite lange genug hinhalte, steht zu vermuten, daß ein vernünftiges Wesen früher oder später genug davon haben wird, auf sie einzuschlagen, und sich auf konstruktivere Möglichkeiten der Verständigung umstellen wird.« Thaddeus starrte ihn recht lange an. »Sie sind ein sehr ungewöhnlicher Mann, Mr. Ahasuerus«, sagte er schließlich. »Ich danke Ihnen.« »Wenn man uns beide zusammentut, kommt vielleicht ein normaler Mensch dabei heraus.« »Das könnte wirklich sein«, sagte der blaue Mann. »Oder wenigstens ein interessanter.« Thaddeus starrte ihn wieder an und schien sich in seinen Gedanken zu verlieren. Dann wandte er sich an mich. »Tojo, sag dem Dancer, ich brauche seinen Wohnwagen noch einmal.« »Wann?« fragte ich. »Jetzt gleich.« Ich ging zum Eingang. »Und bring einen Mantel für Mr. Ahasuerus mit«, rief er mir nach. Ich fand den Dancer im Treibhaus. Er hatte nichts dagegen einzuwenden, Thaddeus den Wohnwagen zu überlassen, und lieh mir sogar seine pelzgefütterte Jacke für Mr. Ahasuerus. Als ich ins Zelt zurückkehrte, stand Thaddeus auf. Er nahm mir die Jacke ab und reichte sie dem blauen Mann. »Wir gehen rüber, um ein bißchen über das Geschäft zu reden«, sagte er. »Wir wollen nicht gestört werden.« »Und wenn Mr. Romany auftaucht?« fragte ich. »Den hab' ich fast vergessen. Schön - wenn er da ist, soll er -184-
im Treibhaus warten. Sag mir Bescheid, wenn er auf dem Gelände ist.« Thaddeus und Mr. Ahasuerus spazierten hinaus und hinüber um Wohnwagen des Dancers. »Was, zum Teufel, geht hier vor?« fragte Queenie und starrte ihnen nach. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte ich. Ich versuchte, mich im Zelt zu beschäftigen, kehrte den Boden und sah alle paar Minuten nach Snoopy und Kalebasse. Ich fragte Alvin zweimal nach der Zeit. Als eine Stunde um war, wurde ich so neugierig, daß ich mich nicht länger auf meine Arbeit konzentrieren konnte und mich hinsetzte, um im Astronomiebuch zu blättern, das Thaddeus erstanden hatte. Ich fragte mich, was im Wohnwagen des Dancers vor sich ging. Nach einer halben Stunde kam Mr. Romany und wirkte sehr nervös und unruhig. Ich führte ihn ins Treibhaus, lief dann zum Wohnwagen und klopfte an die Tür. Thaddeus steckte den Kopf heraus. »Ja?« »Mr. Romany ist da.« »Sag ihm, er soll warten.« Die Tür flog zu, und ich kehrte ins Treibhaus zurück, um Mr. Romany mitzuteilen, daß Thaddeus ihn noch nicht empfangen könne. Der Schieber kam her und erbot sich, das Warten durch ein freundschaftliches kleines Spiel zu verkürzen, aber Mr. Romany schüttelte den Kopf und trommelte mit den Fingern gegen einen Stützmast. Nach einer weiteren Stunde machte Thaddeus die Tür endlich wieder auf und rief nach mir. Ich rannte aufgeregt zu ihm. »Schick Mr. Romany jetzt her. Und dann lauf zu meine m Auto und hol mir die Karte, die im Handschuhfach liegt.« »Dort liegen eine Menge Karten«, sagte ich. »Welche willst du?« -185-
Er lachte. »Bring sie alle, du neugieriger kleiner Kerl.« Ich begleitete Mr. Romany zum Wohnwagen, holte die Karten und lief wieder zum Wohnzelt. Ab und zu trat ich ins Freie, um zu sehen, ob das Treffen schon beendet war, aber als sich die Nacht auf die schneebedeckte Landschaft von Vermont herabsenkte, war noch keiner der drei wieder aus dem Wohnwagen des Dancers zum Vorschein gekommen.
