HANS-GEORG GADAMER
Hermeneutische Entwürfe
Mohr Siebeck
Hans-Georg Gadarner
Hermeneutische Entwürfe
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Hans-Georg Gadamer
Hermeneutische Entwürfe Vorträge und Aufsätze
Mohr Siebeck
G.1damer, HoliH-Gr
Ham-G~org
Gadarner.
f': 2000 J. C. B. :vtohr (Paul Siebeck) Tübingen.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urh~bcrrcchtlich gesrhützr. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und straibar. Das gilt insbesondere !ur Vervicltaltigungen. Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in T übingen aus der Bembo-1\ntiqua belichtet, aui alterungsbeständiges Werkdruckpapier der Papierfabrik Niefern gedruckt und von der Großbuchbinder<·i Heim. Korb in Tübingen gebunden.
Vorwort Der knappe Band enthält eine Art von Nachlese zu meinen >Gesammelten Werken<. Es handelt sich daher durchweg um Arbeiten, die dort nicht enthalten sind. Die Schriften dieses Bandes sind unter dem Gesichtspunkt ausgewählt, daß sie Ergänzungen zu früheren bieten soUen. In den meisten FäUen beruhen sie auf der Niederschrift eines frei gehaltenen Vortrages, die fllr den Druck überarbeitet wurde. Den Abschluß bildet eine kleine Gruppe von Texten, die eigentlich nicht zu dem Themenkreis meiner Arbeit gehören, aber umso mehr zu dem Bereich meiner Neigungen. Sie tragen des\vegen den Titel >Glossen<. HGG
Inhaltsverzeichnis
V
Vorwort
I. Hermeneutik als Philosophie I. Hermeneutik- Theorie und Praxis (1996)
3
2. Wissenschaft und Philosophie (1977)
12
3. Humanismus und die industrielle Revolution (1988)
26
4. Über die politische Inkompetenz der Philosophie (1992/93)
35
5. Hermeneutik und Autorität- eine Bilanz (1991)
42
6. Über das Hören (1998)
48
7. Freundschaft und Solidarität (1999)
56
II. Zur Weltgeschichte des Denke"s 8. Die Philosophie und ihre Geschichte (1998) 9. Die Gegenwartsbedeutung der griechischen Philosophie (1972)
69 97
10. Die Zukunft der europäischen Geisteswissenschaften (1983)
112
11. Über Kuno Fischer als Brücke zu Hegel in Italien (1997)
129
12. Nietzsche und die Metaphysik (1999)
134
III.
Zt~r
Transzendenz der Kunst
13. Der Kunstbegriff im Wandel (1995)
145
14. Die Kunst und die Medien (1988/89)
161
15. Kunst und ihre Kreise ( 1989)
176
16. Kunst und Kosmologie ( 1990)
181
IV jjAlhheia« 17. Heidegger und das Ende der Philosophie ( 1989)
195
18. Danken und Gedenken (2000)
208
19. Wissen Z\vischen gestern und morgen ( 1998)
214
V. Glossen 20. Ein >sokratischer< Dialog (1965)
227
21. Goethe und Heraklit ( 1999)
234
22. Nausikaa (1994)
238
Bibliographische Nachweise
243
Namen
245
I. Hermeneutik als Philosophie
1. Hermeneutik - Theorie und Praxis (1996)
Der eigentliche Begründer der philosophischen Tradition der Hermeneutik war im Zeitalter der Romantik Friedrich Schleiermacher, wie vor allem seine noch inuner nicht genügend edierte >Dialektik< lehrt. Von Schleiermacher gibt es einen sehr vielsagenden Satz, der auch mir selber wahrhaft aus der Seele gesprochen ist. Der Satz heißt ungefähr: »Ich hasse alle Theorie, die nicht aus der Praxis erwächst«. Offenbar hat das populäre Thema >Theorie und Praxis< auch in den Augen des Begründers der romantischen Hermeneutik, wie in vielen anderen Anwendungen auch, eine hohe Aktualität. So möchte ich über den ursprünglichen, wahrhaft fundamentalen Spannungssatz und Gegensatz zwischen Theorie und Praxis, der auch in vielen Worten und Sprichwörtern seinen Niederschlag gefunden hat, ein paar Betrachtungen anstellen. In der Überzeugung, daß auch in einer Welt der Regelung und der inuner weiter fortschreitenden Planung und Bürokratisierung die Spannung von Theorie und Praxis nicht verschwinden wird, gilt es darüber nachzudenken, wie sich zwischen Regelung und dem ihr entgehenden Freiheitsraum das Leben selber inuner wieder seine eigenen Bahnen sucht. Vielleicht gelingt es mir, in der zwanglosen Form, in der ich hier beginne, an das Thema heranzuführen. Es ist jetzt ziemlich genau zweihundert Jahre her, daß Inunanuel Kant im Jahre 1793 einen Aufsatz veröffentlicht hat, dessen Titel lautet: »Das mag in der Theorie richtig sein, es taugt aber nicht fiir die Praxis~. Wir sollten uns daran erinnern, daß der Begründer der kritischen Philosophie mit der >Kritik der reinen Vernunft< der herrschenden Schulmetaphysik ein Ende gesetzt hat. Wir sollten aber auch nicht vergessen, daß Kants kritische Arbeit die Vorbereitung dafur bildete, daß es gleichwohl eine Metaphysik geben müsse, aber allein eine auf dem Freiheitsbegriff gegründete Moralphilosophie, das heißt eine >Metaphysik der Sitten<. Der zitierte Satz hat freilich noch ganz andere Anklänge. Er hat Kants Interesse offenbar auf sich gezogen, um vor allem zu zeigen, was in seinen Augen >Theorie< heißt. Ich will Kants Aufsatz hier nicht weiter behandeln. Er ist nicht mein Thema. Er ist nur ein wichtiges Beispiel dafiir, wie ein Satz von allgemeiner Lebenswahrheit in den Augen eines eminenten Geistes und berühmten Denkers, wie Kant, fur sein Anliegen in Ge-
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Henneneutik als Philosophie
brauch genommen worden ist. Er enthält in ein paar kurzen Worten - es ist kein umfangreicher Aufsatz - eine Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Philosophen Ganre so\vie mit Thomas Hobbes und mit Mendelssohn. In der Hauptsache ist die Arbeit dem z,vecke ge-.vidmet, gegen Garve das eigene Anliegen Kants geltend zu machen. Garve ,..,·ar ein Aristoteliker und suchte den Eudämonismus gegen Kant zu verteidigen. Er besteht darauf, daß die Sorge um das eigene Lebensglück einen berechtigten Anteil an der Ethik habe. Nun war Kant zwar der Begründer der kritischen Philosophie und in gewissem Sinn der Philosoph, der Entscheidendes fur die Aufklärung und ihren dominierenden Zug zugunsren einer Beherrschung der Natur mithilfe der Wissenschaft geleistet hat. Doch steht Kant andererseits wieder Rousseau nahe und ist nicht blind fur die moralische Anmaßung und die Einseitigkeit des zeitgenössischen Rationalismus. So macht er sich hier darüber Gedanken, wie man sich gegen das kluge Alltagswort über Theorie und Praxis im Sinne des eigenen theoretischen Anliegens, der Grundlegung der Metaphysik der Sitten, verteicligen könnte. Das ist in der Tat nicht so leicht zu verstehen. Ich erinnere mich nur zu gut, wie ich erstmals als junger Student etwas von dem •Kategorischen Imperativ< härte. Das klang mir sehr merkwürclig. Was soll da kategorisch heißen? Das Wort war mir zwar schon bekannt. Man denke etwa an die damalige Familie und an die Autorität des Vaters, wenn er seinem Sohn eine Bitte kategorisch abschlägt. Das gab es natürlich. Aber was nun eigendich hinter dem geheimnisvollen Ausdruck •der kategorische Imperativ< stecken sollte, konnte ich mir dennoch nicht so leicht vorstellen. Jetzt gelingt es mir schon etwas besser, und insbesondere bei dem zitierten Wort über Theorie und Praxis, wenn ich dabei an den Fall der Hermeneutik im weiteren Sinne denke. Es ist gar nichts Besonderes, daß man eine so einfache Sache wie die Kunst des Verstehens mit dem kategorischen Imperativ in Verbindung bringt. Kant hat dafur doch Anlaß gegeben, gerade weil er verständlich sein wollte. So vertraute er darauf, daß es jedem klar ist, was es heißt, wenn man jemandem eine Bitte kategorisch abschlägt. In demselben Sinne hat er offenbar von dem kategorischen Imperativ gesprochen und ebenso auch von dem, was Pflicht heißt. Nun ist es gerade cliese Pflichtmoral, dieses Sollen, das darin besteht, daß man das, was man als seine Pflicht erkannt hat, ohne alle Einschränkungen und weitere Beclingungen gelten läßt. •Kategorisch< heißt ja im allgemeinen Sprachgebrauch, daß es dagegen keine Einrede gibt. So gibt es, wenn man etwas als Pflicht erkannt hat, auch \·venn man dabei noch so sehr in eine schwierige Lage kommt, keine Einrede. Kant hat es selber einmal an einem Beispiel ausgemalt. Da hat einer jemandem Geld anvertraut, das er in Verwahrung nehmen solle. Nun gerät der Empfänger des Geldes selber in wirtschaftliche Schv1rierigkeiten. Da darf man keinen Augenblick auch nur darüber nachdenken, ob man das einem anvertraute Geld etwa einstweilen fur sich selber verwenden könnte, um sich selber aus der Verle-
Hermeneutik - Theorie und Praxis
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genheit zu helfen. Das wäre einfach Unrecht. Um das zu wissen, braucht man gar nicht viel Philosophie und nicht einmal zu wissen, was das Wort >kategorisch< eigentlich heißt. In den Augen des Betroffenen mag gleichwohl seine Überlegung vernünftig klingen, wenn man an die Praxis des geschäftlichen Lebens denkt. Da zeigen sich so günstige Möglichkeiten, das anvertraute Kapital auf eine fruchtbare Weise anzuwenden, und man meint vielleicht gar mit Gewinn für den Pfandgeber alles zurückzahlen zu können. Wenn das alles ohne Einwilligung des Leihgebers geschah, ist das trotzdem einfach Unrecht und geht gegen das Recht. Man sieht an dem Beispiel aus praktischer Erfahrung, was das Verhältnis zwischen Theorie und Pra..xis in der Redensart und was der kategorische Imperativ sagen will. Es ist sicherlich nicht das, woran man bei der von Kant zitierten Redensart zuerst denkt. Das erste, woran \'l.·ir dabei denken, v.renn man die Redensart hört, ist, daß es eben doch eine unaufhebbare Spannung gibt. Da sind auf der einen Seite alle theoretischen Aussagen und ihre allgemeine Geltung, aber wie anders sieht es jeweils im besonderen Fall aus. Kam setzt dem freilich eine sehr besondere Anwendung der Vernunft selber entgegen und meint nicht so sehr den offenbaren Zwiespalt, den man in der Praxis des Lebens gegen die bloße Theorie empfindet. Bei der Geschichte mit dem unterschlagenen Geld ist es ja die eigene Vernunft, die versucht ist, sich zu fragen, ob nicht in dem besonderen, vorübergehenden und konkreten Falle doch vielleicht eine Ausnahme sich rechtfertigen ließe. Man ist keineswegs zu einer schlechten Tat entschlossen, und so sucht man sich zu überreden, daß man das im konkreten Falle schon einmal machen könne, eigenmächtig mit dem an\'ertrauten Geld zu \·virtschaften. Ich will hier weder den Rechtsstaat in seinem Formalismus noch das Gewissen in seiner Subtilität beschwören, sondern möchte nur einfach daran erinnern, daß wir jedenfalls, nachdem \Vir durch unsere freie Entscheidung, die Verwahrung des Pfandes anzunehmen, zu dem Bekenntnis genötigt sind. daß hier die übernommene Verpflichtung einem etwas kategorisch gebietet, und daß man damit in Wahrheit seine eigene Freiheit bejaht. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß man angesichts der Freiheit der eigenen Entscheidung auch alle Verantwortlichkeiten anerkennt, die daraus envachsen. Unsere Vernunft steht selber aufdem Spiele zwischen den sich ständig bietenden Versuchungen auf der einen Seite und der Verbindlichkeit gesetzlicher Normen und erkannter Pflichten auf der anderen Seite. Was man in gewissem Sinne als etv.ras Allzumenschliches ansehen möchte und was ich in der Interpretation Kants die Dialektik der Ausnahme genannt habe, ist etwas, wozu wir alle neigen. Es ist mit Kam zu reden die Sophistik der Leidenschaft, die immer einsetzt, wenn gegen unsere Neigungen und geheimen Wünsche unbequeme Forderungen gestellt werden. Man fragt sich dann immer leicht, ob der Fall nicht eine Ausnahme sei. In Wahrheit glaube ich, daß Kant hier eine sehr wichtige Anwendtmg macht, wenn auch ganz und gar nicht im Sinne der Redensart, die den Titel
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Hermeneutik als Philosophie
bildet. Kant hat allen Grund, daran zu erinnern, was die Bewegung der Aufklärung und die Wegräumung fraglich gewordener Autoritäten unter der Devise >Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen< zur Folge haben kann. So erinnere er daran, daß solche kategorischen Gesetze uns von unserer Vernunft selber auferlegt werden, und diese finden damals ebenso wie auch noch in unserem Jahrhundert unser aller Anerkennung und Zustimmung. Dem ist nicht auszuweichen, und doch ist es nicht bequem. Insofern wird uns gewiß die Anzweiflung der normativen Geltung durch die Dialektik der Ausnahme von unseren Interessen her immer empfohlen. Man sollte sich die Kant-Kritik nicht so leicht machen wie Scheler, der die Kautische Pflichtethik als einseitig ansieht, das Recht des Wertes dagegen einführt und etwa gegen Kant das christliche Liebesgebot anfuhrt, daß man Liebe doch nicht gebieten könne. Man sollte sich hier auch nicht von dem klassischen Gegensatz von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik beirren lassen. Das ist eine heute noch immer gültige und von Max Weber wohlbegründete Unterscheidung. Sie ist noch in aller Munde und berichtigt eine falsche Verengung der sittlichen Vernunft. Max Weber hat offenkundig in der herrschenden Kant-Autfassung eine Schwäche des Protestantismus im Zeitalter der bis heute dauernden Aufklärung erkannt. Er hat recht, daß die Verantwortung flir voraussehbare Folgen unseres Handeins ebenso gilt wie die Gesinnung. Zur Verantwortung gehört auch Wissen und Sachkenntnis. Das ist alles andere als eine Kam-Kritik. Es gehört gewiß auch nach Kant zu den Imperativen der Klugheit, daß man zu jeweils gegebenen Zwecken die rechten Mittel wählt. Das ist nicht eine kategorische Verpflichtung, wohl aber ist die Verantwortlichkeit fur die Folgen eigener Fehler eine solche. Auch Hans Jenas irrt, wenn er seine Darstellung der Ethik der Verantwortung gegen Kant abheben will. Was sich geändert hat, ist lediglich die Reichweite der Verantwortung, die etwa politische Entscheidungen in unserer heutigen zugespitzten Kultursituation bekommen haben, seit es um das Überleben der Menschheit überhaupt geht. Das gilt etwaangesichtsder ökologischen Krisis, daß die Verantwortlichkeit fur die kommenden Geschlechter auf unsere Entscheidungen einwirken muß, und nicht nur das, was wir im Augenblick als vorteilhaft empfinden. Vieles wird folgenreich sein, sei es, wie wir uns heute verhalten oder wie wir heute etwas versäumen. So ist also nicht etwa die Verantwortungsethik eine neue Erkenntnis, wohl aber ist es verdienstlich, an die Maßstäbe zu erinnern, in denen diese Erkenntnis uns heute bindet. So würde ich Jenas durchaus zustimmen, daß der Gedanke der Verantwortung uns alle binden muß, und doch sollten wir dabei zugleich klug genug sein, die Eigenrechte der Kulturkreise und ihrer Wertbegriffe rnitzubeachten. Das sind wahrlich spannungsvolle Aufgaben, die eine Politik auflange Sicht verlangt. Aber ich will nicht länger bei der Ethik bleiben. Ich will auf etwas ganz anderes hinaus. Atmen Sie auf und hören Sie mir weiter zu. Ich möchte die in
Hermeneutik - Theorie und Praxis
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der Redensart gebrauchten Begriffe von Theorie und Praxis zunächst einmal in der ganzen Bedeutungsfülle herausarbeiten, die diese griechischen Wörter besitzen, und von da aus die Redensart prüfen. Wieviel Skepsis klingt heute fiir uns in der zitierten Redensart! Bruno Sn eil hat mit Recht darauf hingewiesen, daß die griechische Wendung zur Theorie, die in den großen Handelsstädten des griechischen Kolonialzeitalters sich anbalmte, schon damals zu Spannungen geführt haben wird, und Snell beruft sich dafür auf den platonischen Gorgias. Das Gleiche spiegelt sich etwa in der berühmten Antwort, die Anaxagoras auf die Frage nach dem Glück gibt: es bestehe nämlich darin, den Sternenhimmel beobachten zu können. Das ist fiir den Frager gewiß eine Provokation gewesen. Ebenso wird die zitierte Redensart von Kant bewußt zurückgewiesen und die Vernunft verteidigt. Aber ist das bei Kant nicht letztlich auf den Freiheitsbegriff und damit auf Freiheit gegründet? Fragen vv-lr uns, wieweit man in unserer Gegenwart von Freiheit wirklich reden darf, wenn man verstanden werden wilL Das ist die beunruhigende Frage, die in unserer so übermäßig geregelten Welt das Lebensgefiihl der heutigenjugend zu beengen scheint. Die Selbständigkeit einer offenen und vieles verheißenden Zukunft steht der Jugend nicht mehr so vor Augen, wie das eigentlich das Anrecht junger Jahre, angesichts der gebotenen Möglichkeiten freier Betätigung sein sollte. Wie sieht es heute mit der Geltung von Theorie aus und wie mit einer Praxis, in der man sich selbst nicht recht zu Haus fiihlt? Versuchen wir über die Begriffe nachzudenken. Ich bin ein Stück Philologe und halte viel davon, daß die Sprache, alle Sprachen, je mehr Sprachen desto besser, eine Art von Grundriß anbieten, in dem die Bewältigung des Lebens entworfen ist. So ist auch in unserer Muttersprache, wie in den Sprachen anderer Kulturen, eine Weltorientierung vorgezeichnet, sie gibt immer die Möglichkeit, daran anzuknüpfen. So müssen wir im Augenblick zum Griechischen zurückkehren. Es tut mir leid, daß es wieder das Griechische sein wird, das immer mehr aus unserem Bildungshorizont verschwindet. Aber es ist nun einmal so, daß wir in unserem Europa keine philosophische Sprache mehr besitzen, die nicht ein durch ein Latein zugedecktes Griechisch ist. Eine durch das Lateinische und durch die lateinischen Fortbildungen entwickelte Begriffiichkeit, das ist das, das wir für wissenschaftlich halten. So fragen wir uns also, ob wir an den Anfängen der griechischen Kultur einen Gebrauch von Begriffen finden, den wir in seiner handgreiflichen Evidenz und in ihrer fortgeltenden Bedeutung sofort einsehen. Fangen wir mit dem Wort >Theorie< an. Vielleicht hört man heraus, wie darin theastai und thea, also >Anblicken< und >Im-Anblick-Verweilen< gemeint ist. Was ist das besondere daran? Im Lateinischen sagen wir dafür >Kontemplation<. Das hat auch sein Gutes, wenn man spürt, wie da an den Tempel gedacht ist und wie im Grunde die ganze Bewegtheit der Teilnahme an einem religiösen Kultvorgang anklingt. Das mag zwar für uns in der heutigen Praxis
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Hermeneutik als Philosophie
des Lebens mehr und mehr an den Rand getreten sein, aber es gibt noch immer die Nähe zu Kult und Besinnlichkeit, die in dem Vollzug der Riten oder beim Beschauen kirchlicher Räume und von Werken bildender Kunst mit\virkt. Was uns hier aber vor allem beschäftigt, ist das theoretische Lebensideal, das als solches erst von der klassischen Philosophie durch Plato und Aristoteles entwickelt worden ist und die ganze Folgezeit mehr oder minder beherrscht. Was ist das Geheimnis solcher Theoria? Wir müssen uns des Abstandes bewußt werden, mit dem wir heute solche Worte gebrauchen. Da sagen ·wir >das ist doch bloße Theorie<, oder \Vir sagen von einem großen Physiker, er habe diese oder jene Theorie als erster entv.-ickelt. In solchem Wortgebrauch sind das bestenfalls ganz und gar im Raume der Wissenschaft gebrauchte Ausdrükke ftir die Stadien auf dem Forschungswege, an dem die ganze Welt arbeitet. Da kann es einen Gegensatz zwischen Theorie und Praxis gar nicht geben. Die Theorie formuliert ja nur das Ergebnis des Experimentes, darin ist Pra..x.is und Theorie zugleich. Das hat nichts mit dem zu tun, was in der Redensart anklingt, daß man mit der Theorie den unbequemen Forderungen des Tages ausweiche. In der theoretischen Arbeit liegt in Wahrheit eine eigene Anziehungskraft. Da geht es um Schauen, Anschauen, Hinschauen. Welche Ge\valt und Kraft liegt in solcher Erfahrung? Wahrlich mehr als bloße Beschaulichkeit. Man ist von einem neuen Experiment und von einer neuen Einsicht, die in dem Meßergebnis liegt, wie gebannt. Da gibt es gar kein Ausweichen oder etwas hinter sich lassen: Schauen heißt hier, in der Sache aufgehen. In allem Aufgehen vergißt man sogar die Zeit. Gut, das ist klar, das eben ist Verweilen bei etwas und gewiß ist die Zeitlichkeit des Schauens, ein solches Verweilen, ein höchst denkwürdiger Vorgang. Das hat nichts mit peinlichen Verspätungen zu tun, auf denen man sich etwa unterwegs venveilt hatte. Vielmehr sind wir ganz in Anspruch genommen und erftillt, weil plötzlich alles so einfach scheint. Das ist die besondere Auszeichnung des Wissens, auf die wir mit gewissem Stolz blicken. Solches Schauen und >bei der Sache sein<, bedeutet uns so viel, daß wir uns selber dabei vergessen. Wir gehen darin auf. Davon haben die Griechen, wie das Wort es schon sagt, als von einer höchsten Möglichkeit des bewußten Daseins gesprochen. Wir mögen dabei Zweifel haben, wenn Pra.x.is und Politik so zurückstehen sollen. Aber vielleicht sind wir in der Lage, mit solcher Beschreibung und Einschätzung mitzugehen, \venn es sich um das Göttliche handelt, dessen eigener großer Lebensatem nichts anderes den Göttern bietet als den Anblick dessen, was ist. Wir selber sind Menschenwesen und v.-ie alles Lebendige sind auch \vi.r vom Drang durchströmt, daß Erfahrungen, die wir machen, und Einsichten, die uns überkommen sind, auch ftir uns Höhepunkte werden können, in denen \Vir aufgehen, die uns beleben, bewegen und mit einem Geftihl von Beseligung erftillen. Das sind aber für uns Menschen seltene Augenblicke und nicht ein Leben in solcher Fülle. Wir sind beständig ein-
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geschränkt, zwischen Tag und Nacht, zwischen Wachsein und Versunkenheit im Schlaf. Und noch mehr schränkt uns ein. Wir wissen alle, wieviel es uns kostet, die unser Wachsein überkommenden Neigungen, Verführungen, Zerstreuungen zu beherrschen. All das hindert uns an dem Verweilen und Aufgehen in diesem höchsten Wachsein, was Theorie in Wahrheit ist. Gewiß sind wir von der modernen Welt und unserer Art zu reden weit entfernt, wenn wir derart die sprachlichen Urbildungen der Griechen ins Bewußtsein heben. Gleichwohl sind wir vielleicht nicht ganz so weit, daß wir uns nicht immer noch \\--iedererkennen. Wir kennen nicht nur den mühsamen Alltag der Arbeit, sondern auch die Freude des Gelingens, und vor allem die erleuchteten Augenblicke, die uns die geistige Arbeit bescheren kann. So ist vor allem die Erfahrung der Kunst aufs engste mit dem freien Blick der Theorie verwandt. Aristoteles hat das sehr wohl gewußt, wenn er im Unterschiede zu dem geschichtlichen Erzählen, der Historie, von der Poesie gesagt hat, daß sie nicht die Sachen wie sie gewesen sind beschreibt, sondern wie sie in ihrem Wesen immer sind. Wir kennen ja auch alle die hohen Formen des Verweilens, nicht nur den Leser, sondern auch den Zuschauer im Theater, den Besucher einer Gemäldesammlung, das vertiefte Anschauen eines Kunstwerkes oder das Hören von Musik. Da bleibt man wie verzaubert stehen und vergißt alles. Ich erinnere mich an Leipzig, das um uns herum in Trümmern lag, und als die russische Besatzung auf den Straßen in den Lautsprechern plötzlich klassische Musik senden ließ, da blieb ich mitten auf der Straße einfach stehen. Eine gefahrliehe Bannkraft der Kunst konnte man daran erkennen. So kann man immer noch verstehen, was in einem fernen Idealbild ftir die Griechen Theoria war: das gebannte Zuschauen im Theater und alle die anderen Formen des Verweilens, von denen ich sprach. Da fragt man sich doch eher umgekehrt, was eigentlich geschehen ist, wenn Theorien zu einem bloßen Werkzeug der Wissenschaft wurden. Gewiß tun wir auch der Wissenschaft unrecht, wenn wir nicht würdigen, \vie fur den Forscher der Gewinn neuer Erkenntnisse und die Findung einer Theorie, die sie genau ausspricht, etwas Begeisterndes hat. [mmerhin macht der Sprachgebrauch es doch bewußt, was sich geändert hat, wenn wir von einem Plural von Theorien reden. Das findet sich bei Aristoteles nur selten, und zwar nur im Text der Politik, die eben von der Praxis aus denkt, und findet sich nicht etwa im Zusammenhang der Ethik. Dort begegnet vielmehr der Ausdruck »Theoria< als Ausdruck höchsten eigenen Daseinsgeftihls. So ist Theorie die Lebensform der göttlichen Wesen, ftir die die ganze Welt niemals etwas Äußeres ist, sondern ihr eigener Bereich. Was man ehedem als die göttliche Ordnung der Welt verehrte und Kosmos nannte, wird dagegen im Zeitalter der Moderne meist wie eine einzige große Weltfabrik gesehen, die sich beständig modernisiert. Oder gibt es das nicht doch noch immer, daß wir in gewissen Augenblicken sagen möchten ~verweile doch, du bist so schön~ (Goethe)?
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Henneneutik als Philosophie
Halten wir einen Augenblick inne und sehen uns nun das andere Wort an: >Praxis<. Wir versuchen das Wort an seinen Ursprung, in seine heimatliche Welt, zurückzufiihren, um von da aus vielleicht Denkhilfen zu gewinnen. Praxis ist schon bei Homer ein vielgebrauchtes Wort. Seine begriffliche Aussagekraftgewinnt es freilich erst in der Abgrenzung von dem weithin klingenden Begriff der Poiesis, des Machens, und von dem Wissen, das diesem Können des Handwerkers zugehört. Aristoteles bezeichnet es als Techne. Auch hier ist es nicht leicht, die Bedeutungskraft des griechischen Wortes richtig zu verstehen. Es ist ein Ausdruck fiir ein Wissen, das zum Können gehört. Dagegen bezeichnet Aristoteles das Wissen, das zu Praxis gehört, als Phronesis. Wenn man für Praxis •Handlung< sagt und fiir Phronesis •Klugheit<, dann trifft man jeweils nur engere Teilbereiche für die griechischen Bedeutungen. Das ist ja gerade der Grund, warum wir zu den griechischen Worten zurückkehren, weil diese uns ein Ganzes über ihren Sitz im Leben sagen können. Bei Praxis und Prattein fällt sofort auf, daß Handlung und das Wissen, das jeder Handlung zugrundeliegt, mit der Anwendung des theoretischen Wissens gar nichts zu tun hat. Erst Aristoteles hat überhaupt den praktischen Sinn von Wissen, die Phronesis, als erster zu begrifflicher Klarheit erhoben. Hier handelt es sich nicht einfach um Handlungen, sondern um die gesamte Führung des Menschens zu einem glücklichen und geglückten Leben, das die Griechen Eudämonie nannten. Hier geht es also um das ganze Verhalten der Lebensfuhrung, wie man im Deutschen sagen würde, ohne daß damit bestimmte Grenzen bestinunt wären, in denen das Verhalten besteht. Nun ist es doch wohl deutlich und sollte beachtet werden: 'Verhalten ist immer ein SichVerhalten<. Darin liegt ein reflexives Moment, sofern man weiß, was man tut. Das scheint nun auch fur das griechische Wort Praxis zu gelten. Wir können fur Praxis nicht Handlung sagen, sondern am ehesten >Tätigkeit<. Das läßt ja ganz offen und unbestimmt, worin die Tätigkeit jeweils besteht, z. B. auch in bloßen Worten. Immer aber ist es ein >Dabeisein< bei dem, was manjeweils tut oder macht. Mit diesem Dabeisein ist überhaupt nicht Machen gemeint, aber auch nur von Ferne ein •Handeln<. Eher möchte man schon von einem mit etwas Fertigwerden sprechen, ·etwa wenn man danach gefragt wird, ob es einem •gut geht<. Das war die bekannte Schlußformel aller griechischen Briefe: >Laß es Dir gut gehen< oder wie man im hessischen Marburg sagt: •Mach's gut<. Da ist auch nichts Bestimmtes gemeint, das da etwa gemacht werden sollte. Theorie und Praxis stehen also gewiß in einem gewissen Gegensatz. Aber im griechischen Sprachgefuhl, das die Sachlage fuhlen läßt, sind sie einander doch recht nahe. Aristoteles kann sogar die Theoria, dieses Aufgehen im Angeschauten, als eine Art höchste Gegenwärtigkeit und damit als eine höchste Steigerung von Praxis auszeichnen. Gewiß, es ist ein Wissen, wenn man sich verhält, und ebenso zeigt sich, wie man ist, wenn man sich so oder so verhält.
Hermeneutik - Theorie und Praxis
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Es ist fast mehr das, was man >ansieh hat<, weil man so ist. Das griechische Wort Hexis sagt das wördich: >was man ansich hat<, eine Geste oder wie wir auch sagen: eine Gewohnheit, was einem so richtig ähnlich sieht. So stehen hier Wissen und sein Vollzug im Ganzen des Sich-Verhaltens einander nahe. Ob es sich um Theorie oder um Praxis handeln mag, in beidem ist das, was dabei ruhrend ist, Nous. Offenbar hat Aristoteles dieses praktische Wissendsein als das, was dem ganzen Leben die Führung gibt, als Phronesis begriffiich ausgezeichnet. Das ist kein Wissen, das nur im Befolgen von Regeln besteht und deren Befolgung wie eine Gewohnheit >anerzogen< ist. Vielmehr ist der Erwachsene einer, der solcher >Erziehung< bereits entwachsen ist und nun im konkreten Verhalten weiterhin sich so zu verhalten sucht, wie es ihm das Richtige scheint. Man geht mit sich zu Rate, wenn man in eine schwierige Lage kommt. Man vertraut sich anderen an und läßt sich beraten, und so findet sich schließlich im Ganzen die eigene Lebensfiihrung, von Erfahrung und Wissen bestimmt, auf freie Entscheidung gegründet. Das kommt eigens zum Ausdruck, wenn etwa der Arzt seinen weißen Kittel anzieht. Gewiß hört er damit nicht auf, die ganze Ernte seines Wissens, seiner Studien und seiner Erfahrungen, einzubringen. Es ist gewiß auch Anwendung von Wissenschaft, was der Arzt in seiner Praxis unternimmt, und doch soßte es nicht nur Regelbefolgung oder Routine sein. Er darf gewiß nicht so blindlings Regeln befolgen, wie etwa Verkehrsregeln mehr oder minder befo)gt werden müssen. Vielmehr kommt es hier auf sein eigenes Urteil an, das immer den jeweiligen Menschen mit in Betracht zieht und alles, was noch mitspricht. Deshalb reden wir nicht nur von der ärztlichen Wissenschaft, sondern von der ärztlichen Kunst. Das schließt ein, daß es sich nicht um bloße Regelbefolgung und auch nicht um Wissen allein handelt, sondern um etwas, das nicht einfach geregelt werden kann und einfach durch Wissenschaft beherrschbar ist. In der ärztlichen Kunst setzt der Arzt fiir den Patienten das Ganze ein, das er geworden ist und ist.
2. Wissenschaft und Philosophie (1977)
Daß das, was wir Philosophie nennen, nicht in demselben Sinne Wissenschaft ist wie die sogenannten positiven Wissenschaften, liegt auf der Hand. Ein Positives, Gegebenes, das von ilu erforscht würde und das neben den gegebenen Forschunsbereichen anderer Wissenschaften seinen Platz hätte, das ist ganz gewiß nicht der Fall der Philosophie. Sie hat es mit dem Ganzen zu tun. Dies Ganze ist aber nicht nur, wie jedes Ganze, das Ganze aller seiner Teile. Es ist als das Ganze eine alle endlichen Erkenntnismöglichkeiten übersteigende Idee, mithin nichts, was wir auf wissenschafdiche Weise erkennen könnten. Und doch behält es einen guten Sinn, von der Wissenschaftlichkeit der Philosophie zu reden. Mit Philosophie meint man ja vielfach so subjektive und private Dinge wie die eigene Weltanschauung, die sich über alle Ansprüche auf Wissenschaftlichkeit erhaben dünkt. Demgegenüber kann Philosophie mit gutem Rechte wissenschaftlich heißen. Denn trotz allem Unterschied von den positiven Wissenschaften wahrt sie dennoch eine verbindliche Nähe zu ihnen, die sie von dem Bereich der aufsubjektive Evidenzengegründeten Weltanschauung scheidet. Das ist nicht nur von ihrer Herkunft her so. Dort sind auf untrennbare Weise Philosophie und Wissenschaft eines - und beides ist eine Schöpfung der Griechen. Mit dem umfassenden Titel Philosophie wurde bei den Griechen alles theoretische Wissen bezeichnet. Freilich, von der Philosophie Ostasiens oder Indiens reden wir inzwischen auch mit dem griechischen Worte, aber wir beziehen damit solche Gedankengestalten in Wahrheit auf unsere abendländische philosophische und wissenschaftliche Tradition, konstruieren auch wohl aus ganz andersartigem Material, wie etwa Christian Wolff, wenn er die sapientia sitzica als >praktische Philosophie< auffaßte. Philosophie heißt in unserem Sprachgebrauch aber auch all das, was hier >das Philosophische in den Wissenschaften• genannt \Verden kann, d. h. die Dimension der Grundbegriffe, die das jeweilige Gegenstandsfeld einer Wissenschaft bestimmen, wie etwa anorganische Natur, organische Natur, Pflanzenwelt, Tierwelt, Menschenwelt usw., und solche Philosophie will erst recht nicht ihrem eigenen Denk- und Wissensstil nach hinter der Verbindlichkeit der Wissenschaften zurückstehen. Sie nennt sich heute gern >Wissenschaftstheorie<, stellt sich aber unter den Anspruch der Philosophie, Rechenschafts-
Wissenschaft und Philosophie
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gabe :zu sein. So stellt sich die Frage, wie sie das vermag, olme Wissenschaft zu sein, die Verbindlichkeit der Wissenschaft zu besitzen, und insbesondere, wie sie das heute vermag, der philosophischen Forderung der Rechenschaftsgabe zu genügen, wo die Logik der Forschung ihrer selbst bewußt genug geworden ist, sich alle phantasievollen Spekulationen über das Ganze :zu verbitten, die ihrem Gesetz nicht unterworfen sind. Nun sagt man zwar, daß das bloße Ausgreifen der Wissenschaften nach allen Seiten, das ihrem Methodengedanken Ausfiihrung gibt, ein letztes Bedürfnis der Vernunft unbefriedigt lasse, nämlich, im Ganzen des Seienden Einheit :zu gewahren. Das Verlangen nach systematischer Zusammenfassung unseres Wissens bleibe daher der legitime Bereich der Philosophie. Aber gerade dieses Zutrauen zur Philosophie, systematische Ordnungsarbeit zu vollbringen, begegnet immer größerem Mißtrauen. Die Menschheit scheint heute auf eine neue Weise bereit, gleichsam die eigene Begrenztheit anzunehmen und trotz der unüberwindbaren Partikularität des Wissens, das die Wissenschaft weiß, in deren Fortschritt und der ihr verdankten steigenden Naturbeherrschung Genüge zu finden. Sie nimmt dabei sogar mit in Kauf, daß mit der steigenden Naturbeherrschung auch die Herrschaft von Menschen über Menschen nicht abnimmt, sondern gegen alle Erwartung immer größer wird und die Freiheit von innen bedroht. Es ist ja eine Folge der Technik, daß diese zu einer solchen Manipulation der menschlichen Gesellschaft, der öffentlichen Meinungsbildung, der Lebensftihrung aller, der Zeiteinteilung jedes einzelnen zwischen Beruf und Familie fuhrt, daß es uns den Atem beklemmt. Metaphysik und Religion scheinen den Ordnungsaufgaben der menschlichen Gesellschaft besseren Anhalt geboten zu haben als die in der modernen Wissenschaft geballte Macht. Aber die Antworten, die sie zu geben behaupteten, sind der heutigen Menschheit Antworten auf Fragen, die man nicht wirklich fragen kann und die, wie sie meint, man auch nicht zu fragen braucht. So scheint heute wahr geworden, was noch Hegel aus seinem vollen Engagement in der Sache der Philosophie heraus als einen in sich unmöglichen Widerspruch empfand, wenn er sagte, ein Volk ohne Metaphysik sei wie ein Tempel ohne Allerheiligstes, ein leerer Tempel, ein Tempel, in dem nichts mehr wohnt und der deshalb selber nichts mehr ist. Indes, •>ein Volk ohne Metaphysik<•! Man kann schwerlich überhören, daß in dieser Wendung Hegels das Wort >Volke nicht auf eine politische Einheit, sondern auf eine Sprachgemeinschaft geht. Damit aber schiebt sich Hegels Satz, der Rührung und Heimweh erregen möchte oder auch den Spott der radikalen Aufklärer herausfordert, plötzlich wieder in unsere eigene Zeit- und Weltsituation hinein und läßt uns im Ernste fragen: Liegt in der Solidarität, die alle Sprecher einer Sprache eint, am Ende doch noch immer etwas, nach dessen Inhalt und Struktur sich fragen läßt und wonach keine Wissenschaft auch nur zu fragen vermag? Ist es am Ende bedeutsam, daß die Wissenschaft nicht nur nicht >denktc-
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im emphatischen Sinne des Wortes, den Heidegger in seinem viel mißverstandenen Satze meint -, sondern auch nicht wirklich eine eigene Sprache spricht? Kein Zweifel, das Problem der Sprache hat innerhalb der Philosophie unseres Jahrhunderts eine zentrale Stellung errungen, die sich weder mit der älteren Tradition Humboldtscher Sprachphilosophie noch mit den umfassenden Ansprüchen der allgemeinen Sprachwissenschaft oder Linguistik deckt. Wir verdanken das in gewissem Umfang der Wiederbeachtung der praktischen Lebenswelt, die einerseits durch die phänomenologische Forschung, andererseits innerhalb der angelsächsischen pragmatischen Denktradition erfolgt ist. Mit der Thematisierung der Sprache, die unlösbar zur menschlichen Lebenswelt gehört, scheint sich eine neue Grundlage ftir die alte Frage der Metaphysik nach dem Ganzen zu bieten. Sprache ist in diesem Zusammenhang nicht ein bloßes Instrument oder eine ausgezeichnete Ausstattung, die dem Menschen zukommt, sondern das Medium, in dem wir als gesellschaftliche Wesen von Anbeginn leben und das das Ganze offenhält, in das wir hineinleben. Orientierung auf das Ganze - so etwas liegt in Sprache freilich nicht, solange es sich um die monologischen Sprechweisen wissenschaftlicher Bezeichnungssysteme handelt, die sich ganz und gar von demjeweils zu bezeichnenden Forschungsbereich her bestimmen. Überall dort aber kommt Sprache als Orientierung auf das Ganze hin ins Spiel, wo wirklich gesprochen wird, das heißt, wo das Zueinanderzweier Sprecher, die ins Gespräch geraten, die •Sache• umkreist. Denn überall, wo Kommunikation geschieht, wird nicht nur Sprache gebraucht, sondern bildet sich Sprache. Daher kann sich Philosophie von der Sprache fUhren lassen, wenn sie ihrem Hinausfragen über alle wissenschaftlich objektivierbaren Gegenstandsbereiche nach dem >Ganzen< Führung geben will - und sie hat es inuner schon getan, von den hinruhrenden Reden des Sokrates an und jener •dialektischen< Orientierung an den lOgoi, an denen Plato und Aristoteles in gleicher Weise fiir ihre gedankliche Analyse gleichsam Maß nehmen. Es ist jene berühmte zweitbeste Fahrt, zu der Sokrates im Platonischen >Phaidon< aufbricht, nachdem ihn die unmittelbare Erforschung der Dinge, wie die Wissenschaft seiner Zeit sie ihm angeboten hatte, in völlige Orientierungslosigkeit versetzt hatte. Es ist die Wendung zur Idee, in der sich Philosophie als das Gespräch der Seele mit sich selbst, das heißt als Denken, in unendlicher Selbstverständigung vollzieht. Noch die Sprache der Hegeischen Dialektik, die die erstarrte Sprache der Begriffe in Satz und Gegensatz, Spruch und Widerspruch aufzuheben und über sich hinauszuheben strebt, denkt Sprache weiter und kehrt selber in Sprache ein, sofern sie es ist, in der sich der Begriff zum Begriff bringt. Die Grundlage, auf der sich dergestalt in Griechenland Philosophie erhob, war zwar die Unbändigkeit des Wissenwollens, aber doch nicht das, was wir Wissenschaft nennen. Wenn der erste Name fiir die Metaphysik >erste Wis-
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(prima philosophia) lautete, so besaß solches Wissen von Gott, Welt und Mensch, die den Inhalt der traditionellen Metaphysik ausmachten, nicht nur auf unbestrittene Weise einen absoluten Vorrang gegenüber allem anderen Wissen, das in den mathematischen Wissenschaften, der Zahlenlehre, Trigonometrie und Musik (Astronomie) seine vorbildliche Darstellung hatte. Was wir Wissenschaft nennen dagegen, wäre zu einem größeren Teile bei dem griechischen Gebrauch des Wortes philosophia überhaupt nicht in den Blick getreten. Der Ausdruck Erfahrungswissenschaften klänge frir das Ohr des Griechen wie ein hölzernes Eisen. Man nannte das Historie, Kunde. Was dem uns gewohnten Begriff von Wissenschaft entspricht, hätten sie am ehesten als das Wissen verstanden, auf Grund dessen ein Herstellen möglich wird: sie nannten es poietiki. episdme oder techne. Das Standardbeispiel dafiir und zugleich die fuhrende Spielart solcher techne war die Medizin, die auch wir nicht so sehr Wissenschaft nennen als Heilkunst, wenn wir ihre menschheitliche Aufgaben ehren wollen. Das Thema, das uns heute abend beschäftigt, umfaßt daher auf seine Weise das Ganze des abendländischen Geschichtsganges, den Anfang mit Wissenschaft und die heutige kritische Situation, in der sich eine aufder Grundlage der Wissenschaft zu einem einzigen technischen Riesenbetrieb umgearbeitete Welt befindet. Ja, unsere Frage reicht damit zugleich über unsere aus unserer eigenen Geschichte gegenwärtige Welt hinaus, indem sie es als eine Herausforderung an unser Denken anzunehmen beginnt, daß es auch Weisheits-und Wissenstraditionen anderer Kulturkreise gibt, die sich nicht in der Sprache der Wissenschaft undaufder Basis der Wissenschaft formulieren. So wird es methodisch geboten sein, das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft in seiner vollen Weite zum Thema zu machen, das heißt ebensosehr von seinen griechischen Anfängen aus wie auf seine späten Folgen hin, die in der Neuzeit zutage treten. Denn Neuzeit definiert sich - gegenüber all den umstrittenen Herleitungen und Datierungen- eindeutig dadurch, daß ein neuer Begriffvon Wissenschaft und Methode aufkommt, der zuerst von Galilei in einem Teilgebiet verwirklicht und zuerst von Descartes philosophisch begründet worden ist. Seit damals, also seit dem 17. Jahrhundert, findet sich das, was wir heute Philosophie nennen, in einer veränderten Lage. Sie ist der Legitimation gegenüber den Wissenschaften bedürftig geworden, wie es das vordem niemals gab, und sie hat sich zwei Jahrhunderte lang, bis zu Hegels undSchellings Tode, in solcher Selbstverteidigung gegenüber den Wissenschaften selber aufgebaut. Die Systembauten der letzten zwei Jahrhunderte sind eine dichte Folge solcher Anstrengung, das Erbe der Metaphysik mit dem Geist der modernen Wissenschaft zu versöhnen. Danach, mit dem Eintritt in das positive Zeitalter, wie man es seit Comte nennt, war es mit der Wissenschaftlichkeit der Philosophie ein nur noch akademischer Ernst, mit dem man sich aus den Stürmen der einander bekämpfenden Weltanschauungen aufs feste Land zu retten suchte und dabei in den Sumpf des Histo-
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rismus geriet oder an den Untiefen der Erkenntnistheorie strandete bzw. im Binnensee der Logik hin und hertreibt. So liegt ein erster Zugang zur Verhältnisbestimmung von Philosophie und Wissenschaft im Rückgang auf die Zeit, in der es mit der Wissenschaftlichkeit der Philosophie noch voller Ernst war, und das war zuletzt die Zeit Hegels und Schellings. In der Wiederbesinnung auf die Einheit alles unseres Wissens wollten vor nun anderthalb Jahrhunderten Hegels und Schellings systematische Entwürfe >die Wissenschaft< neu rechtfertigen und umgekehrt den Idealismus auf die Wissenschaft begründen, Schelling durch seinen physikalischen Beweis für den Idealismus, Hegel durch die Zusammenbindung der Philosophie der Natur und der Philosophie des Geistes zur Einheit der Realphilosophie gegenüber der Idealphilosophie der Logik. Nicht, als ob es darum gehen könnte, den Versuch einer spekulativen Physik zu erneuern, der im 19. Jahrhundert geradezu als Alibi gegenüber der Philosophie gebraucht und mißbraucht wurde. Zwar bleibt das Bedürfuis der Vernunft nach Einheit und Einheit des Wissens bis heute lebendig, aber es weiß sich von nun an im Konflikt mit dem Selbstbewußtsein der Wissenschaft. Je ehrlicher und strenger diese sich versteht, desto mißtrauischer ist sie gegen alle solche Einheitsversprechungen und Endgültigkeitsansprüche geworden. Einsehen, warum der Versuch einer spekulativen Physik und einer Einordnung der Wissenschaften in das von der Philosophie gelehrte System der Wissenschaft gescheitert ist, heißt daher zugleich, Rang und Grenze der Wissenschaft schärfer erkennen. Nun waren Hegel und Schelling selber nicht blind gegen den legitimen Autonomieanspruch der Erfahrungswissenschaften, die ihren eigenen methodischen Gang gehen und die eben durch dies ihr eigenes Schrittgesetz der Philosophie der Neuzeit ihre neue Aufgabe gestellt haben. Auf dem Höhepunkte seines Berliner Wirkens hat Hegel in der Vorrede zur zweiten Auflage seiner >Enzyklopädie< einiges darüber gesagt, wie er sich das Verhältnis von Philosophie und Erfahrungswissenschaften vorstellt und welche philosophischen Probleme darin stecken. Es ist ja einfach genug einzusehen, daß die Zufalligkeit des hier und jetzt Begegnenden nicht vollständig aus der Notwendigkeit des Begriffs abgeleitet werden kann. Selbst der Extremfall sicherer Voraussage, wie ihn die großräumigen Verhältnisse unseres Sonnensystems fiir die Berechnung der Länge von Tag und Nacht, der Dauer von Verlinsterungen usw. gestatten, enthält nicht nur inuner noch einen Spielraum von Abweichungen (der freilich alle kunstlose Beobachtungsmöglichkeit um Dezimalen unterschreitet). Wesendieher ist, daß das Erscheinen der vorausgesagten Himmelsereignisse am Himmel als solches nicht selbst voraussagbar ist. Denn fur die natürliche Beobachtung hängt es in jedem Falle von den Wetterbedingungen ab - und wer wollte seine Zuversicht auf Wetterprognosen gründen?
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Nun handelt es sich bei einem solchen drastischen Beispiel gewiß nicht um das universelle Verhältnis zwischen Zufall und Notwendigkeit, sondern um eine innerwissenschaftliche Problematik. Hegel hat gezeigt, daß zwischen der Notwendigkeit des allgemeinen Gesetzes und der Zufälligkeit des einzelnen Falles eine deskriptive Identität besteht. Die Notwendigkeit der Naturgesetze ist, gemessen an der Notwendigkeit des Begriffs, selbst als eine zufillige anzusehen. Es ist keine einsehbare Notwendigkeit- wie man es etwa eine einsehbare Notwendigkeit nennen kann, daß ein lebendiger Organismus im Prozeß des StoffWechsels seinen Bestand erhalten muß. Im Bereich der Naturforschung ist die Formulierung mathematisch genauer Gesetzmäßigkeiten ein approximatives IdeaL Es ist eine sehr vage Normvorstellung von Einheit, Einfachheit, Rationalität, ja von Eleganz, der solche Gesetzesaussagen folgen. Ihr wahrer Maßstab sind allein die Daten der Erfahrung selbst. Erst recht scheint der Bereich der menschlichen Dinge in das Reich des Zufalls zu fallen. Der geschichtliche Skeptizismus wird von der Erfahrung weit besser gestützt als der Glaube an geschichtliche Notwendigkeiten und an die Vernunft in der Geschichte. Hier bliebe das Bedürfuis der Vernunft vollends unbefriedigt, wenn man sich bloß auf Regelhaftigkeiten im Laufe der Geschichte berufen würde, die wie die Naturgesetze ihrem eigenen Seinssinne nach nur das ausformulieren, was wirklich geschieht. - Das Bedürfnis der Vernunft meint etwas anderes, und Hegels Philosophie der Weltgeschichte ist eine gute Illustration dafur. Der apriorische Gedanke, der im Wesen des Menschen liegt und den er in der Geschichte erkennt, ist der Gedanke der Freiheit. Hegels berühmtes Schema von Orient, Antike und christlicher Welt lautete: Im Orient ist nur einer frei, in der Antike sind es einige, in der christlichen Welt sind alle Menschen frei. Das ist die Vernunftansicht der Weltgeschichte. Das will nicht sagen, daß damit die Weltgeschichte in allen Tatsächlichkeiten ihres Geschiebesganges konstruierbar wird. Der Spielraum der Erscheinungen, die man zufällig nennen darf, bleibt unendlich. Aber der Zufall ist keine Gegeninstanz, sondern geradezu eine Bestätigung des Sinnes von Notv.·endigkeit, der dem Begriffzukommt. Es ist keine Einrede gegen die Vernunftansicht der Weltgeschichte, daß es die Freiheit aller, die Hegel als das Prinzip der christlichen Welt dargestellt hat, in der Wirklichkeit gar nicht gibt und daß Zeiten der Unfreiheit irnn1er wieder auftreten, ja daß sich Systeme gesellschaftlicher Unfreiheit vielleicht, wie in unserer zugespitzten Weltsituation, auf eine unausweichliche Weise endgültig etablieren könnten. Das fällt in das Reich der Zufälligkeit der menschlichen Dinge, das dennoch gegen das Prinzip keinen Bestand behält. Denn es gibt kein höheres Prinzip der Vernunft als das der Freiheit. So meinte Hegel und so meinen wir. Es ist kein höheres Prinzip denkbar, als das der Freiheit aller, und wir verstehen die wirkliche Geschichte von diesem Prinzip aus: als den sich immer wieder erneuernden und nie endenden Kampf um diese Freiheit.
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Es wäre ein Mißverständnis, das freilich oft genug begangen wird, als könnte dieser Vernunftaspekt des Begriffi von den Tatsachen widerlegt werden. Das berüchtigte »Um so schlinuner für die Tatsachen'' behält eine tiefe Wahrheit. Der Satz ist nicht gegen die Erfahrungswissenschaften gerichtet, sondern im Gegenteil gegen das, was Hege) in der >Berliner Vorrede< die Übertünchung der Widersprüche nennt, die zwischen der Philosophie und den Wissenschaften klaffen. Er will von einer solchen »mäßigen Aufklärung" nichts wissen, in der sich die Forderung der Wissenschaft und die Argumentation aus Vernunftbegriffen wie in einer Art Kamprarniß zusammenfinden. Das war ein »nur dem Anschein nach glücklicher Zustand<'. Der Friede war »oberflächlich genug<•. »Aber in der Philosophie hat der Geist die Versöhnung seiner mit sich selbst gefeiert.« Hege) will offenbar sagen, daß das Vernunftbedürfuis nach Einheit unter allen Bedingungen legitim ist und daß es allein von der Philosophie befriedigt werden kann, während die Wissenschaft, wenn sie sich anmaßt, sich selbst absolut zu setzen, aber nur dann, mit der Philosophie in einen unauflösbaren Widerspruch tritt. Genau das ist der Fall in unserem Beispiel von der Freiheit aller. Wer nicht sieht, daß das gerade Geschichte ist, daß die Freiheit aller ein unabdingbares Prinzip geworden ist und doch immer erneut der Anstrengung ihrer Verwirklichung bedarf, hat das dialektische Verhältnis von Notwendigkeit und Zufall und damit den Anspruch der Philosophie, konkrete Vernünftigkeit zu erkennen, nicht verstanden. Nun sehen wir Hegel nicht nur im Bereiche der Geschichtswissenschaft, wo seine produktiven Beiträge beträchtlich sind, sondern auch im Bereich der Naturerkenntnis heute mit irruner gerechterem Auge. Er stand auf der Höhe der Wissenschaft seiner Zeit. Was seine und Schellings Naturphilosophie der Lächerlichkeit preisgegeben hat, war nicht ihr Informationsstand, sondern die Verkennung der wesenhaften Andersartigkeit der Vernunftansicht der Dinge gegenüber der Erfahrungserkenntnis. Sie lag gewiß auch auf der Seite Schellings und Hegels, weit mehr aber auf der Seite der Erfahrungswissenschaften, die sich gegen ihre eigenen Voraussetzungen blind machten. Eine sich in ihrer Bedingtheit wissende Erfahrungserkenntnis muß in Wahrheit darauf bestehen, daß sie in ihrem eigenen Forschungsgange auf sich selbst steht und sich allem dogmatischem Gebrauche entzieht. Es ist eine bis heute nie genug zu beherzigende Lehre geblieben, daß das Philosophische nicht aus der Arbeit der wissenschaftlichen Forschung gleichsam herausgelesen werden kann, sondern weit eher darin zutage korrunt, daß sich die Wissenschaften selber von allen philosophischen Ergänzungen und spekulativen Dogmatisierungen fernhalten und damit die Philosophie vor kurzschlüssigen Interventionen bewahren. Hegel und Schelling sind weit mehr das Opfer des Dogmatismus in den Wissenschaften als das ihres eigenen dogmatischen Vollendungswahns. Wenn später der Neukantianismus so gut wie die Phänomenologie erneut für sich in Anspruch nahmen, die Grundbegriffe der jeweiligen Forschungs-
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regionen in ihrer apriorischen Gegebenheit zum Gegenstand zu machen, so hat zwar die Forschung den dogmatischen Anspruch, der damit verbunden ist, in Wahrheit desavouiert. Die Chemie ist in die Physik, die Biologie ist in die Chemie aufgegangen und die ganze Klassifikation von Pflanzenwelt und Tierwelt ist dem Interesse an den Übergängen und der Kontinuität dieser Übergänge gewichen. Die Logik vollends ist mehr und mehr von der modernen Mathematik unter ihre Fittiche genommen worden. Mein eigener Lehrer Natorp hat noch versucht, die Dreidimensionalität des Raumes apriorischbegritllich zu beweisen, so wie Hegel die Siebenzahl der Planeten. Das ist vorbei. Aber die Aufgabe bleibt. Denn das in der Sprache niedergelegte Verständnis unserer Lebenswelt läßt sich nicht durch die Erkenntnismöglichkeiten der Wissenschaft voll ablösen. Die Wissenschaft kann uns vielleicht in den Stand setzen, Leben in der Retorte zu erzeugen oder die Sterbenszeit des Menschen künstlich ins Beliebige zu verlängern. Aber dadurch ändert sich nichts an den harten Diskontinuitäten von Stofflichkeit und Lebendigkeit oder gar an der von wirklich gelebtem Leben und dem Hinwelken in den Tod. Die Artikulation der Welt, in der wir leben, durch Sprache und kommunikative Kooperation, ist keine bloße Dimension des Konventionellen oder der Niederschlag eines vielleicht falschen Bewußtseins: sie bildet ab, was ist, und ist im ganzen ihrer Legitimität gewiß, gerade weil sie im einzelnen Einrede, Widerspruch und Kritik anzunehmen vermag. Die Zerlegbarkeit und Erzeugbarkeit alles Seienden, die die moderne Wissenschaft leistet, stellt dem gegenüber ein nur partikulares Feld des Ausgriffs und der Beherrschung dar, das sich nur so weit begrenzt, als der Widerstand des Seienden gegen seine Vergegenständlichung nicht überwunden werden kann. So läßt sich nicht verkennen, daß sich die Wissenschaft immer wieder und inuner noch einem Anspruch des Begreifens gegenüberfindet, vor dem sie versagt - dem sie sich versagen muß. Dieser Anspruch wird, seit Sokrates im )Phaidonc die Flucht in die Logoi, die Dialektik, begründete, von der Philosophie als ihre eigene Aufgabe festgehalten. Hegel steht in dieser Erbfolge. Auch er folgt der Führung der Sprache. »Die Sprache des übertägigen Bewußtseins« ist bereits von Kategorien durchzogen, die bis zum Begriff zu führen die philosophische Aufgabe ist. So hat Hegel die Dinge gesehen. Wir stehen heute vor der Frage, ob wir die Dinge etwa deshalb nicht mehr so sehen dürfen, weil die Wissenschaft sich selbst von der Sprache emanzipiert hat, indem sie eigene Bezeichnungssysteme und symbolische Darstellungsformen entvvickelt hat, die sich nicht mehr in die Sprache des alltäglichen Bewußtseins übersetzen lassen. Gehen wir nicht in eine Zukunft, in der sprachlose, wortlose Angepaßtheit die Affirmation der Vernunft überflüssig macht? Und wie sich heute die Wissenschaft gleichsam auf eine neue Weise autonom setzt, indem ihr Wiedereingreifen in das Leben nicht durch den gemeinsamen Gebrauch allgemeinverständlicher Sprache vermittelt wird, so zeigt sich auch in einer
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zweiten Dimension ein ähnliches Bedenken. Bekanntlich hat Hegel das System der Bedürfuisse als die Grundlage von Gesellschaft und Staat mit besonderem Interesse studiert, aber dies System den geistigen Formen des sittlichen Lebens entschieden untergeordnet. Heute dagegen sehen wir dieses System in einen Teufelskreis von Produktion und Konsum gebannt, der die Menschheit immer tiefer in die Selbstentfremdung treibt, weil die natürlichen Bedürfuisse immer mehr selbst >gemacht< sind, d. h. sich immer mehr als das Produkt eines andersartigen Interesses und nicht des Interesses an der Bedürfnisbefriedigung erweisen. Nun könnte man freilich fragen, ob die Entdogmatisierung der Wissenschaft, die sich im 20. Jahrhundert vollzogen hat, indem sie die Trennung von der natürlichen Anschauung zur Forderung erhob, damit nicht am Ende nichts weiter getan hat - und das wäre verdienstlich -, als einen allzu leichten Zugang des menschlichen Vorstellungsvermögens zu den Feldern der Forschung zu versperren, und daß sie so auch umgekehrt und positiv die dogmatische Verführung gebrochen hat, die aus dieser Zugänglichkeit entsprang und die Hegel die Übertünchung der Widersprüche genannt hat. Das Modell der Mechanik, das in Hegels und Schellings Zeit auf der sicheren Grundlage der Newtonsehen Physik beruhte, besaß eine alte Nähe zum Machen, zur mechanischen Verfertigung, und hatte damit die Handhabung der Natur zu künstlich ersonnenen Zwecken ermöglicht. Es lag in dieser universellen technischen Perspektive eine gewisse Entsprechung zu dem philosophischen Vorrang, den das Selbstbewußtsein in der neueren Entwicklung gewonnen hatte. Wir sind dabei immer in der Gefahr, die Geschichtskonstruktion, die vom deutschen Idealismus geschaffen worden ist, unbesehen zu akzeptieren. Man muß sich fragen, ob beides am Ende zu kurz schließt. Die zentrale Stellung des Selbstbe\\oLJßtseins ist im Grunde erst von dem deutschen Idealismus und seinem Anspruch, alle Wahrheit aus dem Selbstbewußtsein zu konstruieren, gefestigt worden, indem man Descartes Auszeichnung der denkenden Substanz und ihres Ge,vißheitsvorranges als obersten Grundsatz aufbaute. Gerade hier hat aber das 19. Jahrhundert die Grundlagen erschüttert. Die Kritik der Illusionen des Selbstbewußtseins, die, von den Antizipationen Schopenhauers und Nietzsches inspiriert, inzwischen in die Wissenschaft eingedrungen ist und der Psychoanalyse ihren Einfluß gegeben hat, steht nicht isoliert da und Hegels Versuch, den idealistischen Begriff des Selbstbewußtseins zu überschreiten und die Welt des objektiven Geistes als eine höhere Dimension der Wahrheit aus der Dialektik des Selbstbewußtseins hervorgehen zu lassen, bedeutete eine Förderung in der gleichen Richtung, die Marx und die Ideologienlehre des Marxismus gegangen sind. Noch bedeutsamer aber könnte es scheinen, daß der Begriff der Objektivität, wie er in der Physik mit dem der Meßbarkeit verkoppelt ist, durch die
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neuere theoretische Physik tiefgreifende Wandlungen erfahren hat. Die Rolle, die die Statistik selbst in diesen Bereichen zu spielen begonnen hat und die sich unser ganzes wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben mehr und mehr unterwirft, läßt der Mechanik und der Kraftmaschine gegenüber neue Modelle ins Bewußtsein treten, deren Eigenart die Selbstregulierung ist und die damit stärker als an das Machbare an das Lebendige, an das in Regelkreisen organisierte Leben denken lassen. Es wäre jedoch ein Irrtum, den Herrschaftswillen zu verkennen, der sich in diesen neuen Methoden der Beherrschungvon Natur und Gesellschaft seinen Ausdruck geschaffen hat. Die Unmittelbarkeit, in der sich menschlicher Eingriff überall dort empfiehlt, wo Mechanismen vollkommen durchsichtig geworden sind, ist vermittelteren Formen des Steuerns, Balancierens, Organisierens gewichen. Das scheint mir alles. Nun aber ist zu bedenken: Vermutlich muß man den Fortschritt der industriellen Zivilisation, den wir der Wissenschaft verdanken, gerade auch unter dem Gesichtspunkt sehen, daß die Macht selber, die von Menschen über die Natur und die anderen Menschen ausgeübt wird, dadurch ihre Augenfälligkeit verloren hat und daß damit eine gesteigerte Verfrihrung zum Mißbrauch herbeigefuhrt worden ist. Man denke an den organisierten Massenmord oder an die Kriegsmaschine, die auf einen Knopfdruck zu ihrer vernichtenden Wirkung gebracht wird. Man denke aber auch an den steigenden Automatismus aller gesellschaftlichen Lebensformen, an die Rolle der Planung etwa, zu deren Wesen es ja gehört, daß sie auf lange Sicht hinaus Entscheidungen triffi:, und das heißt Entscheidungsfreiheit benimmt, oder an die steigende Macht der Verwaltung, die dem Bürokraten eine von niemandem überhaupt gewollte, aber dennoch nicht vermeidbare Macht in die Hand gibt. Immer mehr Bereiche unseres Lebens treten so unter Zwangsformen automatischer Abläufe und immer weniger erkennt sich in diesen Objektivarianen des Geistes der Mensch und sein Geist selber wieder. Indessen scheint mir eben mit dieser Situation des sich selber kreuzigenden Subjektivismus der Neuzeit ein anderer Aspekt an Bedeutung zu gewinnen, der dem neuzeitlichen Selbstbewußtsein und seiner Übersteigerung bis zur Anonymisierung des Lebens gänzlich entrückt ist, ja nach der umgekehrten Richtung hin alten Motiven eine neue Einschlagskraft verheißt, und auch unter diesem Aspekt scheint mir Hegel eine neue Aktualität zu zeigen: Er ist nicht nur der Vollender des der Neuzeit zugrunde liegenden Gedankens der Subjektivität, der diese Struktur der Subjektivität über die Gestalten des objektiven Geistes und des absoluten Geistes hin ausdehnt, sondern er bringt auch einen Sinn von Vernünftigkeit neu zu Geltung, der aus ältestem griechischem Ursprung ist. Der Begriff der Vernunft und der Vernünftigkeit ist nicht nur eine Bestirnnmng unseres Selbstbewußtseins. Er spielte in der griechischen Philosophie eine entscheidende Rolle, ohne daß ein Begriff des Subjektes oder der Subjektivität überhaupt entwickelt worden war, und es bleibt
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eine beständige Provokation unseres Hegel-Verständnisses, daß Hegel als den letzten Paragraphen seines Systems der philosophischen Wissenschaft kommentarlos einen griechischen Text aus der >Metaphysik< des Aristoteles abdruckt. Gewiß ist es ein Text, in den wir kaum anders können, als unseren Begriff des Selbstbewußtseins einzubringen. Das höchste Selbstbewußtsein muß dem höchsten göttlichen Seienden zukommen. Und doch gipfelt in dem Selbstbewußtsein des sich selber denkenden Gottes fiir das griechische Denken der gesamte Aufbau des Seins, und zwar so, daß innerhalb desselben das menschliche Selbstbewußtsein eine recht bescheidene Rolle spielt. timiÖtata ci astra >Das Würdigste sind die Sterne<- das bleibt der unverrückbare Maßstab, unter dem das griechische Denken die Stellung des Menschen im Kosmos sieht. Das klingt uns fremd, daß nicht der Mensch, sondern die Sterne das Ehrwürdigste unter dem Seienden darstellen sollen. Es klingt unerreichbar fern von Hegel sowohl als von unserer eigenen Gegenwart. Und doch liegt darin eine dialektische Aktualität verborgen, die es freizulegen gilt und die sowohl Hegel als auch unseren griechischen Vätern, wie mir scheint, eine neue Bedeutung verleiht. Hegels Bestimmung der Philosophie als der Versöhnung des Verderbens erscheint uns dann nämlich weniger als eine gültige Wahrheit oder idealistische Unwahrheit, denn als eine Art romantischer Antizipation. Aus der Entzweiung von Selbstbewußtsein und Weltwirklichkeit sollte nach Hegel die höhere Form der Wahrheit durch Versöhnung und Vereinigung der Gegensätze hervorgehen, indem das Subjektive aus der Starrheit seiner Entgegensetzung zum Objektiven befreit würde. Das war das eschatologische Pathos seiner Philosophie. Was uns umgibt, ist freilich das Gegenteil: die schlechte Unendlichkeit eines endlos fortschreitenden, wie getriebenen Bestimmens, Bemächtigens, Aneignens. Hegel verband solche schlechte Unendlichkeit mit dem äußeren Verstandesaspekt der vernünftigen Welt und der Hartnäckigkeit, mit der er auf Fixierung der Gegensätze besteht und damit das Äußere in seiner Gegenstellung gegen sich, in seiner puren Gegenständlichkeit setzt. Wenn nun Hege! demgegenüber die wahre Unendlichkeit des sich in sich bestimmenden Seins lehrt, zum Beispiel die des Lebendigen, zum Beispiel die des Selbstbewußtseins, zum Beispiel die der sich zum Bewußtsein ihrer Freiheit befreienden Menschheit, oder des sich in Kunst, Religion und Philosophie selber durchsichtig gewordenen Geistes, sieht man sich auf einmal jenseits der Zeitenschründe wie auf einen neuen Boden gestellt. Die griechische Vernünftigkeit, die Hegel mit dem modernen Selbstbewußtsein zu neuer Einheit zu vereinigen versucht, nimmt sich, wenn sie nicht mehr als eine bloße Vorgestalt der Moderne gesehen wird, anders aus. Sie ist nicht mehr die rätselhafte Selbstvergessenheit, die sich im Anschauen der Welt verlor und nur in einem höchsten Weltengott sich auf sich selbst bezog- sie erscheint gegenüber der schlechten Unendlichkeit, in die es uns hineintreibt, als
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das Bild einer eigenen uns möglichen Zukunft und eines möglichen Lebensund Überlebens. Nicht mehr der Bau von Systemen, die in Gedanken vereinigen, was in Widerspruch miteinander getreten ist, nicht mehr die maßlose Leidenschaft der Architekten des Systembaus scheint uns das Ideal der Vernunft vor Augen zu halten. Auf eine rätselhafte Weise sieht sich ja das Bedürfnis der Vernunft nach Einheit im Fortgang der Forschung immer wieder enttäuscht und hat in einer erstaunlichen Weise gelernt, sich in einer Vielzahl von Partikularitäten zurechtzufinden, die ihrerseits jede fiir sich die partikulare Struktureinheit von Systemen besitzen. Es scheint mir von einer symbolischen Tragweite, daß an die Stelle des Systembaus die Systemtheorie getreten ist. Freilich, welch ein Bedeutungswechsel im Sinne des Wortes Theorie liegt hier vor! Was liegt in diesem Wandel? Das Wort Theorie, das heißt theöria, ist ein griechisches Wort. Es stellt die eigentliche Auszeichnung des Menschen, dieser gebrochenen und untergeordneten Erscheinung innerhalb des Universums dar, daß er seinen geringen und endlichen Maßen zum Trotz zu der reinen Anschauung des Universums fähig ist. Aber es wäre vom Griechischen her unmöglich, Theorien >aufzustellen<. Das klingt ja, als ob wir sie >machten<. Das Wort meint nicht, wie das vom Selbstbewußtsein her gedachte theoretische Verhalten, jene Distanz zum Seienden, die das, was ist, unparteüsch erkennen läßt und es damit anonymer Beherrschung unterwirft. Die Distanz der theoria ist vielmehr die der Nähe und der Zugehörigkeit. Der uralte Sinn von theoria ist Teilnahme an der Festgesandtschaft zur Verehrung der Götter. Das Schauen des göttlichen Vorgangs ist nicht die teilnahmslose Feststellung eines Sachverhalts oder Beobachtung eines prächtigen Schauspiels, sondern eine echte Teilhabe an dem Geschehen, ein wirkliches Dabeisein. Dem entspricht, daß die Vernünftigkeit des Seins, diese große Hypothese griechischer Philosophie, nicht primär eine Auszeichnung des menschlichen Selbstbewußtseins ist, sondern eine des Seins selber, das so das Ganze ist und so als das Ganze erscheint, daß die menschliche Vernunft weit eher als ein Teil dieser Vernünftigkeit zu denken ist und nicht als das Selbstbewußtsein, das sich dem Ganzen gegenüber weiß. So ist es gleichsam ein anderer Weg, in dem die menschliche Besinnung sich in sich selbst vertieft und sich findet: nicht der Weg nach innen, zu dem Augustin aufrief, sondern ein Weg der vollen Hingabe an das Außen, in dem der Suchende sich selbst dennoch findet. Das war Hegels Größe, daß er diesen Weg der Griechen nicht als einen falschen Weg gegenüber jenem neuzeitlichen der Selbstbesinnung erkannte, den man hinter sich gelassen habe, sondern als eine Seite, die dem Sein selber zukommt. Es war die großartige Leistung seiner Logik, in der Dimension des Logischen diesen das Entgegengerichtete sammelnden und tragenden Grund erkannt zu haben. Ob er das nun Nus oder Gott nannte, es ist jedenfalls ebensosehr das volle Außen, wie es in der mystischen Versenkung des Christen das letzte Innen ist.
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Wii stehen am Ende unserer Überlegungen. Das Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie erwies sich an dem Standort, auf den uns Hegel gefuhrt hat und mit ihm Schelling, als ein dialektisches. Nicht die aus den Wissenschaften herauszuhebende Philosophie, die ihren begrenzten Sinn behalten mag, und auch nicht die spekulative Grenzüberschreitung nach der Seite einer dogmatischen Festlegung der in stetem Fluß befindlichen Forschung können das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft angemessen beschreiben. Wir müssen dies Verhältnis in seiner vollen Gegensätzlichkeit positiv denken lernen. Keine Abschwächung zu mäßiger Aufklärung, keine Übertünchung soll sein. Es wäre Verblendung zu meinen, daß diese Verlegenheit uns nötigte, Philosophie auf die Seite der Kunst zu stellen und ihr an allen Vorrechten der Kunst und allen Gewagtheiten, die mit diesen Vorrechten verbunden sind, teilzugeben. Die Anstrengung des Begriffs gilt es auch weiterhin auf sich zu nehmen. Zwar, der Anspruch systematischer Einheit scheint uns heute weniger einlösbar, als im Zeitalter des Idealismus es schien. So zieht uns gleichsam eine innere Affinität zu der zauberhaften Mannigfaltigkeit hinüber, die die Aussage der Kunst in den Reichtümern ihrer Werke vor uns ausbreitet. Weder das Prinzip des Selbstbewußtseins noch irgendein anderes Prinzip letzter Einheitsgebung und Selbstbegründung geben uns die Erwartung, das System der Philosophie doch noch konstruieren zu können. Indessen bleibt das Bedürfuis der Vernunft nach Einheit unabweisbar. Dieses Bedürfnis schweigt auch nicht vor dem hundertäugigen Argus, den nach Hegels schönem Worte das Werk der Kunst darstellt, in dem ja keine Stelle ist, die uns nicht sieht. Es bleibt in jedem Aspekt die Aufgabe der Selbstverständigung des Menschen mit sich selber bestehen, die in keiner seiner Erfahrungen verleugnet werden kann und so gewiß auch nicht in den Erfahrungen der Kunst. Aber sowie die Aussagen der Kunst in den Prozeß unserer Selbstverständigung mit uns selber integriert werden, wenn sie in ihrer Wahrheit wahrgenonunen werden, ist nicht mehr Kunst, sondern ist Philosophie am Werk. Es ist das gleiche Bedürfnis der Vernunft, das uns die Einheit unserer Erkenntnis inuner wieder herzustellen nötigt, das auch Kunst in uns eingehen läßt. Dazu gehört aber auch in unserer Welt all das, was uns in der Durchmessung aller Weltzugänge und der Erprobung aller Weltausgriffe die Wissenschaften gewähren. Dazu gehört nicht zuletzt das Erbe unserer Tradition philosophischer Vernunftansichten, von denen wir nicht eine annehmen und ganz übernehmen können, aber die wir alle nicht ungehört lassen dürfen. Das Einheitsbedürfnis der Vernunft verlangt es. Das Vorbild der Wissenschaft, das unsere Zeit bestinunt, sollte uns zugleich vor der Versuchung schützen, im Philosophieren dem Bedürfuis nach Einheit durch voreilige Konstruktionen nachzufolgen. Wie unsere gesamte Welterfahrung einen nie zu Ende konunenden Prozeß der Einhausung darstellt- um mit Hegel zu reden - auch in einer uns immer fremder scheinenden, weil nur
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alzu sehr von uns veränderten Welt-, so ist auch das Bedürfnis nach philosophischer Rechenschaftsgabe ein unendlicher Prozeß. In ihm vollzieht sich nicht nur das Gespräch, das jeder einzelne denkend mit sich selbst fuhrt, sondern auch das Gespräch, in dem wir alle zusammen begriffen sind und nie aufhören, begriffen zu sein - ob man die Philosophie tot sagt oder nicht.
3. Humanismus und industrielle Revolution (1988)
Wir leben in einer Epoche, in der sich in eigentümlicher Weise viele Perspektiven umzudrehen scheinen. Manche Dinge sind im Begriff, ganz aus der Welt zu verschwinden, z. B. die Ehre des Dieners. Andere haben ihre Faszination verloren, zum Beispiel der Glaube an den Fortschritt. Einer der Momente, die mir besonders zu denken geben, ist die Tatsache, daß die Jugend heute mit wenig Zuversicht, ohne Optimismus, und ohne ein unbestimmtes Hoffnungspotential aufWächst. Darüber nachzudenken scheint mir ein besonders naheliegendes Gebot. Wir wissen es alle, die Industriegesellschaft ist ein Schicksal, durch das wir leben und mit dem wir leben müssen. Es ist ein in sich unumkehrbarer Prozeß, in dem wir uns befinden, da wir die Lebensbedürfuisse der heute lebenden Menschen nur dadurch befriedigen können, daß wir in produktiver Arbeit, in Erfindung und technischem Fortschritt, die materiellen Probleme des Daseins der Menschheit von heute zu lösen suchen. Daß es so ist, das wissen wir im Grunde alle. Wir sehen es daher mit Sorge, wenn sich diese Unausweichlichkeiten nicht im Bewußtsein aller und insbesondere in dem der nachkommenden Generationen wirklich fest einwurzeln. Die Wirtschaftsform, die sich über die ganze Menschheit verbreitet, fuhrt zu Spannungen und Ungleichgewichten und zugleich zu einem Beschleunigungsvorgang in vielen Entwicklungsrichtungen, die uns mit dem Bewußtsein erfiillen, in einer unausweichlichen Krise zu stehen. Es ist eine Krise, die die ganze Menschheit betrifft, aus der es also auch nicht die Ausflucht des Aussteigens gibt. Es ist nötig und gut, ein Bewußtsein dieser Lage zu haben. Krisenlagen sind an sich nichts Unnarürliches. So fragt es sich sogar, ob die eigentliche Aufgabe überhaupt darin bestehen sollte, Krisen zu vermeiden. In der Wirtschaftswissenschaft hat durch viele Jahrzehnte hindurch eine Theorie der Krisen bestanden, die ihre Aufgabe so sieht, Krisen zu vermerken. Das ist aber nicht unumstritten. Ein Arzt wird anders denken und in solcher Theorie eine kurzsichtige Beschreibung der Funktion von Krisen sehen. Er weiß, was fur kräftige Kinder durch den Keuchhusten hindurchgehen und heranwachsen, und er weiß, wie eine jede Krankheit eben dadurch, daß sie ihre Krise erreicht, auch Genesung verspricht. So kann eine
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Krise immer einen Gesundungsprozeß einleiten, der eine Fehlentwickung berichtigt. Nun fragt man sich freilich besorgt, ob die Krise, in die wir jetzt sehenden Auges hineingehen, von dieser Art ist. Wir können nur hoffen, daß auch sie sich am Ende als eine echte Krise erweisen wird, als eine Phase von Spannungen und Engpässen, die wir überstehen und die uns erlauben wird, eine etwas weniger gefahrdete Zukunft für die kommenden Geschlechter vorauszusehen. Die Lösung einer Krise durch Krieg zu erhoffen, geht freilich nicht an. Wenn ehedem Machtverhältnisse Spannungen hervorriefen und zu kriegerischen Entlastungen fiihrten, um einen neuen ausgeglicheneren Friedenszustand herbeizufiihren, wäre eine solche Krise heute von anderer Art. Das Wesen des globalen Krieges ist durch die Atomenergie, die Atombombe und überhaupt durch die enormen fortschritte der Waffentechnik zu etwas völlig neuem geworden. Man kann kaum anders sagen, als daß ein solcher Krieg eine Art Massenselbstmord wäre, zumindest wenn er mit Atomwaffen gefiilut würde. Das heißt, er hat keinen Frieden, auf den er hinzielt, sondern verspricht nichts als Zerstörung. Das ist eine ernste Tatsache, an der wir nicht vorbeikönnen, die gerade deshalb im Bewußtsein aller wach sein sollte. Der zweite Aspekt der Krise ist der ökologische Aspekt. Im Grunde ist er eine Fortwirkung der gleichen Umstände. Der Energiebedarf der Menschheit wird vorerst nur durch Raubbau gedeckt. So nannte man früher die Verfahren, die zur irreversiblen Veränderung, etwa der Waldbestände, oder zur Erschöpfung der Äcker führte. Heute ist, da der Vorrat von Kohle, Öl und Gas begrenzt ist, sein Abbau ein irreversibler Prozeß. Die Atomenergie, und vielleicht allenfalls die Sonnenenergie, scheinen auflange Sicht der einzige Ausweg zu sein, so gefahrvoll beides auch sein mag. Der dritte Aspekt der Krise ist aber der, tnit dem ich begann, die Jugendkrisis. Die Tatsache einer pessimistisch gestimmten Jugend können wir schwerlich dadurch verharmlosen, daß wir das Unglück der Zeit oder das Versagen der älteren Generation oder sonstige schulische und gesellschaftliche Bedingungen als Ursache ansehen, die man nur eben verbessern müßte. Wir ahnen vielmehr, daß sich hinter diesem Aspekt der Krise Folgen der industriellen Revolution abzeichnen. Mehr und mehr wird dem Einzelnen, der seinen Weg sucht, die unmittelbare Bestätigung versagt, die sein noch unbewälutes Selbstbewußtsein sucht - und das heißt, jung sein, noch nicht zu wissen, wieweit die eigenen Kräfte dem gewachsen sind, was das Leben von einem verlangen wird. Hier scheint mir der tiefste Grund fur die großen Schwierigkeiten zu liegen, in denen sich unsere Jugend befindet. Sie muß sich in einem zunehmend funktional aufgebauten und bürokratisierten Gesellschafts-, Wirtschafts- und Produktionssystem bestätigen. Es wird immer schwerer, durch die eigene Spontaneität Bestätigung, Erfiillung und Befriedigung zu finden. Wie ist es zu dieser Krise gekommen? Können wir
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vielleicht durch Besinnung lernen, wie wir zur kommenden Gesundung hinleiten könnten? Wir sind alle Kinder der Aufklärung. Wir sind Kinder eines in Europa einsetzenden Prozesses, der die eigentümliche Zivilsationsform des Abendlandes seit ihrem griechischen Beginn bestimmt hat und heute die ganze Welt bestimmt. Auch die griechische Welt, ihr Anfang und ihr Zug zum Wissen, hat damals in eine Krise geführt. Sie erwuchs aus der ersten großen Welle des argumentativen Könnens, des Fragens und Zweifelns. Sie führte zu einer kritischen Auflösung überlieferter Denkweisen und gesellschaftlicher Ordnungsformen. Die Krisis ist damals überwunden worden. Die großen Denker Plato und Aristoteles und die zwei Jahrtausende des christlichen Weltalters, die ihre christliche Heilbotschaft mit den begrifflichen Mitteln des griechischen Denkens durchgestaltet hat, haben die Seelengeschichte des Abendlandes geprägt. Es war eine humanistisch-christliche Synthese, die noch an der Schwelle der Neuzeit das Kulturerbe des Abendlandes den neueinsetzenden Entwicklungen vermachte. Der Beginn der Neuzeit - wie immer fragwürdig und umstritten es in den Augen des geschichtlichen Betrachters sein mag, wann eigentlich und was eigentlich die neue Zeit heraufgeführt hat - eins bleibt gewiß, daß die Stimmung des Aufbruchs in ein neues und großes freies Leben die Jahrhunderte der frühen Neuzeit beherrscht hat. Wer damals einen Blick in die fernere Zukunft gewagt hätte, den würden zwar die technischen Wunderleistungen der Moderne verblüfft haben. Aber daß dieser neue Aufbruch zu einer solchen spannungsvollen und kritischen Weltlage der Menschheit fuhren könnte, wie die unsrige ist, hätte damals wohl niemand für möglich gehalten. Daß die neue Weltgesinnung und Forschungsgesinnung der modernen Wissenschaft Spannungen zur christlichen Tradition herauffuhren könnte, war gewiß nichts Unerwartetes. Aber im Ganzen ist es das Erstaunliche dieses neuen Aufbruchs gewesen, daß sich in ihm Pioniergesinnung der Forschung mit christlichem Humanismus paarte. Selbst eine so gespannte und schmerzensvolle Figur wie Pascal hat neben dem neuen Geist der Wissenschaft immer zugleich den intuitiven Zug in der menschlichen Erkenntnis als sein Gegenstück gefeiert. Selbst der große Vollender, der mit Galilei geschaffenen Wissenschaft, Isaak Newton, ,.,_-ar zugleich ein Theologe, der für sich das Ganze seiner neuen Naturerkenntnis in das christliche Weltbild einfügte. Selbst auf dem Höhepunkt der französischen Aufklärung, die die Schrecknisse des Zeitalters der Religionskriege ablöste, behielten die Ideale der Humanität etwas von dem religiösen Gehalt dieser Parole und ihrer humanitären Ziele. Das hat selbst noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland nachgewirkt. Bis die Entwicklung der nachrevolutionären Epoche zum Nationalstaat führte und am Ende durch den selbstzerstörerischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts sich widerlegte. Während die anfangende Naturwissenschaft der Neuzeit von einem glü-
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benden Fortschrittsglauben beseelt war, mußte auch sie Anfechtungen erfahren. Man denke nur an die Stimmen von Kulturkritik, die durch Rousseau laut wurden und die insbesondere im Revolutionszeitalter in Deutschlands Jugend einen weithinreichenden Widerhall fand_ Aber von einem allgemeinen Krisen bewußtsein, wie es im 20. Jahrhundert sich auszubreiten begann, konnte nirgends die Rede sein. Immerhin bedeutete der Aufstieg der modernen Wissenschaft eine Vergrößerung der spannungsvollen Beziehungen, die zwischen Tradition und Fortschritt sich einzustellen pflegen. Der militante Atheismus der französischen Oberschicht und der revolutionären Massen hatten zwar keine lange Dauer, und der Aufstieg der neuen bürgerlichen Schichten in das öffentliche Leben fuhrten zu einer neuen Stabilisierung der Beziehungen zwischen der humanistisch-christlichen Tradition und zu einem neuen Fortschrittspathos, das den Aufstieg des Bürgertums begleitet hat. Jetzt aber ist es eine neue Revolution, die sich an den AufStieg der Wissenschaften und ihrer Anwendung auf die Beherrschung der Natur anschloß, eine Revolution, die in immer sich erneuernden Wellen seitdem das ganze moderne Leben beherrscht und die wir die industrielle Revolution nennen_ Sie stellte das Gleichgewicht zwischen Aufklärungspathos und Ordnungsbedürfnis des Herkommens vor neue Belastungen_ Es ist die uns bis heute in Atem haltende und sich immer mehr zuspitzende Krise, daß diese stabilisierenden Kräfte nicht stark genug sind, um mit der Dynamik der sich verändernden Welt und des technischen Fortschrittes und seinen geistigen Folgen wirklich fertig zu werden. Da muß man sich freilich fragen, ob ein spannungsloses gesellschaftliches Leben überhaupt jemals bestanden hat, und ob es nicht uralte Probleme sind, unter denen wissenschaftlicher Fortschritt mit den Bewahrungskräften bestehender Herrschaftsverhältnisse in Kon.tlikt gerät. Das mag gewiß richtig sein_ Um so mehr aber bedarf es einer genaueren Überlegung, warum die relative Stabilität des Gleichgewichts im Zuge des neueren Neuzeit mehr und mehr verloren ging und das Erbe der Gegenkräfte sozusagen mehr und mehr erschöpft scheint. Sicherlich lassen sich viele Ursachen nennen, die zu einer neuen Instabilität in der Denkweise des Menschen und der Umgestaltung ihrer Lebensformengefuhrt haben. Dazu bedarf es gerade auch im Hinblick auf unsere Gegenwart einer weitgespannten Übersicht über die Faktoren, die dabei mitspielen. Man wird Nietzsches düstere Prognose von dem Herau&ommen des Nihilismus mindestens als ein Symptom der neuen Instabilität ansehen müssen. Worin hat sich gegenüber der stabilen antiken mittelalterlichen Denkweise etwas Entscheidendes verändert? Man mag es im Schlagwort formulieren: das teleologische Universum, das mit der sokratischen Überwindung der sophistischen Krise erstmals zu einer einheitlichen Physik und Metaphysik im aristotelischen Stile geführt hat, wurde im 17. Jahrhundert durch eine Denkwei-
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se abgelöst, in der ein technologisches Universum uns umfangt. Dem Wort Technik fillt damit eine neue Bedeutungslast zu. Dieses griechische Wort meint ja zunächst nichts anderes als die ingeniöse Art, in der die menschliche Kunstfertigkeit im Rahmen der Natur und im freien Raum der Gestaltungsmöglichkeiten ihrer Umwelt ihr handwerkliches Können anwendet. Man darf dies gewiß im modernen Sprachgebrauch eine Art •Technik< nennen, wie der Handwerker, der seine Kunst versteht, verfahrt. Gerade gegenüber dem freien Imaginieren verstehen wir ja unter Technik in unserem Sprachgebrauch die erlernbare Anwendung von Regeln, so wenn man bei einer Schachpartie, deren Verwicklungen sich gelöst haben, sagt, der Rest ist eine Sache der Technik. So ist allerorten Handwerkskunst am Ende eine Sache der Technik. Technik in unserem Sinne hat es darüber hinaus auch im Altertum schon gegeben -man denke nur an Archimedes. Trotzdem ist es doch wohl kein Zufall, daß das Wort >Technik< keine lateinische Aufnahme gefunden hat und erst in der beginnenden Neuzeit seine semantische Karriere beginnt. Nicht darum handelt es sich, daß selbstverständlich gerade auch der neue Aufbruch der modernen Erfahrungswissenschaften durch die Entwicklung aller möglichen technischen Fortschritte gefordert worden ist. Man denke nur an das Mikroskop und alles, was mit Optik und Meßtechnik zusammenhängt. Aber wie sehr die Denkweisen solchen technischen Bedingungen untergeordnet bleiben, kann gerade das Beispiel des 17. Jahrhunderts zeigen. Da schildert Galilei in treffender Karikierung der scholastischen Wissensgesinnung, daß sein Partner mit dem vielsagenden Namen Simplicio sich weigert, durch das Fernglas oder das Mikroskop zu sehen. Bekanntlich hat noch Goethe gegen diese Verlängerungen unserer natürlichen Perzeptionsmöglichkeiten Zurückhaltung gehabt und eine ganze höchst mißverständliche Polemik gegen die Newtonsehe Farbenlehre entfesselt. ln eins damit hat er an die Entwicklung des Maschinenwesens düstere Prophezeiungen für die Zukunft der Welt geknüpft, und sogar in seinem Privatleben hat er Menschen, die eine Brille trugen, unbehaglich gefunden. Hier mag sich die neue Instabilität bereits ankündigen, die in der Tat mit dem 19. und 20. Jahrhundert den Siegeslauf der Technik als einer autonomen Daseinsmacht begleitet. Sie beruht auf einer neuen Wissenschaftsgesinnung. Nicht, als ob die technische Anwendung der modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse die Motivationsgrundlage der neuen Forschungsgesinnung schon eingeschlossen hätte. Es ist im Gegenteil deutlich, wie wir sahen, daß gerade die moderne wissenschaftliche Aufklärung sich mit einer theologischen Mitbegründung verband, die gleichsam den göttlichen Auftrag auf ihre Weise nur weiterzufuhren und auszufuhren hatte und das Buch der Schöpfung zu entziffern, das Gott mit seinem Finger geschrieben hat, wie man im Enthusiasmus des christlichen Humanismus der beginnenden Neuzeit sich ausdrückte.
