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Hermeneutische Positionen (; ScWeiennacher - Dilthey - Heidegger - Gadamer
Mit Beiträgen von Heinrich Anz, Hendrik Biros, Günter Figal und Horst Turk
Herausgegeben und eingeleitet von Hendrik BiTUs
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GöTllNGEN •
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C1P-Kurt.tile{ou!nohme der Deutschen Bibliothek Htrmtntl
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(Mitverf.): Bims, Hendrik (Hrsg.J: OT
Kleine l'andenho«k·Reiht 1479
Umschlag; Hans DieleT Uilrich. - C Vandenhoeck & Ruprecht. GöHingen 1982. - Alle Rechu: vorbehalten. - Ohne: ausdrückliche Genehmigung des
Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf photo- oder akuslomechanisdiem Wege zu vervielrältigen. Schrift: 9fll Punkt Times auf der V_I_P GesamlhcT5Ic:llung: Vcrlagsdruckerei E. Rieder, Schrobenhauscn
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Inhalt
Einleitung. . . . . . . . . . . . . . • . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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HENORIIC BIRUS
Zwischen den Zeiten. Friedrich Schleiermacher als Klassikerderneuzeitlichen Henneneutik
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HElNRJQi ANz
Henneneutik der Individualität. WilheLm Diltheys henneneutische Position und ihre Aporien. . . . . . . . . . . . . • . . . . .
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GOI'lTER FIOo'\L
Selbstverstehen in instabiler Freiheit. Die henneneutische Position Martin Heideggers . . . . . • . . •• . . ..
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HORSTTuRK
Wahrheit oder Methode? H.·G. Gadamers _Grundzüge einer philosophischen Henneneutik« achbemerkung
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_. . . . . . . . . . . . . • . . . . . .. 151
Personenregister ....................•..•................ 152 Die Autoren ..........•....•....••..•........•.......... ISS
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Einleitung
Hermenemik - dieses Schlüsselwort der philosophischen wie auch der sozial- und geisteswissenschaftlichen Diskussionen der sechziger und frühen siebziger Jahre hat offensichtlich noch immer nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Während aber mittlerweile die >querelIes allemandesc zwischen >traditionalistischen Hermeneutik und ~manzi patorischerc Ideologiekn"rik (R-G. Gadamer; J. Habermas. K.-O. Apel, H. J. Giegel; R. Bubner) und die am Gegensatz >Erklären - Verstehene orientierte Kontroverse zwischen Hermeneutik und neo-positivistischer Wissenschaftstheorie (Gadamer, Apel. Habermas; W. Stegmüller. H. Albert; G. H. von Wright) allenfalls noch in Form von Nachhutgefechten geführt werden und auch die literaturwissenschaftlichen )Methodcndiskussionenc weitgehend im Sande verlaufen sind, ist der gegenwärtige Streit um die Hermeneutik wesentlich auf außer-deutsche Diskussionskontexte bezogen, die freilich in hohem Maße aus deutschen Quellen (Niewche, Freud, Dilthey, Heidegger oder Gadamer) gespeist werden. So hat die hierzulande im Namen der Diskursanalyse gegen die Hermeneutik gefühne Polemik ihren Rückhalt in der aktuellen französischen Diskussion, in der ,Hermeneutik< geradezu als der Sammelbegriff für den Typ von ,scienees humainesc. fungiert, der seit dem Struktunl.lismus und Post-Strukturalismus unwiderruflich obsolet geworden sei; vor diesem Hintergrund gewinnt Manfred Franks Thematisierung Sanres und Lacans (und in gewissem Maße auch Derridas) als >Hermeneutiken ihren gezielt polemischen Sinn.' Wendet man dagegen den Bliek nach den angelsächsischen Ländern, so ist hier in jüngster Zeit - quasi als Nachfolger von >Phänomenologie< und >Dialektik< Henneneutik zum alternativen >kontinentalen< Theoriekonzept zur Analytischen Philosophie in deren verschiedensten Spielarten avanciert. In Richard Rortys globalem Gegenentwurf Philosophy and the Mirroro!Nalftre (1980) sind unter dem verheißungsvollen Etikett der >Hermeneutik( denn auch so verschiedenanige Philosophen wie Wittgenstein, Heidegger und (als einziger Nicht~Europäer) Dewey, aber auch Sartre, Gadamer und Derrida versammelt.:
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Hat so der Terminus ,Hermeneutik( in seiner aktuellen Verwendung eine überaus diffuse Aura - changierend zwischen dem Hautgout des historisch Abgetanen und der Verheißung neuer Horizonte -, so besteht gegenwärtig auch alles andere als Einigkeit über das Feld der Hermeneutik: ist sie ein .universaler Aspekt der Philosophiec;J eine Schulrichtung der Philosophie neben anderen oder auch eine philosophische Teildisziplin (vergleichbar der Ethik oder Ästhetik); die methodologische Grundlegung der Geisteswissenschaften überhaupt, wie im besonderen der Textwissenschaften; bloße PTOpädeutik oder auch Appendix der Philologie; oder schließlich bloß ein antiquiertes Paradigma der literaturtheorie, die endlich dabei ist, den .sicheren Gang einer Wissenschaftc einzuschlagen, und gut daran täte, diesem trüben Bodensatz ihrer Konstitutionsphase keine Beachtung mehr zu schenken? läßt sich darüber schwerlich ein Konsens herstellen, so wäre es gerade in Anknüpfung an die letztgenannte pejorative Wendung durchaus denkbar, eine Begriffsbestimmung der >Hermeneutike im Blick auf ihre Verwendung als .polemischer Terminus der z~itgenö~ sischen Philosophiec 4 (unter Einschluß der Sozial- und Geisteswissenschaften) zu versuchen. Wagt man einmal einen groben überblick über die oft ganz heterogenen Diskussionskontexte, so fungiert Hermeneutik in ihnen als GegenbegriJfzuStmkturalismus und Psychoanalyse (Ricaur), Diskursanalyse und >Archäologit! (Foucault), zur Ideologiekritik (speziell der >Kritischen Theorie(), zur Analytischen Philosophie en bloc, zur positivistischen Wissensc1uJftstheorie und ihrem methodologischen Monismus (von Wright), schließlich zu jeglicher systematischen Fundomentalphilosophie und Erkenntnistheorie (Rorty). Ob sich auch nur als eine Art kleinsten gemeinsamen enners zwischen diesen höchst disparaten Begriffsoppositionen so etwas wie eine >Kembedeutunge von >Hermeneutike finden läßt, muß zumindest als fraglich erscheinen. Dabei darf die wörtliche Bedeutung dieses Terminus und seine Begriffsgeschichte als inzwischen weithin unstrinig und gut überschaubar gelten: Abgeleitet von dem Verb t(X.I'l"EUElV mit dem Bedeutungsspeklrum >aussagen, verkünden, auslegen, dolmetschen( (die Herleitung von Hermes, dem Göttetboten, ist eine spätantike Pseudo-Etymologie), meint Hermeneutik (im Sinne einer tQIlTJVEUtlx1'l "ttxvll) ursprünglich ganz schlicht die >Kunst der Auslegung<. Obwohl auf antike Wurzeln zurückgehend, wurde der Ausdruck .Hermeneutik« erst zu 6
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Beginn der Neuzeit (darin vergleichbar der »Anthropologie«, »Psychologie«, »Ontologie« und später der »Ästhetik«) terminologisch fixiert, und zwar 1629/30 von dem Straßburger Professor Johann Conrad Dannhauer zunächst im Kontext seiner Behandlung der Aristotelischen Logik und Rhetorik (der eologismushermeneutica rurinrerpretatio dürfte denn auch in Anknüpfung an die Aristotelische Schrift über Aussagen: Peri hermeneias .De interpretatione« gewählt sein)' und endgültig in seiner Hermenemica Sacra Sive Method,u exponendamm S. Literarllm proposita &- "ifldicma (Straßburg 1654). Bis in die Aufklärung hinein war die )Hermeneutik< dann weitgehend eingebunden in die Disziplinen der Theologie (hermenewica sacra) und der Klassischen Philologie (hermeneulica pro/anal. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts läßt sich ein deutlicher Wandel im Verständnis von )Hermeneutik< beobachten, und er ist entscheidend durch das Wirken Friedrich Schleiermachers geprägt worden: Indem jene Trennung in )hermeneutica sacra< und )hermeneutica profana( aufgehoben und jegliche schriftliche oder mündliche Äußerung als Gegenstand der )allgemeinen Hermeneutik< betrachtet wird, überwindet sie endgültig den Status einer bloßen» Hülfsdisciplin« (von deren Lehre sich Schleiermacher ja noch 1816 )gern dispensirt( hätte)." Zugleich geschieht eine höchst folgen reiche Verschiebung in der We- , sensbestimmung von >Hermeneutik<, indem sie - unter Ausschaltung des bislang obligatorischen Moments der )Vermittlung für andere
0004?8'lichen Methodenbewußtseins in der Verstehenstheorie entschieden opponiert, indem erder )romantischen Hermeneutik< und ihren Nachfolgern die Verlustrechnung für diese Ausbildung einer universalen »Kunstlehre des Verstehense aufmachte. Er stimmt aber mit Dilthey .. in der Diagnose eines einheitlichen Richtungssinnes der abendländi· sehen Hermeneutik üherein - freilich nicht in Richtung auf eine sy· stematische Regelgebung des Verstehens, sondern auf die Entfaltung der)philosophischcn Hermeneutik< als einer)prima philosophia<. Und auch dies haben beide Globalentwürfe miteinander gemein, daß sie Schleiermacher eine Schlüsselslellung für den Wesenswandel der modemen Hermeneutik zuschreiben, zugleich aber seine hermeneutische Position lediglich als eine Vorgestalt oder Konlrastfolie ihrer eigenen unler dem Aspekt des )Zwar schon - aber noch flicht< zu thematisieren vermögen. Gadamers Mahnung: »Die heutige Aufgabe könnte sein, sich dem beherrschenden Einfluß der Diltheyschen Fragestellung und den Vorurteilen der durch ihn begründeten )Geistesgeschichte< zu ent· riehene - sie dürfte nicht minder gegenüber den Festlegungen der »Dimensionen des hermeneutiscben Problemse durch seinen eigenen Entwurf einer ,philosophischen Hermeneulik< am Plalze sein .• Denn was aus der Perspektive Diltheys wie Gadamers als ein unent· schiedenes Zögern Schleiermachers auf dem von ihm selbst eröffnelen Weg zu einer universalen Hermeneutik erscheinen muß, mag unler einer anderen Optik durchaus als eigenständiger Vorzug der von ihm bezogenen hermeneutischen Position erscheinen. So hai schon Peler Szondi kritisch zu bedenken gegeben: indem _die Hermeneutik im Sinne der von Dilthey aufgewiesenen Entwicklung (... ] immer mehr zur Grundlagenwissenschaft wurde, fühl(e) sie sich erhaben über das, was einst ihre Aufgabe war, nämlich eine materiale Lehre von der Auslegung zu seine, _während diese philosophische Begründung der Hermeneutik bei Schleiermacherselbst mit einer Fortsetzung der materialen Hermeneutik \'erbunden ware. 9 Doch nicht erst diese Aufhebung der Balance zwischen philosophischer und philologischer Orientierung, sondern bereits die Isolierung der )Hermeneutik< als solcher bedeutete eine einschneidende Ver· schiebung des Schleiermacherschen Ansatzes. Denn Schleiennaeher hat stets seine Vorlesung über Hermeneutik ,md Kritik als einen Gesamtkomplex gehalten und auch seinen heiden Akademiereden Ueber den Begriff der Hermenemik, mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch wenig später eine dritte Ueber Begriff find Eill1hei·
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lllng der philologischeIl Kritik (wiederum mit Bezug auf WoIfund Ast) folgen lassen - gemäß dem Ein!eitungssatz seiner postum edienen Vorlesung: ltHermeneulik und Kritik, beide philologische Disciplinen, beide Kunstleh~en,gehören zusammen, weil die Ausübung einer. jeden die andere voraussetz!.« '0 Und )Kritik< - dies meint hier keineswegs nur philologische Kritik im Sinne einer Echtheitsprufung der zu interpretierenden Schrift, sondern auch doktrillole (bzw. rhetorische oder äslhetisclle) Kritik, die ein Werk in bezug auf seinen Gat· tungsbegriff und seinen Zweck würdigen soll, und hislorisehe Kritik, die die einem Text zugrundeliegenden Tatsachen zu ermitleln und beide miteinander zu vergleichen sucht. I1 Gadamers abwertendes Urteil über Schleiermacher und die Romantik: ltlndem sie eine univer· selle Hermeneutik schaffen, drängen sie die vom Sachverständnis ge· führte Kritik aus dem Bereich der wissenschaftlichen Auslegung heraus« 12 - dieses Urteil wird sich angesichts der von Schleiermacher geforderten und praktizierten Interdependenz von Hermeneutik und Kritik schwerlich aufrechterhalten lassen; im Gegenteil dürfte die Preisgabe der Dimension der Kritik gerade zu den fragwürdigen ZÜ· gen der an Dilthey anschließenden Universalisierung der Hermeneutik zu rechnen sein. Aber einmal abgesehen von dieser Kappung der philologischen und der kritischen Komponente der Schleiermacherschen Hermeneutik, ist deren philosophische Universalisierung auch rein immanent alles andere als unproblematisch. Denn die Transformation des Nerstehens< zum basalen Begriff der Philosophie führt zwangsläufig zur überlastung, wenn nicht gar zur Entleerung des Verstehensbegriffs kompensiert allenfalls durch die Konfundierung mit Begriffen wie dem des )Erlebens< (Dilthey), des ,Entwerfens< (Heidegger) oder dem der )Erfahrung< (Gadamer). Schon die Schleiermachersehe Explika· tion des,Verstehens< als )Nachconstruiren< 13 ist durchaus ambivalent zwischen der psychologischen Konkretisierung: ltden Akt des Schrei· bens nachzukonstruieren« '" bzw. ltden ganzen innem Verlauf der componirenden Thätigkeit des Schriftstellers auf das vollkommenste nachzubilden«, 15 und einer rein formalen (freilich nahezu leeren) Fas· sung dieses Begriffs als einer Klammer zwischen den systematisch gleichberechtigten Seiten der ltgrammatischen« und der ltpsychologisehen Interpretation«.'6 Gegenüber solcher Unentschiedenheit scheint Dilthey nur die naheliegende Konsequenz zu ziehen, wenn er das sprachliche Verstehen als ein >niederes Verstehen< völlig dem ,hö-
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heren Verstehen< von Lebensäußerungen unterordnet und dieses mit der Programmformel »Hineinversetzen, Nachbilden, Nacherleben« umschreibt. 11 Doch mit dieser Erweiterung der Hermeneutik über den von Schleiermacher gezogenen Rahmen der menschlichen Rede hinaus auf sämtliche Lebensäußerungen wird nicht nur jede Differenz zwischen den Gegenständen des Verstehens (einer Rede oder einer Person, einem historischen Ereignis oder einem Kunstwerk) nivelliert, sondern indem Dilthey die Dimension der Sprache überspringt und auf jegliche Bedeutungstheorie verzichtet, bleibt seine hermeneutische Grundlegung am Ende in wiederhohen vergeblichen Anläufen stecken- weit entfernt von einer systematischen Regelgebung, ja auch nur von einem konsistenten Begriff des Verstehens. Eine denkbare Konsequenz aus diesem Scheitern hätte der Versuch einer Rückgewinnung und Ausarbeitung der ursprünglichen Schleiennacherschen Fragedimension sein können. Heidegger hat in Sein lind Zeit den entgegengesetzten Weg eingeschlagen, indem er (abweichend von der gesamten henneneutischen Tradition) lVerstehen( nicht mehr als in~ividuelle Handlung in Abhebung von anderen faßte, sondern rein ontologisch als Wesensbestimmung endlichen Daseins überhaupt, und indem er unter »Henneneutik .. die »Aufdeckung /iles Sinnes des Seins und der Grundstrukturen des Daseins.. verstand, der gegenüber die Methodologie der historischen Geisteswissenschaften (und erst recht die philologische Hermeneutik, über die Heidegger kein Wort verliert) »nur abgeleiteterweise lHermeneutik( genannt werden kann ... 18 Gleichwohl laboriert er hier an ähnlichen Problemen wie schon Dilthey: Der BegriU des lVerstehens< verliert jede konkrete Bestimmtheit, wie sie zur Fundierung einer (im Heideggerschen Sinne) labgeleiteten Hermeneutik( erforderlich wäre. Und dank der nicht-sprachlichen Fassung des Verstehens tritt die Sprache lediglich als» Vorgriff« (d. h. als die jeweils gewählte Begrifflichkeit) der Auslegung in den Blick dieser »Hermeneutik der Faktizität",'<) nicht aber - wie bei Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt - als eigenständige, das Verstehen allererst bedingende Totalität. Heideggers spätere Wendung zur Sprache als umgreifendem Horizont des Daseins läßt sich durchaus als eine Wiedergewinnung dieser )grammatischen< Dimension der Hermeneutik begreifen - nun freilich unter weitestgehender Eliminierung (an Stelle bloßer Ontologisierung) der bei Dilthey dominierenden lpsychologischen Interpretation<; nicht zuletzt auch deshalb verzichtet Heidegger schließlich überhaupt auf die Ver-
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wendung des (für ihn wesentlich durch Dilthey geprägten) Namens >Hermeneutik< zur Charakterisierung seines eigenen Denkens. 2o Gadamers Wahrheit und Methode zielt auf nicht weniger als auf eine Summe aus dieser henneneutischen Tradition. Freilich: was für einer problematischen Tradition? Denn die Schleiermachersche Hermeneutik war schon auf dem besten Wege, der Vergessenheit anheimzu· fallen oder allenfalls als bloßer Vorläufer von August Böckhs Enz.yklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften zu geiten, als sie von Dilthey- in seiner Jugend fast einem Anli-Schleiermacherianer!ll - auf den Schild gehoben wurde. Diltheys henneneuti· sehe Bruchstücke sind ihrerseits erst durch Heideggers Aufnahme und Fortführung zu ihrer vollen Wirkung gelangt; wie überhaupt die >Henneneutik< ohne Sein und Zeil schwerlich zu einem wesentlichen Thema der Philosophie des 20. Jahrhunderts geworden wäre. Und schließlich bedurfte es Gadamers ungemeiner Integrationsfähigkeit, um Heideggers transzendentale Interpretation des Verstehens mit dessen späterem Sprachdenken unter Begriffen wie denen des >Sprachgeschehens(, der >Zugehörigkeit( und der >Wirkungsgeschichtee zusammenzudenken und zugleich Heideggers exzentrische Position wenigstens nachträglich mit der vordiltheyschen Hermeneutiktradition in Beziehung zu setzen. Der Preis dafür ist freilich eine Nivellierung wesentlicher historischer und begrifflicher Differenzen (z, B. zwischen der Schleiermachersehen und de'r Diltheyschen Hermeneutik oder zwischen Heideggers Begriff der >Vorhabe< und der >applicatioc in der juristischen und theologischen Hermeneutik). Was gegenüber diesem beeindruckenden Monumentalgemälde an der Zeit sein dürfte, ist wohl weniger ein ebenso globaler Gegenentwurf als vielmehr eine historisch-systematische Rekonstruktion der von Gadamer souverän integrierten hermeneutischen Entwürfe Schleiermachers, Diltheys und Heideggers als eigenständiger Positionen sowie eine philosophische Sachkritik bestimmter Gadamerscher Theoreme - und dies möglichst nicht allein aus der Perspektive der von ihm ins Feld geführten hermeneutischen Tradition. Lenkt man einmal den Blick von dem enormen materialen Reichtum dieser Grundz.üge einer philosophischen Hermencfdik auf deren begriffliche Fundamente, so stößt man hier auf ganz ähnliche Probleme wie schon in Diltheys hermeneutischer Grundlegung der Geisteswissenschaften, Als universalisierter und dazu noch möglichst vom Makel des Subjektiven gereinigter BegriffverJien >Verstehen< nahezu II