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15 Die Besprechung dauerte fast bis zehn Uhr. Dann stiegen die drei Thaddeus, Mr. Ahasuerus und Mr. Romany - in Thaddeus' Auto und fuhren ohne ein Wort weg. Ich legte mich gegen Mitternacht zu Bett und schlief sehr unruhig, was ungewöhnlich für mich war. Ich wachte um sieben auf, sah auf die Uhr neben meinem Bett, drehte mich noch einmal für zwei Stunden um. Als ich mich dann anzog, waren der flotte Dan, Regenbogen und der Leibhaftige schon auf. Der Leibhaftige reichte mir eine Tasse heißen Tee und entschuldigte sich, daß es keinen Kaffee gab. Er erklärte mir, daß er, obwohl er unsere Sprache fließend beherrschte, Schwierigkeiten mit dem Lesen hätte und daß ihm die Bedienungsanleitung an der elektrischen Kaffeemaschine ein wenig zu kompliziert gewesen sei. Ich dankte ihm, nahm den Tee und ging zur Couch, setzte mich und starrte aus dem Fenster. Das Auto war noch immer nicht zurück, und ich fragte mich schon, ob es vielleicht von einer vereisten Straße abgekommen war. Ich vertrödelte eine Stunde und wollte eben zum Wohnzelt hinüber, als der blauweiße Dodge Maxivan vorfuhr und Thaddeus ausstieg. Einen Moment meinte ich, Thaddeus sei allein, doch dann kamen Mr. Ahasuerus und Mr. Romany zum Vorschein. Die drei kletterten die vier Stufen zur Wohnwagentür hinauf. »Mein Gott, ist es draußen kalt!« sagte Thaddeus, winkte die beiden herein und rieb sich kräftig die Hände. »Guten Morgen«, sagte der Leibhaftige. »Ebenfalls einen guten Morgen«, sagte Thaddeus. »Tojo, können wir losrollen?« »Bis auf das Wohnzelt ist alles gepackt«, sagte ich ihm. -187-
»Schön. Monk soll seinen Bus rückwärts ranfahren und die Fremden einladen. Dann soll er hier halten und den Leibhaftigen, Regenbogen und den flotten Dan abholen.« Er wandte sich an Mr. Ahasuerus und Mr. Romany. »Wollen Sie beide mit den anderen fahren?« »Das wäre uns ganz recht«, sagte der blaue Mann. »Wo fahren wir hin?« fragte ich. »Nicht sehr weit«, sagte Thaddeus. »Sag allen, sie sollen eine Schlange bilden und mir nachfahren.« »Mit wem soll ich mit?« »Du fährst mit mir. Und bring einen Bleistift und etwas Papier mit.« Monk hatte die Fremden in einer Stunde verstaut - diesmal gingen wir aufmerksamer mit ihnen um - und dann, als alle Lastwagen und Autos und Wohnwagen und Busse aufgereiht waren, stieg ich zu Thaddeus in das Auto. Wir rollten in Richtung Süden. »Tojo«, sagte Thaddeus mit wichtiger Stimme, »nimm deinen Notizblock und schreib folgende Namen auf: Monk, den Dancer, Diggs.« Ein Wagen vor uns kam plötzlich auf eine Eisplatte und begann zu schleudern, und Thaddeus mußte sich die nächste Zeit aufs Fahren konzentrieren. »Wo, zum Teufel, war ich?« fragte er endlich. »Monk, Dancer, Diggs.« »Genau. Schreib auch Gloria auf.« Er schwieg eine Minute. »Barbara und Priscilla. Und Swede. Und wie heißt das blonde Mädchen, das für den Schieber arbeitet - das den großen Busen hat?« »Jenny.« »Genau. Jenny. Schreib sie auf. Und Stogie, denke ich mir.« Er schwieg wieder, als überlege er. »Ja, schreib Stogie auf. Und den Rotschopf, die mit dem festen kleinen Arsch, die letzten -188-