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Man sollte nicht verkennen, daß etwas von diesem Hintergrund gerade auch im Forschungsenthusiasmus der Wissenschaft der Neuzeit bis in unsere Tage fortlebt. Die Begeisterung, mit der ein heutiger Physiker von der beglückenden Einfachheit etwa den Maxwellsehen Gleichungen oder von den Synunetriegleichungen der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik spricht, mag stellvertretend bestätigen, daß etwas von der pythagoreischen Tradition und dem griechischen Ideal der Theoria nicht ganz verschüttet ist auch wenn in der modernen Naturwissenschaft die Funktion der Mathematik eine ganz andere instrumentale geworden ist. Freilich, es sind riesige Umwege und Anwege, die im Experiment und seiner theoretischen Auswertung durchlaufen werden müssen. Das ist eine ständig sich vergrößernde Distanz, die es zu durchmessen gilt, und daher gehört eine technisch-industrielle Ingeniosität als Vorbedingung dazu, damit solche Femen am Ende überwunden werden können, so daß man zu einfachen Wahrheiten gelangt. Wir sind damit in eine zweite Welt eingetreten, die ihre eigene Sprache und ihre Grundprinzipien hat. Sie steht neben der Denkweise, die durch die antichristliche Tradition unserer Sprachen und ihrer Abwandlungen geformt ist. Die Welt, die durch die moderne Technik beherrscht wird, ist wie eine andere Welt. Nun mag sich jeder die Frage stellen, ob denn nicht das Zeitalter der Wissenschaft, in dem wir leben, gerade dadurch geprägt ist, daß wir alle gelernt haben, in diesen zwei Welten zu leben und zwischen der sich ständig überholenden technischen Entwicklung auf der einen Seite und auf der anderen Seite den stabilisierenden Kräften der gesellschaftlichen Ordnungen den Ausgleich suchen, in die jede Generation hineinwächst. Das verrät ein Wort, das erst in unserem Jahrhundert in der Phänomenologie Husserls geprägt und eingeftihrt worden ist, eben das Wort: Lebenswelt. Es hat daftir einen besonderen Aussagewert. Man wird gerade auch Kant und seine zentrale Stellung in der Philosophie der Neuzeit darin sehen müssen, daß er den Ausgleich Z\'V-ischen der von der Wissenschaft getragenene Aufklärung und der sittlichen Welt der menschlichen Praxis begründet hat und daß er damit die metaphysischen Ordnungsgedanken unseres humanistisch-christlichen Erbes legitimiert hat. Er hat selber seine kritische Leistung darin gesehen, die Grenzen der reinen Vernunft aufzuzeigen, um damit dem Glauben seinen Platz zu gewinnen und den Primat der praktischen Vernunft zu begründen. Es ist auch gar nicht zu leugnen, daß die große deutsche Bewegung des deutschen Idealismus, vor allem durch Fichte und Hegel, in die gleiche Richtung gewiesen hat. Gleichwohl hatte selbst die unbestrittene Autorität, die insbesondere Kant selbst im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts sich bewahrt hat, die Lebenswelt und ihre pragmatische Eigenständigkeit nie wirklich im Auge. Nur in Gestalt der Wissenschaften, insbesondere in der Folge neben den Naturwissenschaften auch in Gestalt der Geisteswissenschaften und der auf die sogenannte Wertphiloso-
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phie gegründeten Kulturwissenschaften wurde das Kamische Erbe angeeignet. Das heißt aber, es wurde in den Rahmen einer auf das Faktum der Wissenschaft gegründeten Erkenntnistheorie gefugt. Noch heute wir in den angelsächsischen Ländern das eigentliche Zentrum der Kamischen Moralphilosophie kaum beachtet. Die Legitimierung der Wissenschaft und ihres Siegeslaufs in der bürgerlichen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts fiihrte damit zu einem fortschreitenden Rückgang in der Kulturtradition des Abendlandes. Das tritt besonders etwa an dem Streit des Determinismus und Indeterminismus zutage, der dem Jahrhundert sein Gepräge gegeben hat. Dabei mag auch die eigentümliche Kam-Nachfolge Schopenhauers mitgewirkt haben. Jedenfalls ist bis heute das wahre Kamische Erbe derart verblaßt, daß man noch immer von der Wissenschaft, d. h. der Physik oder der Biologie oder Genetik oder wie immer eine Art wissenschaftlicher Erkenntnis und Erklärung der Willensfreiheit erwartet, und meint, daß sie in den neuen Wendungen der wissenschaftlichen Forschung verheißungsvoll anklingen. So wurde etwa die berühmte Indeterminismusfrage in der Quantenphysik aufgefaßt. Als ob Freiheit ein Gegenstand wie die Gegenstände ist, die einem in der unter der Kategorie der Kausalität stehenden Wissenschaft überhaupt begegnen können. Die so Erv.rartungsvollen fragen sich keinen Augenblick, was die Erkenntnis, etwa neurologische >Beherrschung< der Willensentscheidungen des Menschen fiir die menschliche Freiheit zur Folge hätte, nämlich ihre Selbstaufhebung. Es wäre der endgültige Sieg der Manipulation gegenüber den letzten Illusionen von Freiheit. Es ist kein Wunder, daß die Denkweise, die mit der neuzeitlichen Wissenschaft und der auf ihr beruhenden Aufklärung sich ausbreitete, von ihren Anfangen an und immer wieder ihre Kritiker gefunden hat. Eine lange Reihe reicht von Rousseau über Kam und die gesamte Epoche der romantischen Gegenaufklärung etwa zu den Weisheitsträumen eines Novalis oder zu der Erweckung des sagenhaften Merlin. So ist mit der Wissenschaftskultur der Neuzeit eine ganze Tradition der Kulturkritik entstanden. Die Träger derselben waren abseitige Figuren, etwa wie Jakob Burkhardt oder Friedrich Nietzsche und bildeten damals nicht ein alles erfüllendes Bewußtsein. Jetzt dagegen, wohl in den ahnungsvoll verdüsterten Jahren, in denen das Zeitalter der Weltkriege im Anfang unseres Jahrhunderts heraufzog, breitet sich dieses tiefe Unbehagen an dem Zeitalter der Wissenschaft und Technik langsam aus. Vollends nach den beiden Kriegen, die fast v.-ie ein einziger dreißigjähriger Krieg waren, kam es dankjener immer 'Nieder paradoxen Umkehr aus einer wahnsinnigen Zerstörungsindustrie zu einem neuen technischen Aufschwung in allen Lebensbereichen, der die Denk.weise der neuen Generationen mehr und mehr gefangennahm und insbesondere das gesellschaftliche Leben der Menschen in atemberaubender Beschleunigung verändert und verfremdet hat.
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Wir stehen mitten in dieser Entwicklung darin. Insbesondere das Bewußtsein, so radikalen Veränderungen immer wieder ausgesetzt zu sein, hat sich auch in einer Art Be·wußtsein niedergeschlagen, das sich immer neu definiert. So hat man noch vor Jahrzehnten ganz selbstverständlich von dem )Atomic Age< gesprochen, als die Freisetzung der Atomenergie und insbesondere als die Drohung des Atomkrieges ganz in den Vordergrund der Menschheit trat. Inzwischen beginnt man etwa von dem >Computer Age< zu reden, in der nicht unbegründeten Überzeugung, daß sich mit diesen neuen Kommunikationsmitteln der gesamte Lebensstil und die Lebensbeziehung zwischen den Menschen fundamental verändern werden. Wenn ein Druck auf den Knopf den Nächsten erreichbar macht, rückt er in Wahrheit in eine unerreichbare Fremdheit. Wieder lauschen wir der Lebenswelt selbst die Weise ab, in der den Menschen ihre Nöte und Probleme zum Bewußtsein kommen, und das geschieht in der Einbürgerung neuer Wert- bzw. Unwertbegriffe in unsere Sprache. An zwei Beispielen möchte ich diesen Vorgang etwas genauer betrachten. Es ist erst inmitten der neuen aufschäumenden Flut der industriellen Revolution und nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges, daß das Wort >Lebensqualität< sich einftihrte. Zunächst klingt es wie eine humanistische Erinnerung. Das war ja schon die sokratische Mahnung, mit der sich Sokrates an seine Mitbürger wandte und sie beschwor, nicht auf das Leben käme es so sehr an, als vielmehr auf das gute Leben, das Eu z~n. Aber was ftir einen anderen Sinn hat der gleichlautende Ausdruck Lebensqualität, wenn er, wie ich mich erinnere, von einem deutschen Bundesminister erstmals gebraucht wurde. Da stuft er gleichsam die Grade dessen ab, was einen steigenden Wohlstand und steigenden Lebenskomfort und die sich ausbreitende industrielle Zivilisation verheißt. Oder besser, der Ausdruck drückt aus, daßtrotzallen diesen neuen Entwicklungen und Verbesserungen unseres Lebens die Frage nach der Qualität des Lebens, das sich dieser neuen technischen Welteinrichtung bedienen soll, zweifelhaft geworden ist. Nur ganz von Ferne hört man mit dem Wiederaufgreifen des sokratischen Begriffs des Gutlebens eine Art Anspielung anklingen, daß das Gute nicht in dem steigenden Fortschritt des Lebenszuschnittes, sondern in etv1.-as anderem besteht, so daß unser Bewußtsein in eine neue kritische Distanz gegenüber dem eigenen Zivilisationsweg gehoben werden saUte. Die Dehumanisierung der Lebensverhältnisse, die durch die apparativen Automatismen unserer Daseinsftirsorge sich ausbreitet, läßt die Verkümmerung des Erbes des Hun1anismus und der zwischen den Menschen waltenden Humanität als das große Fragezeichen an den Fortschritt bewußt werden. Ein anderes Beispiel. Es ist etwa zehn Jahre her, daß ich zum ersten Male in den Straßen von Köln einen Reporter mit Leuten traf und ihm zuhörte. Er fragte die Leute, ob sie nicht unter dem >Leistungsdruck< litten, unter dem sie
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stünden. Das Wort war fiir mich vollkonunen neu, wenn auch sogleich verständlich. Es war aber auch bestürzend, gerade die jungen Menschen zu fragen und zu meinen, man solle ihnen bewußt machen, was sie vielleicht mitunter empfinden. Daß es Leistung ist, die als etwas Fremdes empfunden wird, und durch die Forderung der Leistung drückend und bedrückend ist, das hatte fur mich etwas Bestürzendes. Das solle eine Heilsbotschaft sein? Gewiß hat es immer Drucksituationen gegeben, man denke nur an Examenssituationen oder sonstige kritische Phasen, in denen man Anforderungen ausgesetzt war, denen entsprechen zu können einem nicht sicher war. Aber mit dem Begriff Leistung liegt doch umgekehrt gerade auch das Vollbrachtsein und das Glück, das mit dem Vollbrachtsein einer Leistung verknüpft ist. So lebt es im allgemeinen Sprachbewußtsein noch heute, daß eine Leistung etwas vor, wovor man Respekt hat und auf das man stolz sein kann. Das Glück des Könnens scheint gerade in diesen Entwicklungslinien unserer industrialisierten und bürokratisierten Zivilisation immer mehr ins Anonyme zu entschweben. So wird die Erinnerung, die unser geschichtliches Gewordensein geprägt hat, inuner blasser im Lebensbewußtsein der heutigen Menschen- und die Erweckung dieser Erinnerung inuner wichtiger für das >Gut<-Leben.
4. Über die politische Imkompetenz der Philosophie (1992/93)
Der Konflikt, der in unseren Tagen insbesondere sich an den Namen Heidegger geheftet hat, ist ein uralter Konflikt. Wie steht der Philosoph zu der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit? Was helfen seine Probleme und Einsichten bei der Bewältigung dieser Wirklichkeit? In der Diskussion um das Buch von Farias habe ich bereits im November 1987 in Paris eine Stellungnalune veröffentlicht, die dann aufDeutsch unter dem Titel >Zurück von Syrakus?< im vollen Text erschienen ist. Der Titel spielt auf die Enttäuschung an, die seinerzeit Plato erlebt hat, als er auf Einladung des Tyrannen, des Alleinherrschers von Syrakus, zweimal nach Syrakus gereist ist, um den jungen Herrscher in die Grundzüge seines Denkens über den richtigen Staat und die richtige Gesellschaftsordnung einzufiihren. Das ist unglücklich ausgegangen. Er ist mit Not und Mühe nach Hause entkommen. Auch später hatte er schwere Enttäuschungen zu erleben, als aus dem engsten Kreise seiner Freunde und Schulgemeinschaft nach einer siegreichen Befreiung von Syrakus der Führer der Expedition, Dion, mit dem Plato intim befreundet gewesen war, plötzlich von seinen eigenen Freunden ermordet wurde. (Über die Hintergründe dieses Attentats wüßten wir gern mehr.) Das politische Abenteuer Platos in Sizilien ist von symbolischer Aussagekraft. Es muß einen nachdenklich machen. Gewiß ist Heideggers politisches Engagement von 1933 nicht mit den gleichen Maßstäben zu messen wie Platos sizilisches Unternehmen. Die platonische Akademie, der Dion und die anderen Freunde Platos angehörten, hatte von vornherein weit mehr einen politisch-sozialen Charakter, als eine Akademie oder Universität und überhaupt als die Intellektuellen in der modernen Gesellschaft haben. Um so mehr fragt man sich, ob es nicht an der Denkweise der Philosophie selber liegt. Der Blick des Philosophen, der alle Fragen auf ihre letzte Allgemeinheit und Grundsätzlichkeil hin vertieft, scheint nicht dazu prädisponiert, die konkreten Umstände und Tunlichkeiten des gesellschaftlichen und politischen Lebens richtig zu sehen. Wenn man die Frage so grundsätzlich sieht, muß man doch wohl die Grundsatzfrage an die Philosophie selber richten: Wie steht es eigentlich mit dem Erkenntniswert der Philosophie, wenn sie auf wichtige, lebensentscheidende Fragen schiefe und verstiegene Antworten gibt?
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So hat der französische Soziologe Bourdieu, ein bedeutender Forscher, schon vor Jahren zu Heideggers Philosophie kritisch Stellung genommen und sie aus den konservativen Traditionen und dem halbrevolutionären Denken der Rechten in der Weimarer Republik, den Anhängern der ~Revolution von rechts<, abgeleitet. Das ist eine interessante Analyse. Sie macht freilich eine Voraussetzung, die ich nicht teilen kann und auch dem Soziologen nicht zubilligen kann. Es ist die Voraussetzung, daß die Philosophie in der Welt nur als eine besondere Einrichtung vorkommt, die man unter gesellschaftstheoretischen Gesichtspunkten kritisch betrachten und am Ende in ihrem Erkenntnisanspruch grundsätzlich entlarven müsse. Mir wird ganz seltsam zumute, wenn ich solche Fragen an die Philosophie gerichtet sehe. Das klingt so, als ob es eine besondere Art von Leuten auf der Welt gibt und vielleicht geben müsse, die Philosophie betreiben. Das ist nicht wahr. Alle Leute treiben Philosophie, nur meistens noch schlechter als die sogenannten Philosophen. Das setzt in meinen Augen die ganze frage, die der Soziologe nicht an alle und vor allem nicht an sich selbst richtet, sondern nur an die sogenannten Philosophen, bereits in eine mißliche Ecke. Soweit in unserer organisierten Wissenschaftswelt Philosophie als eine Sonderdisziplin vielleicht als eine Institution, die aus Professoren besteht, heute mehr am Rande des wissenschaftlichen Kosmos - in Frage kommt, mag man die Kompetenz des Soziologen nicht ganz bestreiten. Aber soweit Philosophie im Gleichschritt mit Kunst und Religion jenseits der Wissenschaftskultur der Neuzeit weltweite Aufnahme und entsprechende Antworten erfahrt, sollte sich der Soziologe überfordert fühlen. Die Menschen stellen allerorts philosophische Fragen, auf die zu antworten niemand in der Lage ist- nach dem Anfang von allem, nach dem Nichts, nach der Zukunft, nach dem Tode, nach dem Sinn des Lebens, nach dem Glück. Offenkundig gibt es im Menschen als solchem eine Leidenschaft solchen Fragens und nicht nur bei den professionellen Philosophen. Indem ich von dieser Grundvoraussetzung ausgehe, folge ich selbst keiner besonderen Philosophie. Ein solcher Weltbegriff von Philosophie- um mich mit Kant auszudrücken - bezeichnet eine menschliche Naturanlage, die uns Menschen von jeher auch fur die von den Religionen angebotenen Antworten empfanglieh macht. Der Schulbegriff von Philosophie ist demgegenüber in Wahrheit nicht interessant. Verglichen mit der Passion des Denkens und der Unruhe des Fragens im Menschen, ist dieser Schulbegriff wie alle Schule etwas Sekundäres. Nun gehört gewiß zu den menschlichen Grundfragen auch die Frage nach der Zukunft der eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse und die Sorge um das persönliche, individuelle Lebensglück Die Frage nach dem rechten Leben ist seit Solerates gefragt worden, der kein Professor der Philosophie war, und er hat diese Frage so beharrlich gefragt, daß er ganz gewiß zustimmen würde,
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daß im Grunde jeder Mensch diese Frage fragt, wenn er auch im geheimen ihr ausweicht und sich durch Antworten ständig entzieht, die er aufbietet, statt sich selber seinen Fragen auszusetzen. Wenn wir das anerkennen, so sieht man sofort, \Vie die Passion des Fragens, ob sie die Zukunft der Menschheit oder das Glück des einzelnen oder ob sie das schreckensvolle Geheimnis des Todes betrifft, einer uns ständig in Frage stellenden Unwissenheit begegnet. Gleiches gilt für die Herkunft, von der wir alle in einer Weise vorbestinunt sind, die wir nicht gewählt haben. Das gleiche gilt von den Vergangenheiten, die nicht einmal ein Gott ungeschehen machen kann. All das begleitet den Prozeß der Sozialisation, wie man das heute nennt, durch den wir von der Triebhaftigkeit der frühesten Kindheit an, durch Erziehung und Regelung des gesamten Lebenshaushaltes und dann schließlich durch Erlernung und Gebrauch der Sprache, in die Gesellschaft eingeformt werden. Angesichts dieser Sachlage muß man sich, meine ich, fragen, warum derjenige, den es zu solchen philosophischen Fragen treibt, die keine Wissenschaft beantworten kann, als Professor der Philosophie eine besondere Eignung haben soll, die Aufgaben des Tages besser zu durchschauen oder gar zu lösen. Es wundert mich immer, warum der Philosoph, im Schulsinne des Wortes, hier eine besondere Einsicht haben soll, die andere nicht haben, und daß er deswegen vielleicht sogar besondere Verantwortung trage, \vie man uns gern zumutet. Muß man nicht sehen, daß in diesem Sinne der Geistliche, der Arzt, der Schullehrer, der Richter oder gar der Journalist einen weit stärkeren Einfluß ausübt und daß er deshalb fiir heute und morgen eine weit größere Verantwortung trägt? Man erinnert sich, daß Heidegger einmal gefragt worden ist: »Wann schreiben Sie eine Ethik?• Als einjunger Franzose, Beaufret, diese Frage an Heidegger nach dem Kriege richtete, hat Heidegger ausführlich darauf zu antworten versucht. Der Sinn seiner Antwort war, daß man so nicht fragen kann. Als ob es die Aufgabe des Philosophen sein könne, jemanden ein Ethos zu >lehren<, das heißt eine gesellschaftliche Ordnung vorzuschlagen oder zu rechtfertigen oder eine Formung der Sitten und Prägung der allgemeinen öffentlichen Überzeugungen zu empfehlen. Das sind in Wahrheit Bildungsvorgänge. die offenkundig seit langem im Gange sind und einen jeden von uns geprägt haben, bevor die radikalen Fragen im Menschen aufkommen, die man der Philosophie zuzuweisen pflegt. Der Konflikt liegt im Menschen selbst, seinem Fragen und seinem Irren, und nicht zwischen dem spezialisierten Wissen irgendwelcher Fachleute und der sozialen Realität des praktischen Lebens. Wir sind als Menschen so aus der Naturordnung herausgedreht, daß uns kein naturhaftes Ethos bestimmt. Das Wort Ethos meint im Griechischen die Lebensweise, gerade auch die des Tieres, die ihm von der Natur zugeteilt ist. Bei den Tieren sind ihre Gewohnheiten durch instinkthafte Steuerung von so eindeutiger Übermacht beherrscht, daß ihr Verhalten unwiderstehlich geprägt ist.
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Ich habe einmal eine Erfahrung gemacht. Es war ein schlechter Sommer. Ein Schwalbenpaar hatte auf unserem Balkon genistet. Für die zweite Brut war es schon reichlich spät geworden. Da erwies sich der Wandertrieb der Schwalben als stärker gegenüber dem machtvollen Brutinstinkt der Vögel. Das Elternpaar hat die armen kleinen Tiere verhungern lassen. Wir fanden später die Knochen im Nest. So stark durchwalten die Natur und ihre Ordnungen die Verhaltensweisen der übrigen Lebewesen. Wir Menschen kennen keine so eindeutige Herrschaft unserer Instinkte. Wir besitzen >Wahlfreiheit<, wenigstens wie es uns scheint und wie wir es daher nennen mögen. Die Griechen hatten dafi.ir den Ausdruck Prohairesis. Das ist die Freiheit, sich so oder anders verhalten zu können. Dazu gehört eben auch, fragen zu können, Möglichkeiten zu sehen, auch solche, die sich vielleicht gar nicht verwirklichen lassen. Wer keine Phantasie hat, Möglichkeiten zu sehen, wird freilich auch nicht so leicht irren. Daher würde ich nicht nur von Heidegger oder von den sogenannten Philosophen, sondern vom Menschen als solchem sagen, ein jeder findet sich dem Irrtum ausgesetzt und verfällt vor allem seinen eigenen geheimen, ihm selbst verborgenen Wünschen von Glück oder den schimmernden Träumen von Erfi.illung des Lebens. Das bestimmt eines jeden Einschätzung der eigenen Lebensverhältnisse und seiner Beziehungen zu den Mitmenschen. Wir alle befinden uns in der Gefahr, Illusionen zu hegen und uns zu verrennen. Auch der Arzt ist ja sich selber zu nahe, um sich selbst zu behandeln, und der Angeklagte, sich selbst zu verteidigen. Im Grunde gilt fur alles Wissen, daß seine konkrete Anwendung eine besondere Gabe verlangt, die nicht in dem erlernbaren Wissen als solchem liegt. Es gehört zu den Einseitigkeiten der Wissenskultur der Neuzeit, daß wir die Eigenständigkeiten des praktischen Wissens verkennen. Der Philosoph, dem man im Schulsinne eine bestimmte Kompetenz zuspricht, unlösbare Fragen zu formulieren, und der nun auch das Glück hat, Lösungen wenigstens vorzubereiten, mag als weise gelten. Aber er ist doch vor Irrtum und Verkennung der Lage der Dinge nicht geschützt, und das im besonderen in eigener Sache. Nun kann man gewiß sagen, daß der >Philosoph< insofern eine besondere Verantwortung trage, als er, ob er will oder nicht, als Lehrer oder als Denkvorbild Wirkung tut. Man wird aber nicht in Abrede steilen können, daß auch Vertreter anderer Wissenschaften, und nicht nur die sogenannten Philosophen, in dieser Lage sind, insbesondere wenn deren eigene Wissenschaft mit den Problemen des realen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens zu tun hat. Man würde sich freilich täuschen, wenn man glaubte, daß es in solchen Fällen die wissenschaftliche Kompetenz allein wäre und nicht so sehr die eigene Vernunft, die einer als denkender Mensch hat und die ilm praktisch denken lehrt. Umgekehrt mag jemand imponieren, der dank seiner philosophischen Denkkraft einem überlegen scheint - und so ist es mir etwa mit der
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Denküberlegenheit gegangen, die mir in Heidegger begegnet war. Da mag
das einen auch in die Irre führen, und ich will nicht leugnen, daß die mächtige geistige Wirkung Heideggers seinerzeit manchen zu einer Fehlsteuerung in seiner Beurteilung der praktischen und politischen Dinge bestimmt hat. Aber im Denken trägt wie im Leben ein jeder seine Verantwortung selber. Wenn das, was wir als Philosophen - im Schulsinne des Wortes - gelernt haben, und das ist, Fragen zu stellen, die einen jeden bedrängen, ohne daß es uns Menschen gegeben ist, auf sie bündige Antworten zu finden, dann mag man das mitJaspers >Existenzerhellung< nennen. Es mögen einem so die Grenzen der wissenschaftlichen Aufklärung bewußt werden. Die Fähigkeit, Handlungsziele richtig zu sehen, die auch tunlieh sind und sich in die Wirklichkeit umsetzen lassen, ist gleichwohl etwas sehr anderes. So kann es geschehen, wie es im Falle Heidegger war: Ein Mann, dessen Denken ein halbes Jahrhundert in den Bann geschlagen hat und der eine unvergleichliche Suggestionskraft ausstrahlte, der als Denker hinter allem menschlichen Verhalten zu Mensch und Welt den Sorgecharakter des Daseins ins Licht gestellt hat und die davon unabtrennbare Verfallensgeneigtheit, konnte trotzdem sich in seinem eigenen Verhalten an Illusionen verlieren. Heidegger hat das selber an sich erfahren, und das war es , was er durch sein späteres Schweigen eingestanden hat. Es wäre doch für ihn vielleichter gewesen, seinen politischen Irrtum einzugestehen, zumal er denselben und überhaupt seine Illusionen über die nationalsozialistische Bewegung schließlich erkannt hatte - als es zu spät war. Was ihn gehindert haben mag, ein solches Eingeständnis öffentlich abzulegen, war wohl vor allem die schlechte Gesellschaft, in die er damit gekommen wäre. Auch hat er gewiß befürchtet, was ja auch prompt einzutreten scheint, daß man glaubt, seine philosophischen Einsichten ignorieren zu dürfen, weil er einen solchen Irrtum begangen hatte. Da mag ihm die Weltgeschichte, also die Entwicklung nach dem ersten Kriege, die Einheit des europäischen Schicksalsweges von den Griechen bis zur Technokratie von heute, als eine nicht gerade widerlegte Einsicht vorgekommen sein. Gewiß war es nicht so, daß er als Denker und als Lehrer nicht weiterhin seinen eigenen Visionen gefolgt wäre. Das zeigt sich auch durch all die Jahre in seinen Vorlesungen, die inzwischen zum Teil gedruckt vorliegen. Es gilt ebenso ilir die Jahre nach dem Ende des Tausendjährigen Reiches. An seine Vision eines richtigen Weges ilir die Menschheit blieb er innerlich gebunden, auch nachdem er eingesehen hatte, daß der Nationalsozialismus und seine Führung durch Hit! er alles andere war als ein solcher Schritt auf dem Wege zu jener Umkehr, die ihm als die wahre Menschheitsaufgabe vorschwebte. Wir sollten uns nicht wundern, daß ein Mann mit überlegener Denkkraft irrt. Wer denkt, sieht Möglichkeiten. Wer starke Denkkraft besitzt, der sieht
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Möglichkeiten mit greifbarer Klarheit. Er sieht leicht auch etv:as wie wirklich, was er sehen möchte und wo in Wirklichkeit alles ganz anders war. Wie viele andere hatte schon der junge Heidegger in seiner eigenen gesellschaftlichen und politischen Umwelt und insbesondere im damaligen Universitätsleben Mißstände und Niedergang klar gesehen. Das war ftir Deutschland nach dem Zusammenbruch des ersten Weltkrieges und einer importierten Demokratie, ftir die die Deutschen wenig vorbereitet waren, unübersehbar. Es ist bekannt, was damals an Zerrungen und Irrungen, Gewalttaten, Fememorden, Putschversuchen und Schiebungen in der Weimarer Republik alles geschah. Auch als diese Staatsordnung ihre Konsolidierung erfuhr, auf Grund der Depossedierung des sogenannten bürgerlichen Mittelstandes und der Entstehung eines intellektuellen Proletariats, das mit früheren Ansätzen dessen überhaupt nicht vergleichbar w·ar, konnten die Deutschen in Wahrheit nicht auf eine offene Zukunft vorausblicken, solange ihnen nicht durch einen Friedensvertrag und seine festgeschriebenen ökonomischen Bedingungen vernünftige Lebensaussichten und Arbeitsziele eröffnet waren. Auch die Engländer haben später eingesehen, daß das zur extremen Radikalisierung einer arbeitslos gewordenen Nation beitrug. Heidegger sah das alles auch. Aber er sah es im überdimensionierten Maßstab der Menschheitsgeschichte, und daraus folgerte er die Forderung einer radikalen Umkehr, die kommen müsse - und das glaubte er im Jahre 1933 zu sehen. Es kann kaum verwundern, daß solche Verstiegenheit in einem großen Denker geschehen konnte. Dagegen scheint es mir zu verwundern, daß man den Philosophen immer >vieder vor die Frage nach einer Ethik stellt. Ich muß darin ein Not<>ignal oder gar ein Armutszeugnis der bestehenden Gesellschaft sehen, wenn man einen anderen fragen muß, was ehrenhaft ist, was anständig ist und was menschlich ist. Und v..-enn man von jemand anderem, dem sogenannten Philosophen, darauf Antwort hören will. Da verrät sich nur, daß die Gesellschaft orientierungslos gew-orden ist. Es ist natürlich nicht die Schuld dessen, der von anderen so etwas wie Rat erwartet. So zu fragen ist begreiflich. Es bleibt aber ein unauflösliches Verhältnis zwischen der Prägung, die die Menschen von früh an empfangen und was sie alle in der Gesellschaft. in ihrer eigenen Natur und in ihrer geschichtlich gewordenen Bedingtheit erfahren- und andererseits der Frage nach dem Guten. die man immer nur in concreto sich stellen muß, wenn man dies oder jenes ins Bessere wenden möchte. Wie kann man überhaupt anders nach dem wahren Guten fragen? Die erste Voraussetzung ist, daß man die Frage an sich selber stellt und daß man bei der Frage nach dem Guten nicht nur an sich selber denken darf. Man kann aber nicht an die Stelle eines anderen treten und kann niemanden dazu bringen, Empfehlungen, Vorschläge, Ratschläge oder gar Vorschriften anzunehmen, die er nicht selber sieht und einsieht. Es gibt keine konsiliatorische Ethik. Wenn darum Beaufret Heidegger gefragt hat: ~wann schreiben Sie eine
Über die politische Imkompetenz der Philosophie Ethik?~.
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so war der Grund einfach der: Der junge Franzose hatte in )Sein und Zeit< ein so starkes radikales geistiges fragepotential erkannt, daß er von Heidegger glaubte, er müsse in der bedrohlichen Situation helfen können, in der sich die Menschheit nach den Verwüstungen am Ende des ersten Weltkrieges befand. Es ist wahrlich nicht die spezifische Aufgabe der Philosophie, die damit Heidegger gestellt wurde. Die Imperative der Klugheit sind an jeden Menschen gestellt. Das ist etwas, was in Deutschland fehlte. Es war ein Land, das keine Revolution und keinen Sturz von Autoritäten gekannt hatte und Unterordnung gewohnt war. So wurde unsere politische Unreife uns zum nationalen Verhängnis. Es war Ausdruck dieser sonderbaren Entpolitisierung gewesen, die Max Weber im damaligen Deutschland nötigte, den Ausdruck Nerantwortungsetbik< zu prägen. Als ob Verantwortlichkeit nicht der Kern aller Ethik wäre! Jedenfalls ist Ethik keine Frage der bloßen Gesinnung. Sie meint auch das wirkliche Verhalten und damit die Verantwortlichkeit fur die Folgen des eigenen Verhaltens und Unterlassens. Die )Gesinnungsethik<, die man aus Kant- übrigens zu Unrecht- herauslas, war in Wahrheit Ausdruck politischer Schwäche und eines Mangels an politischer Solidarität. An dieser Schwäche krankte die autoritätsgewohnte bürgerliche Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland. Es war wohl auch eine Schwäche der protestantischen Kirche, daß sie der Obrigkeit eine Art religiöser Autorität verlieh und damit die kritischen Aufgaben der Intelligenz vernachlässigen ließ. Das kam der Entpolitisierung der Intelligenzschicht entgegen. So kam es, daß die Säkularisation sich auf das religiöse Pathos des Glaubens stützte und sich auf die Gesinnungs- und Gewissensfrage versteifte. Die Verantwortung, die wir alle tragen, erfährt am Ende jeder an sich selber und verbirgt er vor sich selbst. Ich habe inzwischen einmal. wieder Franz Kafkas )Prozeß• gelesen. Da finden wir eine wunderbare und beklemmende Beschreibung, wie die sogenannte Schuldlosigkeit schuldig macht. In solchen Lebensverhältnissen kann uns vielleicht der Philosoph helfen, die Fragen besser zu formulieren, die uns alle bewegen. Aber er kann nur in dem Sinne mithelfen, daß er weiß und auch den anderen zeigen kann, wie sehr wir vor Aufgaben stehen, die zu lösen jedenfalls nicht eine Aufgabe nur der anderen sein wird. Niemals ist nur der andere schuld.
5. Hermeneutik und Autorität- eine Bilanz 1 (1991)
Autorität in der Hermeneutik - das war die erste große Herausforderung beim Erscheinen meines Buches •Wahrheit und Methode< (11960). Ich erinnere mich, wie Habermas - der an sich das Buch besonders schätzte, weil es ihm fur gewisse Überlegungen seiner eigenen Reflexionskunst Hilfen bot mir eines Tages sagte: ••Das mit der Autorität, das ist hart«. Ich war erstaunt, warum? Ich kam gar nicht darauf, daß man etwas, was beschreibt, als eine Begritfsanalyse vorlegt, für eine Option, ft.ir oder gegen etwas, halten kann. Für mich war es selbstverständlich zu fragen: Was ist das eigentlich, das man >Autorität< nennt? Daß es Autorität gibt, mußte ich nun freilich in meinen Überlegungen mit Festigkeit behaupten. Denn das Vorhandensein von Autorität hängt nicht davon ab, ob man fur oder gegen sie ist. Die Pointe meiner Darlegungen war, daß das >alte Rezepte (durch die Methodenlehre des 17.Jahrhunderts aller modernen Wissenschaftlichkeit zugrundegelegt) von der vorurteilsfreien Art des Vorgehens, von der Ausschaltung des subjektiven Momentes - das in Vorurteilen im allgemeinen wirksam ist - das eigentliche Wesen der neuen wissenschaftlichen Aufklärungsbewegung ausmachte. So war ich also schon durch dieses erste Stutzen von Habermas und der dem Thema gewidmeten Diskussion im •Engeren Kreis< der •Allgemeinen Gesellschaft fur Philosophie in Deutschlande genötigt, zunächst einmal klar zu machen, was ein Verhältnis zu Begriffen ist, um zu verstehen, was ich als Thema im Zusammenhang von >Wahrheit und Methode< zu verteidigen hatte. Es ist sicherlich richtig, daß die Aufklärungsbewegung der Neuzeit und ihr wissenschaftliches Gewissen darauf beruhen, daß man Vorurteile und damit auch bloße Berufung auf Autoritäten nicht gelten läßt. Es gibt ein berühmtes Beispiel, dessen traditionelle, >autoritative Lösung< bis in die beginnende Neuzeit gegolten hat (ich kann es leider nicht genau zitieren): Wieviele Beine hat eine Fliege? Aristoteles, die Autorität, hat das Falsche gesagt und behaup1 Der Beitrag basiert auf einem Gespräch mit Hans-Georg Gadamer am 30. Oktober 1991 im Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg. Die Transkription des Gesprächs besorgte RalfKaczerowski, die Redaktion der von Hans-Georg Gadamer autorisierten Druckfassung oblag den Herausgebern
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tet, die Fliege hätte acht Beine. In Wirklichkeit hat sie nur sechs. Die verkehrte Anzahl wurde gegen allen Augenschein immer wieder im scholastischen Unterricht aufgrund der Autorität des Aristoteles falsch gelehrt. Das ist ein besonders lustiger, extremer Fall, an dem man sieht, wie einmal Wissenschaft strukturiert war. Man ließ maßgebliche Lehren unangetastet und verteidigte sie selbst gegen alle Beobachtung. Bei Galilei ist dieser Sachverhalt im Dialog über die beiden Weltsysteme in einer berühmten Weise vorgefuhrt worden. Dort wird ein Simplicio, ein an die Autoritäten (resp. Schriftautoritäten) Glaubender erfunden und als Partner des Gesprächs eingefuhrt, der- wiederum unter Berufung auf Aristoteles, bei dem es >anders< stehe - sich weigert, durch Galileis Fernrohr zu schauen. Als ich an die hermeneutischen Fragestellungen neu herantrat, befand ich mich in der Welt unserer Moderne, in der man nicht mehr so blindlings den Objektivitätsgedanken als selbstverständliches und unerschütterliches Kennzeichen von Wissenschaftlichkeit gelten lassen konnte. Die Physiker selber fingen an, davon zu erzählen, daß doch der Meßvorgang als solcher ein Eingriff in das Gemessene sei und schon darum eine reine Objektivierung des Meßgegenstandes unmöglich mache. 2 Wir haben es nun freilich hier nicht mit Physik zu tun, geschweige denn mit Mikrophysik, in der tatsächlich Meßvorgänge schon Eingriffe in das System, das man beobachtet, herbeifuhren. Wir haben es in der Tat mit ganz anderen Komponenten zu tun, wenn wir etwa so komplexe Dinge wie gesellschaftliche Vorgänge oder wirtschaftliche Zusammenhänge oder das Verständnis von Texten und Überlieferungen im Auge haben. Hier muß man sich eingestehen, daß es den Nullgrad von Beteiligtheit einfach nicht gibt. So kam ich zu der Behauptung, die auch heute noch immer sehr verblüfft, daß ich von den legitimierten oder legitimierbaren Vorurteilen spreche. Das läßt sich natürlich am besten an der Rolle veranschaulichen, die Autorität im gesellschaftlichen Leben spielt, nicht in der wissenschaftlichen Debatte zwischen den Physikern, sondern in der praktischen Erfahrung des Lebens. In deren Zusammenhängen kann man nun keinen Augenblick zweifeln, daß Autorität die Grundlage aller Erziehung ist. Es ist ganz ausgeschlossen, Kinder zu sozialisieren, so daß diese sich schon früh den Vorschriften, die sie von ihren Eltern empfangen, überlegen fuhlen und meinen, es handle sich um Vorurteile, etwa daß man beim Sprechenlernen so und nicht anders redet, und daß dies falsch und jenes richtig ist. Ich selber bin ein überzeugter Kritiker jeder allzu rigiden Form der Regelung, und so auch in der Erziehung. Aber, es ist- in welcher Form auch immer- ein Autoritätsverhältnis, das schon zwi~ So die berühmte Heisenbergsche Unschärferelation, die in der Kopenhagener Deutung
der Quantenphysik zwar immer wieder angefochten und doch bisher durch alle Anfechtungsversuche bestätigt wird.
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sehen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern, und amEndein jedem Berufszweig, in jeder geordneten Kooperation von Menschen eine Rolle spielt. Einer ist in irgendeiner Sache eine Autorität fur den anderen. Das meint nichts als die vernünftige Anerkennung, daß der andere an Sachkenntnis einem überlegen ist. Ich sehe die Gefahren, die selbst in dem Bestehen solcher Autorität liegen, sehr genau. Ich beneide etwa immer ein wenig die Dreijährigen um den Reichtum an sprachlicher Phantasie und schöpferischer Neubildung von Worten, die dieses Lebensalter auszeichnen. Da ich obendrein ein großer Liebhaber moderner Lyrik bin, finde ich in ihr dieselbe enorme Freiheit wieder: gegen die Grammatik und gegen die Syntax und gegen den üblichen Sprachgebrauch - ein großes neues Kunstmittel moderner Lyrik. Ich habe über Paul Celan ein erläuterndes Büchlein geschrieben, eben um zu zeigen, wie hier eine dichterische Freiheit am Werke ist, bei der man nicht mehr mit den Regeln der Syntax und der Grammatik arbeitet, sondern -wie Adorno das genannt hat - durch Parataxe, oder - wie ich es nenne - wo man der Gravitationskraft von Worten folgt, die auf diese Weise zu Sinneinheiten zusammentreten, ohne durch ausdrückliche semantische Mittel miteinander verbunden zu werden. Das Beispiel zeigt, wie Phantasie zum Sprechenlernen gehört und wie eine Computerwelt und eine von Massenmedien beherrschte Welt es der Phantasie schwer machen, am Leben zu bleiben. Das ist der Punkt, der mich schon immer an dem ganzen Problem der sogenannten Geisteswissenschaften interessiert hat, daß man sie offenbar falsch deutet und ihnen eine Methodenlehre aufzwingen will, die einem gänzlich anderen Zusammenhang entstammt, eben dem der quantitativen Meßmethoden der modernen Naturwissenschaft. Um hier die hervorragenden Arbeiten und die theoretische Problemhöhe, die Niklas Luhmann in seiner Systemtheorie entwickelt hat, zur Sprache zu bringen- es ist sehr leicht, zu zeigen, daß die Systemtheorie zwar Selbstregelungssysteme beschreibt und insofern eine notwendige Härte in den Konununikationszusammenhang bringt. Gleichwohl geht man mit Systemen um, ohne selber ein Glied dieses Systems so schon zu sein. lm Schreiben haben wir mit einem solchen System zu tun, das von der roten Tinte des Schullehrers geregelt ist. Der streicht die Fehler an, und das ist selbstverständlich vernünftig und notwendig, aber \vahrlich keine Erziehung zu sprachlicher, schöpferischer Kraft. Der Zauber, den kleine Kinder durch ihre Spracherfindungen ausüben können, mahnt uns daran, was wir preisgeben, wenn wir uns dem Schulzwang der Grammatik unterwerfen. Viel schlimmer war das in meiner Jugend- oder ist es noch heute - im Zeichnen- und Kunstunterricht. In der bildenden Kunst kennt man das Problem als die Anrüchigkeit der Akademiezeit, von der sich der werdende Künstler anfangs sozusagen manipulieren läßt, durch Nachahmung und durch Anweisung des unterrichtenden Meisters. Auch hier wird man nicht diese erste Hinnahme von Regelungsvorschriften
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oder Annahme von Vorbildern fi.ir das Ende alles Lernens halten. Ich schweife nicht etwa von dem Hauptthema ab, wenn ich von diesen beiden Beispielen ausgehe. Sind es doch Paradebeispiele dafi.ir, wie sich Notwendigkeiten unseres gesellschaftlichen Lebens - die man sehr gut mit der Systemtheorie von Niklas Luhmann beschreiben kann- auswirken und uns aufSchritt und Tritt in unseren spontanen Regungen hemmen oder lenken. Trotzdem ist es ja offenbar so, daß wir- \venn ich auf diesem Gebiete bleiben darf- Vorbilder finden, denen wir, ohne es zu merken, folgen. So folgen wir etwa einem großen Stilisten oder der Sprache eines Lehrers. Als Schüler von Heidegger kannte ich die sogenannte >Heideggerei•, sah ich- selber ein jüngerer oder älterer Student-, wie Kommilitonen das frisch gelernte Heideggerdeutsch in irgendeinem anderen Seminar auf den armen Professor losließen, der wirklich nicht wußte, wovon diese da redeten. Von solchen Imitationen und von solcher Auslieferung an im Grunde unkommunikative Jargonbildung ist ein jeder bedroht. Umgekehrt kennen wir die prägende Vorbildnahme und mit ihr etwas, was man nicht als autoritativ ergangene Anweisung oder Vorschrift verstehen darf, der man vielmehr folgt, weil sie uns plötzlich eine neue Freiheit in der Selbstgestaltung eigener Redeweise oder Denkweise oder sachgemäßer Begritllichkeit öffnet. Dergestalt frage ich mich, was Autorität in solchem produktiven Sinn bedeutet. Wir stehen eben immer schon in Zusammenhängen, in denen man sich plötzlich erkennt und zu denen man sich bekennt. Der Zusanm1enhang, in dem man ohnehin steht, ist: Man macht in Wahrheit keine Beobachtung, man gewinnt keine Erfahrung, ohne von Envartungspotentialen gesteuert zu sein - aber wo kommen diese her? Bloße Reaktionen einzuüben ist kein Lernen. Dies ist das große problematische Schicksal unserer industriellen Welt. daß Lernen kein Lernen mehr ist. Kürzlich hatjemand gefragt, was wir jetzt eigentlich auf der Schule an Sprachen in dieser so verkommenen Bildungssituation der östlichen Länder unseres Vaterlandes lernen sollten. Der betreffende Fachmann sagte: Wir brauchen nicht Englisch oder gar Latein, sondern vor allen Dingen die Computersprache. Das scheint fi.ir die wirtschaftlichen Aufbauaufgaben vollkommen richtig. Nur ist die Computersprache leider keine Sprache. Sie ist ein Signalsystem, sie ist ein >Knopfdrückersystem<, sie ist alles mögliche von außerordentlicher Zweckmäßigkeit. Aber sie ist wirklich nicht gerade anregend fi.ir die v;issenschaftliche oder die gesellschaftliche oder die künstlerische Phantasie. Wir erkennen an dieser Erfahrung die wahren Aufgaben unserer Zivilisation, deren steigende Durchregelung des Lebens eben die bekannte Max Webersehe Prognose - steigende Bürokratisierung - irnn1er mehr bestätigt. Man macht etwas, weil man es immer so macht. Das ist das letzte Argument in allem Venvaltungsdenken und das Grundschema aUer Bürokratie. Dagegen glaube ich meinerseits, daß wir alle produktiven Möglichkeiten, die die Menschen im Umgang miteinander besitzen, in Wahrheit ins
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Spiel bringen und fördern sollten, wenn wir nicht einfach abgerichtete >Kleinrnaschinchen< werden wollen. Alle Erziehung muß doch letzten Endes dahin zielen, im Kind und im Erwachsenen und auch im Lernenden die produktiven Kräfte wach zu halten. Darum meine ich, wir brauchen in einem ganz anderen Sinn Vorbildnahme und Autorität, die fur uns dann eine bildende Wirkung ausübt, und nicht das Vorbild der Maschine. Jeder Akademiker hat, so glaube ich, auf seiner vielleicht guten, vielleicht schlechten Schule einmal einen Lehrer gehabt, den er bewundert und geliebt hat, und den er als Vorbild wählte. Ich kann es von mir selber erzählen. Ich hatte auf der Schule während des ersten Weltkriegs schreckliche >alte Pauker<. Die junge LehrerGeneration war als Soldaten im Feld. Die alten Pauker konnten uns natürlich nicht begeistern- aber einer war darunter, der war besser. Das war zufallig ein Linguist, ein Namensforscher, ein glänzender Lehrer. So begann ich meine Studien in Germanistik, wofi.ir ich absolut kein Talent hatte (ich will das nicht pauschal sagen: fi.ir die Irlhalte der Literatur hatte ich schon Talent, aber nicht fur die eigentliche sprachwissenschaftliche Seite). Hier hatte ich mir eine Autorität aufgebaut, der ich gefolgt bin. Da zeigt sich dann dieser >Irrweg<, den man durchmacht, bis man arn Ende das findet, was fiir einen selbst das richtige ist- und nun bewundern wir die Lehrer fur ihre vorbildliche Haltung und ihr vorbildliches Können. So bildet sich Autorität und so lernt man lernen. Lernen ist letzten Endes doch immer ein solches, das eine neue Freiheit verspricht und am Ende gewährt. Wie kann man die Notwendigkeit einer Freiheitermöglichenden Autorität mit der Durchregelung aller Dinge unserer Welt in Einklang setzen? Wir alle kennen es aus der Verkehrspsychologie: Die Folgen am Blechmaterial unserer Autos waren fi.ir uns in Athen und in Rom sehr sichtbar. Aber die wirklichen Unfalle sind dort seltener als bei uns. Wer so geschickt durch die Welt wie durch den Verkehr kommen will, der muß in einem derart weitreichenden System von Regeln neue Wachsamkeit lernen und - Urteilskraft üben. In dem Umfang in dem wir heute in die industrielle Gesellschaft hineingeformt werden, wird der produktive Sinn aller Regelung, die Freiheit des Urteils, offenkundig bedrängt. Ich glaube, daß gerade auch die systemtheoretische Durchgliederung unserer Lebenssysteme es ermöglicht, daß man geschlossene Systeme von anderer Herkunft in neue Zusanunenhänge hineinholt. Das heißt, im Grunde genommen kann gerade die Systemtheorie ein Weg sein, bei dem es darauf ankonunt, in einer Welt, in der Regelungen immer mehr beherrschender werden, die eigentlichen Kräfte der Einbildungskraft, der Kenntnisnahme und des Könnens zu entwickeln. Ich habe mich in dieser Freude des Könnens davon überzeugt: Wir müssen Überlieferung, die uns bestimmt und die wir nicht rational beherrschen, gleichwohl gelten lassen. Das tut jeder, der eine Autorität in seinem Leben anerkennt. Ich verstehe den Widerstand von politisch progressiv denkenden Menschen, daß sie fUrchten,
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wenn man so denke, würde alles >beim Alten bleiben<. Ich halte es fiir völlig irrig, daß die Hermeneutik in diesem Sinne etwas mit konservativen Tendenzen unserer Politik zu tun hat. Man kann alles seinen politischen Zwecken unterordnen - das nennt man nämlich Politik, daß man Dinge, die zu anderen Zwecken da sind, nun zu Zwecken des Kampfes um die gesellschaftliche Machtordnung einsetzt. Aber Erkenntnis, wenn sie eine wirkliche Erkenntnis ist, gibt Freiheit. So war mir klar geworden, daß in den Geisteswissenschaften Begriffe etwas anderes sind als in der BegriffSbildung und in der Arbeitsweise der Naturwissenschaften. Irgendwo hatjedes Wort noch etwas von einer Wirkungsgeschichte in sich, und dieses vielfaltige Mittönen von Geschichte und Erfahrung unterscheidet gerade von den präzisen Bezeichnungskonventionen, mit denen sich Mathematik und deren Anwendung auf die messenden Naturwissenschaften kommunikabei machen. Es ist deswegen ein ganz verrückter Mißverstand, daß der Laie noch immer glaubt, die Philosophie sei nur etwas, wo man definiert. Nein, so einfach haben wir es nicht, daß uns etwas gegeben ist und wir nun- als ob wir uns an dem orientieren könnten, das uns gegeben ist - Begriffe definieren, so wie man etwas mit einem Kennzeichen versieht, um es sofort immer wiedererkennen zu können. Nein, so ist es auch fiir uns nicht mit der Autorität, daß sie die Instanz wäre, Weisungen zu geben. Sprechen ist eingebettet in ein ständiges System von Handlung und Gegenhandlung, von kritischer Frage und gewagter Antwort, in welchem die gelassene Anerkennung von Autorität neue und gelassene Freiheitsgrade hervorbringt. Sokrates, wie Aristoteles sagt, hat die Definition eingeftihrt. Jawohl, zur Erkenntnis unseres Unwissens.
6. Über das Hören (1998)
Was soll ich zu dem Thema über das Hören als Philosoph etwas sagen? Ich bringe meinerseits das denkende Verständnis mit, das man die Lebenswelt nennt. Ich gebrauche damit ein Wort von Edmund Husserl, ein wunderschönes Wort, das inzv•ischen in alle möglichen Sprachen eingegangen ist, obwohl es dort kaum fiir ein eigenes Wort in anderen Sprachen Anknüpfungspunkte gibt. Für deutsche Ohren betont das Wort, daß wir hier nicht nur von der Wissenschaft reden wollen. So habe ich auch beim Thema des Hörens nicht in erster Linie eine Frage der Methodenlehre der verschiedenen Wissenschaften im Auge und auch nicht Lessings >Laokoon<. Es ist der Alltag, der zwischen den Menschen spielt, der dabei gegenwärtig sein soll, genau so gegenwärtig, wie das Ohr für Musik sein muß und im Grunde so gegemvärtig wie alles, was unsere geistige Wachheit auszeichnet. So bin ich mir schon zu Beginn be\-...ußt und muß es auch eingestehen, daß wir uns mit diesem Thema zunächst gegen den weltgeschichtlichen Primat des Sehens behaupten müssen. Er spielt im Bereich der Philosophie und ihrer Begriffsbildung die fuhrende Rolle. Wir erinnern uns auch sofort an die ersten Sätze der aristotelischen Metaphysik, die den Vorzug des Sehens gegenüber allen anderen Sinnen hervorhebt. Das ist die berühmte Okularität der Griechen, die in gewisser Weise ftir unsere ganze humanistische Kultur ein Vermächtnis darstellt, das ihre Begrifflichkeil trägt. Von den Griechen an trägt es über die lateinische Wendung alles Bildungswesen bis in die Neuzeit und die Nationalsprachen der Neuzeit. Was steht nun im Gegensatz zu diesem Vorrang des Sehens? Ist es das Wort oder ist es die Stimme? Aber ist die Stimme nicht doch etwas anderes? Aristoteles hat den Vorrang des Sehens darin gesehen, daß es die meisten Unterschiede sichtbar macht, nämlich das Ganze der sichtbaren Welt. Aber Aristoteles hat an anderer Stelle hervorgehoben, wer häre, höre damit noch etwas mehr, nämlich auch das Unsichtbare und alles, was man denken kann -weil es die Sprache gibt. Das ist nicht nur die Welt, was man sehen kann, es ist das Universum, was man zu verstehen sucht, und auf dem Hintergrund dieses Gegensatzes beginne ich meine Darlegungen, indem ich das Gegenüber von Okularität und Stimme herauszuarbeiten suche. Damit ist sofort klar, daß hier nicht das Hören in derselben Weise gemeint
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ist, in der man von dem Sinn des Sehens spricht. Das Hören ist nur in einer bestimmten Funktion überlegen. Wenn das Hören das gesamte Universum dessen umfaßt, was man denken kann, dann meint das doch die Sprache. Das Hintergrundthema einer Philosophie des Hörens ist also das Universum der Sprachen. Daß es zwischen ihr und der menschlichen Stimme ein nahes und intimes Verhältnis gibt, leuchtet sofort ein. Auf der anderen Seite wissen wir, daß es die griechische Begriffiichkeit gewesen ist, die im Bereiche der Philosophie die grundliegenden Einsichten erarbeitet hat, und daß sich von hier aus dann die Latinisierung angeschlossen hat. Aber ist es in diesem Sinne wirklich sprachlich, wenn \Vir die Stimme meinen, wie sie etwa aus dem Alten Testament ertönt oder aus vielen anderen Formen unserer lautlosen seelischen Erfahrungswelt? Ist es der Hauch der Seele? Oder das Schwingen der Saiten? Wir reden von den Stimmbändern und ebenso von den Stimmen der Vögel, aber das Besondere ist doch offenbar, was die Stimme in der Sprache leistet. Sie nennt mit Namen. Ouoma ist der griechische Ausdruck. Aber schon dieser Ausdruck hat einen sehr viel weiteren Bedeutungskreis, als \Vir mit dem Wort >Namen< verbinden, wenn wir darunter den Rufuamen, den Familiennamen oder den Vornamen meinen. Onoma ist mehr als das. Es meint jedes Hauptwort so, weil es wie ein Anruf ist. Das Wort ruft auch in diesem Sinne, wie der Rufflame jemanden ruft. Aber wenn wir das Wort gebrauchen, so redet es zwar jemanden an, sagt aber immer noch etwas anderes, das, was wir meinen. Neben dieser Tatsache, daß in beiden Richtungen der Name einen Anruf darstellt, ist ein erster Schritt geschehen, der offenbar zu einer Präsentation der Wachheit fuhrt, die das >Da< meint. Die Stimme sagt hier etwas und ist nicht nur wie die Stimme der Vögel und nicht einmal nur wie der Gesang der Vögel, eine Lockung oder eine Warnung. Die Stimme sagt vielmehr etwas, das dadurch, daß es gesagt wird, >da< ist. Etwas ist da, aber das Da ist nicht selber ein Etv.·as. Im Zeitalter der Reproduzierbarkeit verliert dieses >Da< etwas von seiner Kraft, wenn einen etwa vom Morgen bis zum Abend die Stimme des Fernsehers und das Flimmern der vorübergleitenden Bilder umgeben. Das v.;rkliche Sprechen ist erst Wachheit und weckt Wachheit. Wachheit schließt ein, daß man sich nicht einfach dem, was herandrängt, unten:virft, sondern, daß man hinhört. Darin liegt die eigentliche Freiheit des Menschen, dies oder jenes zu meinen, auf dies oder jenes hinzuhören oder auch gerade wegzuhören. All das liegt in der Rufmacht des Wortes. Wenn wir uns das klarmachen, dann sind wir von vornherein bei dem eigentlichen Thema, das uns in einer Philosophie des Hörens gestellt ist. Es geht um Hören, aber immer auch um Verstehen. Es ist ja artikuliertes Sprechen. Darin steckt auch, daß das, was uns die Sprache vorlegt, sozusagen vor uns liegt. Wir nennen das die Anschaulichkeit der Sprache, und diese Anschaulichkeit ist weniger ein Sehen, als die innere Bezogenheit von Hören als Hin-
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hören und als Verstehen als mir Gesagtem. Kennen wir nicht die Einheit und Untrennbarkeit von Hören und Verstehen? Wenn man zum Beispiel im akademischen Unterricht einen Studenten bittet, einen bestimmten Satz vorzulesen. Wenn es ein schwieriger Satz ist, dann wird er den Satz zwar sprechen oder vielmehr vorlesen. Wenn er den Satz aber nicht verstanden hat, dann können auch wir ihn nicht verstehen. Hören und Verstehen sind so untrennbar, daß die ganze Artikulation der Sprache mitspricht. Nicht nur die Sprachlaute, sondern auch die Gestikulation des Sprechenden all das muß sich zu einer überzeugenden Einheit vereinigen. Wo diese Einheit fehlt, versteht man nicht. Es gibt aber nicht nur ein Hören, ohne zu verstehen. Es gibt offenbar auch ein Verstehen, ohne zu hören. Wie das alles sich im Bereich der Sprachlichkeit miteinander verträgt, bleibt das eigentliche Problem, das die Philosophie beschäftigt. Schon die griechische Philosophie hat das Problem gesehen, wenn sie den Logos ausdrücklich in einer zweifachen Weise kennt, einerseits den Logos, der so etwas wie das innere Wort ist, das noch gar nicht in einer sprachlichen Form artikuliert zu sein braucht, und dann andererseits eine Rede, die wirklich sprachlich ausgesagt wird. Der Sache nach hat Plato bereits davon gesprochen, daß Denken ein Sprechen mit sich selber ist, und hat dieses Sprechen mit sich selber als eine Art Schreiben oder Einzeichnen verstanden. In der späteren Wendung der stoischen Philosophie und in deren Fortleben, etwa bei Augustinus, gibt es dann den Unterschied zwischen der inneren Stimme und der geäußerten Stimme, dem inneren Verbum oder dem Gesprochenen. Das klingt so einfach, aber es ist in Wahrheit das größte Geheimnis des Christentums: Die Inkarnation. Es ist also nicht so, wie sich das Plato wohl noch vorstellte und auch nicht so, wie die spätere christliche Theologie das innere Wort als das Wort Gottes ansah. So geheimnisvoll wie die Inkarnation ist in Wahrheit schon der innere Zusammenhang des Verbum mit dem Gesprochenen. Nun kompliziert sich das Ganze durch das Verhältnis von Gedanke und Gesprochenem. Auch da sahen wir ja bereits, daß das innere Wort nicht in die jeweilige Sprache eingekörpert ist. Das Gleiche gilt auch ftir das geschriebene Wort, dem ja irgendwie auch die genauere Artikulation des gesprochenen Wortes fehlt. Man kennt das durch die Bedeutung, die der Ton, in dem etwas gesagt wird, haben kann. Vor allem aber ist das gesprochene Wort nicht mehr meines, sondern dem Hören preisgegeben. Das gehört zu den großen Verantwortlichkeiten des Sprechens, daß ein gesprochenes Wort sozusagen nicht zurückgerufen werden kann. Das gesprochene Wort gehört dem, der es hört. Wir kennen die ganze Problematik der Schriftlichkeit nicht zuletzt aus der platonischen Reflexion und dem klaren Bezug auf das wirklich gesprochene Wort, das eine Art zeitloser Erleuchtung über das Ganze bringt. Das ist das Wesen des Hörens, daß sich die ganze Gliederung der Rede wie in die neue
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Einheit zusarnrnenfaßt, die das Wort ist, das einem gesagt wird. Das Wort ist nicht die Wörter. So ist selbst das eine Wort in einer Rede vor einem großen Auditorium ein geradezu ins Gigantische verzerrter Versuch, die Hörer wie in einem nachdenklichen Gespräch zu erreichen und mit ihnen im Gespräch zu sein. Weil die Dinge so liegen, wird der Hörer immer den Unterschied bemerken, ob er einer Vorlesung folgt oder ob er mit einer Rede mitgeht, die frei, in der Findung der Wortwahl, den Hörer zur Mitarbeit aufruft. Um diese Vollzugsweise des Hörens geht es. Es ist nicht einfach das Aufnehmen dessen, was eine Maschine aufnehmen kann. Es ist das Wort, das den Anderen in seinem Verstehen erreicht hat. Ein solches Wort verlangt nach der Antwort. Insofern ist selbst eine Rede vor einem großen Auditorium ein Gespräch mit vielfaltiger, stiller Antwort. Wie bei jedem Gespräch geht es auch hier darum, daß man in einem Miteinander einander näherkommt oder sich mit dem Anderen auseinandersetzt. Das ist eine der Grunderfahrungen unseres menschlichen Zusammenlebens, daß der Angeredete im Zuhören verstehen muß und daß der Redende von der stillen Antwort des Zuhörens aufgenommen wird. Wie im Gespräch muß auch hier die Grunderfahrung des menschlichen Zusammenlebens gelten, sich miteinander zu verstehen. Das meint nicht nur, daß man etwas Vernünftiges gesagt hat oder gehört hat, sondern, daß beide etwas Vernünftiges geteilt haben. Es bedeutet also keineswegs, daß in einem solchen Einander-Verstehen man immer miteinander einig werden muß. Vielmehr ist dieser Zusammenhang von Hören und Verstehen in Wahrheit die freie Öffuung in die Dimension des Anderen. Versuchen wir, ein paar Formen dieser Öffnung zu erörtern. Gewiß, wir leben heute vorzugsweise in einer literarischen Welt, in der das Lesen einen großen Raum einnimmt. Wie lange diese Weltzeit noch anhalten wird, wissen wir nicht. Die Analphabeten wachsen. Aber noch spielt das Lesen eine entscheidende Rolle. Was aber ist Lesen? Lesen ist nicht Buchstabieren. Wer noch buchstabieren muß, kann eben noch nicht lesen. Wer Lesen verstehen will, muß etwas verstehen, was der andere verstehen soll und verstehen kann. So ist er als der Lesende und in seinem Verstehen inuner schon bei dem Ganzen des Gesagten. Es ist nicht das einzelne Wort als solches, das man Wort fiir Wort versteht. Das wird gerade dann fiihlbar, wenn man im Zuhören ein einzelnes Wort nicht verstanden hat. Das bedeutet dann einen vollen Bruch im Verstehen des Ganzen. Erst wenn man den mißverstandenen Laut richtiggestellt hat, wird der Bruch im Verstehen geheilt, und dann sind wir wieder bei dem Ganzen, das ein Austausch zwischen Menschen ist, die einander verstehen. Was also ist Lesen? Die Antwort lautet: Sprechen lassen. Gleichwohl heißt das nicht, daß Lesen ein Hören ist, auch wenn man den Hörer einer Vorlesung einen Hörer nennt.
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Nur wer Hören verstanden hat, vermag das Gehörtespechen zu lassen. So gibt es den kritischen Fall des ironischen Sprachgebrauchs. Da hat man zwar gehört, aber wenn man es nicht als ironisch verstanden hat, hat man noch immer falsch gehört. Ein Beispiel dafur ist ftir mich immer, wenn es sich um den Idealstaat der platonischen Republik handelt. Ist das alles im Ernst gemeint? Am Ende ist doch wohl nur das ernstgemeint, daß es ein ideales Zusammenleben zwischen Menschen geben würde, wenn alle Menschen gelernt hätten, ihre eigenen Vorurteile und Interessen ganz und gar auszuschalten. Das nimmt bei Plato am Ende die ironische Form an, daß es nur auf die Kleinigkeit ankomme, die ideale Stadt zu haben. Man müsse nur alle mehr als Zehnjährigen aus der Stadt entfernen und dann alle Jüngeren den ganz großen Erziehungs'l.veg durchlaufen lassen, an dessen Ende die Philosophen die Könige sind. Im täglichen Leben ist es der Ton, welcher die Ironie mehr oder weniger kenntlich macht. Natürlich kann auch die schriftliche Form etwas von diesem Ton hörbar machen. Das stellt wiederum eine schriftstellerische Aufgabe, aber vor allem an den Leser, der auf das Wort hören lernen muß, das ihm gesagt wird. Wenn wir uns in der Welt von morgen zurechtfinden sollen, wird es ftir die junge Generarion der Zukunft von entscheidender Wichtigkeit sein, daß das enge Zusammenleben zwischen den verschiedenen Kulturen und Sprachwelten ein gegenseitiges Sich-verstehen möglich werden läßt. Das bedeutet aber, daß man möglichst fremde Sprachen lernen muß, und vor allem, so weit lernen muß, daß man nicht mehr übersetzt oder gar Übersetztes liest, sondern daß man selber in der Sprache des Anderen denkt und die Sprache des Anderen versteht. Das mag utopisch klingen, aber die Erfahrung lehrt, daß die Lebenssituation wie die Luft, die man atmet, unhörbar von der Sprache wiedertönt. Im heutigen Europa gibt es nur zwei Länder, in denen man darauf rechnen kann, daß sich dort alle in drei Sprachen verständigen können. Das sind die Schweizer und die Holländer. Manchmal möchte man auch die Lateiner dazurechnen, die den Hintergrund für so viele lebendige Sprachen bilden. Jedenfalls ist es eine Erfahrungstatsache, daß die vierte Sprache immer die leichteste Sprache ist. Wenn man zusammenkommt, Fremde bei sich empfangt, selber als ein Fremder sich in einem Land bewegt, wird es eine wirkliche Aufgabe der Zukunft sein, der Verschiedenheit der Kulturwelten zum Trotz einander gelten zu lassen. Das werden wir lernen müssen, wenn 'I.Vir wirklich von Europa aus einen Schritt zu einer einheitlichen Welt tun wollen. Ich glaube nicht, daß eine Einheitssprache diese Probleme auflösen könnte, wo sich durch lange Kulturtradirion, ihre eigenen Sitten und ihre eigenen Lebenserfahrungen ennvickelt haben. Selbstverständlich gibt es Grade der Annäherung auch zwischen den verschiedenen Sprachwelten. Es wird so sein, wie wir es beim Lesenlernen auch kennen. Wenn das Schriftliche und Gedruckte verstanden werden soll, muß es zum Sprechen kommen.
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Gewiß soll man dabei nicht gering achten, was das kommunikative System der heutigen Technik zwischen den Kulturen möglich macht. So darf ich mich einen Augenblick zum Anwalt der Geisteswissenschaften machen, in denen es ja von je her auf das Verstehen von fremden Sprachen ankommt. Nun pflegt man den Geisteswissenschaften ja gern gerade die Frage zu stellen, in welchem Sinne sie Wissenschaft sein wollen, wenn es kein Kriterium für das Verständnis von Texten oder Worten gibt. Für die Naturwissenschaften und die Verkehrsformen der Technik ist gewiß richtig, daß Eindeutigkeit der Verständigungsmittel garantiert ist. Aber unbestreitbar macht selbst der Apparat einer auf Wissenschaft und Technik gegründeten Zivilisation noch lange nicht das Ganze des Miteinanderlebens aus. Die tiefe Prägung, die die eigene Muttersprache jedem Menschen verleiht, läßt ja bis in die Dialektfarben hinein unauslöschliche Unterschiede sich vererben. Aber der Verständigungstrieb wird zwischen den Menschen inuner neue Brücken finden. So kommt es am Ende doch darauf an, daß überall Dialog gelingt, und das ist Austausch mit Worten, die gewiß noch von anderen Momenten begleitet werden, aber im gegenseitigen Austausch immer wieder Worte finden lassen, durch die man sich verständigen kann. Wir haben den Begriff des Dialogs gebraucht und damit eine Grundstruktur namhaft gemacht, die einen großen Spielraum von Verwicklungsformen offen läßt. Daß der Dialog sozusagen eine vorsprachliche Struktur hat, sehen wir ja bereits an den Tieren und ihren Verständigungsmöglichkeiten miteinander. Zweifellos ist aber durch die Wortsprache eine weltweite Differenzierung durch die Sprache gekommen. Das wortlose Verstehen von Mutter und Kind, die Jahre des Sprechenlernens, das sind die ersten Prägungen der Weltorientierung, die den Menschen lebensfahig macht. So wie sich bei dem Kind, das sprechen lernt, ein wahres Sich-einhausen in die Welt vollzieht, kennen wir noch andere Formen der Verständigung, die uns die Grundstruktur deutlich vor Augen stellt. Ich meine das Mitgehen mit dem Anderen. Verstehen ist inm1er Mitgehen mit dem, was gesagt wird, auch wenn es keineswegs notwendig Zustimmung bedeutet. Aber wir kennen dieses Mitgehen in sehr vielfaltigen Formen. Eine uns allen bekannte Form ist das Mitgehen mit der Musik, das wohl überhaupt im Grunde ein Mitsingen ist. So sehr muß Musik, wo sie gemacht wird, Gemeinsamkeit stiften und im Hören vereinigen. Das Beispiel der Musik zeigt gewiß die elementare Kraft der Vereinigung, die zwischen Menschen möglich ist. Die Musik zeigt sich aber gerade darin, daß ihre Nähe zur Sprache die eigentliche wortsprachliche Seite unseres gegenseitigen Verstehens in ihrer ganzen Schwierigkeit offenbar macht. Ich möchte an zwei Beispielen zeigen, wie sich die Verständigung dort vollzieht, wo solche elementaren Hintergründe, wie sie in der Musik mitwirken, nicht bereit stehen. Das ist das eine Mal in der Rhetorik und das andere Mal in der
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Logik. Wir nennen damit zugleich die zwei Grundmächte, welche dem griechischen Erziehungswesen seinen Charakter gegeben haben. Es war geradezu ein Kampf um die Jugenderziehung, ob die Redekunst oder ob die Wissenschaft und ihre Logik die Einformung der heranwachsenden Jugend in die Gesellschaft bestimmen sollte. Gewiß sind es in beiden Formen auch im menschlichen Alltag begegnende Erfahrungen: die überzeugende Rede auf der einen Seite und die zwingende Beweisfuhrung auf der anderen Seite. In einem platonischen Dialog, dem >Phaidros<, wird geschildert, wie Sokrates einem jungen Freund begegnet. Der große Seelenkenner, der Sokrates war, erkennt in demjungen Mann sofort, wie er ganz von etwas erfullt ist, und am Ende fordert er ihn auf, das Manuskript hervorzuziehen, das er in seinem Gewand verborgen hielt. Er darf es vortragen. Es ist eine kunstvolle Rede eines der berühmtesten Redner Athens. Die Rede sucht zu überzeugen, daß es für einen Knaben besser sei, sich auf einen Bewerber einzulassen, der in Wahrheit keine wirkliche Leidenschaft verspürt. Sokrates antwortet später mit einer umgekehrten Argumentation zugunsten der wirklichen Liebesleidenschaft und schließt daran am Ende die ganze Zaubermacht der Erziehung der Seele an. Dann verteidigt Sokrates die Kunst der Rede, weil sich mit ihr zugleich auch die Erkenntnis dessen, was wahr und richtig ist, dem Anderen mitteilen kann. Das große Recht der Rhetorik im Dienste der rechten Erkenntnis erfullt den Zauber dieses poetisch stimmungsvollen Dialogs. In Wahrheit ist das Ganze wie eine Art Einweihung in die Philosophie, in der sich die große Leidenschaft des jugendlichen Gemütes noch zu wahren Höhen erheben kannund nicht nur zu rhetorischen Spielereien, denen sich der jugendliche Bewunderer des Lysias hingegeben hatte. Die wirklich großen Redner sind nicht die Künsder der Künstlichkeiten, die in kunstvoll geschriebenen Reden ihre Triumphe feiern, sondern es sind die großen Männer der Tat, welche durch ihre Redekunst und ihre Weisheit das Zusammenleben der Menschen ordnen, wie Perikles, der große Staatsmann oder Solon, der große Gesetzgeber Athens. In unserer neuzeitlichen Welt, in der die Wissenschaft und ihre mathematischen Grundlagen den Vorrang besitzen, ist die Redekunst geradezu in Verruf geraten. Sicherlich war es das große Geheimnis der neuzeitlichen Kultur, daß sie durch ihre methodische Erkenntnisweise eine Beherrschung der Naturmächte und indirekt auch eine Ordnung der Gesellschaft zu organisieren verstanden hat. Mit Recht kann man sagen, daß es die Logik war, die am Ende unserer Technik ermöglicht hat, und doch wissen wir, daß die Lebenswelt, das Verhältnis der Menschen zueinander, noch andere Seiten besitzt, als die Gewißheit der Wissenschaft oder gar das siegreiche Rechtbehalten in der Argumentation. Es gibt durchaus andere Formen mit Menschen umzugehen und mit ihnen in Übereinstimmung zu sein, als nur die, daß man prahlend die Widersprüche nachweist, in die sie verstrickt sind. Es gibt Möglichkeiten, etwas
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leise zu sagen. Man kann auch indirekt überzeugen, und es ist nicht immer am Platze, das auszusprechen, was man denkt. Nehmen wir ein Beispiel: Jemand verhält sich aus Unachtsamkeit taktlos. Was soll man dazu sagen? Die Antwort kann nur lauten: gar nichts. Das ist das Einzige, was man da tun kann. Man muß es überhören. Man muß es mit Takt übergehen. Alles andere macht es nur schlimmer. So ist es nun immer wieder, daß man sich im Umgang miteinander umsichtig und sachgerecht fi.ir Verständigung offen halten muß. Das sind die Probleme, mit denen wir im menschlichen Zusammenleben zu tun haben: auf einander zu hören, und es gilt ebensosehr fi.ir den Einzelnen und sein Zusammenleben mit dem Anderen, wie für ganze Völker. Es gibt noch ein anderes Beispiel, an dem ich zeigen möchte, wie sich das menschliche Wissenwollen und Rechthaben seiner Grenzen bewußt zu sein vermag. Plato hat in einem berühmten Dialog geschildert, wie die geistige Elite Athens seiner Zeit bei einem festlichen Gastmahl dem Gott der Liebe, dem Eros, huldigt. Sokrates fuhrt da am Ende auf der Suche nach dem, was diese Weltmacht der Liebesleidenschaft eigentlich sucht, ein Gespräch mit der Seherin Diotima. Der Meister logischer Gesprächsfiihrung wird von dieser weisen Frau weit über das hinausgeführt, was er noch wirklich von sich aus selber zu sehen vermag. Dieses Höchste und Letzte, auf das alles hinzielt, das in anderen Dialogen Platos auch >das Gute< heißt, wird hier in der Preisung des Eros >das Schöne selbst< genannt. Aber wie in der Suche nach dem wahren Guten Sokrates eingesteht, daß er so etwas nur in einem Gleichnis sichtbar machen könne, und das ist dann das berühmte Höhlengleichnis und der Aufstieg des Menschen aus seinem Höhlendasein in die helle Freiheit der Sonne, so wird auch hier von der Seherin Diotima der AufStieg bis zum ~schönen selbst« als etwas vorgelegt, auf das wirklich nur eine göttliche Seherin weisen kann. So gilt fi.ir uns alle, daß wir im Hören immer noch etwas zu lernen haben. Wie wir sehen lernen müssen, was wir leider im allgemeinen nicht genug auf unseren Schulen üben, müssen wir auch hören lernen. Wir müssen sogar horchen lernen, um die leiseren Töne des Wissenswerten nicht zu überhören -und vielleicht gehört auch gehorchen dazu. Aber darüber sollte ein jeder allein weiter nachdenken.
7. Freundschaft und Solidarität (1999)
Es gibt kaum einen großen Philosophen des Altertums, der nicht Lehren, Vorträge oder Schriftenverzeichnisse über •Freundschaft< hinterlassen hat. Aristoteles, der Meister derer, die da wissen, hat in seinen drei Ethik-Traktatenjeweils ein zentrales Srück dem Begriff der Freundschaft ge,vidmet. Dagegen hat Kant, der große verehrungswürdige Meister des philosophischen Gedankens, in seiner Anthropologie-Vorlesung der Freundschaft lediglich eine Seite zugestanden. Allerdings hat er dabei eine Wahrheit ausgesprochen, die Nachdenken fordert. Diese Äußerung lautet: ••Ein wahrer Freund ist so selten wie ein schwarzer Schwan«. Kants Wort lädt ein, sich über die Rolle der Freundschaft in unserer Gesellschaft Gedanken zu machen und über den Mangel an natürlicher Solidarität, der in der Massengesellschaft der Gegenwart besteht. Sich dabei der Griechen zu erinnern, wird sich empfehlen. Vielleicht ist gerade die Spannung beredt genug, die zwischen den beiden Begriffen Freundschaft und Solidarität besteht, unsere Gedanken zu schärfen und unsere Aufgaben zu verdeutlichen. Karljaspers, mein Vorgänger auf dem Lehrstuhl, den ich in Heidelberg innehatte, hat schon im Jahre 1930 unser Zeitalter das Zeitalter der anonymen Verantwortlichkeit genannt. Ein weit voraussehendes Wort. Es wird immer wahrer. Es wird so fürchterlich wahr, daß es heutzutage Kliniken gibt, in denen man selbst als Patient nicht mehr seinen Namen behält, sondern eine Nummer bekommt. Es ist in der Tat die Frage, die wir uns in allem Ernste stellen müssen, wie die eigentlich tragenden Dinge menschlichen Glücks in den neuen Lebensformen der industriellen Revolution und ihrer Folgen gewahrt und entwickelt werden können. Ich maße mir nicht an, darüber irgend welche große Weisheiten zu verkünden. Ich möchte aber doch über diesen Wandel der Dinge Überlegungen anstellen und vielleicht einige Illustrationen anknüpfen, die zum Nachdenken helfen. Daß das Thema Freundschaft und Solidarität eine spannungsvolle Wahrheit enthält, hört man sofort heraus. Freundschaft, ein Begriff, der all das umfaßt, was einem lieb ist. Das Wort Philia im Griechischen hat wie Freundschaft in unserem Sprachgebrauch eine reiche Skala der Verwendung. Der wahre Freund, dieser schwarze Schwan Kants, ist wirklich eine seltene Erscheinung. Dagegen ist der Gebrauch des
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Wortes innerhalb des reichen Spektrums der Sprache von farbloser Häufigkeit. Die gesprochene Sprache ist eben der wahre Niederschlag der menschlichen Erfahrung und damit auch der bleibende Bestand des Denkens der Menschheit. So bemühen wir uns heute vielleicht mehr als in vergangeneu Jahrhunderten, zum Beispiel im 18.Jahrhundert, als so etwas wie ein wahrer Freundschaftskult gepflegt wurde, der sich auch in dichterischer Gestalt niedergeschlagen hat, auf unseren eigenen Sprachgebrauch zu achten und mit der Sprache zu denken. Das lehrt uns das Wort solidarisch, daß zwischen den Begriffen Freundschaft und Solidarität eine Spannung besteht. Und doch kennen wir aus der Vorbildlichkeit des griechischen Lebens, wenn es sich um Freundschaft handelt, wie unsere humanistische Tradition ganz von griechischen Vorbildern beherrscht ist. Wer weiß nicht um die Freundschaft von Achilles und Patroklos, die die Ilias beherrscht? Und jeder weiß von den Dioskuren, von Castor und Pollux, die uns am nächtlichen Himmel an die Unzertrennlichkeit von Freunden erinnern. Gleichwohl ist es eine Frage, die wir stellen müssen, \vas wahre Freundschaft ist und "vas der Freund in einer Welt ist, die immer zugleich eine Welt gemeinsamer Einrichtungen und fester Regelungen ist - und zugleich eine Welt der größten Mannigfaltigkeit von Konflikten und von Verständigungen, die gemeinsames Handeln möglich machen. Wir selber leben freilich in diesem Zeitalter der anonymen Verantwortlichkeit, das dank seiner eigenen Organisationskunst eine Welt gegenseitiger Fremdheit heraufgefiihrt hat. Wer ist der Nachbar, mit dem wir leben? In dieser Situation müssen \Vir uns fragen, was Solidarität anmahnt und was eine sogenannte >erklärte< Solidarität sein soll. Das Wort >erklärt< ist hier von einer unheimlichen Zweideutigkeit, die ,...;r zu bedenken haben. Da muß man offenbar etwas erklären, was eigentlich eine selbstverständliche Verpflichtung einschließt. Wir werden uns eingestehen müssen, daß die skeptische Rede Kants von dem schwarzen Schwan wohl schon damals nicht so ganz aus der Luft gegriffen war. Der wahre Freund und das, was ihn ausmacht, die Treue des Freundes, wird in unserer Gesellschaftsstruktur selten genug auf die Probe gestellt. Gleichwohl gilt es sich klar zu machen, wie wir alle an beidem teilhaben, an Freundschaft und Solidarität, und daß wir auch diese Untrennbarkeit verteidigen müssen. Wir müssen erkennen, wie im Leben unserer Gesellschaft die Gruppierung zu Solidaritäten fuhrt und uns damit anderen gegenüber verpflichtet. Auf der anderen Seite gibt es etwas wie Freundschaft, was man nur leben aber nicht definieren kann_ Die Griechen, die ja als Erfinder des Definierens von Begriffen gelten, insbesondere Sokrates, Plato, Aristoteles, haben gerade dem Begriff der Freundschaft ihre Unterscheidungskraft und definitorische Präzision zu verleihen gesucht. Bei Plato lesen ·wir darüber einen ganzen Dialog, den >Lysis<. Das ist ein Gespräch zwischen Sokrates und ein paar Knaben in der Sporthalle, dem sogenannten Gymnasium,
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wo sie von ihren Mentoren, ihren Freunden und um Liebe Werbenden, wie das in diesem griechischen Erziehungssystem Sitte war, umlagert sind. Die Knaben werden da von Sokrates gefragt, was wohl Freundschaft ist: »Ihr seid doch gute Freunde?« Und dann fragt er sie: »Wer von euch ist der Ältere?«, ,~a, darüber streiten wir uns.« Selige Zeiten, in denen es noch kein Standesamt gab. »Wer von euch ist aus der besseren Familie?« Beide strahlen. Und dann: »Wer von euch ist der Schönere?« Und dann lächeln sie beide verlegen. Man spürt wie da ein Gespräch beginnen wird, über das, was eigentlich erst Freundschaft ist, warumjemand mit einem gut Freund ist, und was ein wahrer Freund ist. Man soll sich offenbar bewußt machen, daß diese kindlichen Partner des sokratischen Gespräches noch gar nicht wissen können, was ein Freund ist. Was sie kennen, ist Kinderfreundschaft. Es ist prahlerischer Wettbewerb, mit dem sich Kinder einander überbieten. Das ist ein erster Schritt ins Leben hinein, was diese heranwachsenden Kinder tun, wenn in ihnen im Gespräch mit Sokrates die Lust am Denken erwacht. Ob sie aber schon wissen können, was Freundschaft ist? So ist es wohl kein Wunder, daß die erste sokratische Frage lautet, ob Freundschaft darauf beruht, daß Gleiches sich zu Gleichem findet. Das kann den Jungen einleuchten und auch, daß das nicht standhält. Sie sehen schnell, daß das nicht stimmt. Vielleicht ist eher das Umgekehrte wahr: Freundeswahl bildet sich oft durch das Ungleiche, indem man in dem Anderen etwas Bewundernswertes und Liebenswertes entdeckt. Oder ist es vielleicht überhaupt die Suche nach dem Vorbild in einer Welt, in der Kinder zwischen gut und böse, häßlich und schön, so oft hin- und hergezerrt werden. Ein Vorbild zu finden, -vielleicht ist es das, was man im Freund erblickt - und all das, was einem lieb ist und so einander zu Freunden macht. Doch es wird sich herausstellen, daß man mit solchen Knaben noch keine wirkliche Antwort erreicht. Am Ende wird ihnen bewußt, daß all diese Versuche nicht gelingen. Es ist etwas Verborgeneres, nicht etwas, was nahe liegt. Und das griechische Wort, das Sokrates vorschlägt und das man nun freilich nicht übersetzen kann, heißt das Oike{on, das >Häusliche~. das >Heimatliche<. Der Oikos war die Grundstruktur der antiken Wirtschaft. Wirtschaft ist Hauswirtschaft. Auch die beginnende Industrialisierung, soweit man davon reden kann, heißt nicht ohne Grund >Ökonomie•. Das Wort, das am BegriffÖkonomie bis heute uns allen vertraut ist, soll das sein, was das Zuhause ausmacht, wo einem alles vertraut ist. Das, was das ausmacht, ist nicht, daß alles einem gleich lieb ist, auch nicht, daß der eine in Bewunderung fur den anderen sich seiner Ungleichheit und Verehrung und Liebe bewußt wird. Nichts von alldem. Aber was ist es dann? Vielleicht könnten wir, so hat offenbar Plato gedacht, und dafiir will sich Sokrates am Ende an Ältere wenden. Aber da werden die Knaben abgerufen. Sie haben ja ihre Wärter, ihre Paidotriben. Sokrates müßte sich an Ältere wenden, um vielleicht zu hören, was wahre Freundschaft ist.
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Vielleicht lässt ihn Plato eines Tages mit Alkibiades ein solches Gespräch fiihren. Alkibiades war ein durch seine Schönheit und seinen Geist allbekannter Name, der in den großen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Athen und Sparta eine sehr zweifelhafte und schicksalsvolle Rolle gespielt hat. Wir besitzen einen Dialog, der jedenfalls von Plato geschrieben ist. Aber selbst wenn es nicht Plato war, so war es jedenfalls ein zeitgenössischer Bewunderer, der immerhin mehr Aufinerksamkeit verdient, als die >Echtheits(-Frage. Ein wenig ist es auch in unserem Falle so, daß dieser Alkibiades, der eine solche Rolle im Peloponnesischen Krieg gespielt hat, hier als junger Mann im Gespräch mit Sokrates geschildert wird, wie Sokrates sozusagen dem Heranwachsenden, dem von Ehrgeiz gepackten und schließlich seinem Ehrgeiz erliegenden jungen Manne begegnet. Wenn er mit ihm ins Gespräch kommt, dann tritt zunächst die Stimme eines jugendlichen, ehrgeizigen Realisten zutage. Der junge Alkibiades sagt, ach, was ihr da von Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mut usw. daherredet, das ist doch alles leeres Geschwätz. Worauf es allein ankommt, ist einzig Machtgewinnung. Nun beginnt ein langes Erziehungsgespräch seitens Sokrates, der offenkundig selber die große Anziehungskraft dieses schönen, hochbegabten und vieles verheißenden Jünglings spürt. Aber er ahnt auch die Gefahren, die in solcher Hingerissenheit von Ehrgeiz und Machtwillen lauern. So beginnt ein Gespräch, in dem Sokrates seinen Partner langsam, schrittweise, dazu fiihrt, einzusehen, daß Freundschaft und wahre Freunschaft sehr wohl etwas ist, dem gegenüber die bloßen Rivalitäten der Macht und das Ringen um Einfluß und Reichtum und all die Dinge, von denen der junge Mann träumen mochte, das nicht aufwiegen, was echte Freunde sind und was wahre Freundschaft ist. Die griechischen Philosophen haben ihren Scharfsinn aufgeboten, um zu zeigen, was fiir verschiedene Arten solcher Freundschaft es eigentlich gibt. Da ist, wir haben sie schon erwähnt, die Kinderfreundschaft, die dort in ihrem prahlerischen Wetteifer, wie auch in ihrer zarten Schüchternheit so schön geschildert ist. Ebenso beim heranwachsenden jungen Mann. Die ersten Liebesfreundschaften, die das Leben einem zuspielt. Das gibt es in jeder Gesellschaft, auch in einer, die nicht so, wie die griechische organisiert war. Und schließlich, wie sich aus diesen Liebesfreundschaften und später den Freundschaften des selbständigen, reifenden Mannes, schließlich die eigentliche Freundschaft, die Lebensfreundschaft entwickelt. So kann man schon gleichsam am Anfang allen Nachdenkens über Freundschaft sich wohl bewußt werden, daß das kein abstrakter Begriff ist, der nun in verschiedene Unterarten geteilt wird. Das klingt zwar bei Aristoteles anfangs so. Da wird unterschieden, Freundschaft kann auf dem lustvollen, sinnlichen Glück, auf dem Angenehmen beruhen, das Freunde aneinander finden. Oder sie kann auf dem Vorteil beruhen, auf dem Gewinn, auf etwas also, was wir Geschäftsfreunde oder was wir Parteifreunde nennen, oder wann immer wir
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diesen weiten Begriff von Freunden gebrauchen. All das ist offenbar auch eine Art Freundschaft. Dann gibt es aber die wahre, die vollkommene Freundschaft. Die wirkliche Freundschaft. Was ist sie, was heißt das, daß sie das Oikeion sei? Das Zuhause, das, wovon man nicht sagen kann, was es ist. Wir hören es alle, aus einem noch höher klingenden und heimlieberen Begriff heraus, wenn wir von Heim und Heimat sprechen. Was ist es denn? Auch das ist nichts, das ich schildern müßte. Für Sie, die Sie hier in Pforzheim sind, ist ihre Stadt die schönste, und ihre Umgebung die herrlichste. Das wissen wir alle, daß Heimat etwas Unvordenkliches ist. Etwas, wovon \vir nicht sagen können, warum es so die Seele rührt und warum es so die Menschen verbindet. Aber daß Heimat und Herkunft eine Bindung darstellt, eine Art Gemeinsamkeit, eine Art Solidarität echter Art ist, da braucht es das nicht erst, daß man sich solidarisch erklärt. Man ist es und will gar nicht wissen, was da eigentlich im Spiele ist. Hier hat nun griechisches Nachdenken, obwohl es doch in allen seinen Einrichtungen öffentliches Leben, Gruppenbildung, Kämpfe, Bürgerkriege, feindliche Auseinandersetzungen und immer wieder neue demokratische Ordnungsleistungen in Fülle aufzuweisen hat, zu der Frage gduhrt, was eigentlich das Geheimnis an diesem Häuslichen, Heimatlichen, diesem Verbindenden ist, von dem wir nicht sagen können: Gleicher zu Gleichem, Ungleicher zu Ungleichem oder Suche nach einem Vorbild. Was ist das eigentlich? Es ist ein großer Gedanke, der von Plato zuerst dargestellt worden ist und dann von Aristoteles aufgenonm1en wurde, den es hier zu denken gibt. Es gibt da ein Wort, man magjetzt so erschrecken, wie es die Griechen selbst ohne Frage getan haben: Das Wort heißt Plzilautia, >Selbstliebe<. Darum geht es; in der Selbstliebe den wahren Grund und die Bedingung flir alle mögliche Verbindung mit anderen und Verbindlichkeit für einen selbst zu gewahren. So werde ich auch über Solidarität noch einiges sagen müssen - die es damals weder als Wort gab, noch als etwas, das man erst erklären müßte. Was also ist Philautia eigentlich? Natürlich war es genauso, wie bei uns, daß >Eigenliebe< einen schlimmen Klang hat. Wir kennen es aus der griechischen Komödie und aus vielen anderen Zeugnissen. Es scheint die oft komische und doch schreckliche Untugend der Menschen, daß sie inm1er nur an sich selber denken und nicht, was der Andere und flir den Anderen ist. Nun hat es Plato gewagt zu sagen, und Plato redet da eine sich und uns und die ganze Welt umfassende Sprache: Nein, die wahre Eigenliebe ist etwas ganz anderes. Sie ist dieses, daß man sich mit sich selber inm1er einigen muß. Daß man mit sich selber einig sein muß, wenn man fur andere ein Freund sein, auch nur ein Geliebter, auch nur ein Geschäftsfreund, auch nur ein Berufskollege sein will. Überall \\-ird der, der mit sich nicht einig sein kann, im Zusammenleben mit Anderen als eine Behinderung und Fremdheit empfunden.