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jegliche Bestimmtheit und verschwimmt mit dem der >hermeneuti· sehen Erfahrung<; die Differenz zwischen den Gegenständen des Ver· stehens (historischen Berichten, philosophischen Texten, Dichtungen etc.) wird in einem totalen Universum des Sinns eingeebnet-nicht von ungefähr wird von Gadamerein Aufgehen der Ästhetik in der Herme· neutik gefordert;11 und schließlich schwindet auch die Differenz zwischen Verstehendem und Verstandenem: die Tradition sagt mir im· mer, wer ich bin - und nichts anderes. Ausgerechnet die perspektivenreichsten Lmpulse von Gadamers hermeneutischer Position: der Wahrheitsbezug (und nicht bloß wie bei Dilthey: Ausdrucksbezug) des Verstehens und sein im Moment der lApplikation< gefaßter, inhä· renter Praxisbczug (gegenüber der Diltheyschen Kontemplativität des bloßen >Alles·Yerstehens<) - sie werden hier (gleichsam als Reprise von Diltheys Einschwenken auf die Hegeische Lehre vom 'objektiven Geist<) im Gegenzug und zugleich in Anlehnung an Hegel in eine nachidealistische Neugestaltung spekulativer Philosophie transformiert. Gadamer hat selbst dieser Tendenz zur überspannung des hermeneutischen Ansatzes nachträglich entgegenzuwirken gesucht; etwa wenn erbetont: »Die hermeneutische Reflexion ist darauf beschränkt, Erkenntnischancen offenzulegen, die ohne sie nicht wahrgenommen würden. Sie vermittelt nicht selbst ein Wahrheitskriterium«,1l oder wenn er lediglich darauf beharrt, »daß die Einseitigkeit des hermeneutischen Universalismus die Wahrheit des Korrektivs für sich hat«.24 Angesichts der offenkundigen Gefahr des Oberschwenglichwerdens der philosophischen Hermeneutik mag aber heute Schleiermachers scheinbar >überholteT< hermeneutischer Position und ihrer Balance zwischen :pc~ulativer Universalisierung und philologischer Empirie ein grundsätzlicher Wert als Paradigma zukommen: denn ausdrück· lich als nicht-universale Disziplin konzipiert, ist die Hermeneutik hier unlösbar verbunden mit der Kritik als ihrem Komplement, und zugleich ist sie als bloße »Kunst des Yerstehens« verwiesen auf die Dialektik als »Kunstlehre des Streitens .. 15 und »Organon des Wis· sens«.26 Die Hermeneutik führt in den Streit um die Wahrheit, löst ihn aber nicht selbst; oder mit den (freilich auf die mantische IHermeneutik< gemünzten) Worten der Platonischen Epinomis: 1:Ö M.y6IlEVOV yag OlÖEV 116vov, Et Ö' OJ..rr6E~, OUX EIlu6EV - ,Sie versteht sich allein auf das Gesagte; ob es aber wahr ist, das weiß sie nicht<.27
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Anmerkungen 1 VgL Manfred Frank, Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur neue· Slen französischen Hermeneutik und Texnheorie, Frankfurt/M. 1980, u. ders., Eine fundamenuit-scmiologische Herausforderung der abendländischen Wissenschaft (J. Derrida), in: Philosophische Rundschau 23 (1976), S. 1-16. 2 VgJ. Richard Rorty, Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie, übs. v. M. Gebauer, Frankfurt/M. 1981, bes. S. 15ff., 343fr. u. 387fr. 3 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 41975, S. 451 u. Ö. 4 Rorty, Spiegel der Natur, S. 387. 5 Vgl. H(enry}-E[vrard] Hasso Jaeger, Studien zur Frühgeschichte der Hermeneutik, in: Archiv für Begriffsgeschichte 18 (1974), S. 35-84, bes. S. 44 ff. u. 50; sowie dazu Hans-Georg Gadamer, Rhetorik und Hermeneutik, in: ders., Kleine Schriften IV: Variationen, Tübingen 1977, S. 148-163, u. ders., Logik oder Rhetorik? Nochmalszur Frühgeschichte der Hermeneutik, in: ebd. S. 164-172. Für die Folgezeit vgl. Manfred Beeu, Nachgeholte Hermeneutik. Zum Verhältnis von Interpretations- und Logiklehren in Barock und Aufklärung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 55 (1981), S. 591-628. 6 Vgl. Friedrich Schleiermachers Brief an Friedrich Lücke (den späteren Herausgeber seiner Vorlesungen über >Hermeneutik und KritikI), 2. 3. 1816, abgedruckt in: F(erdinand) Sander, D. Friedrich Lücke, Abt zu Bursfelde und Professor der Theologie zu Göttingen (1791-1855). Lebens- und Zeitbild aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts, Hannover·Unden 1891, S. 67r. (freundl. Hinweis Hermann PatSCh). 7 Wilhe1m Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 5: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. I. Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung des Geisteswissenschaften, Stuttgart/Göningen 61974, S. 317-338, hier S. 320. ferner ebd. S. 327. 8, Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode. S. 157(, 9 Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, hrsg. v. 1. Bollack u. H. Stierlin, Frankfurt/M. 1975 (= Studienausg. der Vorlesungen, Bd. 5),S.II(. 10 Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament, aus Schleiermachers handschriftlicbem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hrsg. v. F. Lücke, Berlin 1838 (= Sämmtliche Werke, I. Abth., Bd. 7), S. 3 (wiederabgedruckt in: F. D. E. Schleiermacher. Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilo~ phischer Texte Schleiermachers, hng. u. eingel. v. M. Frank, Frankfurt/M. 1977, dort S. 71 [Seitenzahlen dieser Ausgabe künftig in eckigen Klammem]). 11 Vgl. ebd. S. 26&-277 (243-251), sowie Friedrich Schleiermacher, Ueber Begriff und Eintheilung der philologischen Kritik, in: den., Sämmtlicbe Werke. 11I. Abth., Bd. 3, Berlin 1835, S. 387-402 (347-360]. 12 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 183(, 13 Frliedrich] D(aniel) E[rnst) Schleiermacher, Hermeneutik, nach den Handschriften neu hrsg. u. ein~el. v. H. Kimmerle, Heidelberg ~1974 (= Ab-
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handlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, philos.·hiSior. KI., Jg. 1959, Abh. 2), S. 31 u. Ö. 14 Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. hng. v. H. Sc:holz. (Repr. der Ausg. Leipzig 1910). Darmstadt ·1977, S. 54 Anm. 2 (§ 31 der l. AuO.). 15 Sc:hleiermacher, Hermeneutik, hrsg. v. H. Kimmerle, S. 135 (321). 16 Vgl. Hendrik Birus, Hermeneutische Wende'? Anmerkungen zur$c:hleiermacher-lnterpr.etation, in: Euphorion 74 (1980), S. 213-222. bes. S. 215lJ. 17 Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 7: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Stungart/Göttingen '1979. S. 213ff. 18 Manin Heidegger, Sein und Zeit, (hrsg. v. F.-W. von Herrmann), Frankfun/M. 1977 (- Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 2). S. 50f. (Originalpag. S. 37 f.). 19 Ebd. S. 200 (l50J, sowie S. 97 (72) Anm. 1. 20 Vgl. bes. Manin Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache, in: den.• Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1959. S. 83-155, bei. S. 95ff. u. 120 lJ. - hier übrigens Heideggen (so weit ich sehe) einrige Bezugnahme auf Schleiennacher. und zwar auf die Einleitungssätze seiner Vorlesungen über )Hermeneutik und Kritikc (ebd. S. 97 - s. o. Anm. 10). 21 Vgl. Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern. 1852-1870, hrsg. v. C. Misch, StuttganlGöningen 21960, bes. S. 103, 158f.. 171 u. 289. 22 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 157; kritisch hierzu: Heinrich Anz. Die Bedeutung poetischer Rede. Studien zur hermeneutischen Begründung und Kritik von Poetologie, München 1979, S. 51-59. 23 Hans-Georg Gadamer, Replik. in: Hermeneutik und Ideologiekritik. Mjt Beiträgen von Karl-Otto Apel, Oaus v. Barmann, Rüdiger Bubner. Hans-Georg Gadamer, Hans Joachim GiegeJ. Jürgen Habermas, Frankfun 21971, S. 283-317, hier S. 300. 24 Gadamer. Wahrheit und Methode, VOn\'on zur 2. AuOage. S. XXV. 25 Friedrich Schleiennacher. Dialektik, hrsg. v. R. Qdebrecht, (Repr. der Ausg. Leipzig 1942), Darmstadt 1976, S. 43. 26 Friedrich Schleiennacher, Dialektik, hng. v. L. Jonas, Berlin 1839 (= Sämmtliche Werke, In. Abth., Bd. 412), S. 22, entsprechend auch ebd. S. 315. Zur Schleiennacherschen Unterordnung der Hermeneutik unter die Dialektik vgl. Hans-Joachim Birkner. Schieiermachen christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Berlin 1964, S. 31 ff., sowie Khan Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 173f. 27 Plato. Opera, hng. v. J. Bumet, Bd. 5n, Oxford o. J., Stephanuspag. 975 c 6ff.
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HENDRlK BlRUS
Zwischen den Zeiten Friedrich Schleiermacher als Klassiker der neuzeitlichen Hermeneutik
Friedrich Schleiermacher gilt unbestritten als Klassiker der neuzeit· lichen Hermeneutik. Freilich: Was ist ein Klassiker? Oder spezieller gefragt: Worin soll eigentlich die )Klassizität< der Schleiermacher· sehen Hermeneutik bestehen? Schwerlich in ihrer vollendeten und mustergültigen Ausformung, Hat Schleiermacher doch auf diesem wie auf anderen Feldern (nach Dillheys treffender Formulierung) »großenteils nur Aperrvus und Trümmer von dem, was ihm vorschwebte«,1 hinterlassen: die beiden druckfertigen und in der T-at musterhaften Akademiereden von 1829 Ueber den Begriffder HemleneUlik, mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbllch 1 und einige wenige, freilich höchst kondensierte Paragraphen in der Kllrzen Darstellung des tlleologischen Stildiums;) als Exempel seiner hermeneutischen Praxis aber die Einleitungen zur übersetzung der Platonischen Dialoge,· seine HeraklitDarstellungS und besonders seine kritisch-exegetischen Untersuchungen zum Neuen Testamenl 6 sowie zentrale Partien seiner postum edierten Vorlesungen über Das Leben Jesu (5. W. I, t) und die EinleilUng ins neue Testament (5. W. 1,8) - allesamt fast gänzlich unbeachtet in der aktuellen henneneutischen Diskussion. Und ausgerechnet von seiner wichtigsten Leistung auf diesem Gebiet, den öherwiederholten Vorlesungen über Hermeneutik und Kn'tik, mit besonderer Beziehung aufdas Neue Testament, mußte Schleiennacher gegen Ende seines Lebens beklagen, daß sie Jlwegen des mir anklebenden theils Ungeschicks theils Mißgeschicks, daß nicht genug weder vorher noch nachher aufs Papier kommt, noch zu keinem Grundriß gediehen sind« (HK 123). Obleich nun diese höchst lückenhaften Manuskripte (HK 29-120 u. 157-166) bald nach seinem Tode (ähnlich den Hegeischen Vorlesungen) unter Verwendung von Vorlesungsnachschriften zu eil5
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nem leidlich geschlossenen Text kompiliert worden sind,7 so ist dieser doch alles andere als vollendet - schwankend nicht allein in der Terminologie, sondern auch in grundlegenden systematischen Fragen. Kann Schleiermacher so kaum in jenem normativen Sinne als >Klassiker< der Hermeneutik angesehen werden wie auf anderen Gebieten Cicero, Vergil, Raffael oder Palladio, so auch nicht im Sinne einer ori· ginären Gründerfigur, wie beispielsweise Kopernikus, Galilei, New· ton, Darwin und Einstein als _Klassiker der Naturwissenschaften« bezeichnet werden. Denn gerade so wirkungsmächtige Ideen der Schleiermacherschen Hermeneutik, wie etwa die Programmformel vom Verstehen als Nachkonstruieren (HK 83 (93] u. ö.) oder das Postulat, den Autor besser zu verstehen als er selbst (HK 87 (94] u. ö.), lassen sich auf Friedrich Schlegel (wenn nicht noch weiter) zurückführen; ja es war auch nicht Schleiermacher, sondern Friedrich Ast, durch den die Ideen einer genetischen Interpretation und einer Wechselimplika· lion von Ganzem und Einzelnem aus der romantischen Kunstkritik in die Disziplin der Hermeneutik verpflanzt worden sind. Daher auch das ernüchternde Resümee: _mit Schleiermacher beginnt, ideenge~ schichtlieh gesehen, nichts Neuese. 8 Schließlich kann sich die Apostrophierung Schleiermachers als eines >Klassikers< der Hermeneutik aber auch nicht auf seine Epochenzugehörigkeit beziehen. 1m Gegenteil: von Dilthey als _der Ästhetiker der Romantik« gewürdigt,'" fungiert Schleiermacher in Gadamers Wahrheit und Methode zu Recht als Exponent der >romantischen Hermeneutik<; 10 und auch von Foucault wird er scharf vom >klassischen Zeitallen abgesetzt und als Ausgangspunkt der modernen, in Nietzsche und Freud kulminierenden Disziplinen der Interpretation behandelt. II Ist also die Schleiermachersche Hermeneutik vielleicht gerade in dem Sinne >klassisch< zu nennen, daß sie- weder irreduzibel originell in der Substanz noch auch wirklich vollendet in der Durchführungzum Paradigma einer bis heute lebendigen Tradition geworden ist? Zumindest käme dies mit Schleiermachers Verständnis des >Klassischen< überein, daß nämlich _die Klassicität [...] nicht originell zu sein brauchte (HL l8f. [83]): _Das klassische aber muß nicht vorüberge· ~end sein sondern die folgenden Productionen bestimmen« (HK 79
[83]). Für diese fortwirkende Produktivität spricht nun allein schon die innerhalb der hermeneutischen Diskussion von F. Lücke, A. Böckh und 16
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W. Dilthey bis hin zu E. Beni, E. D. Hirsch, P. Szondi und M. Frank nicht abreißende positive Bezugnahme auf Schleiermacher, der gegenüber die Berufung auf seine unmittelbaren Vorgänger oder Nachfolger allenfalls den Versuch einer Akzentverschiebung darstellt. 12 Ober solche expliziten Anknüpfungen hinaus zeugt es aber von der ungebrochenen Wirkungsmächtigkeit der Schleiermacherschen Hermeneutik bis in unsere Tage, daß ihre Substanz- womöglich ohne bewußten Rückgriff-als etwas durchaus Aktuelles reproduziert zu werden vermag: etwa wenn der Hermeneutik von Habermas der »Doppelcharakler eines VerfahrenSe: zugesprochen wird, »das ingrammatischell Zusammenhängen zugleich den empirischen Gehall von individuierten Lebensverhältnissen erschließte:, da jede »einzelne Lebensäußerung [...] gleichzeitig in einen individuellen Lebenszusammenhang eingebettet und in einer intersubjektiv geltenden Sprache buchstabierte: sei. I ) Denn diese Wesensbestimmung ist ohne weiteres rücküberset2.bar in die Begrifflichkeit der Schleiermachersehen Hermeneutik; geht man aber weiter zurück zu Schleiermachers unmittelbaren Vorgängern F. A. Wolf und F. Ast oder gar zur älteren protestantischen Hermeneutik, so sind zwar Reaktualisierungen einzelner Theoreme (z. B. von J. M. Chladen.ius' Theorie des »Sehe-Puncktse( 14) möglich, als ganze gehören jene Hermeneutiken indes einer unwiderruflich vergangenen Diskursformation an. 15 Schleiermacher selbst haue hinsichtlich seiner Hermeneutik durchaus das Bewußtsein eines prinzipiellen Neuansat2.es. Denn ihr lKeimentschluß< war ja gerade aus dem völligen Ungenügen der vorliegenden theologischen und philologischen Hermeneutiken für die Grundlegung seiner ersten exegetischen Vorlesungen (Halle 1805) erwachsen, indem er in jenen l;:war lDeinen Schaz von lehrreichen Beobachtungen und Nachweisen. und »von einzelnen aus jenen Beobachtungen der Meister zusammengetragene[n] Regeln. fand - »aber es fehlte ihnen selbst die rechte Begründung weil die allgemeinen Principien nirgends aufgestellt waren und ich mußte also meinen eigenen Weg einschlagen. (HK 123f. [309f.]). Die offenkundige Ungerechtigkeit dieses (auch von Dilthey wiederholten 16) Urteils über die Aufklärungshermeneutik einmal dahingestellt, zeigen Schleiermachers damals zu Papier gebrachte lAphorismen( Zur Hermeneutik (HK 29-50), wie er im kritischen Durchgang durch J. A. Emestis und S. F. N. Morus' Hermeneutiken des Neuen Testaments 17 seinen nie 17
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vollendeten )eigenen Wege zur Hermeneutik als einer »Kunstlehreo: gefunden hat, die »von der einfachen Thatsache des Verstehens aus· gehend aus der Naturder Sprache und aus den Grundbedingungen de~ Verhältnisses zwischen dem Redenden und Vernehmenden ihre Regeln in geschlossenem Zusammenhang entwikkelt« (H K 156 [346]).'~ Gleich der erste )Aphorismus( markien einen scharfen Schnitt gegenüber der überkommenen Hermeneutik, indem Schleiermachel ihre AufgabensteIlung - unter Verzicht auf die traditionelle »subtilitas explicandi« (IAuslegung() und erst recht auf die »subtilitas applicandi« ()Anwendung() 19 - nunmehr allein auf die »subtilitas inlelligendi« (~Verstehen,) beschränkt (HK 31); die Ausklammerung der juristischen Hermeneutik (H K 126 u. 159) ist nur eine logische Folge aus dieser Neubestimmung der Hermeneutik als einer »philologischen Disziplin«.:W Diese programmatische Einengung auf eine »Kunst des Verstehens« (HK 75 [75]) bedeutet aber zugleich eine wesentliche Vereinheitlichung und Ausdehnung des Feldes der Hermeneutik: denn sie beseitigt nicht allein die Schranken zwischen den Spezialhermeneutiken der christlichen Theologie und der Klassischen Philologie und erweitert ihren Bereich gleichermaßen auf die orientalische wie die )romantische( Literatur (HK 126f. (312]), sondern diese Neubestimmung macht darüber hinaus auch alle nicht-literarischen Redeäußerungen - seien es Zeitungsartikel und -inserate, sei es das »gemeine Gespräch« - zum möglichen Gegenstand der Auslegungskunsl (HK-J29f. (314]).