Monat mit dem Dancer arbeitete, bevor wir sie an Diggs ausgeliehen haben.« »Lori?« »Ja, ich glaub' schon. Und den schnellen Johnny.« Der schnelle Johnny Carp war die rechte Hand des Schiebers, und ich kritzelte seinen Namen auf den Block. »Hast du alle aufgeschrieben?« fragte er. »Ja.« »Okay. Falt das Blatt zusammen, steck dir's in die Tasche, und verlier's nicht.« Thaddeus schaltete das Radio ein, fluchte kräftig, als er keine Sportnachrichten fand, und blieb schließlich bei einer Station hängen, die reichlich blecherne Countryand-Western-Music sendete. Wir fuhren fast zwei Stunden schweigend weiter, bogen dann auf eine Nebenstraße ab, fuhren ein Stück und hielten an. Thaddeus öffnete das Handschuhfach und zog einige Papierbogen heraus, die deutlich mit seiner Klaue beschrieben waren. Er betrachtete sie einen Augenblick, legte sie auf das Armaturenbrett und fuhr weiter. Das Gelände wurde gebirgig und die Straße gefährlicher. Thaddeus nahm sich immer wieder seine Aufzeichnungen vor und fuhr trotz der schwierigen Strecke weiter. Schließlich erreichte er ein großes, flaches Feld und lenkte den Wagen hinein. Die Schlange folgte ihm. »Okay«, sagte er und schaltete die Zündung aus. »Bring alle bis auf die Fremden her. Ich habe ihnen etwas mitzuteilen.« Ich brauchte dafür ein paar Minuten - immerhin waren wir zweiunddreißig -, doch wir standen ziemlich rasch vor dem Auto. Thaddeus stieg aus und stellte sich vor uns. »Ich möchte nur mitteilen, daß es ein paar Veränderungen geben wird«, sagte er, ging auf und ab, um sich warm zu halten. »Ich habe mich mit zwei Partnern zusammengetan, und von jetzt -189-
ab wird es zwei Abteilungen geben.« Er schwieg, um die Reaktion abzuwarten, aber es war so kalt, daß die meisten nur zuhören wollten. »Die meisten von euch bleiben bei der Hauptabteilung, bei der sie bis jetzt sowieso gearbeitet haben. Mr. Romany wird sie leiten. Ihr werdet die Atlantikküste rauf- und runterfahren, wie immer. Jeder, der bei dieser Abteilung bleibt, erhält eine Gehaltserhöhung, mit Wirkung von heute.« Jubel stieg auf, wenn auch nur kurz. »Mr. Ahasuerus und ich werden die andere Abteilung ein bißchen weiter weg bringen«, fuhr er fort. »Es ist zu kalt, verdammt noch mal, um euch zu sagen, was wir planen, aber Tojo wird euch holen. Wir werden uns einzeln in meinem Wohnwagen unterhalten. Das war's.« Thaddeus lief um den Wohnwagen, der an sein Auto gekuppelt war, und kletterte hinein. Die anderen kehrten in die Wärme ihrer Fahrzeuge zurück. Ich konnte eben noch Monk aufhalten, bevor er wieder in seinem Bus verschwand, um ihm zu sagen, daß Thaddeus ihn sprechen wollte. »Der will mir wahrscheinlich mitteilen, warum ich nicht mit einer Gehaltserhöhung rechnen kann«, brummte er und ging zum Wohnwagen. Eine halbe Stunde später kam er mit einem höchst seltsamen Gesichtsausdruck wieder heraus, und ich schickte den Dancer hinein. »Das ist die wildeste Geschichte, die ich je gehört habe!« rief Monk. »Ich kann's immer noch nicht glauben!« »Was hat er denn gesagt?« fragte ich. »Komm, gehen wir in Buffalo Bills Wohnwagen«, sagte er. »Es ist zu kalt, um sich draußen zu unterhalten.« Ich folgte ihm, und als wir dort waren, befand sich der Dancer auch schon auf dem Rückweg. Diggs machte sich an seinem -190-