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Nun, eins istjedenfalls sicher: Heim und Haus, das ist die Stätte des Zusammenlebens. Das heisst nicht gemeinsame Überzeugungen haben, das ist also deswegen auch nicht die Übereinstimmung in Neigungen und Interessen. Es ist gerade all das nicht, was man zunächst nennen möchte, wenn man sagt, warum ist dir einer so lieb? Weil er so vieles, das mir lieb ist, mit mir teilt? Mir so gleich ist? Nein, nicht Einmütigkeit ist es. Auch diese großen Vorbilder griechischer Freundespaare, etwa die Tyrannenmörder, die ja im öffentlichen Leben Athens eine ungeheure Rolle als Denkmal, als Vorbild und Mahnbild gespielt haben, und wie auch wir im deutschen von Jugendfreundschaften sagen können, sie seien ein Herz und eine Seele. Die Griechen sagen dafi.ir mfa psychl Ist das die wahre Freundschaft? Nein, auch das ist es noch nicht. Die kühne These ist: Freundschaft braucht man erst einmal mit sich selbst. Dessen bedarf es, damit man ftir den Anderen und mit ihm wirklich verbunden ist. Wieweit ist das von dem entfernt, was wir >Verbindliches< nennen! So möchte ich diesen gewaltigen Schritt zur Philautia, den das griechische Denken unternommen hat, mitvollziehen. Er meint ein Denken, das an die umgebende Welt ganz weggegeben war und das doch zugleich so leidenschaftlich um seine eigene Freiheit und Lebensform kämpfte, wie die Griechen das durch das Schicksalsgeschehen der Perserkriege ftir uns alle getan haben. Europa ist Europa, weil diese Art von echter gelebter Solidarität des griechischen Lebens dem andrängenden Orient etwas Einzigartiges entgegenzusetzen hatte. Man denke nur an die Abschiedsszenen von Vater und Sohn, die noch im vierten Jahrhundert davon zeugen •vie die archäologischen Museen. Wir sind dabei, uns klar zu werden, wohin das fuhrt, wenn wir diese Gedanken weiter durchdenken. Wir fragten uns, was ein O{kos. was ein wirkliches Zuhause und damit auch eine \\.rirkliche Freundschaft ist. Man kann nicht sagen, da ist etwas Bestinuntes an ihm, etwas, das mir so gefallt, deswegen ist er mein Freund. - Wir müssen natürlich inm1er in unserer Gesellschaft ebenso an die Freundschaft zwischen Mann und Frau denken, ,.,je von Vater und Sohn. Wir müssen auch immer die Freundschaftsehe, die Freundschaft in der Ehe, als eine der großen Prüfungen des menschlichen Lebens anerkennen, in denen sich Verschiedenes, das Andere, der Andere, das Andere des Anderen zum Miteinander und auch zu gegenseitiger Einsicht bildet. Das ist nun das, was Plato am Alkibiadesdialog nur als Scheitern eingebracht hat. Das Gespräch mit Alkibiades führt nicht zu dauerndem lebenserfolg. Das deutet der ahnungsvolle Sokrates am Ende an, dem es weiterhin unheimlich bleibt, wie dieser junge Mann von Macht und Ehrgeiz getrieben ist. Jedenfalls hat Sokrates ihn auf den Weg fuhren wollen, den er, wie jeder griechische Leser wußte, dann nicht wirklich gegangen ist. Was ist dieser Weg? Es ist eine berühmte Geschichte, Sokrates sagt, wir müssen lernen uns selbst zu erkennen. Man kennt das berühmte >>Erkenne dich selbst~, diesen Spruch des delphi-
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sehen Heiligtums, das dem Menschen immer wieder einprägt: »Erkenne dich selbst(<. Das heißt, erkenne, daß du nur ein Mensch bist und nicht ein von göttlicher Vorsehung Bestellter oder von einem besonderen Charisma Gesalbter, dem sozusagen diesseits und jenseits aller menschlichen Verbindlichkeiten Vorrecht, Sieg und Erfolg verliehen ist. Das alles nicht. Das ist nun offenbar Freundschaft, was Aristoteles hinzufugt: daß man sich am Anderen erkennt und daß auch der Andere sich an uns erkennt. Nicht allein im Sinne des: So ist er. Vielmelu auch in dem Sinne, daß wir einander das Anderssein zubilligen und daß es geradezu - mit Droysen zu reden gilt: >So mußt du sein, denn so liebe ich dich(. Kurz, das ist wahre Freundschaft. Aristoteles nennt es die Freundschaft der Areti. Aber was ist Arete? Die Tugend ist >>Bestheit~. wie Wolfgang Schadewald dafur vorgeschlagen hat. Was ist Bestheit? Auch das ist vielleicht nur darin einigermaßen zu begreifen, daß es ein Superlativ ist. Das heißt, etwas, was man nicht mehr steigern kann. Solches besitzt sicherlich kein Mensch. Und so ist der wahre Tiefsinn dieser Selbsterkenntnis gerade dieser, daß man die Befangenheit der eigenen Selbstliebe niemals ganz erkennt, auch wenn man glaubt, ein rechter Freund des Anderen zu sein. Aber wenn die rechte Einigkeit mit sich selber auch eine Vorbedingung fur rechtes Freundsein ist, was ist dann Freundsein selbst? Woraufberuht das
Oikeion? Das Oikeion ist jeweils etwas anderes in all der Vielfalt von Kindesfreundschaft, von Liebesfreundschaft, und früher Jugend, und von Berufsfreundschaft, und was alles dem folgen mag, was am Ende die Gründung einer familiären Gemeinschaft aufbaut- Verzicht und Gewinn. Sind das Arten eines Allgemeinbegriffs von Liebe? Doch wohl nicht. Die Griechen haben hier einen ganz entscheidenden Gedanken gedacht. Es ist der Gedanke der Analogie, der analogischen Gemeinsamkeit. Sie kommt zuerst in der Akademie und bei Aristoteles zur fuhrenden Geltung und ist vor allem durch die christliche Dogmatik bekannt, weil sie auch das Verhältnis von Geschöpf und Schöpfer denkbar macht. Die Analogie erlaubt es, das Unvergleichliche trotz allem doch auf ein Vergleichbares hinzu beziehen. Das ist in allem die Analogie. Sie sagt uns. die Knabenfreund~chaft ist nicht nur dieser Wetteifer. mit dem man sich einander zu be\veisen sucht. Nein, sie enthält bereits et\vas von dem Miteinander und Füreinander, das in jedem Wertspiel dabei ist. Insofern ist dieser Wetteiter Freundschaft, und doch wird er erst dann eine wahre Freundschati:, wenn sich daraus das Miteinander des ganzen Lebens zu formen beginnt, ein Miteinander, das ja in der Kinderfreundschaft noch gar nicht ist. Man kennt den schnellen Streit und die schnelle Versöhnung, wenn es auch immer wieder Gemeinsamkeiten gibt. Dann die Jünglingsfreundschaft, aus der dann schließlich die Lebensfreundschaft werden kann. Alle Lebensfreundschaft hat wohl immer noch etwas von dem Unerreichbaren dessen, was das Eigentliche, Wahre, Letzte, Vollkomme-
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ne wäre, das Gute. Das ist die Struktur, die wir auch in anderen Bereichen kennen. Ich gebe das Beispiel der Gesundheit. Es ist ein Beispiel des Aristoteles, der sagt: Diese Nahrung ist nicht gesund, oder, diese Gesichtsfarbe ist nicht gesund, oder schließlich auch, daß der Mensch als ganzer nicht gesund ist. Was ist das? Es ist genauso geheimnisvoll, daß dies alles in der Gesundheit seinen Bezugspunkt hat. Das, worauf wir sehen, wenn wir >gesund< meinen niemand kann sagen, worauf Gesundheit eigendich beruht. Die Standardwerte sind industrielle Konventionshilfsmittel. Die Gesundheit entzieht sich aller Beobachtung. Genauso ist es aber mit anderen Dingen auch. Die Griechen haben vor allem gesehen, daß man auch das Sein, also diesen metaphysischen Grundbegriff, nicht als eine oberste Gattung, die sich differenziert, begreifen kann. Sein ist etwas, das sozusagen in der Helle des Augenblicks ebenso sehr aufleuchten kann, wie was in der größten Ferne, der Dauer oder der Ewigkeit, sich dem träumenden Blick anzeigt. So ist es also ohne Zweifel, daß die wahre Freundschaft gerade dieses an sich hat, daß ein jeder ftir den anderen in einer eigentümlichen Weise ihn daran erinnert, wie wenig er einem vollkommenen Vorbild wirklich näherkommt, dem er vielleicht innerlich seine Maße entnimmt. Wenden \vir uns einen Augenblick zu unseren eigenen Nöten. Was bedeutet das in unserer anonym gewordenen Gesellschaft, was bedeutet die Notwendigkeit eines rationalisierten Massendaseins, zu dem dann auch die Unheirnlichkeit der Statistik gehört, ohne die es keine globale Wirtschaft gäbe? Werden nicht allzu viele Dinge uns vorenthalten, als daß wir uns darin wirklich wiedererkennen könnten? Man erklärt sich in etwas solidarisch oder auch man fiihlt sich solidarisch. Ich erinnere mich im Augenblick an Dinge, die in meine eigene Lebenserfahrung hineinleuchten, und ich bin gewiß, daß die Älteren unter Ihnen auch Ähnliches erlebt haben. Ich meine, \\·ie der Bombenkrieg Solidarität geweckt hat. Plötzlich war der Nachbar, dieser in den städtischen Lebensverhältnissen ganz unbekannte Fremde, zum Leben erwacht. So ,-virkt Not, und insbesondere Not, die alle betrifft, sodaß ungeahnte Möglichkeiten des sich solidarisch Fühlens und des solidarisch Handeins zustande kommen. Es ist dann gar nicht mehr so, wie uns das Wort solidarisch es allerdings nahdegt. Was meinen wir eigentlich, wenn wir hier von solidarisch reden? Hinter dem Ausdruck steckt natürlich das lateinische Solidum, das auch in dem Ausdruck Sold seine Rolle spielt. Es meint ja, daß es darauf ankommt, als Sold nicht etwa Falschgeld zu bekommen. Es muß gediegenes Geld sein, und es will in der Tat als Wort gediegene und zuverlässige Untrennbarkeit ausdrücken, und zwar gerade dann. wenn in Wahrheit die Verschiedenheit der Interessen und der Lebenssituationen einen versucht sein lassen, eigene Wege zu gehen und das Wohl des Anderen hinten an zu setzen. Der BegritT der Solidarität gehört also einer zweideutigen Bedeutungswelt an. In Solidarität, zu der man sich erklärt, freiwillig
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oder unter Zwang, liegt in jedem Falle ein Verzicht auf eigenste Interessen und Vorlieben. In gewissen Richtungen gibt man in der Solidarität etwas auf, in gewissen Augenblicken und ftir gewisse Zwecke. Man sieht sofort, wie beides in unserer Gesellschaft vorkonunt, teils als Vorteil, teils als MangeL Ich rede nicht ohne einen besonderen Grund über diese Zweideutigkeit. Unsere repräsentative Demokratie macht uns heutzutage viele Sorgen, ·weil es unserer Wählerschaft an Solidarität fehlt. Wir haben Ursache, uns einzugestehen, daß politische Organisationen als solche zwar Solidarität bewußt machen sollen, aber auch wirkliche Zumutungen stellen. Man denke ern•a an die Parteidisziplin, die in manchen Augenblicken politischen Lebens schwer einzuhalten ist, wenn man selber ganz anderer Meinung ist, als die Mehrheit der eigenen Partei. Aber das ist geradezu das Prinzip der Demokratie, daß in gewissen Grenzen, die ich hier andeute, trotzdem ein gemeinsames Handeln möglich bleibt. Oder man denke an die sinnvolle Einhaltung von Regelungen, deren UnZ\veckrnäßigkeit man an Ort und Stelle klar sieht, z. B. im Verkehrsleben. Ich möchte aber ausdrücklich betonen, worauf sich hier unsere gemeinsame Aufmerksamkeit richten \'.rilL Echte Solidarität muß bewußt werden, nur dann gelingt sie. Nehmen wir etwa das Beispiel der Gerichtsbarkeit. Sie mag viel angegriffen werden, und vielleicht nicht immer zu Unrecht, und trotzdem besitzt sie im Ganzen verbindlichen Geltungswert. Das ist uns ja zum Beispiel in Italien vor einiger Zeit gezeigt worden. Es ist notwendig, sich klar :zu sein, daß echte Solidarität von den Einzelnen abhängt, die sich :zu ihr bekannt haben und fur sie einstehen. Eine Isolierung der classe politica bleibt selber isoliert. Bis in die Wortbedeutung hinein müssen wir auch im militärischen Bereich an Soldatentreue denken, die im Kriegsfalle die Solidarität aufLeben und Tod von uns fordert. So ist ja in diesem Bereich auch der Begriff des Soldes im Soldatenrum aufgehoben worden. Zweifellos ist fur das Zusammenleben von Menschen so etwas wie Kameradschaft unentbehrlich. Wir sind nun einmal nicht von der Evolution so hervorgebracht, daß wir ftir alle Entscheidungen eindeutige Instinktanlagen besitzen, wie etwa die Vögel, die in der Brutzeit unermüdlich herumfliegen, um ihre Jungen zu füttern. Wir Menschen sind weit mehr auf ein Wählen angewiesen und damit auch dem Falschwählen ausgesetzt. Ich hatte gehofft, fur das Wort Solidarität die Weisheit der Sprache zu Hilfe rufen zu können und habe mich deswegen fur den griechischen Begriff der Philia, als Übersetzung von >Solidarität< entschieden, und ich glaubte, dieser Ausdruck hätte schon eine lange Vorgeschichte, die mit der Massengesellschaft im Bunde stünde. In Wahrheit ist es ein ganz neues Wort, kaum ein Jahrhundert alt. Doch gerade dadurch ist es vielsagend. Denn Solidarität meint hier eine Zusage im Rate der Freundschaft, die :zwar begrenzt ist, wie alles, als doch den gesamten Einsatz unseres guten Willens in Anspruch nimmt.
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Damit sind uns Aufgaben gestellt, ebenso sehr mit sich selbst einig zu sein und mit Anderen einig zu bleiben. Es gibt nicht irgend eine Naturkaft, die das fur uns zu leisten vermag. Es gehört Selbsterkenntnis dazu und dankbares Lernen von Vorbildern.
II. Zur Weltgeschichte des Denkens
8. Die Philosophie und ihre Geschichte (1998) Ein Handbuch von Weltruf, das viele Auflagen erlebt hat und geradezu ein Begriff geworden ist. Wie der •Ueberweg<, trifft nach mehr als 50 Jahren gegenüber der letzten Auflage von 1926 bei seiner Fortsetzung und Erneuerung auf eine veränderte Weltlage und auf eine veränderte Stellung der Philosophie im Ganzen der menschlichen Kultur. Man kann die Aufgabe der Philosophie und ihrer Geschichte nicht mehr so sehen und so beschreiben wie damals, als die Abgrenzung zur Wissenschaft das einzige Anliegen bei der Begriffsbestimmung von Philosophie zu sein brauchte und als die Geschichte der Philosophie sich nur als ein Teilgebiet historischer Forschung verstand. Eins freilich hat sich im Grunde nicht geändert. Die Philosophie steht zu ihrer Geschichte in einem grundsätzlich anderen Verhältnis, als die Wissenschaften sonst zu ihrer Geschichte stehen. Zwar kann heute keine Erneuerung der apriorischen Geschichtskonstruktion in Frage kommen, die es etwa Hege! erlaubte, in der Geschichte der Philosophie das Innerste der Weltgeschichte zu sehen. Aber ein anderer Gedanke Hegels bleibt wahr, daß es dem Wesen des Geistes gemäß ist, daß seine Entfaltung in die Zeit fallt. So hat das Denken, das den Geist denken will, kaum je mehr mit sich selbst zu tun, als "venn es der Geschichte seiner selbst zugewandt ist. Indessen ist das Gewicht dieser Tatsache im 19. Jahrhundert durch die moderne Wissenschaftskultur nach Kräften gemindert worden. Die Geschichte der Philosophie ""'Urde in der Tendenz dieser Wissenschaftsgesinnung mehr und mehr wie alle anderen Erfahrungswissenschaften behandelt. So war es auch noch in den späteren Aut1agen des •Ueberweg<. Dem entsprach ein geschichtlich ganz unret1ektiertes Verständnis des Begriffs sowohl der Philosophie und der Begriffe, in denen Philosophie sich ausspricht. Wenn sie als die >Wissenschaft der Prinzipien< definiert wurde, so von Karl Fraechter in den letzten Auflagen des •Ueberweg< (z. B. 12 1926, Bd. 1, S. 1), dann konnte auch Praechters ganz ausgezeichnete geschichtliche Studie über das Wort •Philosophie< und seine begriflliche Entwicklung (ibid. S. 1-6) nichts daran ändern, daß wir heute angesichts der Kantischen Philosophie, auf die sich Fraechter bezieht, von Fragen förmlich überschüttet werden. Ist mit einer solchen Definition nicht allzuviel vorentschieden? »Wissenschaft der Prinzipien« - '"'aS heißt da >Wissenschaft<, was heißt >Prinzip
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Der Begriff >Prinzip~ zielt auf ein Ableitungs- und Beweisverfahren, wie es von den Griechen fiir mathematische Argumentationen vorbildlich entwikkelt worden ist. Das Wort >Prinzip< geht auf den griechischen Ausdruckarche zurück und heißt sowohl )Anfang< als auch >Herrschaft<. Zu einem leitenden operativen Begriff wird das Wort aber erst bei Aristoteles. Gewiß steht es bei Platon in einem Zusammenhang, der sich dem Sinn von >Prinzip• nähert, nämlich fiir das, was den Gebrauch des Begriffs der bloßen Hypothese im Verfahren der Mathematik überschreitet (PLATON, )Der Staat< Rep. 511 b). Es kann dort aber auch noch unterminelogisch verstanden werden, als Anfangsoder Ausgangspunkt. Bei Aristoteles findet sich ohne Frage - ob aus dem Schulgebrauch Platons oder der Akademie entnommen, den wir nicht genau genug kennen - der begriffliche Sinn von archi im Sinne von Prinzip. Damit ist aber gesagt, daß Prinzip ein Jenseits von allem Beweisverfahren ist. Wenn wir das Wort auf >Philosophie< anwenden, stellt sich daher die Frage, ob es denn überhaupt von den Prinzipien >Wissenschaft< geben kann. Prinzipien sind jedenfalls nicht beweisbar, da der logische Sinn von Beweisen immer ein Vorwissen voraussetzt, wie Aristoteles mit Recht betont: lliioa Öu)aoxaA.ia xat :rr:iioa J.u:'dhiOL~ Ot.avmrnxiJ tx:rr:pou:rr:apxouorJ~ ytvet:m yvci:loEOJ~ (Jedes Lehren undjedes verständige Lernen entsteht aus vorgängigem Wissen) (AR.rSTOTELES Anal. post. I 1 71a1). Noch mißlicher ist es aber, daß Philosophie wohl kaum durch den ausschließlichen Bezug auf Wissenschaft verstanden werden kann. Schon der Gebrauch von archi, ja sogar der Gebrauch von apodeixis, ist ursprünglich von Beweis und Wissenschaft noch ganz unabhängig (vgl. PLATON •Phaidros< 245 c 1 f). Das Wort hat vielmehr den klaren Sinn, den gemeinsamen Ausgangspunkt zu bezeichnen, und hier den Anfang, von dem Verständigung ausgeht. Apodeixis bedeutet entsprechend zunächst nicht den von der Mathematik und Logik eingeftihrten Begriffvon Beweis, sondern lediglich >Aufweisung• und meint Hinftihrung auf das, auf das man hinzeigen kann- im Unterschied von mythischer Rede, die solches verbietet. Solche sind andersartige Erfahrungsweisen des Menschen, die sich im Bereich von Mythos, Religion und Kunst ihre eigene Sprache schaffen. Erst wenn wir ganz im Horizont des neuzeitlichen Begriffs von Wissenschaft denken, drängt sich die Kamische Definition >Wissenschaft von den Prinzpien• auf, die man im Anfang unseres Jahrhunderts noch ganz problemlos gebrauchte, und so findet sie sich bei Fraechter. Wissenschaft beherrscht das Ganze unserer gegenwärtigen Zivilisation. Sie hat sich über die ganze Welt verbreitet. Der Begriff von Wissenschaft, der in Griechenland entstanden ist, epistime (scientia, science), war dagegen in Platons Denken an der Mathematik orientiert. Sie war die einzige reine Vernunftwissenschaft und stand im ausschließenden Gegensatz zur Erfahrung. Der ftir die neuzeitliche Wissenschaft angemessene Ausdruck )Erfahrungswissenschaften< wäre für den Platoniker so etwas wie ein hölzernes Eisen. In der
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Schultradition des Abendlandes trug daher auch die Philosophie, die es mit den Prinzipien zu tun hat, andere Bezeichnungen, etwa >Dialektik< oder >Metaphysik<, und stand damit im Zeichen Platons und Aristoteles'. Die regina scientiarum war keine prima scientia, sondern prima philosophia. Es ist erst der neuzeitliche Begriff von Wissenschaft, der schließlich in der Neuzeit die Philosophie legitimieren sollte. Heißt das aber, daß Philosophie heute nichts anderes mehr zu sein vermag als Erkenntnistheorie oder Wissenschaftstheorie? Die neuzeitliche Wissenschaft eilt, in ihrer eigenständigen Expansion- um ihre Nachbarschaft zur Philosophie immer weniger bekümmert -, ihren Weg voran. Allenfalls kann die >wissenschaftliche Philosophie< (wie sie sich im 19. Jahrhundert nannte) als zu ihr gehörend die Logik, die in unserem Jahrhundert immense Fortschritte gemacht hat, und die Philosophie der Wissenschaften meinen. Wenn es sich dagegen um die sogenannten Geisteswissenschaften handelt, so steht es, wenn man diesen Maßstab anlegt, mit deren Anspruch, Wissenschaft zu sein, nicht sehr gut. In der Tat mag es fiir die Sonderlage der deutschen Geistesgeschichte etwas bedeuten, daß wir überhaupt noch fiir die philosophisch-historischen Wissenschaften das Wort >Wissenschaft< verwenden, das im 18. Jahrhundert durchaus im weitesten Sinne fiir Kunde stehen durfte, während in vielen anderen Kultursprachen das lateinische Wort scientia nur fiir die Naturwissenschaften gebraucht wird. Das schließt natürlich nicht aus, daß die Geisteswissenschaften, die anderswo lettres oder humanities heißen, durch ihre allgemeine Bedeutung der Philosophie besonders nahestehen. So sieht die Revision des Wissenschaftsbegriffs im Lichte des geschichtlichen Bewußtseins aus. Wir müssen der Philosophie, die an der geschichtlichen Welt orientiert ist, eine andere Art von Erkenntnis und Wahrheitsanspruch zusprechen. Es hängt damit zusammen, daß seit der Romantik die Hermeneutik in den Zusammenhang philosophischer Betrachtungen gerückt worden ist. Das heißt durchaus nicht, daß die hermeneutische Dimension der Philosophie Relativismus oder Skeptizismus bedeutet und daß die Forderung der Objektivität fiir sie nur eine Schranke darstellt. Es zeigt sich umgekehrt, daß ein Einschlag des philosophischen Gedankens in Wahrheit aller Wissenschaft zukommt und allem Methodengebrauch vorgeordnet ist. Es gibt keine Methodik des Fragens, und alle Spezialisierung ist mit Horizontverengung verknüpft. Inzwischen sind die Sozialwissenschaften mit neuem Selbstbewußtsein auf den Plan getreten. Was die ,wissenschaftliche Philosophie~ nicht vermocht hatte, die seit Hegels Tod dessen Erbe auf akademische Weise verwaltete, wird jetzt von den Sozialwissenschaften in Anspruch genommen. Sie seien der Weg, die der Kritik verfallenen Metaphysik in Wissenschaft zu verwandeln. Das nennt sich Soziologie und wohl auch Ideologiekritik, und mit >Ideologie< sind sowohl Religion und Recht wie auch Kunst und Wissenschaft angesprochen. So beherrscht die Soziologie die weiten Räume, die ehedem der Philosophie unterstanden. Ja, sie hinterfragt die Philosophie selbst, bestreitet ihren
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Erkenntnisanspruch und fuhrt die Fragestellung der Wissenssoziologie ins Feld. Sie meint damit den angeblichen Relativismus historischen Denkens durch neue Wissenschafdichkeit zu überwinden. Der Tendenz nach tritt damit alles, was Geschichte heißt, mehr und mehr zurück. Das entspricht genau dem technischen Perfektionismus des Zeitalters, das im Planen und Machen seine Bewährung sucht. Indessen, das historische Bewußtsein ist ein Zugewinn an menschlicher Erkenntnis, der sich nicht verleugnen läßt. Dabei ist nicht die kritische Methodik der historischen Wissenschaften gemeint. etwa Archiv- und Spatenforschung und vor allem Quellenkritik. All das läßt sich vollständig in das moderne Selbstverständnis der Wissenschaft einbeziehen. Ein Geschichtsschreiber und Geschichtsdenker des Altertums wie Thukydides war aber etwas anderes. Er zeigt nvar eine imponierende Meisterschaft in Kritik und im Streben nach Objektivität, hat aber mit ,Wissenschaft< noch gar nichts im Sinn. Es war nur möglich, in der Neuzeit die historische Wissenschaft an dieses antike Vorbild anzuknüpfen, wenn man das kritische Methodenbewußtsein der Moderne darin wiederzuerkennen meinte. Dem entspricht, daß im 19. Jahrhundert ein so bedeutender Moralist und Schriftsteller \vie Plutarch seine frühere Beliebtheit gänzlich einbüßte. Ge\viß haben alle griechischen Historiker der eigenen Geschichte ein hohes Interesse entgegengebracht. Aber es war nicht das Interesse der aufgeklärten Wissenschaft. So liebten die griechischen Geschichtsschreiber es sogar, die mythologische Überlieferung mit ihrer eigenen Gegenwart zu einer lückenlosen Erbfolge zusammenzuschließen. Was \vir das historische Bewußtsein nennen, ist dagegen etwas ganz anderes. Darin geht es um Wissenschaft im Bewußtsein der Andersheit der Zeiten und der Vielfalt der Kulturen. Das "-'Urde eigentlich erst zum Problem, nachdem Hegels großartiger Versuch gescheitert war, die Vernunftansicht der Weltgeschichte zu explizieren. Damals hat die historische Schule sich im Gefolge Herders und der Romantik von Hegeischen Konstruktionen befreit und damit die geschichtlichen Leistungen des 19. Jahrhunderts herbeigefUhrt - unter entschlossenem Verzicht auf moralische Behandlung der Geschichte und überhaupt auf die Vernunftansicht der Weltgeschichte. Freilich, trotz aller Vereidigung auf methodische Kritik und wissenschaftliche Objektivität ist an den Leistungen der geschichtlichen Wissenschaften immer ablesbar geblieben, welche Tendenzen politischer. sozialer, religiöser und weltanschaulicher Art der Handhabung der kritischen Methodik zugrunde lag. Das gilt fiir alle geschichtlichen Wissenschaften. In ganz anderem Ausmaß gilt das fiir die Geschichte der Philosophie. Ihre •Tatsachen< sind lediglich die Meinungen (doxm), von denen wir in direkter oder indirekter Überlieferung wissen. Das galt ja selbst noch für den Anspruch Kants, in seiner •Kritik der reinen Vernunft< zu zeigen, daß sich die Vernunft ohne den Rückhalt an der Erfahrung in unauflösbare Widersprüche ver-
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strickt. Kaut hat den bisherigen chaotischen Zustand der Geschichte der Metaphysik mit dem Gegenbild der aristotelischen Logik kritisch verglichen. Indessen entsprach seine eigene Wirkung recht wenig dem Vorbild einer gesichert fortschreitenden Erkenntnis. Es war die stürmische Bewegung des deutschen Idealismus, die er ausgelöst hat. Der deutsche Idealismus, der sich im wesentlichen aus den Perspektiven der >Kritik der Urteilskraft{ Kants entwickelte, wenngleich auf dem Boden seiner Freiheitslehre, stellte den letzten Versuch einer metaphysischen Überformung der neuzeitlichen Erfahrungswissenschaften dar, die noch in ungebrochenem Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Forschung stand. Gerade dieser Umstand fuhrte aber dazu. daß die Naturphilosophie geradezu der eigentliche Prügelknabe ftir die Wissenschaftsgesinnung des 19. Jahrhunderts wurde. Gewiß galt das in gewissem Umfang auch fur Hegels Konstruktion der Weltgeschichte, sofern die Vernunftansicht der Geschichte der Grunderfahrung von sinnlosem Geschehen widersprach. Gleichv.lohl hat sich zwischen der Entstehung der historischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert und ihren idealistischen Ursprüngen das Bewußtsein einer Kontinuität von Herder bis Hege! und von Ranke bis Dilthey, also bis zu der ganzen historischen Schule, weit besser erhalten, als man es von dem Wissenschaftsbewußtsein der Naturwissenschaften des gleichen Jahrhunderts sagen kann. Der Einfluß Schleiermachers, selbst ein bedeutender Philologe, war innerhalb der historischen Schule Berlins bis hin zu Dilthey ungebrochen. Doch dann wirkte sich die spätere Rückwendung zu Kant, die das 19. Jahrhundert in Gestalt des Neukantianismus zeitigte, weitgehend in den Bedürfnissen und der Forschungsgesinnung der modernen Naturwissenschaften aus. Die großen Themen der Metaphysik, die der Kautischen Kritik verfallen v-.·aren, wurden von der erkenntnistheoretischen Grundlegung der Erfahrungswissenschaften verdrängt. So erhob die Marburger Schule die Infinitesimalmethode zum eigentlichen Kronzeugen ftir die kritische Tat Kants. Für die Geistesv-.r:issenschaften wurde in der Macburger Schule das grundlegende Faktum der Wissenschaft an der Rechtsv.rissenschaft exemplifiziert. Der südwestdeutsche Neukantianismus definierte den Bezug auf das Faktum der Wissenschaft durch die Wertphilosophie, die den Geisteswissenschaften ihr Fundament darstellen sollte. Die Geschichte der Philosophie konnte solcher normativer Kraft des Wissenschaftsgedankens des 19. Jahrhunderts nur durch eine grundsätzliche Umformung der geschichtlichen Dimension der Philosophie gerecht ·werden. An die Stelle des unsteten Wechsels von akademischen >Systemen{ und populären •Weltanschauungen~ trat in der wissenschaftlichen Philosophie des Neukantianismus die Problemgeschichte. Sie erftillte die doppelte Bedingung, den philosophischen Wahrheitsanspruch echter Forschung zu erftillen und gleichzeitig die Aspektenvielfalt geschichtlichen Wandels einzubeziehen. Dieses methodische Selbstbewußtsein spiegelt sich noch
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in den letzten Auflagen des >Ueberwegc aufüberzeugende Weise. Gleichwohl können wir heute bei dieser Zielsetzung nicht stehenbleiben. Im Zuge der Entfaltung des geschichtlichen Denkens und der Verfeinerung des historischen Sinnes, konnten der Anspruch der Philosophie, Wissenschaft von den Prinzipien zu sein, und ebenso der Systemgedanke der Problemgeschichte nicht mehr genügen. Dafur ist vor allem die Lebensarbeit Wilhelm Diltheys repräsentativ, der die Mehrseitigkeit des Lebens und seine gedankenbildende Arbeit zur Geltung brachte. Man vergleiche nur einmal Georg Mischs philosophische Fibel >Der Weg in die Philosophie< (1926) mit älteren Einleitungen in die Philosophie. Die Kategorie des Lebens konnte auch dem Denken Chinas und Indiens Aufnahme gewähren, wie sie es schon Hegel von dem Begriff des Geistes aus vermocht hatte. So hat Dilthey so gut gegenüber einem platten Empirismus wie gegenüber dem neukantianischen Apriorismus Distanz genommen. Es konnte aber nicht ausbleiben, daß von der Kautischen Tradition aus Diltheys Position als ein lähmender Skeptizismus und historischer Relativismus erschien. Husserls berühmte Kritik an dieser Position, sein Aufsatz >Philosophie als strenge Wissenschafte im >Logos< von 1910, hat bekanntlich den Lebensabend Diltheys überschattet. Von dieser Zeit trennt uns heute fast ein ganz Jahrhundert. Die Entwicklung der Philosophie hat sich in diesen Jahrzehnten entscheidend verändert und insbesondere ihre Stellung im Ganzen der Wissenschaft. Der Epocheneinschnitt, der mit dem Ersten Weltkrieg gesetzt war, hat in vielen Wissenschaften eine neue Problematik aufbrechen lasssen, so in den sogenannten Grundlagenkrisen der Mathematik, der Physik, der Biologie und anderer Wissenschaften, vor allem auch in der Krisis der Theologie, die ihr bisheriges wissenschaftliches Selbstverständnis mit dem Einbruch der sogenannten dialektischen Theologie in Frage gestellt sah. Innerhalb der Philsophie trat das in der Verdrängung des Neukantianismus hervor. Was sich bald Lebensphilosophie, bald Existenzphilosophie nannte, erfullte das allgemeine Bewußtsein und löste die neukantianische Orientierung an dem Faktum der Wissenschaft ab. Das entschied sich vollends mit der hermeneutischen Wendung, die die Phänomenologie im eigenen Hause Husserls nahm. Heideggers Kritik an der Begrifllichkeit des Neukantianismus und dem transzendentalen Ego implizierte eine Vertiefung in die begriffsgeschichtliche Herkunft der herrschenden Leitbegriffe von Methode, Selbstbewußtsein, Subjektivität, Objektivität usw. Das hat sich bis in die Epoche des Zweiten Weltkrieges hin ausgewirkt und leitete eine radikale Selbstbesinnung ein, die den Erkenntnissinn von Philosophie von Grund auf veränderte. Sie mußte sich dem Radikalismus Nietzsches stellen. Es genügte nicht länger, die Geschichte der Philosophie als eine historische Disziplin zu betreiben. Man hätte damit das Bedürfuis unterschätzt, das der Philosophie entgegengebracht wird und das die Menschen in
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ihrem Fragen und Denken bewegt, auch wenn sie die Legitimation durch die Wissenschaft entbehren müssen. Die Allgegenwart der technischen Erfolge, die Flut der Informationen, die Dichte des Flugverkehrs, die Verflechtung des Welthandels und mit all dem auch der wachsende wissenschaftliche Austausch zwischen den Ländern und Kontinenten, a1l das kann in Wechselwirkung den philosophischen Gedanken nicht unberührt lassen. Was im Abendland Philosophie war, wird sich in einem weltweiten Horizont neu bestimmten müssen. Ähnliches gilt fLir die christliche Theologie, die in den Dimensionen der Ökumene denken muß. Gewiß, es war ein einmaliger Weg des Gedankens, der vom griechischen Altertum über das christliche Mittelalter zur Neuzeit und zu a1l den in immer neuen Wellen heranbrandenden Aufklärungsbewegungen geführt hat. Aber hat dieser Weg des europäischen Denkens im wissenschaftlichen Bewußtsein der Gegenwart sein Ziel erreicht? Leben wir im Zeitalter der vollendeten Aufklärung? Heute stellt sich weit eher die Frage, wie andere Kulturen, wenn sie mehr und mehr in die Bewegung der wissenschaftlichen Aufklärung hineingezogen werden, ihr eigenes Erbe festhalten und was sie etwa in eine gemeinsame Zukunft menschlichen Denkens neu einbringen werden. Wie werden sich die nichtchristliehen Religionen, aber auch das Christentum in seinen so verschiedenen Gesellschaftsstrukturen und verschiedenen Traditionen, im Zeitalter der alles durchdringenden wissenschaftlichen Aufklärung zurechtfinden? Jedenfalls kann sich die Philosophie nicht länger dem verschließen, daß die Wissenschaft und die technische Revolution, die uns fortreißt, zwar im griechischen Denken ihre Wurzeln hatte, aber inzwischen auf der ganzen Erde ihre Ausbreitung findet. Das geschah vom Boden des christlichen Abendlandes aus. Daraus hat die Aufklärung ihre Nahrung gezogen. Muß es nicht auch für uns und für die Philosophie überhaupt etwas bedeuten, daß heute das Denken des Abendlandes in globalem Ausmaß diskutiert wird? Das soll nicht etwa heißen, daß es nun eine Weltgeschichte der Philosophie geben müßte, die auf die geistige Entwicklung anderer Kulturkreise unter dem Begriff der Philosophie ausgedehnt würden, etwa aufJapan oder China, auf Indien, Lateinamerika oder Afrika, die sich alle mit der europäischen Wissenschaft und damit auch mit ihrer Philosophie konfrontiert sehen. So verfahren hieße nur, den Irrtümern und Wahnideen des geistigen Kolonialismus Raum geben, nachdem der wirtschaftlich-politische Kolonialismus zusammengebrochen ist. Eine Weltgeschichte der Philosphie kann es nicht dadurch geben, daß man Heterogenes sammelt, aneinanderreiht und mit der Methodik kritischer Geschichtsforschung zu beherrschen sucht. Das wäre so wenig eine Weltgeschichte der Philosophie, wie es eine Weltgeschichte wäre, die wirklich ihren Namen verdiente, wenn man etwa den verschiedenen Kulturkreisen und Kontinenten jeweils eigene Bände widmete und auf diese Weise die ganze Welt umspannte. So etwas ist einmal im Anfang unseres Jahrhundert tatsächlich versucht worden. Im großen Stile hat dagegen
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schon Hegel den Welthorizont der Geschichte der Philosophie ausgeweitet und das Ganze unter seine eigene Perspektive gestellt. Heute korrunt es gewiß auf etwas anderes an. Wir wissen es nicht, was die Weltreligion oder die Weltaufklärung der Zukunft sein wird. Was \Vir wissen, ist aber, daß uns unsere eigene Welt und Geschichte schicksalhaft geprägt und damit auch von anderen Welten und Wegen unterschieden hat, denen nicht die Wissenschaft und ihr Ursprung in der Metaphysik so zum Schicksal wurde. Man muß sich vor der verzerrenden Wirkung hüten, in die die Rede von chinesischer oder indischer Philosophie fUhrt, \venn man dabei nicht das Ganze des religiösen und kulturellen Erbes dieser Kulturen mitmeint. Es muß einen nachdenklich machen, angesichtsder tiefsinnigen Gespräche, die chinesische Weise mit ihren Schülern fUhren, was daneben die moderne Wissenschaft und ihr europäisches Erbe bedeutet. Daß die neuzeitliche Wissenschaft und Technik auch dort übernommen werden, läßt durchaus noch offen, ob sie nicht in ein neues Ganzes menschlicher Kultur eintreten, aus dem wir selbst zu lernen hätten. Es zeigt sich dann vielleicht in einem neuen Licht, was es fiir unsere eigene abendländische Geschichte bedeutet, daß sie Wissenschaft und Philosophie hervorgebracht hat. Auch unser Philosophieren muß angesichts dessen ein verschärftes Bewußtsein fiir die Einzigartigkeit seiner Geschichte gewinnen. Das zeigt sich sogleich an der Frage nach dem Anfang der Philosophie. Bisher sah man diese Frage von der Endgestalt der Wissenschaft, von der sich als Wissenschaft verstehenden Philosophie her. Damit umschrieb die Frage eine festumrissene Forschungsaufgabe, so wie geschichtliche Forschung auch sonst die Vergangenheit aufsucht. Man sah in ihr die Vorgeschichte und Entstehung der eigenen, aus der Wissenschaft hervorgegangenen Philosophie. Jetzt dagegen steigt die Frage des Anfangs zu einem philosophischen Problem von neuer Bedeutung auf. Welchen Endes Anfang ist eigentlich der Anfang der abendländischen Philosophie? Es mochte noch im Zeitalter des Neukantianismus eindeutig klingen, wenn man die Frage als die nach dem Anfang der Wissenschaft und dem Anfang der wissenschaftlichen Philosophie verstand. Nun aber beginnt der Wissenschaftscharakter der Philosophie aufgrund der gewaltigen Horizonterweiterung fragwürdig zu werden, in der unser Denken andere Kulturen wahrzunehmen beginnt. Sie werfen uns ein Bild zu, nach dem es auch in ihnen religiöse Tiefe und theoretische Leidenschaft gab und sogar großartige Ausdrucksformen ftir beides, ohne daß dort Wissenschaft im modernen Sinne des Wortes entstanden wäre. So haben wir auch mit ganz anders gearteten Antworten zu rechnen. Wir würden sie freilich nicht mehr Philosophie nennen, sondern eher Mythos, Religion und Kunst, und doch nehmen auch diese wohlabgev.-ogenen Lebensordnungen an den Fortschritten der modernen Wissenschaft und Technik Anteil und werden vielleicht einen ganz anderen, bedachtsamen Gebrauch von ihnen machen.
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Der Blick auf andere, religiös fundierte Kulturwelten, die anders sind als die unsrige, und mit denen wir dennoch Austausch pflegen, fuhrtjedenfalls heute eine neue Sehschärfe herauf. Wir lernen mit ihnen zu denken, und das erlaubt uns, sie und uns besser zu verstehen. Wir bewegen uns alle in einem mehr und mehr gemeinsamen Fragehorizont, den wir mit unseren Worten wohl «metaphysisch» nennen müssen. Dazu tritt die große Ervveiterung des Vergangenheitshorizonts, unter dem wir heute die griechischen Anfange sehen, seit Babyion und Ägypten und die anderen Hochkulturen Vorderasiens unseren Vergangenheitshorizont mit immer reicherem Inhalt fullen. So genügt es uns nicht mehr recht, den Anfang der Philosophie bei Thales zu sehen, weil er als erster das mythische Denken der früheren Griechen hinter sich ließ, ·wie es Aristoteles bei Homer und Hesiod zu finden meinte. Das hatte für Aristoteles seine volle Schlüssigkeit, sofern er in diesen Anfangen den Begriff der Natur (physis) wiederfand. Seine Lehre von den vier Ursachen sollte den Sinn der Frage nach der Natur ausmessen, und das bedeutete im neuzeitlichen Denken •Hylozoismus<, das heißt eine Lehre von der belebten Materie. Ob damit die Anfänge des griechischen Denkens wirklich in den Blick treten und ob sie sich als Denkmöglichkeiten für unsere Perspektiven öffuen, oder ob wir in Wahrheit diese Anfange vielleicht zu einer Vorgeschichte der aristotelischen Metaphysik umfälschen? Für uns ist es jedenfalls nachdenklich gev..·orden, wenn die großen epischen Dichter, Homer und Hesiod, die am Anfang unserer literarischen Überlieferung der griechischen Mythemvelt stehen, im Zeitalter der griechischen Aufklärung von Herodor geradezu als die Schöpfer des griechischen Götterhimmels bezeichnet werden. Das soll offenbar heißen, daß sie es waren, die die mannigfaltigen sakralen Kultformen und Kultträger, die über ganz Griechenland verbreitet \varen, zur Einheit der olympischen Religion getürmt haben. Darüber hinaus haben sie im Falle Hesiods Ahnungen von der furchtbaren Vorgeschichte dieses Olymps der Götter Griechenlands vermittelt, so daß sich selbst Homer in einem neuen Licht zeigt. Wir beginnen mehr und mehr zu realisieren, daß in der epischen Dichtung ein gutes Stück Arbeit des Gedankens, )Arbeit am Mythos< steckt. Ich spiele damit auf Hans Blumenbergs so betiteltes Buch von 1979 an. Die griechische Mythenwelt gehört mitsamt ihren Dichtern in einen religiösen Prozeß, an dessen Anfang Zeus und an dessen Ende der Übergang in das christliche Weltalter steht. Das bedeutet aber, daß der erste Einsatz der Philosophie in Wahrheit eine Arbeit des Gedankens fortsetzt, die weit früher begonnen hat. Ein gleiches gilt fiir die Anfänge der griechischen Wissenschaft. So hat ja auch die neuere Forschung den babylonischen und ägyptischen Einfluß auf die Mathematik und Astronomie aufgezeigt, den die frühen griechischen Denker von dort aus erfahren haben. Das Bild, das Aristoteles von seinen Vorgängern zeichnet, will eben überhaupt kein Geschichtsbild sein. Er hat den Grundtypus der Doxo-
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graphie geschaffen, das heißt eine Registrierung der Lehren der frühen griechischen Denker. Solche Lehrbücher haben in der späteren Antike wie in der gesamten mittelalterlichen und neuzeitlichen Tradition das Bild der griechischen Philosophie beherrscht. Man darf darin nur nicht eine Geschichte der Philosophie und eine geschichtliche Fragestellung sehen wollen. Das gilt nicht minder fur Platon, der ebensowenig aus geschichtlichen Interessen seine fast ironische Konstruktion der Herakliteer und in der würdigen Figur des Parmenides ihren Gegensatz aufbaut. Was Platon etwa als die Gitantomachie zwischen Materialisten und Ideenfreunden schildert, die er im >Sophistes< vorfuhrt, wird niemand als historische Berichterstattung lesen wollen. Das sollte auch fur Aristoteles gelten, wenn auch Aristoteles bei der Behandlung seiner Vorläufer gewiß jede ironische Distanzierung platonischen Stils fernlag. Das sieht bei dem neuzeitlichen Aristoteliker, bei Hegel, der eine ähnlich starke traditionsbildende Kraft bewiesen hat, ein wenig anders aus. Inzwischen war der historische Sinn erwacht, und damit war es seit Herder und der Romantik ein geschichtliches Denken, das sich der Vergangenheit nicht einfach überlegen wähnte. Während Aristoteles sich nur zu vergewissern wünschte, daß der begriffliche Rahmen, den er um die Fragen der Philosophie spannte, weit genug war, um wirklich alles zu umfassen, hatte das Interesse Hegels und der Romantik an den Anfangen der abendländischen Philosophie eine tiefere spekulative Bedeutung. Hegel hatte dem in dem berühmten Gedanken Ausdruck gegeben, daß es dem Wesen des Geistes gemäß sei, daß seine Entfaltung in die Zeit fallt. Der Sache nach ist das ein neuer Anspruch von ungeheurer Bedeutung. Er enthält die Aufgabe, die Anfinge der Philosophie, die Metaphysik, ja selbst die moderne Wissenschaft und die christliche Religion mit ihrer theologischen Durcharbeitung, die in der Lehre vom Heiligen Geist gipfelt, miteinander zu versöhnen. Das und nichts Geringeres war der Anspruch von Hegels Dialektik. Damit mußte sich noch einmal wiederholen, aber nun mit der Ausdrücklichkeit einer geschichtlichen Konstruktion, was schon in Aristoteles' Behandlung seiner Vorgänger lag. Von der in Hegels Augen erreichten Vollendung aus mußte sich auch der Sinn von >Anfang< in seinem Gehalt neu bestimmen. So kam es zu der ersten wirklichen Neuentdeckung der Vorsokratiker. Hegel hat in seinem systematischen Hauptwerk, der >Logik<, das heißt also. der Kategorienlehre der aristotelischen Tradition und ihrer kantischen Systematisierung, Deduktion und Entwicklung der Kategorien, eine Vorgeschichte vorangestellt, die den einfachen Gedanken des Seins und des Nichts und des Werdens, das heißt aber den Anfang der Geschichte der Philosophie von Parmenides und Heraklit an zur Darstellung bringt. Dessen Ende sei mit dem Begriff des Geistes gekommen - und dies sei die Versöhnung der christlichen Botschaft mit dem Begriff des seiner selbst bewußten Geistes. So wäre die Wahrheit des Endes zugleich die Wahrheit der Geschichte selbst. Hege! konn-
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te in der Geschichte der Philosophie das Innerste der Weltgeschichte erblikken. Eine solche aprioristische Konstruktion konnte freilich vor dem Erfahrungsstandpunkt des heraufziehenden Zeitalters der positiven Wissenschaften nicht standhalten. So war es der weniger radikale Idealismus Schleiermacherseher Prägung, der sich von Fichte herleitete, und es war nicht so sehr Hegel, was im Geiste der historischen Schule die Geschichte der Philosophie als eine historische Forschungsrichtung zur Entwicklung brachte. Damals kamen den Geist des historischen Denkens ausdrückende Begriffe auf, die uns selbstverständlich sind, wie der Begriff der >Vorsokratiker< und der >Neuplatoniker<. Der Ausdruck >Neuplatoniker< trat an die Stelle von >Platoniker< und bezeugt den mit Schleiermacher und seiner Arbeit einsetzenden Rückgriff auf den originären Platon. Ebenso wird damals mit dem Begriff der Vorsokratiker eine Aufgabe in Angriff genommen, die seitdem die Forschung in Atem hält. Es geht darum, die doxographische Tradition undjede andere Überlieferung der späten Antike nicht einfach zugrundezulegen, sondern sie kritisch zu überprüfen, damit man an die authentische Situation und Redeweise der frühen griechischen Denker herankommt. Derartiges lag der aristotelisch geprägten Schulgesinnung der Spätzeit des Altertums überhaupt nicht am Herzen. Am Beispiel der Vorsokratiker bezeugt sich fiir uns, wie unlöslich das Band ist, das selbst im Zeitalter der Wissenschaft die Geschichte der Philosophie mit der Philosophie selbst verknüpft. Man denke etwa an die neukantianische Schule, die nicht nur in Platon, sondern gerade auch in den Vorsokratikern die Grundbegriffe ihrer eigenen Systematik aufSuchte und in Wahrheit damit Hegel folgte. Noch eindrücklicher ist der neue Akzent, der auf den griechischen Anfang des Denkens zielt, als eine radikale Auseinandersetzung mit dem Ende der Metaphysik in der extremen Position eines Friedrich Nietzsche zur Wirkung kam und als Heidegger, auf der Suche nach einer ursprünglichen Seinserfahrung, die frühen griechischen Denker neu zum Sprechen zu bringen suchte. Dem trat die neuere philologische und historische Forschung zur Seite. Gerade in unserem Jahrhundert hat sich der Geschichtshorizont dank der Archäologie und der Sprachwissenschaft bis weit in frühe Jahrtausende geöffuet, die sich ebenfalls fiir die griechische Welt als bedeutsam erwiesen. Die Frage nach dem Anfang der Philosophie, in dem Sinne, wie sie bei Aristoteles auftrat, läßt sich jedenfalls nicht mehr von der allgemeinen Wendung zu theoretischer Erkenntnis trennen, der die griechischen Anfange auszeichnet. Als die ionischen Küstenstädte als Handelsplätze zu ihrer Blüte aufstiegen und Kaufleute wie Forscher auf ihren Schiffen das Wissen von fremden Ländern und fremden Völkern heimbrachten, war das wahre Augenzeugenschaft (historii). Das war es damals, was sich Wissen nannte, Kunde von fremden Ländern. Damals, im 7. und 6. Jahrhundert vor Christus fragten die in Milet leben-
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den Männer jenseits aller mythischen Vorstellungen nach Himmel und Erde, nach dem Anfang von allem, nach dem Bau des Universums, wie auch nach dem Geheimnis des Lebens, und nach all den wunderbaren Dingen aus nah und fern, von denen sie erfuhren. Dazu kam, daß der neue lebhafte Handelsverkehr die Griechen vieles von den Hochkulturen des Vorderen Orients lernen ließ, vor allem in Mathematik und Sternbeobachtung. Natürlich empfingen sie aber auch Kenntnisse über die religiösen und sozialen Verhältnisse im Vorderen Orient, die in die eigene aufblühende Stadtkultur eindrangen. Um so schärfer zeigte sich, daß sich all das neue Wissen und Können mathematischer und astronomischer Art erst in Griechenland zu wissenschaftlicher Qualität erhoben. Das heißt, daß es nun auf die Beweise ankam. Es waren die ersten Schritte zur Grundlegung der euklidischen Geometrie, die damals getan wurden. Die Forschungen von Neugebauer und van der Waerden, von Burkert, Mittelstrass und vielen anderen haben unsere Kenntnisse über die Voraussetzungen des griechischen Aufbruchs ebenso vermehrt wie die Einsicht geweckt, wie einzigartig bei den Griechen der neue Weg zur Wissenschaft war. Gewiß wäre es voreilig, den Begriff von Wissenschaft, der sich so mit dem Anfang der Philosophie verband, als Wissenschaftlichkeit im modernen Sinne zu verstehen. Da gibt uns schon das Wort ~Philosophie• seinen Wink. Wenn nicht alles täuscht, war dieser Ausdruck fiir die universale Weltneugier und die unersättliche Fragelust der frühen ionischen Denker noch gar nicht üblich. Sie galten, wie sie uns in Milet begegnen, gewiß als Weise (soph01), als erstaunliche Meister des Wissens und Könnens, die allgemein bewundert '"'·urden. Seit Werner Jaegers bedeutender Arbeit ~über Ursprung und Kreislauf des philosophischen Lebensideals< (1928) wissen wir, wie sich der Begriff der theöria in diesem Sinne erst in der peripatetischen Schule ganz durchgesetzt hat. Gleichwohl darf es als sicher gelten, daß es eine theoretische Grundhaltung war, die sich damals in Ionien entwickelte. Gewiß war sie nicht von den praktischen Bedürfnissen und Interessen der damaligen Menschheit zu trennen. So tritt neben die mathematische und astronomische Faszination die Wendung zur ärztlichen Erfahrung, die wir nur schwer aus der späteren Überlieferung der hippokratischen Schriften zu erraten suchen. Auch in ihr vollzog sich eine Ausweitung ins Theoretische. Es scheint, daß das Wort plrilosopllia für diese fiühe Wendung zum Theoretischen sich eingebürgert hat. Das wortgeschichtliche Material, das Kar! Fraechter vorgelegt hat (Uebem•eg, 12 1926, Bd. 1, S. 1-6), erlaubt in dieser Richtung einige Schlüsse. Das erste Vorkommen des Wortes findet sich bekanntlich bei Heraklit (frg. 35 Drns). Dort ist freilich mit großer Sicherheit zu erkennen, daß sich da bereits eine neue Reflexionsstufe gegenüber der ionischen Weltneugier abzeichnet. Die ionischen Anfange begegnen in der Überlieferung mehr als Wissen aufgrund von Augenzeugenschaft. Bei Heraklit begegnet das bereits als Kritik an solcher Vielwisserei. Das macht die kühne Abseitsstellung Heraklits gegenüber
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den ionischen Anfängen deutlich. Jetzt geht es um das eine Weise (hbz to soph6n). Das ist eine kritische Wendung gegen eine bloß expansive Weltneugier, die Heraklit offenbar der ionischen Aufklärung entgegensetzt. So scheint es zu der Bildung des Wortes philosopltia im Sinne der kritischen Wendung gegen die milesischen Denker gekommen zu sein. Bemerkenswert ist, daß diese Wortzusammensetzung von einem Adjektiv her ausgegangen ist, also von einem Neutrum, das, wie das andere große Neutrum der griechischen Sprache, auf eine ähnliche menschliche Urerfahrung zurückweist, auf das Göttliche (to theion). In beiden Wörtern ist etwas unfaßlich Gegenwärtiges gemeint, und das scheint in der Tat das Geheimnis des Neutrums zu sein, eine solche Präsenz anzuzeigen, die alles durchwaltet. So kann man gewiß voraussetzen, daß die Männer, die so frühe Denker waren, als die Weisen galten. Doch immerhin zeigt sich in der Überlieferung von den sogenannten Sieben Weisen, daß ihre wunderbare Überlegenheit sich gerade auch in menschlicher Lebensweisheit profiliert hat. Die Weisheitssprüche, die von den Sieben Weisen überliefert werden, sind der literarischen und sprachlichen Form nach dem gnomischen Tiefsinn herak.litischer Sätze recht nahe. So scheint der geheimnisvolle Gebrauch von >das Weise< nicht nur den Gegensatz zur Vielwisserei der anderen auszusprechen, sondern auch den Anklang an das andere geheimnisvolle Neutrum, das theion, zu evozieren. Alles in allem scheint in dem Wort philosophia ein sehr allgemeiner, umfassender Sinn von theoretischer Passion seinen Ausdruck zu haben. Das später in der Folge zwischen der theoretischen und praktischen Berufung des >weisen< Mannes Spannungen auftraten, von denen in dieser Freiheit offenbar noch nicht die Rede war, hängt sicherlich mit der sich entfaltenden Stadtkultur sowohl in Ionien wie in Sizilien und Unteritalien zusanm1en. Die Entwicklung führte dazu, daß die Leidenschaft zur Politik und der Kampf um die Macht alles beherrschte. Die theoretische Wendung sah sich auf die Jugendbildung, die paideia, ver.viesen. Das verrät sich noch zu Platons Zeiten in dem fatalen Beiklang, den das Wort soplzistis, Sophist, in der athenischen Bürgerschaft erhielt. Es spiegelt sich darin der Widerstand der herrschenden Gesellschaft gegen das neumodische Wesen. Wir kennen es aus der Schilderung in Platons >Apologie•, wenn Sokrates die Asebieanklage auf solche Widerstände zurückfuhrt. Aber auch sonst schildern Platon gerne das gleiche, z. B. in der Empfangsszene am Anfang des •Protagoras< (31-t c-d), in der der Türhüter den Sokrates und seine Begleitung mit dem ärgerlichen <<Schon wieder Sophisten!» empfängt. Die Wendung und die engere Bedeutung, die Platon dem Begriff )Philosophie< verliehen hat, läßt sich nur von dem Hintergrund her verstehen, den Platons Unterscheidung des Sokrates und seiner Anhänger von diesen herrschenden Bildungstendenzen der Sophistik und Rhetorik darstellt. Philosophie und Rhetorik lagen damals im Kampf um die Jugendbildung. Er bildete
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den Rahmen, in dem sich fiir Platon die Aufgabe der Unterscheidung seiner sokratisch inspirierten Dialektik von der rhetorisch-dialektischen Technik der sonstigen Jugendbildung stellte. Das muß man im Auge behalten, wenn man den Sinn der Neuprägung Platons verstehen will, wonach pllilosophia nicht als Ausdruck fur alles Theoretische schlechthin galt, sondern zur Auszeichnung des Strebens nach der wahren Einsicht und ftir die Abgrenzung der sokratischen Gesprächskunst und Dialektik gegen die sophistischen Argumentationskünste. Darin sah Platon seine Aufgabe, und dem dient auch die Vorbildfunktion, die er der Mathematik verleiht. Er will damit nicht eine Option fiir ein rein theoretisches Leben vollziehen. Er war schließlich Sokratiker. Vielmehr will er, eben als Sokratiker, im Gegensatz zu den dialektischen Künsten der Sophisten, der Dialektik einen echten Erkenntnis- und Wahrheitswert sichern. Es ist die sokratische Frage. Für Platon bedeutete das nicht lehrbare Jenseitigkeit des Guten. Seine Auszeichnung als ein megiston mathema bedeutete eine Herausforderung und führte zu der Neuprägung des Ausdrucks •Philosophie<, der den Sprachgebrauch geradezu umkehrte: Nichtwissen als Weisheit, denn nur beständigtes Streben danach sei dem Menschen vergönnt, und so droht ihm immer die Gefahr der leeren Rede, das heißt des sophistischen Mißbrauchs von Argumentationskünsten. Diese platonische Neuprägung des BegriffS >Philosophie< hat zunächst keine wirkliche Aufnahme durch die eigene Zeit und Nachwelt gefunden. Gewiß war das hellenistische Ideal des Weisen, des soph6s, der sich vom Weltgetriebe zurückhält oder gar mitten in der Welt stehend dennoch Abstand zu allem wahrt, eine Weiterentwicklung des sokratisch-platonischen Vorbildes, das außer der Akademie auch die stoische Schule beherrschte. Aber im Sprachgebrauch hat sich der weite Sinn von >Philosophie< fur theoretisches Wissen überhaupt erhalten, wie schon das Beispiel des Aristoteles zeigt. So konnte die platonische Wendung, daß Philosophie nur das Streben nach der Wahrheit sei, erst unter den besonderen Verhältnissen der beginnenden Neuzeit wieder Aufnahme finden. Das geschah vor allem in der Gestalt der Moralistik, die sich aus der humanistischen Schulkritik und im Widerstand gegen die neue Wissenschaft entwickelte. Mit dem Ende der Herrschaftsepoche der Schulmetaphysik und mit der idealistischen Erneuerung der Metaphysik konnte sich die platonische Wendung im Begriff der Philosophie erneut durchsetzen. Am Ende war es das Wort >Weltanschauung<, das über die Geltungsweite der Wissenschaft hinauszugehen beanspruchte und den Gegenausdruck >wissenschaftliche Philosphie< ins Leben rie( Im Leben der Schule, der Antike, des Mittelalters wie der Neuzeit, erhielt sich dagegen der weite Sprachgebrauch, wonach Philosophie theoretische Erkenntnis meint. So konnte selbst ein grundlegendes Werk der modernen Physik wie Newtons >Principia mathematica< (1678) sich als philosophia naturalis verstehen.
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Das Resultat dieser begriffSgeschichtlichen Analyse von Philosophie ist im ganzen dies, daß in der Antike überhaupt kein Bedürfuis nach Abgrenzung von Philosophie gegenüber der Wissenschaft auftrat und daß diese erst mit dem Wissenschaftsbegriff der Neuzeit einsetzte, der die modernen Erfahrungswissenschaften beschrieb. Dieses Resultat ist von grundsätzlicher Bedeutung. Man sieht, daß selbst innerhalb der abendländischen Tradition Philosophie nicht einfach als Wissenschaft von den Prinzipien definiert werden darf. Die Sieben Weisen, Sokrates, der stoische Rückzug, Plotins unio mystica, christlicher Platonismus- von Augustin bis Meister Eckart und bis zu Nicolaus Cusanus' >Idiota< (1450), aber auch die französische Moralistik des 18. Jahrhunderts, auch Christian Woltfs >Üratio de Sinarum philosophia practica< (1726)- bis hin zu Kierkegaard und die Folgen in unserem Jahrhundertimmer erinnert diese Reihe und in ihr die Figur des Sokrates daran, daß der Begriff der Philosophie nicht durch den der Wissenschaft eingeengt werden darf. Das gilt sowohl fur den Wissenschaftsbegriff der aristotelischen Schultradition wie fur den der Neuzeit. Die philosophiegeschichtliche Forschung unseres Jahrhunderts mußte erst langsam lernen, sich der Vorprägung durch den Wissenschaftsbegriff neu bewußt zu werden und sich von dem Sprachgebrauch der philosophischen Schulen nicht einengen zu lassen. An solchem Beispiel zeigt sich die beständige Gegenwart machtvoller Vergangenheit. Der Begriff der wissenschaftlichen Philosophie wird von ihrer Geschichte gleichsam eingeholt und darf sich nicht nur als eine Geschichte der Wissenschaft verstehen. Der Benutzer dieses Handbuchs, das der philosophiegeschichtlichen Forschung Entscheidendes verdankt, bedarf gerade dieser Erinnerung. Man soll gewiß nicht die Bildungsgeschichte des Abendlandes verleugnen, die zu der philosophiegeschichtlichen Forschung des historischen Jahrhunderts geführt hat. Aber man sollte auch nicht übersehen, daß die Anfänge der Philosophie in Griechenland erst spät ihre Schulform angenommen haben, und daß es erst diese war, die durch die Aufuahme des griechischen Denkens durch die römische >Willensstellung< (um einen Ausdruck Diltheys zu benutzen) eine fast unmerkliche Umprägung des griechischen Denkens heraufführte, wenn man sich auch als Schüler der Griechen wußte. Als die christliche Kirchenlehre das griechische Erbe auf dem Weg über das Latein der römischen und christlichen Tradition in sich aufuahm und an die Neuzeit weiterreichte, war das abermals eine neue Prägung. Sie hat sich allem unserem Philosophieren unverkennbar mitgeteilt. Es war also ein humanistisches Erbe darin wirksam, als die modernen Erfahrungswissenschaften das Erbe antraten und in ein neues Kraftfeld des Geistes überfuhrten, indem sie der Mathematik und dem Methodenbegriff einen neuen Wissenschaftsbegriff aufrichteten. Am Ende geriet die Philosophie mit dem Neukantianismus selbst mehr und mehr in die Abhängigkeit von dem Faktum der Wissenschaft. Das drückt sich in der Geschichte der Phi-
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losophie darin aus, daß sie sich dem Maßstab der modernen Erfahrungswissenschaften und ihrem Methodenideal unterstellte. Wenn die Mathematik die Grundlage des Methodenideals der Wissenschaft "vird, muß das dazu führen, daß alle Projektionen der früheren philosoplzia naturalis und ihrer Lehre von den Endursachen als Anthropomorphismus der Kritik verfielen. So versuchte die historische Forschung an der geschichtlichen Überlieferung und Traditionsbildung Kritik zu üben und die Objektivität einer neuen Wissenschaftlichkeit zu erarbeiten, sei es durch Spatenforschung, sei es durch Archivtorschung, Handschriftenforschung und Denkmälerforschung. Freilich hat sich die historische Schule, dem neuen Wissenschaftsideal der Kritik zum Trotz, von den philosophischen, metaphysischen und begriffiichen Vorprägungen nicht wirklich befreien können. Das hat vor allem Erich Rothacker in der >Einleitung in die Geistesv.rissenschaften< (1920) und in späteren Arbeiten gezeigt. Das mußte erst recht ftir die Geschichte der Philosophie gelten. In der Hauptsache ist ja ihr Gegenstand nichts, das durch die modernen naturw;ssenschaftlichen Methoden anderweitig kontrollierbar wird. Das Verhältnis des historischen Forschers, wenn es sich um die Geschichte des philosophischen Denkens handelt, bleibt immer das des philosophischen Interpreten. Wenn er liest, was da steht, liest er in Wahrheit mehr oder minder seine eigenen Gedanken heraus, die freilich selbst im Banne der Überlieferung stehen. So mochte etwa Schleiermacher der konstruktiven Tendenz der Hegeischen Systematik Widerstand entgegengesetzt haben, und er hat gewiß seine ganze Schule in diesem Sinne geformt. Und doch zeigte sich am Ende, nicht zuletzt durch das Beispiel Eduard Zellers und seines monumentalen Werkes über die >Philosophie des Griechen< (1844-1852), wie sich der Hegelsche Konstruktionswille auch innerhalb historisch-philologischer Forschung fortpflanzte und am Ende als Leitlinie bewährte. An solchem Beispiel tritt die Sonderstellung der Geschichte der Philosophie im Ganzen der historischen Wissenschaften deutlich zutage. Sie bleibt stärker in die Philosophie eingeflochten. Ihr sich beständig erneuernder Auftrag hindert sie, sich mit einer bloßen Sammlung neuer Tatsachen und neuer Erkenntnisse zu begnügen. Unter dem Titel >Doxographie< konnte das die Schulkultur des Altertums tun. Ihre Zielsetzung war überhaupt keine historische Fragestellung, wenn sie etwa die Meinungen sanunelte oder Lebensläufe beschrieb. Solchem Vorgehen haftete nicht einmal der Anschein von historischem Interesse an. Als Theophrast als erster die Meinungen der >Physiker< sarnn1elte und die literarische Gattung der Doxographie begründete, stand das ganz im Dienste der Sachfragen und der kritischen Durchmusterung der Lehren, die Aristoteles in einen Vorlesungen zur >Physik<, >Metaphysik< und zu >De anima< entfaltet hatte. Wie wenig es bei Aristoteles um historisches Verständnis geht, kann man be-
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sonders schön daran sehen, wie Aristoteles das Verdienst des Sokrates in der Metaphysik (ARISTOT. Met. M 1078 b 17-31) charakterisiert, dessen Erbe er anderswo (ARISTOT. Eth. Nie. Z 1144b17-21 u.ö.) angemessen zu \Vürdigen weiß. Dagegen steht an der Metaphysikstelle eine sonderbare logische Würdigung: Sokrates habe die Definition erfunden, weil er >Wissenschaft< suchte.Oder man denke daran, wie Aristoteles die Ideenlehre Platons in Grund und Boden argumentiert. Das stellt insofern ein bis heute ungelöstes Rätsel dar. Es ist nicht zu leugnen, daß eines seiner stärksten Argumente gegen den Chorismus der Ideen, das er gegen Platon ins Feld fuhrt, bereits von Platon selbst dem alten Parmenides in dem gleichnamigen Dialog in den Mund gelegt '"'Orden war (PLAT. Parm. 130 b 1 ff.). Gerade im Verhältnis des Aristoteles zu Platon und Sokrates stellt sich in Wahrheit der Ursprung einer fundamentalen Differenzierung im Begriff der Philosophie selbst dar. Die vehemente Platonkritik, die Aristoteles übt. meint im Grunde die pythagoreische Tradition, in der Platon den Universalbegriff des Guten und die zahlentheoretischen Aspekte der Ideenlehre angesiedelt hatte. Demgegenüber ist Sokrates fur Platon wie Aristoteles im Grunde eine wahre Gründergestalt. Sie beherrscht das Werk Platons: den Dialog. In der Bezugnahme aufSokrates entwickelt Aristoteles selbst die Unabhängigkeit der praktischen Philosophie. Darin war auch er wesentlich Sokratiker. Die praktische Philosophie des Aristoteles stellt ein bis ins 19. Jahrhundert lebendiges aristotelisches Erbe dar und hat unter dem Namen >Politik• die klassische politische Philosophie repräsentiert. Es hieße eine zu lange Geschichte erzählen, wenn man das Nachleben dieser Idee der praktischen Philosophie durch die gesamte Geschichte der Philosophie verfolgen wollte. Es bleibt aber eine wichtige Tatsache, daß sich hier die Anfange einer Differenzierung verschiedener Disziplinen der Philosophie ankündigen. Man stellt sich da die Frage, ob nicht diese spätere aristotelische Unterscheidung von Physik und Ethik am Ende schon im Hintergrund der ftühen griechischen Denker, etwa bei Heraklit, wirksam ist und durch die trümmerhafte Überlieferung als die Unterscheidung von Kosmologie und Anthropologie durchscheint. Aber selbst flir Aristoteles gilt es noch nicht, daß die Schulkultur bereits ein festumrissenes systematisches Programm darstellt, in dessen Rahmen alles eingefugt war. Vielmehr treten bei Aristoteles und seiner Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie seine eigenen kritischen und positiven Antriebe offen zutage. Die Einteilungen dienen der produktiven Auseinandersetzung mit der platonischen Dialektik und dem in der >Politeia< entworfenen Erziehungssystem. Man muß sich hüten, hier das Verhältnis von Theorie und Praxis in dem Sinne einzuengen, der später in der Hegeischen Linken zum Thema wurde. Platon läßt sich unter sehr verschiedenen Aspekten sehen. Zwischen dem Bürger seiner Stadt, der das politische Geschehen aus weitschauender Verpflichtung auf dem Weg über die philosophi-
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sehe Erziehung gesund zu machen bestrebt ist, und dem theoretischen Menschen, der sich von allen öffentlichen Dingen zurückhält, schwankt das Platonbild noch in der modernen Platonforschung. Offenbar sind es zwei extreme Möglichkeiten des Gedankens, die bei Platon sich in unauflösbarer Einheit begegnen. So dürfen wir die landläufigen Begriffe von Kosmologie und Anthropologie, von Logik, Metaphysik, Physik, Ethik- oder wie man die Reihe fortsetzen möge - nicht als selbstverständliche Gegebenheiten in der philosophiegeschichtlichen Forschung voraussetzen, wenn man die philosophische Interpretation unternimmt. Schulmäßige Einteilungen begegnen offenkundig erst am Ende der großen produktiven Epoche der griechischen Philosophie. Jede Rückprojektion solchen Schulguts fuhrt zu einer Verformung der frühen Geschichte. Selbst die platonische Akademie war nicht nur eine Schule, sondern hatte, wie der pythagoreische Bund, einen politischen Aspekt. Das Zeugnis, das man als das älteste anzuerkennen pflegt, wonach Xenokrates (frg. 83 ISNARDI PARENTE) der Urheber der Einteilung der Philosophie in Disziplinen gewesen sei, und das noch vor der stoischen Schultradition, klingt überhaupt nicht authentisch. Da wird vielmehr das beliebte griechische Schema des ersten Finders aufdie philosophische Überlieferung angewandt. Die Bezugnahme aufXenokrates beweist durchaus nicht eine feste Tradition, wie man gerade aus den flexibeln Einteilungen schließen kann, die sich bei Aristoteles finden. Erst das spätere Zeitalter ist eine Schulkultur. Das haben uns neuere Arbeiten, wie Manfred Fuhrmann über >Das systematische Lehrbuch< (1960), die Standardwerke von Henri-lrenee Marrou, >Histoire de l'education dans l'antiquite< (1948), und von RudolfPfeiffer, >History of classical scholarship< (1968), sowie das von JosefKoch herausgegebene Buch über die >Artes liberales< (1959) gelehrt. Der Begriff der Schule, der in der Geschichte der Philosophie eine große Rolle spielt, ist eines sehr vorsichtigen Gebrauchs bedürftig. Ausdrücke wie >ionische Schule< oder >eleatische Schule< sind klare Rückprojektionen aus dem Athen der klassischen Zeit. Damals hat sich in der platonischen Akademie und im Peripatos erstmals die Studien- und Lehrgemeinschaft der Philosophie institutionell organisiert. So ist es abwegig, von einer >sokratischen Schule< zu sprechen. Die Sophisten waren Wanderlehrer. Sie hatten in Athen keinen festen Sitz. Selbstverständlich war mit dem Auftreten solcher weiser Männer seit alters her Lehrer- und Schülerschaft verknüpft, und das nicht nur dort, wo es sich um Philosophie handelt, sondern gewiß auch bei den Ärzten, Mathematikern, Rhapsoden, den Bildhauern, den Vasenmalern und bei allem Handwerk. Die einzige Vorform, die man eine Schule nennen kann, war die pythagoreische Schule, die ursprünglich ein religiös-politischer Orden war und sich erst später in eine wissenschaftliche Schulgemeinschaft veränderte. In dem weiteren Sinne von Schülerschaft behält die Verwendung des Begriffs der Schule und der Schulen in der Geschichte der Philosophie überhaupt ein gewisses Recht -
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auch wenn es etwas Absurdes behält, etwa von einem Schüler Schopenhauers, Kierkegaards oder Nietzsches zu reden, die sich ja alle als einsame Außenseiter fiihlten. Dagegen ist es bedenklich, den Begriff )System< ganz unbefangen zu gebrauchen, auch wenn sich derartiges mit den Lehrprogrammen der Schulen einzustellen pflegt. Im eigentlichen Sinne von philosophischem System ist der Systembegrifferst in die Schulphilosophie des 17./18. oder 19.Jahrhunderts eingedrungen. Von einem System des Parmenides oder des Anaxagoras zu sprechen ist untunlich, und nicht nur deshalb, weil wir deren Lehrschriften gar nicht kennen. Im Falle Demokrits, des Zeitgenossen des Sokrates und von dessen riesigem Schrifttum wir wissen, auch wenn wir nur Bruchstücke und Berichte besitzen, klingt es vielleicht nicht ganz so abwegig. Jedenfalls sollte man nur mit Vorsicht von einem System Platons oder des Aristoteles, von dem stoischen oder dem epikureischen Lehrsystem sprechen. Es ist nützlich, sich klar zu machen, daß es keinem einzigen griechischen Denker je eingefallen wäre, seine Lehre als >System< zu bezeichnen. Das Wort ist gewiß ein gutes griechisches Wort, doch ist es nicht in der Philosophie, wohl aber in der Musiktheorie und Astronomie gebräuchlich gewesen. Immer hat es dabei den Beiklang, wenn von System die Rede ist, daß ein Zusammenstand von Differenten, von Tönen zu einer Harmonie, von Fixsternen und Planeten zu einem Sonnensystem gemeint ist. Es ist darüber hinaus ganz natürlich, daß der Ausdruck >System< auf den Organismus angewandt wurde, dessen Ineinanderspiel seiner Teile und Glieder (mere te kaf me/e) sein Leben (psychi) ausmacht, Gesundheit, ja auch so etwas wie eine Harmonie. So kann es nicht verwundern, daß der Begriff von Zusammenstand (statt systema ist auch systasis in Gebrauch, z. B. PLAT. Epinomis 991 e) auf den Weltenbau und ftir das Bild, das man sich von dem Weltenbau machte, angewandt wurde. Galilei, der Verfasser des >Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo< (1632), hält sich noch ganz an die Wissenschaftssprache der Kosmologie, die ihre antiken Wurzeln hat. Sein Eintreten fur das heliozentrische >System< stellt die neue repräsentative Antwort auf das alte platonische Postulat dar, das der Astronomie als Aufgabe gestellt worden war: Wie kann man die lrrsterne, die Planeten, ihrem anschaulichen Irrgang zum Trotz, in das System der Kreisbewegung der Himmelskörper einfiigen? Da ist es von dramatischer Deutlichkeit, wie Einheit und Zusammenstand von scheinbar Unvereinbarem den Sinn des Wortes >System< ausmachten. Am Beginn der Neuzeit zeigt sich eine noch weit dramatischere Unvereinbarkeit. Sie entsteht durch das Aufkommen der mathematisch begründeten Naturwissenschaften. Mit der Kritik an der anthropozentrischen Kosmologie ebenso wie mit der anthropomorphen Physik, die mit Galilei einsetzte, sah sich die prima philosophia überhaupt in Frage gestellt. Dagegen mußte sich die Philosophie verteidigen, und so kam es, daß der Systembegriff in die Philoso-
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phie eindrang. Der Aufstieg des Ausdrucks >System< zu einem Titelwort,ja zu einem Ehrentitel ftir Philosophie, wie er im 17. und 18. Jahrhundert aufkam, zeigt die neue Spannungslage an, in der die Philosophie sich seither befindet. Vorschläge, wie die durch Descartes eingeftihrte Zweiteilung der ausgedehnten und der denkenden Substanz, forderten geradezu die Versuche heraus, den Zusammenstand von so Verschiedenartigem in einem >neuen System> zu rechtfertigen. So ist im 18. Jahrhundert, auch im Bereich der Schulmetaphysik des Leibniz-Wolffschen Rationalismus, der philosophische Systembegriff in Aufnahme gekommen. Kant selbst, der Kritiker des herrschenden Rationalismus, hat am Schluß der >Kritik der reinen Vernunft< dem Systembegriff eine eigene Betrachtung gewidmet. Der Titel derselben lautet: >Zur Architektonik der reinen Vernunft<. Schon dieser Titel zeigt, daß es hier um den ,·veitesten Sinn einer »Kunst der Systeme« geht oder, wie Kant sagt, um ndie Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee« (B 860). Diese Einheit ist nicht ein Aggregat, sondern ein gegliedertes Ganzes. Das Vernunftbedürfnis nach Einheit zeigt sich überall und ist mit >systematischer< Einheit überhaupt verknüpft. So ist es im Grunde die antike Idee der Wissenschaft selbst, wie sie seit alters in der Mathematik Vorbild ist, die sich als Lehrform der philosophischen Systeme (Spinoza, Christian WoHl) durchgesetzt hat. Bei diesem mos geometriwshandelt es sich aber durchaus noch nicht um den philosophischen Systembegriff, der mit einer Vielheit von Systemen und ihrer historischen Kenntnis verbunden ist. Kant unterschied ausdrücklich die »historische Erkenntnis<• (B 864), etwa die des Wolfischen Systems, diesen >Gipsabdruck von einem lebenden Menschen< (B 864), von der aus Prinzipien geschöpften Erkenntnis. Kant sieht natürlich, daß die Formel des Begreifens aus reiner Vernunft die Philosophie in eine gefahrliehe Ähnlichkeit mit der Mathematik bringt, die ja ganz auf einer Konstruktion von Begriffen beruht. Es ist geradezu der Sinn von Kants Kritik, den entscheidenden Unterschied festzuhalten, daß die Philosophie keine Erkenntnis aus reinen Begriffen sein kann, sondern Kritik sein muß. Als Kritik hat sie die Einschränkung der Vernunft auf mögliche Erfahrung festzuhalten. Es liegt daher im Schulbegriff von Philosophie selbst, daß Philosophie nicht \Vie die Mathematik zu lernen ist. sondern daß man nur Philosophieren lernen kann (B 865). Das bedeutet aber, daß Philosophie in diesem Schulsinne eine bloße Idee von einer möglichen Wissenschaft ist, die nirgendwo in concreto gegeben ist (B 865). Kant sieht also selbst, daß an diese Idee nur Annäherungen möglich sind. All das meint offenkundig den Schulbegriff der Philosophie, bei dem es sich der Idee nach um logische Vollkommenheit handelt. Dagegen geht die Metaphysik der Natur und die Metaphysik der Sitten über das Ideal der logischen Vollkommenheit hinaus, die dem Schulbegriff der Philosophie eigen ist, und so kommt der Weltbegriff der Philosophie ins Spiel, an dem jedermann Inter-
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esse nehmen muß. Denn da geht es um die höchsten Zwecke der Menschheit, d. h. die »allgemeine Glückseligkeit« (B 878). Von diesem Weltbegriff der Philosophie, die vor allem Moralphilosophie ist, aber als solche auch die theoretische Erkenntnis umfaßt, gilt aber erst recht: Weil er auf den Endzweck, auf Weisheit ausgeht, •wäre es sehr ruhmredig, sich selbst einen Philosophen zu nennen und sich anzumaßen, dem Urbilde, das nur in der Idee liegt, gleichgekommen zu sein« (B 867). Der Blick auf Kam kann zweierlei lehren. Einmal: das Vernunftbedürfnis nach Einheit legitimiert die Idee des Systems. Aber: die Erfüllung dieses Bedürfnisses wird von Kant nicht in Anspruch genommen, auch nicht fiir die )Kritik der reinen Vernunft• und den neuen Anspruch, den Kants Unternehmen erhebt, der Metaphysik endlich einen gesicherten Stand und Fortschritt zu verschaffen. Es entspricht dem, daß Kant sich auf die metaphysischen Anfangsgründe der Natur und der Sitten eingeschränkt hat. Eben das ist den Nachfolgern wie ein Einladung erschienen, das vollständige System selbst zu liefern, und so war der Fortgang der idealistischen Bewegung eine einzige Folge von Systemennvürfen, von Fichtes •Wissenschaftslehre< (1794) und von Hegels >Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften• (1817) an. Mit Hegels Lieblingsvorlesung über die >Geschichte der Philosophie• \Var ein weiterer Schritt getan, sotern unter der Kategorie der Ennvicklung sowohl das System der Hegeischen Philosophie als auch seine Konstruktion der Geschichte der Philosophie einander genau entsprachen. Auf diese Weise war der Gedanke der Geschichtlichkeit des Denkens mit dem Wahrheitsanspruch des Systemgedankens vereinbar. Das setzte aber eine derart schematisch-systematisierende Konstruktion der Geschichte voraus, angesichts derer der historische PositivismusaufDauer die Oberhand über die Philosophie erhielt. So wurde der Systembegriff zu einer rein deskriptiven historischen Kategorie herabgedrückt. Das Festhalten an dem Systembegriffbringt jeweils den Totalitätsanspruch der Philosophie noch zum Ausdruck, dient aber nur historischer Erkenntnis. Blickt man von hier aus auf die griechischen Anfange zurück, so bedeutet das geschilderte Eindringen des Systembegriffs in die Philosophie der Sache nach, daß der aristotelische Begriff der Wissenschaft (EJtUYJlllll), der an der Mathematik und ihrem Beweisbegriff orientiert ist, kaum noch anwendbar ist. Es wiederholt sich damit die wohlbekannte Problematik, die sich bei der Anwendung der aristotelischen Logik von Urteil und Schluß in den Naturwissenschaften auftat und die sich in der berühmten Polemik Justus von Liebigs gegen Francis Bacon niedergeschlagen hat. Sie verhalf der Logik der Induktion zum Sieg. Eine solche wird bezeichenderweise in der aristotelischen Logik nur am Rande erwähnt. Es bleibt geradezu eine Frage, ob Begriffe wie >Prinzip< überhaupt in die Beweislogik gehören, und jedenfalls sind Prinzipien selbst nicht beweisbar. In Wahrheit bleibt die Anwendung der aristoteli-
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sehen Syllogistik auf die aristotelische Prinzipienforschung, wie sie die späteren Kommentatoren vornehmen, äußerlich. Das Einheitsbedürfuis der Vernunft, das am Ende in der Mathematik triumphiert, kann sich der Ableitung aus einem obersten Prinzip in der Philosophie niemals fugen. Das zeigt sich selbst an der Rekonstruktion der platonischen Lehre, wenn bei Platon Grenze und Unbegrenztes, das Eine und die unbestimmte Zweiheit als letzte Gesichtspunkte festgehalten werden und >das Gute< nicht >das Eine< ist. Es ist erst eine spätantike Entwicklung, die vielleicht auf Ansätze der Akademie zurückgeht, daß das euklidische Vorbild der Beweislogik am Ende der Antike wirklich so etwas wie ein System ausgefiihrt hat, und das war bei Proklos der Fall, durchaus noch nicht bei Plotin. Die ganze Folgezeit (bis zum 15. Jahrhundert) war bezeichnenderweise von Proklos beherrscht. Es bestätigt sich, daß es erst ein Spätling war, in dem das Philosophieren trotz mannigfacher Ansätze sich in einer durchgefiihrten Systematik erfüllte. Die Philosophie behielt in den Schulen als Dialektik die Herrschaft, wie überhaupt die mündliche Disputation eine höhere Bedeutung bewahrte als die systematische Ableitung. Erst in der späten Scholastik - und nicht in ihrer Blütezeit, sondern erst im Zeitalter der Gegenreformation - kam es in der neuen Schulkultur der ratio studiornm zu systematischen Darstellungen. Damals erst wurden die großen Systematisieret der Scholastik, z. B. Suarez und Cajetan, schulbildend. Schließlich war Descartes Schüler des Jesuitenkollegs von La Fleche und fand im Begriff der Methode den Leitbegriff, um Metaphysik und die neue Wissenschaft miteinander zu vermitteln und auf dem Weg der reinen Begriffe die jeweils von den Erfahrungswissenschaften erarbeiteten Resultate als endgültige Wahrheit zu demonstrieren. So müssen die großen Systementwürfe der Neuzeit das Gesetz der modernen Forschung, keine dogmatische Zusammenfassung zuzulassen, an sich selbst erfahren, mögen sie noch so sehr versuchen, unter dem Schein einer Ableitung aus Prinzipien die empirische Forschung und ihre stets vorläufigen Ergebnisse in scholastische Starrformen zu gießen. Auch ein Handbuch der Geschichte der Philosophie kann sich dem nicht ganz entziehen. Es muß es auf sich nehmen, um der großen Übersicht willen, die es anstrebt, feste Lehrformen zu vermitteln, Schematisierungen und Vereinfachungen in Kauf zu nehmen. Ihren Geltungssinn gewinnen sie freilich erst dann, wenn sie nicht wie endgültige Resultate verzeichnet und übernommen werden, sondern aus jeweilig ursprünglichem Vollzug des philosophischen Gedankens zu neuer Erzeugung gelangen. Der Leser, der ein Handbuch der Geschichte der Philosophie benutzt, muß sich seiner eigenen Begrenzung ebenso bewußt sein, wie der Begrenzung, die in der Aufgabenstellung eines solchen Handbuchs besteht. Er wird einerseits der historischen Forschung und der selbstverständlichen Vorläufigkeit ihrer Erkenntnisse Rechnung tragen müssen und kann andererseits nicht autbören,
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die überlieferten Lehren mit den Fragen der Philosophie, die die seinen sind, zu konfrontieren, auch wenn er noch so objektiv sein will. Man wird aber jedenfalls festhalten müssen, daß der weite Systembegriff, der in der Geschichte der Philosophie eine unkontrollierte Rolle spielt, nicht mit dem methodischen Begriff der Ableitung aus einem einheitlichen Prinzip ohne weiteres gleichgesetzt werden darf. Aber selbst in der äußerlichsten Aufgabenstellung des historischen Denkens, in der Aufstellung der Abfolge der verschiedenen Zeiten und Geschehnisse, stellt sich auf dem Gebiet der Geschichte der Philosophie die Sache immer als außerordentlich vorgreiflieh dar. Zwar haben etwa Eduard Zellerund seine Zeitgenossen keine aprioristische Konstruktion im Sinne Hegels mehr zu forcieren gewagt, aber wie die Epochenfolge auf diesem Gebiet einzuteilen ist, bleibt eben doch eine Aufgabe. Es handelt sich ja nicht nur um ein Ordnungsinstrument in den Händen des Geschichtsschreibers. Wenn er Epochen unterscheidet, stützt er sich auf ein fundamenturn in re, und erst das erfullt den Anspruch, der im Epochenbegriff liegt. Gewiß scheint es willkürlich, wenn man etwa den Anfang der Neuzeit feststellen will. Durch welche historische Kriterien soll das gehen? Wie bei allen Fragen nach einem Anfang im Bereich der Geschichte gibt es kaum eine beantwortbare Frage. Welcher Anfang ist nicht immer schon vermittelt, im geheimen vorbereitet und schon länger unkenntlich am Werke? Gleichwohl sind Epochen nicht bloß ordnende HilfSmittel des Historikers. Sie sind Erfahrungen des geschichtlichen Lebens. Es erfullt das Bewußtsein der Menschen, wenn eine Epoche zu Ende geht und eine neue anbricht. Das kann oft vermeintlich sein und voreilig, so daß solche Erfahrungen schnell veralten können. Am Ende bildet sich aber doch immer wieder zwischen Altem und Neuem, Veraltetem und Aktuellem, ein Kreis von Gegenwart - wie ein Stillstand von Zeit, den wir deshalb Epoche, An-halten nennen. Das sind Epochen, Haltepunkte im Strom des unaufhörlichen Anderswerdens. Dem Bedürfuis der Philosophie kann eine solche distanzierte Betrachtung der Geschichte des Gedankens freilich nicht genügen. Eine apriorische Konstruktion im Stil Hegels wird man nicht mehr annehmen. Viehnehr wird der sich wandelnde Fragehorizont des Interpreten sich auch an den Denkgestalten der Geschichte immer wieder durchsetzen. So organisiert sich das Ganze der Geschichte des Gedankens durchaus verschieden, wenn man etwa das Aufkommen und den Sieg des Nominalismus vom Standpunkt des Neuthomismus aus zum Leitfaden nimmt, oder wenn man unter marxistischen Grundgedanken das Ganze als eine Geschichte der materiellen Lebensverhältnisse - und als ihre ideologische Spiegelung- ansieht, oder mit dem modernen Empirismus der angelsächsischen Tradition alles ftir überwunden hält, was mit Metaphysik zu tun hat. In Deutschland selbst, im Land des Historismus, hat der Neukantianismus
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einen Ausweg beschritten, dessen Sinn und dessen Fragwürdigkeit man sich immerhin bewußt machen muß. Es ist der Ausv.reg der sogenannten Problemgeschichte. Auch Wilhelm Windelbands bekanntes >Lehrbuch der Geschichte der Philosophie< (1892) war so aufgebaut. So hat Heinz Heirnsoeth in seiner Bearbeitung dieses Lehrbuchs (1948) differenzierten historischen Gesichtspunkten Rechnung getragen, und ebenso hat Ernst Cassirer und mancher andere in die Problemgeschichte differenziertes historisches Denken eingebracht. Klassische Beispiele der Problemgeschichte findet man etwa bei Bruno Bauch, bei Richard Hönigs,vald und bei Nicolai Hartmann. Es ist deutlich, was Problemgeschichte leisten soll. Sie möchte innerhalb der differenten und einmalig scheinenden Erscheinungen geschichtlichen Lebens das Identische und sich gleich Bleibende herausheben, an dem sich das philosophische Be'"''ußtsein wiedererkennen kann. Nur so meint sie die Gefahr des historischen Relati\;smus und damit die skeptische Auflösung des Wahrheitsanspruchs der Philosophie überhaupt übenvinden zu können. Gleichwohl verfängt sich die Problemgeschichte selbst mit Notwendigkeit in den Aporien des Historismus, dem sie entgehen will. Wenn sie die Identität von Problemen anninm1t, die als unveränderliche durch alle Systeme der Philosophie hindurchgehen, so zeigen sich diese in ihrer Identität doch nur einem Denken, das sie von seinen eigenen Fragestellungen als solche zu erkennen vermag. So ist die Problemgeschichte des Neukantianismus in Wahrheit ein Raubbau aus dem Steinbruch der großen Hegelschen Synthese der Geschichte der Philosophie. Das System der Probleme, wie man es auch genannt hat, bleibt daher dogmatisch und unhistorisch, wie alldie vielen SystembegriHe der Philosophie, die in der Neuzeit so genannt wurden oder von den Historikern so bezeichnet werden. Die gleiche Mißlichkeit wie die Problemgeschichte trifft auch die Bezeichnung für die Standpunkte, die in der Philosophie und in der Beschreibung ihrer Geschichte üblich geworden sind. Sie wollen als feste, geschichtliche unwandelbare Standpunkte verstanden sein, und doch ist es immer nur eine bestimmte Situation, für die sie und von der her sie ihren Sinn erhalten. Sie sind. wie insbesondere Rudolf Eucken in bedeutenden Studien gezeigt hat, zumeist Parteinamen und hatten ursprünglich ihren Sinn aus ihrer polemischen Herkunfi:. Ähnliches gilt auch fUr die Typologien, die seit Wilhelm Dilthey eine beliebte Ausflucht gegenüber dem Historismusproblem geworden waren. In ihrer späteren Anwendung gilt abermals, \vas Dilthey ehedem gegen John Stuart Mill eingewandt hat, er wäre dogmatisch aus Mangel an historischer Bildung. Eine solcher Einwand istjedenfalls gegenüber der Geschichtsschreibung der Philosophie vielfach am Platz. Da fehlt es an historischer Reflexion, übrigens nicht nur in Deutschland, sondern noch stärker in der angelsächsischen Tradition. Es war das Verdienst Diltheys und seiner hohen historischen Sensibilität, hier neue Maßstäbe gesetzt zu haben. Sie sind vor allem innerhalb der deutschen Tradition durch die geschichtliche Wendung,
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die Heidegger in die Phänomenologie eingefiihrt hat, bestimmend geworden. Ein neuer Sinn fur die Begriffiichkeit der Begriffe und damit zugleich fiir die Geschichtlichkeit der Begriffe hat sich fiir die Durchführung der phänomenologischen Parole >Zu den Sachen selbst< entwickeln müssen. Teleologische Nomenklaturen, wie sie im ersten Anlaufbei der Ordnung und Klassifikation der Geschichte der Philosophie unvermeidlich waren, wie Monismus und Dualismus, Positivismus und Apriorismus, Naturalismus und Mentalismus, und wie man die Reihe endlos verlängern kann, bedeuten, daß dort, wo sie noch in Gebrauch sind, die historische Reflexion von dogmatischen Vorurteilen gelähmt ist. Das gilt im besonderen fiir die angelsächsische Tradition, soweit sie nicht durch die neuere Sprachkritik zu einer höheren Bedenklichkeit genötigt worden ist. Die begriffsgeschichtliche Aufgabe bleibt jedenfalls, den Prozeß der Neutralisierung rückgängig zu machen, der im Gebrauch dieser Schemabegriffe eingetreten ist, und ihren ursprünglichen kritisch-polemischen Sinn und damit ihre historische Verifikation wieder aufleben zu lassen. Das hat fiir die spätere Phänomenologie Heidegger unter dem revolutionären Stichwort >Destruktion< eine ganze Generation gelehrt. Destruktion hat freilich nichts mit Zerstörung zu tun, sondern ist Abbau und Rückgang auf die eigentlich sprechenden Ursprünge der Begriffsworte. Das >Historische Wörterbuch der Philosophie< (1971 ff.), das Joachim Ritter ins Leben gerufen hat, legt für diese Art Bewußtmachung inzwischen reich differenziertes Material vor. Es ist als wesentliche Einsicht festzuhalten, daß Begriffe Worte sind und nur aus Worten der lebendigen Sprache ihren Begriffssinn entwickeln könnten. Aus konkretem Sprachgebrauch treten Worte in philosophische Zusammenhänge ein und gewinnen dadurch ihren Begriffssinn, in dem aber ihr wörtlicher Aussagesinn immer noch mitspricht. Das ist insbesondere aus dem aristotelischen Verfahren bei der Analyse der Grundbegriffe der Philosophie zu lernen, die das Buch Ll der ~Metaphysik< bringt. Es handelt sich nicht nur um die Einführung in einen vielfältigen Sprachgebrauch, sondern darum, daß die von Aristoteles selbst gebrauchten Begriffe nur aus der Vielfalt der in der Sprache lebendigen Unterschiede ihren vollen Aussagesinn erhalten. So bleibt am Ende eine tiefe Wahrheit in dem, was Platon in seinen dialektischen Dialogen, die auf Definitionen hinauslaufen, vor allem im ~sophistes< und im >Politikos<, vordemonstriert. Da wird am Ende der ganze Gang begriffiicher Untersuchung wie in einer Aufzählung gegenwärtig. Das erst macht den wahren Gehalt einer Definition bewußt. Das heißt freilich, daß für den philosophischen Gedanken keine Definition und damit auch kein eingeflihrter Terminus ein genaues und gültiges Resultat sein kann. Immer wieder wird er der Rückfiihrung auf den denkenden Vollzug bedürfen. Wir verdanken es dem Aufgang des historischen Bewußtseins und der geschuldeten Sensibilität des historischen Sinnes, daß auf diese Weise auch Epo-
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chen, die wie das griechische Altertum der europäischen Schulkultur noch vorausliegen, von dem Druck einer verschulten Begriffiichkeit wieder befreit werden. Ja, wir werden selbst aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammende oder damals gebrauchte Terminologien nicht mehr ohne Zögern weiter verwenden. Oie Geschichte der Philosophie drängt uns, weil sie Philosophie ist, über die Traditionsgestalten und Begriffe hinaus, in denen die Schulkultur des Abendlandes sich uns überliefert hat. Im besonderen gilt das ftir die Bände des vorliegenden Werkes, die der antiken Philosophie gewidmet sind. Hier hat die klassische Philologie neue Akzente gesetzt. So hat sich die kritische Analyse der Überlieferungsgeschichte von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr verfeinert und schablonenhafte Traditionsbegriffe zurückgedrängt oder zu ihrem semantischen Leben erweckt. Gerade auch der Zusammenhang der beginnenden philosophischen Sprache mit der Dichtersprache ist in ganz anderem Grad in unser Bewußtsein getreten. Hier ist an so grundlegende Arbeiten zu erinnern wie an die frühe Dissertation von Bruno Snell über >Ausdrücke ftir den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie< (1924), aber überhaupt an das neue begriffigeschichtliche Interesse, das in der von Werner Jaeger neu belebten Aristotelesforschung geweckt worden ist und etwas in Jaegers >Theology of the Early Greek Philosophers< (1948) reiche Ernte bringt. Die Begriffsgeschichte ist ein Aspekt von höchstem Rang geworden, weil ihre Interferenz mit der Wortgeschichte alle Verfestigungen terminologischer Art auflockert und damit das denkende Verstehen freisetzt. Das wird sich in dem Stil der neuen Darstellungen, die dieses Werk bietet, deutlich zeigen. Man wird da nicht von einem distanzierten Zugang zu dem Ganzen der bisherigen Forschung aus belehrt, sondern findet durch die eigenen Forschungsergebnisse der Autoren ausgewiesene Aspekte der antiken Philosophie, die in die neue Forschungslage einführen. Überwindung der Relikte älterer Schulkultur stellt sich auf dem Gebiet der antiken Philosophie, vor allem wegen des bruchstückhaften Charakters ihrer Überlieferung, als Aufgabe. Da haben wir es mit den sogenannten Fragmentsammlungen zu tun. Für ihren Gebrauch ist philologisch-historische Bewußtheit unerläßlich, wenn man der Schablonenwirkung solcher Fragmentsammlungen entgehen will. Jede Sammlung sogenannter Fragmente hat etwas Vorgreifliebes und damit ihre hermeneutsiche Fragwürdigkeit. Man braucht sich nur an die modernen Erfahrungen auf dem Gebiet handschriftlich überlieferter Nachlasse zu erinnern, die heutzutage gemacht werden, etwa an den Fall von Friedrich Nietzsche, der erst seit kurzem in allseiner ungeordneten Überlieferungsform authentisch zugänglich geworden ist und nun wie etwas ganz Neues und Fremdes dem Interpreten seine Aufgaben stellt. Oder man denke an den anderen einzigartigen Fall, der in der Geschichte der neuzeitlichen Philosophie gegeben ist, an die Reflexionen Kants, die viele Bände füllen und den Arbeitsprozeß zugänglich machen, aus dem sich sein Werk erho-
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ben hat. An beiden Beispielen wird deutlich, welche Interpretationsaufgaben in einem mehr oder minder ordnungslosen Notizenmaterial als solchem liegen. Wie viel mehr gilt das noch, wenn es sich nicht um handschriftliche Nachlasse handelt, sondern um Zitate aus späteren Schriftstellern. Insbesondere der antike Brauch der Einformung von Zitaten in den Argumentationsfluß eines Autors stellt die Authentizität von Zitaten immer in ein zweifelhaftes Licht, und jedenfalls ist der neue Textzusammenhang, in dem das Zitat begegnet, von der Überlieferungswirklichkeit des Ganzen nicht abtrennbar. Das wird gerade auch dem nichtspezialisierten Benutzer solcher HilfSmittel, wie es Fragn1entsanunlungen sind, eingeschärft werden müssen. Dazu tritt inzwischen eine weitere Forderung, die generische Interpretation, das heißt, die genauere Beobachtung der literarischen Gattungen, mit denen man es jeweils zu tun hat. Es gilt, eine hermeneutische Sensibilität dafiir zu ennvickeln, und vollends, wenn es sich nicht um literarische Texte handelt, sondern et\va um zum eigenen Gebrauch geschriebene Arbeitspapiere, oder um zum Schulgebrauch verfaßte Darstellungen. Bei der gesamten philosophischen Überlieferung der Antike ist ferner im Unterschied zur Neuzeit zu beachten, daß alle Texte nicht für stille Lektüre bestimmt waren. Sie gewannen lauthafte Präsenz beim Vortrag- oder auch nur beim eigenen Lesen, das mehr oder minder lautes Lesen war. Daher besteht in den älteren Texten eine fortdauernde Nachbarschaft zur Rede und Wechselrede. Eine derart mündliche Kultur gibt der Überlieferung einen ganz anderen Status, als ihn die spätere Schulkultur besitzt. Das gilt vollends für alles, was der Ära Gutenberg angehört. Damals kam eine Lesekultur auf, die sich mit dem Methodenbegriff neuzeitlicher Wissenschaftlichkeit verband. Beim Verständnis der antiken Überlieferung fuhrt das oft zu den größten Mißverständnissen. Was bei einem modernen Denker Widerlegung heißt, sieht bei Aristoteles ganz anders aus. Wer \'VÜrde in unserer durch Schriftlichkeit getragenen Wissenschaftskultur eine so wahllose Aufreihung allgemeiner und spezieller Argumente dulden, wie das bei Aristoteles ständig vorkommt. Aristoteles war eben nicht nur der Meister derer, welche wissen. Es war auch der Lehrer all derer, welche durch das lebendige Wort des Lehrers lernen. Mit aller lehrenden Haltung ist die Stilform der Rhetorik verknüpft. Das &9 klingt in den Argumentationsformen antiker Überlieferung deutlich durch. So behält die Lehrform der Disputarie eine wichtige Funktion, die sich bis in die Komposition von Lehrschriften hinein, etwa im Stil der mittelalterlichen Summa, offen bezeugt. Erst mit der Renaissance und in der humanistischen Zuwendung zu den klassischen Handschriften und vollends mit dem Buchdruck beginnt eine neue Art von Literatur. Dem Leser steht jetzt jeweils das Ganze eines Textes zur Verfügung. Da entstehen neue Stilfragen, die auch das Verständnis der Texte beeinflussen. Gerade dem modernen wissenschaftli-
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chen Handbuch gegenüber bedarf es daher einer gesteigerten geschichtlichen Sensibilität, wenn man philosophische Überlieferung in die eigene Denkbewegung hereinholen will und wenn die Geschichte der Philosophie selbst der Philosophie zugehören soll.