Dabei läßt es Schleiermacher keineswegs mit einer bloßen Antithese zur Aufklärungshermeneutik bewenden, in der er ja durchaus einen »Schaz von lehrreichen Beobachtungen« und daraus »zusammengetragenern) Regeln« erblickt - freilich nur in Form eines »Aggregat[sJ von Observationen« und daher keiner S1.rengeren wissenschaftlichen Forderung genügend (HK 75 (75), 124 [309f.] u. ö.). Besonders seine Darstellung der »Kanones« der »grammatischen Auslegung« (HK 86-103, HL 41-142 (101-165]) erscheint unter diesem Blickwinkel im wesentlichen als der Versuch einer methodischen Rekonstruktion jener Auslegungsregeln, wie sie sich bei seinen Vorgängern gesammelt finden, etwa unter den Rubriken: )Von der Bedeutung und dem Sinn der Wöner und Redensanen<,)Von den Arten und dem verschiedenen Gebrauch der Wöner [eigentlich vs. übertragen. emphatisch vs. abundierend etc.)', )Vom Zusammenhang der Wöncr und Sätze untereinander<, )Vom Zusammenhang und der Zergliede18
rung der Schrift stellen<. Insofern bewahrheitet sich auch hier Solgers hellsichtiges Wort von der »Schleiermacherschen Schule [...], die eigentlich eine, nur consequentere und scharfsinnigere Aufklärung, als die zuletzt erschienene, belreibt«.21 Aber auch in einem noch prinzipielleren Sinne slellt die Schleiermachersehe Hermeneutik eine Vollendung der Aufklärungshermeneutik dar: nämlich sowohl im Hinblick auf die endgültige überwindung der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn 22 als auch auf die zunehmende Wichtigkeit, die dem Autor und seinen Intentionen zugemessen wird. 23 Seide auf den erslen Blick ganz beziehungslose Tendenzen resultienen lelztlich aus der Orientierung der AulJdärungshermeneutik am sprachlichen Zeichen als einem Vorstellungsträger,24 während sich die traditionelle Exegese bis weil ins Barock gleichzeitig an den Musterfallen des geschriebenen Worts und des durch Ähnlichkeitsbeziehungen konstituierten materiellen Zeichens orientiert hane. Die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn basierte auf der Voraussetzung, daß in der Heiligen Schrift nichl allein die Worte, sondern auch und erst recht die Dinge bedeulungshaltig seien (»non solum voces, sid et res significativa: suntc)25 und daß sich deshalb der Schriftsinn auch nicht in dem durch die Wortbedeutungen konstituierten »scnsus historicus sive litleralisc erschöpfe, sondern sich erst im »scnsus mysticus sive spiritualisc (aufgefächert in allegorischen, tropologischen und an agogischen Schriftsinn) vollende. 26 Jene scmiologische Vorau"ssetzung der mittelalterlichen Exegese wurde durch Luthers folgenreiche Verwerfung des vierfachen Schriftsinns zugunslen des »sensus Iitteralis« 27 überhaupt nichl in Frage gestellt, die vielmehr ausschließlich auf theologischen Argumenten beruhte: Weil ich jung war, da war ich gelertt, vnd sonderlich, ehe ich in die theologia kam, da gieng ich mitt allegoriis, lropologiis, analogiis vmb vnd machte laUler kunst; wens jlZt einer helle, er hilts vor eiteU heiltumb. Ich weiß, das ein lauter dreck ist. den nuhn hab ichs faren lassen, vnd diß ist mein letzte vnd beste kunst: Tradere saipluram simplici sensu, denn literalis sensus, der thuts, da iSlleben, trost, kraftt, lehr vnd kunst inen. Das ander ist narren werck, wie wol es hoch gleist. 18 Die altprotestantische Hermeneutik hielt sich bei ihrer Ablehnungder katholischen Exegese durchaus innerhalb dieses von Luther vorgegebenen Argumentationsrahmens; allerdings verschob sich der Akzent der Polemik bei Melanchlhon zukunftsweisend auf den einen Punkt, 19
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daß die Heilige Schrift durch das traditionelle exegetische Verfahren zu einer ltincerta oratio« gemacht werde: ltNam oratio, quae non ha· bet unam ac simplicem sententiam, nihil ccrti docel.«19 Trotz oberflächlicher Konstanz der Argumentationstopoi brachte dagegen die Aufklärungshermeneutik einen radikalen Bruch mit den semiologischen Voraussetzungen der mittelalterlichen Exegese; und wie diese Wandlung erfolgt ist, läßt sich in wesentlichen Momenten an Georg Friedrich Meiers VerSIKh einer allgemeinen Auslegungskunst (1757)30 beobachten. Dabei bezieht sich (liese )allgemeine Auslegungskunst< noch einmal auf den gesamten Bereich der sprachlichen wie der materiellen Zeichen,J I ja sogar die einstige Unterordnung der Wort- unter die Dingbedeutungen (ltEst enim rerum significatio profundiorquam vocum«)J2 kehrt bei Meier verwandelt wieder im Primat der natürlichen über die willkürlichen Zeichen und in dessen theologi· scher Begründung - nun freilich aus dem Geist der Leibnizschen Theodizee (Versuch §§ 37f.). In zwei zentralen Punkten aber unterscheiClet sich Meiers Zeichen· konzeption grundlegend von der der mittelalterlichen Exegese: in der Verwerfung jeglicher Bedeutungsvielfalt als eines Definiens des >vollkommenen Zeichens< und in der Kritik der Ähnlichkeit als eines Richtmaßes der Interpretation. War es nämlich im Mittelalter als besonderer Vorzug der Dingbedeutungen angesehen worden, daß sie erheblich vielfältiger zu sein vermögen als die Wortbedeutungen,JJ so betont Meier im Gegensatz dazu: Je mehrere Bedeutungen ein Zeichen hat, je verschiedener dieselben sind, und je mehr sie einander entgegengesetzt sind, [... 1desto grösser ist die Zweydeutigkeit des Zeichens, und desto schwerer die Erkenntniß einer gewissen bestirnten Bedeutung aus dem Zeichen. Folglich sind die natürlichen Zeichen nicht zweydeutig (...]. (Versuch § 55)
Während aber die geächtete )Mehrdeutigkeit< bei Meier (wie übrigens generell in der Aufklärungshermeneutik) durch die Hintertürder )Fruchtbarkeit< des vollkommenen Zeichens doch wieder partiell Eingang in den hermeneutischen Kanon zu finden vermochte (Vermeil § 41),3" bedeutet Meiers Verwerfung jeglichen Ähnlichkeitsdenkens einen kompromißlosen Bruch mit der traditionellen Zeichenkonzeplion. Das ganze Mittelalter hindurch und teilweise noch über die Re· naissance hinaus war es nämlich im wesentlichen die Ähnlichkeit (similitudo),35 durch die der Zeichenwert der sprachlichen wie der nicht-sprachlichen Zeichen konstituie,n wurde, während dabei die
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faktische Verknüpfung zwischen Zeichen und Bezeichnetem nur eine ganz untergeordnete Rolle spielte. 36 Wie obsolet dieses aus archaischen Quellen gespeiste AnaJogiedenken durch die von der neuzeitli· ehen Philosophie seit Bacon und Descartes geübte Kritik geworden war,')? läßt der Spott der Logiquede Pon·Ro)'al unmißverständlich erkennen: Es gibt eine Konstellation am Himmel, die einige leute Waage zu nennen belieben und die einer Waage so ähnlich ist wie einer Wmdmühk; die Waage ist das Symbol der Gerechtigkeit: also werden die. die unter dieser Konstellation geboren werden, gereclll und billig sein. Es gibt drei andere Tierkreiszeichen, von denen man das eine Widder, das andere Stier, das andere Steinbock nennt, und die man ebensogut auch Elefant, Krokodil und Rhinozeros hälle nennen können: der Widder, der Stier und der Steinbock sind Wiederkäuer: also sind diejenigen, die eine Medizin einnehmen[,) wenn der Mond unt~r diesen Kon· steUationen steht, in Gefahr, sie wieder zu erbrechen. Wie ungereimt auch diese Schlüsse sein mögen. gibt es leute. die sie herleierni,) und andere, diesich davon überzeugen lassen.:M
Ganz im gleichen Sinne wird auch von Meier eingeschärft: Doch hüte man sich, daß man nicht, um einer jedweden Aehnlichkeit und Gleichheit willen, die sich zwischen zweyen Dingen befindct, cinen bezeich· nenden Zusammenhang zwischen ihnen annehme. (Versuch § 80)
Halte sich allerdings die Zeichentheorie der Logique de Pan-Royal am Paradigma der Landkarten und Bilder orientiert und speziell die natürlichen Zeichen durch das Spiegelbild im Verhältnis zu dem von ihm repräsentierten Gegenstand veranschaulicht,J9 so läuft Meiers Zeichen konzeption demgegenüber auf eine nahezu vollständige Til· gung aller ikonischen Momente hinaus.-o Denn er exemplifiziert die natürlichen Zeichen rein indexikalisch an der Verknüpfung von .Ur· sache und .verursachte[r) Sachee, .Zwecke und .Mittelc, )bewegenden Ursachen, Triebfedern des Gemüths, sinnlichen und vernünftigen BewegungsgTÜnde[n)( und )Absichten, Begierden, Temperament, Leidenschaften, wiUkührlichen Handlungen( (V~nuch §§ 68 u. 76f.); ja selbst die Relation der .Copiec zu ihrem .Mustere,. Vorbilde oder .Urbilde wird nicht etwa durch einen Fall von Ähnlichkeitsbeziehun· gen, sondern durch die Verknüpfung von .Körpere und _Seele« er· läutert (eb
0004711fßersten Ränder des Erkennens gedrängt: Einerseits als bloßes Begleitphänomen der faktischen Verkettungen von Ursache und Wirkung, Mittel und Zweck etc., indem diese Kontiguitätsbeziehungen stets auch gewisse Merkmalsübereinstimmungen impLiz.ieren: Eine jedwede Ursach ist der verursachten Sache ähnlich und gleich. Folglich ist manchmal eins unter ähnlichen und gleichen Dingen, auch für die Menschen, ein natürliches Zeichen des andem (...}. Doch hüte man sich, daß man nicht. um einer jedw~en Aehnlichkeit und Gleichheit willen. die sich zwischen zweyen Dingen befindet, einen bezeichnenden Zusammenhang unter ihnen
annehme. (Vusuch §
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Andererseits aber, wenn schon nicht als ontologisches Prinzip, so doch als ein organisierender Faktor des Erkenntnisprozesses zur Sicherung der Homogenität der Erfahrung - ausgedTÜck't durch die ahermeneutische Regel«: die natürlichen Zeichen müssen ausgelegt werden nach MaaBgebung ähnlicher natürlicher Zeichen von eben der An und Gauung, welche Aehnlichkeit der Poralldismus du natürlichen Zeichen genannt werden kan. (Vf!'3'uch § 64)·2
G. F. Meiers Versuch ejneral/gemeinen Auslegungskunst fixien damit Positionen, die von der Aufklärungshermeneutik über mehr als ein halbes Jahrhundert nicht in Frage gestellt werden sollten; und mag man auch in seiner aArchitektonik und Symmetrie« (mit Dilthey) anur blinde Fenster, durch die niemand sehen kann«:J erblicken, so ist dieser schmale Vorläufer der von Schleiermacher geforderten aallgemeinen Hermeneutikc (HK 55, 76(75), 123 u. ö.) doch die bündig· ste Widerlegung jenes Klischees von der vorschleiermacherschcn Hermeneutik als eines bloßen Aggregats von Regeln, das einer Begründung durch allgemeine Prinzipien ermangelte." Dagegen zeigt sich die historische Janusköpfigkeit von Meiers Versuch auf geradezu krude Weise in dessen abschließender apraclischer Auslegungskunst« (§§ 249-271): Denn von der aheilige(n) oder theologische(n]_, der ajuristische(n]c und der asittlichen Auslegungskunstc (§§ 251-253) über die aAuslegung der hieroglyphischen Zeichenc, a Wapenc und aMünzenc (§§ 266-268) sowie die asittJiche Physiognomiec und aTraumdeutereyc (§ 269) bis hin zur aemblematische(nJ Ausle· gungskunstc (§ 271) werden hier unterschiedslos alle erdenklichen Gebiete aufgezählt, in denen die _Regeln der allgemeinen Auslegungskunstc angewendet werden können (§ 249); wobei die amantische Auslegungskunstc (z. B. aAstrologie«, aTraumdeuterey_, aAugurium«, aWahrsagung au( den Namen (und] Zahlenc (Versuch
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§§ 256-265]) ohne auch nur eine Andeutung von Kritik den weitaus breitesten Raum einnimmt. Doch nicht genug, daß dieser wahrhaft )barocke< Katalog von Spezialhenneneutiken keine Nachfolge unter den Henneneutikern des 18. lahrhundens gefunden hat:' so hat auch Meiers Idee einer _Auslegungskunst im weilern Verstandee als einer allgemeinen _Wissen_ schaft der Regeln. durch deren Beobachtung die Bedeutungen aus ihren Zeichen können erkannt werdene (V~nuch § I), in der weiteren Entwicklung der Aufklärungshenneneutik keine nennenswerte Rolle zu spielen vermocht, so daß noch Schleiermachers philologischer Lehrmeister F. A. Wolf als Desideral notierte: Bis jelzt haben wir über die allgemeine Henneneulik wenig Befriedigendes. Diese philosophische Disciplin beschäftigl sieh im Allgemeinen mit der Erklärung \Ion Zeichen. Henneneutica generalis est disciplina signorum explicanckr rum. Alle Arten von Zeichen kommen bei dieser in Betrachtung, sogar die Himmelszeichen, auf die der Augur achtet. 4 •
Schleiennaeher jedenfalls hat eine solche _Hermeneulica generaIise irp Sinne einer )allgemeinen Semiotik( nie als seirae Aufgabe belrachlet; bestimmt er doch - darin ganz in der Tradition der protestantischen Auf1c.lärungshermeneutik - die Hermeneutik als _die Kunst, die Rede eines andem, vornehmlich die schriftliche, richtig zu verstehene (HL 3 [71]), und rechnet es ausdrücklich zu den _bestimmten Grenzen der Hermeneutike, daß sie es _immer nur mit dem in der Sprache producirten zu Ihun haben kanne (HK 152 (342]). Mit dieser programmatischen Begrenzung der Hermeneutik auf den Bereich der sprachlichen Zeichen wird nun aber endgültig der traditionellen Auslegung nach dem mehrfachen Schriftsinn der Boden entzogen - wie ja schon 1. A. Emesli belont hatte: Ipse ille rypicus smsus. quem vocam, proprie non eSI sensus, quem in arie vocarnus. Esl enirn non verborum. sed rerurn. Quas Deus voluil esse signa rerurn futurarum. Nec in co quaerendo opus esl inlerprelis cura et ingenio. 4 '
Mag dies auch als eine .gewisse Verarmunge für die Hermeneutik erscheinen,4! so ist diese Be~hränkung auf einen einzigen Schriftsinn doch zugleich durch eine wachsende Differenzierung der AuslegUIIgsmelhodell begleitet, die über den Text hinaus zunehmend auch dessen Autor und seine Intentionen ins Spiel bringl und die schließlich in die Schleiermachersche Entgegensetzung von _grammatischere und _psychologischer Interprelatione mündet. 23
In ihrer Friihphase hatte sich die Aufklärungshermeneutik noch eindeutig auf das ,vollkommene Verstehen( eines gegebenen Textes als solchen, nicht aber der Meinungen und Absichten seines Verfassers gerichtet. So betont J. M. Chladenius in seiner Einlei/ung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften (1742): Weil die Menschen nicht alles übersehen können. so können ihre Wone. Reden und Sdtrifften etwas bedeuten. was sie selbst nicht willens ge....·cscn zu reden oder zu sdtrdben: und folglich kan man, indem man ihre Schrifften zu versle· hen suchl. Dinge, und zwar mit Grunddabey gedencken. die denen Verfassern nichl in Sinn kommen sind. Es kan auch gegenseitig geschehen. daß ein Mensch sich einbildet, seine Meynung so vorgetragen zu haben, daß man ihn vollkommen verslehen müsse, und in seinen Worten ist doch wol nichl alles anzulreffen. was seinen Sinn vollkommen zu vernehmen uns in Sland selzte. Daher iSI bey alten Reden und Schrifften zweyertey, den Sinn des Verfassers, oder den Verfasser vollkommen verstehen. und die Rede oder Schrirft an sich betrachlct. vollkommen verstehen. 4 '
Wenn überhaupt, so sei es allenfalls bei der >Anwendung( (in Chladenius' Tenninologie: dem »minelbaren Verstande) erforderlich, auch auf die Absicht des Verfassers zu sehen. so Dagegen heißt es bald darauf in Meiers Versuch einer al/gemeinen AuslegungskufUt: »Wenn man die Rede eines Autors auslegt, so sagt man, daß man den Aulor selbst auslegee (§ 110). Und dies ist nicht etwa eine laxe metonymische Redeweise, sondern eine logische Konsequenz aus Meiers Fundierung der »Auslegungskunste durch den Vorstellungsbegriff, derzufolge der »Sinn einer Redee nichts anderes ist als eben »diejenige Reihe mit einander verknüpfter Vorstellungen, welche der Autor durch die Rede bezeichnen wille (ebd. § 112). Demgemäß ist es hier lediglich der »buchstäbliche Sinll, oder Ver· stand, (sensus IitteriC)e, der »aus den einzeln Worten, Redensarten und Wortfiigungen [...] ohne Beziehung auf.den Autore erkannt werden kann (ebd. §§ 114 u. 142), während der volle »unmittelbare Sinn. oder der Wortverstand der Rede, (sensus litteralis)« geradezu mit der »WiUens~einung oder Begierde des Autorse zusammenfällt (ebd. §§ 116 u. 162). Dieser Dualismus bestimmt - wenn nicht terminologisch, so doch der Sache nach s , - die gesamte spätere Aufklärungshermeneutik, repräsentierl vor allem durch die konkurrierenden Schulrichlungen der 'grammatischen Interpretation< Ernestis und der >historischen Interpretation< Semlers:
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Die grammatische Interpretation (...] untersucht die BedeulUng einzelner Wone und ganzer Redensarten und Sätze; die historische Interpretation untersucht näher, was und wie viel ein Verfasser bey seinen Werken gedacht, welche Begriffe er genau damit verbunden und gewollt hat, daß andere die nämlichen Begriffe damit verbinden sollen. 51
Tatsächlich sind in der so konzipierten »historischen Interpretation« bereits entscheidende Momente der Schleiermacherschen ltps~· chologischen Auslegung« vorweggenommen: die Einbeziehung der ltgesamte[n] Beschaffenheit des Urhebers einer Rede« in die hermeneutischen Untersuchungen,53 die Frage nach den lt Vorstellungen [...] seiner ersten Leser« als weiteres Spezifikationskriterium der Auslegung,54 ja selbst die methodische Maxime: Man vergesse ganz die Begriffe seiner Zeit. die An, die Gegenstände sich vorzustellen, ihre Ursachen zu erklären, und die ganze Art zu denken, die wir haben. und versetze sich ganz in das Zeitalter, in welchem der zu erklärende Schrihsteller lebte. und mache sich mit seiner Vorstellungs- und Denkungsart, Begriffen. Unheilen recht vertraut."