Wagen zu schaffen, als ich ihm zurief, er solle jetzt mit Thaddeus reden. »Hat er dir gesagt, was er mir gesagt hat?« fragte Monk, als wir drin waren und der Dancer die Tür hinter uns zumachte. »Wahrscheinlich«, sagte der Dancer. »Wieso bist du dann so schnell zurück? Hast du keine Fragen gehabt?« »Nee.« »Er sagt dir, daß du einen Haufen Welten aufsuchen wirst, von denen noch nie jemand was gehört hat, und du hast keine Fragen?« »Mir ist es gleich, wer mir zusieht, solang ich meine Nummer vorführen kann«, sagte der Dancer mit einem Schulterzucken. »Davon rede ich doch nicht!« sagte Monk erbittert. »Glaubst du den ganzen Scheiß über die Freaks, die aus anderen Welten kommen?« »Ist doch gleich, wo die herkommen«, sagte der Dancer höflich. »Kapierst du nicht, was ich dir sage?« sagte Monk hartnäckig. »Klar doch. Es ist nur nicht sehr wichtig. Fährst du mit, oder bleibst du?« »Ich wette hundert zu eins, daß alles ein Haufen Blödsinn ist!« sagte Monk. Dann lächelte er ein wenig verlegen. »Aber für den Fall, daß es kein Quatsch ist, kann mich nichts auf der Welt von diesem Schiff fernhalten.« Er wandte sich an mich. »Was weißt du von der Geschichte, Tojo?« »Sie sind fremde Wesen«, sagte ich. »Wer fährt mit? Thaddeus sagte, nur die Leute, die er brauchen kann. Ich wette natürlich«, sagte er mit einem Zwinkern, »und zwar noch mal hundert zu eins, daß er plötzlich einen guten Grund entdeckt, warum er Jenny unbedingt braucht.« -191-
»Er wird sich mit Diggs und Gloria und ein paar anderen unterhalten«, sagte ich traurig. »Schön!« sagte Monk. »Ich kann mir nicht vorstellen, ohne den Schieber auf die Reise zu gehen, ganz gleich, wie weit die Reise geht.« Und ich konnte mir nicht vorstellen, warum Stogie auf der Liste stand und ich nicht. Er arbeitete natürlich in der Stripschau, und ich konnte kaum etwas anderes tun als mich um einen Haufen kranker Touristen kümmern, die vermutlich unverzüglich nach Hause fuhren, aber trotzdem... »Was ist mit Alma?« fragte Monk. »Sie fährt nicht mit, glaube ich«, sagte ich. »Das ist vielleicht eine Art, sie loszuwerden, wenn man die Nase von ihr voll hat!« lachte Monk. »Und ich möchte wetten, er nimmt auch Big Alvin nicht mit.« »Er steht nicht auf der Liste«, sagte ich. »Gloria wird einen neuen Beschützer brauchen«, sagte Monk. »Ich glaube, ich gebe Bruno den Job.« Es wurde geklopft, und gleich darauf kam Diggs herein. Er warf seinen Mantel über einen Stuhl und kam zu uns. »Jetzt ist Gloria drin«, sagte er mir, »und Thaddeus sagt, als nächsten möchte er Swede sehen.« »Swede?« sagte Monk. »Wofür brauchen wir den denn?« »Das klingt so, als glaubst du den ganzen Scheiß«, sagte Diggs. »Es ist eine Menge Bockmist«, sagte Monk. »Aber die Idee ist schon faszinierend, was?« »Ich werde eine ganze Reihe neuer Kartenspiele lernen müssen«, überlegte der Schieber. »Also, wenn du dich für zu alt hältst...«, fing Monk an und lächelte amüsiert. -192-