9. Die Gegenwartsbedeutung der Griechischen Philosophie (1972)
Über die Gegenwartsbedeutung der Griechischen Philosophie sprechen, fordert eine Anwendung hermeneutischer Gedankengänge. Schon die Fragestellung: Welche Bedeutung hat die Griechische Philosophie fiir die Gegenwart? läßt sich nicht vernünftig ausarbeiten, wenn wir uns nicht zunächst der Voraussetzungen vergewissern, die wir alle beim Stellen dieser Frage schon mitbringen. Diese Voraussetzungen sind aber in einer eigentümlichen Weise gedoppelt. Es kennzeichnet seit mehr als 150 Jahren unser aller Verhältnis zu der griechisch-christlichen humanistischen Tradition unserer Kultur, daß wir WlS nicht mehr in unmittelbarer Weise als Träger und Verwalter dieses Erbes ansehen dürfen, sondern ein bewußtes Verhältnis zu dieser Tradition besitzen. Was uns von dem unmittelbaren Leben in der Tradition und Fortbildung derselben trennt, nennt man bekanntlich das sogenannte historische oder geschichtliche Bewußtsein. Es läßt uns seit der Romantik das Ganze der Vergangenheit und Überlieferung wie mit fremden Augen ansehen. Wir sind uns bewußt, uns etwas Fremdes zum Verständnis bringen zu wollen, etwas so Fremdes, daß nur die Selbstauslöschung und die völlige Versetzung in die Fremde, in Zeit und Welt, überhaupt Aussicht gibt, davon etwas richtig zu erfassen. Auf der anderen Seite aber muß gerade gegenüber dem Selbstbewußtsein, das die historischen Wissenschaften und den Historismus in den Wissenschaften trägt, die Gegenfrage gestellt werden, ob die Voraussetzung, daß wir gleichsam als ein Niemand an etwas Fremdes herantreten, um seinen verborgenen Sinn zu entziffern, überhaupt richtig ist. Ist sie etwa nach 1800 so wenig richtig, wie sie ganz gewiß vor 1800 nicht richtig war, als man noch in der ungebrochenen Einheit von Christentum und Antike lebte? Wie weit trägt uns die antike Philosophie noch immer in einer Art unterirdischer Tradition, so daß unsere Fragen und unsere Verständnismöglichkeiten von der Zugehörigkeit zu dieser Tradition mitbestimmt sind und eine freie oder neutrale Stellung wie gegenüber etwas Fremdem uns gar nicht erlauben? Die Frage so explizieren, heißt schon sich eingestehen, daß es etwas anderes ist, wenn wir in Europa und in der europäisierten MenschheitskUltur unserer Tage nach Plato oder Aristoteles fragen, als wenn wir aus einer anderen Kultur starrunenden Texten begegnen. In einer Weise, deren wir uns selber nicht
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ganz bewußt sind, besteht zwischen uns und den Griechen eine Kontinuität, die über die moderne Aufklärung und ihre Wendung ins Geschichtliche auf die Reformation, zurückgeht auf die christliche Tradition des Mittelalters und schließlich über Augustinus auf die Spätantike. Niemand kann ernstlich glauben, daß er Platon lesen kann, ohne Augustin irgendwie als eine geheime Stimme mitzuhören, auch wenn er nie eine Zeile von Augustin gelesen hat. Hinter Augustin stehen aber bereits die griechischen Schriftsteller der Spätzeit, d. h. die sogenannte neuplatonische Philosophie; Platin, dieses seltsame Genie, das im späteren Altertum wie ein zweiter Platon eine Erneuerung des Platonischen Denkens vollzieht. Das geschieht aber so, daß alles Platonische bei ihm auf eine rätselhafte Weise ganz anders klingt als bei Platon. So ist es eine hermeneutische Forderung, die Wirkungsgeschichte Platons in uns zu aktivieren, wenn es sich fur uns darum handelt, Platon zu begegnen. Und nun vollends, wenn wir uns darüber verständigen wollen, was die Griechische Philosophie im ganzen fiir uns bedeutet. Da treten neben die platonische Tradition in Mystik und Spiritualismus und neben die aristotelische, die in der lateinischen Welt bis in den Neothomismus von heute hinein lebt, zwei vergessene und doch ganz und gar gegenwärtige griechische Gestaltongen des Gedankens: die Stoa, deren Moralphilosophie in Wahrheit als gefaßte Ergebung in den Lauf der Natur und die Unverbrüchlichkeit ihrer Gesetzlichkeit die durchgängige Glaubenshaltung der modernen Naturforschung ist, und schließlich der epikureische Atheismus, dem nicht umsonst Karl Marx bereits seine Dissertation gewidmet hat. Im allgemeinen weiß man freilich nicht, wie sehr diese Tradition noch lebt. Ein Naturforscher weiß im allgemeinen nicht, daß er Stoiker ist, und die Herkunft des modernen Atheismus aus dem Epikureismus dürfte auch unter den modernen Atheisten nur wenigen bewußt sein, gar nicht zu reden von der allestragenden platonischen und aristotelischen Tradition, die unsere ganze BegriffSsprache durchherrscht. Das alles können und sollen wir nicht im Sinne einer historischen Forschungsaufgabe vor uns hinstellen. Aber es muß uns bewußt sein, daß das alles mitspricht. wenn wir die erste Zeile eines griechischen Denkers denkend zu entzitTern suchen. Daß man solche unmittelbare Wiederbegegnung anstrebt und die originalen Gedanken griechischen Denkens wieder zu verstehen sucht, ist freilich erst seit dem Ende des 18. Jahrhundert~ der Fall. Es war insbesondere die durch Kant ausgelöste neue Bewegung der Philosophie, die in Hegel und in Schleiermacher die ersten großen Leser der griechischen Philosophie hervorgebracht hat. Es ist kein Zufall, daß die deutsche Platon-Übersetzung, die erste Gesamtübersetzung Platons in eine europäische Sprache, von Schleiermacher stammt. Und Hege! muß man geradezu den Entdecker der Platonischen Spät-Dialoge nennen. Er machte im Zusammenhang seines eigenen Denkens überzeugend, daß es sich hier (z. B. im Dialog >Parmenides<) weder um dialek-
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tische Spielereien noch auch um philosophische Mystik handelt, die jenseits der eigentlichen Philosophie liegt, sondern um ein Kernstück philosophischen Denkens, das kein Denkender als etwas Fremdes ansehen kann. Es gibt ein berühmtes Wort von Hegel: •Es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen«. Er hat auch Platon, er hat auch Aristoteles als beständige Partner in sein dialektisches Gespräch gezogen. So war es eine philosophische Wiederentdeckung, die sich mit der ersten Rückwendung zu den griechischen Texten vollzog. Auch wenn historische Bewußtheit an die Stelle der anonym weiterwirkenden philosophischen Tradition der Antike tritt oder besser: auch wenn sich historische Bewußtheit auf diese Tradition zurückwendet, - kein wirkliches Bewußtsein der Fremdheit kann dabei aufkommen. In der Folge dieser in sich gedoppelten, aus Tradition und historischer Rekonstruktion gemischten Begegnung kam dann die große Ausbreitung der historischen Forschung. Sie war aber auf philosophischem Gebiet niemals nur eine solche der historischen Forschung. Ich erinnere etwa an Kierkegaard, dessen Abkehr von Hegels Dialektik bekanntlich auf die griechische Philosophie, aufSokrates und das Prinzip der Ironie getauft ist. Es war die Existenzdialektik, die Kierkegaard als ein christlicher Schriftsteller bei den Griechen eigentlicher fand und von der aus er Hegels vermittelnde Dialektik angriff, die das Entweder-Oder vermeide und das Ethische korrumpiere. Aber selbst die historische Forschung war keine bloß antiquarische. Ich nenne Namen wie Trendelenburg, wie Zeller, wie Dilthey. Selbst die großen Leistungen der katholischen Philosophie-Historie, Baeumker und seine Schule vor allem, folgen einem geheimen Sachinteresse, und vollends die Marburger Schule mein eigener Lehrer, Natorp, war einer der größten Kenner der griechischen Philosophie - sah in Platon den Vorläufer Kants, und schließlich ist durch Heidegger das Gespräch mit den griechischen Philosophen in ein neues Stadium getreten. Sie alle bestätigen, daß die beständige Wiederbegegnung mit der griechischen Philosophie eine Begegnung mit uns selber ist, eine Begegnung mit etwas, was nicht nur einmal gewesen ist, sondern worin Wahrheit ist. Ich möchte nun die Gegenwärtigkeit dessen, was uns in den griechischen Texten der Philosophie begegnet, an einigen Beispielen zeigen. Ich beginne mit dem einen Punkt, der flir viele der schwierigste sein mag, aber fiir jeden, der Kenntnis der griechischen Originaltexte besitzt, mit schlagender Evidenz gilt. Ich meine das Verhältnis von Wort und Begriffbei den Griechen. Es macht den unvergleichlichen Aktualitätston aus, der fi.ir jeden, der griechische Texte liest, aus diesen erklingt. Hier gibt es noch nicht die vermittelte und durch mannigfaltige Ablagerungen geschichtlicher Tradition zu festen Kristallen strukturierte Begriffisprache, in der wir als Heutige die philosophischen Begriffe benutzen. Hier ist vor allem die lateinische Umsetzung noch nicht geschehen, die fi.ir die griechischen Begriffe eine völlige Verände-
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rung der Aura bedeutet. Was ist es doch anderes, wenn man essentia sagt anstelle von Ousia! Das gleiche gilt ftir die Umsetzung in die modernen Sprachen, deren philosophische Begriffe mehr oder minder durch das Lateinische vermittelt sind. So gibt es im Griechischen überhaupt noch nicht das Verhältnis zum Begriff, das sich in dem berühmten Universalienstreit des Mittelalters schließlich bis zu der im ganzen siegreichen These durchgearbeitet hat, daß Begriffe Schöpfungen unseres Geistes sind, durch die wir die uns in der Erfahrung begegnende Welt begreifen. Ist der Begriff ein conceptus? So lehrte bereits der Konzeptualismus, daß die Sprache der Philosophie (wie die Sprache überhaupt) ein Zeichensystem sei und in der Verwendung von Zeichen zur Bezeichnung fungiere. In dieser Überzeugung steckt das Vorurteil, daß, was auf diese Weise kommunizierbar gemacht werden soll, schon ohne die Weise seiner Bezeichnung gesehen und in sich bestimmt sei. Denn das ist das Wesen jeder echten Zeichensprache, daß sie etvvas, was man kennt und anderen mitteilen will, durch Zeichenverwendung fixiert und kommunikabei macht. Aber gibt es das in der Philosophie? Was ist der Philosophie so bekannt, was durch beliebige Zeichenverwendung mitteilbar machen könnte? Was, das man so mitteilbar machen kann, ist Philosophie? Es ist ein naives Mißverständnis, das freilich in unserem Sprachgebrauch seinen Grund hat, wenn wir etv.ra sagen: Ich wähle diesen Begriff. Wir wählen nicht die Begriffe, die wir gebrauchen. Die Begriffe haben uns längst gewählt. Hier zeigt sich das eigentliche Wesen der Sprache. Wir sagen zwar: Ich wähle ein Wort, aber jedermann weiß, was das in Wahrheit heißt. Wenn ich etv.'a die Wendung gebrauche: >Ich möchte daftir das Wort wählen<, so steht mir die Sache vielleicht in ihrer vollen Konkretheit vor Augen, aber ich bin mir bewußt, daß das eine Wort, das ich da wähle, nur ein ungenauer Versuch ist, und wenn ich wirklich verstanden werden will- und mich verstanden habe -, dann muß ich die Sache, ftir die ich das Wort 'gewählt< habe, durch ungewählte, durch sich von selbst andrängende Explikationsversuche zum Sprechen bringen. Solange wir noch Worte zu wählen glauben, haben wir das richtige Wort noch nicht gefunden - ist uns das treffende Wort noch nicht gekonmten. Was an der griechischen Philosophie das Auszeichnende ist, ist nun, daß hier die Worte zwischen der lebendig gesprochenen Sprache und ihrem philosophischen Gebrauch noch offene Bahnen ziehen. Da ist alles noch Sprache, die sich in ihrer unbewußten Sagkraft plötzlich in bestimmten Richtungen dem Nachdenken zu bedeutenden Aufschlüssen öffnet. Das beste Beispiel ftir dieses allen philosophischen Texten der Griechen Gemeinsame ist zweifellos bei Aristoteles zu finden, der ein ganzes Buch der >Metaphysik<, den berühmten Begriffskatalog Met. ß, der Frage widmet posachJs Jegetai? und untersucht pds legomen?: wie redet man? Aristoteles erschöpft sich durchaus nicht darin, Äquivokationen aufzudecken, sondern versteht es, durch die Unterscheidung den vollen Bedeutungsraum eines Begriffes zu durchmessen. In wievielerlei
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Weise redet man oder gebraucht man etwa das Wort Ousia? Da macht es gegenüber dem scholastischen Begriff der essentia einen gewaltigen Unterschied, daß Ousia ein Wort der lebendigen Sprache ist und dort so etwas wie den Besitzstand meint, also alles das, was zu einem Hof gehört, Haus und Scheune, Kühe und Geräte und die arbeitenden Menschen, die zur Familie gehören. Das alles ist Ousia, und nur wenn man das lebendig vollzieht - und fur den Griechen war das selbstverständlich-, kann man begreifen, was Ousia als ein philosophischer Ausdruck für die Frage des Seins ist: etwas, was so selbstverständlich und zuverlässig da ist, wie der eigene Besitzstand da ist. Das haben wir durch Heidegger sehen gelernt. So sieht es nun im griechischen Philosophieren in der Tat immer aus, und jeder Satz philosophischer Texte der Griechen hat dadurch seine unvergleichliche Auszeichnung. Man kann jeden Satz erklären oder zum '{erständnis bringen, indem man einfach von den Worten ausgeht. Der Horizont, der mit jedem Worte gegeben ist, braucht nur explizit zu werden, damit man den Tropos, die besondere Wendung, wie wir aufDeutsch sagen, trifft, auf die es innerhalb des Bedeutungshorizontes dem philosophischen Gedanken, d. h. dem Autor des betreffenden Satzes ankam. Der Begriffbleibt so in einer beständigen Rückbindung an das noch ganz ins Offene semantischer Möglichkeiten unbestimmt ausstrahlende Wort der Sprache und ist nicht das abgelöste Zeichen, das auf Konventionen beruht. Er ist ·wie das Weiterdenken einer Intuition, einer Sachperspektive, die Weisere als wir. d. h. die Generationen, die die menschlichen Sprachen schließlich ausgebildet haben, für uns schon gefunden hatten. Das ist von echter Aktualität fur unser DenkerL So macht es einen unübersehbaren Unterschied, ob ich einen Satz Platons oder des Aristoteles oder einen Satz von Kant oder von Leibniz interpretieren soll. Im letzteren Falle bin ich immer genötigt, auf ein Ganzes einer Begrifflichkeit hinzusehen und in sie einzufuhren. Denn der einzelne Satz mit seinen Begriffen ist sozusagen verstrebt in einem Ganzen, das uns so nicht präsent ist. Im Griechischen ist dies Ganze aber ständig durch die Sprache gegenwärtig gehalten. Die Bedeutung eines Wortes bestimmt sich stets aus dem Ganzen der natürlich gesprochenen Sprache, die wie jede Sprache ein Ganzes zur Anschauung bringt. Schon das Lateinische eines Cicero, Seneca, oder gar eines Thomas oder Leibniz, sowie das terminologisch gebrauchte Fremdwort bei Kant, sind in dem Sinne nicht mehr Sprache. Sie fuhren BegritEworte im Zusammenhang einer Sprache ein. Aber die Rückführung der Begriffsworte auf die evokatorische Potenz, die in Sprache als solcher liegt, ist eine andere und schwierige Aufgabe, die dem modernen Denken gestellt ist. Es ist nicht nur ein pädagogischer Vorzug, den die griechische Philosophie durch ihre Sprachnähe besitzt, sondern ein philosophischer Vorsprung, sofern die griechische Philosophie das offenbar schon immer tut, was uns in unserer Zivilisation als eine immer schwerer werdende Aufgabe gestellt ist: die Sym-
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bolsysteme der Weltbewältigung, der Naturüberwindung, die in den modernen Wissenschaften geschaffen worden sind, ins lebendige Verständnis zurückzunehmen. Die Wissenschaft hat es auf diese Weise verstanden, die Welt der Berechnung zu unterwerfen, durch die Methode einer eindeutigen Bezeichnung quantitativ verfiigbar zu machen und neuen Zwecken unterzuordnen. Das es folgt aus dieser Eigentümlichkeit der Wissenschaft der Neuzeit, physische Objekte - wie in der Mathematik - zu konstruieren, d. h. als eindeutig Bestimmtes festzulegen, so daß das so Berechnete seinerseits den Eingriff des Menschen und die Veränderung der Welt auf menschliche Zwecke hin erlaubt. Wir nennen das ;Technik(. Die so veränderte Welt baut sich um uns mehr und mehr auf und steigert die Spannung zwischen der unterworfenen Natur und ihrer künstlerischen Verwendung zu menschlichen Zwecken. Denn was menschlich ist, folgt aus Tatsachen und Erfahrungen unseres Lebens, die nicht wissenschaftlich berechnet und vollständig beherrscht werden können, und die wir doch in unserem Miteinandersein in Gesellschaft, Familie, staatlicher Ordnung, religiöser Erfahrungswelt und dergleichen ständig in Anspruch nehmen. Die Spannung zwischen der immer fremder werdenden beherrschbaren Welt und der uns als selbstverständliche Heimatlichkeit umgebenden, in unserer Sprache ausgelegten Welterfahrung, die uns fast zerreißt, ist im griechischen Denken durch die Nähe des BegriffS zum Wort sozusagen ständig vermittelt. Der zweite Punkt betrifft die Aktualität des griechischen Gedankens. Der Vorrang der res cogitans Descartes', des Selbstbewußtseins als dasfundamenturn inconcussum aller Erkenntnisgewißheit, ist eine gemeinsame Voraussetzung der neueren Philosophie, die über alle Schulen der Neuzeit hinweg reicht, ob es sich um Empirismus oder um Idealismus, um Realismus oder Materialismus oder Posivitismus handelt. Wir werden uns der Problematik dieses neuzeitlichen Subjektivismus zunehmend stärker bewußt. Da ist zum Beispiel, daß wir eigentlich keinen Begriffvom Leib mehr haben, weil alles, was uns durch die auf dem Cartesianismus begründete Wissenschaft zugänglich wird, corpus ist, d. h. Objekt einer mit naturwissenschaftlichen Mitteln zu beherrschenden Gegebenheit. Leib ist aber zweifellos nicht dasselbe wie corpus. Es ist auch nicht der Charakter der Leibgegebenheit, derart objektiv gegeben zu sein, daß quantitative Meßmethoden unmittelbar etwas über den Leib und sein Befinden aussagen. Der Weg von den Standardwerten der Medizin und ihren Abweichungen zu Gesundheit und Krankheit ist lang. Oder ein anderes der zentralen Probleme der modernen Aufklärung: Gesellschaft und Staat. Wie sind sie aus der Voraussetzung des Selbstbewußtseins als des einzigen fundamenturn inconcussum eigentlich zu begründen? Als ein großer Mechanismus von lauter einzelnem Selbstbewußtsein, das zu dem Einzelnen nicht mehr bewußten Gesamtwirkungen zusammengefaßt ist? Das ist kein angemessenes Verständnis des Wesens von Gesellschaft und Staat, daß wir sie so empfinden, als geschähen sie ohne unser Wis-
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sen, ohne daß wir selber uns darin begreifen und daran teilhaben. Genau das ist aber, mindestens in der klassischen Form des 17. Jahrhunderts, das Wesen des Mechanismus, daß der einzelne Faktor in dem resultierenden Ganzen aufgeht. Auf dem Felde des Denkens von Gesellschaft und Gemeinschaft ist diese Verlegenheit durch zwei große Denker der Neuzeit thematisiert worden, mehr als Problem, als daß sie eine Lösung boten: Das eine ist Rousseau und das andere ist Hegel, und beide sind nicht ohne Zusammenhang miteinander und mit dem griechischen Erbe- Rousseau hat, im Blick auf die cite antiqtte und mit einem kleinen Nebenblick auf die cite moderne, die Genf hieß, die volonte generale proklamiert, d. h. einen Begriff des Gemeinwillens aufgestellt, der nicht die Summe der selbstbewußten Willen der einzelnen ist und der doch den Charakter des Willens hat. Im Grunde beruht hierauf das Prinzip der modernen Demokratie: Der Gesamtwille, die volonte generale, gilt auch dem, der die Mehrheits-Entscheidung nicht teilte, als sein eigener Wille Das ist der Sinn des Annehmens einer Abstimmungsniederlage, nicht: mit Zähneknirschen darüber nachdenken, wie man das nächste Mal als Opposition siegt oder umgekehrt, sondern: darüber nachdenken, warum wohl die Mehrheit gegen die eigene Meinung entschieden hat, und diese Entscheidung in den eigenen Willen aufuehmen, solange man nicht mit besseren Gründen die Mehrheit von der Richtigkeit der eigenen Meinung zu überzeugen vermag.- Der Zweite, der dieses Thema mit neuen Mitteln formuliert hat, ist Hegel: mit seiner Theorie des objektiven Geistes. Schon die Bildung dieser Begriffe ist wie eine Rückkehr zu den Griechen. Wenn etwas fur das Denken derNeuzeitcharakteristisch ist, so ist es dies, daß es )Geist< nur von der Subjektivität her zu denken vermag, als die vielfaltige Übereinstimmung einzelner Subjekte. Und nun lehrt Hegel mit der Lehre vom objektiven Geist, daß es Formen des Geistes gibt, die wir )als< Geist anerkennen, ohne daß diese im subjektiven Bewußtsein angemessen gedacht und bewußt sind. Das sind etwa die großen Institutionen Familie und Gesellschaft, Staat, Recht und Sprache usw. Hegels Wendung vom >objektiven Geist<, die de facto dem ganzen Staatsdenken der späteren 1)12 hundert Jahre zugrunde liegt, ist im Grunde eine Übersetzung aus dem Griechischen. Es ist zwar überhaupt kein griechisches Wort darin, sondern die Wendung enthält außer dem lateinischen Begriff des Objektiven den deutschen, aus der Mystik mit Inhalt aufgeladenen, ursprünglich stoischen und dann neutestamentlichen Begriff von Geist (pneuma). Aber die Sache ist ganz und gar griechisch, so daß es keinen Vorrang des Selbstbewußtseins für den Inbegriff dessen gilt, was wahrhaft ist und was uns alle eint. Das zeigt sich schon darin, daß die griechische Welterfahrung von etwas anderem ausging als dem Selbstbewußtsein, wenn sie das zur Einheit Geeinte dachte: pneuma, lOgos, nous- am Ende weisen alle diese Begriffe aufpsychi als die Einheit des lebendigen Ganzen. In der Tat enthält der Begriff der psychi, der Seele, die Wendung aufsich selbst, so daß Seele in der Bezogenheit aufsich selbst ihr eigenes Sein hat. Aber die volle Entfaltung dieser Reflexivität, wie sie das
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Selbstbewußtsein darstellt, ist zwar im Griechischen vorbereitet und wird dann in der Spätantike, wie bei Augustin bestimmend. Aber vom Ursprung her liegt das nicht im griechischen Wort psychi als solchen und nicht in der griechischen Erfahrung von Leben und Menschsein. Psychi ist vielmehr das, wodurch alles Lebendige ausgezeichnet ist, keineswegs nur das seiner selbst be\V-ußt Denkende. Die cartesianische Scheidungvonres cogitansund res extensa, diese Wurzel der neuzeitlichen Philosophie und Weltorientierung, ist offenbar vom anderen Ende her gedacht. Psyche meint das Prinzip des Lebens. Psyche ist daher auch »der Wachstumsgeist<<, die lateinische anima vegetativa, weil offenbar der lebendige Organismus, wenn er wächst, nicht eins ans andere >ansetzt<, so wie ein Kristall an den anderen anschließt oder wie Schneeflocken sich zu einer Schneemasse zusammenballen. Wachstum heißt vielmehr, daß das Ganze sich als Ganzes selbst weiter ausbaut. Es ist eine Beziehung aufsich selbst darin, wo immer etwas wächst. Das rechtfertigt die Rede von psydd: es ist Reflexion, Z urückbezogenheit darin. Aber Reflexion ist nicht auf das Selbstbewußtsein beschränkt, ja nicht einmal vorzüglich in ihm gegeben. Nicht das Selbstbewußtsein ist der Beziehungspunkt, von dem aus organisches Leben durch eingeschränkte Selbstbezüglichkeit charakterisiert ist, sondern umgekehrt \vird die Selbstreflexion als eine höchste Erscheinungsweise der Selbstbezüglichkeit des Lebendigen von der >Einheit< des Lebendigen her charakterisiert. Deshalb ist der aristotelische Gott zoi und 11oris in Einem. Sdner-selbst-Innesein ist die höchste Weise des Eins-Seins und deshalb ist darin keine drlr~amis: es ist ausgeschlossen, daß irgend etwas in ihm aussteht. nor~s ist höchste Steigerung von Sein als Einheit mit sich selbst, mehr als Pflanze und Tier und Mensch. Darin liegt die Aktualität dieser Einsicht, die fur die Kritik des SeelenbegriffS in der modernen Psychologie wegweisend ist. Das englische Wort bc/wviour deutet es an, daß es eine falsche, sozusagen durch das Selbstbev,·ußtsein und seine Dominanz in die Erforschung des Menschen hineingetragene Dogmatik war, daß man vom Bewußtsein aus Psychologie treibt. Es ist einleuchtend, daß eine umfassendere begriflliche Möglichkeit, Einheit und Geeintheit zu denken, bereitgestellt war, als die Einheit des Selbstbewußtseins zu bieten vermochte. Was Hegel in mühsamer Paradoxie >objektiven Geist< nannte und von der Dialektik des Lebens und des Selbstbewußtseins aus gewann, ist von der Einheit des Lebendigen mühelos umfaßt, das sich auf sich selbst bezieht. Aber auch Aristoteles war trotz seiner eigenen Zugehörigkeit zur platonischen Schule, die auf dem Gegensatz von 11oef11 und aistlr/mes/athi bestand, ganz unbefangen in der Beschreibung der Tatsachen und folgte auch darin platonischen Einsichten. Er konnte sagen, daß, wenn wir sehen, wir auch, dabei wissen, daß wir sehen, und das nicht so, daß ich mich, indem ich sehe, reflektierend darauf richte, daß ich sehe. Sicherlich ist hier nicht nur die griechische Sprache freier gewesen - auch ihr Denken war richtiger: Im Sehen selber sehe ich, das ich sehe; aisthesis aisthiseös ist der griechische Ausdruck. Das Mitge-
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hen der Reflexion mit der Lebensbewegung wird vom griechischen Denken ganz unbefangen anerkannt- und ist das nicht auch fur unser Denken aktuell? Allein auf diesem Wege scheint mir nämlich das Phänomen der Sprachlichkeit, das heute in der Philosophie so im Zentrum steht, eine adäquate Auffassung finden zu können. Wer spricht, >weiß< sich sprechen. Aber er wendet nicht mit thematischer Bewußtheit die Regeln der Granunatik und Syntax an, um Rede herzustellen, sondern >weiß<, was richtig ist, und nicht in jenem know how, mit dem der gelernte Handwerker sein Werkstück herstellt, sondern aus der beständigen Kommunikation seiner Walterfahrung, die kein Machen, sondern •Praxis< ist. Der dritte Punkt, den ich erörtern möchte, betriffi: die >Seinsfrage<, das Thema der Ontologie. Oder sollen wir lieber mit Heidegger sagen: das von der Ontologie verfehlte Thema? Wie dem auch sei: daß jedem Weltverhalten ein Seinsverständnis zugrunde liegt, dürfte unbestritten sein - und daß dies Seinsverständnis durch die Philosophie ins ausdrückliche Bewußtsein gehoben wird - mehr oder minder angemessen. So entspricht der modernen Wissenschaft, die in weitem Umfange unser Weltverhalten prägt, ein Begriff von >Sein<, demzufolge das, was ist, dem berechnenden Entwurf- im Sinne der mathematischen Natunvissenschaft - zugeordnet ist: Berechnung durch Isolation und Messung der das Naturgeschehen bestinunenden Faktoren war der Weg, auf dem Galilei die klassische Mechanik entwickelte. Und der Verzicht aufjegliche Erkenntnis von >Substanzen< erwies sich als ein neuer, exakte Ergebnisse zeitigender Weg der Welterkenntnis. Die >Phänomene< wurden auf eine noch ganz andere Weise gerettet, als ehedem Platon es von den Astronomen seiner Zeit forderte, indem er die Kreisbewegung als die Be\vegung der Himmelskörper axiomatisch voraussetzte: Sie wurden beherrschbar durch >Konstruktion< aus neuen, willentlich selbstgesetzten Bedingungen. Darnil dehnte sich die Sphäre des >Künstlichen< im Bereich des von Natur Gegebenen immer weiter aus, bis zu der alles Natürliche überziehenden technischen Weltzivilisation von heute. Der Stolz dieses wissenschaftlichen Weltzugangs ist seine Objektivität: was die Berechnung ansetzt, muß >gesichert< sein, d. h. es wird von jedermanns Erfahrung bestätigt; so wird die Objektivität der Wissenschaft, wird die Wißbarkeit zum Inbegriff des leitenden Seinsverständnisses- und die aus den wißbaren Bedingungen folgende Machbarkeit. Das, was wahrhaft ist, ist der berechnete Gegenstand, d. h. der übernundene Widerstand. Man wird nicht sagen können, daß dies griechisch gedacht ist, auch wenn es nicht ohne die aristotelische Kritik an der platonischen Ideenlehre, seinem Bestehen darauf, daß nicht das Allgemeine, sondern das Einzelne, t6 t6de ti, das allein Seiende ist, gedacht werden konnte- und nicht ohne das im griechischen Kunstgeist erwachende Wissen griechischer Wissenschaft. Gewiß ist es kein griechischer Satz, daß wir nur das zu erkennen vermögen, was wir herzustellen
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wissen. Es ist umgekehrt: die ~Natur•, die Ordnung der Dinge, der Iogos tou eia dous, den wir zu erkennen vermögen. Das läßt auch, was technl ist, erst verständlich werden, als Ausfüllung gestaltlos gelassener Räume, als Wissen um ein eidos en t~ psycht, das hergestellt werden kann, heraus aus, hinein in die Gestaltenordnung der Welt. Daß dabei Widerstand überwunden, das Eidos nicht >rein< erscheinen kann, gehört zum Erscheinen selbst, gleicherweise zur Natur wie zur Kunst. So tritt der herstellende Entwurf nicht als der Gegenwurf dem Seienden entgegen, sondern ergänzend zur Seite: beides ist l6gos, sich herausstellendes, herausgestelltes, ins Hier gestelltes Sein. Auch wenn man- mit Aristoteles- geltend macht, daß das, was ~wirklich< ist, nicht das Allgemeine, sondernjeweils ein bestimmtes Einzelnes ist, wird dieses im Lichte seiner verständlichen Allgemeinheit gesehen. Platon entwickelte mit dem neuen Weg seiner Philosophie, in Wahrheit den Weg aller Philosophie; die berühmte Flucht in die lOgoi, d. h. er wandte sich von der Weise, wie die frühen griechischen Denker und ferseher über das Ganze der Welt unmittelbar beobachtend und folgernd Aussagen zu machen suchten, auf das Ganze unseres Redens über die Welt. Das ist die große Wendung, die Platon nimmt. Wir wachsen hinein in eine sprachlich ausgelegte Welt. Der Philosoph soll dieser Weltauslegung nachdenken, in der in ihr angelegten Richtung der Auslegung unseres Weltverhältnisses weiterdenken. Er fängt nicht mit dem Ersten an, einem Urzustand des Ganzen, von dem wir nichts wissen, sondern mit dem Letzten, dem zur Welt ausgestalteten Sein von allem, von dem wir wissen, von dem wir so gut wissen wie wiralldas >Wissen•. was wir fur gut halten und deshalb wählen und als gut und wählenswürdig im Miteinandersprechen, in rechenschaftgebender Rede behaupten. Kann das gelingen: von unserem endlich begrenzten, in der Kontingenz unserer Muttersprache artikulierten, auf menschliche Zwecke und Bedeutsarnkeiten ausgerichteten Sprechen, vom Seinsverständnis des Guten aus, all unser Erkennen aufzuschließen? Kann es gelingen? Darf es mißlingen? Die Gegenwart, dieses flüchtige nyn zwischen >Vorbei< und ~Bald vorbei<, ~hat ein ungeheures Recht« (Hegel), an dem sich alle Entwürfe begrenzen. Indem die Griechen ihr Wissen von der Welt nie die Heimat ihrer Sprache verlassen haben, erfuhren sie ihre Welt immer schon als eine vertraute. Dafür haben sie ihren Preis gezahlt. Sie haben die moderne Wissenschaft, die sie vorbereiteten, nicht geschaffen. Denn in allem ihrem Wissenwollen haben sie die Welt als die ihnen vertraute gedacht und zu Ende gedacht. So wie wir nach Zwecken handeln, d. h. im Vorblick auf das, was sein soll, so sah die Welt des Aristoteles im ganzen aus. Der Stein fällt nach unten, weil er unten sein will, und das heißt, daß er dort zu Hause ist. Wenn er oben ist, ist er gewaltsam gehindert, zu Hause zu sein. So seltsam das modernen Ohren klingt, - eine solche Naturerkenntnis fugt sich einheitlich in das Ganze unserer praktischen Weltorientierung ein, oder besser: was wir machen können, der gesa.lnte Bereich des Künstlichen und Gekonnten, fugt sich einheitlich in das Ganze un-
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serer von sich aus, von Natur aus geordneten Welt ein. >Nachahmung< der Natur gilt auch noch in den eigensten Schöpfungen der Menschheit, wie sie die Ordnungen einer Polis darstellen. So unwiederholbar und unbefriedigend teleologische Naturerkenntnis oder Naturbefragung auch ist, sie stellt uns beständig eine Aufgabe vor Augen. Indem die griechische Ontologie das Sein nicht als das fremde, widerständig gegenständliche Dies-da denkt, sondern alles Seiende im Lichte seiner wesenhaften, vertrauten Allgemeinheit, stellt das griechische Denken auch die auf den Fortschritt der Wissenschaft gegründete, in die Richtung des unendlich fortschreitenden Könnens und Machens aufgebrochene Menschheit vor die Maßstäbe, die die vorgegebene Ordnung der Natur fur Sein und Bestehen des Ganzen setzt. Im Zeitalter der beginnenden Erdherrschaft kann solches Bewußtsein der dem Menschen als solchen gesetzten Grenzen, wie es die Griechen lehrten, kaum als eine romantische Reaktion - eher als eine neue Aufklärung erscheinen. Endlich ein letzter Punkt, in dem die Griechen von ihrem Denken her wegweisend sein können ftir die Moderne: das ist das Verhältnis von Ethik und Politik. In der Geschichte der Ethik unterscheidet man zwar zwischen Individualethik und Sozialethik, aber die moderne Sozialethik, die man auf die Individualethik zu begründen sucht, ist meist eine bloße Extrapolation aus der philosophischen Fragestellung der Individualethik. Aber das große Problem der modernen Ethik ist doch offenbar: Wie schwer, wenn nicht unmöglich, ist der Übergang von der Moralität der Bindung des Einzelnen an Pflichten und Gewissen zu einer wirklichen Sozialethik? Kant hat mit vollendeter Klarheit das Prinzip der Moralität herausgearbeitet, nämlich dies, daß sie eine Art unbedingter Verpflichtung bedeutet, die es sonst nie gibt. Alle anderen Möglichkeiten zu handeln sind relative, bedingte. Wenn ich einen Zweck erreichen will, muß ich die Mittel wählen. Wenn ich falsche Mittel wähle, kann ich denZwecknicht erreichen. So sagen wir zwar: Ich muß unbedingt so handeln, wenn ich das und das erreichen will. Aber das ist keine wirkliche Unbedingtheit, denn ich brauche das Ziel, das ich erreichen will, ja nicht zu wollen. Das nennt Kant daher technische, hypothetische Imperative. Nun hat Kant unter diesem Gesichtspunkt die ganze antike Ethik kritisiert, daß sie, wie die Ethik des Rationalismus des 18. Jahrhunderts, Eudämonismus sei, da für sie das letzte Ziel alles menschlichen Lebens und Verhaltens das Glück war. Wie das auch in concreto verstanden sein mochte, die Begründung des Rechtlichseins, des Gutseins sei letzten Endes auf eine Art von Glücksphilosophie gegründet, d. h. darauf, daß der glücklich sein wird, welcher sich den geltenden Normen, sei es der >Natur<, sei es der Gesellschaft unterwirft, sie anerkennt. So werde letztlich das >Sollen<, das Rechthandeln aufdie Glückserwartung begründen. Das nennt Kant Eudämonismus und sieht darin eine Verderbung des eigentlichen Grundsatzes der Moralität, unbedingt und nicht nur, um glücklich zu sein, das Rechte zu tun. Diesen Begriffder Moralität hat Kant bis zu dem Konflikt von Pflicht und Neigung
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zugespitzt. Er hat sich bis zu dem ungeheuren Satz verstiegen, daß nur eine Handlung, die gegen die eigenen Neigungen getan werde, sittlich gut sein könne. Die Absurdität dieses Satzes ist ein offenes Problem der Kant-lnterpretation. Bekanntlich hat Schiller darauf ein spöttisches Distichon gedichtet, und es gibt sinnvollere Interpretationen dieses Satzes. Aber eines bleibt immer wahr: dieses Prinzip der Moralphilosophie beruht darauf, daß ich meiner Handlungen selbstbewußt gewiß sein will und sein soll. Setzt man das voraus, dann ist es richtig, daß der Fall, daß ich gegen meine Neigungen handle, mindestens einen methodischen Vorrang hat. Wenn es mir in einer bestimmten Situation verdammt schwer wird, das, was ich für recht erkannt habe, zu tun, dann bin ich nicht in dem Verdacht-wedervoranderen noch vor mir selbst-, daß ich das in Wahrheit nur tue, weil ich dazu Lust habe. In diesem Sinne ist die moralische Reflexion. d. h. das Selbstbewußtsein in seiner praktischen Form, als Gewissen oder wie immer man es interpretieren will, die Basis der Kamischen Ethik. Wenn wir nun die griechische Philosophie ins Auge fassen, so scheint mir der Vorwurf des Eudämonismus, den Kant ihr gegenüber wie gegenüber aller bisherigen Moralphilosophie erhebt, nicht gerechtfertigt. Aristoteles ist als Schüler Platons und damit des Sokrates längst über eine Moraltradition hinaus, die ihre Werttafeln allein durch die normative Kraft des Gesellschaftlichen und ihre selbstverständliche Glückserwartung rechtfertigte. Das war die Basis der griechischen Adelsethik gewesen, die in das Stadtpatriziat und schließlich in die städtische Demokratie überging. Die traditionellen Werte der griechischen Lebenspraxis, die man als die Tugenden der Griechen kennt und die in einigen Leitgestalten wie dem tapferen Achilles oder dem klugen Odysseus allen vor Augen standen, hat die philosophische Ethik, auch die des Aristoteles- soweit ist er Sokratiker- nicht mehr als zwingende Paradigmata gesellschaftlich richtigen Verhaltens ausgegeben. Logos, Verstehen, Selbsterkenntnis, Wissen um das Recht muß dabei sein. Ich drücke mich absichtlich so aus, daß ich sage: Selbsterkenntnis muß dabei sein. Selbsterkenntnis ist aber dem Menschen nicht in jeder Lage möglich. Die Lage, in der Selbsterkenntnis überhaupt nur möglich ist. ist nicht selber \•.'ieder durch Selbsterkenntnis herbeizuführen. Das lehrt etwa das berühmte Beispiel des Aristoteles: Wenn jemand in der Trunkenheit jemanden totschlägt: ist er schuld oder nicht? Es ist die bekannte Frage der Zurechnungsfahigkeit. Die Aristotelische An t\vort lautet: Mußte er sich denn betrinken? Das \vill heißen: er ist zwar in dem Augenblick, in dem er diesen Totschlag begeht, nicht bei sich, er ist aber ftir sich selbst in seinem ganzen Sein verannvortlich. Er mußte nicht in einer Verfassung sein. in dersich ihm das Rechte verdunkelte, so daß er, überschwemmt von seinen Affekten, das Verbrechen beging. Das Beispiel lehrt, wie Aristoteles zwischen der traditionellen konventionalistischen Moral und dem sokratischen Logos den Ausgleich suchte: Gewiß muß man Rechenschaft geben können. Man handelt ja aufgrund von bewußtem Wählen: so und nicht anders. So hat man sich für das entschieden, \\'as
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man fur das Recht hält. Das gilt unbedingt. Aber damit ich aus wirklich rechter Erkenntnis handle, so daß ich meine Handlung selber rechtfertigen kann, dafur müssen gewisse sittliche Voraussetzungen schon vorhanden sein. Das aber heißt: Moral ist >Ethik<. Das griechische Wort Ethik, dasAristoteles zum Begriff erhebt, enthält die ganze aristotelische Wahrheit. Ethik ist nicht allein das rechte Verhalten und auch nichr allein die Erkenntnis des Rechten, sondern zum Ethos gehört Gewöhnung, Gewordensein durch wiederholtes Tun. Wenn einer ein Alkoholiker ist, kann er nicht plötzlich sagen: Ich trinke keinen Tropfen mehr. Man denke daran, wie die Suchtkrankheit heute dank den chemischen Drogen eine furchtbare Realität geworden ist. Die Furchtbarkeit dieser Realität besteht eben darin, daß der Süchtige in einem Zustand ist, daß er unfahig ist, im Sinne der Selbstveranmrortlichkeit zu handeln. Nun sahen wir, daß ertrotzdem eine Veranmrortlichkeit ftir die Voraussetzungen, Bedingungen trägt, unter denen einer verantwortlich handeln und entscheiden kann. Darin ist ein jeder vor allem sich selber verant\vordich: er kann die Folgen auf niemanden abschieben. Aber zugleich tragen \'llir diese Verantwortung auch alle fureinander -und diese Verantwortlichkeit betätigen, nennen wir >Politik<. Daraufberuht Politik, daß keiner als einzelner und ftir sich allein seinem Gewissen gemäß lebt und daß er nicht von sich aus und fur sich allein die Bedingungen selbstverantwortlichen Verhaltens schaffen kann. Das kann er nur, sofern er mit anderen in einer gemeinsamen Ordnung lebt. Keiner von um baut sich nach frei gewähltem Plane sein Leben. Er ist erzogen worden, unverständig, wie er war. Es fallen im ersten Lebensjahr, wie wir heute wissen, die allermeisten charakterbildenden Entscheidungen, die überhaupt aus der Umwelt aufdie genetischen Faktoren eines menschlichen Organismus noch einwirken. Davon wußten die Griechen auch emras: Das Ganze unseres Geformt\verdens durch Ethos. durch Gewöhnung und Übung, das ganze Geformt\verden durch das Leben in der Familie (und aufder Straße, die man in Athen natürlich nicht vergessen darf, da Familie nie so abgesperrte Intimität war), das Ganze unserer politischen und rechtlichen und wirtschaftlichen Einrichtungen erstellt die Bedingungen, unter denen ich in die Lage konm1e, meine Entscheidungen zu treffen, meine Prohalresis, wie es Aristoteles ausdrückt. So folgt aus der Analyse des sittlichen Phänomens, wie die Griechen mit wunderbarer Klarheit gesehen haben, daß >Politik< nicht eine Ausdehnung der Individualethik ins Soziale ist, sondern ein wesentlicher Faktor aller Ethik. Aristoteles entwickelt in seiner Nikomachischen Ethik sofort als den selbstverständlichen Horizont aller praktischen Philosophie, daß >Ethik( sich erst in der Politik vollendet. Auch die Theorie des menschlichen praktischen Lebens ist nichtolmedie Einsicht in das rechte Wesen des Staates und der staatlichen Ordnung zu gewinnen. Es gibt nun ein wahrhaft riesiges Beispiel ftir die Bedeutung dieses >politischen( Rahmens der Aristotelischen Ethik, und das ist die Rolle der Freundschaft in ihr. Aristoteles hat drei von zwölf Büchern seiner Ethik allein dem
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Thema Freundschaft gewidmet. Es gibt keinen Gegenstand der praktischen Philosophie, der von ihm - und nach zahlreichen Zeugnissen nicht nur von ihm- so umfangreich behandelt worden ist wie dieser. Und was ist Freundschaft? Es ist sicherlich nicht eine Frage meines individuellen Verhaltens. Es ist keine Wahrheit, zu denken: ~daß ichjemanden liebe, was geht es ihn an?((. Das Wesen der Freundschaft ist anders. Man kann nicht Freund sein -wie Aristoteles mit voller Richtigkeit gesehen hat - ohne Gemeinsamkeit des Lebens. Freundschaft ist in mannigfaltigen Abstufungen eine Form des Zusammenlebens, auf welchem Gebiete immer sie sich vollziehen mag. Freundschaft reicht also noch über das hinaus, was meinen eigenen Charakter ausmacht und worüber ich Rechenschaft ablegen muß; wie ich geworden bin, durch Erziehung und Lernen und Umwelteinflüsse aller Art, so daß ich in einer konkreten Situation des Handeins fähig bin zu entscheiden, was recht ist, und so daß sich mir das nicht verdunkelt, wie jenem Betrunkenen, der im Augenblick sich vom Affekte überwältigen läßt - all das steht am Ende bei mir selbst. Aber Freundschaft ist noch mehr als das. Denn offenkundig hängt Freundschaft auch von anderen ab und von all dem, was wir den kair6s, mit dem lateinischen Ausdruck >die Konstellationen< nennen. Freundschaft gehört zu dem, ohne das das Leben nicht auszuhalten ist - niemand kann ohne Freunde glücklich sein. Wenn man nur unter Freundschaft ein genügend weites Phänomen im Auge behält, trifft das auch noch fUr uns zu. Wären wir allein imstande, das Rechte zu tun?- und erst recht: gäbe es Glück? Man kann es zwar niemandem anrechnen, wenn er keine Freunde hat, z. B. wenn er seine Freunde durch den Tod verlor. Alle alten Menschen sind verhältnismäßig einsam, und niemandem kann man Freundschaft zur Pflicht machen. Aber gerade das hat Aristoteles richtig gesehen, daß menschliches Leben so aussieht, daß es von Bedingungen abhängt, die nicht bei uns stehen, und deswegen hat Aristoteles auch richtig gesehen, wenn er sagt: zum vollendeten Leben, zu dem Leben, von dem man sagen möchte, es sei richtig, gehört Freundschaft, Familienglück und was er die ekt6s choreg{a nennt, d. h., daß man die Mittel zum Leben besitzt. Unter allen Bedingungen ist der Satz wahr, daß Glück in jenem vollen Sinne des griechischen Gedankens des rechten Lebens, zu dem man ja sagen kann, auch die äußeren Bedürfnisse des Lebens erfiillt sehen muß. Denn >Glück< gibt es nicht ohne das, was man das kalon, das Schöne, nennt, das zwar zum Weiterleben unnötig und doch zum wahrhaften Leben unentbehrlich ist. So möchte ich den Horizont der eudaimon{a, wie ihn Aristoteles entwickelt, auch gegen die kantische Kritik verteidigen und sagen: Die griechische Ethik war gar keine Ethik, welche das Rechthandeln unter die Bedingung einer erwarteten Glückseligkeit stellte, sondern eine solche, die das Rechthandeln unter die Bedingungen der rechten Wirklichkeitsgestaltung stellte. So wenig ideal die Wirklichkeit unseres Lebens auch immer ist, sie muß so sein, daß sie dasJasagen zu diesem Leben, d. h. Eudaimonia, möglich sein läßt. Ist das nicht
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richtig? Nicht auch unter den strengsten Maßstäben der Moralphilosophie wahr- und daher für uns alle als politische Aufgabe verpflichtend? Wenn wir auf diese Weise mit den griechischen Philosophen rnitdenk:en, sind wir dann nicht wahrhaft bei uns, d. h. bei unser aller menschlichen Zukunft?
10. Die Zukunft der europäischen Geisteswissenschaften (1983)
Was man in Deutschland die Geisteswissenschaften nennt, hat in den anderen europäischen Sprachen keine genaue Entsprechung. Man redet in Frankreich von den lettres, im englischen Sprachraum von der moral sciences oder von den humanties usw. Aber auch wenn es an dem rechten sprachlichen Äquivalent fehlt, darf dennoch gesagt '>verden, daß die Geisteswissenschaften insgesamt und überall innerhalb der vieHältigen europäischen Landschaft eine ganz besondere Rolle spielen, die im höchsten Grade eine gemeinsame ist. Diese Gemeinsamkeit besteht nicht darin, daß Europa ein vielsprachliches Ganzes ist. das aus mannigfaltigen nationalen Sprachkulturen besteht. Jeder Blick in die Zukunft der Welt und auf die Rolle, die die europäische Kulturwelt durch ihre Geisteswissenschaften flir diese Zukunft zu spielen vermag, wird davon ausgehen müssen, daß dieses Europa ein vielsprachliches Gebilde ist. Zwar kann man in der Zukunft flir die Naturwissenschaften eine Einheitssprache voraussagen. Aber flir die Geistesv.rissenschaften dürfte es anders aussehen. Das zeichnet sich schon heute ab. Die wesentlichen Forschungsleistungen innerhalb der Naturforschung benutzen, wenigstens soweit sie aus dem vielsprachigen Europa stammen, mehr oder minder die Einheitssprache des Englischen. Für den Osten Europas mag das noch nicht im vollen Umfange gelten, aber es sind unausweichliche Gründe, die innere wechselseitige Abhängigkeit und die völlige Gemeinsamkeit der Forschungsinteressen der Völker in den Naturwissenschaften, die auf die Dauer zu einer solchen wissenschaftlichen Verkehrssprache einfach nötigen. In den Geisteswissenschaften sieht die Sache dagegen anders aus. Man wird geradezu sagen dürfen, daß die Vielheit der Nationalsprachen Europas mit dem Faktum der Geisteswissenschaften und ihrer Funktion im Kulturleben der Menschheit aufS Innigste verwachsen ist. Man kann sich nicht einmal vorstellen, daß diese Kulturwelt sich, auch wenn es noch so praktisch wäre, flir die Geisteswissenschaften ebenso auf eine internationale Verkehrssprache einigen könnte, wie sich das in der Naturforschung schon seit längerem anbahnt. Warum ist das so? Darüber nachdenken heißt bereits, etwas darüber sagen, \vas die Geisteswissenschaften heute sind und was sie flir die Zukunft Europas bedeuten können.