Freilich bleibt es im Rahmen der Aufklärungshermeneutik ausgeschlossen, daß grammatische und historische Interpretation in einen echten Gegensatz treten könnten; etwa wenn K. A. G. Keil, als einer ihrer letzten bedeutenden Theoretiker,.betont: Diese grammatische Erklärung ist indeß von der (...] historischen Interpretation (... 1keinesweges verschieden, und kann daher auf keine Weise von ihr getrennt, oder ihr entgegengesetzt werden, vielmehr sind beyde auf das genaucste mit einander verbunden. Die historische kann und darf nie eine andere, als grammatische seyn; dagegen soll und muß aber auch die grammatische immer eine historische seyn. S6
Mochte dies aus einer Schleiermacherschen Perspektive wie eine bloße Beschwörung erscheinen, so beruhte diese Harmonisierung doch auf prinzipiellen Gründen. War es nämlich die für die Aufklärung charakteristische Engführung von Sprach- und VorsteUungstheorie, die zur Proklamation der Autorintention als Verstehensnorm und damit zur Ausdifferenzierung von grammatischer und historischer Interpretation geführt hatte, so wurde zugleich deren vollständige Kommensurabilität durch die Dominanz des Vorstellungsbegriffs in beiden Interpretationstypen garantien, indem sowohl der vom Autor intendierte lt Verstand einer Redet: wie auch die davon unabhängigen ltBedeutungen der Wone« gleichermaßen als >Vorstellungen< begriffen wurden. 57
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Diese Harmonisierung beider Interpretationsgesichtspunkte - des auf die rein sprachliche Seite und des auf den Verfasser und seine Intentionen gerichleten - wurde gege~ Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend durch Entwicklungen außerhalbdereigentlichen hermeneutischen Schultradition erschültert: einerseits durch das wachsende Eigengewicht beider Seiten der Auslegung im Rahmen der Herdersehen Sprach- und Literaturtheorie, andererseils durch die im Zuge der Enlfallung der idealislischen Philosophie erfolgte Enlthronung des Vorstellungsbegriffs als fragloser Vcrmiulungsinstanz. Und wenn Schleiermachers Auseinandersetzung mit der Aufklärungshermeneutik von vornherein nicht nur auf ihre methodische Rekonstruktion, sondern mindestens ebenso sehr auf ihre prinzipielle überwindung hinauslief, so beruhte dies in hohem Maße auf seiner frühen und entscheidenden Prägung durch eben jene, den Horizonl des Aufklärungsdenkens Iranszendierenden Geistesströmungen. Einerseits hatte die sprachliche Auslegung lileraTischer Werke schon beim frühen Herder eine ganz neue Dimension hinzugewonnen; denn seiner überzeugung nach ist die Sprache nicht nur als mehr oder minder neutrales »Werkzeug« anzusehen, sondern auch als »Behält· niß«, ja darüber hinaus als prägende »Form« der Literatur und Wissenschaft, die »der ganzen Menschlichen Erkenntniß Schranken und Umriß (...) giebt«58: In diesem Gesichtspunkt wie groß wird die Sprache! Eitlt! Schatzkammer Menschlicher Gedanken, wo jeder aur seine An etwas beitrug! eint Summe der Würksamkeil aller Menschlichen Seelen. ",
Wenn Herder so an der aufklärerischen Sprachauffassung krilisiert, daß sie offenbar »nichts als Wortelymologien und Namenregislcr kenne« (Fragmente 22),60 und er staU dessen das Sludium der Sprachen vornehmlich auf den »große[nJ Gedankenvolle[n] Raum, den sie einschließen« (ebd. 13), gerichtet wissen will, so ist damit der entscheidende Schrill getan zu der von Schleiermacher proklamierten Verwandlung der »grammatischen Interpretation« aus einer bloßen Aneinanderreihung von (sei es aus Lexika, sei es aus dem unmittelbaren Kontexi und ParallelSIelIen gewonnenen) Worterklärungen in ein »Verstehen aus der TOIalität der Sprache« (HK 77 [78]) - gelreu der Herderschen Devise: Die Lineratur wuchs in der Sprache, und die Sprache in der Litteratur: unglücklich ist die Hand, die beide zerreißen. triiglich das Auge. das eins ohne das andere sehen will. (Fragmt'nte 19)
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Aber auch die andere Seite der Schleiermacherschen Hermeneutik, die aus der überkommenen lIhistorischen lnterpretation« hervorgegangene lIpsychologische Auslegung« sprachlicher Äußerungen lIaus dem ganzen Leben«, d. h. 1I31s Lebensmoment des Redenden in der Bedingtheit aller seiner Lebensmomente« (HL 13(78)), ist noch weil über die Ansätze der Aufkläru.ngshermeneutik hinaus bereits bei Herder vorgebildet. Und zwar finden sich in zwei Absätzen der Schrift Vom Erkennen IIl1d Empfinden der menschlichen Seele wie in einer Nußschale alle entscheidenden Grundgedanken versammelt: die Programmformel, .man soUte jedes Buch als den Abdruck einer lebendigen Menschenseele betrachten können«; die Anweisung, lImehr im Geist des Urhebers, als im Buch zu lesen«, denn lIdas Leben eines Autors ist der beste Commentar seiner Schriften«; schließlich die Versicherung, daß lIdies lebendige Lesen, diese Divination in die Seele des Urhebers das einzige Lesen und das tiefste Mittel der Bildung« sei lIeine Art Begeisterung, Vertraulichkeit und Freundschaft, (...J die eigentlich das, was man Lieblingsschrlftste//er nennt, bezeichnet,.61 Dennoch ist die Schl~iermachersche Hermeneutik durch eine prinzipielle Differenz von diesen weitreichenden Antizipationen unterschieden. Denn nicht anders als in der Aufklärungshermeneutik, wird das Verhältnis zwischen der auf die Sprache und der auf den Autor und sein Leben gerichteten Seite der lnterpretation auch bei Herder nirgends zu einem Problem; freilich ist es hier der Begriff des >Lebens<, der von vornherein eine Klammer zwischen beiden auseinanderstrebenden Auslegungsrichtungen bildet. So sehr dieser Leitbegriff - im Unterschied zum Begri.ff der>Vorstellung( -zu einer erheblichen Vertiefung und Dynamisierung beider Seiten der Auslegung beiträgt,62 so unübersehbar sind doch (gerade im Vergleich zur Schleiermachersehen Hermeneutik) die durch seine Dominanz bedingten Einengungen des hermeneutischen Untersuchungsfeldes: lndem nämlich das literarische Werk einzig als unmittelbarer lIAbdruck einer lebendigen Menschenseele« verstanden werden solJ,6J müssen Fragen seiner bewußten Komposition wie überhaupt der literarischen Technik innerhalb einer so getaßten autorbezogenen Interpretation weitgehend außer Betracht bleiben; bei Schleiermacher dagegen bildet diese lItechnische Seite, neben der lIrein psychologischen« einen gleichberechtigten Hauptteil der lIpsychologischen Auslegung« als ganzer (vgl. HL 149ft. [179ft)). Was aber die sprachbezogene Seite der Auslegung angeht, so hai Herde[S Betonung der Lebensbezüge der Sprache eine
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ausgesprochen anti-formale Stoßrichtung - gemäß seiner frühen Parole: »Weg also Grammatiken und Grammaükcr.e 64 Denn seiner Oberzeugung nach muß» je ursprünglicher die Sprache [ist}, desto weniger Grammatik in ihr seyn, und die älteste ist blos das {...} Wörterbuch der Natur!e 65 Tritt demnach bei Herder (kaum anders als in der Aufklärungshermeneutik) der morphologisch-syntaktische Aspekt der Sprache fast gänzlich hinter dem lexikalischen zurück - »wer wird blas bei der dürren Form der Sprache stehen bleiben, da das Materielle, was sie enthält, der Kern ist?e (Fragmente 13) -, so entspricht es dagegen der seit .Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmenden Hinwendung zur »grammatischen Strukture als primärer Schicht der Sprachen," daß bei Schleiermacher innerhalb der .grammatischen Auslegunge das »formelle Element« der Sprache völlig gleichberechtigt neben dem .materiellene behandelt wird (H K 92 (117]). Mit der Fortführung jener Herdersehen Impulse bei gleichzeitiger Aufhebung ihrer formfeindlichen Restriktionen mußte sich nun freilich die Frage nach dem Verhältnis von sprach- und autorbezogener Interpretation in bis dahin ungeahnter Schärfe stellen. Denn es war ja gerade die Orientierung am Begriff des >Lebens<, die zwangsläufig zu den problematischen Einengungen des hermeneutischen Untersu· ehungsfeldes geführt hatte; der konkurrierende Begriff der >Vorstellung< aber hatte eben in der Konstitutionsphase der Schleiermachersehen Hermeneutik seine philosophische Schlüsselstellung und damit auch seine frühere Geltung als fraglose Vermittlungsinstanz zwischen beiden konträren AuslegungsrichtuDgen endgültig eingebüßt. 67 Seit dem Beginn der neuzeitUchen Philosophie zunehmend im Schwange, war der Begriff der repraeselltatio (>Vorstellung<) vor allem durch Leibniz und Wolff zum organisierenden Prinzip der Bewußtseins- und Sprachtheorie der Aufklärung avanciert. Ursprünglich in der scholastischen Bildertheorie, der Mikrokosmos-MakrokosmosSpekulation und der Mathematik völlig nicht-mental im Sinne von >etwas Darstellen, Vertreten, Ausdrücken< verstanden," gewann die· serTerminus in wachsendem Maße eine subjektiv-psychologische Be· deutung, ja im Laufe des 18. Jahrhunderts trat die obligatorische Ob· jektrelation der >V~)fStellungen< zunehmend hinter ihrer selbstreOexi· ven Beziehung auf das Subjekt des Vorstellens lurück. 69 Diese begriffsgeschichtliche Entwicklung kulminierte in Kants Behandlung der »Vorstellung überhaupt (repraesentatio)« als allgemeinsten Gat-
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IUngsbegriffs der theoretischen Philosophie,70 woraufhin sein Schüler K. L. Reinhold in dem VerSIIch einer "elletl Theorie des menschlichen Vorste/lungsvermögens (1789) und besonders der Neuen Darstellung der Hallptmometlteder E/ememarphilosophie (1790)71 den Begriff der Vorstellung sogar als oberstes Deduktionsprinzip der gesamten Philo· sophie proklamierte. 72 So bestechend freilich die Reinholdsche Theorie in formaler Hinsicht als systematische Rekonstruktion der Kantschen Philosophie er· scheinen mochte, so kollidierte sie doch gleich mit zwei ihrer zentralen Lehrstücke: dem Primat der reinen praktischen über die spekulative Vernunft und der Behandlung des Ich (und nicht etwa der Norstel· lun~() als höchsten Punkt der Transzendentalphilosophie. 73 Die ~. struktion des Begriffs der Norstellung< als möglichen Grundprinzips der Philosophie ließ denn auch nicht lange auf sich warten, ja sie bil· dete eines der wichtigsten Motive der Fichteschen Wissenschafts/ehre und damit des romantischen Philosophierens überhaupt. Denn indem Fichte seit seiner Aenesidemus·Rezension (1793)74 und den Eignen Meditllliotlen über E/emetltarPhilosophie (1793/94)'5 die bei Rein· hold überspielte Frage nach dem Subjekt der Vorstellungen zum Deduktionsprinzip erhob und den Begriff der Vorstellung durch den des Handeins ()Setzens<) fundierte, überführte er so die ,Theorie des Vor· stellungsvermögens< in eine Theorie der Subjektivität. Während diese Entthronung des Vorstellungsbegriffs - die fakti· sche bei Herder wie die prinzipielle bei Fichte - in der protestantischen Hermeneutik des ausgehenden 18. Jahrhunderts keine nennenswer· ten Reaktionen hervorrief, ging sie an der philologischen Hermeneu· tik durchaus nicht spurlos vorüber. Bei F. A. Wolf vor allem in Form von systematischen Inkohärenzen: denn einerseits bestimmt er die Hermeneutik (ganz im Sinne seiner unmittelbaren Vorgänger) als »die Kunst, grade die nemlichen Ideen oder Empfindungen, die ein Schriftsteller durch Reihen von Ausdrücken uns hat geben wollen, völlig eben so, wie sie in seinem Kopfe waren, d. h. in der nemlichen Stärke. Verbindung etc. wieder zu fassen und uns darüber erklären zu kön· nen«,'6 an anderer Stelle aber ohne jeglichen Rekurs auf den Begriff der Vorstellung als .die Kunst, alle Arten von Zeichen zu erklären, d. h. die Kunst, unter Zeichen das Bezeichnete zu verslehen« - und zwar .sogar die Himmelszeichen, auf die der Augur achtet«." Oder er betrachtet die Sprache einerseits (ganz im Sinne des 18. Jahrhunderts) als »ein grosses Magazin von Vorstellungen [... J. die ein Volk hat«,78
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sieht aber andererseits (ähnlich der romantischen Sprachphilosophie) in jeder Sprache vor allem eine »besondere Denkforme 79 zur Anschauung gebracht und betont: »ln der Art der Bezeichnungen aber liegen nicht geringere Schätze als in den Zeichen selber.e so Noch weit entschiedener wird der Rahmen der Aulklärungshermeneutik durch F. Ast gesprengt, bei dem die Sprache nicht mehr als Vehikel des Vorstellens und Erkennens fungiert, sondern vielmehr als »Ausdruck und Offenbarunge des das Zentrum allen Lebens bildenden ,Geistes<81: Alles Leben ist Entfaltung aus einem inneren Principe, also hat alles Lebendige eine Sprache, als den Ausdruck seines Lebens (...]i und selbsi das Unbeseelte (•..J drückt die erregte Kraft seiner Natur, die es der äusseren Einwirkung enlgegensetzt, durch einen Ton aus [...]. (Grundlinien § 2)8~
Auf Grund dieses Verständnisses der Sprache als Manifeslation eines lebendigen Ursprungs und der daraus folgenden Auflösung des Bandes zwischen ,Sprache< und, Vorstellung< läßt sich das Verstehen ein~r RedeoderSchrift nun nicht mehr alsdie Erkenntnisder Vorstellungen eines anderen rassen, sondern verwandelt sich vielmehr in ein »wahrhaftes Reproduciren oder Nachbildene des aus einem »mythischen, noch in sich verhüllten Anfangspunctee Gebildeten (Grundlinien § 80). Bleiben auch Asts Grundlinien der Grammatik, Hermenewik und Kritik - im Gegensatzzu Schleiermachers Hermeneutik -offenkundig hinter den formalen Standards und dem materialen Reichtum der hermeneutischen Schultradition zurück, so sind sie doch zumindest eine genialische Transposition von Ideen aus der romantischen Kunstkritik und der Schellingsc.hen Identitätsphilosophie in die Disziplin der philologischen Hermeneutik. Die gelegentlich aufblitzende Gereiztheit in Schleiermachers beiden Akademiereden Ueber den Begriffder Hermeneutik, mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch beruhte nicht zuletzt darauf, daß er bei Ast in rhapsodisch-spekulativer Manier bereits einige wesentliche Momente seiner eigenen hermeneutischen Theorie antizipiert fand. Und zwar sowohl das Programm der »psychologischen Auslegunge: »den ganzen innem Verlauf der componirenden Thätigkeit des SchriftstelJers auf das vollkommenste nachzubilden. (HK 135 [321], auch HK 160) und »eine Reihe von Gedanken zugleich als einen hervorbrechenden lebensmoment (... J zu verslehene (HK 131 (316], auch HL 148 [178]), sowie den Rückgang auf den »Keimentschluße (HK 165f., HL 160ff.