»Du redest schon wie Thaddeus!« fuhr ihn der Schieber an. »Wie meinst du das?« »Er hat mich so wütend gemacht, daß ich sagte, ich geh' schon deshalb mit, um ihm zu zeigen, daß es nirgendwo jemand gibt, der einen Gimpel so wie Jason Diggs rupfen kann.« Er zuckte die Schultern. »Ich fahre also, glaube ich, mit«, schloß er verschmitzt. Monk und Diggs begannen Wetten abzuschließen, welche Lebensformen ihnen als erste begegnen würden, und ich fing an zu überlegen, was aus meinem Leben werden sollte, wenn mich meine Familie verließ. Eine richtige Familie war es ja mit all den Schwindlern, Unangepaßten und grotesken Gestalten gar nicht, aber es war die einzige Familie, die ich hatte, und ich fühlte mich plötzlich wie ausgehöhlt. Erinnerungen an meine Kindheit, meine Schulkameraden und an das Sanatorium rasten durch meinen Kopf. Die Tränen Schossen mir in die Augen. Ich zog meinen Mantel über und ging leise aus der Tür, um von niemandem gesehen zu werden. Jemand hatte das Treibhaus aufgebaut, und ich lief hin, um mich aufzuwärmen. Im Innern sah ich nur Alma, die sich in ihren Mantel hüllte. »Hallo«, grüßte ich sie. »Was geht vor, Tojo?« sagte sie. »Warum spricht Thaddeus mit Gloria?« »Er will sie in der neuen Abteilung haben.« »Jemand sagte mir, daß du die Liste hast. Stehe ich auf ihr?« »Nein, Alma«, sagte ich. »Du nicht.« »Und Queenie?« »Auch nicht.« »Ich dachte schon, er wollte uns auseinanderbringen.« Sie schwieg einen Augenblick. »Wo fährt die neue Abteilung hin, Tojo?« -193-
»Ziemlich weit weg«, sagte ich. »Ich bin nicht blind, Tojo«, sagte sie. »Ich habe gesehen, was wir die beiden letzten Wochen mit uns rumgeschleppt haben. Wie weit?« »Sehr weit«, antwortete ich. »Wen nimmt er mit?« »Ein paar Leute. Jeden, der einen Teil zu der Schau beitragen kann.« »Und was ist dann mit Queenie und mir? Weshalb nimmt er uns nicht mit?« »Das mußt du ihn selbst fragen, Alma.« Sie nickte, und wir blieben schweigend sitzen. Ich hörte Schritte näher kommen, und Thaddeus betrat das Zelt. »Tojo, wo, zum Teufel, hast du gesteckt?« sagte er. »Ich muß noch -« Er brach mitten im Satz ab, als er Alma sah. »Hallo, Thaddeus«, sagte sie. »Ich wußte nicht, daß du hier bist«, sagte er verlegen. »Ich habe mich nur von Tojo verabschiedet. Ich glaube, ich werde mich von den meisten meiner Freunde verabschieden müssen, wie?« »Von deiner besten Freundin nicht. Du gehörst zu ihr, und sie gehört hierher.« »Aber weshalb denn, Thaddeus?« »Du bist lang genug Striptänzerin gewesen.« »Ich verstehe nicht«, sagte sie. »Ich hab' genug Stripperinnen, und Romany löst die Fleischbeschau auf. Von morgen an kümmert ihr euch um die Spiele, Queenie und du, es sei denn, du kannst ihn davon überzeugen, daß du Schauspielerin genug bist, um im Zelt der Sonderschauen aufzutreten. Aber was er auch macht, du wirst -194-