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Fragen wir uns zunächst, wie es zu der Ausbildung dieser sogenannten Geisteswissenschaften überhaupt gekommen ist. Jede Vorausschau in die Zukunft ist dem Menschen in weitem Umfange verwehrt. Soweit wir zu einiger Vorausschau überhaupt imstande sind, haben wir stets mit dem Mysterium der menschlichen Freiheit zu rechnen, die durch das Aufbrechen ihres Potentials immer wieder Überraschungen bereithält. Soweit Voraussagen und Vorausdenken überhaupt sinnvoll und ernsthaft begründet ist und nicht einfach ein gedankenloses Träumen von wissenschaftlicher Erforschung der sogenannten Zukunft sein ~"ill - und solches Träumen wird dadurch nicht origineller, daß es sich Futurologie nennt-, wird es immer nur aus dem Zurückdenken all sein Vorausdenken enn,..·ickeln können. Das ist eine einsichtige wissenschaftliche Notwendigkeit. So kann auch, was Europa in der Zukunft sein kann, ja mehr noch, was Europa heute ist, nur gefragt werden, indem man sich fragt, wie Europa das geworden ist, was es heute ist. Wenn es sich um die Rolle der Wissenschaft flir die Zukunft Europas handelt, muß man nun von einem ersten Grundsatz ausgehen, dessen Evidenz mir unleugbar scheint. Das ist der Satz, daß die Figur der Wissenschaft selber Europa geradezu definiert. Die Wissenschaft hat Europa in seinem geschichtlichen Wesen und Werden, ja geradezu in den Grenzen, in denen man etwas europäisch nennt, determiniert. Das will gewiß nicht sagen, daß nicht auch andere Kulturkreise ihrerseits in gewissen Bereichen der wissenschaftlichen Erkenntnis der Welt eigene fruchtbare Leistungen und bis heute fortlebende Traditionen entwickelt haben. Man denke nur an all das, was der Vordere Orient oder Ägypten der werdenden europäischen Wissenschaft in Griechenland vererbt haben. Aber was man ohne Einschränkung sagen kann, ist, daß sich nur in Europa die Gestalt der Wissenschaft zu einem autonomen und beherrschenden Kulturgebilde herausgestaltet hat. Insbesondere ist die Neuzeit der Weltgeschichte in ihrer kulturellen und zivilisatorischen Gestaltung in offensichtlicher Weise durch die Wissenschaft bestimmt. Die Führungsstellung der Wissenschaft in unserer Kultur ist inzwischen nicht auf Europa beschränkt, seit der Gang der technischen und industriellen Revolution den ganzen Erdball mit wachsender Intensität überzieht. Aber noch immer, nachdem moderne Wissenschaft und Forschung, Schulwesen und Hochschulwesen überall europäischem Vorbild folgen - oder seinem amerikanischen Nachbild-, ist das alles eine Folge der europäischen Wissenschaft. Das ist eine Feststellung. die ganz unabhängig davon ist, wie man die Zukunftsaussichten einer derart von der Wissenschaft und ihrer technischen Anwendung beherrschten Menschheit beurteilen möge. Wir gehen also in unserer Besinnung von dem Grundsatz aus, daß die Entstehung der Wissenschaft Europa geformt hat. Zur Verdeutlichung muß die Einzigartigkeit dieses Vorgangs näher beschrieben werden. Gewiß hat es niemals eine Kulturwelt oder einen Kultur-
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kreis gegeben, in dem nicht eine aus Erfahrung erworbene >Wissenschaft< verwaltet und weitergegeben wurde. Ebenso hat es auch niemals einen Kulturkreis gegeben, der innerhalb der Mannigfaltigkeit der menschlichen Kulturschöpfungen so sehr unter der Vorherrschaft der Wissenschaft stand. So ist es höchst bezeichnend, daß nur in Europa eine so tiefe Differenzierung und Artikulation des menschlichen Wissens und Wissenwollens entstanden sind, wie die durch die Begriffe Religion, Philosophie, Kunst und Wissenschaft dargestellte. In anderen Kulturen, gerade auch in Hochkulturen, hat das keine ursprüngliche Entsprechung. Die vier genannten Begriffe stellen eine durch und durch europäische Denkweise dar. Es wäre vergeblich, wenn man solche Kategorien, die uns selbstverständlich sind, innerhalb anderer Traditionen aufsuchen und etwa die Spruchweisheit der großen chinesischen Weisen oder die epische Tradition Indiens mit solchen Unterscheidungen belasten wollte. Das gleiche gilt flir nicht mehr fordebende Kulturen wie die großen Hochkulturen des Vorderen Orients und Ägyptens. Gewiß kann man von unseren heutigen trennenden und unterscheidenden Begriffen aus an all diese Kulturen herangehen, ja, man mag auch die Beiträge all dieser Kulturen zu unserer wissenschaftlichen Erkenntnis hinzurechnen. Selbst fiir ein Religionsgespräch oder fiir eine umfassende Überschau über die Kunsdeistungen der Menschheit wird man so vorgehen. Aber man wird, ohne es zu wollen, dadurch Vorentscheidungen getroffen haben und das Selbstverständnis dieser Kulturen durchaus verfehlen. Langsam dämmert gerade diese Erkenntnis nicht nur in unserem historischen Bewußtsein auf, sondern auch in unseren Erfahrungen beim praktischen Zugang unserer Forschungsinteressen zu fremden Völkern und Kulturen. In Wissenschaften wie der Ethnologie, Anthropologie, Ethologie beginnt der Fragebogen naiver Feldforschung suspekt zu werden. Wir verbuchen als ein erstes Resultat: Einer der grundlegenden Züge Europas ist die Unterscheidung von Philosophie, Religion, Kunst und Wissenschaft; sie ist in der griechischen Kultur entstanden und hat die griechisch-christliche Kultureinheit des Abendlandes geformt. Gewiß ist das nicht die einzige Unterscheidung, die Europa charakterisiert. Es gibt andere Unterscheidungen, die an der weiteren Differenzierung der europäischen Kultur mitbeteiligt sind. Wenn wir auf die griechisch-christliche Kulturtradition blicken, wird ein fundamentaler innerer Unterschied innerhalb dieser Tradition sofort bewußt: der Unterschied zwischen Ost und West. Es ist klar, daß dieser Unterschied am Ende den Zerfall des römischen Weltreiches zu seinem Hintergrunde hat. Im Zusammenhang mit dem politischen Zerfall des römischen Imperiums in das Ostreich und in das Westreich steht die Kirchenspaltung, die innerhalb des Christentums zwei getrennte chrisdiche Kirchen hat entstehen lassen: die sogenannte griechische Orthodoxie und die römisch-katholische Kirche. Diese Trennung scheint mir am Ende aber geradezu die europäische Kultureinheit zu definieren. Auf dem
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Felde der Kirchenpolitik jedenfalls ist das Leiden an der Trennung und der Versuch der Vereinigung seit Jahrhunderten eine wohlbekannte Tatsache, die sich in der ökumenischen Bewegung Ausdruck verliehen hat. Das wirkt sich auch auf dem Felde der Geisteswissenschaften aus. Dort ist das Trennende vielleicht stärker als das Vereinigende. Man darf wohl ohne Übertreibung sagen, daß Osteuropa, mindestens soweit es in den Bereich der Ostkirche gehört- die gegenwärtigen politischen Trennungslinien zwischen Ost und West sind ja keine kirchlichen -, in unseren Geisteswissenschaften nicht die gleiche wissenschaftliche Präsenz erlangt hat, die die vielfaltigen westlichen Kulturen Europas besitzen; sie sind nicht so wie diese in unserem geschichdichen Bewußtsein lebendig. Man braucht kein Prophet zu sein, um voraussagen zu können, daß die Zukunft Europas mit Sicherheit an diesem Ungleichgewicht arbeiten wird und daß vorallem die Geisteswissenschaften zu seiner Verminderung beizutragen haben. Die bloße Tatsache der politischen und militärischen Macht Osteuropas wird dahin wirken, daß auch in der westlichen Wissenschaft die historisch-philologische Forschung der Ostkulturen gefördert wird. Warum es so lange an einem solchen Gleichgewicht gefehlt hat, liegt in der Geschichte der westlichen Kulturwelt Europas begründet, aber natürlich auch in der steigenden Bedeutung des Welthandels über die Meere hin. Blickt man auf den Globus, dann erscheint gegenüber der gewaltigen Landmasse Osteuropas das westliche Europa wie eine einzige große Hafenlandschaft, die für die Entdeckungsfahrten zu neuen Welten förmlich aufgetan war. Innerhalb dieser Gegebenheiten hat sich die Kultureinheit der westlichen Welt durch eine Reihe von Versuchen geformt, das antike Erbe wiederzubeleben. Nachdem die wildesten Stürme der Völkerwanderung vorübergegangen waren und die römische Kirche sich als feste Ordnungsmacht durchgesetzt hatte, haben Renaissancen innerhalb der germanisch-romanischen Völkerschaften, die das Erbe des römischen Reiches angetreten hatten, die Geschichte der westlichen Welt ständig begleitet, von der karolingischen Renaissance an. Erst langsam beginnt in unser historisches Bewußtsein einzudringen, daß für die östliche Hälfte Europas von Byzanz aus eine ähnliche traditionsbildende Wirkung ausgegangen ist und daß die tiefere Aneignung dieser Tradition in ähnlichen Rückbesinnungen verlaufen ist. Es bleibt aber kein Zweifel, daß es eine besonders spannungsvolle Geschichte gewesen ist, die die Überlieferung der westlichen Kulturwelt geprägt hat, zu der die beiden Amerika zuzurechnen sind. Da hat einmal die Auseinanderdifferenzierung der europäischen Sprachen einen erheblichen höheren Grad erreicht, als er fiir die slawischen Sprachen Osteuropas im allgemeinen gelten dürfte. Ebensowenig hat der Antagonismus zwischen Kirche und Reich, der die Geschichte des Mittelalters im Westen beherrscht hat, eine volle Entspre-
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chung im byzantinischen Raume: weder gab es da einen so straffen Zentralismus des Kirchenregiments noch eine so einheitliche Reichsidee und Reichsgewalt. Dazu tritt schließlich seit der Reformation die Glaubensspaltung innerhalb des wesdichen Christentums. Der Streit und der Wettstreit des römisch-katholischen und des protestantischen Christentums haben ihrerseits an der Vertiefung des westeuropäischen Differenzierungsprozesses ihren wichtigen Anteil. Das wird besonders sichtbar, wenn man auf das Ende dieser Traditionsgeschichte der europäischen Kultur blickt, die sich fur uns in der großartigen Folge von Kunststilen darstellt, die in die historische und reduktionistische Experimentalphase des 19. und 20. Jahrhunderts ausgelaufen ist. Es ist wie ein Traditionsbruch, der hier mit Händen zu greifen ist und der gewiß mit der Französischen Revolution und ihrer bewußten Absage an die Vergangenheit eingesetzt hat. Zwar war die Emanzipation des dritten Standes, die die Französische Revolution gebracht hat, nicht nur ein Traditionsbruch. In gewisser Weise war sie vielmehr die reife Frucht einer langsamen Entwicklung der städtischen und ständischen Ordnung des wirtschaftlichen Lebens. Aber selbst der bewußte Traditionsbruch, der zu dem blutigen Zusammenstoß Z\vischen dem überalterten dynastischen Absolutismus und den neuaufstrebenden Kräften der Gesellschaft fuhrte, bedeutete nicht nur einen Bruch, sondern in der Reaktion auf diesen Bruch zugleich die Stiftung eines neuen Kontinuitätsbewußtseins. Damit nähern wir uns der fur unser Thema konstitutiven Entwicklung, auf die die Spannung zwischen Naturu,:issenschaften und Geisteswissenschaften in unserer europäischen Kultur zurückgeht. Auf den Traditionsbruch der französischen Revolution folgte der romantische Rückschlag. Die Romantik verherrlichte das christliche Mittelalter und die epische Frühzeit der europäischen Völker. Sie stellte damit eine letzte Beschwörung der Kultur- und Glaubenseinheit der Christenheit in Europa dar, wie sie etwa Novalls bis zu eschathologischen Erwartungen gesteigert hat: ~~wenn nicht mehr Zahlen und Figuren ... «. Die Entfaltung des spekulativen Idealismus von Fichte bis Hege! ist das philosophische Gegenstück dazu und stellt den ebenso großartigen wie vermessenen Versuch dar, Tradition und Revolution, Antiqui wie Moderni, älteste Metaphysik und neueste Wissenschaft in einer letzten Synthese aufzuheben. So etwas konnte sich nicht lange halten. Die dauerhafte Wirkung dieser romantischen Reaktion, die das europäische Lebensbew-ußtsein zutiefst bestimmt, war etwas anderes: der Aufgang des historischen Bewußtseins. Im Lichte geschichtlichen Denkens treten nicht nur die verbindenden Linien über alle Brüche und Umbrüche der Weltgeschichte wieder hervor. Geschichtliches Denken hat in Wahrheit nicht erst mit der romantischen Reaktion auf die Französische Revolution seine Entfaltung genommen. Es stellt von jeher ein tragendes Element aller Traditionspflege dar. So haben Rückbe-
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sinnung auf die Herkunft, heimatgeschichtliche, landesgeschichtliche, kirchengeschichtliche, dynastiegeschichtliche Interessen im geschichtlichen Leben der Menschheit seit langem ihre Rolle gespielt. Alle Überlieferung ist als solche kein organisches Geschehen, sondern beruht auf der bewußten Anstrengung, Vergaugenes zu bewahren. Das historische Bewußtsein, das im 19. Jahrhundert zum Siege kam, ist aber etwas anderes. Es ist die grundsätzliche Überzeugung, die mit der Schärfung des historischen Sinnes einhergeht, daß es ftir den Menschen eine gültige und verbindliche Erkenntnis des Ganzen der Wirklichkeit nicht gibt und daß keine erste Philosophie oder Metaphysik außerhalb der auf die Mathematik gegründeten Naturwissenschaften ein festes Fundament besitzt. Ich formuliere also als zweiten Hauptsatz meiner Besinnung: Die Rolle der Geisteswissenschaften fUr die Zukunft Europas beruht auf dem historischen Bewußtsein. Es will nicht mehr zulassen, daß es allgemein gültige Wahrheiten im Sinne der Metaphysik gibt, die sich hinter allen Wandlungen des Denkens als die pl1ilosophia perennis erkennen lassen. Nun wird man sich fragen müssen, ob diese Frucht der romantischen Reaktion auf die konstruktive Abstraktheit der radikalen politischen Aufklärung und auf die spekulative Vermessenheit des Idealismus ein wirklicher Neubeginn ist oder nicht vielmehr selbst eine Folge - wie eben in allem geschichtlichen Geschehen das Neue auch inuner das seit langem Vorbereitete ist. In der Tat werden wir einen Schritt weiter zurück genötigt, und Z\var auf das 17. Jahrhundert. Das große Faktum der auf Mathematik gegründeten Natul"\vissenschaften war eine echte Revolution in der Wissenschaft - am Ende doch wohl die einzige, die diesen Namen wirklich verdient. Was sich mit der neuen Mechanik Galileis und mit der Ausbreitung der mathematischen Fundierung aller Erfahrungswissenschaften entfaltete, stellt den eigentlichen Beginn der Neuzeit dar. Sie beginnt nicht mit einem Datum dies Spiel der Historiker ist genügend durchgespielt -, sondern mit dem Methodenideal der modernen Wissenschaft. Die Einheit der traditionellen Gesamtwissenschaft, die den allgemeinen Namen Philosopilia trug, teilte sich in die unüberbrückbare Zweiheit zweier Welten, einen Kosmos der Erfahrungswissenschaften und einen Kosmos der auf sprachliche Überlieferung gegründeten Weltorientierung. Der bekannte philosophische Ausdruck fUr diese Spaltung ist die Unterscheidung, die Descartes Z\vischen der res cogita11s und der res exteiiSa traf. Damit war in die Gesamtwissenschaft der Tradition ein Keil getrieben, der sich innerhalb der Wissenschaft als die Zweiheit von Natur- und Geisteswissenschaften auswirkte. Anfangs war es noch eine Fortentwicklung im Rahmen der herkömmlichen Metaphysik. Es ist fUr die Kontinuität des europäischen Denkens bezeichnend, daß sich die Tradition der Metaphysik auch im Zeitalter der Aufklärung und der Entstehung der modernen Erfahrungswissenschaften zu
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behaupten vermocht, ja bis in das Zeitalter der Romantik hineingewirkt hat. Eben das tritt in der fragwürdigen Synthese hervor, die der nachkantische deutsche Idealismus unternahm. Ernst Troeltsch mag freilich recht gehabt haben, wenn er diesen Spätling der Metaphysik als eine bloße Episode im Ganzen des Autklärungsgeschehens der Neuzeit ansah. Doch mag er Unrecht haben, wenn er die Zukunft der Metaphysik wirklich bereits mit dem 19. Jahrhundert fiir endgültig besiegelt hielt. Die Naturanlage des Menschen zur Metaphysik läßt sich nicht so leicht unterdrücken- auch wenn die Gestalt der Metaphysik als >erster Wissenschaft< keiner dauerhaften Erneuerung fahig sein mag. In Wahrheit sind es gerade die Geisteswissenschaften, die dieses große Erbe des menschlichen Fragens nach den letzten Dingen mehr oder minder bewußt übernormneo und die auch der Philosophie seither eine geschichtliche Orientierung verliehen haben. Aus unserer Überlegung geht hervor, daß das Schrittgesetz der geisteswissenschaftlichen Forschung in Deutschland vom Geiste der Romantik bestimmt worden ist und daher vor allem in der >historischen Schule< seinen wissenschaftlichen Ausdruck fand. Gewiß hat diese neue Wissenschaftsgesinnung historisch-kritischer Forschung über die ganze europäische Kulturwelt ausgestrahlt, aber doch in verschiedenem Grade. Die Entwicklung der Geisteswissenschaften und ihrer Kulturfunktion in den anderen Kulturländern Europas, zu denen damals selbstverständlich auch Rußland gehörte, war nicht ganz die gleiche wie in Deutschland, dem Ursprungsland der Romantik. In Deutschland kam eine weitere gewaltige Kraft zur Wirkung: die protestantische Tradition des gewagten und kritischen Bestehens auf der Freiheit eines Christenmenschen. Es hat den Siegeszug der Geisteswissenschaften, und insbesondere der historischen Wissenschaften, im Deutschland des 19. Jahrhunderts beflügelt. In anderen Ländern, in denen andere gesellschaftliche Bedingungen herrschten und wo die Glaubensspaltung nicht in der gleichen Weise wirksam war, sah die Sache anders aus. Es spiegelt sich etwa in der frühen demokratischen Tradition Englands, die etwas vom Geistes der römischen Republik, ihres Herrschaftswillens und ihres Humanitätsideals bis in den Namen der mor
Geisteswissenschaften< ausprägt, \veist auf den tieferen Zusammenhang, der das neue historische Bewußtsein mit der geschichtlichen gesellschaftlichen Formation der modernen Territorialstaaten und Nationalstaaten verknüpft. Das wird bei der Errichtung neuer souveräner Staaten, wie
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sie sich in der neueren Geschichte ereignet hat, besonders deutlich. Insbesondere die geschichtlichen Wissenschaften gewinnen eine große Wichtigkeit ftir neue politische Einheiten; mit ihrer Hilfe suchen sie ihre eigene Identität aus ihrer Vergangenheit zu begründen. So hat Herders Volksgeistlehre auf den slawischen Osten eine gewaltige Wirkung ausgeübt; und ebenso haben die Folgen des Zweiten Weltkrieges, etwa die Wiederherstellung Polens, aber auch die Neukonstituierung des östlichen Deutschlands, von der Geschichtsschreibung und der Geschichtsforschung, und das heißt von den Geisteswissenschaften, wichtige gesellschaftliche Impulse empfangen. Aber das sind nur die uns nächsten europäischen Beispiele. In Wahrheit handelt es sich um einen globalen Vorgang, der mit dem Ende des Kolonialzeitalters und mit der Emanzipation der Glieder des britischen Empire in Gang gekommen ist. Überall stellt sich die gleiche Aufgabe, die eigene Identität und selbständige Entfaltung zu einem nationalen Staatswesen tiefer zu begründen; und das schließt neben allen wirtschaftlichen und politischen Aspekten gerade auch denjenigen ein, fur den die Geisteswissenschaften von Bedeutung sind. So können sich die in Europa entwickelten Geisteswissenschaften der Aufgabe gar nicht entziehen, die sie durch ihre bloße Existenz schon angenommen haben. Damit sind wir bei unserem eigensten Thema. Es geht um die Zukunft Europas und die Rolle der Geisteswissenschaften fur diese Zukunft Europas in der Welt. Es handelt sich heute nicht um Europa allein, sondern um die neue zivilisatorische Einheit, die die Welt des Weltverkehrs und der Weltwirtschaft herauffuhrt und um die neue zivilisatorische Mannigfaltigkeit, zu der sich die menschliche Kultur auf unserem Planeten zu entfalten beginnt. Das ist eine Geschichte voller Fragen. Es geht nicht nur um die sogenannte Entwicklungshilfe und ihre Nöte, nicht nur darum, daß mit der Entwicklung einer Investitionspolitik in unterentwickelten Ländern die tieferen und geistigeren Voraussetzungen des berühmten know how nicht mit entwickelt werden. Es geht um eine viel tiefere Problematik, die die Denkerfahrungen, welche das Europa der Neuzeit inzwischen gemacht hat, in1 planetarischen Maßstab interessant werden lassen. Unter dem Maßstab des ökonomisch-technischen Fortschritts mag der Begriff der Entwicklung einen eindeutigen wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Sinn haben. Aber daß das nicht alles ist, beginnt die heutige Welt gerade in ihren höchstenTwickelten Ländern am meisten zu spüren. Die Folgen der modernen wissenschaftlichen Aufklärung zeigen sich nicht nur in dem wirtschaftlichen Aufschwung der hochenTwickelten Länder, sondern auch in dem wachsenden Ungleichgewicht zwischen wirtschaftlichem und gesellschaftlich-menschlichem Fortschritt. Der Begriff der Entwicklung und die Frage nach dem Ziel der Entwicklung, an dem sich Entwicklung mißt, haben ihre Eindeutigkeit verloren. Gewiß wird wirtschaftlicher Wohl-
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stand stets eine eigene Teleologie in sich tragen und sich immanent zu rechtfertigen wissen. Wir beginnen es geradezu als eine eigene Schwierigkeit zu entdecken, wie man als Angehöriger eines hochenrnrickelten Landes im Austausch mit Politikern und Intellektuellen, die in unterenrnrickelten Ländern an technischer Entwicklung arbeiten, überhaupt glaubhaft bleiben kann, wenn man von der Problematik unseres Fortschrittes zu reden beginnt. Genau hier aber scheinen mir die Einsichten der Geisteswissenschaften eine neue Aktualität zu gewinnen. Viele Länder dieser Erde befinden sich auf der Suche nach einer Zivilisationsform, der das Kunststück gelänge, ihre eigene Überlieferung und die tiefeingewurzelten Werte ihrer Lebensformen mit dem europäisch gesteuerten wirtschaftlichen Fortschritt zu vereinen. Große Teile der Menschheit stehen vor dieser Frage. Sie ist auch an uns selbst gerichtet. Sind unsere Schul- und Erziehungsformen richtig eingesetzt, wenn wir sie in dritte Länder exportieren? Oder sind sie dort am Ende nur aufgepfropft und bev.rirken mehr die Entfremdung der Eliten von ihren angestammten Traditionen, als daß sie der eigenen Zukunft dieser Länder zugute kämen? Die Tragödie des >schwarzen Orpheus~ ist bekannt. Da stehen wir bewundernd vor den musischen Gaben Afrikas oder Asiens. Unsere Bildhauer, unsere Maler, unsere Musiker und unsere Dichter staunen und lernen. Aber ist das, was v.ir unsererseits anzubieten haben, die wissenschaftlichtechnische Perfektion, über die wir verfugen. wirklich immer ein Gut? Selbst wenn wir unsere Wirtschaftshilfe durch den Export von know how ergänzen, kann man daran zweifeln. Früher oder später wird das Mißverständnis :zwischen dem eigenen und dem europäischen Wesen dem Denken der Menschen in der Dritten Welt zum Bewußtsein kommen; und dann könnten sich alle neueren Anstrengungen, wie wir sie heute betreiben, wie eine raffiniertere Form von Kolonisation en.veisen und ebenso scheitern. Es kündigt sich heute schon an. Manchmal ist es schon nicht mehr die Übernahme der europäischen Aufklärung und der aus ihr entstandenen Zivilisationsform, was die weitblickenden Geister in anderen Ländern beschäftigt, sondern die frage, \Vie Mensch und Gesellschaft auf der Basis der eigenen Überlieferung einer echten Entwicklung fähig werden. Dann \•vird Herder erneut seine Stunde haben, und nicht nur als der Deuter der >Stimme der Völker in Liedern<, nicht nur als der Kritiker einseitiger Aufklärung und als der seherische En.vecker der >Volksgeister<. Was in allen Geisteswissenschaften als eine unaustilgbare Prägung wirksam ist, das Element von Überlieferung und gewordenem Sein, das sie repräsentieren und das am ehesten dem Begriff der )Kultur<, der durch Pflege entwickelten Natur entspricht, wird dann plötzlich sprechend. Ge."viß sind auch die Geisteswissenschaften durch das Methodenideal der Neuzeit in strenge Disziplin genonunen worden und folgen insofern dem Wissenschaftsideal der Naturwissenschaften. Wer nicht blind ist, wird sogar
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anerkennen, daß die technische Progressivität unserer Epoche auch auf die Geisteswissenschaften einen neuen verstärkten Einfluß ausübt. Methoden und Sprechweisen der Geisteswissenschaften legen davon Zeugnis ab. Man muß sich geradezu fragen, ob sich nicht in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts innerhalb der sogenannten Geisteswissenschaften eine Verschiebung anbahnt, die vielleicht sehr viel weiter gehen wird und eines Tages den Namen Geisteswissenschaften völlig obsolet machen könnte. Ich meine den steigenden Anteil, der den mathematischen und statistischen Methoden zukommt und der insbesondere den Sozialwissenschaften ein neues Gepräge zu geben beginnt. Wenn wir die heutigen Geisteswissenschaften - z. B. bei der Gliederung der wissenschaftlichen Akademien- in manchen Fällen als die historisch-philologischen Wissenschaften bezeichnen und damit früher das Ganze der Geisteswissenschaften in weitem Umfange charakterisieren konnten, kommen \vir angesichts dieserneuen Tendenzen immer mehr in Schwierigkeiten. Es sieht so aus, als ob die moderne Massengesellschaft und die gesellschaft.~wissenschaftlichen, organisatorischen und wirtschaftlichen Probleme, die sie aufgibt. einer Wissenschaftsauffassung den Weg bahnen, die sich ihrem methodischen Bewußtsein nach von den Naturwissenschaften nur wenig unterscheidet. Man mag diesen Sozialwissenschaften von den strengen Ansprüchen naturwissenschaftlicher Forschung aus nachsagen. daß ihr Erfahrungsspielraum und ihre Erfahrungsbasis als Fundament nicht genügen. Das aber ist eine relative Kritik. Das könnte sich ändern. So wie die langfristige Wetterprognose langsam zuverlässiger wird. Das neue Zeitalter des Computers, das im Heraufkommen ist, öffnet den quantitativ-statistischen Erhebungen und der Speicherung von Informationen so enormen Zuwachs, daß man sich fragen kann, ob das Leben der Gesellschaft nicht mehr und mehr durch die Organisationskunst einer vef\valteten Welt berechenbar wird und den Ansprüchen einer echten Naturforschung genügend entgegenkanuneu könnte. Wäre sie nicht dann die volle Partnerin der Naturwissenschaften, wenn sie die Erforschung der Natur der Gesellschaft mit dem Zwecke der Beherrschung dieser Natur zu leisten vermöchte? Es ist eine ganz andere Frage, ob es tlir eine solche Ent\vicklung Grenzen gibt oder ob eine solche Ent\vicklung überhaupt \vünschbar ist. Diese Frage aber könnte mit der Frage zusammenfallen, ob sie überhaupt möglich ist. Zwar kann man sich den Massenmenschen der Zukunft als ein \vahres Genie in der Anpassung und der exakten Befolgung von Regeln vorstellen. Aber es bleibt doch die Frage, ob solche soziale Dressur ohne die Weckung und Pflege der Freiheitskräfte des Menschen echte Zukunftsaussichten hat. Wieder könnte hier der kulturelle Gehalt der Geisteswissenschaften einen unentbehrlichen Lebensfaktor der Zukunft bilden. Man frage sich etwa, v.ie weit in den klassischen Wissenschaften selbst, in den philologisch-historischen Geisteswissenschaften, die neuen Speiche-
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rungsmethoden von Information neue Zukunftsmöglichkeiten eröffnen. Man denke an die weitausstrahlenden Folgen, die sich im Zeitalter der Reproduzierbarkeit heute schon vor aller Augen zeigen und deren sich jedermann bedient. Wer wird das zurückweisen? Und doch: ist es eitel Gewinn? Neue maschinelle Vermittlungen vielfaltigster Art haben die Erscheinungsweise des modernen Forschers von dem alten Bild entfernt, das der homo literatus ehemals bot, wenn er mit seinem Tintenfaß und seiner Schreibfeder vor dem leeren Papier saß oder gedruckte oder geschriebene alte Folianten mühsam studierte. Wer nicht mehr schreiben kann ohne Schreibmaschine, wer nicht mehr rechnen kann ohne Rechenmaschine, wer nicht mehr leben kann ohne den genauen Fahrplan eines ihn überströmenden Informationsflusses, fur den hat sich die Findung seiner eigenen Identität, und das ist zugleich die Findung des Ausdrucks für sich selbst, an wesentlich fernere Grenzen verschoben. Wo ist seine eigene Handschrift oder Geistesschrift? Die Datenbank der Zukunft wird einen neuen gewaltigen Schritt in der Verschiebung dieser Grenzen bringen. Unmassen von Information werden leicht abrufbar werden. Wird ihre Befragung und die Gewinnung von Einsichten, die in ihnen schlummern, ebenso abrufbar werden? Sollen wir die Folgerung ziehen, daß die Sonderrolle der Geisteswissenschaften fur das gesellschaftliche Leben der Menschheit in absehbarer Zeit ausgespielt sein wird? Oder haben wir Ursache, den technischen Fortschritten, deren sich auch die Geisteswissenschaften in Zukunft mit Sicherheit bedienen werden, eine untergeordnete, eine nur technische Bedeutung zuzuweisen? Oder müssen wir gar negative Bewertungen solcher Entwicklung mit in Betracht ziehen? Man kann die Frage auch so formulieren und damit eine allgemeine Folgerung fur diese Perspektive ziehen: Wird das Fortschreiten der industriellen Revolution eine Verschleifung der kulturellen Artikulation Europas und die Ausbreitung einer standardisierten Weltzivilisation herauffuhren, in der sich die Geschichte des Planeten gleichsam im Idealstatus einer rationalen Weltverwaltung stillstellt - oder wird im Gegenteil Geschichte Geschichte bleiben, mitallihren Katastrophen und Spannungen und der Mannigfaltigkeit ihrer Differenzierungen, wie es das wesenhafte Kennzeichnen der Menschheit seit dem Turmbau zu Babel war? Doch bevor wir uns dieser Frage widmen, werden wir zunächst aufgefordert, die ganze Frage der Gegenüberstellung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften neu zu überprüfen. Denn gerade von seiten der Naturwissenschaften wird heute geltend gemacht, daß der alte Dualismus der beiden Wissenschaftsgruppen überholt sei. Man fuhrt ihn gern auf ein einseitiges Bild dessen zurück, was in den Augen der Philosophie die heutigen Naturwissenschaften sein sollen. Es ist wahr, daß die erkenntnistheoretische Problematik des 19. Jahrhunderts und ihre wissenschaftstheoretische Konsequenz auf die Unterscheidung von Natur- und Freiheitsbegriffen hinauslaufen muß-
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ten. Dahinter steht die fundamentale kantische Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich und die Begrenzung des Geltungsanspruches der Kategorien unseres Verstandes auf den Bereich der Erscheinungen. Das Faktum, auf das die Erkenntnistheorie des 19. Jahrhunderts diese Unterscheidungen und Begrenzungen zurückführte, war das der mathematischen Naturwissenschaften und ihrer Vollendung in dem physikalischen Gebäude Newtons, des Entdeckers der Mechanik und Dynamik des Universums. Auf der anderen Seite stehen die Freiheitsbegriffe, wie seit Fichte die wissenschaftstheoretische Anwendung der kantischen Abhebung des Vernunftfaktums der Freiheit von dem Bereich der Erscheinungen genannt worden ist. Die Rede Kants von einer doppelten Kausalität, einer Naturkausalität und einer Kausalität aus Freiheit, war insofern irreführend, als das wie eine verständliche Kooperation zwei er bestimmender Faktoren fiir das Weltgeschehen verstanden werden konnte. Aber das war gewiß nicht Kants Meinung, der vielmehr auf der strengsten Sonderung der intelligiblen Bestimmung des Menschen von seiner empirischen Erscheinung und von den empirischen Erscheinungen überhaupt bestanden hat. Unter dem Gegensatzpaar von Determinismus und Indeterminismus ist dieser kantische Ansatzpunkt mannigfach variiert und diskutiert worden und geistert durch das ganze 19. Jahrhundert. Wie eine Einwirkung intelligibler Faktoren auf das empirische Geschehen gedacht werden könnte, blieb aber im Grunde offen. Es ließ sich mit kantischen Mitteln nicht aufklären. Denn die kantische Aufklärung bestand gerade darin, den Primat der praktischen Vernunft und der Freiheitsbestimmung des Menschen als ein Vernunftpostulat anzunehmen und allem Erklärungszwang zu entziehen. Als in unserem Jahrhundert in der Mikrowelt der Atomphysik innerhalb der Naturwissenschaften selbst das Indeterminismusproblem neu aufbrach, haben sich voreilige Theoretiker dessen bedient, um darin das vermißte bindende Glied zwischen Erscheinungswelt und Freiheitswelt festzustellen. Das erwies sich freilich schnell als kurzschlüssig. Das menschliche Freiheitsbewußtsein, das sich nicht so sehr in der Freiheit der Willkür als in der Verantwortlichkeit und Zurechnungsfähigkeit aller unserer Handlungen und damit als die Autonomie der sittlichen Vernunft darstellt, klingt seltsam, wenn Freiheit als die Fähigkeit, eine Reihe von Ursachen von selbst anzufangen, definiert wird. Freiheit kann nicht selbst in der Erscheinungswelt als eine Kausalität gedacht werden. Nun ist inzwischen die erkenntniskritische Aufgabenstellung Kants, die Geltung der Kategorien fur die Erscheinungswelt beweisen zu wollen und damit den berühmten Skandal der Philosophie aus der Welt zu schaffen, über den Kant geklagt hatte, daß die Realität der Außenwelt noch immer eine unbewiesene Behauptung sei, von der Wurzel der Fragestellung selbst her in ihrer Fragwürdigkeit bewußt geworden. Gibt es das überhaupt, ein Bewußtsein,
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das seiner Vorstellungen inne ist und das sich der Realitätsgeltung seiner Vorstellungen gewiß werden möchte? Gehört der Mensch nicht von Anbeginn an in die große Evolution des Universums, so daß sein In-der-Welt-Sein auch natun.vissenschaftlich gesehen die eigentliche Urgegebenheit darstellt? Das System der Begriffe, die wir in der denkenden Durchdringung unserer Erfahrung zum Einsatz bringen, bedarf deshalb keiner Rechtfertigung, weil es selber das Produkt der natürlichen Evolution ist, in der sich die Anpassung des Lebewesens an seine Umwelt gleichsam als dessen primäre Existenzbedingung irnn1er schon gerechtfertigt hat. Mag die Geschichte der Erde oder gar des Weltalls in einem Maßstab gedacht werden müssen, der alle menschliche Vorstellungskraft übersteigt, und umgekehrt die Geschichte des Menschen auf dieser Erde und gerade die geschichtliche Überlieferung, die sich in der Menschheit über ihre >Geschichte< erhalten hat, an jenen Maßen gemessen als eine reine Winzigkeit herauskommen- methodisch sei durch diese neue Perspektive die Ordnung der Natur in ein prozessuales Geschehen, in eine Geschichte zurückverwandelt worden, in der die menschliche Geschichte ihren am Ende "vohlerklärbaren Platz hat. Damit aber sei der alte Dualismus von Natur und Freiheit im Prinzip üben.vunden. Dieser Argumentation kommt von der anderen Seite das entgegen, was oben über die Wandlungen im Stile der Geistes\vissenschaften und in der Präponderanz der Sozialwissenschaften bemerkt worden war. Auch in anderen Kultun.vissenschaften hat sich, z. B. unter dem Stichwort des Strukturalismus, ein Erklärungsmodell etabliert, das so unzugängliche Bezirke wie die mythische Überlieferung der Völker, das Geheimnis des Sprachbaus oder die Mechanismen des Unbewußten aufzuklären versprach. Sind wir wirklich in ein Zeitalter der Post-histoire einzutreten im BegritT, in dem feste Strukturen, wenn auch auf evolutionistischer Basis. herausgesprungen sind? Man kann sich das so denken, daß in allen Kulturleistungen der Menschheit der riesenhafte Anpassungsprozeß der Lebewesen auf dieser Welt sozusagen ihre Vollendung erreicht. Um es am Beispiel zu zeigen: Hinter der Mannigfaltigkeit der existierenden Sprachen hat Chomsky echte Sprachuniversalien aufzustellen versucht, die den besonderen Baugesetzen jeder \\'irklichen Sprache zugrundeliegen sollen. Man w·endet heute ein, daß er dabei zu sehr von seiner eigenen Sprache, dem Englischen, ausgegangen sei. Seine Ergebnisse könnten keine >universale• Geltung beanspruchen. Dann bleibt es also bei der Vielheit von Sprachen und innerhalb derselben bei Ver\vandtschaften und völligen Andersartigkeiten. Die prädikative Struktur des indogermanischen Satzbaues erscheint von da aus als eine geschichtliche Besonderheit; und andersartige Sprachwelten, in denen wir zu denken versuchen, versprechen andersartige Aufschlüsse. Nun ist Sprache, wenn schon kein Universale im Sinne eines einheitlichen Bildungsprinzips aller möglichen Sprachen, so doch fur alles Menschentum unserer späten Evolutionsstufe als eine seiner wichtigsten Ausstattungen anzunehmen. Daß das Denken der
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modernen Wissenschaft mit seinen Methoden der Messung und Objektivierung das überhaupt erfassen kann, was anderswo als überall gegenwärtiges erfahren wird, ist nicht selbstverständlich. Kulturen, in denen das Annosphärische oder die Allgegenwart von Geruch im Lichte des Bev.ußtseins stehen, werden sich gewiß auch im Sprachlichen anders artikulieren müssen. Oder nehmen \Vir ein anderes Beispiel. Langsam nähert sich unsere Kenntnis der Erdgeschichte und des Geschehens auf dieser Erdoberfläche den Zeiträumen, in denen die Spuren des Menschen dichter werden und erste geschichtliche Zusammenhänge rekonstruierbar erscheinen. Es ist nicht unvernünftig, ein immer engeres Zusammenrücken und eine immer größere Verdichtung unseres Bildes der Vergangenheit des Menschen in der Zukunft der Forschung zu vermuten. Schon heure deckt sich in manchen Fällen der Zusammenhang zwischen Prähistorie und geschichtlicher Überlieferung als ein gesicherter Befund auf. Kann das alles in allem bedeuten, daß wir einer Epoche entgegengehen, in der es eine echte Einheitswissenschaft geben wird? Sie mag die Einseitigkeit des sogenannten Physikalismus vermeiden müssen und doch imstande sein, zwischen Befunden enorm verschiedener Maßstäbe Zusammenhänge denkbar zu machen und die Evolution des Universums mit der kurzen Zeit geschichtlich erhellter Menschengeschichte in Beziehung zu setzen. Nun frage ich: Würde das oder wird das die Eigenart der Geisteswissenschaften, die wir kennen, in einem neuen methodischen Einheitsbau verschwinden machen? Können wir aus den Erfahrungen unseres Jahrhunderts etwas für diese unsere Zukunft betreffende Frage entnehmen? Ich meine ja. Der Tendenz zur Vereinheitlichung unseres Weltbildes und unseres Weltverhaltens, die der Verschleifungstendenz und der wachsenden Mobilität der heutigen Menschengesellschaft entspricht, steht auf der anderen Seite eine Tendenz zur Differenzierung und zur neuen Artikulation bisher verborgener Unterschiede entgegen. Wie die Romantik die Volksgeister zum Leben erweckte und wie damit das konstruktive Ideal des Rationalismus seinen Gegenschlag fand, so entstehen heute im politischen Leben Gegenbewegungen gegen die steigende Zentralisierung und die Formierung großräumiger Machtgebiete. Die souveränen Nationalstaaten der Vergangenheit, die auf tatsächlicher Macht und der Souveränität der Selbstverteidigung beruhten, schwinden unter dem Druck der Supermächte immer mehr dahin. Aber gleichzeitig sehen wir überall ein Streben nach kultureller Autonomie aufkommen, das mit der Wirklichkeit der Machtverhältnisse eigentümlich kontrastiert. Selbst in Europa beobachten wir etwas davon, etwa in der Loslösung Irlands aus dem britischen Staatsgebilde, in dem Sprachenkampf zwischen Flamen und Wallonen, in den Sezessionsbestrebungen, die etwa zwischen Katalanien und Kastilien heute Spannungen schaffen und die sich vermutlich überall zu einem regionalen Kulturautonomismus steigern werden, wie er vor allem in der Sowjetunion schon seit län-
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gerem eine klug gepflegte Wirklichkeit ist, die fur den Druck des Zentralismus der russischen Planwirtschaft und des Einparteiensystems Ventile öffuet. Aber es ist vor allem im globalen Maßstab, daß sich solche Tendenzen fur die Zukunft anzeigen und dem Ende des Kolonialzeitalters und seinen Wirren das Gepräge geben. Da fangen so viele alte Länder an, neue Wege zu gehen, und neue Länder suchen die alten Wege. Dadurch scheint Europa in eine neue Aktualität zu treten. Es hat die reichste geschichtliche Erfahrung. Denn es besitzt auf engstem Raum die größte Vielgestaltigkeit und einen Pluralismus sprachlicher, politischer, religiöser, ethnischer Traditionen, die es seit vielen Jahrhunderten zu bewältigen hat. Die heurige Tendenz zur Vereinheitlichung und zur Verschleifung aller Unterschiede darf nicht zu dem Irrtum verleiten, daß der eingewurzelte Pluralismus der Kulturen, der Sprachen, der geschichtlichen Schicksale wirklich unterdrückt werden kann oder auch nur unterdrückt werden sollte. Die Aufgabe könnte im Umgekehrten liegen: in einer sich immer mehr nivellierenden Zivilisation das Eigenleben der Regionen, der menschlichen Lebensgruppen und ihres Lebensstils zu entwickeln. Die Heimatlosigkeit, mit der die moderne Industriewelt den Menschen bedroht, läßt nach Heimat suchen. Was folgt daraus? Man muß sich hüten, in solche Ideen der Koexistenz des Verschiedenen einen falschen Anspruch von Toleranz oder besser einen falschen Begriff von Toleranz einzufuhren. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, Toleranz fur eine Tugend zu halten, die darauf verzichtet, auf dem Eigenen zu bestehen und die gleiche Geltung des anderen vertritt. Wir fragen hier unsere eigene europäische Geschichte. Da sehen wir etwa die blutigen und Zerstörerischen Glaubenskriege, die als eine Folge der Reformation in der beginnenden Neuzeit Mitteleuropa verwüstet haben; oder wir sehen, wie im 17. Jahrhundert der Druck des Islam endgültig vor den Toren Wiens einen unüberwindlichen Widerstand fand. Wir sehen bis heute, wie die Intoleranz und die gewaltsame Unterdrückung des anderen im Kampf um die Erdherrschaft bestimmend ist. Man fragt sich, wo hier die Ideale der aufgeklärten Humanität und der Toleranz noch Geltung haben sollen. Man wird aber doch eines sagen dürfen: Nur wo Stärke ist, ist auch Toleranz. Die Duldung des anderen bedeutet durchaus nicht, daß man sich seines eigenen unaufgebbaren Seins nicht voll bewußt wäre. Es ist vielmehr die eigene Stärke, vor allem die Stärke der eigenen Existenzgewißheit, die zur Toleranz fähig macht. Übung in solcher Toleranz, wie sie vor allem im christlichen Europa auf leidensvolle Weise erbracht worden ist, scheint mir ftir größere Aufgaben, die auf die Welt warten, eine gute Vorbereitung. Wie es mit der Toleranz ist, daß sie auf einer inneren Stärke beruhen muß, so ist es auch mit der wissenschaftlichen Objektivität, die in den Geisteswissenschaften vorausgesetzt ist. Auch hier handelt es sich nicht um Selbstaufgabe und Selbstauslöschung zugunsren eines allgemeinen Geltenlassens, sondern
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um die Einsetzung des Eigenen fiir die Erkenntnis des Anderen und fiir die Anerkennung des Anderen. Das wahrhaft global gewordene Aufgabenfeld menschlicher Koexistenz auf diesem Erdball ist die eigentliche Aufgabe der menschlichen Zukunft. Ich würde nicht wagen zu sagen, daß die Geisteswissenschaften hier ihre Aufgabe haben. Ich würde eher umgekehrt sagen, daß es die Aufgaben, wie sie in solchem pluralistischen Verflochtensein der Menschheit in steigendem Maße erwachen werden, sind, die den Geisteswissenschaften immer neue Aufgaben stellen; Aufgaben der historischen Forschung, der sprachgeschichtlichen, der literaturgeschichtlichen, der kunstgeschichtlichen, der rechtsgeschichtlichen, der wirtschafugeschichtlichen, der religionsgeschichtlichen Forschung, die unmittelbar in Wirklichkeitsbezüge einwirken. Ich möchte an einem Sonderproblem illustrieren was ich als allgemeine Folgerung zu ziehen habe. Es ist die Rolle, die die Religionsgeschichte im Zeitalter des Atheismus spielen kann und wohl mit Notwendigkeit spielen wird. Die ältesten Spuren, die wir fiir das Phänomen der Religion kennen, liegen doch wohl im Gräberkult. Da ist das Siegel des Menschseins zuerst zu erkennen, und es scheint mir tiefbezeichnend, daß es bis in die atheistischen Gesellschaftssysteme der Gegenwart hinein und gewiß auch fiir die nähere Zukunft seine bestinunende Kraft beweist. Bestattungsriten, Grabmonumente, Friedhöfe, Trauerriten, Klageformen - all das artikuliert sich in den verschiedensten Weisen innerhalb der Menschheit und weist über die Grenzen durch Kirchen verwalteter religiöser Sitten hinaus. Dabei wird eine jede Religion ihrerseits ihrem Wesen nach darauf bestehen dürfen, sich als der wahre Weg zum Heil zu wissen. Das kann offenbar nichts an der Universalität ändern, mit der religiöse oder profan gewordene Lebens- und Sterbensformen die Menschheit begleiten. Hier gibt es unverrückbare Wirklichkeiten menschlicher Das~inserfahrung, die keine Macht der Welt verdrängen kann. Nun mag man mich fragen, ob nicht im Zeitalter des Ausgleichs und der kommenden Weltzivilisation die Beharrungskraft gelebter Sitten, Glaubenshaltungen und Wertgestalten überhaupt fortdauern wird. Es scheint mir, daß eben der Blick für die Beharrungskräfte im Kulturleben des Menschen es ist, woran die Ausbreitung der Weltzivilisation von heute ihre innere Bewährung finden wird; und ich behaupte, daß es ein Element der Produktivität der sogenannten Geisteswissenschaften ist, daß sie fiir die Beharrungskräfte des gelebten Lebens den Blick schärfen und damit auch fur die Aufgaben der Zukunft Wirklichkeitserfahrung anmahnen. Gewiß wird es nicht nur Ausdifferenzierung geben, sondern auch neue Großraumbildungen, innerhalb deren neue Solidaritäten erwachsen müssen und sich in das Lebensgefuhl aller umsetzen. Das ist eine Aufgabe, die auch Europa fiir seine eigene Zukunft gestellt ist. Am Ende aber ist die gegenwärtige Besinnung, die wir hier gemeinsam versuchen, selber schon eine Illustration fiir diese Frage. Was kann Europa noch sein in einer veränderten Welt, in
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der Europa nicht nur machtpolitisch, sondern vielleicht in vielen anderen Beziehungen ebenso auf einen sehr bescheidenen Anteil an der Weltgestaltung reduziert sein >vird? Vor aller möglichen politischen Gestaltung eines einheitlichen Europa scheint mir die geistige Einheit Europas eine Wirklichkeit und eine Aufgabe, die im Bewußtsein der Vielf;iJtigkeit dieses unseres Europas ihren tiefSten Grund findet. Es scheint mir wie das sichtbarste Lebenszeichen und wie der tiefste geistige Atemzug, in dem sich Europa seiner selbst bewußt wird, daß es im Wettbewerb und im Austausch der Kulturen die wesenhafte Eigenart gelebter Traditionen im Bewußtsein festhält. Daran mitzuwirken, scheint mir der bleibende Beitrag, den die Geisteswissenschaften nicht nur fiir die Zukunft Europas zu leisten haben, sondern ftir die Zukunft der Menschheit.
11. Über Kuno Fischer als Brücke zu Hege! in Italien (1997)
Ei11leitung Kuno Fischers Ruhm war groß, sein Ansehen in der gebildeten Welt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts unantastbar. Es gibt Geschichten über ihn -wahre und wohl auch einige der Wahrheit gemäß erfundene Geschichten-, die davon berichten, daß er als Professor in Heidelberg (seit 1872) eine Kostbarkeit \Var und mit Ehrungen und Auszeichnungen überhäuft wurde. So wurde er Ehrenbürger der Stadt, Träger des Zähringer Hausordens und Geheimer Rat 1. Klasse, anzureden als »Exzellenz«. Sein 80. Geburtstag im Sommer des Jahres 1904 wurde mit einer Festschrift 1 , mit akademischen Feierstunden und studentischen Fackelzügen im größten Stil begangen. Und als Kuno Fischer einige Jahre später, am 3. Juli 1907, starb, trafen in Heidelberg Kondolenzen aus ganz Europa ein. Wilhelm Windelband, Fischers Nachfolger auf dem philosophischen Lehrstuhl der Ruperto-Carola, hielt damals die Gedächtnisrede2 , in der das Bild des Verstorbenen - dieses •> Wahrzeichens von Heidelberg« (S. 6) - in all seinem Glanz und freilich auch ein wenig ferngerückt erscheint,- fast ,.,,.je das Überbleibsel einer in Wahrheit schon vergangenen Epoche.- Natürlich war es in erster Linie der Kathederfiirst, an den Windelband erinnerte: • Wie in Frankreich der Typus des professeur orate111 durch Victor Cousin und die Seinen ausgebildet war, haben wir auch in Deutschland an großen Historikern wie Treitschke, oder Literarhistorikern wie Haym und Scherer, ähnliche Formen des akademischen Unterrichtes erlebt: aber keiner hat diesen Typus zu solcher ästhetischen Vollendung gebracht wie Kuno Fischer, und darauf beruhte der große Eindruck, den er über ein halbes Jahrhundert lang auf die akademische Jugend ausgeübt hat und mit dem er weiterleben wird.• (S. 12 f.) 1 Die Philosophie im Begimz des 20.]ahrh1mderts. Festsclzrjftjilr K1mo Fischer, unter Mim·irkung von 0. Liebmann, W Wundt, Th. Lipps, B. Bauch, E. Lask, H. Rickert, E. Troelrsch. K. Groos hrsg. von W Windelband, Heidelberg: Winter, 1904. 2 Kuno Fischer. Gedächtnisrede bei der Trauerfeier der Universität in der Stadthalle zu Heidelberg am 23. Juli 1907 gehalten von W Windelband, Heidelberg: Winter, 1907. (Die Seitenangaben der Zitate aus diesem Büchlein stehen im laufenden Text jeweils in nachgestellten Klammern.)
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In der Tat lag der Schwerpunkt der philosophischen Arbeit Fischers von Anbeginn auf seinen Vorlesungen. Auch die große Produktivität, die er als Autor entfaltete, stand mit seiner Vorlesungstätigkeit in engstem Zusammenhang. »Alles, was er drucken ließ«, so Windelbrand, »mußte zuver.die Feuerprobe des Katheders bestanden haben.<< (S. 18). Heute, neunzigJahre nach Fischers Tod, zählt gewiß nur noch der geringere Teil seiner vielen Schriften zum Bestand unseres Bildungs bewußtseins. Unsere Literarhistoriker werden sich immerhin der Fischersehen Goethe-Studien erinnern, seiner Interpretationen der >lphigenie<, des >Tasso< und vor allem des >Faust•, die die Präsenz Goethes im späten 19. Jahrhundert auf ihre Weise höchst eindrucksvoll vertreten und befördert haben. In erster Linie ist es freilich die zehnbändige •Geschichte der neuern Philosophie<, die sich fur uns mit dem Namen Kuno Fischers verbindet. Der Autor hatte sie 1852 mit einem Band über Descartes begonnen und genau funfzigJahre später mit einem Hegel-Band abgeschlossen. Sie ist sein eigentliches Lebenswerk. In der genauen Nachkonstruktion der großen Systeme der neuzeitlichen Philosophie bis hin zu Schopenhauer bleibt Fischers >Geschichte der neuern Philosophie< innerhalb des 19. Jahrhunderts die wohl wichtigste Ergänzung zu Hegels >Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie<, deren eigentliches Gewicht ja aufder griechischen Philosophie lag und die leider überhaupt eine recht oberflächliche editorische Behandlung des Hegeischen Nachlasses darstellt. Beim Tode Fischers war es freilich nicht dieses Ergänzungsverhältnis, das man wahrnahm. Der Neukantianismus beherrschte die Universitätsphilosophie, und Fischer wurde vor allem als dessen Wegbereiter gesehen. Entscheidende Bedeutung kam in diesem Zusanm1enhang Fischers erstmals 1860 erschienener Kaut-Darstellung zu, die die philosophische Renaissance Kants derart wirkungsmächtig eingeleitet hatte, daß die Königsherger Universität Kuno Fischer sogar den Titel >Der Wiedererwecker Kants< verlieh. Auch in Windelbands Gedächtnisrede prägt sich das aus, wenn er über Fischers Kam-Buch schreibt: >•Dieses Werk, das in der seitdem ins unermeßliche ange~chwollenen Kamliteratur noch heute und fur immer die hervorragendste Stelle einnimmt, hat zweifellos am einflußreichsten die Be,vegung des Neukantianismus ausgelöst, w·elche die letzten Jahrzehnte der Philosophie des 19. Jahrhunderts in Deutschland und über dessen Grenzen hinaus bestimmt hat.« (S. 24f.)
Gewiß, aus der damaligen Perspektive mußte es sich so ausnehmen. Und es wäre ganz ab\vegig, Fischers Einbeziehung der Kautischen Philosophie in das kritische Bewußtsein der philosophischen Diskussion aus dem Bilde seiner Lebensleistung verdrängen zu wollen. Trotzdem ist dies nur die halbe Wahrheit über Kuno Fischer. Daß er im europäischen Maßstab nicht als der Wiedererwecker Kants Philosophiegeschichte >gemacht< hat, sondern weit mehr als der kritisch geschulte Repräsentant Hegels, dies geschah durch ein kleines Büchlein, das hier im Neu-
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druck vorgelegt wird. Kuno Fischers >Logik und Metaphysik oder Wissenschaftslehre< war in erster Auflage 1852 als ein ~Lehrbuch ftir akademische Vorlesungen< veröffentlicht worden. Der Autor unterzeichnete damals noch nicht als Professor, sondern als >Docent der Philosophie an der Universität Heidelberg<. Die >Logik< gehört also Fischers erster Heidelberger Zeit an, die, 1850 mit der Habilitation begonnen, nach nur wenigen glanzvollen Semestern für das junge Vorlesungsgenie mit einer von Kirchenkreisen ausgehenden Anklage wegen Pantheismus endete. Kuno Fischer selber war zwar im engeren Sinne kein Hegelianer gewesen: Er gehörte nicht mehr zum Schülerkreis um Hege!, auch nicht nach dessen Tode im Jahre 1831. Aber als Student in Halle wurde Fischer von den dortigen Hegelianern, vor allem von Johann Eduard Erdmann, der ihn 1847 promovierte, für den Hegelianismus gewonnen. Und so war es um die Mitte des 19. Jahrhunderts beinahe vor allen anderen dieser junge Heidelberger Privatdozent, der die Gegenwart Hegels im philosophischen Denken vertrat. Die vorliegende, von späteren, dem Siegeszug des Neukantianismus geschuldeten Überformungen durchaus freie Erstfassung von Fischers >Logik und Metaphysik oder Wissenschaftslehre< ist das bedeutendste und international wirkungsreichste Zeugnis dieser Repräsentanz, die der Autor selbst in einer seinem Buch vorangestellten Vorrede insbesondere gegen den Feuerbachscben Materialismus verteidigt: •In Feuerbach hat sich gegen die Logik und ihre Begriffe eine ungestüme G?mütlrsl>ewegung Luft gemacht, die wir uns aus psychologischen Gründen erklären und die nach ihrem pathologischen Charakter mit dem Objekte, welches sie bekämpfte, nicht kritisch, sondern nur dogmatisch umgehen konnte.« (s. u., S. 6f.).
Wider solchen >Alogismus< hält der junge Fischer an der Logik als an einer nicht bloß formalen, vielmehr ontologisch gehaltvollen •Wissenschaft der Begriffe< (ebd.) fest: »Die Logik ist die Wissenschaft der Begriffe. Die Wissenschaft der Begriffe ist die Erkenntniß der gesammtetl Wirklichkeit. Also ist die Logik die Erkenntniß der gesammten Wirklichkeit oder Metaphysik. Die Wissenschaft der Begriffe ist die Erkenntniß der betl't!ßten Wirklichkeit, d. h. der Wissenschaft. Also ist die Logik die wissenschaftliche Begründerio der Wissenschaften oder Wissenschtiftslehre.« (s. u., S. 21)
Mit diesen Bestimmungen ist nun zugleich der transzendental-philosophische Bezugsrahmen entworfen, innerhalb dessen sich Fischers Aneignung der Hegelschen >Wissenschaft der Logik• bewegt. Hegel selbst will ja mit seiner >Logik• die von Kant begründete Transzendentalphilosophie zu ihrer Vollendung bringen. 3 Dabei ist, ihm zufolge, Fich3
Vgl. hierzu meine Arbeit •Die Idee der Hegeischen Logik<, in: H.-G. Gadamer, Ges.
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te der erste gewesen, der die universale systematische Tragweite der Kantischen transzendental-philosophischen Betrachtungsweise begriffen hat. Jedoch ist Hegel zugleich der Ansicht, daß Fichtes eigene >Wissenschaftslehre< die große Aufgabe, die Allheit des menschlichen Wissens aus dem Selbstbewußtsein zu entfalten, nicht •virklich ausgefuhrt und zu Ende gebracht habe. Genau diesen Anspruch verkörpert freilich Fichtes >Wissenschaftslehre<: Das \Var gleichsam in einem einzigen Wort greifbar geworden, als Fichte das Wort >Tatsache< als >Tathandlung< verstand und damit das Selbstbewußtsein als die Instanz ausdrücklich machte, die den umfassenden Horizont bildet, der all das unilängt und zusammenhält, was wir überhaupt für seiend halten, und das heißt: fur alles, was ist. Fichte erblickte in der Spontaneität des Selbstbewußtseins die eigentliche TathandJung. Die autonome HandJung des Sdbstbewußtseins, sich zu sich selbst zu bestimmen, die Kant als das Wesen der praktischen Vernunft durch den Begriff der Autonomie formuliert hatte, sollte nun der Quellpunkt für jede Wahrheit des menschlichen Wissens sein. Ganz von diesem Zusammenhang her kennzeichnet Fischer die Hegeische Logik als den Versuch, ~die Identitätsphilosophie im fichte'schen Geiste zu begründen oder zur>Wissenschaftslehre< zu erheben« (s. u., S. 16). Unterderidee der •Logik als Metaphysik oder Wissenschaftslehre< skizziert er den Gang der philosophischen Enm:icklung von Kam zu Hege! nach folgendem Schema: •Es gibt keine Erkenntniß ohne Kategorien oder Begriffe, welche sie b!lden (Kant). Es gibt keine Kategorien ohne ein Selbstbewußtseyn, welches sie producirr. Es gibt kein (productives) Selbstbewußtseyn, wenn es nicht absolut ist (Fichte). Das Selbstbewußtseyn ist nicht absolut, wenn nicht Geist und Natur identisch sind (Schelling). Diese Identität (die Vernunft) kann nicht gewußt \verden, wenn nicht die selbstbe·wußte Vernunft, d. h. der Geist, das einmüthige Weltprincip bildet (Hege!).• (s. u., S. 9)
An späterer Stelle wird die Schlüsselstellung Fichtes noch deutlicher formuliert: •Die logische Form erreicht die Identitätsphilosophie durch Hege/. Die Hegel'sche Logik befreit das Princip der Identität von dem Dogmatismus der Naturphilosophie und nimmt daher zu Schelling dasselbe Verhälmiß ein, welches Fichte zu Kam's Dogmatismus einnimmt. Das Princip der Wissenschaftslehre ist das absolute Selbstbewußtseyn in der Form des subjektiven Ich. Daraus folgt das Princip der Identität. Schelling erkennt die Identität als Natur, d. h. dogmatisch. Hege! begreift die Identität als Geist, d. h. kntisch.« (s. u., S. 45 f)
Als methodischer Grundsatz besagt diese durch Fichte vermittelte Differenz zwischen Schelling und Hege!: »um die Kategorien begreifen zu können, müssen sie producirr werden, denn sie sind ursprüngliche Akte der Intelligenz [ ... ].Also muß sich die Logik auf den trat~scendentalen Standp11nkt des Selbstbewußtseyns gründen.« (s. u., S. 46 f.). Werke. Bd. 3: Neuere Philosophie l: Hege! - Husserl - Heidegger, Tübingen: SiebeckMohr 1987, S. 65--86.
Über Kuno Fischer als Brücke zu Hege! in Italien
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Besondere Bedeutung gewinnt Fischers Interpretation für das Verständnis des Anfangs der Hegeischen >Wissenschaft der Logik<: fur die vieldiskutierte Entwicklung ihrer drei ersten Kategorien. Wie man weiß, griffHeget in der Ausarbeitung seiner >Logik< hinter Plato und Aristoteles auf die Vorsokratiker zurück und begann die Logik mit Parmenides, das heißt mit dem Sein und dem Nichts, und schließlich mit Heraklits >Werden< als der Einheit von Sein und Nichts. Wie diese Bewegung, wie dieser dialektische Fortschritt vom Sein zum Werden fuhren ~ollte, dies war die umstrittene idealistische Zumutung, mit der Hegel seinen Systementwurf eingeleitet hatte. Und genau dies ist nun der Punkt, an dem Kuno Fischers auf den Fichteschen Hintergrund Hegels abstellende Interpretation hermeneutisch produktiv \'liird. Da liest man, das Sein sei ein Akt des Denkens: "Die gewöhnliche Darstellung erblickt in dem Seyn nicht einen Akt des Denketrs. also nicht das lo,!iisdre Seyn. d. h. das Seyn überhaupt wird nicht von ihr }?t'dacht, sondern r-wgestellt, sie handelt nicht dialektisch, sondern dogmatisch, und begeht von vornherein eine Untreue gegen den Geist der Dialektik, in dem sie Begriffe nimmt, als ob sie ohne das Deukeu dialektisch rmd bewegrmgsfälri,R r4•iirfll.« (s. u., S. 66)
Da war die Hegel-lnterpretation, die Kuno Fischer bereitstellte, ohne damit von Hegels Grundintentionen abzuweichen. Die Übersetzung der Fichteschen •Tathandlung< heißt aufitalienisch artualismo. Wie ich zunächst im Laufe meines Studiums der Hegeischen Wirkungsgeschichte und später bei vielen persönlichen Besuchen erfuhr, war es in der Tat Italien, '-VO Fischers Logik-Lehrbuch seine größte Wirkung entfaltet hat. Es war dort vor allem die neapolitanische Schule, die durch Bertrando Spaventa (1817-1883) unmittelbar an Kuno Fischer anknüpfte 4 und durch Bencdetto Croce (1866-1952) und Giovanni Gentile (1875-1944) in unserem Jahrhundert zu einer eindrucksvollen Schulherrschaft kam. Ich selber bin noch manchen Schülern Gentiles begegnet, die mir rühmend von Kuno Fischers Vermittlungsleistung sprachen. In Deutschland selbst kannte man dieses Fortleben des deutschen Idealismus weniger. Erst mit der Nachwirkung Wilhelm Diltheys und seinem Einfluß auf die phänomenologische Bewegung hat in unserem Jahrhundert die Präsenz Hegels ein neues Feld des Denkens erschlossen, das in den geschichtlichen Geisteswissenschaften und ihrer philosophischen Reflexion bis zum heutigen Tage fruchtbar geblieben ist und auch Fischers Büchlein von 1852 seinen Wert verleiht. Es lohnt sich, Kuno Fischers Vermittlung des deutschen Idealismus in ihrer ursprünglichen Fassung noch einmal neu zu lesen.
4 Vgl. etwa SPAVENTA. Le prime categorie della logica di Hege! [1 R64]. in: DERS., Scritti filosoti.ci. hrsg. v. Giovanni Gentile, Neapel 1900.
12. Nietzsche und die Metaphysik (1999)
Es ist keine leichte Aufgabe ftir mich, zu einem Thema zu sprechen, dessen neue Erfassung und Wiedererweckung Sie hier zusammengeftihrt hat. Und es ist auch keine ganz kleine Aufgabe, in die Auseinandersetzung um das Thema )Philologie und Philosophie in Nietzsches Denken< das denkende Gespräch mit Martin Heidegger einzubeziehen. Denn auch Heidegger hat ja eigentlich sein Lebensgespräch in den letzten Jahrzehnten seines Lebens im Zwiegespräch mit einem neu zu denkenden Nietzsche gefuhrt. Ich hoffe, Ihr Verständnis zu finden, wenn ich ein wenig vom Vorrecht des Alters Gebrauch mache, - es ist der leichteste Weg fur einen alten Mann, von seiner eigenen Jugend aus anzufangen. Zwischen dem Jahr 1900, in dem Nietzsche die Augen schloß und ich das Licht der Welt erblickte und heute, liegen die Lebenszeiten von vier Generationen, die geschichtlichen Umbrüche und Katastrophen unseres Jahrhunderts. Und doch spannt sich zwischen den Zeiten und Gezeiten die Aufgabe für uns alle, nicht nur fur die klassischen Philologen, die hier erneut ihre Solidarität suchen, und auch nicht nur fiir die Philosophen, die hier unter dem geistigen Impetus von Heidegger ihre Arbeit weiterfuhren. Nein, wir haben, glaube ich, alle Ursache, uns darüber klar zu sein, was die heutige Welt von uns allen an Offenheit und Öffuung im Sichbegegnen verlangt, von uns in Deutschland und in Europa und über Europa hinaus. Ich meine die Begegnung aller Fragenden, die da wissen wollen: wo kommen wir her? Und wohin gehen wir? Daß diese Begegnung über die Generationen und über alle Gegensätze hinweg stattfinden möge, das ist unser aller Aufgabe. Sind wir doch alle von dem gemeinsamen Weltschicksal betroffen. Einer der großen Denker, der das sehr früh gespürt hat, ist ohne Zweifel Nietzsche gewesen. Ein anderer ist Heidegger, der beharrlich daran gearbeitet hat, im Rückgang an den Anfang den Gang der Welt in seiner Schicksalhaftigkeit zu erkennen und uns vorzubereiten. Wie sah es um 1900 mit der Nietzsche-Rezeption in Deutschland und in der Welt aus? Das kann vielleicht eine Anekdote zeigen: Der Vater des großen Philologen Karl Reinhardt, der ehedem auch der Leiter eines Gymnasiums in Frankfurt war und als solcher große Verdienste um neue Bildungsformen hatte, erhielt eines Tages Besuch von einem der Jugendfreunde Nietzsches, von
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Paul Deussen, ein Name, der durch seine Übersetzungen aus dem Sanskrit wohl bekannt ist und überhaupt durch seine unbefangene Direktheit, mit der er die >Upanischaden< las (als ob die indischen Weisheitslehrer Kant gemeint hätten). Die Anekdote selbst ist gut verbürgt, jedenfalls beleuchtet sie die Sachlage. Deussen war als Gast im Hause von Vater Reinhardt und kam die Treppe herunter und sagte: »Hast Du schon gehört, die haben in Nietzsche einen großen Mann entdeckt. Ist das nicht wirklich zum Lachen?<< So war die erste Rezeption, wohlverstanden von einem Mitschüler und Studienfreund Nietzsches. Deussen war nicht irgendjemand, sondern ein international bekannter Indologe und Philosoph. So also fängt die Nietzsche-Rezeption an: man hat kaum gemerkt, was da vor sich geht. Die Tragödie von Nietzsches Leben ist bekannt genug, als daß ich an sie eigens erinnern müßte. Wohl aber muß man sich doch fragen, wie denn nun, seitdem Nietzsche die Augen geschlossen hat, seine Denkfigur und Denkenergien so machtvoll umgesetzt worden sind. Da darfich wohl zunächst daran erinnern, daß etwa in der Zeit, in der ich selber, während des 1. Weltkrieges und an seinem Ende, ins Studium eintrat, Nietzsche langsam akademisch rezipiert wurde. Vor 1918 ist mir kaum ein Fall bekannt, mit Ausnahme von Georg Simmel, daß ein Professor der Philosophie gewagt hätte, eine Vorlesung über Nietzsche zu halten. Das wäre fiir seine philosophische Kompetenz allzu diskreditierend gewesen. Nun aber begann es. Ich erinnere mich, welche Rolle dabei Max Scheler gespielt hat, eines der größten Sensorien des Zeitgeistes aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Max Scheler steht uns wohl auch selber noch bevor, im Ausgang von ihm mit neuen, &ischeren Fragestellungen in unsere Zukunft hineinzuleuchten. Scheler hat die Phänomenologie der Werte entwickelt. Das ist ein Aspekt, den man bereits Nietzsche abgewinnen kann. Man kannte ihn als den Umwerter aller Werte. Im Gefolge von Max Scheler hat dann einer meiner ersten philosophischen Lehrer, Nicolai Hartmann, in seiner >Ethik< diese Wertphilosophie, durch Nietzsche angeregt und von Scheler ermutigt, zu einem ganzen Universum eines Wertsystems entfaltet. Es gibt darunter unter anderem den >Wert des Vorbeigehens<. Eine sehr feine Beobachtung von Nicolai Hartmann, über die wir noch heute werden Anlaß haben, nachzudenken, aufgrund einer dichterischen Probe, die ich am Ende des Vortrags vorzustellen gedenke. Nun, ich brauche nicht zu wiederholen, welcher Mißbrauch dann schließlich mit diesem akademisierten, gezähmten Nietzsche später vom Faschismus getrieben worden ist. Es war Mussolinis Italien, es war die von D'Annunzios Nietzsche-Vorliebe geprägte Zeitlage, aus der Nietzsche in den Vordergrund gerückt wurde. Und es war dann einer der wirklichen Präfaschisten, ich meine Alfred Baeumler, der später noch lange Jahre in Berlin die Kulturpolitik des Hitletreiches mitsteuerte. Baeumler hatte schon vor 1933 in einem RedamBändchen eine neue Nietzsche-Interpretation vorgeschlagen, deren Pointe
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war, daß Nietzsche den Übermenschen gelehrt habe, und das sei vor allem: die neue Weisheit, der Wille zur Macht. Dagegen hatte Baeumler merkwürdige Vorbehalte gegen die ewige Wiederkehr des Gleichen, die er philosophisch überhaupt nicht ernst nahm. Man sieht, wie hier in dieser präfaschistischen Stimmung und dank der entsprechenden Wirkung Baeumlers eine von den vielen Perspektiven Nietzsches zu politischem Zweck absolut gesetzt wurde. Und man kann sich vorstellen, wie damit Nietzsche später verketzert -.verden mußte. Nach dem Ende des Dritten Reichs hatten die Russen, \Vie im ·Geleit< erwähnt, von mir als Leipziger Rektor verlangt, ich solle aus der Liste der Ehrennamen ehemaliger Studenten der Universität Leipzig, die mit Altdorfer, Dürer begann, Nietzsches Namen streichen. Meine Antwort war: »Das geht doch nicht~ Man macht sich doch lächerlich.« Und ich habe dann vorgeschlagen, alle Namen, also die ganze Ehrenliste, zu streichen. So wurde es dann gemacht. Der russische Offizier hatte seinen Befehl ausgeflihrt. Ich habe mich nicht gebeugt. Wo man ohnmächtig ist, kann man nur auf solche Weise den Nonsens fuhlbar zu machen suchen. Die Liste wurde seitdem bis zum Ende dieses Regimes in Leipzig nicht mehr in den Vorlesungsverzeichnissen gefuhrt. Nachdem Leipzig 1945 von den Amerikanern befreit worden war, bin ich einige Wochen später mit dem Fahrrad in die Gegend von Naumburg gefahren. wo ich meinen Schüler Volkmann-Schluck aus amerikanischer Kriegsgetangenschaft herauszuholen versuchte. Ich erv.rähne das, weil ich dabei durch Nietzsches Geburtsort Röcken kam und sein Grab besuchte: schlichte EisenPlatten am Kirchenrand, eingerahmt von den Gräbern seiner Familienangehörigen. Ich fuhr wieder zurück und dachte: Wie merbvürdig~ Da war ein Mann. der hat gesagt. ich bin Dynamit- und er war es. Wie ist denn das, wenn jemand sagt: >>Ich bin Dynamit<•? Da könnte man doch nur denken, er sei verrückt. So war das doch. Aber er war wirklich Dynamit! Später hat man das, und durchaus nicht nur von faschistischer Seite. zu begreifen begonnen. Manfred Riedel hat ein Gespräch zu Nietzsches 50. Todestag erinnert. das ich im Frankfurter Rundfunk mit Horkheimer und Adorno ftihrte. die gerade durch meine Vermitdung aus Amerika nach Frankfurt zurückgekehrt waren. Es ist jetzt veröffentlicht worden. An einer Stelle allerdings scheint ein Hörschaden zu sein. Das war nämlich, als Horkheimer zu sagen suchte, daß Nietzsche sein Vertrauen zu der solidarischen, sittlichen und geistigen Kraft des Bürgertums verloren hatte und deswegen v.rohl nicht ganz die großen fortschrittlichen Ideale der Gesellschaftsreformen zu seiner Aufgabe gemacht hätte. Daraufhin habe ich geantwortet: nAher Herr Horkheimer, Sie werden doch aus Nietzsche keinen progressiven Sozialreformer machen wollen!« Das war wohl der Maschinenschaden. Man tut Horkheimer und Adorno unrecht, v.·enn man sie als Marxisten abtut. So einfach ist das nicht. Es war ja in ihrem Falle gerade auch eine Kritik an
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den Wirkungen der ökonomisch orientierten Denkweise des Marxismus. Ich erwähne das Gespräch von 1950, um klar zu machen, wie der Denker, der Nietzsche wirklich war, langsam wieder in die Diskussion gezogen werden mußte. Martin Heidegger, nachdem er seinen Irrtum mit Hitler zu durchschauen begann, hat dann seinerseits während der 30er Jahre Nietzsche-Vorlesungen an der Universität Freiburg gehalten, die später durch die Publikation der Vorlesungen Anfang der 60er Jahre zugänglich wurden. Was wird da wirklich thematisiert? Es ist heute eine ganz lebendige Diskussion überall in Europa, vor allem in Frankreich. Denn dort ist nach der Entdeckung Hegels und einer Heidegger-Phase jetzt immer mehr Nietzsche zum Thema geworden. Ich kann und will hier nicht auf diese Kontroversen eingehen. Das habe ich in meinen letzten Arbeiten getan, und dafiir sind ja inzv.'ischen auch jüngere Kräfte berufen, die das besser sehen. Ich will nur erinnern, worum es geht: >Es geht um die Frage der Überwindung der Metaphysik<. Das ist in der Tat die Fragestellung, mit der Nietzsche von Heidegger sozusagen zur Diskussion gebeten \Vorden ist. Wo Nietzsche selbst nicht mehr antworten kann, sind wir alle gefordert, die wir mit Nietzsche zu denken und mit Heidegger mitzudenken versuchen. Was heißt •Überwindung der Metaphysik Heidegger verdanken wir die Einsicht in die innere Einheit und den intimen Zusammenhang zwischen den Grundbegriffen des •Willens zur Macht< und der >ewigen Wiederkehr des Gleichen<. Diese beiden Grundsentenzen sind in Zarathustra, dem Lehrer des Übermenschen, zu Worte gekornn1en. Beide Lehren sind nicht voneinander zu trennen - der sogenannte Übermensch und die ewige Wiederkehr des Gleichen. Denn •Übermensch< ist, wer auch noch unter dem Druck äußerster Aussichtslosigkeit leben kann und sich aus der Verzweiflung nicht dadurch retten will, daß er sich sagt: »Aber es geht vorüber«_ Nein, es geht nicht vorüber, es kommt immer wieder- das ist die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Und sie hat insofern, soweit ich sehen kann, eine ungeheuere appellative Bedeutung. Das heißt: Offenbar darf man keine wirklichen Werte des Menschen, menschliche Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Takt, Scham, Rücksichtnahme, wegen Belohnungen in irgendeinemjenseit.~ oder überhaupt wegen Lohn anstreben und die Un-Werte wegen jenseitiger Strafe meiden. Auch, wenn alles so wiederkehrt und selbst, wenn alles zu Grunde geht, ,..,-ird es inm1er noch den einen wahren, kategorischen Imperativ geben, envas, ohne dessen praktische Vernunft wir selber nicht sein möchten. Darin bleibt Kant im Recht. Eine der großen Leistungen Heideggers war es, dies auch flir Nietzsche evident gemacht zu haben. Der Wille zur Macht lebt in uns in Steigerung des Machtwillens, ohne etwas zu meinen, wofiir er und worüber er Macht haben wilL Und das ist ja doch das Wesen des Willens zur Macht, daß Nietzsche in allem zeigt, was Menschen tun. Was aber heißt >Macht
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Wenn ich jetzt mit dem, was ich sage, zu überzeugen suche, dann ist das natürlich auch Wille zur Macht_ Das kann man wohl immer sagen. Und doch ist es offenbar so, daß dies unter dem großen Vorbehalt steht, daß eben das Leben nicht nur in dieser Form des sich blindlings wiederholenden Geschehens verläuft, sondern das Eine meint und sagt und nicht das andere. Und das heißt: es geht nicht nur um Wahrheit im außermoralischen Sinne des Wortes. Mein Vorbehalt hat irnn1er auch mit dem zu tun, was Heidegger die Wahrheit des Seins genannt hat. Das alles sind sehr schwierige Fragen, die mit der Erneuerung oder Wiederaufuahme der antiken Frage nach dem Sein und der Antwort zusammenhängen, welche die Metaphysik darauf gegeben hat. Es ist eine große Zusammenschau, in der das Ganze unseres europäischen Schicksals sich hier plötzlich in den Augen von Heidegger mit neuen Seinsbeziehungen und den Maßbegriffen einer globalen Menschheit konfrontiert sieht. Urplötzlich erscheint Europa in neuem Lichte. Auf einmal ist Europa das Abendland, über das wir hinausdenken. Ich erinnere mich wieder: Als ich die erste Vorlesung von Heidegger angekündigt sah, war darin das Wort Abendland erwähnt. Auch Heidegger war sich dessen sehr wohl bewußt, daß zum Beispieljapan und China in anderen Kategorien dachten, als das in der abendländischen Tradition der Fall war. Und daß trotzdem der Rückgang auf die Anfange unserer eigenen abendländischen Schicksalsbewegung ftir uns notwendig ist, nachdem die moderne Wissenschaft, die moderne Technik zu einer Umarbeitung des Planeten in eine große Werkstatt gefuhrt hat. Ich kann und will hier nicht ins Einzelne gehen, ich möchte nur soviel sagen: Selbst in seiner Kritik am Seinsbegriff der Griechen, den er unter dem nicht ganz glücklichen Begriff der ~vorhanden heit< eingefuhrt hat, um ihm •Zuhandenheit< und >Dasein< entgegenzusetzen, war Heidegger von der Frage bewegt, ob wir nicht an den Griechen fur uns lernen könnten. Ansätze, die über diese Begrifllichkeit hinausreichen und imstande wären, den Sinne von Vorhandenheit zu überschreiten - etwa religiöse Erfahrungen wie die Botschaft des Christentums oder Erfahrungen des Buddhismus und Konfuzianismus- tragen vielleicht nicht weit genug, so lange wir mit unseren Begriffen denken. Wir müssen einräumen, daß in unserer abendländischen Geburt der Philosophie die Mathematik eine führende Bedeutung hatte. Gibt es nicht vielleicht trotzdem in den Anfängen und noch bei Aristoteles etwas, \vas dem Begriff der Vorhandenheit nicht voll entspricht? Mir scheint das jedenfalls in der Aristotelischen Unterscheidung zwischen Dynamis und Energeia der Fall zu sein. Dynamis ist Kraft, wir kennen das Wort >Dynamik< aus der Sprache der neuzeitlichen Physik. Energeia ist ein Ausdruck, den wir kaum noch im Wort >Energie< wiedererkennen - so groß ist die willenstheoretisch umgesetzte Bedeutungsveränderung. Wenn wir ein deutsches Wort daftir einfugen könnendas hat Heidegger aufseine Weise auch im Auge gehabt-dann würde man Ener-
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geia wohl mit >Vollzug< übersetzen. Das heißt aber, daß gewisse Dinge nur, indem man sie vollzieht, überhaupt >da< sind, und nicht, wenn man sie zum Gegenstand macht. In dem Moment, in dem ich mich reflektierend auf sie richte, sind sie gar nicht mehr das, was ich in ihnen gesehen habe. Und ähnlich steht es mit der Alitheia, dem griechischen Wort fur >Waluheit<. Das ist in der Tat, wenn es richtig ist, eine Grenze, welche die Metaphysik und ihre Ablösung durch die Wissenschaften des 17. Jahrhunderts, den Wahrheitsanspruch der Physik, aufgrund von deren Ergebnissen wir alle unsere technische Zivilisation am Leben halten, nicht gewahrt hat. Wenn >Vorhandenheit< der >wissenschaftlichen Wahrheit< gleichen und gelten soll: >Tatsache< sei, was man >messen< kann, dann ist es vielleicht wirklich wahr, daß mit dem neuen Aufgang des 17. Jahrhunderts eine Entwicklung sich eingeleitet hat, die am Ende zum Nihilismus im Nietzscheschen Sinne fuhrt: zur ewigen Wiederkehr des Gleichen, d. h. zu einem Tätigsein, das überall nur Machbares anerkennt. Da kommen dann bei Heidegger ganz andere Begriffe zur Sprache, vor allem der Begriff des >Spiels< oder des >Ereignisses<. Das klingt schon beinahe so wie ein Zitat von Nietzsche: Es gibt keine >Tatsachen<, sondern nur >Interpretationen<. Was also ist Wahrheit, wenn das stimmt? Ist Alitheia nur die Entborgenheit, die etwas präsent sein läßt? Oder ist es vielleicht immer auch ein Wissen um die Iithe, um diesen großen Fluß des Verborgenen, den alle Verstorbenen, wenn sie im Hades über den Fluß gesetzt sind, nur noch auf Augenblicke anhalten, wenn das Blut des opfernden Odysseus sie erreicht. Da kann Achilles von Odysseus erfahren, daß sein Sohn Neoptolemos der eigentliche Sieger von Troja gewesen ist. In unvergleichlichen Versen hat Homer geschildert, wie der Schatten des Achilles dann freudig bewegt zurückgeht, um in die Iithe, in die Vergessenheit geborgen zurückzusinken. Vielleicht wird also im Wort Alitheia doch schon bei den frühen Griechen nicht nur das Offenbarmachen und das Heraussagen mitgedacht, sondern gerade auch das Verbergen und Bergen. Man kann sich vorstellen, daß Heidegger auf diese Wege gefuhrt wurde, weil er von der Gottsuche ständig begleitet war. Die Frage ist dann, ob wir nicht das über uns und unser Wissenkönnen Hinausgehende als eine Sache denken lernen müssen, die uns zugleich auch mit unseren eigenen Denk- und Verstandesfähigkeiten vertraut macht. Das wäre eine Aufklärung, die sich nicht in einem dogmatischen Atheismus bestätigt sieht, weil vieles in unserem Gedächtnis geborgen ist, ohne daß wir es wissen, und das wir doch »behalten<• haben, so daß es unser Erfahrungsleben mitbestimmt. Wir wissen alle, daß Heidegger nach seinem politischen Irrtum von 1933 mit Hölderlin geradezu eine Erlösungsbotschaft vielleicht geträumt, vielleicht ersehnt hat. Es könnte sein, daß Heidegger, als er sich danach zu den Griechen zurückwandte, versucht hat, auch mit Nietzsche zu sehen, nicht gerade das >Kunst-
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werk der Zukunft• zu denken, aber doch vielleicht aus dem Geiste, der in den Sprachen lebt, neue Einsichten zu gewinnen. Schließlich muß es doch etwas bedeuten, daß es die Sprache des homerischen Epos war, in der das Lehrgedicht des Parmerndes seine ersten kühnen Begriffsbildungen wie to on, >das Sein<, gewagt hat - und daß Empedokles in der gleichen Sprache die Lehre von den vier Urwurzeln des Seins verkündet hat, die später als die vier >Elemente< kanonisiert worden sind. Es ist das Rätsel des Wortes und der Sprache, das hier verborgen liegt. Ich müßte dazu ausfuhrlieh er auf das Verhältnis von Wort und Begriff eingehen. Wenn ich Wort und Begriff so in eins fasse, dann liegt mir daran zu zeigen, daß dies das große Verdienst der Philosophie in unseren Tagen war, daß Heidegger Begriffe wieder zum Sprechen gebracht hat. und dies so, daß wir über Heidegger nicht so leicht hinauskommen werden. Es wird ja vielleicht einmal ein großer Denker wiederkommen, der dann auch das noch in neue Gestalten der Wahrheit verwandelt. Aber so weit sind wir gewiß noch lange nicht. Vorläufig haben wir es ganz im Gegenteil damit zu tun, mit Heidegger zu sehen, daß das wohl ein Ziel bleibt, dieses Sein nicht nur als das Wahre im Sinne des Offenbarseins, des Entborgenseins zu sehen, sondern zugleich als die Vollzugswahrheit des Daseins: das >Da< des Seins, in dem sich ebenso sehr das Eine wie das Andere spiegelt und in dem offenkundig der Gegensatz zwischen Wort und Begriff eine ganz bestimmte Zuspitzung bekommt. >Begriff< - es gibt überhaupt kein Wort dafür in der griechischen Antike ist in der Neuzeit der Zugriff, durch den man über et\\'as Macht gewinnt. Das ist richtig gesehen. Aber es gibt einen anderen Sinn von Begriff, den wir auch alle kennen. Ich meine den Ausdruck >Inbegriff<, etwa wenn wir sagen, das ist ein In begritT von Frechheit, wenn man eine nicht für möglich gehaltene Verstellung oder Zudringlichkeit erlebt hat, oder ein Inbegriff von Hingabefähigkeil. Andere gebrauchen das Wort >Inbegriff< auch in einem, wie Hegel gezeigt hat, sehr hohen Seinssinn - ftir die reinste Verurirklichung des Wesentlichen. in dem nichts unwesentlich ist, nichts Halbes, nichts Schwaches mehr ist. Auch das kann man mit Hege! >Inbegriff< nennen. (Der herrschende Gebrauch von Begriff ist freilich der instrumentale Gebrauch bis in die Mathematik hinein, obwohl selbstverständlich die Mathematik ihre eigentliche Faszination als Forschungsfeld ganz eigener Art ausübt und nicht en..,·a nur Instrumente fur die Naturwissenschaften bereitstellen will). Wie steht es also mit Nietzsche und der Metaphysik? Nach der französischen Forschung ist dies nur die Schwäche von Heidegger, daß er hinter Nietzsche zurückgeblieben und in die Metaphysik zurückgefallen sei. die immer nur nach dem Sein fragt: als ob das die philosophische Grundfrage wäre! Das sei doch gerade bei Nietzsche ganz anders: Da gehe es um >Fröhliche Wissenschaft<, die Heiterkeit, in der sich eine neue Gesundheit spielend auslebt und in der sie vor allem auch ihre Leiden an metaphysischen Fragen, ihre
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ganze Selbstquälerei, überwindet. Es ist klar, und das ist auch aus den Einleitungsworten von Manfred Riede! für jedes Ohr, selbst für mein altes Ohr, klar geworden, daß darauf die Ausnahmestellung der Kunst beruht. In ihr vollendet sich die Einheit von Schaffen und Zerstören, von Erhellung und Verdunkelung. Es gibt nicht mehr den Gegensatz einer apollinischen Heiterkeit und einer dionysischen Berauschtheit, wie bei demjungen Nietzsche, sondern die Wahrheit sei die neue dionysische Vereinigung des Lichts mit dem Dunkel, des Schaffens mit dem Zerstören. Diese Einheit also ist die eigentliche Wahrheit. An dieser Stelle \Väre über das Verhältnis von Sein und Schein zu sprechen, jedenfalls so, wie sie mit dieser Wendung zur Kunst nach Nietzsche ins Weltspiel gemischt sind. Es ist eine Vollzugswahrheit, die nicht Gegenstand der Wissenschaft sein kann. Die Wissenschaft kann sich dem Vollzug nur unterordnen oder muß am Kunstwerk vorbeigehen. Das nennt sich dann etwa Ikonographie oder Quellenforschung: was man an der bildenden Kunst oder der Dichtkunst wissenschaftlich erkennen kann. Was ist da dargestellt, welche geschichdiche Überlieferung steckt darin? Oder: Was hat der bildende Künstler von seinem •Stoff< gewußt und was hat der Dichter gelesen, welche Quellen hat er benutzt? Hat er dieses oder jenes Vorbild gekannt usw.? Das ist gewiß Wissenschaft! Wenn es aber darauf hinauskommt, daß man überhaupt nicht merkt, was eine Dichtung ist und \Vas keine ist, dann glaube ich, haben vvir falschen Gebrauch von der Wissenschaft gemacht. Es kann den Historiker oder Soziologen interessieren, und mit vollem Recht, auch wenn es sich um bloße Wirtschaftsgeräte oder gar um Kitsch handelt. Das kann alles nützlich sein - wie alles Wissen. Aber wenn es sich um Kunst handelt, kommt es noch auf etwas anderes an, auf etwas Einzigartiges, das berühmte je ne sais quoi, das wir bewundern und das kein noch so nützliches Wissen und keine Könnerschaft ersetzen kann. Dann haben wir aber verloren, was Wissenschaft zu leisten vermag, nämlich über Unverständliches hinwegzuhelfen. Ich gebe zu: das ist Hermeneutik, jener Versuch, über Unverständliches hinwegzuhelfen, aber nicht, um zu sagen: das \Veiß ich jetzt, sondern um über das Hindernis wegzukommen und mitzugehen, so wie wir mit einer gut vorgefiihrten Musik mitgehen. Dafür müssen wir durchaus nicht wissen, welche Verarbeitungen und Anregungen der Komponist dabei im Kopf hatte oder was das Publikum etwa davon errät. All das gehört ja nicht zum Mitgehen. Genau so ist es mit Dichtung. Machen wir uns doch nichts vor. Wenn wir durch die Hilfe der Wissenschaft in die Lage konm1en, das Wort wie an uns gerichtet und gesagt zu hören, nur dann >verstehen< wir Dichtung: in der >Entsprechung<. So möchte ich abschließend ein Nietzsche-Gedicht interpretieren und daran mit einigen Worten bildlich zu illustrieren versuchen, wie Hermeneutik helfen kann, am Ende das Gedicht •sprechender< zu machen. Es ist ein bekanntes Ge-
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dicht, ein unveiWechselbarer Klang von Nietzsches Dichtertum, und heißt >Sils Maria•: eines seiner bekanntesten Gedichte. Es gibt das berülunte Wort von Stefan George, sie hätte singen, nicht reden sollen, diese Seele. Das Gedicht lautet: Hiersass ich wartend, wartend- doch auf Nichts, Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel, Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. Da, plötzltch, Freundin! wurde Eins zu Zwei -Und Zarathustra ging an mir vorbei ...
Ein wahres Rätselgedicht? Ich habe lange darüber nachgedacht und glaube nun ungefahr sagen zu können, was es sagen will. Das ist eine dieser typischen Schwierigkeiten, von denen ich sprach: Man soll nachher, wenn man es verstanden hat, das Gedicht noch sprechender, noch schöner finden. Was ist es also mit »eins und zwei«? Nun, was war vorher geschildert? Völliger Einklang. Stimmungseinklang im Engadin, dieser herrlichen Landschaft, in der man wirklich so etwas wie Einstimmung findet. Sicher, das drückt die Zeile in der Mitte aus: »Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel«. Was aber bedeutet die Anrede: »Da plötzlich, Freundin, wurde eins zu zwei und Zarathustra ging an mir vorbei«? Gewiß soll man an nichts anderes denken als an diesen Einklang- der »plötzlich••, aber >nicht• wie durch etwas Feindliches gestört, sondern wie eine Freundin erfahren wird: als das Glück dieses vollkommenen Einklangs. In diesem Augenblick weiß der Denker Nietzsche, daß er wie Zarathustra ist und doch nicht Zarathustra ist. Das ist etwas, was Nietzsche selber gewußt hat, was seine vornehme Menschlichkeit bezeugt: Zarathustra geht an ilun vorbei. Ich habe an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß die Lehre von der ewigen Wiederkehr in >Also sprach Zarathustra< von den Tieren gesungen wird und nicht vom Menschen, der davon geschieden ist. Aus »eins wird zwei«, diese Einheit des Einklangs mit allem und mit sich selbst, ist zugleich etwas, das wir nicht festhalten können, so daß es sich entzweit. Das ist sozusagen die eigentliche Botschaft, die Zarathustra gibt, indem er vorübergeht. Und so beginnt >Also sprach Zarathustra• zugleich mit: »Also begann Zarathustras Untergang«, dem Versuch also," in diesem umwerfenden Radikalismus des Willen zur Macht, den man- ganz gewiß- überall am Werke weiß, auf Erlösung in irgendeiner fernen Zeit und jenseits des Seins verzichten zu können. Dies beides anzunehmen und dazu ja zu sagen, das ist die Botschaft: Der Wissende geht vorbei, läßt »mich« zurück. Darin gerade glaubt man etwas von dem zu spüren, was Heidegger selber auch im Auge hatte, und was er an Plato leichter hätte aufzeigen können als in den begriffiichen Verwicklungen der aristotelischen Unterscheidung von DYnamis und Energeia.
III. Zur Transzendenz der Kunst
13. Der Kunstbegriff im Wandel ( 1995)
Es ist eine im eigensten Sinne philosophische Aufgabe, sich über den Kunstbegriff in seinem Wandel Rechenschaft zu geben. Denn gewiß ist es eine Fragestellung flir jeden Menschen, der zur Kunst ein Verhältnis hat oder ein Verhältnis sucht, sich über den Wandel in der Kunst selbst und in ihrer Auffassung Gedanken zu machen. Im Grunde kann niemand dieser Aufgabe ftir sich selber ausweichen, und so ist es in Wahrheit ein Thema, das nicht so sehr dem Kunstkenner oder gar dem Kunstforscher, dem Kunsthistoriker vorbehalten ist, sondern dem Philosophen, der von jeher das Selbstverständliche zum Selbstverständnis zu bringen als seine Aufgabe ansieht. Er muß die treffenden Begriffe finden, in denen sich ein jeder ausgesprochen sieht. Nun ist es gerade nichts Selbstverständliches, sondern etwas zutiefst Beunruhigendes, was in unserem Verhältnis zur Kunst der heutigen Gegenwart gelegen ist. Wie läßt sich der Begriff von Kunst, der durch die Geschichte unserer Kultur zur Ausfaltung gelangt ist, überhaupt noch, in dem, \Vas heute als Kunst gilt und als Kunst geschätzt wird, wiedererkennen? Die Behandlung dieser Frage stößt auf die Grenzen eines jeden Einzelnen, der das zu tun unternimmt. Sie liegen in seiner eigenen Kunsterfahrung und insbesondere in dem verschiedenen Verhältnis, das verschiedene Generationen heute Lebender zur je gegenwärtigen Kunst besitzen. Wenn ich es überhaupt wage, theoretische Aussagen über diese Dinge zu machen, so berufe ich mich auf große Vorbilder. So ist es vor allem lrrunanuel Kant ( 1724-1804), der in seiner >Kritik der Urteilskraft< zum Begründer der klassischen Ästhetik in Deutschland geworden ist, ein Mann, der niemals die Grenzen seiner Heimatstadt Königsberg und seines Heimatlandes verlassen hat, der niemals bedeutende Originale gesehen hat und dessen Kunstgeschmack in der Tat nicht gerade vorbildlich genannt werden darf. Begreifen, was Kunst ist, kann auch demjenigen gelingen, der nur schmale eigene Erfahrungen mit Kunst hat. Überdies ist es die eigentlich brennende Frage von heute, ob die Vertrautheit mit der reichen Traditionsgeschichte der Kunst, in der wir leben und die uns überkommen ist, uns überhaupt noch leiten kann: Der Zweifel an der Bestimmung der Kunst und der Zweifel an der Rolle, die die Kunst gespielt hat, als sie der höchste Ausdruck menschlicher Bildung war - in der bürgerlichen
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Epoche, die hinter uns liegt -, wird langsam allgemein. Eine traditionsferne Haltung, ja, eine traditionsfeindliche Stimmung breitet sich unter denJüngeren aus, wie sie einer durch die Technik immer stärker geformten Zivilisation entspricht. Sie sieht die Prosa der Maschinenhallen und Büros als Modell aller Organisationsmöglichkeiten des menschlichen Lebens an oder wehrt sich ohnmächtig gegen das, was einen durch zwingende Sachlogik nun auferlegt ist. Wie kann dies neue Lebensgefühl mit dem Begriff künstlerischer Kultur und ästhetischer Bildung noch zusanm1en bestehen, der sich allein aus dem Prozeß der Wandlung und Anreicherung hat aufbauen können, der unsere Kultur bisher trug? ))Wandel im Begriffe der Kunst<<- das ist eine Formulierung, die nicht ganz befriedigt. Ob Begriffe einen Wandel kennen? Was sich wandelt, ist unser Begreifen der Kunst und damit in Wahrheit unser Bemühen, das, was Kunst ist, angemessener oder tiefer zu begreifen. Wir haben gelernt, solche Fragen auf dem Weg über die Dimension der Sprache an uns selbst zu richten. Was ist mit dem Wort >die Kunst< gemeint? So fragen, heißt sogleich, sich die Aufgabe stellen, zu untersuchen, wie es überhaupt dazu gekommen ist, daß man so ohne jedes Beiwort sagt: >die Kunst<. Der absolute Gebrauch des Wortes >die Kunst< stellt das Problem dar. Seit wann redet man so und was bedeutet es? Wenn man im Alemannischen die Ofenbank in den Bauernhäusern >die Kunst< nennt, so ist auch das zwar ein absoluter Gebrauch des Ausdrucks >die Kunst< - vielleicht, weil diese Leistung der Keramik sich eines Tages dort so durchgesetzt hat, daß sie als etwas unerhört Kunstvolles empfunden wurde. Aber das ist ganz ge....,-i_ß nicht der Sinn von >die Kunst<, der uns von unserem eigenen Sprachgebrauch und Sprachgeftihl von heute her vertraut ist. Man hat bis ins 19. Jahrhundert hinein die >schöne Kunst< sagen müssen, wenn man nicht mißverstanden werden wollte. Alles, was zur Technik, zum Handwerk, zum Können überhaupt gehört, war damals mit dem Begriff >Kunst< noch rnitgemeint. Ja, das wirkt noch heute in unserem Sprachgebrauch nach. Denn es ist wohl die Verbindung zum handwerklichen Können, die Grund dafür ist, daß man heute bei dem Begriff >moderne Kunst< oder gar >postmoderne Kunst< an die literarischen Künste oder die Musik zunächst überhaupt nicht denkt, sondern an die statuarischen oder, wie wir auch sagen, die bildenden Künste, die durch Künstlerhand ein Bildwerk zustande bringen. Das ist interessant und wird für die Aufgabe der Selbstverständigung über den Begriff der Kunst beachtet werden müssen. Gleichwohl ist es für die philosophische Reflexion klar, daß wir mit >die Kunst< einen viel weiteren Inhaltsbereich meinen, der außer allen literarischen Künsten vor allem auch noch die Baukunst umfaßt- trotz ihrem Zusammenhang mit der Gebrauchswelt und der modernen Technik. Wenn wir >die Kunst< sagen, so folgen wir damit einem Sprachgebrauch, der sich aus der deutschen Romantik herleitet und dort seine Prägung gewon-
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nen hat. Was vergangene Generationen im Zusammenhang mit Religion und Mythos als Kunst schufen und verstanden, ist damals zum selbständigen Bewußtsein seiner selbst erwacht. Das hat den Gegensatz der mechanischen Künste und der schönen Künste sozusagen aus dem Blickfeld verschwinden lassen. Die Kunst hat sich abgelöst, im wörtlichsten Sinne >absolut< gesetzt. Das bedeutete zugleich ihre innere Aufladung mit dem ganzen großen Erbe der Vergangenheit. All das ist seit der Romantik in dem Begriff der Kunst zusammengekonunen und nicht zuletzt das beinahe >religiöse Pathos<, das die Sphäre der Kunst seitdem erfiillt. Ein Gedicht von Novalis (1772-1801) mag die religiöse Stimmung illustrieren, die damals in den Umkreis des Begriffes Kunst eingedrungen ist: Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren sind die Schlüssel aller Kreaturen, wenn die so singen oder küssen mehr als die tief Gelehrten wissen, '"'enn sich die Welt ins freie Leben und in die Welt wird zurückbegeben, wenn dann sich wieder Licht und Schatten zu echter Klarheit werden gatten, und man in Märchen und Gedichten erkenne die ew' gen Weltgeschichten, dann flieht vor einem geheimen Wort das ganze verkehrte Wesen fort.
Die Verse begegnen in einem Roman, wie es in der romantischen Erzählkunst keine Seltenheit ist, dem >Heinrich von Ofterdingen<. Sie sind also in einen Erzählzusammenhang eingefugt und behalten bei allem lyrischen Schmelz etwas von erzählerischer Sorglosigkeit in der Formgestaltung. Um so klarer verdeutlicht sich an diesen Versen unsere Frage: V'.-ie ist es gekommen, daß der Begriff der Kunst einen solchen fast religiösen Beiklang erhalten hat? Ich möchte in drei kurzen Schritten die Geschichte dieses BegriffS skizzieren, um an ihr abzulesen, wie die >schöne Kunst< zur Kunst überhaupt und schließlich zur >nicht mehr schönen Kunst< geworden ist. Der griechische und der lateinische Ausdruck techne und ars hat noch gar nichts von der speziellen Auszeichnung dessen, was wir die Kunst nennen, an sich. Er bezeichnet vielmehr etwas, was zwischen den mechanischen und den schönen Künsten gemeinsam ist, auch wenn es sich bald differenzieren mußte. Das besondere Können, das den mechanischen wie den schönen Künsten zugrunde liegt, läßt sich am Ende durch einen gemeinsamen Begriff fassen und ist durch Plato (428/27-348/47 v. Chr.) sogefaßt worden. Beide sind >Nachmachen< von etwas Vorbildlichem. Das gilt fiir den Handwerker, der sozusagen den idealen Schuh nachmacht, und es gilt noch mehr fiir den Maler, der den Schuh schön malt. Beides ist mimesis, imitatio, Nachahmung, wenn man
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Plato folgt. Doch gehört die Kunst des Malers auch fur Plato in einem engeren Sinne zu den nachahmenden Künsten: ihr Produkt ist kein wirklicher Gegenstand der Gebrauchswelt [I -1.1]. Darin liegt zweitens, daß der weite Begriff von Kunst, der bei den Griechen und Römern im Sprachgebrauch von techne und ars liegt, einen direkten Zusammenhang mit dem Begriff der Natur besitzt und >Kunst< als dasjenige charakterisiert, was die Freiräume, die die bildende Natur gelassen hat, durch den Erfindungsgeist des Menschen auszuftillen weiß und dabei vielleicht auch zu höheren Bildungen von Mimesis aufzusteigen vermag. Hier wird nun drittens ein Sachverhalt sichtbar, über den man nachdenklich ·wird. Unter der Auszeichnung der tedme, wissendes Können zu sein, in dem sich das herstellende Vermögen vollendet, erscheint auch die Poesie und zwar mit Vorrang. Schon das Wort >Poesie< besagt das. Denn wörtlich heißt das Wort >machen, herstellen<. Hier ist offenbar >Herstellen< in einem eminenten Sinne gemeint. Das Herstellen ist nicht nur abgelöst von den verschiedenen Bereichen, in denen das Handwerk seine Objekte erstellt, sondern auch von den verschiedenen Materialien, mit denen die >bildenden Künste< arbeiten. Poesie heißt Poesie, weil es ein Herstellen von allem schlechthin ist, wie es Plato an einer berühmten Stelle des >Sophistes< vor uns ausbreitet, allerdings nicht, ohne sogleich die >bildende< Nachahmung (und nicht die Poesie) zu erörtern. Die Poesie ist das >reine< Machen, das keines Handanlegens bedarf und keines Materials. So ist die Poesie die einzige Kunst, die sozusagen von Anfang an auf dem Wege zu einer neuen >Freiheit< ist. Sie hat in ihrem >Herstellen< keinen Widerstand der Materie zu überwinden, mit dem das Handwerk so gut wie die bildende Kunst es aufzunehmen hat. Siebesitzt die rätselhafte Auszeichnung, aus dem Nichts, aus vergehenden Sprachlauten und aus gefrorenen Schriftzeichen alles entstehen zu lassen. Es war diese Geistigkeit der Poesie, die dem Poeten in der antiken Kultur eine Sonderstellung gegenüber all den anderen Künstlern verliehen hat. Diese blieben Banausen, da sie wirklich mit der Hand arbeiten wie die Handwerker. Die Auszeichnung, die hier der Poesie zukommt, deutet auf eine größere und weit in die Ferne greifende Freiheit menschlichen Erfindungsgeistes und menschlicher Gestaltungskraft. Wir spüren sofort, hier ist eine neue Souveränität erreicht, die Souveränität einer produktiven Gestaltung, die von vornherein alles und von überall her gleichsam in eine neue Gleichzeitigkeit stellt. Das ist das geheimnisvolle Rätsel der Literatur, daß sie nicht wie andere Dinge etwas ist, das sich vor uns in seiner materiellen Gegebenheit und in festen Beziehungen zu seiner Umwelt darstellt. sondern aus Zeichen und Symbolen immer neu reaktiviert wird und eben deshalb nicht an Raum und Zeit gebunden erscheint. Wenn man sich diesen Zusammenhang deutlich macht, beginnt man zu verstehen, wie sich aus solcher mündlicher und später schriftlicher Überlieferung der poiesis ein allgemeiner Begriff des schöpferischen
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Künstlers und der schöpferischen Kunst herausgebildet hat und \Varum er im Zeitalter des Rationalismus zu einer ersten Selbständigkeit begrifflicher Klarheit aufgestiegen ist, die wir mit dem Begriff der philosophischen Ästhetik bezeichnen. Die Ästhetik, als philosophische Disziplin eine Schöpfung des 18. Jahrhunderts, bedeutet offenkundig eine Kompensation fiir den übermäßigen Anspruch des Zeitalters der Aufklärung, allein durch die Klärung von Begriffen alle Wahrheit verbindlich erfassen zu können. Der oben verfolgte Zusammenhang mit der Allgewalt des Wortes, der dem Begriff Polesis :=o Poesie< zugrunde liegt, bestätigt sich: noch fl.ir den ersten Schöpfer einer philosophischen Ästhetik, Alexander Baumgarten (1714-1762). Für ihn steht- \vie man meist nicht beachtet- der Vorrang der Poesie- fast wie eine bloße Modifikation der Rhetorik- fest, und daß sich Poesie auch dann noch, wenn er die Erkenntnisweise, um die es sich in der Kunst handelt, eine Cognitio sensitir'a nennt, eine Erkenntnis meint, die nicht durch den Begriff vermittelt \Vird, sondern durch die Sinne. Das meint offenkundig nicht, daß einem in den Sinnen ein bloßes Abbild ftir die Allgemeinheit des Begriffes begegnet, wie etwa in einer Allegorie, sondern daß im Gegenteil im Partikularen, im Einzelnen, im Bildwerk oder im dichterischen Wort das Allgemeine selber und auf sinnliche Weise da ist. Das setzt im Grunde etwas voraus, was wir als einen tiefen Wandel in unseren Weltbegriffen begreifen müssen. Es gibt ein Wort, an dem der Übergang sozusagen ablesbar wird. Es ist das Wort k6sm6s. Kosmos meint Schmuck, schöne Ordnung. Nur weil das Universum eine so überwältigende Regelmäßigkeit und Harmonie des unhörbaren Sphärengesanges besitzt, nur weil das All der Realitäten eine solche Wohlordnung ist, konnte sich das Wort kosnws im Laufe der griechischen Denkgeschichte als Bezeichnung des Universums festsetzen. Das Urbild von Wohlordnung und Schönheit begegnet im Sternenlauf und zeichnet, (bis hin zum Anwendungsgebiet der Kosmetik) im Grunde alles vor, was wir als schön gelten lassen. Nun muß man freilich den Begriff >schön<, \Vie diese Überlegung schon lehrt, in einem ganz \veiten philosophischen Sinne nehmen, wenn man das verstehen will. Was heißt schön? Schön ist das, von dem niemand, der bei Sinnen ist, fragt, wozu es da ist. Es ist die Auszeichnung des Schönen, daß es jede Frage nach seinem Nutzen, Zweck, Sinn oder Gebrauch Z\vingend niederhält. Es überzeugt durch sein Dasein. Der Begriffschön schließt also das Freisein von Zwecken ein. So kommt der bekannte Asudruck Artes liberales zustande, der die Künste des spätantiken Schulsystems auszeichnet, die keinen Gebrauchswert meinen. Sie heißen frei, \veil sie keinen unmittelbar anwendbaren Zwecken dienen. Der Begriff des Schönen besitzt also so etwas wie eine Selbstrechtfertigung. Es liegt aber noch mehr darin, ein Hinweis darauf, daß überhaupt der Rahmen zweckhaften Denkens nicht weit genug ist. Wenn man die Frage, \\"OZU etwas da ist, abweist, überschreitet man offenkundig den
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Rahmen, der durch das Vitalziel der Selbsterhaltung gesetzt ist und der alles umfaßt, was diesem beherrschenden Naturzweck dient, der auch das menschliche Wesen als Naturwesen bestimmt. Auch in der außermenschlichen Natur begegnet solches, was über die zweckhaften Verhaltensweisen hinaus ins Spiel überfließt und nicht dem Prinzip der Selbsterhaltung dient. Der Mensch aber hat im langsamen Aufbau seiner Zivilisation von früh an einen solchen ungeheuren Erfindungsreichtum und eine solche einzigartige Könnerschaft entwickelt, daß er seine Lebensräume und selbst seine Todesräume, die Gräber und Gräberstätten, mit »Schönem« ausfiillt. Nimmt man den Begriff des Schönen in solcher Weite, so begreift man den systematischen Ort, den die philosophische Ästhetik im 18. Jahrhundert bezogen hat. Es ist gleichsam eine letzte Verteidigungsposition, auf die sich die universale Ordnungserfahrung des Kosmischen zurückgezogen hat. Was in der geschlossenen Ordnung der antik-mittelalterlichen Astronomie und im Vor-Bild der Weltordnung, das sie fiir die menschlichen Dinge bedeutete, alles durchherrschte, hat seinen kosmischen Rückhalt verloren. Die neue Unendlichkeit des Universums weckt ein anderes Empfinden: das des Erhabenen. Auch in einem nachkopernikanischen System verteidigt jedoch die Kunst, und in ihrem Lichte das Naturschöne, das Recht des Schönen. Die neue Ästhetik rückt das Erhabene und das Schöne in Natur und Kunst eng zusammen. So nimmt die Kunst einen neuen Rang ein, gerade weil sie nicht mehr das glänzende Dekor eines wohlgeordneten Wirklichkeitsganzen ist. Jetzt erst ist Kunst als Kunst da, nicht mehr als das Beiherspielen an einem großen geordneten Lebens- und Kultzusammenhang: sie ist auf sich selbst gestellt. Damit hängt unmittelbar die neue religiöse Aufladung des Begriffes der Kunst zusammen. Sie beschränkt sich nicht auf die selbstverständlichen Inhalte der griechisch-jüdisch-christlichen Tradition, die dem Schaffen der Kunst ihren Rahmen vorzeichnete. Sie horcht ringsumher nach dem Mythos, erfiillt vom Heimweh nach den mythischen Zeiten. Aber gerade die Suche nach einer neuen Mythologie leitet nun den Freilauf der Imagination ein, die in immer neuen Verdichtungen geheimnisvolle Ordnung schaffi, die mehr ist als das Nützliche. Aus der romantischen Kunstverehrung ist neben dem Dogma der Kirchen und gegen das Dogn1a der Autklärung >die Kunst< zu ihrer eigenen Geltung aufgestiegen. Die Frage, zu der sich die Kunstrevolution und das Denken über Kunst in unserem Jahrhundert zugespitzt hat, ist nun, ob dieser allgemeinste Begriff des Schönen, der aus der antiken Kosmologie stanmtt und bis in die moderne philosophische Ästhetik fuhrend geblieben ist, unser Denken über Kunst noch bestimmen kann, oder ob uns die immanente Entwicklung des Kunstschaffens der neuesten Zeit nötigt, sogar den Begriff der Kunst und des Kunstwerkes selbst in Zweifel zu ziehen und neue Denkmöglichkeiten entgegenzusetzen.