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(l89ff.]) als den Ausgangspunkt einer solchen genetischen Rekonstruktion (vg1. Ast, Grundlinien §§ 80L); als auch den :thermeneutische(n] Grundsaz«: :tdaß alles einzelne nur verstanden werden kann vermittelst des Ganzen, und also jedes Erklären des Einzelnen schon das Verstehen des Ganzen voraussezt« (HK t41 fL [328 fL], auch HK 46,84 fL (95 fL], entsprechend Grundlinien § 75), sowie die Unerläßlichkeit einer Art >Divination(, da dieser )scheinbare( :tCirkel« (H K 86 [97), Grundlinien §§ 75 u. 78) nur durch eine vorweggenommene :tAhndung des Ganzen« (H K 144 L [331 fL]) aufgelöst werden könne (so Grundlinien §§ 79 u. 81). Dagegen ist bei Ast - kaum anders als in der Aufklärungshermeneutik und bei Herder - das Problem des Verhältnisses von .historischem« und :tgrammatischem Verstehen«, dem hier noch ein drittes :tgeistiges« hinzugefügt wird (Grundlinien § 74, dagegen HK 153fL (342ft.]), wie auch das Problem des Fremdverständnisses (Grtllldliniell §§ 70f., dagegen HK 128 ff. (313 fL]) von vornherein entschärft, indem hier )Leben< und lSprache< allemal schon durch den Begriff des >Geistes< vermittelt sind.8J Im Gegensatz zu all solchen Harmonisierungsversuchen behauptet Schleiermacher von Anfang an eine grundlegende Antithese zwischen dem Verstehen »aus dem Mittclpunkt der Sprache« und dem Verstehen .aus dem Mittelpunkt eines Künstlers« (HK 37L). Ungeachtet gewisser sachlicher Verschiebungen und auch Formulierungsvariationen hat Schleiermacher von den frühen Aphorismen zur Hermenewik bis zu den Randbemerkungen von /832/33 an diesem Gegensatzpaar festgehalten,8. ja man kann in ihm geradezu das Organisationsprinzip seiner hermeneutischen Theorie erblicken. Läßt sich auch diese Dissoziierung der überkommenen grammatisch-historischen interpretation aus der vorangegangenen Entwicklung der Hermeneutik und der Sprach- und Bewußtseinsthcorie - vor allem aus der zunehmenden Vertiefung beider Seiten der Auslegung und der Suspendierung des sie verklammernden Vorstellungsbegriffs - plausibel machen, so resultiert sie doch vor allem aus Schleiermacherseigentümlichem Denkansatz, wie ersieh bereits in der ersten seiner Reden über die Religion (1798) emphatisch formuliert findet: daß die: Gouheit durch ein unabänderliches Gesetz sich selbst genötigt hat, ihr großeJ Werk bis ins Unendliche hin zu entzweien, jedes bestimmte Dasein nur aus zwei entgegengesetzten Kräften zusammenzuschmelzen, und jeden ihrer ewige.:l Gedanken in zwei einander feindseligen und doch nur durch einander
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bestehenden und unzertrennlichen Zwillingsgestalten zur Wirklichkeit zu bon· gen. Diese ganze körperliche Welt, in deren Inneres einzudringen das höchste Ziel Eures Forschens ist, erscheint den Unterrichtetsten und Denkendsten un· ter Euch nur als ein ewig fongesetztes Spiel entgegengesetzter Kräfte. (...) Es scheint mir, als ob auch die Geister, sobald sie auf diese Welt verpflanzt werden, einem solchen Gesetze folgen müßten. Jede menschliche Seele - ihre vorübergehenden Handlungen sowohl als die innem Eigentümlichkeüen ihres DaseinS führen uns darauf-ist nur ein Produkt zweier entgegengesetzterTriebe. U
Trotz offenkundiger Entlehnungen aus dem Motivvorrat einer platonisierenden >Vereinigungsphilosophiec86 geht diese Behandlung des Gegensatzes als Universalprinzip wesentlich auf Fichte zurück, der in seiner Wissenschaftslehre "on} 794 den Versuch unternommen halte, die gesamte physische und moralische Welt aus einem ursprünglichen Setzen und Entgegensetzen im Ich und aus einer Sequenz von Synthe· sen dieses Gegensatzes zu deduzieren.87 Ähnlich wie Schelling, Hölderlin, Hegel und andere Generationsgenossen, deren philosophische Bemühungen zunächst ebenfalls einer Synthese Kants und Spinozas gegolten hauen,88 war Schleiermacher freilich nie ein Fichteaner im strengen Sinne, indem er jene von Fichte beschriebene dynamische Struktur von Entgegensetzungen vom SelbstbewuBtsein ablöste und ihren Einheitsgrund statt ins absolute Ich in ein spinozistisch gefaBtes .Unendlicheso: verlegte;89 darin vor allem bestand ja auch der gemeinsame philosophische Nenner des jungen Schleiermacher mit sei· nen Romantikerfreunden Friedrich Schlegel und Novalis. Wie sehr sich Schleiermacher damit schließlich identitätsphiloso· phisehen Positionen näherte, läßt sich an seiner - trotz mancher kritischen Einwände - durchaus positiven Besprechung von Schellings Vorlesungen über die Melhode des akademischen Sludiums (I802)90 ablesen. Schelling gründet hier alles einzelne Wissen und jede beson· dere Wissenschaft auf die Idee des Absoluten als wesentlicher Einheit des unbedingt Realen und des unbedingt Idealen (S. 238). Solle das Absolute nun zur Erscheinung kommen, so müsse notwendig eine Entgegensetzung dieser beiden Seiten erfolgen (S. 240f. u. 303) - rrei· lieh nur für ein endliches Bewußtsein, während absolut betrachtet jedes der beiden Glieder des Gegensatzes mit dem absoluten Einen identisch sei und somit auch sein Entgegengesetztes in sich einschlie· ßen müsse (S. 242 u. 273).91 Dies bedeutet aber für die EinzeIwissenschaften: sie sind einerseits nur organische Teile des absoluten Wis· sens und begrenzen einander aJs bloß relative Totalitäten (5. 238 und 303 f.); andererseits ist jede von ihnen aber auch eine Erscheinung des 32
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Absoluten als Ganzen und kann so als Mittelpunkt alles Wissens fungieren und zur allumfassenden Totalität erweitert werden (S. 254). Ungeachtet mancher Detailkritik hat Schleiermacher diese identi· tätsphilosophische Methodenlehre insgesamt zum Fundament seiner Wissenschahssystematik wie auch ihrer einzelnen Disziplinen gemacht. 91 Wohl am deutlichsten zeigt dies seine Deduction du Ethik aus du Dialektik in der Ethik /812113 9J : Ausgehend vom »absolutein) Wissene als »Ausdruck gar keines Gegensazes, sondern des mit ihm selbst identischen absoluten Seinse (§ 20; PhE 491 § 25, 526 § 29), stehe» jedes besondere Wissen, also auch (...] die realen Wissenschaften (... ) unter der Form des Gegensazese (§ 22; PhE 493 § 31, 528 § 34); und wie .die Totalität des Seins als Endlichem I...] durch Einen höchsten Gegensaze ausgedrückt werden müsse, so sei auch .jedes endliche Seiß (... ) als Bild des Absoluten ein Ineinander von Gegensäzen. Das reale Wissen in seiner Totalität ist also die Entwicklung des lneinanderseins aller Gegensäze unter der Potenz der beiden Glieder des höchsten Gegensazese (§§ 23-25; PhE 494 § 38). Gliedert sich so für Schleiermacher alles reale Wissen in IEthik( als .Darstellung des endlichen Seins unter der Potenz der Vernunfte und in )Physik! als »Darstellung des endlichen Seins unter der Potenz der Nature, sowie in IGeschichtskundec: und )Naturkunde( als den empirischen Gegenstücken zu jenen spekulativen Wissenschaften (§ 28; PilE 496f. §§ 46-49, 535ff. §§ 57-63), so soll dieses .Viererschemae9
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Mag all dies - einmal ganz abgesehen von seiner argumentativ~ Bruchigkeit- inzwischen längst als graue Philosophiehistorie erschetJ nen,SO warder Rekurs auf dieses spekulativ-idealistische ModeU doc'" eine entscheidende KonSlitutionsbedlngung der Schleiermacherschen Hermeneutik,97 ja man wird deren wesentliche systematische Innovationen einzig vor dieser Folie angemessen verstehen können. Etwa war die prinzipielle Entgegensetzung von »grammatischer« und »psychologischer Auslegunge (im Gegenzug zur überkommenen Hannonisie· rung des Feldes der Hermeneutik) durchaus eine direkte Konsequeru aus Schleiermachers Definition der Hermeneutik als einer>Kunst(lehJ l re)<," d. h. als einer »technischen Disciplin e : Daß sie in 'einen doppelten complexus gehört, hat sie mit allen Techniken ge!mein - aus diesem entwikkelt sich die sprachliche und die gemütbliche Seile ..) Jede so weit, daß am Ende das Resultat der anderen auch mit erreicht sei. (HK 159) Von Seiten der Sprache angesehen entsteht aber die technische Disciplin der Hermeneutik daraus, daß jede Rede nur als objective Darstellung gelten kann, inwiefern sie aus der Sprache genommen und aus ihr zu begreifen ist, daß sie aber auf der anderen Seite nur entstehen kann als Action eines Einzelnen, und als solche, wenn sie auch ibrem Gehalte nach analytisch ist, doch von ihren minder wesentlichen Elementen aus freie Synthesis in sich trägt. Die Ausgleichung beider Momente macht das Ventehen und Auslegen zur Kunst. (PhE 356 § 189 (384»"
Ebenso ist es lediglich eine Applikation des allgemeinen identitätsphilosophischen Wissenschaftskonzepts auf die Hermeneutik, wenn es Schleiermacher als die »absolute Lösunge ihrer Aufgabe bestimmt. daß» jede Seite fürsich [...) behandelt die andere völlig ersezt die aber eben so weit auch rur sich behandelt werden muße (H K 77 (80)),100 es aberzugleich als eine »bloße Fietione bezeichnet, eine der heiden Seiten »getrennt zu vollführene (HL 142 [164]): SoUte die grammat(ischeJ Seite flir sich allein "ollendet werden so müßte eine vollkommene Kenntniß der Sprache gegeben sein, im andem eine vollständige KenntniS des Menschen. Da beides nie gegeben sein kann: so muß man von einem zum andem übergehen, und wie dieses geschehen soll darüber lassen sich keine Regeln geben. (HK 78 (81))101
Und schJießlich ist auch der >scheinbare< (!) »Cirkele, daß man das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganzen verstehen müsse (HK 84 [95], 85 f. [97]), bei Schleiermacher - im Unterschied etwa zu Dihhey, Heidegger und Gadamer 102 - keineswegs ein exklusiv ,hermeneutischer Zirkel<, 10l sondern nur ein Anwendungsrall
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-ines Theorems von der Wechselbedingtheit alles endlichen Wissens nd der bloß relativen Differenz seiner Momente. 104 Dabei stützt sich Schleiermacher offenkundig auf Schellings viel kritisiertes und gleichwohl für die Entfaltung des Spekulativen Idealis· mus höchst folgenreiches Theorem von der bloß >quantitativen Differenz( aDes Endlichen im Absoluten, lOS das C. Eschenmayerdamals sogleich als die entscheidende Divergenz zwischen Schellings und Fich· tes Methode der Begriffskonstruktion erkannt hatte: ...) Fjcht~'s zweiter Grundsau- A nicht.,. A findet sich nicht mehr in Ihrem :ystem. (., ,) Bei Ihnen fallt der ursprüngliche Gegensatz ganz hinweg, für Sie "iebt es kein ursprüngliches Positives und Negatives, sondern nur einen Unter,chied in der Größe des Seins (quantitative Differenz) oder ein Uebergewicht ler Identität mit sich selbst, in welchem Uebergewicht Ihr A = B oder Subjeclivität und Objectivität besteht. 106
Allerdings wird dieses Theorem von Schleiermacher nur in einer bemerkenswerten Verkürzung rezipiert: Denn wenn Schelling den )ursprünglichen Gegensatz( von Subjekt und Objekt in ein bloßes .Uebergewicht der Subjektivität (des Erkennens] oder Objektivität (Seyns]. aunöst, 101 so bestimmt er doch dje Erscheinung der Identität in Gestalt der reinen Tätigkeit oder aber des reinen Seins ausdrücklich als Negation des jeweils anderen Relats; lot der Ausgleich zwischen ihnen ist daher auch nicht als kontinuierlicher übergang vom einen zum andern zu denken, sondern als ihre wiederholte lPotenzierung( durch die Exponenten des Subjektiven und Objektiven, wodurch die anfängliche Differenz in immer höheren )relativen Totalitäten( (Materie Licht - Organismus etc.) integriert erscheint. 109 Bei Schleiermacher dagegen spielt die Kategorie der Negation insofern überhaupt keine organisierende RoUe mehr,llG als all seine Gegensatzpaare (SubjektObjekt, Denken - Wollen, Begriff- Urteil, ideal- real, inteUektuellorganisch usw.) an ihren jeweiligen Polen bereits ein Minimum ihres Gegenteils enthalten. III Damit aber läuft die Vermittlung der von Schleiermacher im Absoluten als identisch begriffenen Gegensätze nun im endlichen Erkennen auf ein bloßes )Sowohl- als auch! der Extreme und auf deren .approximierende Oszillation. (Dia/O 178) mit dem übergewicht zumeist eines der beiden Momente hinaus. I U Faktisch hat denn auch die Begriffskonstruktion etwa der Schleiermacherschen Dialektik und Ethik im einzelnen nur wenig gemein mit der spekulativen Dialektik Fichtes, Schellings oder Hegels, sondern sie entspricht vielmehr dem Platonischen Verfahren der Wesensbe-
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stimmung durch gliedernde »Eintheilung« (~ha.(QTJOl~) IU von Begrif· fen: wie imSophufes der berühmt-ironischen Ableitung der )AngeLfi· scherei( aus dem Allgemeinbegriff der )Kunst< (ttxvrl) mittels einer ganzen Kette speziflZierender Begriffsoppositionen (hervorbringend vs. erwerbend; gutwillig umsetzend vs. bezwingend; Kampf vs. Nach· stellung etc.) - mit dem Resümee: Nun also sind wir,du und ich, von der Angelfischerei nicht [lurü~rden Namen einig, sondern haben auch die Erklärung ü~r die Sache selbst zur Genüge erlangt. Denn von der gesamten Kunst war die eine Hälfte die erwerbende. von der erwerbenden die bezwingende, von der bezwingenden die nachstellende, von der nachstellenden die jagende, von der jagenden die im Flüssigen jagende, von der im Flüssigen jagenden war der ganze untere Abschnitt die FIScherei, von dieser ein Teil die verwundende, von der verwundenden die Hakenfischerei; und von dieser hai uns die An verminels einer von unten nach oben gezo· genen und den Fisch daran hängenden (ovoO'ltwtJtvTJ v. OV(lO'ltQW x:mporziehern) Wunde den du Tat selbst nachgebildeten Namen der Angelfischerei (omtcWronxT( v. lwltw.oli lFisch<) erhalten. 11. Ein ganz. ähnliches klassifikatorisches Verfahren befolgt Schleiermacher nun auch in seiner Ht!mlt!nt!ufik, wenn er beispielsweise die Behandlung des »zweiten Kanons« der »grammatischen Auslegung« in folgender Weise exponiert: Es ist nun hier zu handeln von Bestimmung des fonneUen und materiellen Ele-
mentes; beides aus dem unmittelbaren Zusammenhang und aus Parallelen und auf qualitatives sowol als quantitatives Verstehen gerichtet. Man kann jeden von diesen Gegensäzen zum Haupteintheilungsgrund machen, und es wird immer etwas für sich haben. Aber am natürlichsten ist doch das erste, weil es eine durch das ganze Geschäft hindUlch gehende oonstante doppelle Richtung ist. (HK 92(116]) und in der Folge z. B. die »Bestimmung des formeIJen Elementes« nach »Art der Verbindung« (>organisch< V$. lmechanisch(), »Grad derselben« (>emphatisch( V$. ,abundirenck) und» Umfang des verbunde· nen« ()säzeverbindend( vs. ,die Elemente des Sazes verbindend<) vornimmt (HK 92 r. [117 oder das »quantitative Verstehen« (im Gegensatz zum »qualitativen«) differenziert in die »Emphase« als Maximum und das »Abundiren« als Minimum desselben und letzteres wiederum als »entweder aus Rücksicht auf das musikalische der Sprache oder aus einer mechanischen Attraction entstanden« unterscheidet (HK 1oof. [l29ff.)}. Um der Gefahr des disparaten Auseinanderfallens solcher binären Klassifikationsschemata von vornherein zu begegnen, fordert Schlei-
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r:;;~clher genereU eine »Quadruplizität der Einteilung« (Dial 0
397) mittels eines doppelten Einteilungsgrundes in Gestalt zweier sich kreuzender GegenS3tlpaare: • Vermöge dieses Kreuzens der Gegen· säze simd alle Glieder unter sich gebundene (PhE 379).115 So notiert Schleiermacherbereits 1801/02 in seinem Tagebuch: .Oie Moral muß wohl nach einem doppelten Eintheilungsgrunde vierfach getheiit werden: Gattung und Individuum, nQO.uuv und nou,iv.« 116 Formal ganz entsprechend vollzieht denn auch Schleiennaehers .positive Formel« der Hermeneutik deren vierfache Teilung in .das geschichtliche und divinatorische [korr. aus profetische] objective und subjective Nachconstruiren der gegebenen Rede«:
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I .•Objeetiv geschichtliche heißt einsehen wie sich die Rede in der Gesammtheit der Sprache und das in ihr eingeschlossene Wissen als ein Erzeugniß der Sprache verhält. - ItO(bjectiv] prophetische heißt ahnden, wie die Rede selbst ein Entwicklungspunkt für die Sprache werden wird. Ohne beides ist qualitat(iver] und quantit[ativer] Mißverstand nicht zu vermeiden. 2. ItSubjectiv geschichtliche heißt wissen wie die Rede als Thatsache im Gemüth geworden ist, Its[ubjeetiv) proph[etisch]e heißt ahnden, wie die darin enthallencn Gedanken noch weiter auf ihn und in ihm fortwirken werden. Ohne beides eben so mißverständlich. 3. Die Aufgabe ist auch so auszudrücken Itdie Rede zuerst eben so gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber[ e]. Denn weil wir keine unmittelbare Kenntniß dessen haben, was in ihm ist, so müssen wir vieles zum Bew[ußtsein] zu bringen suchen was ihm unbewußt bleiben kann außer sofern er selbst reneetirend sein eigener Leser wird. Auf der objeetiven Seite hat er auch hier keine anderen Dala als wir. 4. Die Aufgabe ist so gestellt eine unendliche, weil es ein Unendliches der Vergangenheit und der Zukunft ist, was wir in dem Moment der Rede sehen wollen. I...)- Wie weit man aber und aufweiche Seite vorzüglich man mit der Annäherung gehen will, das muß jedesmal praktisch entschieden werden, und gehört höchstens in eine Specialhenneneutik, nicht in eine allgemeine. (HK 831. (931.))
Ungeachtet ihrer begrifflichen Schlüsselstellung und ihres materialen Perspektivenreichtums, 117 fungiert diese )positive Formel( der Hermeneutik aber faktisch keineswegs als deren Konstruktionsprinzip, sondern muß eher als systematische Verlegenheitslösung angesehen werden. Während nämlich der Gegensatz von. Verstehen in der Sprache« und. Verstehen im Sprechenden« (HK 56) - hier von Itobjective{m] und subjective[ml Nachconstruirenc 118 - in der Tat einen konstanten Einteilungsgrund der Schleiermacherschen Hermeneutik darstellt, fehlte es dieser anfangs durchaus an einem weiteren solchen Gegensatzpaar als zweitem Einteilungsgrund. Schleiermachers Lö-
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sung bestand schließLich darin, daß er jene beiden Seiten der Auslegung -die >grammatische< und die >psychologische< - mit einer Doppelung der Methode - der )(Jivinatorischen< und der >comparativen< kombinierte. So notierte er in einem Anhang an seinen Ersten Entwurf von /809/ IO - noch ohne diese terminologische FIXierung und in deutlicher Anlehnung an die Kantiscbe Unterscheidung von >Anschauung( und IBegriff( - bezüglich der »grammatischen Auslegung.: M~thode 'tWeifac:h.