dich von jetzt an von niemand mehr begrapschen lassen müssen, es sei denn, du möchtest es.« »Aber wir könnten doch deine Spiele übernehmen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich nehme niemand mit, der hier noch Bindungen hatte. Du hast Queenie, und Queenie hat Familie.« »Das ist nicht der Grund«, sagte sie. »Na schön. Du könntest dir deinen Unterhalt nicht verdienen.« »Nimmst du Priscilla mit?« »Ja.« »Dann ist das auch nicht der Grund.« »Es ist aus«, sagte er und blickte ihr in die Augen. »Es ist meine Schuld, und ich nehme sie auch auf mich - aber das ändert nichts an den Tatsachen.« »Es muß nicht aus sein«, sagte sie ohne Überzeugung. »Ich dachte, wir hätten das vor ein paar Nächten geklärt. Queenie liebt dich. Ich werde nicht mit ihr um dich kämpfen.« »Dazu würde ich es nicht kommen lassen«, sagte sie fest. Er seufzte tief. »Du könntest es nicht verhindern, Alma. Das ganze Leben habe ich immer das gewollt, von dem es hieß, das kannst du nicht haben. Was glaubst du denn, warum ich mit Mr. Ahasuerus gehe?« »Aber -« »Das ist entschieden«, sagte er hart. Dann lächelte er. »Du machst es mir wirklich schwer, Edelmut zu zeigen.« Sie sah ihn lange an. »Na schön, Thaddeus«, sagte sie. »Wenn es so sein muß.« »So muß es sein«, antwortete er. Sie fuhr sich durchs Haar, holte tief Luft und versuchte, von etwas anderem zu sprechen. »Weiß Mr. Romany, wie man einen Jahrmarkt leitet?« -195-
»Nicht sehr gut«, gab Thaddeus zu. »Als wir auf ihn stießen, hatte er ein reichlich provinzielles Unternehmen. Er wollte damals freilich nicht auffallen, aber ich glaube, zu Beginn müßt ihr ihm doch ein bißchen unter die Arme greifen.« Er war über den Themawechsel anscheinend auch erleichtert und begann eifrig zu reden. »Ich habe meine Fahrbetriebe von dem Geld zurückgekauft, das ich mit den Fremden verdient habe. Der Mistkerl, dem ich sie verkauft hatte, besaß sie zwei "Wochen und verkaufte sie mir für zwanzig Große mehr zurück, als er gezahlt hat. Wenn ich nur gewußt hätte, daß ich sie wieder brauchen würde. Auf jeden Fall habt ihr die Fahrbetriebe und auch die meisten der Spielbuden, und natürlich wird Romany pro Jahr sechs oder sieben Gruppen von Fremden hier durchschleusen. Ich kann mir denken, daß ihr klarkommt. Es ist nicht so, daß er mir für die ganze Sache auch noch was zahlt.« »Was springt für dich bei dem Handel raus, Thaddeus?« fragte Alma. »Die Sterne«, sagte er mit einem Hauch von Ironie. Sie sah ihn lange mit einem bittersüßen Ausdruck im Gesicht an. »Du wirst nie zurückkommen, wie?« fragte sie endlich. Es war eigentlich keine Frage. »Da oben gibt es eine Riesenmenge Gimpel, die darauf warten, gerupft zu werden«, antwortete er. Es war eigentlich keine Antwort, aber es schien zu genügen. Sie erhob sich und reichte ihm die Hand. »Alles Gute, Thaddeus. Ich werde jede Nacht hinaufschauen und versuchen, mir vorzustellen, wo du steckst.« Er nahm ungeschickt ihre Hand. »Auch dir alles Gute, Alma.« Alma lief rasch aus dem Treibhaus zu ihrem Wohnwagen. »Wie viele auf der Liste muß ich noch sprechen?« fragte Thaddeus müde. -196-