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Will man dieser Frage ins Gesicht sehen, so muß man zunächst ein Mißverständnis ausschalten, das hier naheliegt. Wenn wir uns über den Wandel der Kunst und ihren etwaigen Einfluß auf den Begriff der Kunst verständigen wollen, dürfen wir das nicht mit dem Wandel des Geschmacks verwechseln. Der Wandel des Geschmacks ist ein Phänomen, dessen Hintergründe primär gesellschaftlicher Natur sind, auch wenn dabei ästhetische und psychologische Momente des Individuums, des Künstlers und der Generation, die er prägt, mitspielen mögen. Die russischen Formalisten haben das besondere Verdienst, über die Gesetze von Reizerzeugung und Reizabstumpfung, die da herrschen, aufzuklären. Der Rhythmus, in dem sich Empfänglichkeiten abstumpfen, ist offenbar unabhängig von der eigentlichen Aussagekrafi:, die das Schaffen der Kunst besitzt. Die Kunst läßt sich von der Perspektive des Geschmacks, dieser sinnlichen Haut unserer Erfahrung des Schönen, durchaus ablösen. So können wir von einem Bilde oder einem Dichtwerk höchster Qualität gleichwohl sagen, daß es nicht nach unserem Geschmack ist, und vielleicht müssen wir sogar eines Tages zugestehen, daß wir den Geschmack daran doch inzwischen gefunden haben. Es kann nicht diese Dimension des Geschmacks sein, an der sich der Begriff der Kunst und sein Wandel beschreiben läßt. Wir folgen damit dem entscheidenden Schritt in der Entfaltung der philosophischen Ästhetik, der zwischen Kant und Hegel (1770-1831) erfolgt ist und in Hegel seine Vollendung gefunden hat. Hege! hat den Standpunkt des Geschmacks, an dem noch Kant das Prinzip der ästhetischen Urteilskraft entwickelt hatte, als einen untergeordneten Standpunkt erkannt und die Souveränität des Standpunktes der Kunst in aller Pluralität und Wandelbarkeit ihrer Erscheinungsweisen in den Mittelpunkt gerückt. Hegels Vorlesungen über Ästhetik sind die Grundakte der neuen Weltperspektive, die sich vom Standpunkt der Kunst aus öffnet. Sie hat eine ganze geschichtliche Dimension, die Dimension des Geschichtlichen, freigelegt. Als die Geschichte der Weltanschauungen, das heißt der Folge von Anschauungsweisen der Welt, stellt Hegels Ästhetik den ersten Grundentwurf einer Kunstgeschichte dar. Nicht das aber ist das Wesentliche, sondern daß damit der Standpunkt der Kunst in seiner universalen Geltung über alle geschichtlichen Dimensionen hin zur Begründung gelangt ist. Der Begriff der Kunst, so drückt sich das bei Hegel aus, tritt neben Religion und Philosophie als eine Gestalt des absoluten Geistes. Das will heißen, daß es nicht mehr bloße bedingte und überholbare Wahrheiten sind, die in der Gestalt der Anschauung im geschichtlichen Entwicklungsgange der Kunst begegnen. Die Kunst als die Mannigfaltigkeit der Weltanschauung ist vielmehr zugleich von souveräner Gleichzeitigkeit. Was mir zugänglich wird, ist zwar ein geschichtlich Bedingtes, und vermittelt trotz seiner geschichtlichen Bedingtheit kein relatives Wissen sondern, was wahr ist -auch wenn es kein Wissen in der Gestalt der Wissenschaft oder des Begriffes ist und sich daher auch nicht in der Weise des Wissens und der Wissenschaft
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mitteilen läßt. Hegel hat diesen Souveränitätsanspruch der Kunst freilich zugleich begrenzt, und zwar durch seine Lehre von dem Vergangenheitscharakter der Kunst. Was er damit hat sagen wollen, ist zunächst, daß die Zeiten vorüber sind, in denen die Kunstschöpfungen, insbesondere die der großen griechischen Skulptur, unmittelbarer Gegenstand kultischer Verehrung waren. Auch die religiöse Kunst des Mittelalters hat er nicht in ähnlicher Weise charakterisieren können, aber er hat allen neuromantisehen Versuchen, diese Form religiöser Kunst zu erneuern, entgegen gehalten, daß wir die Knie vor diesen Schöpfungen der Kunst nicht beugen. Das ist das Faktum, das Hegel sieht und von dem aus er nicht etwa der Kunst ihr Ende nachsagt oder voraussagt, sondern ihren Bezug auf die Vorstellungswelt der Religion und die Gedankenwelt der Philosophie sozusagen ortet. Die Verschmelzung des Beitrages der Kunst mit der Vorstellungswelt der Religion und der Gedankenwelt der Philosophie ist zu Ende. Wenn wir so mit Hegel denken oder auch mit Schelling (1775-1854) der in der Kunst das Organon der Philosophie sah, oder mit uns selbst, die wir am Anspruch der Kunst messen, was Philosophie in einer Epoche der Wissenschaft und gegenüber dem Universum der Erfahrungs\."·issenschaften überhaupt zu sein vermag, müssen wir uns zugleich die innere Aporie eingestehen, in die der Wahrheitsanspruch der Kunst uns weist. Die ganze weite Geschichte der Kunst ist eine Geschichte der sich nicht als Kunst wissenden Kunst. Sie ist in religiösen oder profanen gesellschaftspolitischen Lebenszusarnnienhang eingebettet, dem sie Schmuck und Schönheit und erhöhtes Dasein gewährt. Wo sie als Kunst, als bloßes sinnentfremdetes Können ihre Virtuosität beweist, ist sie im Verfall. Ars latct arte ma: )durch ihre eigene Kunst verbirgt sich die Kunst•. Wo sie sich aufdrängt, sinkt sie zur kunstvollen Virtuosität herab. Welch ein Paradox. Da sehen \vir Kunst als Kunst und nichts als Kunst, und eben damit ist der selbstverständliche Aussageinhalt der Kunst um seinen Ernst gebracht. Fast zwei Jahrhunderte lang lebt der Nachhall der europäischen Aufklärung im Zeitalter der Emanzipation des Bürgertums als Kunst unter uns wie eine selber fast religiöse Botschaft fort, gerade weil weder Religion noch Metaphysik nochalldie traditionellen religiösen oder profanen Inhalte der Kunst für uns unmittelbare Bindekraft besitzen. In ruhelosen Versuchen, sei es durch Wiederaufnahme vergangener Stilformen, die \\'ir Historismus nennen, sei es in immer grenzenloser sich ausweitendem Wagemut des Experiments, leben Kunst und Künste am Rande der Gesellschaft. Im ausgesparten Freiraum einer durchgeplanten Arbeitswelt ist es überdies mehr der Bildungsgenuß vergangener Kunstschöpfungen, als der künstlerische Beitrag der eigenen Gegenwart, der Resonanz findet. Das war und ist unleugbar ein Symptom für das Auseinanderfallen der Inhaltsbedeutung des Kunstwerkes und seiner gestalterischen Qualität. Es ist die Verdrängung der Begegnung mit
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der Kunst durch den Bildungsgenuß. Sie hat die Problematik des KunstbegriffS selber mehr und mehr zum Ausbruch gebracht. Man muß diesen Hintergrund im Wandel der Kunst unserer Jahrhunderte sehen, wenn man den radikalen Bruch mit der Gegenständlichkeit im Kunstschaffen der letzten Jahrzehnte und seine Wirkung auf das Denken über Kunst verstehen will. Solange gemeinsame Traditionen religiösen und weltanschaulichen Inhalts den Stil der Kunst beherrschten, gab es ein homogenes Kontinuum zwischen der naiven Wiedererkennung zutiefst vertrauter Wahrheit und der verfeinerten Auffassung der ästhetischen Qualität von Kunstwerken. Seit dieses Kontinuum auseinandergefallen ist, steht die naive Wiedererkennung der eigentlichen Erfahrung des Kunstwerkes geradezu im Wege. Hier scheint mir etwas in unserer Kultur merkwürdig unterentwickelt geblieben. Gewiß, wir sind kein Volk von Analphabeten. Alle haben schreiben und lesen gelernt. Aber haben wir sehen gelernt und haben wir hören gelernt, so \vie man sehen lernen muß, wenn man bildende Kunst erfahren \'.'ill oder wie man hören lernen muß, wenn man Poesie oder Musik verstehen will? Hier ist mit dem Hinschmelzen der gemeinsamen Inhalte eine neue Aufgabe gesetzt, v,:ie sie etwa in den ostasiatischen Kulturen aus langer Tradition heraus erfüllt ist. Wir müssen es erst lernen, im Sehen und im Hören, auch unabhängigvon inhaltlicher Mitteilung, die Bedeutsamkeit künstlerischer Gestaltung zu erfahren. Dabei haben v.rir ein Vorbild, das gerade in der okzidentalen Kultur zur besonderen Vollendung gesteigert worden ist, das Vorbild einer gegenstandsfreien Kunst: die absolute Musik. In ihr ist gleichsam antizipiert, was durch das Hinschwinden greifbarer gemeinsamer Bedeutungen die Kunsterfahrung unserer Tage fordert. Es war die große Stunde der Wiener Klassik, aber auch im gewissen Umfange der protestantischen Orgelmusik des Barockzeitalters. In letzter Ablösung von dem vokalen Hintergrund der abendländischen Musikgeschichte wird hier die Instrumentalmusik autonom. Die Musik ist nicht länger eine testliehe Begleitung, Verzierung oder Ausgestaltung des Chorals. Das Werk schließt sich selber zur Einheit eines Kosmos, wie vor allem die Wiener Satztechnik lehrt, deren kompositorische Einheitlichkeit wir be\vundern, und die uns die Autonomie der klassischen Musik vor Augen stellt. Das ist absolute Musik, deren Deutung im Wort sich den Interpreten offenbar bis zur Verzweiflung ins Ungreifbare verliert. Erst kürzlich ist das durch ein geistreiches Buch von Wolfgang Hildesheimer über Mazart illustriert worden, in dem sich der Autor nicht ohne Berechtigung darüber lustig macht, wie völlig verschiedene Deutungen desselben Musikstückes bei Mazart von den Experten vorgelegt worden sind. Der Schritt zur absoluten Musik hat den Wandel der Kunsterfahrung, der uns heute zum Nachdenken vereinigt, in gewissem Sinne antizipiert. Ähnlich hat sich im Felde der sprachlichen Künste die symbolistische Lyrik im Begriff der Poesie pure diesem Ideal angenähert, indem sie die Grenzen und Regeln
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der Grammatik wie der Rhetorik gesprengt hat und in der Vieldeutigkeit ihrer Wort- und Klangbezüge fast etwas wie absolute Musik zum Vorbild nimmt, undeutbar und bedeutsam wie diese selbst. Vor allem aber wird an der großen Revolution der bildenden Kunst am Anfang unseres Jahrhunderts dieser Zusammenhang deutlich. Da wird einem durch Bildungswissen irregeleiteten Beschauer zugemutet, Abstraktion von allem Wiedererkennbaren zu akzeptieren oder auch Deformation von Vertrautem -bis zum völligen Verzicht aufWiederkenntnis von Gegenständlichem -, und zugleich wird an die Kooperation des Betrachters, des Hörers oder Lesers, appelliert, der gleichsam die Sinnlinien des gestalteten Werks auszuziehen und zu vernehmen lernen muß - so wie er am >traditionellen< Kunstwerk das Gewohnte des Sujets ins Ungewohnte, das Wiedererkannte ins schlechthin Einzigartige auszuziehen hat. Eben damit aber stellt sich die Frage, ob es sich am Ende nur um einen Wandel der Kunst handelt, die von den mythischen und geschichtlichen Vertrautheiten ihrer vergangeneu Inhaltswelt Abschied nimmt und sich gleichsam auf ihr reines Wesen reduziert sieht. Einem so verstandenen Wandel der Kunst entspräche eine nicht-mehr-romantische universelle Poetik, in der sich die experimentelle Kühnheit des Gestaltens ohne alle Begrenzungen absolut setzt. Die radikale Gegenposition wäre, daß der Begriff der Kunst selbst und der des Kunstwerkes sich am Ende auflöst bzw. in Produktionsformen zurücknimmt, die selbst noch die Rede von dem Werke und seiner Einzigartigkeit, seiner Aura, gegenstandslos macht. So aber ist es, wo Produktion von vornherein Reproduktion meint, wie das von jeher im Handwerk und heute in der Industrieproduktion selbstverständlich ist. Die Frage ist eine echte Frage. Ist es wirklich etwas, was den Begriff der Kunst und des Kunstwerkes erschüttert, was sich in unserem Zeitalter vollzieht? Jeder muß sich fragen, ob er bei der Beantwortung dieser Frage nicht selbst dem Wandel des Geschmacks, des eigenen erworbenen und gepflegten Geschmacks, unterliegt, ob er sich nun gegen die Zumutungen neueren Kunstschaffens versperrt - oder vielleicht umgekehrt gegen die herkömmlichen Formen des Kunstschaffens sich wie ein völliger Neuerer, der er nie ist, auflehnt. Das ist nicht erst von heute, sondern vonjeher in der Geschichte der Kunst eine wohlbekannte Tatsache. Eine neue Kunst wird oft so geschmackswidrig erscheinen, wie etwa im Zeitalter des französischen Klassizismus der wiederentdeckte Shakespeare - und so neu, wie sie in Wahrheit gar nicht ist. Vor der Diskussion der gestellten Frage ist es wohl am Platze, die begrenzten eigenen Erfahrungen mit moderner Kunst einzugestehen, die ich vor Augen habe. Daß ein Angehöriger meiner Generarion versucht hat, in seinen jungen Jahren mit dem damals Modernen mitzugehen, mit der kubistischen Formzertrümmerung, mit der Wendung ins Gegenstandslose in der Malerei und mit der entschlossenen Deformation, wie sie etwa mit dem Expressionis-
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mus ver~nüpft war, versteht sich von ~elbs~. Das muß man als Vorbelastung sozusagen 10 Rechnung stellen, wenn ICh d1e Erfahrungen mit Kunst erwähne, die mir nach dem Zweiten Weltkrieg begegnet sind, und die ich mitjüngeren teile. Da war vielleicht das Erste, fast Erschreckende Henry Moores (geb. 1898) Skizzen aus der Unterwelt der Londoner Untergrundbahn- von denen er später zu den machtvollen Gestaltungen von Masse und Form in seiner monumentalen Plastik weiterschritt. Für mich war auch die plötzliche Wendung bedeutsam, die Nicolas de Stael (1914-1955) in seinen letzten Lebensjahren zu monumentaler, nicht mehr abstrakter Gegenständlichkeit geführt hat, nachdem er sich von dem bewunderten Vorbild seines Freundes Braques (1882-1963) gelöst hatte. Aber auch neuerdings hat der Plastiker Segal (geb. 1924) mich überzeugt, jener Künstler, der aus Pappmache seine Figuren macht und auf diesem Wege in der Tat eine neue Wirklichkeitsdeutung zustande bringt, die nicht nur durch die erschreckende Totenbleichheit dieses Materials, sondern auch durch die plastische Kraft und abstrakte Realistik der Sujets Eindruck macht. In der Literatur vollends konnte es nicht anders sein, als daß der nouveau roman mich begleitet hat, von seinem ersten großen Vorstoß, Rilkes (1875-1926) Aufzeichnungen des >Malte Laurids Brigge< angefangen und über Proust (1871-1922) und Joyce (1882-1941) bis zu Musil (188~1942) und Beckett (1906-1989). In der Reihe fehlt die Musik. Sie blieb mir, ganz gleich, ob vorklassische, klassische oder modernste Musik, ein »Rätsel, das mich martert«: anziehend und vielsagend und doch das Verlangen, zu begreifen, nicht erfüllend. Im Theater bekenne ich, noch immer als ein Heimwehkranker das literarische Theater zu suchen, das sich der Dichtung unterordnet, auch wenn ich weiß, daß ich damit einer vielleicht vorübergehenden, im 17. Jahrhundert einsetzenden und in unserem Jahrhundert erlöschenden Tradition anhänge. Meine eigenen Erfahrungen mit der Kunst unseres Jahrhunderts boten, wie man sieht, durchaus keinen Anlaß, den Begriff des Kunstwerkes in Frage zu ziehen. Das aber ist ohne Zweifel der Grundgedanke, der heutigem neuen Nachdenken über das Wesen der Kunst zugrunde liegt: die Kritik am Werkbegriff überhaupt. Ob das nun die Form hat, daß man ein Gedicht zu den nicht mehr schönen Künsten zählt, weil es durch sein Dahinschwinden ins Undeutbare die Grundforderung eindeutiger Verständlichkeit unerfullt läßt, oder ob es eine prinzipielle Leugnung der Identität des Kunstwerkes überhaupt ist, die es ganz den Aufnehmenden oder dem reproduzierenden Künstler überläßt, was er aus der Vorlage macht und welche Wirkung er herausholt. Man denke etwa an die serielle Musik, die dem Musiker mehr Angebote bietet als Vorschriften macht oder an das Happening. Die angebliche Undeutbarkeit moderner, nicht mehr schöner Künste käme dem nahe, sofern sie mit dem Anspruch verknüpft ist, daß eine jede Interpretation, ein jedes Verständnis des Textes die gleiche Deutungsberechtigung habe. Hält da die Identität
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des •Werkes< stand - oder hängt man einem überlebten Platonismus nach, wenn man so denkt? Vielleicht kann einiges Nachdenken über den Begriff des Werkes zur Klärung beitragen. Es liegt vonjeher im Begriff des Werkes, des ergon, daß es von dem Herstellungsvorgang abgelöst ist und eine Art An-sich-sein besitzt. Es ist fertig: teleiott. Das heißt im Bereich der herstellenden Technik ein Doppeltes. Es ist in den Gebrauch entlassen und damit auch dem Mißbrauch und der Abnutzung ausgesetzt- und auf der anderen Seite ist es ftir den Gebrauch erstellt, und das heißt, der Gehraucher und nicht der Hersteller hat das bestimmende Wort. Der Hersteller mag sich rühmen, etwas zu machen, was gut zu brauchen ist, aber eben damit erkennt er die Priorität des Gehrauchers an. Dem gegenüber ist ein Kunstwerk etwas, das nicht zu einem Gebrauch bestimmt ist oder mindestens nicht in ihm aufgeht, sondern das durch seine bloße Gestaltung seine eigentliche Bedeutung ausspielt. Es wird nicht so sehr hergestellt, das heißt zum Gebrauch bereitgestellt, als daß es aufgestellt oder ausgestellt "'rird. Das heißt: es ist zu nichts anderem da, als da zu sein, gezeigt zu werden oder aufgeftihrt zu werden oder "l.vie inm1er. Das Kunstwerk ist sozusagen das absolute Werk, - darin vergleichbar mit der oben behandelten Auszeichnung der Poesie als des absoluten Machens. Sein Anspruchssinn klingt in dem Fremdwort des Oeuvre auf, das sich im Bereich der bildenden Künste eingebürgert hat. Was in den Augen seines Schöpfers keinen Bestand hat, rechnet ein Künstler nicht zu seinem Oeuvre. Hat die Rede vom Oeuvre ihre Gültigkeit verloren, seit man, in Aufnahme einer antimusealen Tendenz, in unserer geschichtlichen Erfahrung von Kunst die Einschmelzung des künstlerischen Schaffens in eine Aktionswelt fordert? Für die sprachlichen Künste, und vielleicht nicht nur fiir sie, \VÜrde das Analoge die Rückstellung derselben in die Rhetorik bedeuten, und wenn man die Reintegration alles künstlerischen Schaffens in die Gebrauchswelt fordert, wäre dem Dekorativen und dem Primat der Architektur in der Gestaltung des Lebenszusammenhanges alles untergeordnet. Es ist also die Frage, ob die Unterscheidung des Werkes, das wir ein Kunstwerk nennen, von anderen Erzeugungen menschlicher Handfertigkeit >an sich< Gültigkeit besitzt, oder ob sie schon einen Begriff von Kunst voraussetzt, der selber erst mit der beschriebenen Ennvicklung der Kunst und des Begriffes von Kunst am Ende ihrer großen okzidentalen Geschichte, mit der Wendung zum 19. Jahrhundert, seine volle Entfaltung erfahren hat und damit vielleicht auch seine Fragwürdigkeit verrät. Ein Punkt ist zum Beispiel, daß nicht in allen Epochen der Kunst die Rede von der Person des Künstlers, der ein Werk geschaffen hat, einlösbar ist. Nicht nur, daß man den Namen nicht kennt. Man fragt sich, ob von dem Schöpfer oder den Schöpfern von Felszeichnungen oder von olmekischen Skulpturen zu reden, überhaupt Sinn hat. Man fragt sich, ob die Felszeichnung von anderen Riten des Jagdzaubers oder
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ob die präkolumbianischen Skulpturen als Geräte eines Kultverhaltens von beliebigen anderen Handwerkserzeugnissen täglichen Gebrauchs unterscheidbar sind. Selbst wenn wir die >künstlerische Qualität< des einen und die Banalität des anderen unter solchen Erzeugnissen unterscheiden, ja selbst wenn der Erzeuger solcher Dinge in gereiften Kulturen sich als solcher weiß und >sein Werk< mit seinem oder seiner Werkstatt Namen >zeichnet< - reden ·wir da immer mit Recht von Kunst und Künstlern? Wir brauchen uns doch nur zu fragen, wie es in unserer industriellen Welt von heute aussieht. Da gibt es den Künstler, der- ohne Auftrag oder im Auftrage- >Werke< schafft, und den Designer, der die Formgestaltung unserer Industrieproduktion entwirft. Da gibt es den Dichter und den Te:lo.."ter, da gibt es den Prosaschriftsteller und den Journalisten, die oft ein und dieselbe Person sind und vielleicht nicht einmal von sich selbst zu sagen wüßten, ob sie Kunstschaffende und Künstler sind oder Arbeiter im Weinberge des lndustrieherrn. Das sind radikale Fragen, denen gegenüber die Behandlung der >nicht mehr schönen Künste< vielleicht noch an der Oberfläche der eigentlichen Probleme bleibt. Vielleicht reicht auch die Kritik am Werkbegriff, die in den heutigen Formen von Aktionismus und Antikunst herumgeistert, nicht tief genug. Das kann einem etwa an Heideggers Denkweg bewußt werden. Da ist der Versuch über das Kunsterk, in dem eine Welt aufgeht und der Versuch über das Ding, das eine schlichte Kanne sein mag und doch nur dann zum Ding wird, wenn es »aus Welt gering«. Beides, Kunstv.rerk und Ding rückt bis zur Ununterscheidbarkeit zusammen, gerade weil es beides im Schwinden ist. Das Schwinden der Dinge im technisch-industriellen Zeitalter der Wegwerfgesellschaft liegt auf der Hand. Aber ist es nicht auch mit der Aufhebung der Einzigartigkeit des Kunstwerks im Zeitalter der Kunstindustrie ähnlich? Da haben wir vor allem die immer perfekter werdende Reproduzierbarkeit. Die Aura schv.rindet um das Werk. Insbesondere die Schöpfungen der Baukunst, aber auch Werke der bildenden Kunst, die in dunklen Kirchen oder schlecht beleuchteten Sälen kaum sichtbar waren, rücken durch die moderne Reproduktionstechnik in eine neue, verfiigbare Nähe. Ebenso wird die Originalmusik heute oft von der Schallplatte übertroffen, wenn es sich um die Qualität der Interpretation handelt, und ebenso drängen Film und Fernsehen unter dem Gesichtspunkt der mimischen Qualität das Theater mehr und mehr an den Rand. Behält es also Sinn, von der Einzigartigkeit des Kunstwerks auszugehen und von der Aura, die es von daher umgibt? Ist der Begriff des Werkes nicht ebenso in Auflösung, wie die tatsächliche Funktion des originalen Werkes in unserer Welt selber? Nun soll man sich von der Frage der Reproduzierbarkeit nicht beirren lassen. Es hat vonjeher in der Neuzeit Kunstschaffen gegeben, das die Reproduzierbarkeit von vornherein im Auge hatte, und zwar als eine gleichartige und gleichwertige Vervielfaltigung des Eignen. Das sind die graphischen Künste,
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aber auch gelegentliche Repliken in der Malerei und vor allem die Bronzeskulptur gehören dahin. Und gilt es nicht ganz allgemein von dem, was wir )Literatur< nennen, das heißt, von der Seinsweise der Poesie? Man muß offenbar den Begriff der Einzigartigkeit in einem genaueren qualitativen Sinne nehmen. Es geht hier nicht um den wörtlichen Sinn, sondern darum, ob das so geschaffene Werk eine Identität in sich hat, die es zur Einmaligkeit seines Werkcharakters erhebt. Nicht die Reproduzierbarkeit im Sinne der äußeren Zugänglichkeit steht hier dem Original gegenüber, sondern die Imitation. Dieser Gegensatz impliziert ftir das Original einen eindeutigen Begriff von Identität, den ich hermeneutische Identität nennen möchte. Er ist nicht notwendig der abgelöste Bestand des geschaffenen Werkes, der hier Originalität, Ursprünglichkeit definiert. Selbst eine Orgelimprovisation, die gelingt, gewinnt, trotz ihrer Unwiederholbarkeit, eine unaufhebbare Identität, die in dem Urteil des Hörers sich niederschlägt. Man sagt, sie war gut oder sie war es nicht, und wenn sie gut war, war sie eine originale Schöpfung. Gewiß ist es schwierig, was hier )gut< genannt wird, in seinem Sinne zu charakterisieren. Aber auch wenn man ganz in Rechnung stellt, welche Aufnahmebedingungen, zum Beispiel Vorurteile des Geschmacks, solche Qualifikationen beeinflussen, bleibt doch ein Sinn in dieser Aussage, und das ist nicht nur der Qualitätssinn überhaupt, der sich im Kunsthandel als eine Vorbedingung erfolgreicher geschäftlicher Tätigkeit deutlich markiert. Es geht um mehr. Es geht um die Frage, warum das Einzigartige an einem Werk so zum Vorschein kommt, daß es sich aus allen möglichen Präsentations- und Rezeptionsbedingungen heraushebt und seine eigene Aussagekraft bewahrt, so verschieden es auch immer im Wandel von Zeit und Geschmack wirken mag. Plato spricht einmal in einem mythischen Zusammenhang von dem Schönen in diesem Sinne. In der herrlichen Schilderung der Hinundfahrt und des Erdensturzes der Seele im >Phaidros<-Dialog feiert Plato die Auszeichnung des Schönen und sagt da, daß das Schöne das am meisten aus allem Herausscheinende und am meisten zur Liebessehnsucht Erweckende sei, weil es die Erinnerung an das wahre Sein bewirke. Was hier vom Schönen insgesamt gesagt wird, gilt ganz gewiß im besonderen von dem Kunstwerk. Wahrlich ist es nicht die Künstlichkeit der Kunst, durch die sie aus allem herausscheint, sondern das, was da gesagt wird, woran da erinnert wird, macht es. Um dieses Unsagbare zu charakterisieren, gebraucht man heute gern den Begriff der Aussage, und mit Recht. Was man eine Aussage nennt, ist ja unter allem Gesagten das, das Bestand hat, wie etwa die Aussage, die man vor einem verantwortlichen Forum im Verhör macht. So auch hebt sich die Erfahrung des Kunstwerkes aus den gemeinen Erfahrungslinien des Weldebens heraus. Wenn es sich um ein Bauwerk handelt, stehen wir plötzlich wie gebannt, können nicht einfach hineingehen, um unser Geschäft zu besorgen, sondern müssen verweilen, um es aufzunehmen. Ebenso ist es, wenn uns ein Bild,
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wenn uns ein literarischer Text, wenn uns Musik formlieh bannt. Offenbar ist es da niemals das Einzelne als solches, wie es da vorkommt, was uns anzieht, sondern daß es ein Einzigartiges ist, etwas, was in sich selbst an ein Allgemeines erinnert. Einzigartig ist ja das, was als das Eine, das es ist, eine ganze Art, ein ganz Allgemeines, zur Darstellung bringt. Aristoteles (384-322 v. Chr.) hat einmal einleuchtend gesagt, der Historiker sei nicht so philosophisch und das heißt hier: so reich an Erkenntnis des Wahren -wie der Dichter. Der Historiker sage nur, wie es wirklich gewesen ist, der Dichter sage, wie es immer zu geschehen pflegt, wie es im allgemeinen ist. Etwas davon gilt vonjeder Erfahrung von Kunst. In der modernen Gesellschaft, die sich in einen wohlgegliederten Apparat eingefugt weiß, der alles in \\TOhlgeplanten Erwartungen vorterminiert, bildet sich ein ständig dichter werdender Hintergrund, der sozusagen als ummerklich funktionierbar da ist, und gegen den sich erst recht abhebt, was wie eine Aussage da ist. Selbst Dinge, die man aus trivialen Funktionszusammenhängen gerissen >aufstellt<, empfangen etwas von allgemeinerer Bedeutung, wie etwa die Provokationen von Duchamp gezeigt haben. Es ist nicht mehr diese >Gießkanne<, was sich als eine im Museum aufgestellte Gießkanne darbietet. Alles Erkennen ist Wiedererkennen. Was wir am Werk der Kunst erkennen, ob wir nun etwas Kunst oder ein Kunstwerk nennen oder nicht, ob wir den romantischen oder nachromantischen Sinn, den das Wort >Kunst< fiir uns hat, in Anspruch nehmen oder nicht, die Erfahrung als solche ist unleugbar, daß der pragmatische Lebenszusammenhang überschritten wird. Das gilt, wenn die Griechen die Phidias-Statue der Athene oder den olympischen Zeus bewunderten oder wenn sich die großen Schöpfungen etwa der ägyptischen Pyramiden oder anderer Heiligtümer der Vorzeit als ein Stück des zu lebenden Lebens und Sterbens um die damals lebenden Menschen schlossen. Wir erkennen an, daß dies Werke der Kunst sind. Wir erkennen auch an, daß in veränderten Welten wie der unseren, in der uns rings das von Menschen Geformte und Verformte umgibt, auch das von Menschen bildnerisch Geschaffene anders aussehen wird und dennoch auf sich zieht, auf sich versammelt und zur Aussage wird. Es bleibt legitim, darin die gleiche Kraft des Ordnens, die Schaffung eines in sich stehenden Kosmos zu erkennen und als die Erfahrung auszuzeichnen, die wir mit dem Begriff Kunst und ein Kunstwerk bezeichnen. Dem stimmt in Wahrheit jeder zu, der Kunst schafft und jeder, der etwas als Kunst erfahrt. Auch die Kunst der eigenen Zeit ist obendrein niemals ablösbar von dem Ganzen der Geschichte und der Überlieferung der Kunst, deren Erzeugnisse wir so ehrfurchtsvoll sammeln und be""undern. Es wird wahr sein, daß der Zugang zu älterer Kunst fiir eine jüngere Generation, der vieles an historischer und gelehrter Kenntnis fehlen mag, schwerer zugänglich ist, als die aus unserer eigenen Industriewelt emporwachsende Produktion. Umgekehrt mag
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es fur die Älteren schwer sein, von dem großen Reichtum und der Bedeutungsfulle, die aus den großen Werken der Kunst vergangener Zeiten zu uns spricht, abzusehen, wenn man sich dem heutigen Schaffen ötffien will. Wir haben alle unsere Grenzen, die wir nicht überschreiten können. Manchmal mag uns einer etwas zeigen \vollen, was wir auch dann noch nicht sehen. Vorurteile des Geschmacks, der Bildung, auch der Unbildung, Wirkungen der Gewohnheit und der Erwartung mögen in den Weg treten - und dann wieder erfahren wir die Wirklichkeit dessen, was Kunst ist, wenn et\vas in die Aura des Einzigartigen gehüllt ist, das uns ergreift, das uns begrenzt und das wir bewundern.
14. Die Kunst und die Medien (1988/89)
Für das Thema •Die Kunst und die Medien~ hätte man kaum jemanden weniger geeigneten wählen können, als mich, einen alten Mann, der das, was jugendliche Gemüter an diesem Thema bewegt und beschäftigt, kaum aus eigener Erfahrung ergänzen kann. Ich will eine Geschichte aus Amerika erzählen, wo ich seit längeren Jahren öfters ein paar Monate zubrachte. Dort war es üblich, daß man um 10 Uhr abends, in dem Hause, in dem ich lebte, zum Fernsehen zusammenkam. Da konnte man sehr interessante politische Auseinandersetzungen verfolgen, namentlich im Wahlfeldzug der Präsidentenwahlen, die ich mehrfach in diesen Herbsten auf diese Weise miterlebt habe. Einmal geschah es, wie es so ist, wenn man müde wird, daß ich nach 11 Uhr allein sitzen blieb, und da kam im Fernsehen irgendeine schauerliche Geschichte von einem Flugzeug, das über ein Schiff fliegt und dann geht beides in die Luft und schließlich landet das Flugzeug doch noch auf dem Schiff, irgend so etwas. Jedenfalls passierte es mir, daß ich allein saß und vor einer unlösbaren Aufgabe stand. Wie stellt man einen solchen Apparat nur ab, wie bringt man das Ding zum Schweigen? Ich habe alle möglichen Knöpfe gedrückt- es hat keine Wirkung getan. So mußte ich das Nichts des leeren Zimmers als letzten Zuhörer zurücklassen. So sieht der Experte aus, den Sie heute vor sich haben. Freilich nötigen alle wirklich wesentlichen Änderungen unserer Zivilisation auch den Philosophen zum Nachdenken. Wir haben ja die Aufgabe, das, was alle im Grunde denken und was uns alle als Fragen bewegt, zu schärferer begriillicher Bewußtheit zu erheben. Wenn v.rir diesen unseren Auftrag zu erfiillen suchen, dürfen wir Themen, die viele beschäftigen nicht aus dem Wege gehen, fiir die wir aus eigener Erfahrung keine Kompetenz besitzen. So ist es in diesem Falle, daß ich ein weit verbreitetes Bedürfuis befriedigen soll. Ich habe aus Anlaß dieses Vortrages die Habilitationsschrift vonJürgen Habermas, die seinerzeit mit die Grundlage seiner Berufung nach Heidelberg wurde, zu Rate gezogen. Jetzt möge die Veröffentlichung dieses Hamburger Vortrages zu seinen Ehren bezeugen, daß ich von ihm zu lernen versucht habe. Ich suche den Zugang zum Thema auf einem Wege, der allen gemeinsam ist und überhaupt zum Philosophieren wesentlich gehört. Ich meine den Zugang von der Sprache und von den Worten aus, die durch die Veränderung des
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Sprachgebrauchs anzeigen, was unser aller Nachdenken in der Tiefe bewegt. Philosophie besteht in nicht geringem Umfange darin, das einholen zu wollen und zu einer gesteigerten begrifflichen Bewußtheit zu fuhren, was im Welthorizont der Sprache, die wir jeweils sprechen, in ihrem Sinnentwurf schon angelegt und nun überkommen ist. Machen wir die Probe aufS Exempel. Ich habe mir ein paar Worte zusanunengestellt, die im Zusanunenhang unseres Themas im Gebrauch sind. Als erstes ist es der Ausdruck >die Massenmedien<. Das brachte mich sogleich zum Nachdenken. Seit wann sagen wir so? Ein Zuhörer gab die Antwort: seit 1933. Ich hatte zu anrnrorten. Nein, das ist ein bißeben zu spät. 1933 wäre nicht möglich gewesen, wenn es nicht schon vorher die Massen und die Medien gegeben hätte. Es war nicht zuletzt ein Instrument zur Massenerregung, das damals so unheilvoll mißbraucht worden ist. Obendrein hatte es schon eine längere Vorgeschichte, die vom Zeitungslesen, über die Zeitschriften, der Photographie und den Film bis zur Perfektion des Rundfunks und des Fernsehens und zu der Geburt einer ihr entsprechenden Rhetorik fuhrte. Ein wundervoller Ausdruck mag an die Situation, in der wir leben, erinnern. Es ist das Wort Medienlandschaft. Mir wird ganz romantisch zumute. Ich höre ein Mühlrad klappern, ein Posthorn blasen und überlegte mir, was eigentlich die moderne Technik mit Landschaft zu tun hat. Die Antwort ist einfach und auch mir möglich gewesen. Ich wohne in einem kleinen Vorort von Heidelberg und wenn Leute dort gewisse Sendungen empfangen können, kann ich es bei mir nicht, weil da ein Berg davor liegt. Die Landschaft ist tatsächlich ftir die Fernsehtechnik von heute noch immer da und wird durch sie gegliedert. Freilich war das ehedem etwas anderes ftir die Postkutsche und den Wandersmann. Vielleicht klingt aus dem Ausdruck •Medienlandschaft< sogar etwas wie ein leichtes Heimweh nach der so in die Ferne entrückten Natur. Auch das >Medium< ist ein interessantes Wort und ist nicht ganz so einfach zu verstehen, wie man im ersten Augenblick glaubt. Gewiß, >Medium<, das ist das Vermittelnde, ist der Vermittler. Das ist die fuhrende Bedeutung in diesem Ausdruck. Wenn wir heute von den Massenmedien sprechen, so meinen wir damit, daß heute eine unartikulierte Zahl von Menschen durch solche Mittel wie der Photographie, des Druckes, der Zeitungen und Bücher, vor allem vom Rundfunk und Fernsehen erreicht werden. Wir sehen also in dem Begriff Medium zunächst das Vermittelnde, aber das Besondere dabei ist, daß es iiiUller ein anonymer Adressat ist. -In die Bedeutung des Ausdruckes spielt noch ein anderes Element hinein, und unwillkürlich habe ich im Sprechen selbst das Wort >Element< gebraucht. Es ist das, was zwischen uns ist, den einen und den anderen verbindet, aber auch beide trägt, wie das Wasser die Fische vereinigt und trägt. So gibt es auch zwischen den Erkenntnissen der Wissenschaft und den übrigen Schöpfungen der Kultur vieles fur die Menge der Schaulustigen und Wissensdurstigen, die abends einen Apparat anknipsen.
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Damit wird das Medium zugleich das alles Umgebende und Tragende einer Informationsflut, in der wir alle wie im Wasser schwimmen. Das Medium ist also zugleich Element. Dies Wort hat in der Tat außer der Funktion der Vermittlung noch einen anderen Beiklang, das zu sein, das so zwischen uns ist, daß es uns alle umgibt und trägt. So klingt im BegritTMassenmedien auch dies mit an. Man muß auf die Worte hören. Ich habe das meinen Studenten immer gesagt, daß sie ein Ohr fiir die Implikationen der Worte, die sie gebrauchen, entwickeln müssen. Das ist so wichtig fiir den, der Philosophieren will, wie es fur den Musiker wichtig ist, ein Ohr flir die Reinheit der Töne zu haben. Philosophie ist im Grunde an die Sprache nicht wie an ein beliebiges Signalsystem oder ein künstliches Zeichensystem verwiesen, das etwas hin und her transportiert, wie das mit gutem Grunde in der Naturwissenschaft der Fall ist. Dort werden die mit Messungen erarbeiteten, erworbenen Daten verarbeitet und mit mathematischen Symbolen mitteilbar gemacht. Das ermöglicht, alle Informationen und Mitteilungen durch Experiment, Messung und Beobachtung zu prüfen. So >genau< geht es bei uns nicht zu, denn auch in den Geisteswissenschaften erhalten wir, wie wir sehen werden, ein gutes Teil des Erbes der Philosophie in unserer Kultur. Unsere >Zeichen•, die wir gebrauchen, sind Worte und nicht nur Bezeichnungen fiir etwas, das wir kennen und markieren. Sie erzählen uns selber etwas, was nur die Sprache weiß. So ist etwa der Ausdruck >Masse< am Ende des 18. Jahrhunderts langsam flir Menschenmassen üblich geworden- sicherlich unter dem Einfluß der levee en masse, die man die Französische Revolution nennt. Dank dem Pathos des Kulturoptimismus der Weimarer Dichter fand das Wort auch in Deutschland Aufnahme. Schiller gebraucht das Wort sehr gern, wie seine Rhetorik überhaupt einen etwas befehlshaberischen Ton hat. So ist uns der Ausdruck >die Massen< etwas ganz Geläufiges geworden. Wer ein Ohr hat, der hört in dem Wort aber noch ernras Besonderes. >Die Masse< ist eigendich der Teig, ist das, was man knetet und in eine bestimmte Form bringt, ja eben überhaupt erst in Form bringt. An diesem Bedeutungshintergrund denken "''1r freilich nicht, wenn wir im Alltagsgespräch etwa von dem Massenverkehr reden, der am Sonntagnachmittag die Straßen blockiert. Aber es ist ein vielsagender Ausdruck. Zur Masse gehört Mangel an Artikulation und Differenzierung, und das schließt Anonymität ein, die Humanität schwer macht. Damit möchte ich nicht in die üblichen Tiraden der Kulturkritik einstimmen. Wenn ich hier davon spreche, so ist es, weil ich Wege suche, wie wir mit unserem Schicksal, in einer solchen Gesellschaft zu leben und solche Mittel und Medien ständig zu gebrauchen, fertig werden und wie wir auch in unseren Lebensformen eine wirkliche Solidarität in unserer Kultur ausbilden lernen. Das wird die Menschheit unserer Tage noch lange beschäftigen. Aber wir dürfen doch schließlich auf einen Erfolg hoffen. Zwar, es handelt sich nicht
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um dieses kleine Europa allein oder seine AnhängseL Es geht jetzt um eine Menschheitsaufgabe, und um die Frage, wie in der atemberaubenden technischen Entwicklung und Veränderung der Umwelt und der Menschenwelt die Lebensbedingungen und die Lebensaussichten fur die Menschheit aussehen. Das alles bezeichnen wir mit dem Ausdruck Kultur. Man nennt es im allgemeinen die Konununikationsformen unserer Zeit. Wieder frage ich mich, was in diesem Wort uns erzählt wird? >Kommunikation<, das ist ein Ausdruck, den insbesondere mein Vorgänger auf dem Heidelberger Katheder, Karl Jaspers, gern gebraucht hat. Er \Var selber nicht gerade von Natur ein kommunikationsfähiges Muster. Er war eher ein reservierter Norddeutscher, doch das sind sie hier ja alle. In jedem Falle klingt das Wort Kommunikation sehr sonderbar, so wie wir es heute gebrauchen. Die meisten Menschen werden dabei an die Physik denken und an die konmmnizierenden Röhren, die als Ausdruck fur eine Austauschbewegung physikalischer Art bekannt sind. Wenige werden daran denken, daß dies ein altrömischer Ausdruck ftir das städtische Gemeim",·esen ist, dessen Austausch sich im lebendigen Gespräch und in der Rede vor der versammelten Menge vollzog. Für uns stellt der Ausdruck Kommunikation eher die abstrakte Form von Gemeinsamkeit dar, wie die, wenn Wasser in den Röhren hin und her fließt. So lehrt uns der Blick auf den Ausdruck, die Tönung unserer ganzen Denkweise und ihre Veränderung im technischen Zeitalter zu gewahren. Da mag es das Ohr schärfen, wenn wir uns auch dem Wort Kultur zuwenden. Was heißt Kultur? Das Wort >Kultur< ist trotz seiner lateinischen Herkunft ganz in unseren Sprachgebrauch eingegangen. Wieder erzählt es uns eine Geschichte. Cultura, diese lateinische Vokabel, läßt uns an Agrikultur denken. Es lenkt den Blick auf das bäuerliche Rom. Das griechische Äquivalent dazu ist >paideia<, und das meint das ganz andere der griechischen Jugenderziehung und ihrer Normwerte. Doch hat sich auch in Rom aus dem Bürgertum der Väter der römischen Republik der geistige Begriff von Kultur gebildet. Die Übernahme der griechischen Philosophie in Erziehung und Rhetorik in das Leben der römischen Republik ist schließlich mit dem Begriff der Kultur zu unlöslicher Einheit gelangt. So merken wir kaum noch, daß Kultur >Pflege< meint, die Pflege des Ackers so gut wie die Pflege des Geistes. Wiederum deutet sich bereits in unserer Geschichte und in den Worten von unserer eigenen Lage vieles an. Es ist die Lebensaufgabe, die unsere Kultur, unsere Zivilisation wird lösen müssen. Das Problem, das wir hier sofort realisieren, ist, die Spannung z·wischen dem, was v1rir machen können und dem was wachsen muß und das man vielleicht durch pflegliche Behandlung in seiner eigenen natürlichen Entfaltung fordern kann. Hier klingt in der Weisheit des Wortes der innere Zusammenhangvon Kultur und Natur an. Beides ist etwas, was von selbst aufwächst. So zeigt sich Kultur als etwas, das man nicht einfach l'lUChen kann. So sagen wir auch, daß man Kultur haben muß, und das schließt ein, daß sie sich
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nur langsam herausbildet und daß man sie nicht so sehr haben kann, als daß man sie sein muß. Ein jeder, der heranwächst, wird diese Erfahrung machen und schon ganz von selber spüren, was es bedeutet, daß man hier nicht sagen kann, wie man das macht und wie man das wird. Im allgemeinen fassen wir bei der Gegenüberstellung von Kultur und Natur die Dinge vom falschen Ende an. Wir reden, als ob das, was man machen kann, durch das, was nicht machbar ist, eingeschränkt wird. Aber wir sollten es einmal mit der Umkehrung der Begriffe versuchen. Dann werden \Vir darüber klar werden, daß die Natur und die Kultur es sind, welche den Raum ötfuen, innerhalb dessen man etwas machen kann und welche ausschließen, was man vielleicht nicht machen sollte. Das gewaltige Potential des Machens, das die moderne Wissenschaft und Technik in unsere Hand gegeben hat, stellt uns die Aufgabe, den Freiraum unseres Könnens richtig auszufüllen, und die modernen Massenmedien gehören zu den technischen Mitteln, in denen wir gerade auch die Aufgabe, unsere Freiheitsräume auszufüllen lernen, damit das uns Verbindende in einer so durch und durch technisch regulierten Gesellschaft sich wiedererkennt. Die Einft.ihrung in die menschlichen Strukturen, die ich gab, soll meine erste Einstimmung auf das richtige Fragen nach dem Verhältnis zwischen der Kultur und den ihr zu dienen berufenen Massenmedien vorbereiten. Dabei ist es klar, daß \vir hier Verlust in Kauf nehmen müssen. Wenn unsere Welt der Mittel und Medien zu so phantastischen Entwicklungen gefuhrt hat, dann muß das ftir das Leben einer Kultur Veränderungen zur Folge haben. In ungeahntem Ausmaß \verden unserem Leben Informationen zugefuhrt. und es gilt, solche Informationsfluten zu leiten, daß unsere Kultur, die cultura animi, die Kultur der menschlichen Seele und des Geistes, dadurch nicht zerstört, sondern fordert. Ist es nicht ein Übermaß von Vermittlungen, denen wir ausgesetzt sind? ln der Frage klingen philosophische Begriffe an, wie Unmittelbarkeit und Vermittlung. Aber auch ohne eine besondere Philosophie in Anspruch zu nehmen, bestätigt sich für uns alle. wie die Vermittlung und das Unmittelbare eigentümlich aneinander gekettet sind und zugleich in Spannung zueinander stehen. Das Anwachsen von Vermittlungen schafft und verschärft eine Spannungslage, die die Unmittelbarkeit zu einer der großen Süchte werden läßt, die sich in einer Welt der Medien und Mine! immer mehr aller Seelen bemächtigt. Angesichts der unendlichen Vermittlung. die unser ganzes Leben beherrscht, möchten wir, so sehr wie es nur möglich ist, die Unmittelbarkeit schützen, die als Spontaneität unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit und vor allem Zugang zur Wirklichkeit des anderen, des Mitmenschen, erlaubt. Wir sehen wohl alle unsere oberste menschliche Aufgabe darin, die durch die ständige Vermittlung steigende Naturferne und die wachsende Anonymität alle Lebensbedingungen der menschlichen Gesellschaft zu humanisieren.
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Wie ist es zu diesem Ungleichgewicht und zu dem Anwachsen dieser Spannung gekommen? Vielleicht können wir aus solchen Erkenntnissen und Erfahrungen lernen, wie man unserer Aufgabe gerecht wird. Sicherlich darf man sich nicht in der leeren Rhetorik des Verurteilens und der deklamatorischen Aufmachung von Verlustrechnungen ergehen, oder auch bloß die Gegenrechnung aufmachen. Wir sollten das Gegebene anerkennen, um uns zu fragen, wie wir mit ihm ein Iebenswertes Leben ermöglichen können. Nun ist doch wohl klar, daß hier niemand eine weit in die Zukunft greifende Voraussicht besitzt. Niemand weiß im Grunde, was die Veränderungen sind, die unsere Zivilisation in diesem Jahrhundert durch die Entwicklung der Massenmedien zu entwickeln begonnen hat und was das ftir die Menschheit und die Menschlichkeit des Menschen bedeuten wird. Ich möchte es an einer Analogie klarmachen, die mehr ist als eine zufallige Vergleichung. Ich denke an das Computerzeitalter. Das ist ja vielleicht doch die allgemeinste Formulierung ftir die Eigentümlichkeit der neuen Welt, in die wir hineingehen, daß man immer mehr Dinge in maschinellen Formen beherrschen lernt, die früher ein langes Leben des Wachsens, Anreicherns, Vergessens und Erinnerns, kurzum einen langen Weg der Kultivierung, verlangte. Die Analogie, die ich autbieten möchte, ist die zwischen dem Computer und dem Alphabet. Wir können uns gar nicht genügend klar machen, was ftir eine ungeheure Wendung und was fur eine ungeheure Leistung der abendländischen Zivilisation es war, als das Buchstabenalphabet sich entwickelte. Das war zwar keine griechische Erfindung, sondern eine semitische. Aber die atemberaubende Schnelligkeit, mit der die griechische Kultur sich dieses Alphabet angeeignet hat, bleibt ein wahres Wunder. Wir können vielleicht sagen, daß es funfzigJahre waren, die Homer von der Aufnahme des Alphabets im Griechischen trennt. Da ist uns ein Wink gegeben. Wenn wir unsere abendländische Zivilisation etwa mit der wunderbaren Schreibkunst in chinesischen Lettern vergleichen, werden wir unserer selbst gewahr. Das sind nicht auf das Einfachste reduzierte Buchstaben. Die Elemente der chinesischen Schrift sind, wie wir sagen würden, Ideogramme, die selbst etwas Bedeutungshaftes sind. Es war gewiß eine gewaltige Abstraktionsleistung, die das Alphabet forderte. Es schloß in unsere Kommunikationsformen eine geradezu unmenschliche Entfernung von allem Bildhaften ein. Gleichwohl verdanken wir diesem Vorgang viel. Da ist Homer, das erste große Schriftwerk der europäischen Zivilisation, das dank der alphabetischen Schrift zu uns gekommen ist. Es ist nicht nur etwas Tröstliches, was ich damit in die Geschichte hineinflechte. Es ist mehr als das. Es ist in Wahrheit eine Lehre, zu sehen, welche geistige Herausforderung das Abendland damit bestanden hat. Welch ein Anfang! Homer. Man kennt das berühmte Wort von Herodot, daß es Homer und Hesiod gewesen seien, die den Griechen ihre Götter gegeben hätten. Das ist wörtlich verstanden natürlich reiner Unsinn. Diese Dichter waren keine
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Religionsstifter. Es ist vielmehr gemeint, daß es diese Männer waren, welche den ungeheuren Reichtum an wilden und düsteren Mythen, Götter- und Heldengeschichten der Vorzeit, in ein helles Licht des Verstehens und der Vermenschlichung gehoben haben. Hier hat uns die moderne historische Forschung zu neuen Einsichten gefuhrt. In unser Geschichtsbild ist Homer in die von ihm erzählten Geschichten von Troja und den Göttern auf dem Olymp nicht länger eingeschmolzen. Im 19.Jahrhundert gab es noch ein vielgerühmtes Buch mit dem Titel >Homerische Theologie<. Das ist, wie wir heute sehen, sowohl dem Titel wie auch dem Inhalt nach, etwas, was sich an das anlehnt, was wir in unserer christlichen Tradition Theologie nennen. Beides verfälscht alles. Wir sehen heute in der epischen Überlieferung Homers und Hesiods den Anfang der abendländischen Kultur und ihrer Richtung auf rationale Erhellung der Weltund Daseinserfahrung. Das gilt gerade auch in den Vorstellungen über die übermächtigen Gewalten, die uns schicksalhaft beherrschen. Das ist, in aller Bewußtsein, dieser Olymp, auf dem die Götter dem blutig-grausamen Kampf um Troja lachend zuschauen. Diese ganze Götterwelt von Menschlichkeiten und Unmenschlichkeiten war eine Gestaltung durch die Dichter, die alle die Geschichten, die wir Mythen nennen, umbildeten und immer wieder umbildeten, bis schließlich die Dichter eine vertiefte Erfahrung des Göttlichen zu lehren begannen und Plato am Ende sogar zu der schmerzvollen Verurteilung der homerischen Dichtungswelt vordrang. Sich daran zu erinnern, scheint mir gut, daß die Erfindung des Alphabetsam Ursprung der homerisch-olympischen Tradition gestanden hat. So schnell diese Rezeption des Alphabets war, so langhin und gar nicht plötzlich war der Übergang von der älteren mündlichen Überlieferung zu ihrer schriftlichen Fixierung und zugleich damit zu der Entwicklung des angesehenen Berufsstandes der Rhapsoden. Vielleicht läßt sich daraus etwas lernen. Als ich am Anfang der siebziger Jahre zum erstenmal nach Amerika kam, war dort gerade McLuhan die große Mode, dieser Apostel des Endes des Gutenberg-Zeitalters. Auch wenn man seine Folgerungen heute nicht mehr allzu ernst nehmen wird, so ist es dochjedenfalls die Einsicht in das Nebeneinander und das Zusammenspiel von schriftlicher Überlieferung und mündlichem Gedächtnis, von Traditionsbildung durch die mündliche Überlieferung der Generationsfolge und von Umgestaltung und Fixierung durch die dichterische Kunst, die auf schriftlicher Fixierung beruht, was in den letzten Jahrzehnten von großer Bedeutung geworden ist. Auch unsere Zivilisation ist im Begriff, sich gewaltig zu ändern. Man denke nur an unser Schulwesen, auf das langsam inuner mehr die Massenmedien einwirken, und am Ende muß auch der Gebrauch der maschinellen Hilfsmittel, der im Computer gipfelt, wie ein riesiger Schritt auf dem Schicksalswege erscheinen, der mit Übernahme des Alphabets in der frühen europäischen Geschichte einsetzte. Wir brauchen das
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nur auszusprechen, um fast zu erschrecken. Denn jetzt ist es nicht mehr ein europäisches Schicksal allein, es ist ein Weltproblem geworden, das sich hier ankündigt. Jetzt handelt es sich nicht mehr nur darum, daß eine große Autkl.ärungsbewegung bei den Griechen die Wissenschaft und vor allem die Mathematik hervorgebracht hat. Unser Denken ist dadurch geprägt und hat eine hohe Kunst der folgerichtigen Argumentation in Gestalt der europäischen Wissenschaft gezeitigt. Jetzt erkennen wir, daß diese frühe Geschichte der europäischen Zivilisation, durch alle ihre Phasen hindurch, am Ende bis zu den extremen Formen einer neuen maschinellen Abstraktionskunst geftihrt hat, die mit dem Computer die gesamte Menschheit und ihre Lebensformen erfaßt. So sieht in meinen Augen der Hintergrund des Themas >Kultur und Medien< aus. Gewiß ist es eine neue Art von Mündlichkeit, die sich in Gestalt des Rundfunks und des Fernsehens in unsere Zivilisation hineinzusprechen beginnt, aber sie ist von einer ständig weiter ansteigenden Flut der Produktionen des Buchdrucks und der Zeitung begleitet. Wenn wir uns fragen, was diese Zivilisation zusammenhalten soll, die da im Zeitalter des Weltverkehrs und der Nachrichtenmittel heraufkommt, dann mögen wir uns an unsere eigene Geschichte erinnern. Wie hat die enorme Abstraktionsleistung des Alphabets gleichwohl zu einer so großen Dichtigkeit aller Gemeinsamkeiten fuhren können und wie hat sich das griechische Leben und später das Weltreich Roms zu einem eigenen und heute weithin v.reltumspannenden Kulturkreis ennvickeln können? Was berührt uns daran als ven.vandt und als lehrreich? Es war nicht so sehr die Wissenschaft. Es war und ist auch heute wieder die Rhetorik, die den eigentlichen Bildner der Kulturen darstellt und ihr Wachsen bewirkt. Da wir selber in der Wissenschaftskultur der Neuzeit stehen, muß man dabei hinzuftigen, daß Rhetorik et\vas anderes ist, als kunstvolle Stimmungsmache und Effekthascherei, daß sie vielmehr die Urtatsache der menschlichen Vergesellschaftung trägt und überhaupt erst Einheitlichkeit des Verhaltens, des Reagierens und des Handeins möglich macht. So kennen wir aus der homerischen Schilderung, wie der König, der Heerftihrer, der Stammesftihrer, der gewählte und eingesetzte Führer, immer als der beschrieben ist, dem die Worte wie Honig vom Munde fließen und der ein großer Redner ist. Wir brauchen das nur auszusprechen und zu erkennen: die Geschichte der Rhetorik reicht in der abendländischen Zivilisation genauso lange, bis die neue Gestalt der Wissenschaft als mathematisch-begründete Natun.vissenschaft in unsere moderne Zivilisation und in unser Selbstverständnis eingegangen ist. Der Verruf der Rhetorik, sie sei nichts anderes als eine Art Schönrednerei, ist eine einseitige Folge und Verkennung unserer Wissenschaftskultur, die einer neuen Überdenkung bedürftig ge\>vorden ist. Es ist ja nicht nur die ausgezeichnete Rolle des Heerführers in einer feudalistisch strukturierten Gesellschaft, der über überzeugende Redegewalt verfugen muß. Näher schon fuhrt uns an unsere Welt heran, wie Telemach in der Odyssee sich mit den
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Freiern auseinandersetzt. Da kündigt sich bereits der Übergang aus der alten Feudalstruktur, die sich im Trojanischen Krieg dichterisch spiegelte, in eine Welt an, in der die Polis, die Stadt und das staatsbürgerliche Zusammenleben die ersten Zeichen setzen. Das aber ist das eigentliche Kennzeichen der abendländischen Zivilisationsgeschichte geworden, eine ausgebreitete Stadtkultur heraufgeführt zu haben.Das prägt sich noch heute in dem staatsrechtlichen Begriff des Bürgers aus. Das Bürgertum ist offenkundig durch die Gemeinsamkeit zusammengehalten, die erlaubt, für die gemeinsamen Bedürfnisse zu arbeiten und die öffentlichen Einrichtungen zu venvalten. Zum Ideal solcher Institutionen wurde dann die Demokratie, wie wir noch heute mit den Griechen sagen, wenn wir die Idealform des modernen Staates verteidigen. Ihr Gegenbild erweist sich an dem Bild des Tyrannen. In der Spannung der Demokratie und Tyrannis hatte sich das griechische politische Leben abgespielt, wie noch die berühmte platonische Schilderung der Folge der Verfassungsformen den Übergang von dem einen Extrem ins andere darstellt. Hier vollends hat sich im Leben der Demokratie die Rolle der Rhetorik ausgezeichnet. Und es war diese eine Zivilisationsform der griechischen Sprache und der griechischen Redekunst, die dann die römischen Urbs eroberte, bis die republikanische Geschichte Roms zu Ende ging und damit auch die Rhetorik ihre eigentliche Würde und ihre politische Nährkraft verlor. Das hat Tacitus in seinem berühmten Dialog >de oratoribus• dargestellt, wie es mit der wahren Funktion der Rhetorik vorbei war, als in der nach-Augusteischen Epoche das Kaisertum das römische Weltreich regierte. Die Erinnerung soll auf die wahre Aufgabe weisen, die sich in unserer technischen Welt mit den neuen Formen einer technisch ausgerüsteten Rhetorik stellt und die alle Verantwortlichkeit aller Verantwortlichen in Anspruch ninmlt. Man muß sich dieser unserer Herkunft bev,rußt sein, in der die Welt der Rhetorik einmal die tragende Form kultureller Überlieferung überhaupt war. Sie hat die artes liberales, die freien Künste der Spätantike ebenso umfaßt wie in den Händen der Kirche die christliche Schulkultur, und es war in der Epoche der humanistischen Wiederaufnahme des antiken Erbes, als sich dann die wissenschaftliche Aufklärung in der Neuzeit zu erheben begann. So springen wir jetzt gleichsam in die innere Kontinuität unserer europäischen Enrnricklung hinein, wenn wir mit dem 17. Jahrhundert unsere Betrachtung wieder aufnehmen. Hier beginnt die Zusammenfassung der Menschheit auf unserem Planeten, die im 17. Jahrhundert ihren Ausgang nahm und deren Vorbildfunktion so unendlich stark ist, daß sie noch heute bei jeder Gelegenheit mit völliger Unbefangenheit alle Maßstäbe beherrscht. Da kann mir noch heute in freundschaftlicher Absicht nachgesagt werden, man habe sich offenbar nicht genötigt gefiihlt, fiir Objektivität und erkenntnistheoretische Absicherung der Fundamente wissenschaftlicher Erkenntnis auf
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dem Gebiete der Geisteswissenschaften eine Lanze zu brechen. Was fiir eine Verkehrung aller Akzente. Als ob es dessen bedurft hätte, den Siegeslauf der modernen Wissenschaft und insbesondere der Naturforschung zu erkämpfen! Das war die große Eigenleistung des 17. und 18.Jahrhunderts gewesen, die auf Mathematik und Methodik gegründete Welterfahrung zum Siege zu fuhren. Aber es ist doch eine sonderbare Verkehrung, wenn man überhaupt nicht mehr glauben kann, daß es andere Formen der Erkenntnis gibt als die auf den Methodenbegriffbegründete Wahrheit, unter Eliminierung aller lebensweltlichen Erfahrung. Mit dieser Wissenschaftsgesinnung der allgemeingültigen Objektivität ist die neuzeitliche Aufklärung aufihren Weg gekommen. Sie hat durch die Anwendung der neuen Erkenntnis, die auf diesem Wege methodischer Naturforschung möglich wurde, eine neue Macht über viele Naturgegebenheiten und Kräfte errungen. Das hat in der Denkweise unserer Gegenwart zu einem beherrschenden Primat des Machbaren gegenüber dem Nichtmachbaren geftihrt, und es ist diese Denkweise, die die Gesellschaft mehr und mehr zu organisieren beginnt. Nun ist es gewiß nicht erst seit heute, daß sich in der extremen Zuspitzung der modernen Industriegesellschaft und der ihr zugrundeliegenden Wissenschaftskultur ein Wissen um die Einseitigkeit einer solcher Welthaltung zum Bewußtsein erhebt. Es ist vielmehr immer so gewesen, daß die Bedürfuisse einer Gesellschaft und der Völker auch kompensatorischen Kräften dort Raum gab, wo sich etwas in seiner Einseitigkeit verfestigt. So hat sich Hand in Hand mit der Entwicklung der modernen Wissenschaftlichkeit im Anschluß an die Tradition des Humanismus die französische Moralistik und ihre Gesellschaftskritik entwickelt, deren skeptische Kritik an dem Gesellschaftswesen Mensch bis in die Tiefen der Geheimnisse der menschlichen Seele hineinleuchtet. Auf diesem Wege hat sich nicht wenig von dem alten Erbe der metaphysischen und philosophischen Tradition des Abendlandes in die neue Wissenschaftskultur hinübergerettet. Im ganzen ist die gesamte neuere Geschichte ein langsames Zurückweichen dieser Erbschaft. Man erkennt es an dem Schwinden der Integrationskraft der christlichen Kirchen im Abendland. Man erkennt es vor allen Dingen, wenn wir auf die eigentümlichen Spannungen blicken, die sich im Leben der Menschheitskulturen zeigen, wenn sie mit der europäischen Wissenschaft und Technik in Berührung kommen. Da zeigt sich handgreiflich, wie die Bildungsgeschichte des abendländischen Menschentums, seine Entwicklung vom Alphabet bis zum Computer, der Wissenschaftskultur Europas Gestalt gegeben hat. Gleichzeitig müssen wir aber heute einsehen, daß das nicht mehr der Horizont ist, in den wir unsere Sorgen fiir die Zukunft der Menschheit und damit auch fiir die Rolle der tedmischen Möglichkeiten, die sie in die Hand bekommen hat, einschließen dürfen. Es geht heute um mehr. Es geht nicht mehr um die uns aus dem 19. Jahrhundert so wohlvertrauten Töne der Kulturkritik. Es geht vielmehr um die Disproportioniert-
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heit, die in das menschliche Zusammenleben eingedrungen ist, mit der das übermächtige Potential des Wissens und des Könnens in die Hand des Menschen geraten ist und einen Machtfaktor bildet, der alle Freiheiten des Lebens in der menschlichen Gesellschaft bedroht. Das sind eine Fülle neuer Aufgaben. Man denke an die Rolle der Atomenergie in unseren Zeiten, die nicht nur als eine Steigerung der Waffentechnik erscheint, sondern zugleich wird offenbar, daß überall, wo Waffentechnik der menschlich-politischen Kontrolle entgeht, mit dem Mißbrauch der Macht das Ende der politischen Freiheit verbunden ist. Es geht also nicht um Gegenaufklärung. Wir stehen mitten in einem nicht umkehrbaren Prozeß der Wissenschaft und der auf sie begründeten Technik. Wir verkennen keinen Augenblick die großartige Erleichterung, die ftir viele Lebensbedürfuisse der Menschen erbracht worden ist, und doch ist nicht zu leugnen, daß erst im technischen Zeitalter das Wort >Lebensqualität< geprägt werden konnte. Ein solches neues Wort verrät etwas. Wieder nutzen wir das Vordenken der Sprache, wie ich es tat, als ich über Masse und Medium sprach und über Kultur. Jetzt haben wir es mit dem Wort >Lebensqualität< zu tun, das wohl aus Amerika zu uns gekommen ist und über einen deutschen Bundesminister in den deutschen Sprachschatz der funfziger Jahre Eingang gefunden hat. Die Sorge um die Lebensqualität besagt, daß die Steigerung aller Möglichkeiten, die uns die Wissenschaft und Technik und Wirtschaft in die Hand geben, keine eindeutige Garantie im Sinne der Steigerung der Lebensqualität darstellt. Gewiß bedeutet aller Fortschritt in der Technik immer einen Freiheitsgewinn. Man denke nur an den Rausch, den ftir die heutige Jugend das erste eigene Auto bereitet. Der Führerschein ist an die Seite aller möglichen sakralen Einweihungen in das Erwachsenendasein getreten. Das soll man nicht mit einem warnenden oder mahnenden Beiklang versehen. Man muß aber sehen, wie sich mit diesem Freiheitsrausch des Autos ein Einsamkeits- und Zweisamkeitsrausch verbindet. Das Reisen istjedenfalls etwas völlig anderes geworden als es ehedem war, als es Menschen zusammenftihrte. Mit dem Auto hat Technik gewiß das Freiheitsgefiihl bis zum Rausch gesteigert. Aber ihm entspricht ebenso auch ein klarer Freiheitsverzicht. Man ist vom Funktionieren der neuen Maschinentechnik abhängig, wie sich von selbst versteht. Wer zu Fuß geht, kommt zwar langsam vorwärts. Aber je größer die Vermittlungen werden, wie das für den modernen Verkehr, etwa das Auto oder das Flugzeug und dergleichen der Fall ist, desto abhängiger werden wir von diesen Leistungen unserer Technik. Als der erste bedeutende Lehrer der Philosophie, dem ich begegnet bin, Paul Natorp, der Führer der Marburger Schule, während meiner Studienzeit für ein halbes Jahr, um Verwandte zu besuchen, nach Amerika fuhr, hat er mir vom Schiff einen begeisterten Brief geschrieben, wie die Sonnenuntergänge über dem Ozean waren. Das war fiir ihn eine mystische Erfahrung. Ich selber weiß inzwischen wahrlich zu schät-
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zen, was uns die Verkehrsdemokratie von heute an Weltüberblick ermöglicht, der besonders durch den Flugverkehr erreichbar geworden ist, und wie die Grenzen des modernen Nationalstaates und seiner politischen Bedeutung am Maßstab der Religion der Weltwirtschaft einer neuen Überprüfung entgegen gehen. Zugleich aber sehen wir die erschreckende Anonymität, die in das Leben gekommen ist. Der große Soziologe, wohl der größte Wissenschaftler, der mir in meinen Lebzeiten wie eine Riesengestalt immer vor Augen stand, gerade weil wir über ihn hinauszukommen versuchten, war Max Weber. Er hat die Entzauberung der Welt als Konsequenz der modernen Zivilisation gesehen und das herannahende Schicksal der Herrschaft der Bürokratie. Das scheint in der Tat ein unheimlicher Vorgang, der sich hier zu unseren Lebzeiten ständig zu steigern weiß. Selbst die produktivsten Neuerungen und fortschrittlichsten Leistungen unserer Zivilisation \verden immer wieder von der Erstarrung in der Bürokratie gefährdet, und das macht gewiß auch nicht vor den Massenmedien halt. Wie alle Einwirkungen auf die öffentliche Meinungsbildung ist auch die Einwirkung der Massenmedien fur das demokratische Zusammenleben der Menschen ein unentbehrlicher Faktor. Das haben wir wohl doch gelernt, daß niemals Macht ohne Kontrolle in die Hände eines Menschen gelegt werden darf, wie das in totalitären Regimen unvermeidlich geschieht. Soweit bleibt auch an der heutigen sogenannten repräsentativen Demokratie die Teilung der Gewalten ein unantastbares Prinzip. Sie garantiert ein gewisses Minimum an menschlicher Freiheit im gesellschaftlichen Leben. Aber wir müssen zugleich sehen, wie alle Einrichtungen und Bemühungen, die in der öffentlichen Meinungsbildung ansetzen und die in den Massenmedien ihre Aufgabe erkennen, einen Apparat unendlicher Vermittlungen und Verwicklungen in sich enthält, und damit ist die Unmittelbarkeit des spontanen Urteils und der spontanen Anrede immer wieder gefährdet. Wie etv.ra in den Vereinigten Staaten, das ja in vieler Hinsicht ein fortgeschrittenes Stadium der modernen Industriegesellschaft darstellt, Watergate aufgedeckt \VOrden ist, dafür fehlen uns bisher analoge große Beispiele, und gewiß nicht, weil es bei uns nichts aufzudecken gäbe, sondern weil die Medien nicht so mächtig von der öffentlichen Meinung getragen sind, daß die Aufdeckung durchschlägt. Wir sind eine sehr junge Demokratie, die in die Größenmaße der modernen Industriegesellschaft hineingeraten ist. So werden wir vieles in Kauf nehmen müssen, dem wir die rechten Kräfte aus Eigenem noch nicht entgegenzusetzen wissen. Die Anonymisierung des gesellschaftlichen Lebens, der immer größer werdende Mangel an Unmittelbarkeit, die Störungsanf.älligkeit, die man zu vermeiden sucht, und damit auch die Kritik, die zum Machnnittel im politischen Kampf verkommt, das sind alles Dinge, die wir mit in Kauf nehmen müssen. Aber das ist in Wahrheit mehr als nur ein institutioneller Mangel. Es geht um Menschenformung, die in dem gesamten gesellschaftlichen System geschieht. In ihm herrscht eine Privilegierung der Anpassungs-
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fähigkeit. Das ist überall das Besondere einer technischen Zivilisation. Es ist e~n Ri~senappa~at v~n Wirt~chaft ~nd Gesellschaft, in den der einzelne eingefugt w1rd. Gewtß wtssen w1r, daß Jeder Apparat, um mit ihm leben zu können, anderer Kräfte bedarf als der bloßen funktionalen Eignung. Immer wieder wird es geniale Konstrukteure geben oder weitblickende Organisatoren und unbequeme aber produktive Mitarbeiter, in der Wirtschaft wie in der Politik. Ohne daß immer neue Möglichkeiten ent\vickelt werden, können wir überhaupt nicht hoffen, dieses System zu überleben. Aber so kann man hoffen, und da man ein Rad nicht zurückdrehen kann, das die ganze Zivilisationsbewegung erst möglich macht, wird die Aufgabe immer deutlicher, die Kräfte des selbständigen Denkens und des eigenen Urteilens zu entwickeln, die in uns nicht fehlen, aber durch die Strukturen einer durchrationalisierten Gesellschaft bedroht sind. Dazu gehört, daß wir die Anpassungsqualitäten nicht allzu sehr privilegieren dürfen. Gewiß ist das ein Motor der Organisation und der Bürokratisierung selber, daß nur der, der sich in die Verwaltungsriten in allen gesellschaftlichen und wirtschaii:lichen Lebensvorgängen einpaßt, und sich so anpaßt, wird in dieser Massengesellschaft seine Wege finden können. Aber wenn das alles \Väre, was uns der Weg der modernen Zivilisation verheißt, so wäre es doch zu wenig. Es gibt noch anderes. ·was man nicht machen kann und was wir Kultur nannten, und das man auch durch die Massenmedien nicht et\va machen kann. Sie sind ja selber •Nieder technische Einrichtungen, die sich den gesellschaftlichen Bedürfnissen anzupassen suchen. Sie bringen das Schöpferische der Wissenschaft oder der Kunst oder der Wirtschaft, oder was immer, in einerneuen Form unter die Leute und müssen gewiß dabei viel abstreichen, '"·as die ursprüngliche Produktivität dieser Schöpfung meinte. In unserer Wissenschaftskultur selber wirkt es sich aus, daß all diese Formen von Kultur dem inneren Schrittgesetz der Wissenschaftskultur unserer Epoche ausgesetzt sind. Für das Leben der Dichtung, Religion, Kunst und was immer es ist, sind gewiß nicht die Wissenschaften zuständig. Die Wissenschaften von diesen Kulturschöpfungen können zwar unseren Erkenntniswillen und unsere Erkenntnismöglichkeiten befriedigen, so daß wir sie anerkennen und brauchen. Aber die Aufgabe beginnt erst, wenn wir fiir diese Dinge der Kunst, der Dichtung, der Religion, der Musik und was immer fiir Kulturschöpfungen es sind, lebendige Erfahrung ermöglichen, die nicht durch die Wissenschaft verwaltet, ausgew·ählt und präsentiert werden kann. Gerade hier aber liegt die Bedeutung der sogenannten Kultur. Nichts ist in einer so durchgeregelten Zivilisation so schwer geworden, wie Erfahrungen zu machen. Das prägt unser ganzes gesellschaftliches Leben. Es ist eine unvermeidliche Folge geregelter gesellschaftlicher Ordnung, daß das Sicherheitsbedürfrlis der Menschen ständig wächst. Wir haben es nach der Zerstörung unserer Städte unter den Bomben des Krieges und beim Wiederaufbau
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gesehen_ Der Aufbau begann mit den Versicherungsanstalten und den Banken und Sparkassen, aus ökonomischen Gründen, die sichjeder sofort an den Fingern abzählen kann. Aber dahinter steckt doch zugleich ein Symptom für eine ungeheuer fortschreitende Ausbreitung von Risikoscheu. Ich kenne es aus meiner eigenen Wissenschaft, wenn das eine ist, der Philosophie. Mit tödlicher Sicherheit werde ich, wenn es sich um Hermeneutik handelt, die die Kunst des Verstehens ist, gefragt, was das eigendiche Kriterium der Hermeneutik sei_ Es müsse doch ein Kriterium geben, ob eine Interpretation richtig sei oder nicht. Da stellt man sich am Ende doch so etwas wie eine Kontrollinstanz vor, die durch Messung, Wägung oder Rechnung Klarheit schaffen kann und einem versichert, es sei alles in Ordnung. Gestehen wir uns ein, daß es selbst auf diesem Gebiet irrig ist, so zu denken_ Dabei sind es gerade die lnhalte der sogenannten Geisteswissenschaften, die Kulturinhalte von Kunst und Religion, Recht und Geschichte, die in einer komfortabler werdenden Zivilisation neue Aufgaben bekommen, um das immer eintöniger werdende Arbeitsleben mit neuen Anregungen zu bereichern. Ja noch mehr: flir die Arbeitsproduktivität selbst bedarf es der Urteilsschulung und des Mutes zum eigenen Urteil. Das ist die andere Seite an den Massenmedien, daß es selbst fur sie nicht leicht ist, solche Kräfte zu stärken. Ich war einmal Mitglied eines Rundfunkrates und habe mich von der Ohnmacht meiner Funktion bald überzeugen können, und zwar nicht, weiljemand Böses einem keine Einwirkung erlaubte, sondern weil die Dinge alle ihre bestimmten Regeln haben. Da rechnet man einem die Einschaltquoten und dergleichen vor, als ob das alles genau kalkuliert wäre, und nun stelle man sich die Zukunft der Herrschaft des Computers vor. Da werden nicht nur die Einschaltquoten beim Fernsehen besser kontrollierbar werden, sondern noch ganz andere Bereiche des sozialen Lebens, die der Messung, Zählung und Wägung und damit dem Gesetz der Quantität unterworfen werden. Gewiß wird man sich immer bemühen, wie es die heutigen Massenmedien auch tun, Gegeninformationen zu geben. Das ist selbstverständlich die Mission aller an der öffentlichen Meinungsbildung Tätigen. Aber die Gegenkräfte sind ebenso klar. Und daß etwa die Einschaltquotenregelung der Stärkung des Urteils aller zugute kommt, wird gewiß niemand behaupten. Wenn ich zum Schluß meiner Ausfiihrungen auch auf meine eigene philosophische Arbeit Bezug nehme und von der sogenannten Hermeneutik, einer philosophischen Durchdringung der Phänomene des Verstehens, sprach, so geschah das, weil auch das mit unserem Thema sehr eng zusammenhängt. Wie es Verstehen zwischen Menschen im Umgang miteinander gibt, ohne daß es Gewißheiten und Sicherheiten gibt, daß man richtig versteht, so ist es auch mit den Vergangenheiten, aus denen sich heraus unser eigenes menschliches Selbstverständnis immer wieder bereichert. Alle Lebenserfahrung reichert sich dadurch an, daß wir das Unerwartete, nicht Kalkulierte, Unbere-
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chenbare, kurz das Andere zu verstehen aufgefordert werden. Nur so kann man aus Erfahrung lernen. Es ist aber schwer geworden, Erfahrungen zu machen, weil sich das Sicherheitsverlangen, die Versicherung im weitesten Sinne dieses Wortes, und die Vermeidung des Risikos als eine selbstverständliche Forderung an den Daseinsapparat des öffentlichen Lebens immer stärker durchsetzt. Auch durch die reine Quantität der Informationsmassen, die an uns gelangen, wird es immer schwerer, aus den Informationsangeboten vernünftig auszuwählen. Langsam wird vielleicht eine Phase der Liberalisierung in die Massenmedien und insbesondere in das Fernsehen kommen. Aber immer wird sich ein ökonomischer Automatismus nie ganz verleugnen lassen, der sich als eine Hemmung erweist, und erst recht bequeme Anpassung, so daß freimütige Abweichungen von dem öffentlich Geredeten nur schwer in Sachlichkeit ausgetragen werden können. Genau darin aber müssen wir versuchen vorwärtszukommen. Es sollte die Aufgabe unserer Besinnung über die Kultur und die Massenmedien sein, daß wir uns erneut erinnern, daß Kultur nicht nur eine bloße Einrichtung ist, sondern der Pflege bedarf. Was Kultivierung ist und der Pflege bedarf, das ist, die Freiheit zum eigenen Urteil zu lernen. Das erst rechtfertigt überhaupt, daß wir Kraft und Geld und Mühe und Arbeit an die Fortschritte in der Vervollkonunnung unserer Zivilisationsapparate wenden. Unser Leben muß zu einem besseren Gleichgewicht von Freiheit und Regelung finden. Sonst steht uns ein erstarrtes Leben bevor. Die in Europa entstandene Wissenschaftskultur, in der die Anwendung der Wissenschaften auf die natürliche Umwelt wie auf die soziale Welt uns langsam den Atem benimmt, steht vor der Begegnung mit anderen Kulturtraditionen. Was wird durch solche Herausforderung geweckt werden? Was wird vielleicht auch bei uns geweckt werden? Kultivierung menschlicher Kräfte- neben dem Stolz des Machens?
15. Kunst und ihre Kreise (1989)
Wir leben in einer Epoche hochgezüchteter weltumspannender Organisation. Die Verkehrstechnik und die Nachrichtentechnik haben Dinge, die für frühere Kulturepochen und Kulturkreise prägend waren, fast zur Bedeutungslosigkeit herabgesetzt. Die Allgegenwart des Fernen gehört zum modernen Verkehrswesen, und die Religion der Welt\virtschaft breitet sich zusehends mehr bei aller Verschiedenheit der Religionen, Sitten und Sozialordnungen unter den Völkern dieser Erde aus. Sie stellt in Politik und Kultur einen immer stärker bestimmenden Faktor dar. GeV\.iß besteht die geschonte Landschaft fort, und auch die zersiedelte und dem modernen Erwerbsleben aufgeschlossene Umwelt behält etwas von ihrer landschaftlichen Herkunft. von ihrer Iandsmannschaftlichen Einfärbung und zuweilen etwas von ihren alten Familientraditionen und von altstädtischem Bürgersinn, der sich in der Kette der Generationen fortsetzt und neu belebt. So ist es zwar ein künstliches Wort, wenn wir etwa von einem Kunstkreis sprechen, aber dieses künsdiche Wort spricht eine natürliche Gegebenheit noch immer aus. Gewiß, es ist nicht mehr die große Landschaft etwa Flanderns, in den erstaunlichen Jahrzehnten und Jahrhunderten, in denen die holländische Malerei eine Dichte der schöpferischen Kräfte und der bewundernd folgenden Bürgerschaft erreicht hat. wie wir sie uns heute kaum noch vorstellen können. Was wir als die reiche Ernte holländischer Malerei kennen, vor allem etwa die Landschaft, das Genrebild, das Stilleben, gelten der Feier dieser Früchte des Landes und der Welt. All das verdankte sich der einzigartigen Handelsblüte und Seefahrerkühnheit der befreiten Niederlande. Von ihrer künstlerischen, malerischen Schöpfungen besitzen wir nur einen versch\vindenden Teil, der uns dennoch überreich beschenkt. Gev.·iß, auch das war beginnende Weltwirtschaft, \velche die ökonomischen Bedingungen fur eine solche Blüte herbeiführte. Ebenso sind heute diese, ·wie so viele Dinge des naturhaft Gegebenen, durch das technische Können überformt und umgewandelt, und es besteht auf dem Gebiete des kulturellen Schaffens eine weltweite Abhängigkeit von den ökonomischen Umständen der Länder oder ihrer Finanzplätze. Das gilt nicht zuletzt fur die bildenden Künste, deren Mobilität ohnehin
Kunst und ihre Kreise
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um so vieles geringer ist als die der literarischen Künste oder der Musik. Universitätsstädte sind von Studentenmassen durchflutet, mehr noch von Touristenströmen überschwemmt, die das heimische Kolorit einer Stadt fast unkenntlich machen und auf ihre Weise einen enormen Sog ausüben. Die Verflechtungen der modernen Weltwirtschaft sind überall spürbar. Da ist nicht mehr der Mäzen, dem beruflicher und wirtschaftlicher Erfolg Förderung heimischer Künstler gestattet. Seine Rolle ist mehr und mehr auf den internationalen Kunsthandel übergegangen. Wie unser Wirtschafts- und Finanzwesen auf abstrakteste Weisen den Erdball fast zur Gleichzeitigkeit und Allgegenwart umgestaltet hat, so ist auch die ·wirtschaftliche Macht des Kunsthandels auf das Kunstschaffen, auf das Leben der Künstler und auf die Gefolgschaft der Schaffenden von steigendem und oft lähmendem Einfluß. Das, was früher den Lebenskreis von Schaffenden und an ihnen Teilnehmenden durch alle Bereiche des Gesellschaftslebens hindurch belebte, das ist heute durch abstrakte Verlagerungen. wie etwa die Finanzströme oder die industrielle Expansion beherrscht, die den ganzen Erdball verändern. Insofern hat das natürliche Verhältnis zwischen dem Schaffenden und dem Aufnehmenden an unmittelbarer Lebensdichtigkeit verloren. Das geschieht in einer Epoche, in der auch der schaffende Künstler selber in einer fast namenlos gewordenen Gemeinschaft der Kunst-Schaffenden seine Anregungen gewinnt, seinen Geschmack bildet und seine Schöpfungen auf die Probe stellt. Es ist auch nicht mehr wie in vergangeneo Zeiten, als große gemeinsame Inhalte der Gesellschaft Religionen, nationale Solidaritäten und herrschende Sitten- oder Srilgesetzlichkeiten dem Schaffen der Künstler Weisung gaben auch wenn sie sich dessen nicht ausdrücklich bewußt zu sein brauchten. Der Auftraggeber ist im Schaffen der bildenden Kunst der relativ seltene Fall geworden. Noch seltener ist es, daß die Öffentlichkeit mit dem Schaffenden etwas wie eine geistige Gemeinschaft bildet. Sov.·eit so etwas besteht, ist das zumeist anonym geworden, und erst recht gilt das fur die Gesellschaft im Ganzen. Sie ist durch die öffentlichen Nachrichtenmittel beherrscht und damit im Bereiche der Kunst durch die Rolle, die der Kritiker im Verein mit dem Experten und den kulturfordernden Institutionen der Gegenwart spielen. Das kann an der Kunst selber nicht ohne Spuren bleiben. So fehlt gewißlich im heurigen Kunstschaffen der breite Nährboden eines äffendich gepflegten Lebensstiles und Geschmacks. Der Künstler ist ins Experimentelle gedrängt. je weniger verpflichtende Traditionen Leitung geben. Er scheint ganz auf sich angewiesen. Vereinzelt und auf sich gestellt sind die Mitglieder solcher Kunstkreise, sowohl die Künstlerschaft der Region, die sich noch zusammengehörig glauben mag, als auch erst recht die Kreise derer, die diesem oder jenem Künstler, in dieser oder jener Art des Schaffens, Gefolgschaft leisten. Dazu kommt noch ein ganz anderer Aspekt, der im Zeitalter der Reproduzierbarkeit hinzugekommen ist. Ich zitiere Walter Benjamin, dessen Blick ich
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bewundere, ohne seine Folgerungen annehmen zu können. Ich sehe die Tatsachen: Die Mobilität unserer Zeit erfaßt alle Kulturtraditionen von ehedem, die sich Dauer gaben und in denen sich Dauer erhielt. Das fuhrt zu einem chaotischen Spektrum und zu unüberwindlichem Abstand Z\\'ischen dem am Kunstleben Teilnehmenden. Daß veränderte Lebensformen wachsende Verfremdung im Schaffen gegenwärtiger Künstler zur Folge haben, kann man gewiß einsehen. Wo Riesen-Bauten, enorme Fabrikhallen und Zwingburgen der alles beherrschenden Bürokratie, von donnernden Verkehrsströmen umbraust, uns umdrängen, bildet sich nicht leicht ein gemeinsamer Geist und ein übereinstimmender Geschmack, die Kunstschaffen und Aufuahme von Kunst leiten könnten. Gleichwohl gibt es den Liebhaber und auch die Kreise von Liebhabern, die sich um die Schaffenden und ihre kulturellen Leistungen bilden. Vielleicht ist das mehr, als in den durch die öffentlichen Nachrichtenmittel stärker bestimmten Großzentren des Kulturbetriebs, gerade in den sogenannten Kulturkreisen der Fall, die sich als echte Lebenskreise naturgegebener Art bilden und erhalten. Denn da gibt es das Bedürfnis nach Gegenseitigkeit, nach Austausch zwischen Schaffenden und Aufuehmenden und findet Erfullung. Bemerkenswerterweise gibt es das seit langem weniger in den großen Wirtschaftszentren als an ihren Rändern. Künstler haben in den sogenannten Künstlerkolonien im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte immer mehr ihre eigene Randstellung in der Gesellschaft bekannt, und durch die Abwanderung in solche Randzonen des Massendaseins haben sie dieselben zu Kulturlandschaften erhoben. Die bildende Kunst, von der hier die Rede ist, steht in einer besonders engen Beziehung zu den Veränderungen vieler Lebensformen. So dringt heute in die anonym gewordene Öffentlichkeit, was früher in den Palästen weltlicher und geistlicher Art sich zu sammeln und zu organisieren pflegte. Auf unseren öffentlichen Plätzen gewinnt die Plastik erneut Ansehen, und vielleicht mehr denn je einen Ausdruckswert, und verleiht teils mit Befremdung, teils mit langsamer sicherer Eingewöhnung dem heutigen Leben seine Akzente. Dagegen verlangen die Malerei und Graphik, diese beweglicheren unter den bildenden Künsten, den Innenraum, verlangen auf der einen Seite den dekorativen Rahmen und bieten ihrerseits die dekorative Wirkung ihrer künstlerischen Schöpfung an. Auf der anderen Seite bleibt das Menschheitsgedächtnis von der Vielfalt seiner sich ständig mehrenden Erinnerungen und Begegnungen weitgehend beherrscht und pflegt gegenständliche Interessen. Man denke an das öffentliche Repräsentationsbild, an das Portrait, an alle um Tradition bemühten Lebenselemente in unserer Gesellschaft, an geschichtliche Erinnerungen, politische Erinnerungen, Familienerinnerungen, Jugenderinnerungen, kurz, an das ganze Reich der Mnemosyne, das auch unserer Literatur und Kunst immer wieder kunstfremde Gesichtspunkten entgegen-
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setzt. Dazu gehören die Raum- und Wohnbedingungen unseres bürgerlichen Lebensstils, der Druck von Wirtschafts- und Repräsentationsbedürfuissen, denen künstlerische ldeen, etwa in öffentlichen Bauvorhaben, so oft zum Opfer fallen. Es bleibt unter diesen Umständen erstaunlich, in welchem Grade der schaffende Künstler noch immer seine Gemeinde bildet und vor allem auch dort, wo weder die öffentliche Meinung, noch die Interessen gesellschaftlicher Organisationen nach kultureller Darstellung verlangen. Gerade auch im intimen Umkreis von Wohnräumen und bescheidenen Wohngestaltungen beweist so etwas wie Vorliebe und eigenes Urteil ihre unzerstörlichen Kräfte. Da hängen in jedem Haus nicht nur Reproduktionen, diese neue große Ausweitung unseres Gedächtnisses und diese neue Angleichung aller an das jeweils im Reproduktionsfelde Modischen und Verbreiteten. Aber es gibt Gegenwirkungen gegen die gleichmachenden Wirkungen unserer heutigen durch die Technik beherrschten Lebenszusammenhänge. So beginnen wir, das Original gegenüber der Reproduktion mit einer neuen Intensität zu spüren. Das, was den Künstler nötigt, nicht nur gegenüber anderen zeitgenössischen Schöpfungen, sondern auch angesichts einer uns ständig umschäumenden Reproduktionsflut an seinen eigenen künstlerischen Ideen festzuhalten, bildet die neue Sprache, in der von Jahrzehnt zu Jahrzehnt das sich ändernde Leben und der Geschmack einer Gesellschaft sich gewandelten Ausdruck geben. Das verleiht den gewachsenen Gesellschaften in landschaftlichem Umkreis oder im gewerblich-städtischen Umkreis eine eigentümliche Solidarität. Man sollte nicht der Originalitätssucht allzu große Bedeutung zusprechen, die sich etwa durch die Kunstkritik und Kunstpolitik unserer Zeit mit Hilfe der Massenmedien in die Gemüter einhämmert. In Wahrheit geht noch immer, ja vielleicht in einer neuen bewußteren Weise, ein Bildungsvorgang seinen Weg, der gewiß durch die öffentlichen Sammlungen und Erziehungseinflüsse und Schuleinflüsse aller Art und die Nachrichtenmittel ständig neue Impulse empfängt. Aber es scheint so, als ob sich im menschlichen Leben die Spontaneität der eigenen Wahl immer \Vi.eder durchsetzt. Nicht nur im Handel und Wandel, in der Wahl seiner Freunde und der Nahestehenden, gerade auch in der Wahl seiner Vorlieben zeigt sich das, wie sie eine private Bücherei zu spiegeln vermag und wie sie zwar nicht mehr eine Galerie oder eine große Sammlung, aber doch immer Wohn- oder Arbeitsraum durch ein paar Stücke zeitgenössischen Schaffens zur Wirkung zu bringen weiß. Auch ein durch allzu viele Regelungen und notwendige Anpassungen an ein gesellschaftliches Gesamtgeschehen geleitetes Leben erfährt immer wieder die Spannung zwischen dem Gewohnten und dem Ungewohnten. Man denke nur an das Anwachsen der Besucherzahlen in den Museen und Ausstellungen, und vielleicht noch erstaunlicher (trotz aller ökonomischen Aspekte dieses Vorgangs) die Reiselust und ihre Organisation im Massentourismus. Das sind selber wieder zur Gewohnheit werdende Institutionen, das Ungewohnte
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und das Ungewöhnliche zu suchen. Aber auch hier gibt es Gegenwirkungen und Kontrastbildungen, die zwischen dem Wohnen und dem Gewohnten, dem Fremden und dem Anderen spielen. Im Grunde ist die Erfahrung der Kunst für jedermann nicht das Gewohnte, sondern eine Öffnung für das Ungewohnte, in das man sich einzulassen, ja einzuleben versucht sieht. Wie es durch den bildnerischen Trieb der Künstler zu immer neuen Versuchen und Vollendungen nötigt, so ist auch der Liebhaber, und selbst dort, wo er Kenner wird, am Ende inuner wieder dem Neuen, dem Ungewöhnlichen geöffuet, das einem fordernd begegnet und auf das man entgegnen muß. So bildet sich eine ständige Wechselwirkung des Schaffens und des Aufuehmens in allen Maßstäben unserer Lebenskreise. Und vielleicht bleibt es am Ende wahr, daß alles Gemachte und Gekonnte, alle Perfektion der Organisation, der Kunstpflege und Kunstkritik, im Schaffenden wie im Aufnehmenden entspringen. Das sind die wahren Kräfte, aus denen sich Kunstkreise bilden und im Geben und im Nehmen leben.