Unmiuelb[are] Anschauung und Vergkichung. Seide müssen einander zu Hülfe kommen. Vergleic:hung allein kommt nie zur Individ(ualitätJ selbst. Anschauung kommt nie zur Miuheilung. Venniulung ist die Vergleichung mit der Totalität des Sprachgebietes. (HK 71) 11'
Ganz entsprechend unterscheidet dann die Kompendienarrige Darstellung von /8/9 auch für die »psychologische Interpretation. (hier noch als »technische. bezeichnet) »zwei Methoden, die divinatorische und die comparative.: Die divinatorische ist die welche indem man sich selbst gleichsam in den andem verwandelt, das individuelle unmiuelbar aurzufassen sucht. Die comparative sen eßt den zu ventehenden als ein allgemeines, und findet dann das Eigenthümlic:he indem mit andem unter demselben allgemeinen befaßten verglichen wird. I...] Seide dürfen nic:ht von einander getrennt werden. Denn die Divination erhält ihre Sicherheit ena durch die bestätigende Vergletchung. weil sie ohne diese immer fanatisch sein kann. Die comparative aber gewähn keine Einheit: das allgemeine und besondere müssen einander durchdringen und dies geschieht immer nur durch die Divination. (HK 105 (l69f.))IJO
Dieser in Wahrheit aLs zweiter Einleilungsgrund der Schleiermachcrschen Hermeneutik fungierende Gegensatz von >Comparativem( und >Divinatorischem< entspricht aber keineswegs dem in der lpositiven Fonnel< aufgestellten Gegensatz von IGeschichtlichem( und >Divinatorischem (Prophetischem)<; denn er bezieht sich - anders als der lett· tere - überhaupt nicht auf die Historizität des AuszuLegenden. son· dem einzig auf die VermitteLtheit oder Unmittelbarkeit des Ausle· gungsvorgangs. Die nachträgliche Ersetzung von »profetisch. durch _divinatorische in derlpositiven Formel( vennagdiese gravierende systematische Inkohärenz mittels einer bloßen Äquivokation der manti· sehen und der philologischen Bedeutung von di"inatio ()Weissagung( vs. >conieclura<) 111 nur oberflächlich zu verschleiern. Hätte sich diese Divergenz zwischen proklamiertem und faktischem Einteilungsgrund der Hermeneutik bei einer etwaigen Schlußredaktion der Kompendienartigen Darstellung durchaus beheben lassen, so
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verweist sie doch auf eine tiefere Grundlegungsproblematik der Schleiermachersehen Hermeneutik. Gemäß den Prinzipien seiner Dialeldik müßte nämlich jener doppelte Einteilungsgrund unmittelbar aus dem Begriff der Hermeneutik als einer .Kunst des Verstehens« (H K 75 [75l) abgeleitet sein - denn: aAUe Gewißheit des deduktiven Verfabrens geht {...) davon aus, daß der Begriff den Grund der Teilung in sich trage« (Dial 0 394). Verglichen etwa mit seiner aConstruction der Tugend« in der Tugendlehre 1804105 (PhE 38 ff.), kann bei Scbleiermacher (entgegen Diltheys Behauptung 122) von einer solchen Ableitung der Grundprinzipien der Hermeneutik aus einer aAnalysis des Verstehens« kaum die Rede sein. Die ganz im Allgemeinen bleibende Explikation des aVerstehens« als »Nachconstruiren« (PhE 60) und des aAkt(es] des Verstehens« als» Umkehrung eines Aktes des Redens« (HK 76 [76l) bot jedenfalls - dies zeigt das Schwanken bei der Wahl des zweiten Einteilungsgrundes in aller Deutlichkeit - keine hinreichend bestimmte Basis für eine solche Deduktion. Dementsprechend nahm Schleiermacher schließlich mit der »einfachen Thatsache des Verstehens« - an Stelle des in der Dialektik geforderten .vollständigen dialektischen Begriff[s]« (Dial 0 394)als bloßem Ausgangspunkt der Hermeneutik vorlieb, die ihre Regeln dann vielmehr -aus der Natur der Sprache und aus den Grundbedingungen des Verhältnisses zwischen dem Redenden und Vernehmenden« entwickeLn müsse (HK 156 1346l). Oberhaupt läßt sich beim späten Schleiermacher (wohl nicht zuletzt aus Abwehr gegen die zunehmende Herrschaft Hegels und seiner Schule an der Berliner Universität) eine gewisse spekulative Ernüchterung, verbunden mit einer stärkeren Hinwendung zu mehr empirischen Untersuchungen, beobachten. Man denke nur an seine Polemik gegen Asts .verderbliche Nebelei und Schwebelei« (HK 153 1342l), die - als IProtest( gegen F. A. Wolf formulierte (HK 131f. 1317 f.l)Selbstrevision seiner früheren, inzwischen als überzogen empfundenen .Maxime«: .ich verstehe nichts was ich nicht als nothwendig einsehe und construiren kann« (HK 31), sowie an seine erkenntnispsychologische Relativierung der ursprünglich behaupteten )wesentliehen Identität< von Sprache und Denken. 123 In diesem Zusammenhang erfolgte denn auch die entschiedene Differenzierung zwischen Hein psychologischer« und .technischer Interpretation« und deren ansatzweise Verzahnung mit Nachbardisziplinen wie Psychologie,
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Kunstkritik und Ästhetik. Freilich hatte dies keine grundlegende Revision der hermeneutischen Gesamtkonzeption und besonders des Ausschließlichkeitsanspruchs von »grammatischer« und »psychologischer Auslegung« (H K 79 [85]) zur Folge, so daß die faktisch zunehmend als Vermittlungsinstanz zwischen beiden Seiten fungierende .technische Interpretation« nun in wenig befriedigender Weise als bloße Sparte der .psychologischen Seite« in das einmal gezimmerte .Fachwerk« (PhE 90) der Hermeneutik eingefügt erscheint. 124 Der Ertrag des letzten Jahrzehnts von Schleiermachers Bemühungen um die Hermeneutik liegt so vor allem in derdetaillierten Darstellung der .Modificationen des hermeneutischen Verfahrens« je nach den gattungsbedingten .verschiedenen Arten der Composition. (J-IL 94-100 [137-142]) oder dem »verschiedenen Wert des Keimenl~ schlusses., d. h. der Abstufung von rein zufälligen )Gelegenheitswerken< über )Studien< und )Vorübungen< bis hin zum leigentlichen Lebenswerk< (HL 160ff. (189ff.]), sowie in der kontrastiven Darstellung einzelner Abteilungen und Unterabteilungen der Hermeneutik: »technische. (d. i. hier>psychologische<) vs. lIgrammatische Interpretation .. (H K 113 ff. [170ff.]), »psychologische.. vs. lftechnische Interpretation. (HK 163f., HL 152ft. (181 ff.]), »Meditation. vs. lf omposition .. (HL 201-215 (210--223]) etc. Ober die Vollendung der Aufklärungshermeneutik und ihre speku~ lativ-idealistische Transformation hinaus eröffnete Schleiermacher so der Hermeneutik des 19. Jahrhunderts ein ganzes Spektrum erfahrungswissenschaftlicher Untersuchungsfelder mittlerer Reichweite. ohne daß diese Partikularisierung des hermeneutischen Feldes - etwa in Böckhs Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, Droysens Historik oder Diltheys Versuch einer psychologischen Erklärung des dichterischen Schaffens- auf eine bloße Restitution der früheren Spezialhermeneutiken hinausgelaufen wäre. Halle doch Schleiermacher bei allerzunehmenden ParzeJlicrung der hermeneutischen Fragestellungen stets hervorgehoben, .daß in der Hermeneutik ein mächtiges Motiv liegt für die Verbindung des Speculativen mit dem Empirischen und Geschjchtlichen« und daß .die hermeneutische Aufgabe überhaupt vollkommen nur gelöst werden kann durch Verbindung der Grammatik mit der Dialektik, der Kunstlehre und der . speziellen Anthropologie« (HL 260 (234]). Schleiermacher - der )K1assiker< der neuzeitlichen Hermeneutik? Gewiß nicht in dem Sinne, daß er seinen Nachfolgern ein allgemein
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anerkanntes Paradigma für ihre Faktensammlungen und Problemlösungen hinterlassen hätte; 115 im Gegenleil ist die Hermeneutik noch immer (und vielleicht prinzipiell) weil davon entfernt, in dieser Hinsicht den »sicheren Gang einer Wissenschaft_ 126 eingeschlagen zu haben.Immerhin war aberSchleiermachersLeistung auf diesem Gebiete neuartig und global genug, um auf seine Zeitgenossen und Nachfolger eine bis heute ungebrochene Anziehung auszuüben. Und zugleich bot sie genügend ungelöste Probleme, um zu einer produktiven Fortftihrung und vertieften Neubegründung zu reizen: so etwa zur Vermehrung und Systematisierung der Arten der philologischen Interpretation durch Böckh und Steinthai; 121 zur Radikalisierung des romantischen Postulats: »die Rede zuerst eben so gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber_ (»denn in ihm ist vieles dieser Art unbewußl was in uns ein bewußles werden muß_ HK 83 [94] u. 87 [104]) im Sinne einer Hermeneulik des Unbewußten; 128 zur Ausweitung der Hermeneutik über den Bereich von Rede und Schrift hinaus auf die bildende Kunst, Musik und aUe übrigen Formen des >Erlebnisausdrucks< bei Dilthey, ja bei Heidegger zu einer fundamentalonlologisehen _Hermeneutik der Faktizitätc;129 schließlich zur philosophischen Universalisierung des Verstehensbegriffs durch Dilthey, Heidegger und Gadamer. Mag Schleiermachers Hermeneutik auch in aJl diesen Fragen als inzwischen mehroder minder >überholte erscheinen: in ihrer bislang unerreichten spannungsvollen Verbindung von philosophischer Grundlegung, systematischer Struktunerung und materialer Durchdringung des gesamten Feldes der philologischen Hermeneutik und in ihrem exemplarischen Charakter für alle seitherigen 1ntegrationsversuche dieser Disziplin wird man sie - trotz ihrer offensichtlichen Unvollkommenheiten - nichl anders als >klassische nennen können.
Anmerkungen I Wilhelm Dihhey, Leben Schleiennachers, Bd. 2: Schleiennachers System als Philosophie und Theologie, hrsg. v. M. Redeker. Göttingen 1966 ('" Ge· sammelte Schriften, Bd. 14/1.2), S. 32. 2 Fr{iedrich] D[aniel] E{mst] Schleiennacher, Hermeneutik, nach den Handschriften neu hrsg. u. eingel. v. H. Kimmerle, Heidelberg 21974 ("" Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, philos.·histor. Kl.. Jg. 1959, Abh. 2), S. 121-156 (künftig zitiert als HK; slau S. 73--105 u.
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106-110 hat die 1. Aufl., Heidelberg 1959, die abweichende Paginierung: S. 77-109 u. 72-76); vgl. auch die leicht zugängliche und mit einer ausführlichen Einleitung versehene Taschenbuchausgabe: F. D. E. Schleiennacher, Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, hrsg. u. eingel. v. M. Frank, Frankfurt/M. 1917, dort S. 309-347 (wo immer möglich, Seitenzahlen dieser Ausgabe künftig in eckigen Klammem hinzugefügt). 3 Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, hrsg. v. H. Scholz, (Repr. der Ausg. Leipzig 1910), Dannstadt ~ 1917, S. 52-55 (1. Aufl. 1811: §§ 23-32; 2. Auf!. 1830, §§ 132-140). 4 F. Schleiermacher, Platons Werke, Th. 1-3.1 (mehr nicht erschienen}, Berlin 1804-1828. 5 Friedrich Schleiermacher, Herakleitos der dunkle, von Ephesos. dargestellt aus den Trümmern seines Werkes und den Zeugnissen der Alten, in: ders., Sämmtliche Werke. I. Abth.: Zur Theologie, Bd. 1-13 rBd. 9 u. 10 nicht erschienen]; U. Abth.: Predigten, Bd. 1-10; III. Abth.: Zur Philosophie, Bd. 1-9, Berlin 1835--1864, hier In. Abth., Bd. 2, S. 1-146 (künftig zitiert als
S.w.). 6 Friedrich Schleiermacher, Ueber den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos. Ein kritisches Sendschreiben an J. C. Gaß (S. W. I, 2, 221-320); ders., Ueber die Schriften des Lukas, ein kritischer Versuch (ebd. S. V-XVI u. 1-220); ders., Ueber Kolosser I, 15--20 (ebd. S. 321-360); im übrigen bilden seine umfangreichen exegetischen Vorlesungen über das Neue Testament einen HauplIeil des unveröffentlichten Schleiennacher-Nachlasses im Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin. 7 Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament, aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hrsg. v. F. Lücke, Berlin 1838 (= S. w. 1,7) (künftig zitiert als HL); wiederabgedruckt in der Ausgabe von Manfred Frank (s. o. Anm. 2), S. 69-237. 8 Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, hrsg. v. J. Bollack u. H. Stierlin, Frankfurt/M. 1975 (= Studienausg. der Vorlesungen, Bd. 5), S. 135; für detaillierte Nachweise vgL Hendrik Birus, Hermeneutische Wende? Anmerkungen zur Schleiermacher-Interpretation, in: Euphorion 74 (1980), S. 213-222, bes. S. 219 (f. 9 Dilthey. Leben Schleiermachers, Bd. 2, S. 443. 10 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen ·1975, S. 162-185. tl Vgl. Michel Foucault, Qie Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, (Les mots et les choscs. Une archeologie des scienees humaines, Paris 1966, übs. v. U. Köppen), Frankfurt/M. 1971, S. 111 (Originalausg. S. 89 - künftig in eckigen Klammem). 12 Etwa die Rückdatierung der lhermeneutischen Wendel auf Friedrich Schlegel (vgl. Josef Körner [Hg.], Friedrich Schlegels .Philosophie der Philologie., in: Logos 17 (1928), S. 1-72, u. Hermann Patsch, Friedrich Schlegels • Philosophie der Philologie. und Schleiermachers frühe Entwürfe zur Herme-
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neutik. Zur Frühgeschichte der romantischen Hermeneutik, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 63 I I966J, S. 434--472, bes. S. 464 f.) oder auf Friedrich Ast (vgl. Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 152, u. Tzvetan Todorov, Thoories du symbole. Paris 1977, S. 216 ff.); andererseits die Herausstellung von August Böckhs innovatorischer Bedeutung (vgl. Ingrid Strohschneider-Kohrs, Textauslegung und hermeneutischer Zirkel. Zur Innovation des Interpretationsbegriffes von August Boeckh, in: HeUmut Flashar/Karlfried Gründer/Axel Horstmann [Hgg.], Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhunden. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, Göttingen 1979, S. 84-102, u. andere, ebd. S. 323-331, bes. S. 324). 13 Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse. Mit einem neuen Nachwon, Frankfun1M. 11973, S. 218 f. 14 Vgl. Johann Martin Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, Ein!. v. L. Geldsetzer,(Repr. der Ausg. Leipzig 1742), Düsseldorf 1969, S. l87ff. (§§ 309ff.); als Vorform der historischen Methodik behandelt bei Joachim Wach, Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhunden, Bd. 1-3, Tübingen 1926-1933, hier Bd. 3, S. 23-32, bes. S. 27 f., u. bei Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 79--86; kritisch dazu Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 171. 15 Zum Begriff der ,Diskursformation' vgl. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, (L'archeologie du savoir, Paris 1969, übs. v. U. Köppen), Frankfurt/Mo 1973, S. 48--60 (Originalausg. S. 44-54), sowie Foucaults - noch eindeutig semiotisch orientierte - »Reponse au Cercle d'epistemologiee, in: Cahiers pour l'Analyse 9 (1968), S. 9-40, bes. S. 21-29. 16 Vgl. Wilhelm Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, Stuttgart/Göuingen '1974, S. 317-338, bes. S. 320 u. 326 f.; vgl. aber dagegen die ungleich differenziertere Darstellung in Diltheys früher >Preisschrifl( über die Schleiermachersehe Hermeneutik im Vergleich zur älteren protestantischen Hermeneutik, z. B. den Abschnitt über S. J. Baumganens hermeneutisches System, in: Dillhey, Leben Schleiermachers, Bd. 2, S. 595-787, hier S. 622ff. 17 lolannes] Augustus Ernesti, Institutio Interpretis Novi Testamenti, Leipzig 1761 (u. ö.); Sam[uel] Frid[ericus] NathanlaelJ Morus, Super Hermeneutica Novi Testamenti Acroases Academicae, hrsg. v. H. C. A. Eichstaedt, Bd. 1. 2, Leipzig 1797 u. 1802; vgl. hierzu im einzelnen die Nachweise in HK 169 ff. Ferner bezieht sich Schleiermacher ausdrücklich (HK 123) auf die auf F. A. Wolfs Vorlesungen basierende »Encyclopaedia philologicae Georg Gustav Fülleboms (hrsg. v. D. 1. S. Kaulfuss, Vratislaviae [d. i. Breslau, nicht Bratislava, wie Heinz Kimmerle in HK 175 angibt) :11805). 18 Vgl. hierzu auch die .Einleitunge zu Schleiermachers HermeneutikVorlesung (HK 75-86 (75-98]) sowie - als komprimierteste Formulierung dieses Programms - die §§ 132f. der 2. Aun. von Schleiermachers »Kurzer Darstellung des theologischen Studiumse (S. 53). 19 Entsprechend die scharfe Gegenüberstellung von .Auslegunge und .Nuzanwendunge in der 2. Akademierede (HK 155 [345]); vgl. hierzu Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 173 u. 290-295.