Ich zog sie hervor und sah sie an. »Sieben.« Ich machte eine Pause. »Es sei denn, du hast noch jemand dazugenommen.« »Wen denn?« Ich spürte, daß ich nicht den Mut hatte, es ihm zu sagen. »Wie zum Beispiel Big Alvin«, sagte ich stockend. Er schüttelte den Kopf. »Wer braucht auf einer solchen Tournee einen Rausschmeißer?« »Aber was ist mit Gloria?« fragte ich. »Ich habe schon mit ihr gesprochen. Ich sagte ihr, daß ich niemand mitnehme, den ich nicht brauchen kann, und daß sie mitkommen, aber auch bleiben kann, daß ich Alvin aber nicht mitnehme.« »Und?« »Sie kommt mit. Das ist auch für Alvin das beste. Er würde sonst noch weitere fünf Jahre vergeuden, bevor er merkt, daß ihr nur das Tanzen wichtig ist.« Er gähnte. »Mein Gott, bin ich müde. Ich hab' das gestern den ganzen Tag lang mir Mr. Ahasuerus ausgearbeitet, und dann saß ich die halbe Nacht am Funkgerät der Raumfähre, um seiner Gesellschaft die Idee mit dem fliegenden Jahrmarkt zu verkaufen. Die ganze Zeit mußte ich aufpassen, daß Romany den Handel nicht über den Haufen wirft, und heute habe ich fast den ganzen Tag damit zugebracht, einen Haufen von Hochstaplern zu überzeugen, daß ich nicht dabei bin, die allergrößte Hochstapelei vom Stapel zu lassen.« Thaddeus sah aus dem Fenster und entdeckte Stogie, der seinen kleinen Schnauzer im Schnee spazierenführte. »Ich weiß überhaupt nicht, was wir mit dem Hund machen sollen«, sagte er. Dann zuckte er die Schultern. »Teufel auch, wenn wir Leoparden, einen Löwen und einen Bären mitnehmen können, darf der alte Kerl sicher auch einen Zehnpfünder von Hund mitbringen.« Er machte die Tür auf und rief: »He, Stogie, komm in meinen -197-
Wohnwagen! Ich muß was mit dir besprechen.« Ich wollte in den Wohnwagen des Dancers zurück, um einen letzten Abend mit meinen Freunden zu verbringen, aber ich wußte, daß Monk und Diggs aufgeregt über ihre Zukunft sprechen würden. Die Zukunft gefiel mir aber im Augenblick gar nicht. Ich blieb ganz allein im Treibhaus sitzen und begriff, daß ich mich wieder daran gewöhnen müßte, völlig allein zu sein.
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16 Am nächsten Morgen ging die Aktion los und wurde im Verlauf des Tages ein wenig hektisch. Mr. Romany und der Schieber brauchten ein paar Stunden, um die Spielbuden zu verteilen, und stritten sich, wer was bekommen sollte. Monk meinte, er habe kein Vertrauen, daß Mr. Ahasuerus das richtige Futter für seine Tiere beschaffen könne, und fuhr mit seinem Bus - zusammen mit den Fremden - in eine nahe gelegene Stadt. Dort kaufte er von einem ziemlich überraschten Metzger zweihundert Pfund Fleisch. Einer der Lastwagen mußte entladen werden, als sich herausstellte, daß die Kostüme der Striptänzerinnen, die mit Thaddeus ziehen würden, unter das Zelt der Spezialschauen gepackt worden waren, das bei Mr. Romany blieb. Big Alvin betrank sich und mußte eingeschlossen werden, weil er eine Reihe von Auto- und Wohnwagenfenstern einzuwerfen begann. Stogies Schnauzer verschwand und tauchte beinahe zwei Stunden lang nicht mehr auf. Am späten Nachmittag war alles endlich soweit, und Thaddeus verkündete, daß seine Abteilung des Unternehmens »Ahasuerus und Flint: Jahrmarkt und Monstrositätenschau« in zehn Minuten abfahren würde. Er suchte sich einige Männer aus Romanys Abteilung aus, die ihn begleiten würden, um die Fahrzeuge zurückzubringen, wenn seine Gruppe abgereist war. Ich hatte fast den ganzen Tag allein im Wohnwagen zugebracht und versucht, meinen Mut zusammenzunehmen und Thaddeus zu bitten, mich mitzunehmen. Ein-, zweimal war ich bis zur Tür gekommen, aber dann fiel mir ein, daß er nicht einmal Big Alvin mitnahm, und ich wußte, ich konnte ihn auf -199-