16. Kunst und Kosmologie (1990)
Man kann nicht sagen, daß die Kunst hier neben all den anderen Kulturinhalten eine ausgezeichnete Form der Selbstbegegnung des Menschen mit sich selbst war, sondern eine unter ihnen. Etwas anderes war es dagegen mit der Phänomenologie. Dieses Wort ist noch heute als ein international anerkannter Sammelbegriff fiir die Bewegung der Philosophie in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts ganz entschieden festzuhalten. Die Phänomenologie, von Edmund Husserl begründet, präsentiert auch durch Max Scheler und andere bedeutende Vertreter dieser philosophischen Richtung, zu der dann eben auch Heidegger als der geniale Jünger oder Schüler von Husserl trat. Was war das besondere dieser Schule? Sie war erklärtermaßen auch ein Abschied von dem Faktum der Wissenschaft. Nicht als ob die Wissenschaft nicht ihren eigenen Rang und ihre eigene Autonomie besäße. Aber die Philosophie muß auch in den Augen der Phänomenologie die apriorischen Strukturen und die philosophischen Gesetzmäßigkeiten unseres In-Der-Welt-Seins aus der Praxis des Lebens herausheben und auf den Begriff bringen. Dafiir hat Husserl ein Wort eingefiihrt, das in der Welt so ähnlich Karriere gemacht hat wie andere deutsche Ausdrücke aus dem Bereich der philosophischen Begriffe. Ich nenne als Beispiel zunächst das Wort >Weltanschauung<. Das kam etwa in der Mitte des 19tenJahrhunderts auf, als die epigonenhaft gewordene Philosophie nicht mehr das Bedürfuis des Menschen nach Antwort oder Anleitung zu den letzten Fragen der Menschheit zu befriedigen vermochte - da kam das Wort ., Weltanschauung<• auf. Husserl fand nun in einer sehr pointierten Weise einen ebenfalls Gemeingut gewordenen Ausdruck. Er nannte es die >Lebens\velt•. Ich erinnere mich, wie Jean Hyppolite, ein französischer Denker nach dem Kriege seine Begeisterung für diesen Ausdruck aussprach. Und in der Tat ist auch in dessen Findung wie in dem Begriff >Weltanschauung< der Sprachgeist selber produktiv. Die Lebenswelt ist die Welt, \vie sie im Alltag erscheint. Nicht eine Physiologie der Sinneswahrnehmung oder eine Physik und Mechanik der Empfindungen oder eine enzyklopädische Konstruktion der psychologischen oder sonstigen anthropologischen Wissenschaftsgrundlagen, sondern wie sie uns in unseremjeweiligen Erfahrungsbereich begegnet, gilt es Grundstrukturen und wesentliche Züge aufZuweisen. Bei Husserl fehlte frei-
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lieh die Beziehung zur Kunst auch fast ganz. Ich erinnere mich eines Gespräches mit ihm, in dem ich als junger Doktor in Freiburg war, und ihn nach irgend etwas fragte, und er sagte: »Ach ja, Herr Doktor, ich habe auch Freude an Theater und Musik, aber ich muß erst die Phänomenologie voUenden.« Nun, Heidegger bedeutete in dieser phänomenologischen Schule natürlich überhaupt eine neue Wendung- und so auch eine Wendung zur Kunst durch seinen berühmt gewordenen Aufsatz über das Kunstwerk, in dem man zwar die Spuren seines politischen Engagements durchaus noch zu erkennen vermag, aber doch auch seine gewaltige Denkkraft, die weit über all das hinausreichte, wo hinein er sich in seinem unglücklichen politischen Engagement verstrickt hat. Von da ist schließlich auch mein eigener Ansatz inspiriert worden. Was man Hermeneutik nennt, ist von Heidegger über Schleiermacher und Dilthey schon in >Sein und Zeit< aufgegriffen worden und ist mir in Heidegger begegnet. Für mich ist es zur Hauptsache geworden, indem ich in der hermeneutischen Wendung die heideggersche Kehre des Denkens ganz auf das Problem der Sprache konzentrierte und das Denken hat auf die Sprache zu hören. Unsere Sprache hat bereits eine durch die Jahrhunderte und Jahrtausende angesammelte Denkspeicherung fiir uns bereitgestellt. Und wenn wir Sprache so ansehen wie es etwa die Dichter tun, die jedes abgegriffene Wort durch seinen SteUenwert in einem Klang- und Bedeutungsgeftige zu neuer Aussagekraft erwecken, dann hat auch die Philosophie im Leben mit der Sprache Anschauungskraft und Erft.illung des Gedankens zu wecken gelernt. Ich gebe ein Beispiel, was der Dichter tut. Das ist ein Vers von Stefan George, der mir hier an der >Waterkant< besonders passend ist: »das Geräusch der ungeheuren See<•. Wer hat schon früher bei Geräusch an Rauschen gedacht? Wenn man diesen Vers liest, sieht man plötzlich, daß >Geräusch< das uns umhaUende Rauschen ist. Nun, in dieser Weise ist Heidegger zunehmend der Sprache gefolgt, oft gegen die Texte, mit Gewalrsarnkeit. Ich habe ihm auf diesem Wege gar nicht folgen können. Ich bin vielmehr klassischer Philologe geworden, um das Griechische so weit zu meistern, daß ich nur den wirklichen Sprachgeist, der in der griechischen Sprache erstmals uns zur Sprache der Philosophie, also zur Begriffisprache geführt hat, nun zur Erneuerung unseres eigenen Sprachgebrauchs und unserer eigenen Begriffswelt einzusetzen lernte. Auch darin war mir Heidegger vorausgegangen, aber ich hoffe, einige bleibende Beiträge dazu zustande gebracht zu haben. Es geht um das Wort. Am Ende wird unsere Frage, unser Thema nicht ganz daran vorbeigehen können, was das Geheimnis des Wortes ist. Das Wort, nicht nur die Vokabel, nicht nur dieses grammatische Element dessen, was man einander sagt. Das Wort ist vielmehr das Verbum, im Sinne des klassischen, neutestamentlichen Begriffes, des Logos, der in die Welt gekommen ist, wie das neue Testament im Johannesevangelium. Damit ist das Wort für uns zugleich noch etwas anderes, als was wir sonst in anderem Gebrauch von
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Logos und Verbum kennen. Wir werden uns fragen, warum das Wort für unser Thema eine solche Bedeutung gewinnt. Da ist zunächst das Wort Kosmologie. Gewiß, es ist klar, diesen Ausdruck gebrauchen wir alle. Er ist schon älter, er ist ein humanistischer wohlbekannter Ausdruck und hat natürlich griechische Wurzeln. Kosmos heißt eigentlich der >Schmuck<, das >Dekor<, das >Geordnete< und durch sein Geordnet-Sein Dekorative. Von da aus hat sich der Übergang auf den ganzen geordneten Sternenhimmel und die von ihm umschlossene Erde vollzogen und unseren Standort. Kosmologie hat also mit einer solchen nun buchstäblich weltumspannenden Ordnung zu tun. Das ist die Ordnung- gewiß- zu der alle Kulturen aufgesehen haben. Wir wissen ja heute viel von diesen urti.imlichen Sternwarten, die aufirischem oder schottischem Boden oder sonstwo aus unbestimmbar alten Jahrtausenden, von denen uns keine andere Überlieferung erreicht, entdeckt werden. Es ist klar, daß der Sternenhirrunel von je her beobachtet wurde und Grundorientierung in sehr vielen menschlichen Lebenslagen anbot. Kosmologie hat es mit dieser wunderbaren Ordnung zu tun, die wegen ihrer vorbildlichen Genauigkeit Wissen erlaubte. Sie war sichtbare Mathematik, sichtbare und nicht hörbare Musik. All das ist ja fiir die griechischen Anfänge der astronomischen Erkenntnis das Planetensystem gewesen und seine Abstände voneinander. Es wurde alles noch bis in das hohe Mittelalter hinein unter dem Titel musica bezeichnet und nicht als astronom{a, \\i.e wir heute sagen. Die eine Seite des Wortes Kosmologie meint also Ordnung und die andere Seite ist >Wissen< um Ordnung. Wie wir alle anderen Ausdrücke ja auch gebrauchen- Philologie und Theologie usw. -,so auch Kosmologie. Aber, es ist wohl nicht nur das, was flir uns in dem BegriffKosmologie anklingt. Diese umfassende Ordnungsgesetzlichkeit ist sozusagen von vorneherein erlebt, als das >woran< wir überhaupt Orientierung und unsere eigene Ordnung nehmen. So wie z. B. die Abfolge der Jahreszeiten, die uns begegnet in der Sommersonnenwende, die wir jetzt schon hinter uns haben und der Wintersonnenwende, der wir jetzt wieder entgegengehen. So ist der Lauf der Jahreszeiten und der Lauf der Tageszeiten durch den Sonnenlauf gegeben und all das ist flir uns ganz selbstverständlich, daß diese Kosmologie eine Art von Ordnungerfahrung ftir uns darstellt, in der der Mensch sich orientiert. Wenn wir von dieser Tatsache ausgehen, dann kann man ermessen, was es bedeutet hat, als schließlich in der beginnenden Neuzeit die kopernikanische Welterklärung die Wende brachte, von deran-ich glaube Nietzsche hat es gesagt oder schon Pascal, beide haben es ungefahr ähnlich gesagt- der Mensch ins All fällt. Ihm geht sozusagen der Boden unter den Füßen weg. Die Ordnung, die er kannte, war das geozentrische Weltbild und damit auch das anthropozentrische Erlebnis von Ordnung. Von dieser ersten Einleitungsüberlegung aus meldet sich nun schon an, daß das Kunstwerk fiir uns eine Erinnerung an die vergangene Orientierung an
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der Vorbildlichkeit der Weltordnung zugefallen ist. Es ist ja wohl kein Z weifeI, daß sich in jedem Kunstwerk Welt darstellt, in jedem Werk, das durch seine bloße Erscheinung unsere Aufmerksamkeit so auf sich zu zieht, daß wir uns selbst darin begegnen. Ich hatte das schon aus Jaspers zitiert, daß das der Sinn des Chiffreniesens ist. Wenn ,-..,ir ein Werk der Kunst >entziffern<, gebrauchen wir ganz andere, unsere eigenen Begriffe, um zu beschreiben, daß hier etwas sich selber aussagt und darstellt, oder- mit Goethe zu sprechen- »SO wahr, so seiend<• ist. Es ist ein Banause, wer da etwa fragt, ob es dort wirklich so aussieht, wie Cesane es als Landschaft gemalt hat, und es wäre ein noch viel schlimmerer Banause, wenn man etwa die Landschaft fotografiert, in der ein großer Dichter gelebt hat, damit man seine Dichtungen besser versteht. Da wäre nichts >wahr< und >seiend<. Im Bilde oder im Gedicht ist es auf einmal so, daß \vir mit einem anderen Ganzen, einem Kosmos zu tun haben, auf dessen Suche wir sind und wobei uns doch wohl nichts anderes so vorbildlich ist, wie das, was in dem Kunstwerk zu uns spricht. Aristoteles hat gesagt, daß es zum Wesen des Schönen gehört, daß man nichts hinzutun darf und nichts wegnehmen kann, ohne das Ganze zu zerstören. Das ist natürlich cum grano salis richtig. Es ist ein eigenes interessantes Problem, bis zu welchem Grade das gilt. Es gibt bekanntlich in Texten verschiedene Lesearten -ja, auch schwer beschädigte Statuen zeigen das Ganze an, und sogar heutige Künstler können Fragmente schaffen, z. B. Kopf ohne Körper. Aber das zeigt nur um so mehr, welche inneren Bindungskräfte da sein können und da sein müssen, damit man selbst ein Fragn1ent als ein Ganzes erfihrt. Im Denken der Griechen war die Kosmologie ein selbstverständlicher Teil der Metaphysik und wenn man die Bedeutung der Begriffe der Ordnung in unserem Denken erwägen soll, kann man gar nicht anders, als sich daran zu erinnern, wie Platon in seinem großen Gedankenwerk einen wahren Kosmos der Kosmoi vor uns errichtet hat, eine Ordnung von Ordnungen. Da ist das Ordnungsgefüge der Polis, der Stadtgemeinschaft, in der sich das politische Leben fur die Griechen abspielte. Ich denke daran, wie dieser so geordneten und zur Einheit zusammengefaßten Stadtgemeinschaft die Ordnung der menschlichen Seele entspricht. Das ist die große Idee in Platos berühmtem Buch über den idealen Staat, daß sich Seele und Staat, die großen Maße der Stadtgemeinschaft und die geheimnisvollen Ordnungs- und Unordnungskräfte in der menschlichen Seele einander erhellen. So wie für jeden, der verantwortlich denkt, der Bürgerkrieg der schrecklichste unter allen Kriegsschrecken der Menschheit ist. Denn der Bürgerkrieg geht selbst durch die Familien hindurch und zerstört eine gewachsene Lebenseinheit- auf Zeit wenigstens - fürchterlich. Und \\·er kennt nicht den Bürgerkrieg in der eigenen Seele? Wer kennt nicht die Spannungen zwischen Drang und Geist, die Spannungen zwischen blinder Leidenschaft und festem, bewußtem Wollen? Wer kennt nicht das Ganze dieses seelischen Gebildes, das uns erst, wenn \vir es wie ein bürgerkriegfreies, geordnet und einander im
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Spiele entsprechend wirklich leben lassen, erlaubt, sehen zu lassen, was ist und denken zu können, was man denkend erkennen und bewundern kann. Auch solche Leidenschaft des Menschen gibt es, die nicht immer nur eine Angst vor dem Ende ist. Die deutliche Leidenschaft des Menschen hängt wahrlich auch von dieser inneren Ordnung ab. Denn - das 'Nissen wir ja alle nur zu gut- wie sich im Leiblichen alles niederschlägt. Die Konzentration auf einen Gedanken ist so leicht durch den Schmerz behindert - \\rie auch jetzt meine alten Knie mir Schwierigkeiten bereiten, wenn ich hier eine Meditation durchführen soll. Die große Vision vom idealen Staat und idealer Seele findet bei Plato eben im Blick auf den Kosmos seine Erhellung. Die bewundernde Leidenschaft des Menschen kennt aber kaum eine stärkere Ordnungserfahrung als den Sternenhimmel. So hat das antike astronomische Weltbild, das wir nach Ptolemaeus nennen- in Wahrheit die Spätform antiker Astronomie- durch das ganze Mittelalter hindurch gegolten, und dieser auf den Menschen zentrierte Gedanke der Ordnung hat sich dann im christlichen Mittelalter als die Schöpfungsordnung >Welt•, wenn man so sagen darf, auf naive, wissenschaftlich ganz anspruchslose, aber um so mehr menschlich begreifliche Weise niedergeschlagen. Man denke an das erste Kapitel des alten Testaments, wie sich, nach jedem Schöpfungstage, das gleiche Wort immer wieder wiederholt. Der Schöpfer sah auf seine Schöpfung und siehe, alles war gut. So war die Ordnungerfahrung, die uns in der Schöpfungsordnung durch das alte Testament und die Offenbarungsschriften vermittelt wurde. Aber was ist Kosmologie heute? Nicht nur, daß Gallilei, wie man weiß, einen schweren Kampf mit einem Aristoteliker zu führen hatte und wenn er ihn bewegen wollte, durch ein Fernglas zu sehen, unterlegen war. Das \Var ftir antikes Denken bereits eine Störung ftir das Zusammen von Mensch und Welt. Die Ordnung war gestört, wenn man mit künstlichem Heranholen des Fernen die naturgegebenen Orientierungsdistanzen mißachtete. Goethe \Var bekanntlich ein Mensch, der es nicht einmal vertragen konnte, wennjemand eine Brille aufhatte. Dadurch schon ftihlte er natürliche Zuw·endung zu dem Partner, mit dem er sprach, wie durch eine Barrikade getrennt. Das geozentrische Weltbild entspricht ja noch heute mit jedem Sonnentag der Wahrnehmung in unserer Lebenswelt. Das antike System der Astronomie entsprach im ganzen unserer Weltorientierung. Selbst das Wort >System•, das ist ursprünglich ein astronomischer Begriff, der auf die Musik der Saiten und der Sternenbahnen seine Anwendung hatte. Allenfalls '.var er auch noch auf das organische Wesen, aufPflanze und Tier, zu beziehen. Aber daß es Systeme der Philosophie geben mußte, bezeugte erst der riefe Zwiespalt der Moderne. Denn das ist der entscheidende Schritt, der uns von der antiken Weltenharmonie trennt. Die Welt der Wissenschaft, die der kopernikanischen Astronomie durch Galilei und seine Nachfolger zum Siege verhilft, zerstörte diese natürli-
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ehe Ordnungserfahrung, die fiir die Antike selber Wissenschaft war. Das bedeutet ein gewaltiges Ereignis und ist unwiderrufbar ein Schritt, der unter dem Zeichen der Methodenstrenge das Wissbare zum Beherrschbaren erhob und die Umgestaltung der Natur zum Material der Technik einrichtete. Damit wurde aber das Vorbild von Ordnung, das der Sternenlauf darstellte, mit dem sublunaren Naturgeschehen zu einer neuen Einheit zusammengeschlossen. Das vollendete sich in der newtonseben Physik und ihrer Umsetzung in den KraftbegritE Wir können es in Deutschland sehr gut an Herder studieren. Newton war der Mann, der in der Gravitationphysik die Himmelsphysik und die Erdphysik entgültig vereinte. Galilei hatte die ersten Schritte getan. Aber erst durch die Gravitationstheorie ist die Gemeinsamkeit der Physik der Sterne und der Physik der Erde im Gravitationsbegriff erkannt, der im Kraftbegriff seinen Ausdruck und durch Herder im philosophischen Beweis seinen Eingang fand. In dem All der Kräfte hören wir diese neue Einheit noch in den metaphysischen Visionen des späten Friedrich Nietzsche nachklingen. Aber es würde zu weit fuhren zu zeigen, wie sich aus dieser Situation der modernen Wissenschaft und ihrer Anwendung auch auf die Gesellschaft und auf alle Erfahrungsbereiche, die kantische Trennung von Freiheit und Naturnotwendigkeit einen philosophisch gültigen Ausdruck gegeben hat. Wir haben uns jetzt zu fragen: was in unserem Zusarnrnenhang die Ordnungserfahrung in der Kunst bedeutet und was sie für uns besagt. Was heißt Kunst? Natürlich ist Kunst ein altes Wort (techne, ars). Aber zunächst muß ich wieder eine Worttatsache nennen: >Die Kunst< kann man erst seit etwa 1800 sagen, wenn man sie meint. Vorher hieß es immer die >schöne Kunst<. Denn auch die mechanischen Künste, die Ingenieurwissenschaften, Wasserspiele und alles mögliche waren Künste. Das sagen wir ja noch immer, wenn wir unseren Wortgebrauch prüfen. Aber, es ist kein Zweifel, daß im heutigen Sprachgebrauch •die Kunst< etwas neues aussagt. Aber was sagt er eigentlich? Nun war der Gegensatz zur Kunst selbstverständlich das, was wir die Natur nennen! Das Gemachte ist die Kunst, po{esis, im Sinne von Poesie, spiegelt noch in einem Teilbereich das, was Kunst ist, als pollsis, das Machen, so-Gemachte. Auch wir haben ja neben der Poesie - neben diesen griechischen Worten dafür - immerfort damit zu tun, daß sich die schöne Kunst von allen anderen Leistungen des Menschen abheben muß, so daß sie eben das ist: eine einzigartige Begegnung des Menschen mit sich selbst. Gewiß, in jedem Handwerk begegnet der Mensch sich selbst, im Handwerkszeug wie in seinem Produkt. Aber im Kunstwerk ist es eine Begegnung anderer Art. Was immer es auch sein mag, Form und Farbe, Klang und Bedeutung, läßt uns eine Ordnungserfahrung erleben, die in der Erscheinung sich selbst begegnet, so daß wir das goethesche Wort - >tSO wahr, so seiend« - fiir uns sagen möchtenweil nichts daran fehlt. Was Goethe zu den Muscheln sagte, am Strand von Sizilien, sagen wir von einem Bilde oder von einem Schauspiel wie dem Shake-
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spearschen Drama und wollen von anderem wirklichen, das darin auch ist, gar nichts wissen. Die Ordnung selbst ist durch die Kunst bleibend geworden und das nennen wir >Schön-sein<. Die Griechen hatten als Ausdruck fur das Schöne symmetria. Symmetria- freilich nicht im strengen Sinne unseres mathematischen Symmetrie-BegriffS, sondern, in dem weiteren Sinne der Entsprechung von Teilen zueinander, die ein Ganzes bilden. Solche Symmetrie ist eine Grundbedingung des Schönen. Das meint nicht einen klassizistischen Stil. Es gilt fur jede Schöpfung, von der wir sagen, sie sagt sich selbst und uns aus. Wir werden davon nicht wegverwiesen, was auch immer es zeigen mag, wieviel Weltinhalt auch immer darin erkennbar sein mag. Nein, was uns darin begegnet, ist, wie all solches plötzlich eine neue Art zu sein bekommt. So daß man es geradezu verrückt findet, wenn man fragen wollte: Ist es auch ähnlich? Entspricht es dem Original? Da wurde mir einmal ein Buch über Giono, den ich sehr liebte, geschenkt, worin die Landschaften fotografiert waren, aus denen der Dichter kam. Ja, solche Eseleien hören nie auf. Von dem griechischen Symmetrie-Begriff aus können wir jetzt den wichtigsten Schritt tun- an etwas zu erinnern, was wir in unserer Wissenschaftskultur fast verlernen. Für die Wissenschaft ist die letzte Grundlage die >Tatsache<. Und was ist Tatsache? Ich zitiere ein Wort Max Plancks: »Tatsachen sind das, was man messen kann«. Ein großer Physiker, übrigens auch ein bedeutender Mensch, hat damit durchaus das zum Ausdruck gebracht, was in dem methodischen Ehrenkodex der modernen empirischen Forschung niedergelegt ist. >We have facts<, das muß ich hundert mal hören, wenn es sich um Auseinandersetzungen mitjemandem handelt, der von den Naturwissenschaften inspiriert ist und alles das, was wir so annehmen, all zu vage findet. Das könne man ja alles nicht kontrollieren. Was ist denn das Kriterium einer richtigen Interpretation? Das werde ich hundertfach gefragt, und die Leute sind ziemlich verblüfft, wenn ich bei der Interpretation eines Gedichts etwas sage, das Kriterium für eine >richtige< Interpretation ist, daß sie beim Wiederlesen absolut verschwunden ist, weil alles selbstverständlich klingt. Sie geht auf im Zeigen, das sozusagen die Bestätigung gibt: so ist es. Das ist der Sache >angemessen<. Nun also, der Maßbegriff ist es, um den es geht. Daß es zweierlei Arten von Maß gibt, das hat bereits Plato in seinem Dialog vom Staatsmann in einem Zusammenhang gezeigt, der uns hier nicht angehen muß. Es gibt das Maß, mit dem wir an die Dinge herantreten. Das entspricht ganz unserer neuzeitlichen Messgesinnung in der modernen Wissenschaft. Da ist das Metermaß in Paris - oh rühret, rühret nicht daran! - und nach solchem festen Maßstab sind alle übrigen Maßsysteme geeicht. Der technische Sprachausdruck dafür ist >eichen< - aequare (gleichen) - und meint Echtheitsprüfung. Das liegt in dem Wort >eichen<. Man muß auf die Worte hören. Wenn man das noch fuhlt, daß da etwas darinliegt, soll man nicht jeder Volksetymologie glauber., die man vielleicht damit verbindet, z. B. nicht auf die allgemeine Lehre hereinfallen,
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daß das Gedicht etwas >dichtgemachtes< ist. Es ist der Herkunft nach das Diktat. Das ist viel wichtiger, daß das Gedicht ein Diktat ist, wogegen Widerspruch unmöglich ist. Wenn wir von dem Maß ausgehen, das Ge\l\<;cht ist, dann wissen wir schon besser, was wir jetzt finden werden, \venn wir nun davon reden, was Symmetrie beim Schönen heißt. Plato sagt, es sei das mhrion, das ist das Maß, das jedes Seiende in sich hat. Er denkt natürlich wie alle Griechen vor allem an das Lebendige. Das Seiende ist zunächst ein Lebendiges. Die Welt ist auch ein großes atmendes Tier, dessen Haut die Erdoberfläche vielleicht mit ein paar kleinen Runzeln darstellt, die unsere Gebirge oder unsere kleinen menschlichen Schöpfungen sind. So sinnlich haben die Griechen die Welt gesehen. Uns liegt jetzt aber an dem Begriff mhrioti, das Maß, das etwas in sich selbst hat und das uns als ilarrnonia dann auch in der Musiktheorie begegnet, und in der ihr parallelen medizinischen Sprachregelung - hygfeia, Gesundheit - ist auch harmonfa. D. h. ein solcher Zusammenklang von Verschiedenen zu einer Einheit, die das Wunder des organischen Lebens ausmacht. Hier sind die Teile eben nicht Teile, sondern im weitesten Sinne Glieder. Plato hat noch den schönen Wortgebrauch •Teile und Glieder<, d. h. er überholt sich sozusagen selbst, wenn er das Wort •Teil< in den Mund nimmt um zu sagen: nein. nein, nichts ist nur Teil, alles ist Glied eines dazugehörigen Ganzen. So steht es auch hier mit dem Begriff mhrion. Da sehen wir, worum es geht: wer ein Maß in sich hat, dem alles angemessen ist, das kennen wir auch in unserer Sprache. Da sagt jemand, et\va von Jaspers, er beninunt sich immer sehr gemessen. Nun ja, er kam von Oldenburg, er kam nicht aus Süddeutschland. Er benalun sich wirklich sehr gemessen, ein bißchen steif, und er lispelte natürlich. Er trennte s und t so selbsn'erständlich, daß man selber, wenn man Jaspers begegnete durchaus das Gefühl bekam, hier ist alles wohl abgemessen. Auch wenn ich die Art, wie er seine sehr guten Vorlesungen hielt Plauderei nannte, \vollte ich sie nicht damit herabwürdigen, ganz und gar nicht. Er war eben gemessen, er hielt Distanz und nahm sich zurück, während Martin Heidegger sozusagen wie der Blitze schleudernde Zeus vom Olymp in einer ganz anderen Weise ·dazwischenfunkte<. Nun ja, so haben wir unsere Lehrjahre an verschiedenen Vorbildern orientieren können und das ist nicht so schlecht, wenn wir nur lernen, Fehler möglichst nicht zu machen und unsere eigenen Wege zu finden. Nun komme ich noch einmal aufunser Thema zurück: was ist >die Kunst<, wenn sie so durch die Gemessenheit und Angemessenheit und das innere Stimmen charakterisiert ist? Da wird man sagen, der Gegenbegriff zu der Kunst ist doch >Natur<. Gewiß, aber was ist seit Rousseau Natur? Erwas gänzlich anderes, als was die Griechen mit Natur gemeint haben. Man denke an die Wandlung der Gartenkunst. Das ist ein besonders anschaulicher Fall. Da haben wir den englischen Garten in München, oder irgend einen englischen Garten. Der englische Garten folgt nicht mehr der Geometrie des verlänger-
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ten Hauses, welcher das 18te Jahrhundert mit ihrer Gartenkunst gehorchte, und erst recht natürlich nicht den früheren Zeiten. Jetzt ist es auf einmal eine landschaftähnliche Gartenkunst, in der man kein Haus, höchstens ein Tempelehen oder irgend ein kleines Pavillion sieht, die ganz dafiir bestimmt ist, wie ja auch die Bilder der Zeit dann immer wieder zeigen, daß der Garten wie die Natur, die Seelenmacht der Einsamkeit beschwört. In Heidelberg gibt esmanche werden das wissen- den Philosophenweg. Naive Menschen denken, das sei zu Ehren der Philosophie. Davon ist keine Rede, sondern das ist eben Rousseauismus. Da gibt es auf einmal verrückte Leute, die in die Natur gehen, um allein zu sein. Spazieren gehen tut man wie Faust mit Wagner auf dem Osterspaziergang und freut sich an allden Menschen, die da herauswandern aus den Mauern der Städte - ••vom Eise befreit sind Ströme und Bäche durch des Frühlings holden belebenden Blick«. Nun sehen wir bis in die Einzelheiten unserer Fragen hinein, v.-ie sich Natur mitverändert, wenn sie zum Gegenbegriff zu •der Kunst< wird. Ja, was ist sie denn geworden? Hege! hat daftir, wie ich meine, eine Wortprägung gefunden, die noch mehr sagt, als er selber sagen wollte. Er sprach nämlich von der >Kunstreligion<. Er meinte damit zunächst freilich nur die Tatsache, daß die griechischen Götter in sichtbarer Gestalt, in Kunstwerken als Gegenwart verehrt wurden. In Wahrheit hat er damit aber ein Wort gefunden, das noch weit über das hinausreicht, was in dem klassizistischen Sinne, der Götterstatue und der bildhaften Erscheinung der Götter, lag. Die Kunst, seit sie >die Kunst< ist, ist immer irgendwo durch ihren Ordnungs- und Schönheitsglanz ein Hinausreichen über die Lebenswelt. Es ist ein bißchen kindisch, wenn man die nicht mehr schönen Künste als Gegenbegriff benennt. Häßliche Künste, oder die nicht mehr schönen Künste, sind als Künste schön, vielleicht nicht flir den naiven Betrachter und seinen Geschmack. Kant wußte es bereits, daß die .Vorstellung< von ehrsam Häßlichem schön sein kann (KdU). Das ist aber nun wieder der entscheidende Punkt: Wer erkennt denn das Angemessene? Wer erkennt denn dieses Harmonische? Ja, das müssen wir lernen. Wir müssen es sozusagen herausspüren können, daß hier Bindekräfte sind, die sich in sich selber halten, so wie der Kosmos im großen Denkanfang des griechischen Denkens sich selber hielt und den tragenden Atlas überflüssig macht, der die Erdkugel trug. Seit Thales gelehrt hat, daß ein Balken, der auf dem Wasser schwimmt, auch wenn man ihn noch so sehr herunterdrückt, wieder nach oben will und sich selber hält. Also Gleichgewichtsformen aller Art sind in diesem Zusammenhang ebenfalls gemeint. Ich habe im Grunde unsjetzt so vorbereitet, daß wir auch die ersten Schritte begriffiicher Art wohl miteinander vollziehen können. Sie haben die sogenannte Aesthetik begründet. Frühere Jahrhunderte, namentlich das 17te und 18te Jahrhundert, haben ftir den Begriff des Schönen ein sehr schönes und treffendes Wort gehabt, das fast ein Begriff ist. Es lautet: Je ne sais quoi. - ·Ich
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weiß nicht was es ist, was ein Schönes schön macht<. Wir haben versucht und müssen immer wieder versuchen, natürlich weil unsere denkerische Leidenschaft sich zugleich auch immer gegen die Bestimmtheit und den Präzisionsanspruch, der Maßgesinnung unserer modernen Wissenschaft legitimieren muß. Wir müssen zeigen, wir sind noch genauer als ihr mit euren Messungen seid. Wo es sich um das Schöne handelt, z.B. wenn der Musiker sein Instrument stimmt, wenn er da hört, noch genauer als uns die Physik vorfuhrt. Ganz abgesehen vom Problem der Obertöne. Das hat Plato zuerst gesehen. Es ist ein höherer Begriffvon Genauigkeit. Das griechische Wort fur Genauigkeit heißt aknbeia- Akribie. Wir sagen so etwas von Pedanten, daß sie so entsetzliche Akribie von sich und anderen verlangen. Es muß alles bis auf das 1-Tüpfelchen stimmen. Das ist in Wahrheit ein heruntergekommener, forcierter Begriff von Genauigkeit. Das akribies aut6 ist dagegen die Empfindlichkeit ftir das Zusammenstimmende und Zusammenklingende und Zusammengehörige. Das ist die Einheit, die die Natur vermag und erhält. So etwa, wenn sie ihre Körpertemperatur aufrecht erhält und was nicht alles in unserem organischen Kreislauf. Und all das, was sie in unserem oder aller anderen lebenden Wesen zwecks ihrer Reproduktionsfahigkeit zu Wege bringt. Wir sehen, es ist nichts mit dem üblichen Einwand, das sei alles so ungenau. Nein! Es ist genauerund angemessener als alle gemessenen Genauigkeiten und das nicht nur, wenn es um >Kunst< geht. Auch z.B. in jedem Liebeswort ist mehr Genauigkeit als alles, was sich messen läßt. Genauigkeit ist hier ein Begriffhöherer Art, der die Weise des Zusammenstimmensund des Sich-Zuneigens und des Verbundenseins zum Ausdruck bringt. Nun, ich komme zurück zu meinem angekündigten Schluß. Wir sind hier jetzt in Wahrheit schon ganz nahe daran, was eigentlich das Wort ist. Das Wort - wo immer es ist, ist es Antwort. Alles, was uns etwas sagt, ist so, daß es auf ewige Fragen antwortet oder uns eine Frage stellt. Und alles, was uns etwas fragt, verlangt unsere Antwort. Wenn wir das durchdenken, dann sehen wir, daß wir nicht bestimmte Formen der Kunst dabei im Auge haben. Uns sagt vieles etwas, z. B. auch ein Schweigen. Es gibt beredtes Schweigen, wie man zu sagen pflegt. Immer ist in solchem, was uns etwas sagt, eine Antwort gegeben und eine Antwort gefordert und unser menschliches Leben, unsere Lebenswelt und unsere gesellschaftliche Welt kann überhaupt nur existieren, wenn es zwischen Menschen noch einander erreichende Worte gibt. Das nennt man heute )Kommunikation<. Jaspers liebte das Wort Kommunikation, das selber ein trauriges Symbol ftir das Eindringen technischer Dinge in unser Sprachgefühl ist. Natürlich war Kommunikation ehedem ein gutes lateinisches Wort, das die Gemeinsamkeit in den Kommunen beschwor und Gemeinsamwerdung sozusagen ausdrückte. Aber wie mit der Informatik ist es auch mit der Kommunikation, daß wir eher an Röhren oder an Sendungen oder an Wellen oder an so etwas eher denken, als an die uns ursprünglich zu-
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geteilte Ferne und Nähe von Mensch zu Mensch, von Mensch zu Welt. Ich denke, es leuchtet ein, daß nun so etwas weiser sieht, wenn man das Wort als Antwort nimmt und daß man das Ohr wie auch alle anderen unsere Sinne zum Horchen und Hinhören erzieht. Hermeneutik ist die Theorie dessen, daß man Hören lernen muß.
IV. »AMtheia«
17. Heidegger und das Ende der Philosophie (1989)
Es ist ftir mich stets ein Vergnügen, nach Leiden zu kommen. Zwischen dieser berühmten alten Universität und Heidelberg besteht seit langem ein fruchtbarer Austausch. Täglich gehe ich in meinem Hause an einer schönen kolorierten Graphik vorüber, die die alte Leidener Universität zeigt- ein Geschenk meiner Leidener Kollegen und Studenten aus Anlaß ihres längeren Besuches in Heidelberg in den 60er Jahren. Trotzdem trete ich nicht ohne Zögern auf das Katheder. Ich bin mir bewußt, vom kontinentalen Denken aus hier in ein Grenzland zu kommen, an dem die Gegenfront steht, die sagt, »was man nicht ganz genau sagen kann, soll man überhaupt nicht sagen«. Ich gebe zu, es ist ein altes Erbe angestammter Dunkelheit, das wir Deutschen mit uns tragen. Wir können uns davon nicht leicht frei machen und wollen es am Ende sogar nicht, und wie sollten wir vollends bei diesem Anlaß, wo ich von meinen philosophischen Erfahrungen mit Martin Heidegger berichten soll, der Gegenforderung genügen, alles genau zu sagen? Doch möchte ich hinzufügen, wie dankbar ich dafür bin, daß wir hier aufDeutsch reden dürfen. Ich bin mir bewußt, daß das manchem Zuhörer unbequem ist. Auf der anderen Seite bin ich genug in der Welt herumgekommen, um nicht die Schwierigkeiten zu kennen, über deutsches Denken nicht aufDeutsch reden zu können. Die Präsenz Heideggers, die jetzt in Holland langsam spürbar wird, wenn sie auch gewiß gegenüber anderen Ländern noch weit zurückliegt, hat es überall mit begründeten und verständlichen Gegenkräften zu tun. Das sollten wir uns eingangs klar machen, damit wir Heideggers Rede vom Ende der Philosophie und dem Anfang des Denkens anzuhören bereit sind. Der erste große Einwand, der gegen Heidegger geltend gemacht wird, ist natürlich sein Verhältnis zur Logik. Es ist nicht so sehr die Tatsache, daß die Logik in neueren Jahrzehnten erstaunliche Fortschritte gemacht hat, während Heidegger, wie selbst noch meine eigene Generation, nur in der veralteten aristotelischen Logik geschult worden ist. Es geht um einen tieferen Konflikt, der nicht nur Heidegger betrifft, sondern die kontinentale Philosophie überhaupt. So kann man jeden Satz Heideggers in der Manier zerpflücken, die wir von Rudolf Carnap kennen. Er hat in einem berühmt gewordenen AufSatz Heideggers Antrittsvorlesung in Freiburg >Was ist Metaphysik?< nach allen Regeln der
196 Kunst geradezu mißhandelt. Dort spricht Heidegger bekanntlich vom Nichten des Nichts. Wenn man mit Carnap versucht, diesen Satz mit den Mitteln mathematischer Symbolik an die Tafel zu schreiben, stellt man fest, daß das nicht geht. Es findet sich in dieser Formelsprache, durch die alles Gemeinte eindeutig fixiert werden soll, kein Symbol fur >das Nichts<. Es gibt nur ein Symbol fur die Verneinung einer Aussage. Also sei Heideggers Reden eine unzulässige Mystifikation. Vom Standpunkt der Aussagelogik mag ein solcher Einwand tatsächlich berechtigt sein, aber \Vas wird dabei aus der Philosophie? Hegelist in den Augen der modernen Logik nicht besser dran. Und Heraklit, der Dunkle? Wir werden uns fragen müssen, was philosophische Rede ist und wie sie beanspruchen kann, den Gesetzen der Aussagelogik zu entkommen. Das gilt freilich nicht nur von ihr, sondern von jeder Art zwischenmenschlicher Rede, die unter den Begriff der Rhetorik fällt. Doch bleibt es eine Aufgabe ersten Ranges fur die Philosophie, einzusehen, \varum das, was die Sprache uns erlaubt, und was die symbolische Logik uns verbietet, nicht einfach auf Geftihl oder auf dichterisches Spiel abgeschoben werden kann, v.:ie Carnap empfiehlt. Der zweite Einwand, der mit dem besonderen Thema des Anfangs der Philosophie zusammenhängt, kommt von der Seite der Philologie. Wir werden es nicht einfach als unberechtigt ansehen dürfen, wenn der klassische Philologe (der auch ich ein wenig bin) bei Heidegger oft die Gewaltsamkeit seiner Interpretationen griechischer Texte empfindet oder geradezu Unrichtigkeit gewisser Interpretationen feststellt. Wir werden uns zu fragen haben, ob wir deswegen auf diesen großen Denker mit Überlegenheit herabsehen dürfen oder ob wir selber vielleicht etwas Wichtigeres aus den Augen verloren haben, wenn wir uns wegen dieser Anstöße der Denkkraft Heideggers verschließen. Der dritte Einwand ist schließlich der der Wissenschaften, das Generalthema unserer Zusammenkunft. Da sind es auf der einen Seite die Sozialwissenschaften, die ihr Feld bei Heidegger vernachlässigt finden oder gar nur in verzerrter Form anzutreffen meinen: >Die Gesellschaft<, als das •Man<, das ist für sie eine Zumutung. Auf der anderen Seite sind es die Naturwissenschaften, die nicht begreifen können, wie Heidegger sagen konnte >>die Wissenschaft denkt nicht<<. Vielleicht verlangt ein solcher Satz ein Denken, das wirklich anderer Art ist als das der Erfahrungswissenschaften. All das schließt sich in die herrschende Vormeinung zusammen, was Heidegger nach >Sein und Zeit< sage, sei überhaupt nicht mehr aus\veisbar, sei eher Poesie oder besser: ein Pseudo-Mythos. Das \v:ird von dem Sein erzählt, daß »es gibt«, daß •>es schickt<•, daß >>es reicht<< und was nicht alles sonst von diesem mysteriösen Etwas, dem Sein, erzählt wird. Verglichen mit dem nichtenden Nichts der Freiburger Antrittsvorlesung, das Carnap so aufbrachte, ist das noch ganz etwas anderes, und >das Nichts< kornntt einem fast harmlos vor. Hier liegt eine Frage, die uns beschäftigen muß und die insbesondere die Rol-
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le betrifft, die die Kunst, und allem voran die Dichtung Hölderlins, im Denken des späten Heidegger gespielt hat. Wenn ich einleitend diese Eimvendungen gegen Heidegger erv.rähne, so geschieht es, um unserem Thema in seiner umfassenden Aktualität Raum zu schaffen. Es ist eine Frage, der sich unsere Zivilisation als solche zu stellen hat. Im Abendland entstanden, hat sie sich dennoch als ein mehr oder minder dichtes Netz über den ganzen Globus ausgedehnt. Es geht um die Grundhaltung der Wissenschaft und der Wissenschaftlichkeit, die unser Zeitalter charakterisiert. Die innere Zwangsläufigkeit des >Fortschritts<, der aufihr beruht, beginnt all seiner Suggestivität zum Trotz langsam als ernras Bedenkliches ins allgemeine Bewußtsein zu treten. Es ist vierzig Jahre her, daß Heidegger seinen Aufsatz über das Ende der Philosophie geschrieben hat, und dieser Aufsatz klingt heute so, als ob das gesagt würde, was inzwischen unser Denken und unsere Sorgen allüberall bewegt. So ist auch das Thema >Anfang und Ende der Philosophie<, das uns hier bewegt, etwas, was sich an Heideggers Arbeit anlehnt. Was soll es heißen, daß es mit der Philosophie zu Ende ist und daß sie sich im besten Falle in eine Reihe von Einzelwissenschaften auflöst, die man im Ganzen unserer wissenschaftlichen Kultur neben den anderen Wissenschaften mit einiger Nachsicht vielleicht dulden kann? Welche Tendenzen unserer Zeit ist es, die durch die Formel vom Ende der Philosophie beschrieben wird? Gewiß soll es nicht heißen, daß unter uns nichts anderes mehr lebendig ist als der technologische Rausch. Wenn Heidegger vom Ende der Philosophie spricht, so ist zunächst klar. daß wir alle sofort verstehen: so kann man nur vom Abendland aus reden. Anderswo gab es keine Philosophie, die sich so gegen Poesie und Religion absetzte, weder in Ostasien. noch in Indien, noch in unbekannten Erdteilen. >Philosophie• ist eine Ausprägung des abendländi• sehen Geschicks. Mit Heidegger zu reden: ein Seinsgeschick, das tatsächlich unser Schicksal geworden ist. Die Zivilisation von heute ertullt sich, wie es scheint, in diesem Geschick, dem die ganze Menschheit unter dem Diktat der industriellen Revolution anheimfallt. Ob dieselbe mit diesem oder jenem System der Ökonomie verbunden ist, spielt dabei eine ganz untergeordnete Rolle. Eine Zentralwirtschafi:, wie sie etwa im Stile der russischen Fünf-Jahrespläne aussieht, sieht den Zv,rangsläufigkeiten der kapitalistischen Gesellschaft verteufelt ähnlich. Wenn \vir vom Ende der Philosophie hören, so verstehen wir das von da aus. Es wird uns bewußt, daß die Trennung n•lischen Religion, Kunst und Philosophie, und vielleicht gar auch die Trennung von Wissenschaft und Philosophie, nicht allen Kulturen von Hause aus gemeinsam ist, sondern eben die besondere Geschichte der westlichen Welt geprägt hat. Man wird sich fragen: was ist das fiir ein Geschick, wo kommt es her? Wie kam es, daß die Technik eine so selbständige Zwangsgewalt hat entwickeln können, daß sie zum Kennzeichen der Menschheitskultur von heute gewor-
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den ist? Wenn wir so fragen, erscheint uns die zunächst überraschend und paradox klingende Heideggersche These auf einmal bestürzend plausibel, daß es die griechische Wissenschaft und Metaphysik ist, deren Auslaufen in die Weltzivilisation von heute unsere Gegenwart beherrscht. Freilich, die technische Zivilisation von heute trägt gegenüber den älteren Epochen unserer Geschichte ein neues Gepräge. Heidegger selber hat in einem berühmten Aufsatz über die Technik daraufbestanden, daß die Technik nicht einfach eine Verlängerung der üblichen Handwerkskünste und eine Perfektionierung der instrumentellen Vernunft der Menschheit ist, sondern sich zu einem eigenen System verfestigt hat. Heidegger hat dieses System mit dem provokatorischen Namen >das Gestell< bedacht- eine echte Heidegger-Prägung. Wir werden über diese Eigenschaft Heideggers, Worte umzuprägen, noch reden müssen. Um sich den Begriff >das Gestell< näher zu bringen, braucht man nur an einige übliche Verwendungen des Wortes denken. So reden wir zum Beispiel von dem Stellwerk. Das ist die Einrichtung aufjedem Bahnhof, in der geschaltet wird, damit die Züge auf die verschiedenen Gleise geleitet werden. Von hier aus verstehtjeder Heideggers Begriff. >Das Gestell< ist der Inbegriff, das Gesamt, solchen Stellens und Schaltens, solchen Besteliens und Sicherns. Heidegger hat überzeugend ausgefiihrt, daß es sich hier um eine alles bestimmende Denkweise handelt, die durchaus nicht nur auf die Industriewirtschaft im engeren Sinne eingeschränkt ist. Seine These ist, daß die Philosophie zu Ende geht, weil unser Denken unter die vollendete Herrschaft des Gestells gerät. Nun fragt Heidegger: wo kam das her, was ist der Anfang dieser Geschichte? Der Anfang liegt offenkundig nicht erst dort, wo die moderne Wissenschaft von den Fortschritten der Technik mehr und mehr abhängig wird. Die moderne Wissenschaft ist viel mehr selber schon Technik. Das will sagen, ihr Verhältnis zu dem von Natur Seienden ist Angriff, der einen Widerstand zu brechen sucht. In diesem Simne ist die Wissenschaft aggressiv, daß sie ihre Bedingungen )objektiver< Erkenntnis dem Seienden aufzwingt, ob dies nun Natur oder Gesellschaft ist. Um es an einem Beispiel zu illustrieren, das wir alle kennen, weil wir zur Gesellschaft gehören: am Fragebogen. Der Fragebogen ist ein sichtbares Dokument dafiir, daß einem da Fragen mit Gewalt aufgezwungen werden, die man beantworten soll. Sei es, daß man nicht antworten will, sei es, daß man nicht verantwortlich antworten kann - dazu werden wir im Namen der Wissenschaft gezwungen. Die Sozialwissenschaften brauchen ihre Statistik, genau wie die Naturwissenschaft ihre quantitativen Methoden auf die Natur anwendet. In beiden Fällen ist es die Herrschaft der Methode, die das definiert, was wissensfähig und wissenswürdig ist, das heißt, dessen Zugang zum Wissen kontrollierbar ist. Die Wissenschaftstheorie mag noch so differenzierte Begriffe vom Verfahren der Wissenschaft entwickeln, es ist unbestreitbar, daß der große Aufbruch des 17. Jahrhundert bis heute fortwirkt.
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Er hat in der Physik des Galilei und Huygens seine ersten Schritte getan und in der Reflexion Descartes seine grundsätzliche Formulierung gefunden. Es ist allbekannt, wie das Abendland durch diesen Aufbruch der modernen Wissenschaften die >Entzauberung der Welt< betrieben hat. Die industrielle Verwertbarkeit der wissenschaftlichen Forschung hat schließlich das Abendland zur Vormacht des ganzen Planeten aufsteigen lassen und stellt ein alles beherrschendes Wirtschafts- und Verkehrssystem dar. Aber das war kein erster Anfang. Es gibt eine ältere, sozusagen erste Welle von >Aufklärung<, in der sich die Wissenschaft und ihre Erforschung der Welt entfaltet hat- und das ist der Anfang, den Heidegger im Auge hat und den er immer mitmeint, wenn er vom Ende der Philosophie spricht. Es ist der Aufbruch der Griechen zur theoria. Heideggers herausfordernde These ist nun, daß dieser Anfang der wissenschaftlichen Aufklärung der Anfang der Metaphysik ist. Die moderne Wissenschaft ist zwar im Kampf gegen die >Metaphysik< entstanden, aber ist sie nicht doch eine Folge-Wirkung der Physik und Metaphysik der Griechen? Heidegger hat damit eine Frage gestellt, die seit langem das Denken der Neuzeit beschäftigt. Sie läßt sich an einem besonderen, wohlbekannten Fall illustrieren. In den Anfangen der modernen Wissenschaft, im 17.Jahrhundert, begann man sich an dem Unbekanntesten unter den großen griechischen Denkern zu orientieren, an Demokrit. Tatsächlich ist die Atomtheorie, Demokrits Lehre, das siegreiche Modell der modernen Naturforschung geworden. Nun wissen wir von Demokrit fast nichts. Eben das hat dazu gefuhrt, daß man, vor allem im 19. Jahrhundert, als der Siegeszug der modernen Wissenschaft das allgemeine Bewußtsein ergriffen hatte, Demokrit zu dem großen Vorläufer hochstilisiert hat, der von der Dunkelmännerei eines Plato und eines Aristoteles unterdrückt worden sei. Heidegger hat nun die Frage unserer griechischen Anfange wesentlich radikaler angesetzt. Er deckte eine tieferliegende Kontinuität der abendländischen Geschichte auf, die früher einsetzt und sich bis heute durchhält. Sie hat zur Sonderung von Religion, Kunst und Wissenschaft gefuhrt und selbst noch die Radikalität der europäischen Aufklärung überlebt. Wie ist Europa auf diesen Weg gekommen? Was ist dieser Weg? Wie hat es angefangen und wie geht es fort, um am Ende in den Heideggerschen >Holzwegen< seinen dramatischen Ausdruck zu finden? Ohne Zweifel hängt diese Entwicklung mit dem zusammen, was man im Deutschen >Begriff< nennt. Zu sagen, was ein Begriff ist, scheint uns vielleicht ebenso schwierig, wie es fur Augustin schwierig war, zu sagen, was die Zeit ist. Wir wissen es alle und können doch nicht sagen, was das eigentlich ist. Wenn es sich um den Begriff handelt, so verrät immerhin das Wort etwas. [n einem Begriff ist etwas zusammengegriffen, zusammengefaßt. Es liegt im Worte, daß der Begriff greift, zugreift und zusammengreift und so etwas begreift. Denken in Begriffen ist also ein tätig eingreifendes und ausgreifendes
200 Denken. So hat Heidegger die Geschichte der Metaphysik als Ausdruck einer ursprünglich griechischen Erfahrung des Seins gedeutet, und zwar als diejenige Bewegung unserer Denkerfahrung, die Seiendes in seinem Sein ergreift, so daß man es als das Begriffene festmacht und insofern in der Hand hat. Das findet in der Aufgabe der Metaphysik seine Formulierung, das Seiende als solches, in seiner Seiendheit zu erfassen. Es ist die Definition, der Horismos, in dem das Seiende auf seinen Begriff gebracht ist. Das war die großartige Leistung der Metaphysik und nicht etwa eine Abirrung vom Wege des Rechten, auf dem die antike Atomistik angeblich schon war. Es ist der Übergang des griechischen metaphysischen Gedankens nach Rom und ins christliche Mittelalter, der schließlich mit seiner humanistischen Erneuerung der griechischen Tradition zum Aufbruch der Neuzeit gefuhrt hat. Das ist eine lange Geschichte. Da ich hier auch eine Rolle als Augenzeuge spielen soll, darfich berichten, daß Heidegger bereits 1923 den Zug der Neuzeit als die ••Sorge um die erkannte Erkenntnis« bezeichnet hat. Diese literarisch noch nicht bekannte Formulierung Heideggers will sagen, daß die Wahrheit (veritas) durch die Gewißheit (certitudo) verdrängt wird. Es ist sozusagen die Moral der Methode, daß man lieber kleine, wenn auch noch so bescheidene Schritte macht, wenn sie nur absolut kontrollierbar und sicher sind. Man sieht, wie die angelsächsische Analytik von heute dieser \vissenschaftlichen Moral besser treu geblieben ist als Hege! oder Heidegger selbst. Heideggers Anspruch ist freilich gewesen, und er hat es mit der ganzen Wucht seines reichen imaginativen Denkens zu leisten vermocht, von hier aus die schicksalhafte Einheit der abendländischen Geschichte sichtbar zu machen, die mit der griechischen Metaphysik anhebt und in der totalen Herrschaft der Technik und Industrie endet. Ein solcher Anspruch schließt ein, hinter die Logik der Aussage zurückzugehen. Dem kann man sich ohnehin schwer entziehen, wenn es sich um Philosophie handelt, die mit Religion und Kunst im Wettkampf steht, und Fragen stellt, denen man nicht auS\>.reichen kann und ftir die man doch keine beweisbaren Antworten kennt, zum Beispiel die Frage: •• Was war am Anfang?•• Die Physiker können so nicht fragen. Wenn wir sie danach fragen, was vor dem Big Bang war, können sie nur lächeln. Von ihrem wissenschaftlichen Selbstverständnis her ist es sinnlos, so zu fragen. Trotzdem tun wir es alle. Wir sind eben alle Philosophen, unbeirrbar in unserem Fragenmüssen, auch wo keine Antwort, ja nicht einmal ein Weg zur Beantwortung sichtbar ist. Das meine ich, wenn ich vom Zurückgehen hinter die Aussagenlogik sprach. Es ist ein Zurückgehen hinter das, was in gültigen Aussagen formulierbar ist. Mit der Logik selbst, ihrer Geltung und Unwiderlegbarkeit, hat solcher Rückgang nichts zu tun. Er hat aber wohl etwas damit zu tun, daß der Monolog folgerichtigen Argumentierens unser imaginatives fragendes Denken nicht Stillstehen kann. Der Schritt zurück. der in solchem
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Fragen geschieht, geht nicht nur hinter die Aussage auf das zurück, was wir in der Sprache des täglichen Lebens zu fragen fortfahren. Er geht auch noch hinter das zurück, was wir in unserer Sprache überhaupt fragen und sagen können. Ständig befinden wir uns in einer Spannung zwischen dem, was wir zu sagen suchen und was wir angemessen zu sagen nicht vermögen. Das ist die konstitutive Sprachnot, die zum Menschen gehört und in der ihm jeder echte Denker, der von der Anstrengung der Begriffe nicht lassen kann, vorangeht. Die Sprache ist nicht fiir die Philosophie geschaffen. So muß die Philosophie Worte aus der Sprache aufnehmen, in der wir leben, und solche Worte mit einem eigenen Begriffssinn aufladen. Das sind die Kunstworte, die in einer sich ausbreitenden Schulkultur immer mehr zu schemenhaften Symbolen verfallen, hinter denen keine lebendige Sprach-Anschauung mehr steht. Es entspringt das der Verfallensgeneigtheit des menschlichen Daseins, wie Heidegger das in >Sein und Zeit< genannt hat. Man bedient sich der Formen und Normen, der Schulen und der Institutionen, ohne ursprünglich zu denken. In unserem Zeitalter der modernen Wissenschaft stellt sich damit die neue Aufgabe, die der deutsche Idealismus schon als eine solche erkannt, aber nur teilhaft gelöst hat. Ich habe die Aufgabe an Heidegger begreifen gelernt. Sie besteht darin, sich der Begriffiichkeit bewußt zu werden, in der man denkt. Wo kommt das her? Was liegt darin? Was ist ungewollt und unbewußt darin, wenn ich zum Beispiel >Subjekt< sage? Subjekt ist dasselbe wie Substanz. Subjekt und Substanz sind beides Übersetzungen des aristotelischen Ausdrucks hypoke{menon, das heißt >Grundlage<. Dieser griechische Begriffhat gewiß von sich aus nichts mit dem denkenden Ich zu tun. Gleichwohl sagen wir ganz selbstverständlich (wenn auch mit Geringschätzung): das ist ein fatales Subjekt. Wir reden wohl auch als >Philosophen< (mit scheuer Hochschätzung) von dem transzendentalen Subjekt, in dem sich alle Objektivität der Erkenntnis konstituiert. Wieweit ist die Begriffiichkeit der Philosophie der ursprünglichen Sprache entfremdet! Es ist die Aufgabe der Destruktion dieser metaphysischen Begriffstradition, die der junge Heidegger mit Entschlossenheit angepackt hat. In den Grenzen, in denen unsere Talente ausreichen, haben wir von ihm gelernt, den Weg vom Begriff zum Wort zurückzufinden, nicht etwa, um das begriffliche Denken aufzugeben, sondern um ihm seine Anschauungskraft zurückzugeben. Darin folgen wir dem, ~vorin uns die Griechen bereits vorgearbeitet haben, und insbesondere folgen wir dem Aristoteles, der im Buch Delta seiner Metaphysik grundlegende Begriffe analysiert und ihre Bedeutungsvielfalt vom Sprachgebrauch her aufbaut. Es geht also darum, wie man den Weg vom Begriff zum Wort wieder gangbar machen kann, so daß Denken \vieder sprechend wird. Das ist unter der Last einer zweitausendjährigen Denktradition keine geringe Aufgabe. Eine feste Grenze zwischen dem präzise entwickelten Begriff und dem in der Sprache lebenden Wort ist schwer zu ziehen. Für uns alle gibt es immer den Gebrauch von Begriffsworten, die aus
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der Metaphysik stammen und unverstanden im Denken weiterleben. Heidegger hat eine ungewöhnliche Sprachkraft aufbieten können, um die Sprache der Philosophie wieder sprechend zu machen. Vieles wacht da auf. Schließlich ist es ein großes Erbe, das aufÜbernahme wartet, vor allem die christliche Mystik eines Meister Eckhart, die Lutherbibel und die Ausdruckskraft unserer Mundarten, die von dem Bildungs-Gerede unerreicht geblieben sind. Das Neue bei Heidegger ist nun gewesen, daß er nicht nur über eine so große Sprachkraft verfugt, wie der schlesische Schuster Jakob Böhme, sondern daß er die ganze lateinische Schultradition unserer BegriffSsprache beherrschte und durchstieß, indem er auf ihren griechischen Anfang zurückging. So gelang es ihm, in dem Begriff das anschauungsspendende Wort wieder zu erkennen. Das war von Anfang an seine Gabe. Dabei wird nicht bestritten, daß die Ausbildung eines Begriffs stets dazu nötigt, zugunsten der eindeutigen Begriffsdefinition die wortgeschichtlichen lmplikationen zurückzudrängen. Auch Aristoteles tat das. Gleichwohl war es ein neuer, ein neu sprechender Aristoteles, der von seinen Schriften über die Rhetorik und Ethik aus neues Licht auf die Metaphysik warf, als Heidegger hinter die neuscholastisch-thomistische Begriffssprache und Aristoteles-lnterpretation zurückging. Am Ende verstand man, daß es nicht Poesie und nicht Wachträume des Gemütes sind, wenn man sprachliche Potentiale aufbietet, deren Sinngehalt sich nicht an die Tafel schreiben läßt. Das Potential der Sprache soll dem Denken dienen. Das bedeutet, daß an dem Worte durch Analyse seiner Bedeutungen ein Begriff zur Eingrenzung gelangt. Begriffsanalyse unterscheidet also verschiedene Bedeutungen, die alle in der Sprache lebendig sind, aber im Redezusammenhangjeweils ihre eingeschränkte Bestimmung gewinnen, so daß am Ende in der Aussage eine Bedeutung auf zwingende Weise die Führung gewinnt und andere Mitbedeutungen höchstens noch beiherspielen. Das ist der denkende Gebrauch von Worten. In der Dichtung ist das anders, aber nicht ganz anders. Dort geht es auch darum, im Gebrauch der Worte die eigentliche Bedeutungsrichtung eines Wortes so weit festzulegen, daß die Einheit des Redesinns erreichbar bleibt. Doch ist es gerade das Volumen der Sprache, das sich durch die Vieldeutigkeit und Vielstelligkeit anreichert, die die Worte haben und mit-ausspielen. Auch im Falle der Philosophie ist es so, daß die Eindeutigkeit durch Konvention festgelegter Bedeutung eines vielstelligen Ausdrucks die Mitbedeutungen, die in Worten liegen, durchaus mitsprechen lassen kann, und das kann so weit gehen, daß dadurch das Denken aus seinen gewohnten Bahnen geworfen sind. Heidegger hat das oft mit Bewußtsein vollzogen. Er hat es geradezu den >Sprung< genannt: man muß das Denken sozusagen zum Springen zwingen, indem man den Nebensinn von Worten oder Sätzen zum Gegensinn aufsteigen. Das kann in philosophischen Redezusammenhängen von grundsätzlicher Bedeutung werden, etwa wenn eine gewohnte Prägung
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durch die Vieldeutigkeit eines Wortes einen ganz neuen Aussagesinn gewinnt. So hat Heidegger die Frage: Was heißt Denken? nicht im konventionellen Sinne von >heißt< das heißt >bedeutet< gelesen, sondern in unerwarteter Umbiegung den Nebensinn von >heißt< als >gebietet< aus dem Worte entbunden. Das soll man nicht nachmachen, aber bei Heidegger lohnt es, den neuen Weisungen nachzugehen. Ein anderes Beispiel: In Heideggers AufSatz über die Technik gibt es eine Erörterung von Kausalität und Ursache. Heidegger sagt da: In Wahrheit ist es >Veranlassung<. Im Zusammenhang seiner Darlegung wird einem plötzlich bewußt, was Veranlassung sagen kann. Man entdeckt, daß da ein Lassen drinsteckt. Etwas Anhebenlassen schließt immer ein, daß man es >läßt<. In dieser Weise lädt Heidegger ein normales Wort auf, so daß es etwas sagt. Es sagt: hier wird etwas ins Sein gelassen, dadurch daß es anhebt. Gewiß ist solcher Umgang mit der Sprache, wenn man es mit Texten zu tun hat, im Großen und Ganzen ein Handeln gegen den Text. Der Text hat seine einheitliche Intention, auch wenn diese nicht notwendig eine bewußte Intention des Schreibenden sein muß. Jedenfalls ist der Empfänger, der Entzifferet, auf das gerichtet, was der Text meint. Es ist klar, daß von Heidegger die Intention eines Satzes manchmal geradezu auf den Kopf gestellt wird. Das Wort geht plötzlich über die gewohnten Möglichkeiten seiner Verwendung hinaus und beginnt damit etwas nicht mehr Gedachtes sichtbar zu machen. Vielfach hat Heidegger dazu auch die Etymologie mobilisiert. Freilich, wenn man sich da auf die wissenschaftliche Wortforschung beruft, begibt man sich in Abhängigkeit von einer rasch wechselnden Wissenschaftsgeltung. In solchem Falle verliert die Etymologie ihre Überzeugungskraft. In anderen Fällen dagegen kann man die Etymologie bewußt machen, was im Sprachgefuhllatent mitspricht und ihm Bestätigung und Verstärkung verleiht. In solchen Fällen gelingt es Heidegger, Worte auf ihre ursprüngliche Erfahrung zurückzuftihren, der sie entstammen. In jedem Falle geht es offenkundig nicht so sehr um Sätze als um Worte, deren Bedeutungsmacht wiedererkannt werden kann und zum Sprechen kommt. Das hat große Vorbilder, vor allem in Aristoteles. Das bekannteste Beispiel ist das griechische Wort fur Sein, Ousfa, das in der latinisierten Metaphysik den BegriffSsinn von essentia bekommen hat. Das war die von Cicero stammende Übersetzung von Ousia. Was aber meint dies Wort im gesprochenen Griechischjener Zeit? Im Deutschen sind wir gut daran, den Zusammenhang nachzubilden: Ousfa heißt >das Anwesen<, die landwirtschaftliche Liegenschaft, wie wir auch sagen, ein Haus oder ein einzelner Hof. Ein Bauer kann von seinem Besitz sagen, »es ist ein schönes Anwesen«. So kann es auch der Grieche sagen, und er kann es bis heute. Wer Athen kennt, sieht das. Das alte Athen ist nach dem Exodus der Griechen aus Kleinasien im Anfang der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts um eine Million von Flüchtlingen gewachsen und hat sich ins Land hinaus ausgedehnt. Aber alle sind in kleinen ei-
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genen Häuschen untergebracht. Jeder hat noch sein >Anwesen<. So bewahrt das, was als Ousia das Sein des Seienden ausmacht, wirklich Anschauung. Das Anwesen ist das Anwesende, das Anwesen macht das Wesen des bäuerlichen Wohnens aus. Er ist in seinem eigenen Oikos, in seinem eigenen Betriebe, seines eigenen Seins sozusagen bewußt und hat es gegenwärtig. Hier leistet also das Wort Ou{sa, daß der eigentliche Begriffssinn am ursprünglichen Wortsinn deutlich wird. Wenn man sich so des ganzen Wortfeldes von ous{a, parousia, apousla bewußt wird, empfindet man übrigens Heideggers Verwendung des Begriffs >Vorhandenheit< als unbefriedigend. Ich habe keinen besseren Vorschlag, aber im Ausdruck >Vorhandenheit< klingt entweder der Sinn des bloßen Existierens im Sinne von existentia aus der Schulphilosophie des 18.Jahrhunderts zu sehr nach und damit die ganze Begriffswelt, die der messenden und wägenden Erfahrungswissenschaft der Neuzeit zugehört, oder es wird der Bezug auf die Hand des Menschen zu sehr herausgehört, was dann in der Übersetzung in fremde Sprachen >vorhanden< und >zuhanden< fast ununterscheidbar ineinanderfließen läßt. Beides liegt nicht in dem Begriffdes Anwesens, der ganz etwas anderes meint als die durch Messen und Wägen festgestellte Existenz des Gegenstandes, aber auch nicht das bloße handlungsbezogene pr6cheiron.Jedenfalls hat Heidegger, als er sich fiir den Ausdruck >Vorhandensein< entschied, die Differenz des Seinsverständnisses der neuzeitlichen Naturwissenschaft von der griechischen Meta->Physik< vernachlässigt, und damit etwas, was die Anwesenheit des Göttlichen in >Sein< nachklingen läßt. So geht es eben, wenn man Wone sprechen lassen will - sie greifen manchmal an der eigentlichen Begriffsintention vorbei. Man kann an Heidegger die Chancen wie die Gefahren eines solchen Neudenkens der Sprache lernen. Besonders illustrativ ist Heideggers Übersetzung von alitheia als Unverborgenheit. Dem griechischen Sprachgebrauch entspräche wohl eher, >Unverhohlenheit< zu sagen. So hat es auch Humboldt übersetzt. Heidegger hat, indem er es als Unverborgenheit dachte, seine eigenste Vision beschworen, die sich seinem Nachdenken in immer dunklere Vorzeit der griechischen Schriftzeugnisse hinein entziehen sollte. Verborgenheit spricht in Unverborgenheit mit. Dadurch spricht ftir uns eine Mitbedeutung, die Heidegger entbinden wollte und deren Gehalt wir erst langsam erfassen. In Unverborgenheit liegt auch Aufhebung der >Geborgenheit<. Was in der denkenden Zuwendung und im Sprechen herauskommt und sich vorstellt, ist zugleich etwas, was in Worten geborgen ist und vielleicht geborgen bleibt, auch wenn etwas darüber herausgekommen, entborgen worden ist. Das deckt sich mit Heideggers Begriffsabsicht, die Erfahrung von Sein als das Widerspiel von Embergung und Verbergung zu denken. Was folgt daraus über die Sprache im Denken der Philosophie? Liegt nicht darin das Geheimnis des Wortes und selbst noch des Begriffswortes, daß es
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nicht nur wie ein Zeichen auf et\'lias anderes verweist, sondern immer noch mehr in sich verbirgt? Zeichen haben es an sich, ganz und gar von sich weg zu weisen. Es ist etwas Großes, Zeichen als Zeichen verstehen zu können. Hunde können es nicht. Sie schauen nicht dorthin, wohin man zeigt, sondern schnappen nach dem Finger, der zeigt. Wir sind schon Denker, wenn wir auch nur Zeichen verstehen. Wie viel mehr sind ·wir es, wenn wir Worte verstehen. Da gilt es, nicht nur Worte als einzelne Worte zu verstehen, sondern wie sie gesagt sind, in dem Ganzen eines melodischen Redeflusses, der seine Überzeugungskraft aus der Artikulation der ganzen Rede gewinnt. Sie stehen immer im Zusammenhang einer Rede, und Reden ist nicht nur das Durchlaufen eines Gefiiges von bedeutungtragenden Worten. Man denke an die Sinnlehre der Beispielsätze in einer guten Grammatik einer Fremdsprache. Sie sind von bewußter Sinnlosigkeit, damit man nicht durch ihren sachlichen Gehalt abgelenkt, sondern auf sie als Wörter hingelenkt wird. Sie sind nicht \virkliche Rede. Rede ist zu jemandem gesagt und spricht durch den Ton, in dem etwas gesagt wird. Da gibt es den echten und den falschen Ton, die überzeugende und nicht überzeugende Weise der Rede, wahre oder falsche - \vas wird nicht alles durch die Rede aus der Geborgenheit herausgeholt und vorgestellt. Heidegger hat auch fiir das Wort LOgos eine Etymologie herangezogen. Es soll die >legende Lese< sein. Als ich zum ersten Mal dies las, wehrte ich mich dagegen, fand das eine gezwungene Ausdeutung des bergenden Wortes. Aber es weckt allerhand auf. Wenn man der Ausgrabung des semantischen Feldes folgt, das hier ins Spiel konunt, und dann zu dem allbekannten BegritEwort LOgos zurückkehrt, dann ist auf einn1al in das eigene Denk- und Sprachgefiihl der Hintergrund von LOgos miteingegangen. Ich möchte dies als Zeugnis gestehen: LOgos ist die lesende Uge. Legein ist lesen, zusammenlesen und zusammenlegen, so daß es als die Lese, wie die Beeren von der Rebe, zusammengelegt und geborgen ist. Was so in die Einheit der Lese zusammengelegt ist, sind nicht nur die Worte, die den Satz bilden. Es ist schon das Wort selbst, in dem gar vieles zusammengelegt ist, zur Einheit des eldos, wie Plato sagen \\rird. Die Frage stellt sich besonders überzeugend fiir Heraklit. Das war fur Heidegger zweifellos der Anziehendste aller frühgriechischen Denker. Seine Sätze sind wie Rätsel, seine Worte wie Winke. In Heideggers kleiner Hütte über Todtnauberg hing am Türsturz in Borke geritzt die Inschrift: »Der Blitz steuert alles~. In griechisch natürlich. In diesem Satz ist die Grundvision Heideggers in der Tat zusammengelesen, nämlich, daß das Anwesende in seiner Anwesenheit im Blitz herauskommt; fiir einen Augenblick ist alles taghell, um eben so plötzlich in schwärzeste Nacht zu versinken. Dieses Jähe, in dem das >Anwesen< da ist, hat Heidegger als die griechische Erfahrung des Seins geahnt. Der Blitz, der mit einem Schlag alles anwesen läßt, gewährt fiir eine kurze Weile Anwesenheit. Man kann sich vorstellen, warum Heidegger Heraklits
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Wort so liebte. Hier ist es ein ganzer Satz, der die Zusammengehörigkeit von Entbergung und Bergung als Grunderfahrung des Seins sichtbar macht. Wahrlich ist es eine menschliche Grunderfahrung, die hier zu Worte kommt. Da leben wir in der Auszeichnung, daß auch das Abwesende anwesend ist, noo (im Geiste). Alles Denken ist wie ein Hinausträumen und Hinausplanen über die Grenzen unseres kurzen Daseins. Wir können sozusagen niemals festhalten-und nicht wirklich vergessen, daß es nur eine Weile so ist, sofern die Unendlichkeit des Geistes durch die Endlichkeit, durch den Tod begrenzt ist. Heideggers läßt wiederum ein ganz einfaches Wort fiir diese Erfahrung sprechen: •Es gibt<. Was ist das >Es<, das da gibt? Was gibt es denn? All das verschwimmt in undeutlichen Konturen, und trotzdem versteht jeder vollkommen: »Da ist es. Es ist da.Kehre< gesagt. Aber wenn ich meiner Legitimation als zeitgenössischer Zeuge wieder einmal gerecht werden soll, so muß ich berichten, wie Heidegger schon im Jahre 1924, als Gerhard Krüger und ich auf dem Heimweg nach der Vorlesung Heidegger bis zu seiner ersten Marburger Wohnung begleiteten und ihn nach der ontologischen Differenz befragten, mit Entschiedenheit abwehrte, daß wir es seien, die diesen Unterschied machen. Man sieht: Die Kehre war vor der Kehre. Ja, sie war auch nicht erst imJahre 1924. Als ich noch Student war, am Anfang der zwanziger Jahre, erreichte uns in Marburg die Kunde von einem Worte des jungen Heidegger, das er in der Vorlesung gesagt habe: »Es weitet«. Das war erst recht die Kehre vor der Kehre. Fragen wir uns zum Schluß, wie von den späteren Einsichten Heideggers aus die Erfahrung des Todes zu denken ist, die in •Sein und Zeittin der Analy-
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se der Angst so plastisch entwickelt worden ist. Wie läßt sich die Doppelheit von Verbergung und Bergung denken? Als das >Gebirg<, in dem der Tod geborgen ist? Ist das nicht eine Redeweise, die in allen Kulturen von Menschen die Erfahrungsweise des Todes wiedergibt? Auch dort, wo etwa eine Ahnenreligion alles beherrscht? Ohne Zweifel war die Beschreibung von >Sein und Zeit< aus christlichem Erfahrungsgrunde geschöpft. Unsere abendländische Denkweise ist aber gewiß nicht die einzig mögliche, die Todeserfahrung zu denken. Ahnenreligionen, aber auch etwa der Islam, scheinen anders zu denken. Hat der späte Heidegger über seine eigene christliche Erfahrungsweise hinausgedacht? Vielleicht. Jedenfalls hat er auf die griechischen Anfänge hin zurückgedacht. Wer nicht die Bedeutung der griechischen Anfinge Heideggers im Auge hat, kann den späten Heidegger nicht wirklich verstehen. Das liegt nicht an Heidegger, sondern das liegt an dem, was unter uns Philosophie heißt und was unsere Kultur auf den Weg des Wissens gewiesen hat. Von dieser Herkunft bleiben wir bestimmt und müssen uns von ihr zu neuen Möglichkeiten des Denkens gleichsam ermächtigen lassen. Immerhin läßt sich dies sagen: Was an der griechischen Philosophie so bewegend ist, das ist, daß sie ihren Weg gegangen ist, der der Weg des gesprochenen und des antwortenden Wortes ist, ohne auf das zu reflektieren, was der Sprechende ist und wer dieser Sprechende ist. Die Griechen hatten kein Wort fiir das Subjekt. Der LOgos ist das Gesagte, das Genannte, das Zusammengelesene und Niedergelegte. Das wird nicht von der Leistung des Sprechers aus gesehen, sondern vielmehr von dem aus, worin alle übereingekommen sind. Da ist ein klassisches Wort des Sokrates: $es ist nicht mein LOgos«. Das gilt fiir Heraklit wie fiir Sokrates: der LOgos ist gemeinsam. So konnte Aristoteles alle Theorien abweisen, die den Wörtern eine naturhafte Sachbeziehung zusprechen. Die Wortzeichen sind kata synthiken, das heißt, sie sind Konventionen. Aber das meint nicht Vereinbarungen, die irgendwann getroffen worden sind; sie sind Einigkeiten, die aller Differenzierung in diese oderjene Worte vorausliegen. Es ist der Anfang, der nie angefangen hat, sondern immer schon ist. Er begründet die unlösbare Nähe zwischen Denken und Sprechen und bleibt selbst noch der Frage nach dem Anfang oder der Frage nach dem Ende der Philosophie überlegen.
18. Danken und Gedenken (2000)
Unter diesem Titel spielt eine Vielfalt von Begriffen und vor allen Dingen eine Vielfalt, die mich seit langem beschäftigt, da sie offenkundig nicht zufällig ist. In der Verwandtschaft von Denken und Danken, Gedanke und Gedenken und Dank hat die Weisheit der Sprache uns Fingerzeige gegeben, in der ein so außerordentlich schwer zu fassendes Phänomen, wie Dank, Danken und Dankbarkeit seine Bedeutung fLir unser Leben und Denken entfaltet. Wenn ich mich an der Begegnungsweis~ der Sprache orientiere, so folge ich im gewissen Umfange der klassischen Tradition der Phänomenologie, die die Sachen selbst in ihrer Lebenswelt aufsuchen, und das heißt zugleich: wie sie im sprachlichen Umgang begegnen. Unter dieser Anweisung frage ich daher nach der Gemeinsamkeit, die zwischen Denken und Danken, Dank und Gedanke hin und her geht. Das Thema hat mich auch in der gegenwärtigen deutschen Philosophie von seiner Aktualität überzeugt, wenn wir auf die Nähe und Ferne zwischen Hölderlin und Heidegger unser Augenmerk richten, aufHölderlins Sprechen von •>einzigem Dank« und von Heideggers Anlehnung an Hölderlins Dichtung fLir seine eigenen Gedanken. Daß sich dabei auch die Dankbarkeit meldet, versteht sich von selbst. und ich verweise dafur auf Henrichs Auf~atz in >Oikeiosis<. Wenn ich Danken und Gedenken zusammenstelle, so soll auch das etwas im Wesen des Dankes vorgängig anzeigen. Offenbar liegt auch im Dank ein Zurückblicken und ein Zusammenfassen von Vergangenem, das noch immer als bindend empfunden wird. Meine Absicht ist, zu zeigen, daß auch im Wesen des Gedankens eine ähnliche Bindung durch das Vergangene am Werke ist. Von da aus hoffe ich zu zeigen, daß auch Danken und Dankbarkeit, die fur den Theologen ihre besondere Bedeutung haben, dieselbe mit dem Denken der Philosophie teilt. Wir beginnen damit, daß fur uns >Sein< ln-der-Zeit-Sein heißt. Alles, was wir sind, ob als Denkende oder als Dankende, ist von dem Strom der Zeit getragen. Heidegger sagte es auf dramatische Weise, daß wir >geworfen< sind, und das heißt, daß wir hier erwas Unverständliches begreifen wollen, nämlich daß wir in der Zeit existieren, in der \vir Welt und Selbst erfahren. Da hilft es uns nicht viel, erwa von der Psychologie lernen zu wollen, wie wir diese Er-
fahrung der Zeit und der Zeitlichkeit in unseren Kindestages und über Lernen unserer Weltorientierung durch das Sprechenlernen erwerben. Es bleibt Sache des Philosophen, den Urnriß der Abstraktion aufZusuchen, auf dem das Grau in Grau aller Theorie beruht. Eine der wichtigsten ersten Feststellungen muß nun sein, daß wir mit Danken nicht in erster Linie Danksagen meinen. Danken ist mehr als Sagen. Danken ist ebensoviel mehr als Danksagen, v1rie Denken mehr ist als Sätze-Sagen. Doch werden wir in beider Hinsicht eine gegenseitige Erhellung erwarten, und wie beides damit zusammenhängt, daß Denken und Danken eine Dimension der Zeitlichkeit in sich schließt. Man muß sich aber dessen be'h'tlßt sein, daß der Alltag der Erfahrung von Dank in der Gegenseitigkeit nicht aufgeht, die zwischenmenschliches Verhalten weitgehend durchherrscht. Vielleicht ist es vielmehr das Wesen des Dankes und am Ende sogar das Wesen des Gedankens, daß siejede Gegenseitigkeit überschreiten. Aus diesem Grunde ist es schon eine Verengung der Fragestellung, wenn wir beim Danken an das >Dankesagen< denken. Wer >danke< sagt, lernt bekanntlich, daß, wenn ihm >danke< gesagt wird, >bitte( zu sagen hat. Das Kind begreift wohl, daß diese Abwehr sagen will; es sei keine Ursache zu danken gewesen. Wir befinden uns damit von vornherein in dem Zusammenhang einer gesellschaftlichen Dialektik, die in der Gegenseitigkeit ihre Wurzeln hat. Jemandem danken erkennt in gewisser Weise den anderen an. Das kennen wir ja auch von unseren Grußsitten, und wir kennen alle das fatale Erlebnis, was mit dieser Gegenseitigkeit und ihrem Ausbleiben verknüpft ist. So etwa, wenn man jemanden ehrfurchtsvoll grüßt und der andere reagiert überhaupt nicht. Man hatte ihn vielleicht fur einen ganz anderen gehalten als er ist oder war er es, und wollte mich >schneiden Das gehört zu den unangenehmen Augenblicken des gesellschaftlichen Lebens, weil es \vie eine Verweigerung der Anerkennung meinen kann. Ähnliche Probleme stecken in dem Begriff der Dankesschuld, die man gegen jemanden hat. Komnlt man damit der Dankbarkeit näher? Oder ist es bereits eine Verfallserscheinung dessen, was Danken und Dankbarsein in Wahrheit ist? Wenn man von Dankesschuld spricht, fällt einem jedenfalls das Gegenteil ein, ich meine den Undank. Was ist das? Heißt das, daß Dank erwartet wird, und ist es dann noch Dank, wenn es von dem anderen erwartet wird? Ich komme damit zu einer ersten These: Dank ist ein Überschußphänomen. Er läßt sich nicht durch eine Gegenleistung abgelten. Zwischenmenschliche Beziehungen werden zwar durch Konventionen geregelt, aber nicht eigentlich menschlich gestaltet. Es ist mit dem Dank ähnlich, wie mit dem Geschenk. Das heißt auflateinisch >gratia< und schon ist man inmitten schwieriger theologischer Probleme. Wir kennen das aber auch aus dem Alltag der Lebenswelt. Es ist nicht ganz leicht, schenken zu können, und es ist auch nicht ganz leicht, sich beschenken zu lassen, und wenn sich die Gegenseitigkeit da-
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bei einstellt, ist etwas von der selbstverständlichen Menschlichkeit schon verfehlt. Der Austausch von Geschenken, eine der ältesten Formen der Friedensbeteuerung, weist auf die Feindlichkeit und Gefährlichkeit zurück, die die zwischenmenschlichen Beziehungen bedrohen. Etwas näher kommt man an die Sache, wenn man einige andere Wortverzweigungen verfolgt. So sagen wir etwa, ohne es ihm zu sagen, daß man jemandem etwas verdankt. Darin liegt schon eine Anerkennung, die nicht auf das Sagen weist, sondern auf das Wissen und das Sein. Sehr merkwürdig ist auch unser Gebrauch von Abdanken, zum Beispiel, wenn jemand aus einer fuhrenden Stellung scheidet, oder wenn es gar, wie in der Schweiz, ein Ausdruck fiir die christliche Beerdigung ist, in der ein Danken der Lebenden oder vielleicht mehr noch eine Teilnahme an dem Dank des Abgeschiedenen liegt. Wir finden in all diesen Wendungen Anklänge an menschliche Erfahrungen, die die reine gesellschaftliche Gegenseitigkeit übertreffen und damit das Verhältnis zum Transzendenten oder zum Göttlichen aus unserer Lebenswelt heraus verständlich machen. So ist es eine gute alte theologische Sitte. Augustin hat fiinfzehn Bücher >De Trinitate< geschrieben, in denen er weltliche Phänomene als Gleichnisse fiir das unbegreifliche Mysterium der christlichen Kirche aufbietet. So gehen wir auflegitimierten Spuren, wenn wir von menschlichen Erfahrungen ausgehen, die uns leiten. Als erstes darf uns gelten, daß das Dankesagen und seine Erwiderung sowie alle anderen Formen des Ausdrucks von Dank, die eigentliche Dimension des Phänomens gar nicht erreichen. Dankbar-sein liegt eine ganze Stufe tiefer, als der Ausdruck, durch den man den anderen seine Dankbarkeit fühlen läßt. Damit haben wir die Dimension erreicht, in der unser Thema uns angeht. Danken ist immer eine Erfahrung der Transzendenz. Das heißt, es geht immer über den Erwartungshorizont hinaus, in dem menschliche Beziehungen zueinander ihre gegenseitige Bilanz aufstellen. Nichts gegen die Bedeutung der gesellschaftlichen Konventionen und die Bilanz ihrer Gegenseitigkeit - und doch ist nicht alles in Ordnung, wenn man aufgrund einer Einladung, die man angenommen hat, sich sagen muß, daß man den anderen in einer Gegeneinladung einladen >muß<. Darum geht es mir, den Überschuß aufzuzeigen, der im Danken gelegen ist - und der im Denken gelegen ist. In unserer von der Wissenschaft beherrschten philosophischen Kultur findet man wenig zur Phänomenologie des Dankens. Doch darf man an Kierkegaards >Krankheit zum Tode• erinnern. Auch kann uns die Nachbarschaft von Danken und Denken dazu helfen, einen Denker wie Aristoteles heranzuziehen. Im zweiten Buch der >Analytika posteriora< schließt die Abhandlung mit einem 19. Kapitel. Es ist wie ein Anhang zu der Analyse von Beweis- und Schlußfiguren, durch die Aristoteles zum Begründer der abendländischen Logik geworden ist. Schlüsse gehen von Erkanntem aus, und so stellt sich die Frage, wie man das >Erste< kennenlernt, die archa{, die Prinzipien. Unter die-
Danken und Gedenken
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sem Titel wird in der Logik meist das Thema der Induktion verhandelt. Da heißt es etwa, daß man einzelne Wahrnehmungen habe und dann eine Fülle von Wahrnehmungen, und daraus bilde sich mnime, memoria, Gedächtnis und Behalten. Das ist der Weg, wie etwas zustandekommt, etwas, das im Fluß der an einem vorbeirauschenden Wahrnehmungen festgehalten wird. Und so ergibt sich am Ende, so etwas wie Erfahrung, in der das Allgemeine zustandegebracht ist. Wir suchen, was Dank ist und sind dabei zu finden, was ein Gedanke ist. Wie bildet sich dieses Allgemeine in der strömenden Zeitlichkeit unseres Vorstellungslebens? Wir narmten es Erfahrung, und meinen damit, daß es viele Erfahrungen sind, aus denen die eine Erfahrung sich bildet. In ihr liegt die Wendung zum Wissen, aufgrund dessen wir von etwas Allgemeinem aus unser Erfahren leiten können. Wie im Gedanken liegt ein solches Allgemeines, das über alle empirischen Fälligkeiten und Zuf.illigkeiten hinausweist. Wie bildet sich dieses Allgemeine? Aristoteles ist ein Meister großartiger Metaphern. Wie kommt derm aus diesen vielen Erfahrungen das Allgemeine zustande, etwas Höheres, das immer herrscht und das Erfahrungsleben beherrscht? Wo kommt solche Herschaft zustande? Aristoteles vergleicht es mit einem Heer, das auf der Flucht ist. Alle rermen, um ihr Leben zu retten. Schließlich schaut einer einmal zurück, ob ihm der Feind noch auf den Fersen ist. Er rennt weiter. Dann sieht er, der Feind ist noch weit. Schon geht er langsamer. Der nächste wird auch langsamer. Schließlich bleibt einer stehen, und vielleicht bleiben noch ein paar andere stehen. Noch steht deswegen nicht das ganze Heer. Aber schließlich kehrt das Ganze unter das Korrunando des Truppenfuhrers zurück. Das heißt auf Griechisch: archi, Korrunando oder Prinzip - ein glänzendes Bild ftir das, was seine Standfestigkeit inmitten der Flucht der Erscheinungen beweist. Dieser Vorgang zeigt sich nicht zuletzt auch in unserer Sprache. Wenn wir zum Beispiel sagen: "hier kommt mir der Gedankecc. Da meinen wir nicht, daß mir irgend etwas Beliebiges einfällt. Es ist mehr gemeint etwas zur Sache. Das, was mir da kam, der Gedanke, ist etwas, das standhält, auf das man zurückkommen kann und von dem aus sich vieles lernen oder klarmachen läßt. So ist es übrigens im Sprechenlernen auch. Das schöne Gleichnis des Aristoteles ist von dem Korrunentatar Themistius geradezu durch den Verweis auf das Sprechenlernen erläutert worden. Im starrunemden und lallenden Stimmgebrauch des Kindes erhält schließlich etwas seine feste Bedeutung. Darin liegt so etwas wie ein Gedenken. Das ist nicht >sich erinnern<. Da wird nicht etwas heraufgeholt, wozu dann immer ein ganzer Vorgang des Suchens gehört, so wie wir etwa ein Wort suchen, das uns entfallen ist. Aber wie kann man eigentlich suchen? Etwas, was man nicht weiß? Das ist die bekannte platonische Aporie. Darin liegt in Wahrheit, was ein Gedanke ist. Ein Gedanke ist immer ein vielfaltiges Potential möglicher wahrer Sätze und tritt nicht nur in diesem
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einen auf. Sowie Lailaute etwas bedeuten, sind sie schon ein Allgemeines, und weisen damit auf einen unbestimmten Bereich dessen, was man meinen, zeigen und mitteilen kann. Wie mit dem Gedanken ist es nun mit dem Dank. Eine schöne Illustration ist dafur, was die Griechen mit dem Wort Charis meinen. Als Grußwort gesagt heißt das: >freue dich<. Charis kann auch ein Geschenk sein, mit dem manjemanden •eine Freude machen< will. Aber wieder ist es nicht das Geschenk, sondern die Freude, die man machen will. Wir kennen es auch von dem Gebet, das nicht Etwas erbittet, als ob ich \Vüßte und besser wüßte als Gott, zu dem ich bete. In diesem Sinne ist der Dank keine Beziehung von Gegenseitigkeit, die sich in Geschenken oder Einladungen ausgleicht. Damit zeigt sich, \Vas eigentlich Dankbarkeit ist. So wie der Dank kein Tauschhandel ist, so ist auch Dankbarkeit nicht Gegenstand einer Kalkulation. Es ist wirklich fast \Vie das Lernen von Worten, die man >hat<. Dankbarkeit meint nicht ero..-as Bestimmtes, das man angeben oder miteinander verrechnen kann. Die Redensart zeigt es, daß man >unendlich dankbar< ist. So kann es als eine Eigenschaft gelten oder gar als eine Tugend, daß man der Dankbarkeit fähig ist. Man bleibt sozusagen dessen eingedenk, daß man jemanden et\'lras dankt oder verdankt. Doch ist es zugleich etwas, was in einem selber wächst, sei es, daß man jemanden dankbar ist, sei es, daß man fur etwas dankbar ist. Es ist wie bei dem fliehenden Heer, das durch den Fliehenden wächst, wenn er stehen bleibt, und es wächst mit allen anderen auch. Es kommt ein Sich-Sammeln in Gang. Darin ist inbegriffen, das wir nicht artikulieren können, und gerade darin besteht die Dankbarkeit, daß man in der jeweils konkreten Situation den anderen seine Dankbarkeit nur fuhlen lassen kann. So gibt es unzählige Phänomene, die in den gleichen Bereich gehören. Man denke an das Vergeben, das Verzeihen und auf der anderen Seite, die Bitte um Vergebung oder Entschuldigung. Auch das sind im menschlichen Leben die eigentlichen Vorgänge: nicht die, daß man etwas sagen muß, sondern daß man sich entschuldigen möchte, und so ist die wortlose Vergebung oder Versöhnung mehr als Worte sind. Es erneuert sich darin das Zutrauen zueinander, das weit mehr ist, als ein Wort oder ein Geschenk. In diesem weitesten Sinne gibt es auch so etwas wie eine Dankbarkeit fur das Leben und das Dasein, und wieder ist nur von da aus ein Hinv.reis auf das enthalten, was in religiös gebundenen Kulturen seinen kultischen Ausdruck hat. Wenn ich von diesen Überlegungen noch einen Schritt weiter zu gehen versuche, kündigt sich aus rationalen Gründen etwas an, was wohl in aller religiösen Erfahrung eingeschlossen ist. Es ist die Lehre von dem verborgenen Gott, die hier eine universale Reichweite gewinnt. Wir müssen darin eine Menschheitsaufgabe sehen. Die Erfahrung des Göttlichen begegnet uns nicht nur in bestimmten Kirchen, Konfessionen, Traditionen, die den Anspruch der Rechtsgläubigkeit erheben, oder in Kulturkreisen, aber erfullt sich auch nicht
Danken und Gedenken
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in einer verwaschenen Weltreligion. Aber vielleicht fuhrt es doch alles auf die gleiche Grundlage, daß ein jeder sich seines Lebens freuen möchte, ob man fiir dasselbe als ein göttliches Geschenk zu danken hat oder als bloße naturhafte Geworfenheit denken mag. So hat etwa die Familie in den verschiedensten Kulturen eine unentbehrliche Tragfähigkeit. Das zeigt sich heute etv.ra in der japanischen Zivilisation, wo die Familie selbst noch die rationalen Konzepte der Altersversorgung oder der öffentlichen Wohlfahrt zu tragen vermag, und vollends das Mysterium des Todes findet in der Folge der Generationen oder anderer gelebter Solidaritäten nicht nur geheiligte Bräuche, die alle verbinden. Kein gesellschaftliches Herrschaftssystem kann auf die Dauer solche gewachsenen Formen von Dank und Gedenken ersetzen.