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20 Schleiennacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums, S. 54 (§ 28 der I. Aun.); entsprechend auch HL 3e. (71 f.] u. HK 126. 21 Karl Wilhelm Ferdinand Solger an Ludwig Tieck, I. I. 1819, in: Tieck and Solger, The Complete Correspondence, hrsg. v. P. Matenko, New York, Berlin 1933, S. 507; als zugleich »polemisch und assimilierend.. wird Schleiermachers Verhältnis zur Aufklärungshenneneutik auch von Dilthey charakterisiert (Leben Schleiermachers, Bd. 2, S. 685). 22 Vgl. hierzu Henri du Lubacs Monumentalwerk: Exeg~ mMievale. Les quatre sens de I'ecriture, Bd. I1t .2, IU1.2, Paris 1959. 1961, 1964, u. Friedrich Ohly, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, in: den., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Dannstadt 1977, S. 1-31. bes. S. 13 ff. 23 In seinem Kapitel über die »Fragwürdigkeit der romantischen Henneneutikc hat Gadamer diese Verschiebung im wesentlichen Schleiermacher zugeschrieben (vgl. Wahrheit und Methode, S. 162-185, hier S. 174 ff.); Szondi steht weitgehend im Bann dieser Interpretation und stellt Schleiermacher lediglich F. Ast zur Seite (vgl. Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 143 u. 157). 24 Darin deckt sich die- von FOUC8Ult bewußt ausgeklammene- Bibelexegese mit der Zeichen- und Sprachtheorie des 18. Jahrhunderts (vgl. FouC8ult, Ordnung der Dinge, bes. T. I, Kap. 3 u. 4, sowie seine »Introduetion .. zu: (Antoine] Arnauld/[Claude] Lancelot, Grammaire generale et raisonnee, Rcpr. Paris 1969, S. I-XXVII). 25 Hugo de S. Victore, Excerptionum Allegoricarum libri XXIV, in: J[acques]-P[aul] Migne (Hg.), Patrologi:;t: Cursus Completus, Sero Lat., Bd. 1-217. Paris 1844-1864, hier Bd. 177, Sp. 191-284, bes. Sp. 205 B (künftig zitiert als PL); vgl. schon Augustins »Oe Doctrina Christiana Libri IV.. (I, i-ii [1-2)), in: Aure1ius Augustinus, Opera, T. lVII, (hrsg. V. J. Martin), Tumhout 1962 (= Corpus Christianorum, Sero Lat., Bd. 22), S. 6 f: Hierzu und turn Folgenden vgl. Ohly, Vom geistigen Sinn des Wortes, S. 3ff., u. Hennig Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, Dannstadt 1980, bes. S. 21 ff. 26 Vgl. Apparatus anonymi cujusdam scholastici, ad vulgarem Rabani AIlegoriarum editionem, in: J[oannes) B[aptista] Pitra (Hg.), Spicilegium Solesmense (... 1, Bd. 3, (Repr. der Ausg. Paris 1855), Graz 1963, S. 436-445, hier S. 436f.; einen allgemeinen überblick gibt Gerhard Ebelings Artikel »Hermeneutik.. , in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, hrsg. V. K. Galling (u. a.], Bd. 3, Tübingen 31959, Sp. 242-262, bes. Sp. 249[, 27 Vgl. Karl Holl, Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungskunst, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. I, Tübingen J 1923, S. 544-582, bes. S. 55 1 ff. u. 578; ferner Gerhard Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthen Hermeneutik, München 1942, U. ders., Die Anfange von Luthers Hermeneutik, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 48 (1951), S. 172-230, bes. S. 175f. 28 Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe, [2. Ab!.:] Tischreden, Bd. 1-6, Weimar 1912-1921, hier Bd. 5, S. 45, Nr. 5285; in einer anderen Tischrede bezeichnet Luther die Auslegung nach dem vierfachen Schriftsinn geradezu als »lmpietasc (ebd. Bd. 2, S. 315, Nr. 2083 A). Nicht minder dra-
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stisch charakterisiert er dieses Verfahren an anderen Stellen als Produkt des ,Müßiggangs< und der ,Geistesschwäche< (De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (1520], in: Luther, Werke. Kritische Gesammtausgabe, (I. Abt.), [bisher:] Bd. I-58, Weimar 1883ff., hier Bd. 6, S. 484-573, bes. S. 567), als ,Possen< (nuga~) (Enarrationes epistolarum et evangeliorum, quas postillas vocant (1521]. in: ebd. Bd. 7, S. 458--537, hier S. 533), als ,Sophisterei< (Predigten 1524, in: ebd. Bd. 15, S. 527) und lIwechsern nasene (Predigten 1538, in: ebd. Bd. 46, S. 465). 29 ,Denn eine Rede, die nicht einen einzigen und einfachen Sinn hat, lehrt nichts Bestimmtes.< - Vgl. den Abschnitt liDe quatuor sensibus saCTarum lite· rarume in Philipp Melanchthons lIElementorum Rhetoriees libri duoe, in: den., Opera quae supersunt omnia, hrsg. v. C. G. Bretschneider, Bd. 13, Halle 1846 (: Corpus Reformatorum, Bd. 13), Sp. 417-506, hier Sp. 466ff. 30 Georg Friedrich Meier, Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, (Repr. der Ausg. Halle 1757), Einl. v. L. Geldsetzer, Düsseldorf 1965 (künftig zitiert als Versuch mit durchlaufender Paragraphenzählung). 31 Gerade vor dem Hintergrund der minelalterlichen Exegese kann schwerlich davon die Rede sein, daß G. F. Meier in einem >vielleicht verhängnisvollen Schritt< den Bereich der Hermeneutik auf die Gesamtheit der Zeichen überhaupt ausgeweitet habe; so Lutz Geldseuer in: ebd., Einleitung S. XVI. 32 Denn: lIVOceS ex humana, res ex divina institutione significante (Hugo de S. Victore, Speculum in Mysteriis Ecclesiz. in: PL 177, Sp. 335-380, hier Sp. 375). Oder an anderer Stelle bei Hugo von SI. Vielor: lIPhilosophus [sc. Aristoteles] in aliis scripturis solam vocum novit significationem; sed in sacra pagina excellentior valde est rerum significatio quam vocum: quia hanc usus constituit, iIlam natura dictavit. Hzc hominum vox est, illa Dei ad homines. Significatio vocum est ex placito hominum: significatio rerum naturalis est, et ex operatione Creatons volentis quasdam res per alias significari.e (Oe Scripturis et scriptori. bus sacris prznotatiunculz, in: PL 175, Sp. 1-28, hier Sp. 20f.) 33 liEst etiam longe multiplicior significatio rerum quam vocum. Nam paucz voces plus quam duas aut tres significationes habent; res autem quzlibet tarn multiplex potest esse in significatione aliarum rerum, quot in se proprietates visibiles aut invisibiles habet communes aliis rebus.e (Hugo von St. Victor, Oe Scripturis, Sp. 21.) Entsprechend heißt es in Hugos von St. Vietor lIExcerptiones Allegoricze: 11 Voces non plus quam duas aut tres habent significationes. Res autem tot possunt habere significationes; quot habent proprietatese (PL 177, Sp. 205). 34 So betont S. J. Baumganen zwar: 11 Die Fruchtbarkeit des Verstandes widerspricht (... ] der Einheit und Einigkeit desselben gantz und gar nichte und: lIDie möglichste Fruchtbarkeit ist nicht mit einer Vervielfältigung zu verwechseine (Siegmund Jacob Baumgarten, Ausführlicher Vonrag der Biblischen Hermencutic (1752], hrsg. v. J. Ch. Bertram, HaUe 1769, S. 42 f.) - doch auch er nennt kein einziges klares Kriterium für die Unterscheidung beider. Vgi. hierzu auch Peter Rusterholz, Semiotik und Hermeneutik, in: Ulrich Nassen (Hg.), Texthermeneutik. Aktualität, Geschichte, Kritik, Paderbom [usw.) 1979, S. 37-57, hier S. 40f.
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35 Vgl. z. B. den »Apparatus anonymi cujusdam scholastici, ad vulgarem Rabani Allegoriarum editionemc, S. 437; allgemein hierzu (mit besonderem Bezug auf die Renaissance) das Kapitel »Die vier Ähnlichkeitenc in: Foucault, Ordnung der Dinge, S. 46-56 (32~0). 36 Vgl. hierzu besonders Erlch Auerbach, Figura, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bem/München 1967, S. 55--92, hes. S. 65-74, u. ders., Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, BemlMünchen '1977, S. 74ft. u. 186((.; sowie das Kapitel»Niedergang des Symbolismusc in: Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, hrsg. u. übs. v. K. Köster, Stuttgart 111975, S. 285-303, bes. S. 287ft. 37 Vgl. Foucault, Ordnung der Dinge, S. 83 Cf. (65 Cf.). 38 Antoine Arnauld, Die Logik oder die Kunst des Denkens, (La Logique ou L'Art de penser [... J, übs. v. Ch. Axelos), Darmstadt 1972, S. 4. 39 Vgl. Amauld, Logik, S. 41 u. 43 (I, 4); hierzu Foucaults »Introduction« zu: Amauld/Lancelot, Grammaire generale, S. XVII f., u. ders., Ordnung der Dinge, S. 98f. [78f.]. 40 Zur Opposition von ,Icon< und ,Inde:t< vgl. Olarles Sanden; Peirce, Col· lected Papers, Bd. 2, hrsg. v. Ch. Hartshome u. P. Weiss, Cambridge, Mass. 11960, Nr. 2.274-306; im Anschluß daran Roman Jakobson, Quest for the Es· senre of Language, in: ders., Selected Writings 11: Word and Language, Den Haag/Paris 1971, S. 345--359, bes. S. 346ft., sowie ders., Visual and Auditory Signs (ebd. S. 334-337) u. Language in Relation to Other Communication Systems (ebd. S. 697-708, bes. S. 7oof.). 41 Vgl. Foucault, Ordnung der Dinge, S. IOHf. [82ff.). 42 Zur E1iminierung der Ähnlichkeit als fundamentaler Erfahrung und zur gleichzeitigen Universalisierung des Akts der Vergleichung in der Philosophie der Aufklärung vgl. Foucault, Ordnung der Dinge, S. 84ft. [66ft.]. 43 Dilthey, Entstehung der Hermeneutik, S. 326. 44 Allerdings ist dieses Schleiermachersehe Deutungsmuster schon durch Diltheys frühe ,Preisschrift< entschieden in Frage gestellt worden, die gerade auf den Systemcharakter der vorschleiermacherschen Hermeneuliken abhebt - vgl. bes. die Kapitel »Älteste Systeme der Hermeneutik: Flacius, Franz und Glassiusc (Leben Schleiermachers, Bd. 2, S. 597ft) und »Systeme des Obergangs: Sozinianer, Arminianer, Pietisten, Orristian Wolff, Baumgarten« (ebd. S. 612ft); etwa rühmt es Dilthey hier als das Hauptverdienst S. J. Baumgartens, »daß er von der allgemeinen Hermeneutik aus das logische Gewebe der hermeneutischen Regelgebung ins feinste und einzelnste durchgesponnen hat« (ebd. S. 624). 45 Schwerlich wird »die modeme Ausdruckskunde (...] hier in die Schule gehen mögen«, wie dies von Wach nahegelegt wird (Das Verstehen, Bd. I, S.
17). 46 Fr(iedrich] Auglust] Wolf, Vorlesungen über die Altenhumswissenschaft, Bd. I: Vorlesung über die Encyc10pädie der Altenhumswissenschaft, hrsg. v. J. D. Gürtler, Leipzig 1831, S. 292, ähnlich auch S. 24. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Stellung Wolfs vgJ. Manfred Fuhrmann, Friedrich Au-
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gust Wolf. Zur 200. Wiederkehr seines Geburtstages am 15. Februar 1959, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 33 (1959), S. 187-236. 47 ,Jener sogenannte sensus rypicus selbst ist eigentlich nicht das, was wir in unserer Kunst als ,Sinn< bezeichnen. Er ist nämlich kein Sinn, der den Wönern zukommt, sondern den Dingen, die Gott zum Zeichen zukünftiger Dinge bestimmt hat. Und für die Suche nach diesem brauchen Mühe und Talent des Interpreten nicht angewendet zu werden.< (Io[annes] Augustus Ernesti, lnstitutio Interpretis Novi Testamenti, Leipzig 11765, S. 10.) 48 So Peter Szondi. Schleiermachers Hermeneutik heute, in: ders., Schriften H, hrsg. v. J. Bollack (u. a.], Red. W. Fietkau, Frankfurt/M. 1978, S. 106--130, hier S. 108. 49 Chladenius, Einleitung, S. 87 (§ 156). 50 Ebd. S. 528fL (§§ 683ff.). 51 Während bei Baumgarten (abweichend von G. F. Meier) der llsensus litterae« - als ,sensus proprius< im Gegensatz zum >sensus improprius, figuratus, symbolicus' - lediglich eine >species comprehensa, des llsensus Iitteralisc darstellt (5. J. Baumgarten, Ausführlicher Vortrag der Biblischen Hermeneutic, S. 44 ff.), wendet sich Ernesti überhaupt gegen die terminologische Differenzie- . rung zwischen llsensus literalis« und llsensus literae« (Institutio Interpretis Novi Testamenti, S. 7). Dagegen hat sich seit Baumgarten die Unterscheidung zwischen der konventionell festgelegten llsignificatio« (>Bedeutung,) einzelner Wörter und Wonverbindungen und andererseits dem vom Autor intendierten .sensus« (>Verstand, Sinn,) weithin durchsetzen können (vgl. Baumganen, Ausführlicher Vortrag, S. 17f., 22, 30f. u. 78; Morus, Super Hermeneutica Novi Testamenti, S. 27f. u. 54f., u. Eichstädts Zusätze, ebd. S. 56ff.; Georg Lorenz Bauer, Entwurf einer Hermeneutik des Alten und Neuen Testaments, Leipzig 1799, S. I u. I1 f.); vg!. hierzu noch Schleiermacher, HK 86f. [101). 52 Bauer, Entwurf einer Hermeneutik des Alten und Neuen Testaments, S. 96, vg!. auch ebd. S. 20. - Im übrigen bezieht sich die Bezeichnung »grammatische Interpretation« nicht etwa auf lGrammatik<, sondern auf ta yQllI-lJUl;; >!ittera, Buchstabe< und meint nichts anderes als >buchstäbliche Interpretation< (vg!. Emesti, Institutio Interpretis Novi Testamenti, S. 7). 53 Baumganen, Ausführlicher Vortrag der biblischen Hermeneutic, S·. 158; vgl. entsprechend Schleiermacher, HK 76(77] u. 132 (318]. 54 Karl August Gottlieb Keil, Lehrbuch der Hermeneutik des neuen Testamentes nach Grundsätzen der grammatisch-historischen [nterpretation, Leipzig 1810.5.98--110: Kap. 6: II Von der richtigen Bestimmung und Erläuterung des jedesmaligen Inhaltes einer Stelle, nach den Vorstellungen des zu erklärenden Schriftstellers und seiner ersten Leser«; vgl. entsprechend Schleiermacher, Einleitung ins neue Testament.s. W. 1,8, S. 7f., sowie HK 32, 84 (94J u. 159. 55 Bauer, Entwurf einer Hermeneutik des Alten und Neuen Testaments, S. 100 f.; vgl. entsprechend Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums, S. 55 (I. AuO.: § 32; 2. AuO.: § 140), u. bes. HK 32. 56 Keil, Lehrbuch der Hermeneutik des neuen Teslamentes, S. 9.
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57 Besonders deutlich Baumganen, Ausführlicher Vonrag der Biblischen Hermeneutic, S. 17f., 22 u. 187. 58 Ueber die neuere Deutsche üneratur. Fragmente. Erste Sammlung, zweite völlig umgearbeitete Ausgabe (künftig zitiert als FrQgm~nte), in: (Jo-hann Gottfried) Herder, Sämmtliche Werke, hrsg. v. B. Suphan, Bd. 1-33, Berlin 1877-1913, hier Bd. 2, S. 1-108, bes. S. 8 u. 17. 59 Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: Herder, Sämmtliche Werke, Bd. 5, S. 1-147, hier S. 136. 60 Dies gegen Johann David Michaelis' ,. Beantwortung der Frage von dem Einfluß der Meinungen in die Sprache und der Sprache in die Meinungen" (Berlin 1760), der auch Hamann "philosophische Myopie und philologische MarklSchreyerey" attestiert hatte (Kreuzzüge des Philologen. I: Versuch über eine akademische Frage. Vom Aristobulus, in: Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke, hist.-krit. Ausg. v. J. Nadler, Bd. 2, Wien 1950, S. 119-126, hier S. 123). 61 Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume, in: Herder, Sämmtliche Werke, Bd. 8, S. 165-333, hier S. 2081.; vgl. hierzu besonders die beiden Akademiereden Schleiermachers (bes. HK 131 [316], 133 [318f.], 135 (321), 138 [325)". 148ff. [336ff.)). 62 VgJ. hierzu Foucault, Ordnung der Dinge, S. 261 [222J, sowie ders., Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärzl1ichen Blicks, (Naissance de la clinique. Une archeologie du regard medical, Paris 21972, übs. v. W. Seiuer), München 1973, bes. S. 11,221., 104 u. 149. 63 Herder, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, S. 208. 64 Journal meiner Reise im Jahr 1769, in: Herder, Sämmtliche Werke, Gd. 4, S. 343-461, hier S. 452. 65 Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 82 f. - Auf einer ähnlich organologischen Basis wie Herder wird dagegen Dopp zu der entgegengesetzten Behauptung kommen: ,.dass die grammatischen Formen und der gesammte Organismus der Sprachen das Eru:ugniss ihrer frühesten Lebens-Periode sind, wo sie, bei voller Jugendkraft, gleichsam wie Blumen und Früchte aus jungem Stamm hervorsprossten." (Franz Bopp [Rez.], Jacob Grimm: Deutsche Grammatik. 2. Aufl., in: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik (1827), Sp. 251-303, hier Sp. 251.) 66 So programmatisch Friedrich Schlegel, Ober die Sprache und Weisheit der [ndier. Ein Beitrag zur Begründung der Altertumskunde (1808), bes. Kap. 3 u. 4, in: ders., Studien zur Philosophie und Theologie, hrsg. v. E. Behler u. U. Struc-Oppenberg, Paderborn [usw.jI975 (= Kril. Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 8), S. 105-433, hier S. 137-165. - Anknüpfend an F. Schlegel und F. Dopp fordert dann auch Humboldt (ganz im Gegensatz zu Herder): ,.Die grammatischen (Untersuchungen] jeder einzelnen Sprache sollten aber überhaupt den etymologischen immer vorangehn, da man in den wahren Wonbau erst mit Hülfe der Grammatik eindringt, und erst durch die Einsicht in den ganzen Sprachorganismus die Laut- und Gedankengeltung der Wörter (...] kennen lernt." (Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues § 23, in: Wilhelm von Humboldt, Gesammelte Schriften, hrsg. v. A. Leitzmann [u. a.],
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ßd. 6, Berlin 1907, S. 111-303, hier S. 139.) Vgl. hierzu Foucault, Ordnung der Dinge, bes. S. 343ff. (292ff.) u. 362ff. (J10t.). 67 Foucault hai diesen Prozeß als das lende des klassischen DenkenS( beschrieben (...gl. ebd. S. 261 ff. [222ft)). 68 Vgl. hierzu Paul Köhler, Der Begriff der Repräsenlation bei Leibniz. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichle seines Systems, Bem 1913, bes. T. I, u. Dielridl Mahnke, Leibnizens Synthese von Uni...ersalmathematik und Indivi· dualmelaphysik, in: Jahrbuch für Phiiosophie und phänomenok>gische For· schung 7 (1925), S. 30~12. bes. S. 518-525 u. 589ff.- Diese nicht·mentale BedeulUng wird sogar noch in der .EncyclopMie. als einzige Erklärung des Verbs r~prb~nt~r angegeben: .REPRJ:sENTER, v. act. (Gramm.) c'est rendre present par une action, par une image, & c. Cette glace r~prb~m~ lide· lemenlles objelS (...); ce phtnomene est r~prb~me fortement dans celle descriplion [...). Les rois reprbemem Dieu sur la terre.• (Encyc1opedie, ou Dictionnaire raisonnt des Sciences, des Arts et des Metiers, hrsg..... Diderot u. d'Alembert, Bd. 14, NeufchAtcl (vielm. Paris) 1765, S. 147.) 69 Die explizite Renexi...ierung des r~praes~mQr~ zumsibi r~prQes~mare läßt sich besonders bei Leibniz und Wolff beobachten; vgl. etwa Goufried Wilhelm Leibniz, Oe principio ratiocinandi fundamentali (aus der Hs. zit. bei Köhler, Begriff der Repräsentation, S. 154), u. Christian Wolff. Psychologia rationalis, Frankfurt/M., Leipzig 2)740, S. 40 u. Ö. (§§ 62ft.). - Dagegen gibt Foucault keinerlei stichhaltigen Beleg für seine (eher hegelianisierende denn lklassi· sch~) These einer der R~priis~ntQtioneigenen Kraft,sich selbst zu repräsentie· ren - welche .Faltung der Repräsentation in sich selbst. sich eTSl gegen Ende des 18. Jahrhundens zu so etwas wie .dem Menschen. als Thema der Anthropologie materialisiert habe (vgl. Foucaull, Ordnung der Dinge, bes. S. 98f. [78f.), 106 [85), 114 [92) u. 373f. (319f.)). Im Gegensati dazu betont FoucaullS (hier allerdings ...erschwiegener) Hauptgewährsmann Heidegger wohl zu Recht die unmittelbare Verschränkung des seit Descartes erfolgenden Heraufkommens der repraesentatio als .Vor·stellung. und des ...orstellenden Menschen als der .Szene, in der das Seiende fortan sich "'OTSleUen, präsentieren, d. h. Bild sein muß. (...gl. Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: ders., Holzwege, (hrsg..... F.·W. von Herrmann), Frankfurt/M. 1977 (= Gesamtausgabe, t. Abi., Bd. 51, S. 75-113, bes. S. 91ff. u. 109 r., sowie ders., Nietzsche, Bd. 2, Pfullingen 1959, S. 153ft.. 432, 449f. u. 464ff.). 70 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. 2. Aufl. 1787, Berlin 1911 (- Gesammelte Schriften, Akad.·Ausg., I. Ablh .• Bd. 3), S. 249 (Originalpag.