keine Weise davon überzeugen, daß ich mir meinen Unterhalt verdienen würde. Ich blieb also, wo ich war, und zählte die Stunden und Minuten. Ich überlegte sogar, ob ich Monks Bus aufsuchen und mich Mr. Ahasuerus auf Gnade oder Ungnade ausliefern sollte, aber ich wußte, daß er an wichtigere Dinge zu denken hatte als an die Zukunft eines häßlichen, kleinen Buckligen, der Schwierigkeiten mit dem Sprechen hatte, und ich hatte nicht die Kraft, eine endgültige Ablehnung zu ertragen. Ganz tief dachte ich mir, daß immer noch die Möglichkeit bestand, daß er es sich im letzten Augenblick anders überlegte, solange er mich nicht offiziell abgewiesen hatte. Die Fahrt zur Raumfähre dauerte etwa vierzig Minuten. Als wir anhielten, blickte ich aus dem Fenster und sah, daß wir uns auf einer großen Lichtung in einem verschneiten Wald befanden. Der Wind blies den feinen Schneestaub durch die Luft. Obwohl wir weniger als hundert Schritte von dem Schiff entfernt waren, konnte ich kaum Einzelheiten an dem riesigen Fahrzeug erkennen. Am ehesten sah es noch wie ein gestrandetes U-Boot aus. Die fremden Wesen, die meisten in Mäntel und Decken gehüllt, machten sich auf den kurzen Weg zum Schiff. Monk begann seine Tiere auszuladen und zu führen. Ich wischte das beschlagene Fenster frei, hoffte noch einen letzten Blick auf Diggs und den Dancer zu werfen, als ich plötzlich einen kalten Luftzug spürte. Thaddeus stand mit den Händen an den Hüften in der Tür und sah mich ärgerlich an. »Also?« sagte er. »Also was?« »Du hast noch nicht gepackt?« »Ich dachte, ich wohne weiter im Wohnwagen«, sagte ich. »Es sei denn, du hast ihn jemand anderem gegeben.« -200-
»Zum Teufel, wovon redest du? Du kommst mit uns.« »Ich?« rief ich. Er schnaubte. »Siehst du sonst noch jemand hier?« »Aber... was kann ich tun? Du hast gesagt, jeder muß sich seinen Unterhalt verdienen.« »Das wird auch jeder«, versicherte mir Thaddeus. »Besonders du.« »Ich verstehe nicht.« »Ich werde verdammt viel damit zu tun haben, den Jahrmarkt in Gang zu halten, und zu nichts anderem kommen. Ich meine, Mr. Ahasuerus ist ein netter Kerl und so weiter, aber mit dem, was er über Geschäftsführung nicht weiß, kann man eine ganze Bibliothek füllen.« Er machte eine Pause. »Also, was ist?« »Was soll sein?« »Du wolltest doch immer ein Ausrufer sein?« »Ja, aber...« Ich stolperte wieder über meine Zunge und brachte kein Wort heraus. »Mr. Ahasuerus sagt mir, daß sich eine Menge Welten, die wir aufsuchen werden, telepathisch verständigen. Wenn du also«, sagte er lächelnd, »beim Denken nicht stotterst, hast du den Job.« »Ist das dein Ernst, Thaddeus?« brachte ich heraus. »Würde ich dich denn anlügen, du häßlicher kleiner Zwerg?« sagte er mild. In weniger als einer Minute hatte ich einen Koffer mit all meinen irdischen Gütern gefüllt. Dann zog ich mir den Mantel an und folgte ihm durch den kalten Schnee Vermonts zum wartenden Raumschiff.
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