19. Wissen zwischen gestern und morgen (1998)
Das Thema der Zeit ist vor allem durch Heideggers >Sein und Zeit< in den Vordergrund unseres philosophischen Interesses gerückt worden. Man wird sich dabei insbesondere des griechischen Hintergrunds des Problems der Zeit bewußt, wobei Augustinus das Problem auf die Formel brachte, daß man zu wissen meine, was die Zeit ist, danach gefragt aber nicht sagen könne, was sie sei. 1 Man versteht diese Schwierigkeit der Bestimmung dessen, was die Zeit >ist<, ohne weiteres, insofern die Zeit nicht eigentlich >ist<, sondern >vergeht<. Die Spanne zwischen gestern und morgen scheint dem Anspruch zuwiderzulaufen, den das Wissen erhebt, denn wenn etwas Wissen auszeichnet, so ist es gerade dessen Unabhängigkeit von den Veränderlichkeiten des Geschehens. Gleichwohl ist das Problem der Zeit schon früh ein Gegenstand des philosophischen Denkens geworden, und so begegnet es im Schrifttum von Plato ebenso wie bei Aristoteles in wichtigen Zusammenhängen. Aristoteles war bemüht, von dem Begriff des ~etzt< aus die ständig abrollende Kette der von der Zeit durchlaufenden Jetztpunkte als ihre eigentliche Struktur herauszuarbeiten. Plato hingegen betont stärker das Rätselvolle der Zeit, wenn von ihm das Herausfallen der eigentlichen Zeiterfahrung aus ihrer Vergänglichkeit zum Thema gemacht wird. Das griechische exaiphnes übersetzt man in der Regel als das >Plötzliche•, also gerade als das, das sich allem Kalkulieren und Beherrschen der Zeitlichkeit entzieht. Vollends ist die aristotelische Definition der Zeit als Kette von Jetztpunkten eine Herausforderung fiir unser Denken, in der ein Jetzt nur die Grenze zwischen einem Soeben und einem Alsbald darstellt: Das Jetzt ist selber gleichsam nur eine Grenzbestimmung und teilt insofern die ontologische Rätselhaftigkeit des Punktes, der ohne Ausdehnung ist. Die Zeit ist sozusagen eine Denkfigur, der nichts entspricht, von dem man sagen möchte, daß es >Sein< hat. Deswegen habe ich die Formel >zwischen gestern und morgen< gewählt, weil sie zwar unbestimmt und doch allgegenwärtig ist. Mit der Frage nach der Zeit ist offenkundig mehr gemeint als die logisch-begriflliche Schwierigkeit, die in dem Problem des Seins der Zeit gelegen ist, das in Wahrheit ein Vergehen ist. Gestern und morgen sind mehr als 1
Cf. Augustinus, Confessiones XI, 14 (17).
Wissen zwischen gesrem und morgen
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nur ein gewesener und ein korrunender Jetzt-Punkt. Wie schon im Wort •morgen< anklingt, ist mit der Formel •zwischen gestern und morgen< auch kein willkürlicher Einschnitt ausgesprochen, der das •Zwischen< ausmacht; vielmehr ist eine Gliederung der Zeiterfahrung selbst zu Grunde gelegt, die alles Lebendige artikuliert: der Rhythmus von Tag und Nacht, Wachsein und Schlaf Dieser Rhythmus hat schon früh das Denken beschäftigt. Heraklit etwa sah die unheimliche Nachbarschaft dieser täglichen Erfahrung von gestern und morgen, die als Zeit erfahren wird, mit der Todeserfahrung. 2 Sie rührt in der Rätselhaftigkeit des totenäl:uilichen Schlafes und der immer neuen Überraschung des Erwachens an den Tod als dem Ende aller Erfahrung. Und doch, man kann sich gleichsam des Anspruches nicht erwehren, den das Wissen auf zeitlose Gültigkeit erhebt. Insofern auch haben nicht zufällig die Philosophie und die sie begleitende Wissenschaft in der ständigen Fühlung mit und Nachbarschaft zur Mathematik ihren ersten Weg genommen. Der griechische Ursprung von •Mathematik< - nu1thema- verweist darauf, daß ihr Gegenstand allein durch vernünftiges Denken erlernt werden kann, so daß es nicht dem vorübereilenden Fluß der Erscheinungen und Veränderungen ausgesetzt ist. In ihrer Distanz zu aller möglichen Erfahrung sind Geometrie und Zahlenkunde auf ein Jenseitiges von Raum und Zeit gerichtet. Es ist die reine Vernunft, die das eigentlich Wißbare auszeichnet, das sich nicht nur auf ein gerade Anwesendes, jetziges und Gegenwärtiges bezieht, sondern ein Wissen von etwas Zeitlosem ist. Dieser Sinn von •Zeitlosigkeit• der Wissensinhalte steht in besonderer Weise zu dem quer, was wir in der Erfahrung der vergehenden Zeit artikulieren, wenn wir von >gestern< und von •morgen< sprechen. Was kann ein >Zwischen< zwischen diesen beiden Erfahrungen, der Erfahrung des Gestern und des Morgen, überhaupt sein? Daß zwischen beiden Erfahrungen ein Gegensatz besteht, ist unverkennbar. Beiden Richtungen des Fragens. was das Gestern und was das Morgen ist, haftet etwas von Dunkelheit an, und doch in verschiedener Weise. Geht man von zwei Dunkelheiten aus, zwischen denen ein Augenblick der Helle auftritt, so hat fiir uns das Vergangene eine andere Qualität als das Korrunende. Der Helle des Tages gegenüber ist das •Gestern< im Verblassen und Verdunkeln. Das Vergangene ist unabänderlich, unserer Verfugung entzogen, weswegen die Griechen Wert darauf gelegt haben zu sagen, selbst die Götter könnten Geschehenes nicht ungeschehen machen. Am Ende kann man vom Vergessen des Vergangeneu sprechen: Man >kann< das vergessen, was >vergangen< ist_ Umgekehrt ist das >Morgen< zwar vom Augenblick des Erwachens unserer Aufinerksamkeit an, im hellen Lichte unserer geistigen Gewärtigkeit, dasjenige, was noch >Zeit hat< und •vor uns liegt<, was aber ebensosehr in die Ungewißheit des Planens, des Erwartensund des Hotrens gehüllt bleibt. So kann sich die Wissenschaft der Zukunft gegen2
Cf. Heraklit, Fragmente B 26.
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•Alftheia•
über nur mit der größten Vorsicht und mit zögernden Schritten bemächtigen wollen. Dennoch ist unser Leben ungeachtet der Unberechenbarkeit der Zukunft von einem Vermuten, Voraussehenwollen, Planen, Orientieren und Hoffen auf das Zukünftige hin erfüllt. Man stellt sich unwillkürlich die Frage, ob nicht auch das Gestrige dem Wissen mehr oder minder entgeht. Die Wissenschaft hat die hinter uns liegende Vorzeit von jeher mit ganz anderen Mitteln und in ganz anderer Weise zu bestimmen versucht als die Zukunft. Von besonderer Bedeutung sind die Formen des Mythos, der Sagen und der dichterischen Wiederkehr. Die Gegenwärtigkeit des Vergangeneo scheint in besonderer Weise fiir den Rückruf in die Gegenwart offen zu sein. Ob die Rede von einer> Wissenschaft< hier angemessen ist, ist allerdings umstritten. Die historischen Wissenschaften haben sich sogar als Bezeichnung nicht recht etablieren können, so sehr auch die griechische Kultur gerade in ihren Historikern besondere Meisterleistungen der Vergegenwärtigung und der Verständlichmachung des Vergangeneo hervorgebracht hat. Das Wort >Historie<, das wir mit lateinischem Akzent aus dem Griechischen kennen, verleugnet im Grunde selber die Vergangenheit. Es ist der >Augenzeuge<- detjenige, der dabei war- der die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart leugnet. Der Raum aber, in dem die Erhellung der Vergangenheit ursprünglich statthatte, ist der öffentliche Platz, der Raum des Festes und Rituals, in dem die Vergegenwärtigung wirkliche Wiederkehr ist. Weder Zukunft noch auch Vergangenheit sindjedoch in demselben Sinne da, in dem das Wissen, unter Durchmessung des >Gegenwärtigen<, sich vermittelt. Es ist ein großes Ereignis in der Geschichte der menschlichen Kulturen allgemein im Verhältnis zu ihrer Vergangenheit, daß neben das Gedächtnis die Schriftlichkeit getreten ist und man fragt sich, ob nicht auch die Wissenschaft der Mathematik und der ihr innewohnende Beweisbegriffbereits einen Fortschritt an Abstraktion verrät und vorbereitet, den wir im Übergang vom Rhapsoden-Zeitalter in das Zeitalter der Schriftlichkeit und der Lesekultur vollziehen. Zu den großen Ereignissen der abendländischen Kultur im besonderen gehört ohne Zweifel, daß dieser Schritt mit der Entwicklung des Alphabets einherging, wobei ein entscheidender Schritt der Griechen der war, auch die Vokale in die Schriftzeichen aufzunehmen. Eine interessante Frage ist, v.rann die Lesekultur sich von der Vokalisation im Sinne des begleitenden Sprechens befreit hat und der reinen Abstraktionskraft der Zeichendeutung vertraute. Mit dem Übergang zur >Schrift< geht ein bedeutungsvoller Wandel einher. Die Übersetzung mündlicher Rede in die Schriftlichkeit ist die Umsetzung in eine neue Gattung, in der die Sprache etwas anderes leisten muß als im oralen Vortrag, der u. a. von Gestern, von der Modulation der Stimme, von der Konzentration in und auf die Rede begleitet ist. Man nimmt an, daß in der antiken Welt bis in das 12. Jahrhundert hinein die Stimme das Lesen begleite-
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te 3 . Mit der Durchsetzung der Schriftlichkeit ist demgegenüber der Ausfall einer ganzen Dimension der Zeichengebung verbunden. Uns ist inzwischen das >nicht< von der Stimme begleitete Lesen so geläufig, daß auch das, was an der Schriftlichkeit >Stil• genannt wird, eine besondere Bedeutung entfaltet hat. Dies steht auch im Gegensatz zu der Rede, die ehedem dem vortragenden Rhapsoden überlassen und anvertraut war. Das Herauslesen des Gemeinten aus den schriftlichen Symbolen nimmt mit dem Gutenbergzeitalter eine vollends neue Entwicklung, die eine neue Lesekultur zur Folge hat. Sie trägt insbesondere dem utilitaristischen Aspekt der Informationsvermittlung Rechnung. Wir sind durch den gegenwärtigen technologischen Fortschritt, im Zeitalter des Computers und der technischen Kommunikation, im Begriff, eine abermals neue Wendung zu durchlaufen. So beobachten wir, wie mit diesem Fortschritt mehr und mehr die lyrische Poesie an Lebenskraft verliert. Daß Lyrik den stinmilichen Klang vom Lesen mitverlangt und •hörbar< sein muß, macht die Selbständigkeit und damit auch die Dimension der Kunst im Gebrauch der Sprache in einem ganz anderen Grade aus, als dies den heutigen Lesegewohnheiten entspricht und dem modernen Leser abverlangt \Vird. Gleiche Wirkung hat auch die Ausbreitung der durch Reproduktion bestimmten Kommunikationsformen, wie sie durch die technischen Übertragungsmedien im Gebrauch der Sprache herrschend ge,l\•orden sind. Es gehört zu dieser Entwicklung. daß der gewandelte Gebrauch der Sprache selber vieles ausschließt, was ehedem an Gemeinsamkeiten und Möglichkeiten der Mitteilung zwischen Menschen bestand. Die technische Vermittelung tlihrt zu einer unaufhebbaren Verarmung der Gegenseitigkeit im Miteinander. Die Folgen werden sich auch an der Wissenschaft selber beobachten lassen, sofern die eigentliche Kunst des Erzählens, der Erzeugung von Erwartung und Spannung, der Überraschung und der unmittelbaren effektiven Berührung erlahmt und zu weiteren Abstraktionsgraden der Sprache fuhren \Vird. Eine solche Wirkung kennen wir bereits aus der Rolle, die die Information und ihre Vermittelung im öffentlichen Umgang spielr. Nicht nur der Gebrauch des Wortes selber, sondern zugleich auch die Weise des Umgangs mit der Mitteilung, die die Information enthält, wird dabei unter anderem unsere geschichtlichen Wissenschaften beeinflussen. Wenden wir uns nun dem Wissen um die Zukunft zu. Selbstverständlich beeinflußt der Stand unseres Wissens auch die Erwartungen, die wir auf die Zukunft richten. Schon im Begriff der Information liegt in Wahrheit ein Zukunftsbezug, sofern deren Berücksichtigung dem zukünftigen Handeln ent3 Augustinus zitiert die Ausnahmefigur des Bischof~ Ambrosius. der über die Fähigkeit verfugte zu lesen. ohne dabei laut zu sprechen: cf. Confessiones VI, 3 (3) sowie J. O'Donnells aufschlußreichen Kommentar hierzu in: Augustine, Confessions 11. Commentary on Books 1-7, Oxford 1992, S. 345.
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gegenkommen soll. Information ist ja eine Beschränkung, die dem Handelnden eine Entscheidung nicht suggeriert oder anrät, sondern nur eine Hilfe fur die eigene Entscheidung anbieten will. (Das gerade ist es, was das Miteinander in diesen Formen der Kommunikation so verarmen läßt.) Gleichwohl bleibt alles Handeln primär auf seine Folgen hin gerichtet und damit in der Zukunftsdimension. Es ist der EntwurfScharakter, der in allem Handeln liegt, so wie umgekehrt das Bereuen oder Beklagen begangener Fehler nur von begrenzter Handlungswirkung ist. Wenn wir auch einer Wissenschaft von der Zukunft keine große Bedeutung beimessen können, so sind wir doch auf den Gebrauch der Wissenschaft überhaupt angewiesen, auch wenn die Folgen unseres Handeins in allihrer Ungewißheit verbleiben. Wir können diese Zusammenhänge insbesondere an dem, was man Hotfuung nennt, studieren. Die Hoffuung ist eine Grundstruktur unseres Lebensbewußtseins, ohne die wir die Belastungen des Lebens wohl kaum tragen könnten. Trotzdem bleibt es eine beherzigenswerte Wahrheit, daß angesichts der Unvorhersehbarkeit der Zukunft unser Handlungsfreiraum ständig an Grenzen stößt. Freilich wird man auch nicht unterschätzen dürfen, wie sehr Wissenschaft und Technik regelnde Kräfte geworden sind, die 1ihrerseits< den Handlungsfreiraum beengen. Es ist auffillig, wie der Wert der Hoffnung etwa in primitiven agrarischen Kulturen zurücktritt, weil das eigene Handeln die stärkere Triebkraft des Erfolges ist. Hoffimng ist allerdings ein Schwächezeichen des Wissens, wenn sie >eitle< Hoffnung ist. Man gibt sich leeren Hoffnungen hin, statt vorzusorgen, den Acker zur rechten Zeit zu bestellen bzw. zu tun, was die Voraussicht gebietet. Aus diesem Grund warnt Hesiod, wie auch die griechische Mythologie, vor der leeren Hotfuung, der gegenüber der Mensch vielmehr kraft seines eigenen Willens Vorsorge treffen und wachsam sein soll. An der Wiege der abendländischen Kultur steht sicherlich ein Sinn von Hoffuung, der mit einem Vorausschauen verbunden und auf ein Handeln hin ausgerichtet ist, das aus einem Planen und Sich-Orientieren hervorgeht. Man muß an dieser Stelle weiter nach dem Unterschied zwischen >Hoffuung< und >Entwurf( fragen, aber es ist zugleich offenkundig, daß die Menschen hier philosophische Fragen stellen, auf die zu antworten niemand in der Lage ist- nach der Zukunft, dem Tode, dem Sinn des Lebens, nach dem Glück. Geht man von der Grundvoraussetzung dieses Fragens aus, bezeichnet sie, um mit Kant zu sprechen, eine menschliche Naturanlage, die uns Menschen von jeher auch fur die von den Religionen angebotenen Antworten empfanglieh macht. Im Zusammenhang dieses Fragens steht auch das Problem eitler Hoffuung in der Weise, wie sich die christliche Tradition zu ihm gestellt hat. Mit allen Religionen ist eine Verheißung verbunden, die das Mysterium des Todes annehmbar machen und es dem Menschen ermöglichen soll, den Tod im Lebensbewußtsein zu tragen. Wir erfahren die Beschränktheit unserer Voraussicht letzten Endes auch aus der entscheidenden Beengung der menschlichen Zukunft, die der
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Tod darstellt. Was man in der Philosophie die Transzendenz nennt, drückt auf verschiedene Weise aus, daß aller Voraussicht und Vorsorge eine Grenze gesetzt ist. Gewiß liegt in dem Verheißungssinn über den Tod hinaus eine religiöse Urerfahrung der Menschheit. Wir müssen allerdings auch innerhalb der verschiedenen herrschenden Religionswelten mit folgenschweren Differenzen in der Wirkungsweise der industriellen Revolution rechnen. Ich denke hier im besonderen an die Bedeutung des Calvinismus ftir die Zivilisationsentwicklung der modernen europäischen Welt. Daß wirtschaftlicher Erfolg als ein Zeichen göttlicher Gunst gewertet wird, hat ohne Zweifel den fortschrittsglauben und den wirtschaftlichen Wettkampf überhitzt und umgekehrt die Rolle der ritualen Lebensordnungen geschwächt, die in anderen Religionswelten weniger reduziert worden sind, selbst wenn diese sich die Errungenschaften der Technik auch angeeignet haben. Nun aber treten wir als solche in Erscheinung, die einerseits dem Kommenden, andererseits aber dem zugewandt sind, von dem wir herkommen. Mit der Wendung in die Vergangenheit ist ohne Zweifel noch stärker die Frage nach der Möglichkeit des Wissens verbunden. Der Unwißbarkeit der Zukunft steht (in Grenzen) die Wißbarkeit der Vergangenheit gegenüber. Wie läßt sich die Rückwendung in diese unsere jeweilige Vorgeschichte anthropologisch verständlich machen? Es scheint so etwas wie ein Be- bzw. festhaltenkönnen im Fluß des Vergehens möglich zu sein, wobei dieses Vergehen nicht ein solches der Zeit selbst, sondern vielmehr eines dessen ist, was die Zeit mit sich bringt und wieder mit sich fortreißt. Die Erinnerung geht etwa auf Prägungen (so wie ich mich erinnere, vom griechischen Denken geprägt worden ZU sein) zurück. Bei den Griechen sind mnime, das Gedächtnis, und anamnesis, die Wiedererinnerung, ja die eigentlichen Grundfunktionen menschlichen Denkens, das vermag, seine eigene Herkunft festzuhalten, das Erfahrene zu sammeln, zu verarbeiten und so auch zu einem vorgreifenden Wissen zu gelangen, wie es dasjenige ist, worüber etwa der erfahrene Handwerker oder der planende Ingenieur verfugt. Sicherlich liegt in der Möglichkeit der Aneignung solchen Wissens eine entscheidende Fähigkeit des Menschen. Ich erinnere mich der frage Heideggers an seine Schüler danach, was das Gegenteil zu >Erwarten< sei. Die Antwort aller war: >Erinnern<. Heidegger erwiderte: »Nein: >Vergessen<.« In der Tat ist uns heute in anderer Weise bewußt, daß das Fest- und Behalten ein Zeugnis ftir die Vormacht des Vergessens ist und welchen Lebensgehalt wiederum dieses Vergessen selbst in sich birgt. Das Vergessen kann geradezu eine Form des Verzeihens sein, eine Möglichkeit, selbst schwerstes Unrecht, das einem widerfahren ist, zu vergeben oder aber vergeben zu lernen. Folgt man bei der Frage danach, was Vergessen eigentlich ist, dem modernen technologischen Denken, müßte das eigentliche Ideal des Wissens die Speicherung, die instantane Abrufuarkeit sein. Verhielte es sich so, wäre die Zukunft der Menschen ihrem Erstarren sehr nahe.
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In Wahrheit gibt es das Wunder des Vergessens, jene Gegenmöglichkeit der Verarbeitung und Überwindung dessen, was einem zu schaffen macht, weil wir es nicht einfach vergessen oder uns bzw. dem anderen nicht schlicht\\'eg nachsehen können. All dieses wird am Ende von den wundertätigen Kräften, die im Vergessen liegen, verwunden. Daß der Mensch über eine solche Möglichkeit des Vergessens verfugt, ist von tiefgehender anthropologischer Bedeutung. Aischylos hat in seinem >Prometheus•-Drama 4 den Prometheus-Mythos unter diesem Gesichtspunkt gedeutet. Die eigentliche >prometheische< Leistung liegt in einem Vorausschauen, das den Menschen, die ihrerseits vorausschauen, ihr vorausschauendes Wissen von ihrem Ende verhüllt. Dem Mythos zufolge habe der Mensch anfangs in Höhlen gelebt und ein tristes, vegetierendes Dasein in der Erwartung des für ihn im voraus sichtbaren Todes geführt. Prometheus habe den Menschen dieses Wissen von ihrem Tod genommen und dadurch den Menschen die Zukunft geschenkt. Er kann sich sodann der Erfinder aller technai rühmen. Das Vermögen, vorauszubauen, ist dabei in gewissen Grenzen durch die Natur vorgeprägt, im Menschen ist es allerdings in besonderer Weise entv.rickelt, so daß Aristoteles etwa auch von plm51lesis spricht. Den Menschen zeichnet in besonderer Weise aus, nicht allein auf das Gegem:värtige in seiner Anziehungskraft ausgerichtet zu sein, sondern dieses zugunsren fernerer Ziele auch zurücksetzen, ausblenden oder >vergessen• zu können. In diesem Sinne ist der Mensch ein Wesen mit einem Begriff von der Zeit bZ\\'. einem Zeitsinn, was auch die Bereitschaft zu Opfern oder zur Übernahme von Bürden einschließt, \venn dies die Abwendung oder Besserung sonst fortbestehender größerer Lasten, Beschwerden oder Leiden verspricht. Betrachtet man das menschliche Verhalten von dieser Seite, ist offenkundig, daß kein Speicherungsideal leitend ist, wenn wir unser Wissen ennvickeln, mehren und vertiefen. Wir übersetzen es vielmehr in prospektive, strategische Fähigkeiten, die ein kalkulierendes, antizipierendes Wählenkönnen einschließen, aus dem Präferenzordnungen hervorgehen, die sich nicht schlechthin auf das Gegenwärtige und Verfügbare beschränken. Vor diesem Hintergrund wird nun aber auch deutlich, daß das Vergessen sehr eng im Zusanm1enhang mit der Frage nach dem •Wissen zwischen gestern und morgen< steht. Wir kommen so auch zu einigen Schlußfolgerungen, die im Ausgang unserer Leidrage zu erörtern sind. Es war schon davon die Rede ge,..,·esen, daß das Wissen zwischen gestern und morgen kein solches zwischen einemJetzt und einen anderenJetzt ist, was ja ohnehin eine bedenkliche Redeweise \Väre, weil sie davon ausgeht, daß man über das eine, erste Jetzt noch als Jetzt verfugt, wenn man das zweite Jetzt auf das erste bezieht. 4 Aischylos wurde die Autorschalt dieser ganz ungewöhnlichen Tragödie lange Zeit abgesprochen. weil sie sich so erheblich von den anderen von ihm überlieferten Tragödien unterschied.
Wissen zwischen gestern und morgen
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Von Bedeutung ist hier, daß zwischen dem >Gestern< und dem 'Morgen< nicht etwa das >Jetzt<, sondern vielmehr das >Heute< steht. Was ist das Heute? Ein >heutiger• Tag etwa; ein Tag, der mit seinem Licht die Dunkelheit ablöst. Gerade vor dem Hintergrund seiner Wissensauszeichnung macht der Mensch die hochbedeutsame Grunderfahrung des Rhythmus von Schlaf und Wachsein, der auch einer des Vergessens ist: Es ist die Erfahrung dieses Rhytlunus, in dem das vielleicht mit wirren Traumsignalen durchsetzte Vergessen statthat, die das Erwachen zu einer großen menschlichen Möglichkeit für unser wissendes und bewußtes Dasein werden läßt. Wir kehren sozusagen zu uns zurück, nachdem wir als Schlafende gleichsam leblos dargelegen haben und am Morgen erwachen. Bereits Heraklit stellte, wie ich eingangs erwähnt habe, in tiefsinnigen Analogien das Verhältnis des todesähnlichen Schlafes und desTodesschlafes und das Erwachen \vie das Anzünden einer Helle in einem selber dar. 5 Das Erwachen ist, wie sich sagen ließe, ein >Zusichkommen<. Und es eröffnet sich im jeweiligen >Heute< ein Weg in den kommenden Tag mit neuen Erwarrungen und erneuertem Lebensmut. Zwischen dem Gestern und dem Morgen liegt so das Vergessen im Schlaf und das erneute Erwachen zum Wachsein. Für unsere Frage nach dem Wissen des Menschen zwischen der Erinnerung und dem Vergessen kann aus einer erweiterten Sicht das was zuvor über das Fest- und Behalten, über das Wieder-Holen und Abrufen anklang, nochmals bedeutsam werden. Denn das Vermögen der Erinnerung ist eben etwas anderes als die Fähigkeit des Speicherns. Es gehört zu den Absonderlichkeiten unserer objektivierenden Wissenschaft, daß man über einen langen Zeitraum hinweg immer von >Engrammen< in einer >tabula rasa< gesprochen hat, die der Mensch ursprünglich sei. Plato, bei dem die Lehre von der anamnesa anhand geometrischer Beispiele entwickelt wird, bezog sich auf die griechische Mythologie. Zweifellos spielt er auf die in der orphisch-pythagoreischen Religion gelehrte mythisch-vorgeburtliche Vergangenheit des Menschen an. 6 Zugleich soll aber zur Klarheit gebracht werden, was das >Denken• ist und welcher Zusammenhang zu der Fähigkeit des Sich-Erinnerns besteht. Im >Menon< wird bekanntlich das sophistische Argument artikuliert, daß dem Menschen die Möglichkeit der Einsicht sowohl in das, was er weiß, als auch in das Ungewußte verwehrt ist.? Der arg6s Iogos, der diese These begründen soll, zielt darauf ab, das Fragen und Suchen als unmöglich zu erweisen. Aber wir wissen, daß im Menschen immer schon Vorprägungen und Anlagen in der mnlme liegen, sei es im >Gedächtnis< unseres Genotyps, sei es im >Gedächtnis< unserer organisch-leiblichen Funktionen, in unserem bewußten Wahrnehmen oder 5 6 7
Cf. loc. cit. (cf. Anm. 2). Cf. Platon, Menon 80c-82a. Cf. Platon, Menon 81 a.
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auch im Sprechenlernen und der Sprache überhaupt. Das >Erinnern< ist in diesem Sinne die Aktualisierung von Möglichkeiten, die im Menschen angelegt sind. Der Gedanke einer solchen Realisierung von Möglichkeiten bzw. Anlagen wirft ein bedeutsames Licht auch auf das, was das Wissen des Menschen zwischen einem Gestern und einem Morgen im Zeichen des Vergessens und Erinnerns sowie des Vorausschauenwollens und Orientierens in die Zukunft ist. In letzterem hat zweifellos auch das, was den Menschen zu dem fragenden Menschen macht, der er ist, seine eigentliche Wurzel. Und hieraus auch versteht sich überhaupt sein Geöffnetsein fur den Horizont des Fragens und den Horizont des Möglichen. Ich habe bislang von einer Erfahrung im Erinnern gesprochen, das ein Wählen, Gewichten und Herausheben ist und das voraussetzt, etwas abblenden und von etwas absehen zu können. Was flir die Erfahrung des Einzelnen zwischen gestern und morgen gilt, gilt so aber auch innerhalb der größeren Maßstäbe >des Heutigen<. Auch fiir das Heutige unserer gesellschaftlichen Lage, das Heutige unserer Kulturwelt, Epoche etc. gilt, daß es aus Vorprägungen, die weitgehend im dunkeln liegen, in beständiger, schrittweiser >Erhellung< zum Gegenstand unseres Wissens werden kann. Mit der Formel >zwischen gestern und morgen< drückt sich offenkundig der ganze Weltort des Menschen aus, der sich seines gesellschaftlichen Daseins und seiner politischen Verantwortung vor seinen Mitmenschen und heute vielleicht mehr denn je vor der Menschheit bewußt wird. Den Raum fiir ein Handeln aus solcher Verantwortlichkeit muß sich der Einzelne erst erschließen - er eröffnet sich ihm zwischen einem Gestern und einem Morgenjedoch äluilich der Art und Weise, wie sich der jeweils neue Tag dem planenden Verhalten des Menschen jeden Morgen von neuem aufschließt. Sowohl in der Perspektive des Einzelnen als auch im überindividuellen Horizont stellt sich aber die Frage, wie unsere Vorgeschichte, die Vorprägungen etwa, von denen die Rede war und die einen Teil unserer Herkunft ausmachen, ins >Dasein< gelangen. Bedeutsam ist Flatos Antwort, der er an dieser Stelle das >Plötzliche<- exaiph1tes- einfuhrt8 : Die Zeit, in der jedes Jetzt in den Abgrund des sogleich schon Vergangenseins fällt, stellte sich als Rätsel dar. Zwischen dem einenJetzt-Funkt und dem nächstenJetzt-Funkt kann eigentlich nur etwas Zeitloses, das nicht in der Folge der >Jetzte< steht, mithin das >Plötzliche< angenommen werden. Wir verfugen uber ein reiches Vokabular, um diese Erfahrung, etwa mit der Rede von dem Einfall oder der >Eingebung<, auszudrücken. (Spricht man demgegenüber von >Inspiration<, liegt darin vielleicht schon der Gedanke einer anspruchsvollen Interpretation, die den Sinn von Einfall und >Eingebung< als Hinnahme von etwas Gegebenem nicht in der gleichen Weise trifft.) Ich meine, daß von diesem Gedanken her sich 8
Cf. Platon, Parmenides 156d.
Wissen zwischen gestern und morgen
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entwickeln läßt, was ein Fragen, Suchen und Forschen in der wissenschaftlichen Kultur des Menschen seinem Wesen nach auszeichnet. Das Plötzliche, exa{phnes, bezeichnet in Wahrheit kein Zeitmoment, kein Jetzt, sondern bedeutet vielmehr >Präsenz<, die den Raum erftillt. Analog darf man Helle nicht mit dem Blitz oder der Flamme als Lichtquelle gleichsetzen. Sie ist vielmehr etwas, das sich ausbreitet und einen Raum ausbildet. Eine Eingebung ist uns auf vergleichbare Weise gegenwärtig, wenn wir auch ihren Ursprung, ihre Quelle nicht einsehen können. Weist sie uns etwa den Weg zur Lösung eines uns tief bedrängenden Problems, so können wir sie oft auch dann nicht erschöpfen, wenn wir den von ihr eröffi1eten Weg gleichwohl mit Besonnenheit prüfen. Es ist der >Präsenz<-Gedanke, auf den meine bisherigen Überlegungen eigentlich ausgerichtet gewesen sind. Bislang war von >Bewußtsein< nicht die Rede gewesen. Zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten wäre, so meine ich, eine zu einfache Trennung vorgenommen, wenn man eine Trennlinie der Art zieht, wie man sie fälschlicherweise auch zwischen dem Erinnerten und dem Vergessenen ansetzt. Dem gegenüber steht, was sich zwischen gestern und morgen im Lebensprozeß des Zu-sich-Kammern ereignet, sich aber auch auf das Ganze unserer bewußten gesellschaftlichen und politischen Handlungen übertragen läßt. Das Zu-sich-Kommen, Sich-bewußt-Werden, in dem das Dunkel der Helle weicht, ereignet sich nicht in einem Jetzt, sondern in den Raum dessen, worin Präsenz statthat. Die Helle der Präsenz kann inuner wieder schwinden, eine Evidenz kann sich verhüllen, wie auch eine Eingebung nichts ist, was uns treu bleiben muß. Mehr noch, sie kann sich auch als Fehleingebung erweisen und uns zu einem neuen Ansatz im Suchen zwingen, bis wir finden, was uns fehlt und worum es uns geht. Im •Symposion< läßt Plato Sokrates durch Diotima darüber belehren, was Wiederholung ist: Sie ist die Voraussetzung und damit das •Leben< der Gattung, die nur durch die Reproduktion der Individuen fortexistiert. 9 In gleicher Weise versinken alle wissenden Möglichkeiten des Menschen, wenn sie nicht wiederholt werden. Keine Wiederholung ist aber bloße Wiederholung. Sie ist Leben. In jeder Wiederholung liegt etwas von unserem zukünftigen Schicksal.
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Cf Placon, Symposion 207 d-208 c.
V Glossen
20. Ein >sokratischer< Dialog (1965)
SOKRATES: Wohin so eilig? FRED: Zum Tennis! SoKRATES: Wo spielst du denn? FRED: Nun, doch natürlich in dem besten Klub der Stadt. SOKRATES: So, du weißt also, welcher der beste ist? FRED: Natürlich. SOKRATES: Das interessiert mich. Bei so vielen Dingen habe ich vergeblich gefragt, was das ist, was etwas gut sein läßt. Ich bin glücklich, jemanden gefunden zu haben, der es weiß, wenn auch nur im Tennis. Darf ich fragen? FRED: Bitte. SOKRATES: Sag mir, warum ist dein Klub der beste? FREo: Weil man die besten Verbindungen bekommt. SoKRATES: Was fur Verbindungen? Zum Tennisspielen? FREo: Ach wo, halt Verbindungen. SoKRATES: Aber sage mir, gehst du nicht in den Tennisklub, um Tennis zu spielen? FRED: 0 ja, das auch. SoKRATES: Nun, dann sage mir, warum dein Klub fiir dein Tennisspielen der beste ist. FRED: Weil da die besten Spieler sind. SOKRATES: Das ist eine überzeugende Antwort. Und dennoch habe ich da noch eine kleine Schwierigkeit: Sag mir, mein Freund, wenn es nun alles viel bessere Spieler sind als du - hast du schon einmal erlebt, daß bessere Spieler mit viel schlechteren spielen wollen? FRED: Gewiß nicht. SOKRATES: Ist es dann nicht richtiger, in einen Klub zu gehen, wo die Spieler schlechter sind als du? FRED: So könnte es scheinen, aber dann lerne ich nichts. SoKRATES: Das ist wahr. Also ist es wohl das beste, in einen Klub zu gehen, wo man gleich gute Spieler findet? FREo: Offenbar. SOKRATES: Aber was heißt: gleich gute Spieler? Solche, die es glauben zu sein, oder auch solche, die es sind, wenn sie sich auch selber fiir besser halten?
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Glossen
fRED: Die es glauben und sind, denn die anderen würden dann doch wieder nicht mit mir spielen. SoKRATES: 0 weh, mein Lieber, -..vas hast du da gesagt? Hast du schon erlebt, daß jemand, der mit einem anderen gleich gut ist, nicht meint, besser zu sein? FRED: Ja, das ist wahr. SoKRATES: Ein solcher wird also nicht mit dir spielen mögen. Mit wem \villst du also dann spielen, wenn die, die gleich gut sind, glauben, zu gut zu sein? fRED: Mit den schlechteren, die glauben, gleich gut zu sein. SOKRATES: Aber dann lernst du doch wieder nichts. Und außerdem, wenn sie es merken, daß sie schlechter sind, V•lerden sie sich nicht danach drängen, mit dir zu spielen, weil sie doch wollen, daß man sie für gleich gut hält. fRED: Allerdings. SOKRATES: Es ergibt sich also, mein Lieber: nicht wegen der Spieler ist dein Klub der beste. fRED: Aber es gibt doch Ranglisten und Ausscheidungskämpfe, die das ausgleichen. SOKRATES: Hast du nicht beobachtet, daß solche Herausforderungskämpfe Zwietracht stiften? Und daß es in den Augen des Verlierers immer Zufall oder Schuld des Schiedsrichters ist, wenn er verlor? fRED: Ja. SOKRATES: Und daß die Gewinner umgekehrt sich nicht gerade drängen, ein Wiederholungsspiel zu spielen? FRED: Wohl, aber es gibt doch einen Trainer im Klub. SOKRATES: Ach so, du meinst, der Klub ist der beste, bei dem der Trainer am meisten zu sagen hat? fRED: Ja. SoKRATES: Aber wenn der Trainer nicht das Richtige sagt? FRED: Ich meine natürlich den Klub, der den besten Trainer hat. SoKRATEs: Was verstehst du denn unter dem besten Trainer? FRED: Nun, den, der die besten Stunden gibt. SoKRATEs: Aber was nützt dir das, wenn der dann nichts zu sagen hat. Glaubst du, der wird dann Spieler finden, denen du deine Fortschritte beweist? FRED: Das muß natürlich der Trainer machen, der stellt doch die richtige Rangliste auf. SoKRATES: 0 Gott, mein Lieber, je mehr du es mir erklären willst, um so unklarer v.·ird mir die Sache. Bitte sei nicht böse, aber sage mir doch, was ist die richtige Rangliste? FRED: Wie meinst du das? SOKRATES: Ich meine es so: Ist das die richtige Rangliste, wo der beste Spieler an der ersten Stelle und der schlechteste an der letzten Stelle steht? FRED: Ich glaube wohl.
Ein •sokratischer• Dialog
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SoKRATES: Aber \voher weiß man denn, wer der beste oder der schlechteste ist, wenn man keine Ausscheidungsspiele spielt? FRED: Oh, das sagt der Trainer. SOKRATES: Und woher weiß der es? FRED: Ach, der weiß es eben. SoKRATES: Aber hast du noch nicht gehört, daß mancher kluge Trainer nicht eine solche Rangliste aufstellt, sondern eine Rangliste, die er taktisch nennt? FRED: Doch. SoKRATEs: Wenn da nun der schlechtere Spieler vor dem besseren rangiert, meinst du nicht, daß der dann ein großes Interesse hat, jeden Vergleichskampf mit dem anderen zu vermeiden? FRED: Offenbar. SOKRATES: Eine >kluge• Rangliste bewirkt also, daß ernste Vergleichskämpfe nur mühsam zustandegebracht ,,·erden und das sportliche Spiel leidet. FRED: So scheint es. SOKRATES: Ist es dann nicht besser. einen Klub zu haben, in dem man überhaupt keine ernsthaften Spiele veranstaltet, sondern nur Trainingskämpfe? FRED: Es scheint so. SoKRATES: Aber meinst du \Virklich, daß das etwas hülfe? Glaubst du. daß bloße Trainingskämpfe nicht 'gewertete werden, wenigstens in den Garderoben? FRED: Da hast du recht. SOKRATES: Der beste Klub wäre dann vielleicht der. wo man überhaupt nicht spielt? FRED: Das nun doch nicht. Wozu wäre denn dann der Trainer da? SOKRATES: Aber wer ist nun eigentlich der beste Trainer? Du sagtest vorhin: der die besten Stunden gibt. Was meinst du damit? Der, dessen Stunden man flir die besten hält, oder der, dessen Stunden es wirklich sind? FRED: Der, dessen Stunden man für die besten hält und die es auch sind! SoKRATES: Aber \ver ist dieses >man Der Sportausschuß? Oder der Vorsitzende? Oder wer? FRED: Ich weiß nicht recht. SoKRATES: Ich \Vürde denken: die, mit denen der Trainer spielt. Denn die \vissen doch, was er für Stunden gibt. FRED: Man sollte es meinen. SoKRATES: Aber spielt denn ein Trainer mitjedem auf die gleiche Weise? Ist er denn einfach eine Maschine? FREo: Nein. Wenn es ihm gut scheint, sich anzustrengen. gibt er bessere Stunden. SoKRATES: Bessere Stunden, "vas meinst du damit? FRED: Nun, daß er bei der Sache ist und zum Beispiel während der Stunde nicht mit den jungen Mädchen in der Nachbarschaft flirtet.
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Glossen
SoKRATES: Meinst du nicht, daß er das weniger tut, wenn er selbst mit einem hübschen jungen Mädchen spielt? FRED: Da hast du recht. SoKRATEs: Der beste Trainer ist also der, der jungen Mädchen die besten Stunden gibt? FRED: Es scheint so. SoKRATEs: Ja, aber überlege doch einmal. Glaubst du eigentlich, daß man einen Trainer wegen der jungen Mädchen einstellt? FRED: Nein. SoKRATEs: Wer stellt ihn eigentlich ein? Meinst du nicht: diejenigen, die den größten Einfluß im Klub haben? FRED: Gewiß, die das Portemonnaie haben, also vor allem die Senioren. SoKRATES: Ohne Zweifel. Also wäre der beste Trainer der, der mit den Senioren am eifrigsten spielt? FRED: Ich weiß nicht recht. SoKRATES: Du siehst, die Sache ist nicht so einfach. Und überdies, vielleicht ist es bei dem Trainer so wie bei anderen Menschen auch. Vielleicht ist es gar nicht allein entscheidend, wie er selbst ist, sondern auch, wie seine Frau ist? FRED: 0 ja, das kann schon sein. lch habe gehört, daß ein ganz hervorragender Trainer deshalb so wenig Erfolgt hatte, weil seine Frau den Leuten so gar nicht gefiel. SoKRATEs: Siehst du, so ist es. Und so ist es immer. Sogar wenn es sich um den Platzwart handelt. Es scheint ein unlösbarer Konflikt zu bestehen: Ist der Platzwart gut, dann ist seine Frau nicht zum Aushalten, und ist die Frau nett, dann macht es sich der Platzwart bequem. Oder wie? FRED: Ja, es scheint so. SOKRATES: Aber darfich wieder fragen, wer ist denn eigentlich ein guter Platzwart? FRED: Oh, sehr einfach: der, der die Plätze gut instand hält. SOKRATES: Aber bleiben die Plätze nicht am besten instand, wenn man sie gar nicht benutzt? FRED: Allerdings. SoKRATES: Der beste Platzwart ist also der, der die meisten Plätze sperrt oder gesperrt hält? FRED: Aber darf er denn das? SoKRATES: Nun, entweder sind die Plätze zu naß, oder sie sind zu trocken. Oder sie sind ftir das nächste Turnier reserviert. >Einen< Grund gibt es doch rmmer. FRED: Es scheint so. SOKRATES: Du findest also den Klub am besten, in dem die meisten Plätze gesperrt gehalten werden? FRED: Ich glaube nicht.
Ein •sokratischer< Dialog
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SoKRATES: Nun, dann sage mir doch endlich, was der beste Klub ist! Ich bin ganz in Verwirrung geraten. Nicht der, wo man die besten Verbindungen bekommt, nicht der, wo die besten Spieler sind, nicht der, wo der beste Trainer ist, nicht der, wo der beste Platzwart ist. Welcher also? FREn: Vielleicht der, wo der beste Vorsitzende ist? SoKRATES: Vielleicht. Aber sage mir, wer ist der beste Vorsitzende? Der, vor dem alle Angst haben und der über alle herrscht, so daß keiner zu mucksen oder im Turnier zu verlieren wagt? Oder der, den man gar nicht merkt? FRED: Ich glaube, der, den man gar nicht merkt. SoKRATES: Aber sage mir, wozu ist er dann überhaupt da? FRED: Vielleicht merkt man ihn, wenn er nicht da ist. SoKRATES: Da hast du etwas sehr Kluges gesagt. Aber ich habe doch noch ein kleines Bedenken. Wenn man merkt, daß er nicht da ist, ist er doch unentbehrlich, und meinst du nicht, daß er selber das weiß? FRED: Gewiß. SOKRATES: Und wenn einer weiß, daß er unentbehrlich ist, hast du schon einmal erlebt, daß er dann nicht seine Macht ausübt? FRED: So scheint es. SOKRATES: Der beste Vorsitzende ist also der, den man etwas, aber nicht zu sehr merkt? FREn: So wird es sein. SoKRATES: Vielleicht ist aber der Sportausschuß wichtiger als der Vorsitzende? FRED: Ja, und der Vergnügungsauschuß. SoKRATES: Warum denn der? FRED: Weil es doch ein Vergnügen sein soll, in einem Klub zu sein. SoKRATES: Das ist gewiß richtig. Aber sage mir, was ist das rechte Vergnügen im Klub? Meinst du nicht, daß der beste Klub in den Augen der meisten der sein wird, wo die hübschesten Mädchen sind und wo man vor und nach dem Turnier am nettesten tanzt und am meisten trinkt? Und glaubst du eigentlich, daß es die beste Vorbereitung auf ein Turnier ist, wenn man am Vorabend tüchtig feiert? FRED: Eigentlich nicht. Aber manchmal ist das doch ganz gut. Denn wenn man verliert, wird es am Ende mit dem Feiern nichts - und obendrein hat man dann eine Ausrede. SOKRATES: Du meist also im Grunde, das sei der beste Klub, wo vor und nach dem Spielen am meisten los ist? FRED: Ja. Jetzt sprichst du mir aus der Seele. SoKRATES: Aber haben wir uns nicht darauf geeinigt, daß man in einen Tennisklub wegen des Tennisspieleus geht? FREn: Ja, das sagten wir. SOKRATES: Mir hat einmaljemand von einem Klub erzählt, ich habe vergessen, wo der war. Da war alles ganz anders. Der Mann erzählte von dem Klub- es
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Glossen
muß vor meiner Zeit gewesen sein- folgendes: ~Ais ich zum ersten Male in den Klub kam, sah ich einen Herrn, der sehr gut spielte - und er spielte nicht auf dem ersten Platz. Ich fragte, wer das sei. Da sagte man mir, es sei der Klubmeister. Ich fragte, mit wem er spiele. Ach, mit einem aus der zweiten Mannschaft. Ist das wirklich wahr, fragte ich und machte mir meine Gedanken. Und als ich mich weiter in dem Klub umsah, da glaubte ich mich in eine verkehrte Welt versetzt. Alles war anders. Als ich eingetreten war, wurde sofort ein halbes Dutzend Spiele arrangiert, um meine Spielstärke kennenzulernen. Wie leicht man da zu Verabredungen kam! Auch der Trainer sah öfter einmal zu und schlug mir danach neue Partner vor. Ich sah selber, wie er außer seinen Einzelsrunden das Mannschaftstraining leitete. Da beobachtete er scharf, gab taktische Lehren, unterbrach Spiele, stellte Spieler um, korrigierte Schläge, kombinierte Paare, und was meinen Sie, das tat er sogar mit der zweiten Damenmannschaft ... « fRED (umerbricht): Das ist ja ganz unglaublich! Ich dachte, der Trainer geht einer zweiten Mannschaft - und gar der Damenmannschaft - möglichst aus dem Wege. SoKRATES: Hör nur weiter, das ist noch gar nicht alles. Der Mann erzählte weiter: »Früher hatte ich gedacht, junge Leute spielen mit alten Bällen, und alte Herren spielen mit neuen Bällen. Hier dagegen bekamen die Junioren nur ganz wenig angespielte Bälle von den Älteren geschenkt. Und ftir das Mannschaftstraining stellte der Klub die Bälle. Und ständig gab es ernsthafte Ausscheidungsspiele, auch bei den Jüngeren. Wennjemand ein Spiel machte, holte er nicht dü: ganze Clique seiner Freunde als Zuschauer herbei. Er versuchte auch nicht, wenn es kritisch stand, den Gegner zu irritieren. Er behauptet nicht plötzlich, der andere habe falsch gezählt oder ein Aus-Ball sei gut gewesen und stritt darüber herum. Er schickte auch nicht zu scheinbarer Hilfeleistungen einen seiner Bekannten zum Ballaufheben auf die Gegenseite oder suchte sonstwie durch Zurufe und Lachen unter den Zuschauern den anderen aus der Konzentration zu bringen. Und wenn er trotz alledem, was er nicht tat, gewonnen hatte, was meinst du: da fragte er. wann sie das Rückspiel machen sollten und sobald es dem Gegner recht war, trat er wieder an. Und dann gab es da noch etwas Besonderes. Die Sechzigjährigen führten ein eigenes Turnier durch. Und denk dir, sie waren so eifrig dabei, daß sie mit ihrem Turnier stets als erste fertig waren. Keiner wich aus, keiner zierte sich, sondern jeder war jederzeit spielbereit.« FRED (unterbricht): Ist das wahr? Sind alte Herren denn anders als andere Leute? SOKRATES: Ich dachte eigentlich nicht. Ich meine, das müssen Halbgötter ge\vesen sem. Und mehr noch erzählte er: >)Da gab es Ehepaar-Mixed, bei denen kein böses Wort fiel und nicht nur, weil die Dame alles brav herunterschluckte. Und da konnte man Mutter und Tochter im Damendoppel sehen, und
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selbst wenn sie verloren, blieben sie so einträchtig, als ob es Freunde wären. Und das Allererstaunlichste war: man spielte viel Turnier, und trotzdem waren fiir die v;elbeschäftigten Herren am Wochenende und ebenso fiir die Schuljugend immer Plätze zur Verfugung. Wenn man auf die Klubterasse kam, schien es da überhaupt keine Cliquen zu geben. Jeder redete freundlich vom anderen, und nicht nur ihm ins Gesicht. Und niemand redete einen mit Titeln an. Sogar Professoren hatten einen ehrlichen Namen. Und da gab es Schachspieler, die spielten Drei-Satz-Kämpfe, ohne zu ermüden: Du wirst es nicht glauben, sie legten ihren Ehrgeiz darein, so schnell sie im Tennis spielten, so überlegt und gründlich die Spielzüge im Schach zu machen. Und noch die ältesten Herren, wenn sie auch am Schachbrett die Bälle besser trafen, spielten eifrig Tennis. Sogar 75-jährige! Oder irre ich mich? War es ein Klub, der schon 75 Jahre alt war?«
21. Goethe und Heraklit (1999)
Goethe ist nicht nur durch seine Dichtung von unbestreitbarer Gegenwart und auch nicht nur durch seine theoretischen Arbeiten, insbesondere die Farbenlehre. In Wahrheit durchdringt der dichtende und denkende Goethe sich inuner wieder in der erstaunlichsten Weise. So ist mir vonjeher aus seiner Jugendzeit eine fragmentarische Dichtung besonders vertraut, weil sie zum Nachdenken geradezu nötigt. Beginnt man mit solchem Nachdenken, findet man in Wahrheit immer wieder die gleiche Überraschung, die einen zum Nachdenken zwingt - bis in seine spätesten Jahre hinein. Beginnen wir mit dem Anfang, einigen Versen aus der fragmentarischen Dichtung über Prometheus. Wer wird da nicht stutzen, wie in den eindringlichen Versen »alles klingt an dir und bebt und zittert« und »in inner eigenem Gefiihle umfassest eine Welt«, und dann folgt nicht etwa ein höchstes Dasein, sondern »dann stirbt der Mensch«. Die Verse entstammen seinem >Prometheus(-Fragment von 1773. Wenn aus dem innerst tiefSten Grunde Du ganz erschüttert alles fuhlst Was Freud' und Schmerzen jemals dir ergossen. Im Sturm dein Herz erschwillt, In Thränen sich erleichtern will und seine Gluth vermehrt, Und alles klingt an dir und bebt und zittert, Und all die Sinne dir vergehen, Und du dir zu vergehen scheinst Und sinkst, und alles um dich her versinkt in Nacht, Und du, in inner eigenem Gefühle, Umfassest eine Welt: Dann stirbt der Mensch Prometheus-Fragment, Vers 393-403
Der junge Goethe hat unter seinen vielen Versuchen auch noch zwei Akte, die Prometheus zum Helden haben, als Fragment hinterlassen, zu dem er selber die spätere berühmte Hymne hinzunahm und das er fiir ein Stück des geplanten Ganzen hielt und drucken ließ. Der jugendliche Goethe sieht in Prometheus offenbar den zur Freiheit erwachten Urvater der Menschheit, der ganz auf sich selbst besteht. Man spürt
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im Aufbau des EntwurfS in den erhaltenen Szenen das Vorbild des Prometheus-Dramas des Aischylos; aber Prometheus ist bei Goethe ein anderer. Er verteidigt sich entschlossen gegen Zeus und seine Herrschaft: Hier meine Welt, mein All! Hier fühl' ich mich; Hier alle meine Wünsche In körperlichen Gestalten. Meinem Geist so tausendfach Getheilt und ganz in meinen theuren Kindern
Prometheus meint mit seinen •Kindern« die von ihm gebildeten Skulpturen, die dann mit Minervas Hilfe zu lebenden Menschen erweckt werden. Von ihnen heißt es später in einer anderen Szene, in der er die zum Leben erweckte Menschheit im Streit miteinander findet, er verurteile sie nicht. Ihr seid nicht ausgeartet, meine Kinder, Seid arbeitsam und faul, Und grausam, mild, Freigiebig, geizig, Gleicher all' euren Schicksalsbrüdern, Gleichet den Thieren und den Göttern
Das erhaltene Textfragment schildert dann, wie die Tochter des Prometheus, Pandora geheißen, eines Tages in wilder Erregung und voller Auflösung zu ihrem Vater kommt. Sie hat soeben ihre Freundin Mira offenbar in einer Liebesszene mit einem jungen Hirten gesehen. Sie kann sich in ihrer Unschuld gar nicht erklären, was sie da gesehen hat. Selbst wenn der Hirte geküßt wird, hält sie das fur Wiederbelebungsversuche. Prometheus gibt nun in wunderschönen Versen Auskunft: Daß all die Sinne dir vergehen Und du dir zu vergehen scheinst Und sinkst und alles um dich her Versinke in Nacht ...
Im Zuge dieser Verse erwartet man, was in diesen Versen geschildert, als der Liebesrausch und dessen Seligkeit bezeiclmet wird, und so triffi: es den Leser wie ein Schlag, daß Prometheus statt dessen als Erklärung sagt, dann stürbe der Mensch. Offenbar sieht sich Pandora selbst von dem ihr Unbekannten ganz hingerissen. Selbst das Wort »Tod<< schreckt sie nicht. So ruft sie ~ll Begeisterung: »Ü laß uns sterben«. Der Vater antwortet jedoch: •noch mchtc. ~ diese Antwort klingt wie etwas Unbekanntes, das über allem Sterblichen schwebt. Wie geht das beides zusammen die Liebe und der Tod? , heiß Man brauch es kaum zu sagen was Prometheus sagen will, wenn es t: »und alles löst sich endlich auf in 'schlaf«. Man versteht, was hier beschrieben
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Glossen
ist. Es ist der Rausch der Liebe, eine Erfüllung, die wie ein Sichverlieren ist, ein Aufgehen in etwas, in dem man sich selber aufgibt. Und doch ist dieser Augenblick wie eine allerhöchste Erfullung und wie ein höheres Dasein. Man muß sich fragen, ob hier nicht wirklich etwas Geheimnisvolles erfahren wird, das zwischen Liebe und Tod spielt. Ist es nicht wirklich das Wunder des Da, das wir in solchen Augenblicken höchster Erfullung erfahren und das uns gleichsam über unser ganzes Leben hin eine Begleitung ist? Es ist das berauschende Wunder des Lebens selbst, das Geheimnis des Bewußtseins, die Erfahrung das Da, das wir doch in jedem Schlaf verlieren. Die Griechen hatten selber ein rätselhaftes Wort dafür, in dem sich die volle Hingabe an das Da ausspricht, ein Aufgehen in etwas, ein Sichhingeben. Es ist etwas Rätselhaftes, was wir da Bewußtsein nennen, und ebenso die Bewußtlosigkeit. Das griechische Wort ist der Begriff des 1\lous. Aber wenn wir dafür Selbstbewußtsein sagen, so ist das etwas ganz anderes, etwas, das alles beherrscht. Nous dagegen ist keine Beherrschung, es ist das einfache Aufgehen im Da, in allem, was ist, wie im Spiegel. Das ist gar nichts Unbekanntes. Wir erfahren es täglich, wenn wir aus dem Schlaf erwachen. Der Schlafist ja wirklich etwas wie die äußerste Nähe des Totseins, und so sagt man von einem tief Schlafenden: »Er schläft \vie ein Toter.(< Ich glaube, daß schon Heraklit dies Wunder des Erwachens zum Thema gemacht hat, wenn er schreibt: »Der Mensch zündet sich in der Nacht von sich aus Licht an.« Der umstrittene Fortgang des Clemens-Textes, an dem viel herumgefeilt worden ist, scheint mir von heraklitischer Prägnanz: •Wenn einer tot ist, sind des Menschen Augen erloschen, wenn er am Leben ist, rührt er dagegen schlafend an den Toten. Wenn er erv.·acht und wie angezündet ist, rührt er an den Schla(
Es ist ein wunderbares heraklitisches Wortspiel. Das griechische Wort rühren heißt haptein (an etwas rühren) und damit >anzünden(. Dagegen bedeutet haptesthai sich rühren und sich beleben, und in der Tat ist im Erwachen die ganze Welt wieder da. Als nun Pandora hier am Schluß in vollster Unschuld fragt: »und nach dem Tod?«, antwortet Prometheus genau in diesem Sinne, indem er das Erwachen schildert: Wenn alles - Begier und Freud' und Sehrnerz In stürmendem Genuß sich aufgelöst, Dann sich erquickt. in Wonneschlaf. Dann lebst du auf. aufs jüngste wieder auf, Von neuem zu furchten, zu hoffen, zu begehren!
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Man erinnert sich sogleich Goethes berühmten Gesprächs nach Wielands Tode. Dort läßt ihn seine eigene Lebenszuversicht erwarten, daß die Natur fLir sein Leben noch immer etwas übrig haben müsse. An unserem Text sehen wir, v.;e schon den jungen Goethe ein Lebensgefühl begleitet: die Nähe von Tod und Schlaf, das Fallen in den Schlafund das immer neue Erwachen. Gar manches Mal klingt es in seinen Gedichten seltsam wie ein Übergang von Liebe zu Schlaf und zu Tod. Man denke et\va an »Warte nur balde I ruhest du auch<<. Oder man denke an den Schlußvers des >Bräutigams<, wo es heißt: Um Mitternacht der Sterne Glanz geleitet Im holden Traum zur Schwelle, wo sie ruht, 0 sei auch mir dort auszuruhn bereitet, Wie es auch sei das Leben, es ist gut. De-r Bräutigam (4. Strophe. August 1825)
22. Nausikaa (1994)
Wer erinnert sich nicht aus den homerischen Epen an die ergreifenden Szenen, die dort von den homerischen Heldengestalten geschildert werden, an Hektor und Andromache, deren letzten Abschied Schiller in einem Gedicht beschworen hat, oder an Priamos' nächtlichen Besuch bei Achilles, wie er von dem siegreichen Feind den Leichnam Hektors, seines eigenen Sohnes, zur Bestattung erbittet. Und wer erinnert sich nicht vollends der Szenen aus der Odyssee, in denen sich über weite Räume Abenteuer auf Abenteuer aneinanderreihen. Da sind die Sirenen und die Kyklopen, Kalypso und Kirke, und dann die schließliehe Heimkehr des Odysseus nach Ithaka, mit den Erkennungszenen - und darunter ist auch, wie Odysseus, vom Zorn des Poseidon verfolgt, als letzter überlebender Heimkehrer von Troja, nach vielen lrrjahren, vom Sturm an die Küste der Phäaken geworfen wird, wie er dort, von Athene geschützt, nach todähnlichem Schlaf, von den Gespielinnen der Nausikaa geweckt wird und damit die Wende zum Beginn der glücklichen Heimkehr des Helden einsetzt. Goethe vor allem hat immer wieder von Motiven aus den homerischen Epen und überhaupt aus der griechischen Mythologie seine dichterischen Anregungen empfangen, und das gilt auch ftir die Begegnung von Nausikaa und Odysseus. Schon früh hat Goethe in der Zeit, in der er auch die Arbeit an der >lphigenie< aufuahm, einen Entwurf zu >Nausikaa< begonnen und denselben später sogar in einer Dramenszene wiederaufgenommen, freilich ohne das Ganze zu vollenden. Er hat im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Schulkultur des neuen Humanismus, unzählige Nachfolger geringeren Ranges gefunden. Man versteht die Anziehungskraft der homerischen Szenen. Wenn wir heute solche Szenen im Homer lesen, wir, die wir alle vom Christentum, von der Reformation, von den Jahrhunderten der Neuzeit durch das innere Geheimnis der Individualität gebannt sind, wird uns deutlich, was das Unvollendbare in Goethes Aufnahme dieses Stoffes war, und was sich auch in der ganzen Spätantike und der Wirkungsgeschichte der Odyssee dokumentiert. Wie anders ist es bei Homer selbst. Die Begegnung von Odysseus und Nausikaa, in der sich die glückliche Schicksalswendung des Heimkehrers anbahnt, scheint fiir Nausikaa selbst geradezu folgenlos. Da gibt es Weiterdich-
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tungen in der späteren Antike, die eine Verbindung von Nausikaa und Telemach, dem Sohn des Odysseus, stiften und alle mögliche Fortspinnung daran knüpfen. An all dem wird einem ebenso wie bei dem Anblick der Goetheschen Wiederaufnahme des Stoffes bewußt, welche Ferne und Fremdheit uns von der antiken Welt und ihren Lebensordnungen trennt. Wer heute Homer wiederliest, wird nach den leisen Andeutungen eines Seelenschicksals fragen, das sich fiir Nausikaa durch die Begegnung mit Odysseus angesponnen hat, und wie sich das wohl ausgewirkt hat. Man findet bei Homer kaum etwas, was auch nur die leiseste Andeutung eines solchen Seelenschicksals sein will. Alles, was sich dort zwischen der jungfräulichen Königstochter und dem schiffbrüchigen Odysseus abspielt, dient dem Ruhm des Odysseus: seine Verjüngung nach der Badung und Salbung durch die Mägde, Nausikaas furchtloses Entgegenkommen, ihre Hilfsbereitschaft, ihre klugen Ratschläge fiir die Einfiihrung am Hofe ihres Vaters, all das hat anscheinend nichts mit ihrem eigenen Schicksal zu tun. Ein festes Sitten- und Farniliengefiige beherrscht das Ganze. Nausikaas Brüder sind so präsent wie die Macht des Vaters, des Königs, und die noch geheimere Macht der Mutter, der sich zuerst zu nahen Nausikaa dem Fremden empfiehlt. Wir stehen in einer wohlgeordneten Welt. Die Königstochter erwartet ihre Verheiratung, aber auch ihr scheint überhaupt nicht der Gedanke zu kommen, daß sie zwischen ihren zahlreichen Freiern selber zu wählen haben könnte. Man möchte vielleicht in ihrem Traum eine Andeutung ihrer geheimen Erwartungen wiedererkennen, den ihr Athene eingibt, damit sie die Fahrt mit der Wäsche ans Meer in Gang bringt. Aber in Wahrheit ist es eine ganz patriarchalische Welt, in der sich das umsichtige Eingreifen Nausikaas in die Schicksalslinie des Odysseus abspielt, ohne daß der Spur nachgegangen würde, die fiir Nausikaa diese Begegnung bedeutete. Man kann verstehen, daß neuere Zeiten, selbst spätantike Jahrhunderte, und daß vollends die christliche und nachchristliche Welt der Neuzeit in der homerischen Schilderung so etwas wie ein Angebot finden mußte, das Schicksal des jungen Mädchens selber zum Thema einer Aussage zu machen. Das drängt sich einem förmlich auf. Homer gibt aber keine wirkliche Hilfe. Auch wenn der König der Phäaken gern in ihm seinen Eidam gesehen hätte: Keinen Augenblick steht in Zweifel, daß der bewunderte Fremde in seine Heimat zurückkehren wird. Und wenn er nach der glücklichen Heimkehr Nausikaas gedenkt, ist es reine, unzweideutige Dankbarkeit. Wenn Goethe seine eigenen Entwürfe ausgefuhrt hätte, im Falle der Begegnung mit Nausikaa würden wir unsere Erwartungen auch dort kaum erfiillt gesehen haben. Gewiß, es hätte eine große Geschichte werden können, wenn Goethe seinen Tragödienplan festgehalten hätte, wie der lügengewandte, listenreiche Odysseus sich in die heile Welt der Phäaken eindrängt, den Unverheirateten spielt, um arn Ende eine Verlassene auf der Phäakeninsel zu-
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rückzulassen. Wie anders ist das bei Homer. Auch Goethe hat das später empfunden: wie über einer unerreichbar gewordenen Welt stehen die Verse aus Goethes Entwurf »Ein weißer Glanz ruht über Land und Meer, Und duftend schwebt der Äther ohne Wolken«. In unserem ernüchternden Jahrhundert, dessen Wolken drohend über uns ziehen, haben trotzdem die selige Insel der Phäaken und Odysseus' Begegnung mit Nausikaa immer wieder ihre Symbolkraft bewiesen. Ich will zwei solche Gedichte unseres Jahrhunderts vorfuhren. Das eine ist von Oskar Loerke, der in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen eine bedeutende Figur im deutschen Verlagswesen war. Das andere ist ein Gedicht von Marie-Luise Kaschnitz, die wir noch alle kennen und deren Spätwerk sich in das Buch der Weltliteratur unvergeßlich eingetragen war. Hören wir zunächst das Gedicht von Loerke, hören wir es so, wie man ein Gedicht hören muß, indem man es selbst liest: Oskar Loerke
Ans Meer Der Nebel reißt, der albisch kroch Aus meinem Blut zum Totenfeld: Ein Morgen scheint im Wolkenloch Hoch auf die Welt. Da.s Leben kommt von weitem her. Und es geschieht, was einst geschah? Mit ihrer Wäsche fährt ans Meer Nausikaa. Ein Weg \Veist nach Byzanz und Rom, Für mich betritt ihn der Barbar. Im Stein venvittert schon am Dom Sein Mund, sein Haar. Doch wann bin ich? Der Morgen währt, Ein Rauschen ruft, ein Meer ist nah Ans Meer mit ihrer Wäsche fährt Nausikaa.
Man beachte, wie am Schluß der zweiten und der letzten Strophe fast die gleichen Verse wiederkehren, die die verschwindende Alltäglichkeit wiederholen, daß sich Nausikaa mit ihrer Wäsche ans Meer begibt. Und doch sind es nicht ganz die gleichen Verse. In der Wiederholung endet der vorletzte Vers mit einer aufSteigenden Kantilene und nicht, wie im ersten Fall, mit der Senkung »Meer«. Jetzt schließt das Gedicht mit dem Auflaut »fährt«. Noch im Alltäglichen läßt das Klingen Zukunft sein. Das gibt dem Gedicht Gestalt und Bestand.
Nausikaa
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Freilich ist es nicht der Klang, den Goethe widerhallen läßt. Der Einsatz des Gedichtes ist wahrlich nicht ein Blick auf den duftenden Äther ohne Wolken. >>Der Nebel kroch«- eine schwerverständliche und schwerwiegende Wendung: »aus meinem Blut zum Totenfeld«. Es klingt so, als ob nur durch ein kleines Wolkenloch, wie aus ungeheurer Ferne, der Morgen zu ahnen ist. Wirklich ein neuer Beginn? Nach welchem Verlust? Noch eben schien jede Aussicht verhängt. Alles ist wie ein Totenfeld. Das Ich, das hier spricht, scheint mutlos um sich zu blicken, als könne es keine Zukunft mehr geben. Indessen, bei aller Ferne, mit der sich der Blick durch den Nebel ötfuet, ist es wie ein erster Lichtblick. So wird einem bewußt, was das Leben ist und wie beharrlich es auf sich besteht. Wie das über alle Zeiten hinweg ·Gültige< geht das Leben weiter - wie immer. »Mit ihrer Wäsche fährt ans Meer Nausikaa.« Nichts anderes als dieses Beharren im Fortgang menschlichen Tuns und Sorgens ist es, -..vas an das eigene Am-Leben-Sein und an den Weg erinnert, der hinter einem liegt. Das Gedicht Loerkes schildert den Weg. Es ist ein weiter Weg, der uns alle auf Byzanz und Rom weist, auf die antike Welt und ihren Untergang. Die beiden Hauptstädte der Oikumene, Byzanz und Rom, stehen fUr das Ganze des vergehenden Altertums. Der Barbar, der dieser Welt ein Ende setzte, auch er ist längst nur noch wie eine verwitternde Spur in den steinernen Figuren am Dom. Die Zeit, was ist sie? Der Untergang des Altertums, das langsame und fortschreitende Zerfallen der Spuren der christlichen Lebenswelt, aus der wir selber kommen, ''veckt die Frage: >>Wann bin ich?« Die Antwort ist keine neue Antwort. Es ist nur diese eine: Das Leben geht weiter. »Der Morgen währt.« Er bleibt nicht ein bloßer Lichtblick in die Ferne, der sich wieder verhüllt. Der Morgen währt. Das Leben ist neuer Beginn und das Meer ruft, mit seinem Rauschen der Ferne und der Lockung der Zukunft_ Und doch ist es nichts Neues. Wieder ist es Nausikaa, die mit ihrer Wäsche ans Meer fahrt. Und doch, etwas von der Musik dieses Namens, der zwei Mal erklingt, ist wie eine einzige Antwort. Jeder Neubeginn, jeder neue Tag, jeder neue Lebensaugenblick, der einen erwartet, klingt er nicht wie eine Antwort? Wie der eine Name: »Nausikaa~? Am Ende ein Jubel? .Harie-LIIise Kaschnitz
Nausikaa Komm wieder ans Land Tangüberwachsen er Muschelbestückter Triefender Fremdling Du Noch immer der alte Voll von Männergeschichten
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Glossen Fragwürdigen Abenteuern Lieg mir im grasgrünen Bett Berühre mit salzigen Fingern Mein Veilchenauge Meine Goldregenlocken Fahr weiter nach lthaka In dein Alter in deinen Tod Sag noch eins Eh du gehst.
Das Gedicht von Marie-Luise Kaschnitz nennt den Namen Nausikaa nur im Titel. Aber dafiir hat Nausikaa selbst das Wort und ist ganz da, vom ersten bis zum letzten Wort. Es ist Nausikaa selbst, die spricht. Es ist eine ganz andere, nicht nur die Sanfte, die fleißige, die Gottfried Benn im Homer erkennt. Diese Nausikaa wünscht sich ein Wiederkommen des fremden. ~Komm wieder ans Land.« Zugleich weiß sie allerdings, daß er wiederum der Fremde bliebe. Es wäre wiederum die Nähe des Gestrandeten, der sich als ein so ruhmreicher Held und Erzähler schrecklicher Dinge erwiesen hatte. Odysseus ist für sie eine Gestalt fast nicht irdischer Herkunft, und doch wünscht sie, die Sanfte, Unberührbare, sich seine Nähe. Er soll sie berühren, in all seiner Fremdheit. Nur berühren. »fahr weiter nach lthaka In dein Alter, in deinen Tod.<< Das ist das Ithaka des Mannes, den sie gehen heißt. Auf einmal ist er fiir uns kein schiffbrüchiger Fremder mehr, der wiederkommen soll, sondern er ist ein jeder von uns. Das liegt in dieser Begegnung, die Nausikaa sich herbeiwünscht - nicht nur eine unerfiillte oder eine keimende Liebe und auch nicht nur eine in die ferne geschickte Sehnsucht nach dem von Gott gesandten Fremdling. Gewiß soll man an die homerische Szene denken, aber nicht als eine schicksalshafte Begegnung, die Zukunft hat, sondern im Wissen um das Unüberbrückbare. »Lieg mir im grasgrünen Bett«. In ihr ist alles Wissen um das Fremde, >das ohne Zukunft fiir sie ist• und das kein Wort ausspricht. Welches Wort? Alles ist zusammengedrängt in die zwei letzten Verse: »Sag noch eins Eh du gehst.~ Niemand sollte sich fragen, was damit gemeint sein kann. Es wäre jedenfalls ein Wort, das nichts ändert, nicht etwa eins, das für Nausikaa eine Erfiillung bringen könnte. Sie weiß es ja selbst, und doch sagt sie: »Sag noch eins Eh du gehst.<< Das ist einer der Fingerzeige, die ins Ungesagte und Unsagbare hindeuten, mit denen die Kaschnitz beides vorzubereiten und zu hinterlassen gelernt hat, ein •Ja• - und einen Verzicht. Alles oder Nichts? Nein, nicht gar nichts, aber doch auch eben etwas Unwiderrufliches. Diese Nausikaa ist nicht die Königstochter Homers, und dieser fremde ist auch nicht dieser Odysseus, den Poseidon in seinem Zorn an die Ufer geworfen hat. War es Athene, die ihm Nausikaa mit ihrer Wäsche zugeschickt hat? Kein Poseidon, keine Athene ...
Bibliographische Nachweise L Hermeneutik -Theorie und Praxis. Psychoanalyse heute und vor 70 Jahren. Hrsg. von Heinz Weiß d un Hemwm Lauf. Edition Diskord Tübingen 1996, S. 359-369.
2. Wissenschaft und Philosophie. Vortrag auf dem Stuttgarter Hegel-Kongress 1975 · Ersch1·enen m: • ...a... · 1st •~--A..; , 1 ....,......._.... Philosophie möglich? Hrsg. von Dieter Henrich. BouvierVerla B 1971 S. 53-67. g onn •
3. Humanismus und die industrielle Revolution. Ersrveröffentlichung in: Konstanten fur Wirtschaft und Gesellscluft, Festschrift fiir WalterWitzerunann. Lahard-Verlag Komtanz 1988, S. 196-207.
4. Über die politische Inkompetenz der Philosophie. Ersrveröffentlichung in: Sinn und Form 45 (1992/1993), s. S-12.
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6. Über das Hören. In: Über das Hören. Einem Phänomen auf der Spur. Hrsg. von ThomasVogel. Attempto VerlagTübmgen 1998, S. 197-205.
7. Freundschaft und Solidarität. Erstveröffentlichung in: Konstanten fl.ir Wirtschaft und Gesellscluft, Festschrift fiir Walter Witzenmann, Bd. 3. Hrsg. von Jolanda Rothfuß und Hans-Eberlwd Koch. Lahard-Verlag Konstanz 1999, S. 178-190.
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9. Die Gegenwartsbedeutung der griechischen Philosophie. In: Praktika ns Akadimias Athinon. Jahrgang 1972, Heft 47. 243-261.
10. Die Zukunft der europäischen Geisteswissenschaften.
.. .
Ersrveröffentlichung in: Europa, Horizonte der Hoffnung. Hrsg. von Franz König und Karl Rahner. Styria Verlag Graz I Wien I Köln 1983, S. 243-261.
11. Über Kuno Fischer als Brücke zu Hegel in Italien.
Ersrveröffentlichung in: Kuno Fischer, Logik und Metaphysik oder W'JSS~ lehre. Hrsg. und eingeleitet von Hans-Georg Gadamer. Manutius Verlag Hetdelberg 1997, S.VII-XIV.
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Bibliographische Nachweise
12. Nietzsche und die Metaphysik. Erstveröffentlichung in: •Jedes Wort ist ein Vorurteil•. Philologie und Philosophie in Nietzsches Denken. Hrsg. von Manfred Riedel. Böhlau Verlag Köln I Weimar I Wien 1999, S. 15-23.
13. Der Kunstbegriff im Wandel. In: Kunst ohne Geschichte' Hrsg. von Anne M. Bonnet und Gabriele Kopp-Schmidt. HeckVerlag München, 1995, S. 88-103.
14. Die Kunst und die Medien Vortrag gehalten im Aditorium maximum am 1. Februar 1988 und 14. April 1988 im Philosophenturm der Universität Hamburg. Erstveröffentlichung in: Schriften der freien Akademiker Künste in Hamburg, Bd. 13. 1988/89, S. 4-19.
15. Kunst und ihre Kreise. Erstveröffentlichung in: 1. Kreis-Kulturwoche des Rhein-Neckar-Kreises. Druckerei Winter Wiesloch 1989, S. 9-13.
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20. Ein >sokratischer• Dialog. Glosse erschienen unter anderem Titel: Das Gespräch vom besten Klub. In: Clubzeitung des HeidelbergerTennisclubs 1890 e.V., 1965. Leicht veränderte Fassung in: FAZ Magazin, 9. Februar 1990.
21. Goethe und Heraklit. Glosse erschienen unter anderem Titel: Dann stirbt der Mensch. Die Nähe von Liebe, Schlaf und Tod - Eine Erinnerung an Johann Wolfgang von Goethe. In: Die Zeit, Nr. 21,20. Mai 1999.
22. Nausikaa. In: Der Altsprachliche Unterricht, Jahrgang 37 (1994), Heft 2, S. 6-10.
Namen Adorno 44, 136 Aischylos 220, 235 Anaxagoras 7, 87 Aristoteles 8-11, 14, 22, 28, 42f, 47f, 56f, 59f, 62f, 70f, 77-79, 82, 84--87, 89, 95, 99, 100f, 104,106,108-110, 133, 138, 142, 159, 184, 199,201203,207,211,214 Augustinus 23, 50, 83, 98, 199, 210, 214 Bacon, F. 89 Baeumker 99 Baeumler, A. 135, 136 Bauch, B. 92 Baumgarten, A 149 Beaufret 37, 40 Beckett 155 Benjamin, W. 177 Benn, G. 242 Blumenberg, H. 77 Böhme,]. 202 Bourdieu 36 Braques 155 Burkhardt, J. 32 Cajetan 90 Carnap, R. 195, 196 Cassirer, E. 92 Celan 44 Cesane 184 Chomsky 124 Cicero 101, 203 Croce, B. 133 Cusanus, N. 83 D'Annunzio 135 Demokrit 87, 199 Descartes 15, 88, 117, 130, 199 Deussen, P. 135 Di!they 73f, 83, 92, 99, 133, 182 Eckhart (Meister) 83, 202 Empedokles 140
Erdrnann,J.E. 131 Eucken, R. 92 Farfas 35 Fichte31, 79, 89, 116, 123, 131-133 Fischer, K. 129-133 Fuhrmann, M. 86 Galilei 28, 30, 43, 87, 105, 117, 185f, 199 Garve 4 Gentile, G. 133 George, St. 142, 182 Giono 187 Goethe 9, 30, 130, 184--186, 234--237, 238-241 Habermas 42, 161 Hartmann, N. 92, 135 Hege! 13-24, 31, 69, 71-74, 76, 78f, 84f, 89, 91 f, 98f, 103f, 106, 116, 129-133, 137, 140, 151f, 196,200 Heidegger 14,35-41,45,74, 79, 93, 99, 101, 105, 134, 137-140, 142, 157, 181f, 188,195-200,208,214 Heimsoeth, H. 92 Heraklit 78, 80, 81, 133, 196, 205, 207, 215,221,234--237 Herder 72, 73, 78, 119f, 186 Herodot 77, 166 Hesiod 77, 166f, 218 Hildesheimer, W 153 Hobbes, Th. 4 Hölderlin 139, 197, 208 Homer 10, 77, 139, 166f, 238f, 242 Hönigswald, R. 92 Horkheimer 136 Husserl31, 48, 74, 181 Huygens 199 Hyppolite,J. 181 Jaeger, W 80, 94 Jaspers 39, 56, 164, 184, 188, 190 Jonas, H. 6 Joyce,]. 155
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Namen
Kafka 41 Kant }-7, 31f, 36, 56f. 70, 72f, 88f, 98f, 101, 107f, 123, 13(}-132, 145, 151, 218 Kaschnitz, M-L. 24(}-242 Kierkegaard 83, 87, 99, 210 Koch,J 86 Krüger, G. 206 Leibniz 88, 101 Lessing 48 Liebig, J.v. 89 Loerke, 0. 240 Luhmann, N. 44f Marrou. H-I. 86 Marx 20,98 McLuhan 167 Mendelssohn 4 Mill, j.S. 92 Misch, G. 74 Moores, H. 155 Mozart 153 Musil155 Natorp 19, 99,171 Newton 28, 123, 186 Nietsehe 20, 29, 32, 74, 79, 87, 94, 134, 136f, 139-141, 183, 206 Novahs 32, 116, 147 Parmerndes 78, 87, 133, 140 Pascal 183 Pfeitfer, R. 86 Planck, M. 187 Platon 8, 14, 28, 35, 50, 52, 54f, 57-61, 70f, 78f, 81f, 87, 90, 93, 98f, 101, 105f, 108, 133, 142, 147f, 158, 167, 184f, 187f, 190, 199,214,221-223 (& Sokrates 14, 19, 33, 36, 47, 54f, 57-59,61,81, 83, 85, 87, 99, 108, 207, 223, 227-233) Plotin 83, 90, 98
Plutarch 72 Praechter, K. 69f, 80 Proklos 90 Proust, M. 155 Ranke 73 Reinhardt, K. 134 Riede), M. 136, 141 Rilke 155 Ritter, J. 93 Rothacker, Erich 84 Rousseau 4, 29, 32, 103, 188 Schadewald, W. 62 Scheler 6, 135, 181 SeheHing 15f, 18, 20, 24, 152 Schiller 108, 238 Schleiermacher, F. 3, 73, 79, 84, 98, 182 Schopenhauer20,32,87, 130 Segal155 Seneca 101 Simmel, G. 135 Snell, B. 7, 94 Spaventa, B. 133 Spinoza 88 Stad, N. de 155 Suarez 90 Tacitus 169 Thales 77 Theophrast 84 Thomas v. Aquin 101 Trendelenburg 99 Troeltsch, E. 118 Weber, M. 6, 41, 45, 172 Windelbands, W. 92, 129 Wolff, Ch. 12, 83, 88 Xenokrates 86 Zeller, E. 84, 91, 99
Hans Georg Gadamer bei Mohr Siebeck "Das Wunder der Philosophie ist ihre nun schon zweieinhalbtausend Jahre äh -'· werug · b egreifien moc ·· h te, der mu ß sich auf dieses w Aktu ali tät. .,.., wer uavon em Ges rende .. h . . L:. h D'1mens10n . einlassen. U n d wer s1c . h Udtauf _,_ prac kann auch u~>tonsc en einlassen will de m semer gegenwärtig nichts besseres geschehen, als daß er mit dem Werk des Heidelbe' mPhil .rd .. rger osop h en Hans-Georg Gadamer b e kannt Wl • Jürgen Busche in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Februar 1985
Gesammelte l#rke Band 1 Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Gründzüge einer philosophischen Hermeneutik 2. durchgesehene Auflage 1990. XII, 495 Seiten. Broschur oder Leinen. Band 2 Hermeneutik ll. Wahrheit und Methode. Ergänzungen I Register 2. Auflage 1993. XI, 494 Seiten. Broschur und Leinen. Band 3 Neuere Philosophie I. Hege!- Husserl- Heidegger 1987. XI, 444 Seiten. Broschur und Leinen. Band 4 Neuere Philosophie II. Probleme - Gestalten 1987. IX, 498 Seiten. Band 5: Griechische Philosophie I 1985.Vlll, 386 Seiten. Leinen. Band 6: Griechische Philosophie ll l985.VI, 341 Seiten. Leinen. Band 7 Griechische Philosophie m. Plato im Dialog 1991. VIII, 472 Seiten. Broschur und Leinen. Band 8 Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage 1993. IX, 451 Seiten. Broschur und Leinen. Band 9 Ästhetik und Poetik 1993. IX, 481 Seiten. Leinen.
n. Hermeneutik im Vollzug
Band 10 Hermeneutik im Rückblick 1995. IX, 479 Seiten. Leinen. Anläßlich des 100. Geburtstages von Hans-Georg Gadamer am 11. Februar _2000 sind seine Gesammelten Werke in einer Kassette als ungekürzte Studienausgabe bel . . UTB FÜR WISSENSCHAFT, Stuttgart, erschienen. Diese Ausgabe ist textidentisch IDit der bei Mohr Siebeck erhältlichen Leinenausgabe. 1999.4657 Seiten (UTB 2115).Broschur 10 Bände in Kassette.
Hermeneutische Wege Haru-Georg Gadarner zum Hundertsten Herausgegeben von Günter Figal,Jean Grondin und Dennis J. Sdunidt In redaktioneller Zusammenarbeit mit Friederike Rese "Die Beiträge dieses Buches sind Wirkungen von Gadamers Denken am Ende dieses und an der Schwelle des neuenJahrhunderts. In diesem Sinne war es beabsichtigt, daß die Autoren vorwiegend einer Generation angehören, die, an Gadarners Lebensalter gemessen, die der Enkel und nicht die der Söhne ist; es sollte um Antworten auf Gadamers Denken gehen, die noch nicht Philosophiegeschichte geworden sind. Das breite internationale Spektrum hingegen hat sich von selbst ergeben. Mit ihm zeigt sich wieder einmal, daß die philosophische Hermeneutik schon längst keine bloße l!ffaire allemande mehr ist.... Alle, die Hans-Georg Gadamer kennen, wissen, daß er seine Philosophie nicht nur vertritt, sondern lebt. Die Autoren des Bandes haben das in mehr oder weniger großer Intensität erfahren dürfen und sind dankbar dafur. Mit dieser Gabe zu Gadamers hundertstem Geburtstag \Vollen sie im eigenen Nachdenken versuchen, seiner philosophischen Lebendigkeit zu entsprechen."
Die Herausgeber im J-'oruwt 2000.VIII, 356 Seiten. Fadengeheftete Broschur.
Gadamer Lesebuch Herausgegeben von Jean Grondin Das Gadamer Lesebuch bietet eine repräsentative Auswahl seiner maßgebendsten Schriften zur Hermeneutik, Ethik, Ästhetik und Geschichte der Philosophie, die die Grundlagen von Wahrheit und Methode ergänzen und vertiefen. Exklusiv in diesem Band befindet sich ein dialogischer Rückblick Gadamers auf sein Werk und dessen Wirkung in der Philosophie. 1997. XV, 308 Seiten (V TB 1972). Broschur.
Jean Grondin
Hans-Georg Gadamer - eine Biographie Jean Grondin hat fur diese intellektuelle Biographie ausgiebige Archivforschung betrieben; außerdem hat er den Beschriebenen und einige seiner Zeitzeugen in Interv-iews dazu befragt. Das Lebenswerk Hans-Georg Gadamers und seine Entstehung werden durch die so gewonnene persönliche Dimension noch faszinierender. 1999. Xl, 437 Seiten. Broschur und Leinen.
Einen Gesamtkatalog erhalten Sie vom Mohr Siebeck Verlag, Posrfach 2040, D-72010Tübingen e-mail [email protected] itrtemet http:/ /v.•ww.mohr.de