S.376). 71 In: Karl Leonhard Reinhold, Beytrige zur Berichtigung bisheriger Miß· verständnisse der Philosophen, Bd. 1, Jena 1790. S. 165-254. - Die scharfsin· nige Kritik desAenesidemus (d. i. GonIob Ernst Schulze, $chopenhauers philosophischer Lehrmeister) an Reinholds .Neuer Darstellung .... (vgl. Aenesidemus oder über die Fundamente der ...on dem Herrn Professor Reinhold in Jena geliefenen Elementarphilosophie [t 792), hrsg..... A. Lieben, Berlin 191 I, bes. S. 41 ff.) war der unmittelbare Anlaß für die Konzeplion ...on Fichtes. Wis· senschafulehre•. 72 Eine kantianische Darslellung dieser Ditrerenz zwischen >abstT1lhiertem
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Gattungsbegriff. und lDeduklionsprinzipc findet sich bei Karl Heinrich Heydenreich, Encyclopädische Einleitung in das Studium der Philosophie nach den Bedürfnissen unsers Zeitalters, Leipzig 1793. bes. S. 89 ff. u. 115 f., u. ders.. Originalideen über die interessantesten Gegenstände der Philosophie, drinen u. letzten Bandes erste Abtheilung [mehr nicht erschienen], l...t:ipzig 1796, S. 46(. u. SOff. 73 Vgl.lmmanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in:
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82 Das Wort Sprache ist hier ebensowenig eine bloße fa~n de parler wie in Benjamins sprach mystischem Jugendaufsatz .über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, in dem es programmatisch heißt: .Das Dasein der Sprache erstreckt sich aber nicht nur über alle Gebiete menschlicher Geistesäußerung, der in irgendeinem Sinn immer Sprache innewohnt, sondern es erstreckt sich auf schlechthin alles. Es gibt kein Geschehen oder Ding weder in der belebten noch in der unbelebten Natur, das nicht in gewisser Weise an der Sprache teilhätte. denn es ist jedem wesentlich, seinen geistigen Inhall mitzuteilen. Eine Metapher aber ist das Wort ,Sprachet in solchem Gebrauche durchaus nicht. Denn es ist eine volle inhaltliche Erkenntnis, daß wir uns nichts vorstellen können, das sein geistiges Wesen nicht im Ausdruck mitteilt; der ~rößere oder geringere Bewußtseinsgrad, mit dem solche Mitteilung scheinbar oder wirklich) verbunden ist, kann daran nichts ändern, daß wir uns völlige <\.bwesenheit der Sprache in nichts vorstellen können.« (Walter Benjamin, Ge· 'i8mmelle Schriften, Bd. lVI, Frankfurt/M. 1977, S. 140-157, hier S. 1401.) 83 Vgl. hierzu das Kapitel.Die hermeneutische Lehre Fr. Asts«, in: Wach, Das Verstehen, Bd. I, S. 31-62, bes. S. 37 ff.; kritischer Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 139 ff. 84 Vgl. HK 56, 71, 76 [77),113 [170f.], 139 [3251.], 147ft. [335ff.},sowie Schleiermachers Akademieabhandlung .. Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezense (5. W. IIJ, 2, 207-245, bes. S. 21 I u. 213). 85 Friedrich Schleiermacher, Ober die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, in ihrer ursprünglichen Gestalt neu hrsg. v. R. Otto, Göttingen '1967, S. 21. - Die wohl eindringlichste Formulierung dieses antithetischen Denkansatzes findet sich in Schleiermachers berühmter Antwort auf Jacobis bewegte Klage: .ein Heide mit dem Verstande, mit dem ganzen Gemüthe ein Christe, schwimme er zwischen zwei Wassern, die sich ihm nicht vereinigen wollten, damit sie ihn gemeinschaftlich trugen (Jacobi an K. L. Reinhold, 8.10. 1817, in: Friedrich Heinrich Jacobi, Auserlesener Briefwechsel, (hrsg. v. F. Roth], Bd. 2, Leipzig 1827, S. 478); dazu nun Schleiermacher: .Mir wollen sie sich auch nicht vereinigen; aber Sie wünschen diese Vereinigung und vermissen sie schmerzlich, und ich lasse mir die Trennung gefallen. Verstand und Gefühl bleiben auch mir neben einander; aber sie berühren sich und bilden eine galvanische Säule; das innerste Leben des Geistes ist für mich nur in dieser galvanischen Operation (...), wobei aber beide Pole immer von einander abgekehrt bleiben.« (Schleiermacher an Jacobi, 30. 3. 1818; zuverlässigster Abdruck in: Martin Cordes, Der Brief Schleiermachers an Jacobi. Ein Beitrag zu seiner Entstehung und überlieferung, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 68 (1971], S. 195--212. hier S. 208-211, Zitat: S. 210.) 86 Vgl. hierzu Dieter Henrich, Hegel und Hölderlin, in: ders., Hegel im Kontext, Frankfurt~. 1971, S. 9-40, bes. S. l2ff. 87 Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschafts· lehre (1794), in: J. G. Fichte-Gesamtausgabe, [Reihe I,) Bd. 2, S. 173-451, bes. S. 269ff., 283 u. 367. 88 Schleiennaehers kritische Auseinandersetzung mit Kant wird bereits durch seine Abhandlungen .Ueber das höchste Gute (1789) und .Ueber die
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Freiheit des Willens« (1792) dokumentiert (abgedruckt in: Denkmale der inneren Entwicklung Schleiennachers, an: Wilhelm Dihhey, Leben Schleiermachers, Bd. I, Berlin 11870, hier S. 6-19 u. 19-46; demnächst in: Friedrich Daniel Ernst Schleiennacher, Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. H.-J. Birkner u. G. Ebeling, H. Fischer, H. Kimmerle, K.-V. Seige, l. Abt., Bd. I: Jugendschriften, hrsg. v. G. Meckenstock, Teilbd. I, BerlinlNew York ca. 1982); zur Auseinandersetzung mit Spinoza vg!. bes. die ~Kurze Darstellung des spinozistischen Systems« (1794) (5. W. IU, 4/1, 283-311; demnächst in: Schleienna· eher, Kril. Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. I, 'reilbd. 2). Zu Schleiermachers phi. losophischer Jugendentwicklung vgl. Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, Bd. I, hrsg. v. M. Redeker, Göttingen .)1979 ("" Gesammelte Schriften, Bd. 13/1.2), Hbd. I, bes. S. 41, 88ff., 98f., 108, 133ff., 174f., 315 u. 565. 89 So besonders in der 2. und 5. der ~Reden über die Religion«, in denen ~Religion« als ~Anschauung des Unendlichen« bestimmt wird (bes. S. 49ff. u. 170ft). Scheinbar nähert sich Fichte selbst bald darauf dieser Position; und Schleiennaeher kann sich tatsächlich auf den Fichteschen Wortlaut berufen, wenn er in seiner Rezension von Fiehtes ~Bestimmungdes Menschen« ,"on dessen Absolutem als .Unendlichem« spricht (in: Athenäum. Eine Zeitschrift; hrsg. v. A. W. u. F. Schlegel, Bd. 3 [1800], Repr. Berlin 1960, S. 283-297, hier S. 289, 292 u. 296f.; vgl. Johann GOltlieb Fichte, Die Bestimmung des Menschen (1800), in: J. G. Fichte·Gesamtausgabe, (Reihe I,] Bd. 6, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, S. 144-311, hier S. 297f.). Obwohl aber Fichte seit dem lAtheismusstreit< und Jacobis Nihilismus-Vorwurf das Selbstsein nicht mehr als höchstes Prinzip behandelt, sondern das Ich in einem aUer Re(Jexion ,"orausliegenden Absoluten gründen läßt (vgl. bes. die ~ Wissenschaftslehren« von 1801 u. 1810, in: Johann Goulieb Fichte, Werke, hrsg. v. F. Medicus, Bd. 1-6, leipzig 1908-1912, hier Bd. 4, S. 1-163, u. Bd. 5, S. 611-628, sowie die späten lpopulären< Vorlesungen), so ist er doch weit entfernt, wie Schleiennaeher dieses Absolute als ein ~ Unendliches« spinozistisch mit dem. Universum« gleichzusetzen (vg!. Reden über die Religion, S. 49 u. ö.); sondern wie Fichte in der .Bestimmung des Menschen« dieses Absolute als ~Unendlicher« apostrophiert (5. 298), so umschreibt er es hier an anderen Stellen als ~übersinnliche(s] Gesetz« (S. 291), ~unendliche Vernunft« (5. 284 u. 295f.) und .unendliche(r] Wille« (5. 291f. u. 295). 90 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, in: ders., Werke, hrsg. v. M. Schröter, Hauptbd. 3: Schriften zur Identitätsphilosophie 1801-1806, München 1927, S. 229-374. Schleiermachers Rezension erschien in: Jenaische Allgemeine Lilteraturzeitung 1804, Bd. 1, S. 137-151; wiederabgedruckt in: Aus 5chleiermacher's leben. In Briefen, Bd. 4, vorbereitet von L. Jonas, hrsg. v. W. Dilthey, Berlin 1863, S. 579-593. 91 Vg!. ferner Schelling, Bruno oder über das gÖlIliche und natürliche Princip der Dinge. Ein Gespräch, in: ders., Werke, Hauptbd. 3, S. 109-228, bes. S. 151ff. 92 Vgl. Hermann Süskind, Der Einnuss Schellings aur die Entwicklung von Schleiermachers System, Tübingen 1909, bes. T. 2; Falk Wagner, 5chleiermachers Dialektik. Eine k.ritische Interpretation, Gütersloh 1974, bes. S. 23ff.;
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Eilert Henns, Herkunft, Entfaltung und e~te Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, Güte~loh 1974, bes. S. 259ff, 93 Fr. D. E. Schleiermacher, Werke. Auswahl in vier Bänden, hng. u. eingel. v. O. Braun u. J. Bauer, Bd. 2: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, nach den Handschriften Schleiermache~ neu h~g. v. O. Braun, Leipzig 1913, S. 249 f. (künftig zitiert als PhE [=: Philosophische Ethik], die» Ethik 1812/13« im Folgenden nur mit Paragraphenangabe unter Hinzufügung von ParallelsteIlen aus den Ethik-Entwürfen von 1816). 94 Vgl. hierzu bes. Hans-Joachim Birkner, Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Berlin 1964, S. 33ff. 95 So Lichtenbergs spöttische Formulierung; zustimmend ziliert in Schellings »Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums«, S. 253. 96 Vgl. PhE 356, § 189 (Hermeneutik u. Kritik, ed. Frank, 384), Kurze Darstellung des theologischen Studiums, S. 53ft. (2. Aufl.: §§ 132f. u. 138), sowie HK 1241309], 141 {328] u. 156 (346]. 97 Zur unerläßlichen Funktion solcher ,Modelle< - sei es als metaphysischer Festlegungen, sei es als zu heuristischen Zwecken bevorzugter Analogien und Metaphern - bei der Konstitution wissenschaftlicher ,Paradigmen< vgJ. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, (The Structure of Scientific Revolutions, übs. v. H. Veuer), Frankfurt/M. 41979, bes. S. 195f., u. ders., Neue überlegungen zum Begriff des Paradigma (Second Thoughts on Paradigms), in: ders., Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, hrsg. v. L. Krüger, übs. v. H. Vetter, Frankfurt/M. 1977, S. 389-420, bes. S. 392ff. 98 Schleiermachers wechselnde Bestimmung der Hermeneutik als »Kunstlehre« (HL 3 (71]; weitere Nachweise s. o. Anm. 96) oder als »Kunst« (Kurze Darstellung des theologischen Studiums, S. 53f. [I. Aufl.: §§ 23 u. 28J, u. HK
56f., 75f. {75f.J, 78[801, 82ff.(91 ff.J, 126 [311J, 128 {313J, 155 [344]) ,"', spricht durchaus dem Bedeutungsspektrum des antiken Begriffs der ttXV1'\' Denn im Gegensatz zum modemen Begriff der ,Technik< »gehören im Platonischen Begriff der Techne Wissen und Handeln unauflösbarzusammen. Techne ist ebenso >ein Tun<, >etwas machen< oder ,ein Werk verrichlen< wie )Erkennen<, ,Verstehen< und) Wissen<.« (Heinrich Anz, Die Entstehung der Ontologie und die ontologische Kritik der Kunst bei Plato, in: Danish Yearbook ofPhilosophy 17(1980), S. 101-120, hier S. 103 - mit detaillienen Nachweisen.) Dementsprechend heißt es bei Schleiermacher im Hinblick auf die Ästhetik: sie gehöre zu »denjenigen Disciplinen, die man gewöhnlich durch den Ausdrukk Theorie zu bezeichnen pflegt, die Griechen ttxVTI, die Römer nach ihnen übe~zendars nannten; sie verstehen darunter eine mit Grunden belegte Anweisung, wie etwas auf die richtige An hervorzubringen sei« (Vorlesungen über die Aesthetik, h~g. v. C. Lommatzsch, S. W. tU, 7, I). 99 Vgl. auch Friedrich Schleiermacher, Dialektik, auf Grund bisher unveröffentlichten Materials hrsg. v. R. Qdebrecht, (Repr. der Ausg. Leipzig 1942), Darmstadt 1976, bes. S. 13 u. 49 (künftig zitiert als Dial 0). 100 In Verkennung der identilätsphilosophischen Methodologie hat Szondi diese »kühne These« als Schleiermachers »ursprüngliche Konzeption« gegen
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dessen späteren .Methodenpluralismus« ausspielen wollen (Schleiermachers Hermeneutik heute, S. 129). 101 Entsprechend heißt es in Schleiermachen Notizen .Von der technischen Interpretation«: »Grammat[isch]. Nicht möglich ohne technisch. Techn(isch). Nicht möglich ohne grammat[isch). Denn woher soll ich den Menschen kennen als nur durch s[ein]e Rede, zumal in Beziehung auf diese Rede? Grammat[isch}. Dennoch Ideal der Aufgabe in ihrer Einseitigkeit[:] das Verstehen bei gänzlicher Abstrakt(ion] vom techn[ische)n. So auch techn(isch). Das Ideal: Verstehen bei gänzlicher Abstrakt{ion] vom grammat[ischen)« (HK 113 (171)). 102 Vgl. etwa Wilhelm Dillhey, Gesammelte Schriften, Bd. 7: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, StuttgartlGöttingen 71979, bes. S. 152, 162,254 u. 262-in den handschriftlichen Zusätzen zur Abhandlung über» Die Entstehung der Hermeneutik« nennt Dilthey diesen ,hermeneutischen Zirkel, eine »Aporie« (ebd. Bd. 5, S. 334); Martin Heidegger, Sein und Zeit, (hrsg. v. F.. W. von Herrmann), Frankfurt/M. 1977 ('" Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 2), bes. S. 202fL u. 416ff. (Originalpag. S. 152f. u. 314fL), sowie den. u. Eugen Fink, HerakJiI. Seminar Wintersemester 196611967, FranltfurtlM. 1970, bes. S. 30L (mit ausdrücklichem Bezug auf Wittgenstein!); Gadamer, Wahrheit und Methode, bes. S. 250ff. u. 275ft. (speziell zu Schleiermacher: S. 178f.). 103 Der Verstehenszirkel impliziert bei Schleiermacher keinerlei .Sonderstellung der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften«, wie dies von Stegmüller an den ,Hermeneutikern, (unter Einschluß Schleierma· chers) kritisiert worden ist (vgl. Wolfgang Stegmüller. Der sogenannte Zirkel des Verstehens, in: ders., Das Problem der Induktion: Humes Herausforderung und modeme Antworten. Der sogenannte Zirkel des Verstehens, Darmstadt 1975, S. 63-88, hier S. 63ff., 73f., 86f.). 104 .Ueberall ist das vollkommene Wissen in diesem scheinbaren Kreise daß jedes Besondere nur aus dem Allgem[eine]n dessen Theil es ist verstanden werden kann und umgekehrt. Und jedes Wissen ist nur wissenschaftlich wenn es so gebildet ist« (HK 84 [95)). Zum .Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit« zwischen Ganzem und Einzelnem vgl. auch HL 247f. (229). 105 Vgl. SchelIing, Darstellung meines Systems der Philosophie (180 I), in: ders., Werke, Hauptbd. 3, S. 1-108, hier S. 19 f. (§ 23) u. ö.; ferner ders., Bruno, S. 133. In seiner Rezension von ScheUings Methodologie-Vorlesung nimmt Schleiermacher ausdrücklich Bezug auf dessen Behandlung der beiden uelativ entgegengesetzten Minelpunkte« von idealer und realer Welt und ihrer Relation zum absoluten lndifferenzpunkt heider (Aus Schleiermacher's Leben, Bd. 4, S. 583 ff.; vgl. Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, S. 274 u. 303 ff.). 106 Eschenmayer an Schelling, 21. 7. 1801, in: Aus Schellings Leben. In Briefen, (hrsg. v. G. L. Plitt), Bd. 3, Leipzig 1870, S. 336ft. - Fichtes vernichtende Kritik an Schellings »Darstellung meines Systems der Philosophie« gipfelt in einer Destruktion eben dieses Theorems von der Kluantitativen Differenz(; vg1. Fichtes »Bericht über den Begriff der Wissenschahslehre und die bisherigen Schicksale derselben« (1806) (Werke, Bd. 5, S. 309-356, bes. S.
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334-340); generell zur Kritik der Identitätsphilosophie vgl. ferner die »Wissenschaftslehree von 1801 (ebd. Bd. 4, S. 66) und die »Wissenschaftslehree von 1804l (ebd. S. 165-392, hier S. 275 f.). Hegel hat jenes zeßlrale Theorem der Identitätsphilosophie in der Periode seines Zusammenwirkens mit Schelling mil auffälligem Schweigen übergangen; er kritisien es später unmißverständlich im Schelling-Abschnitt seiner» Vorlesungen über die Geschichte der Philosophiee (Georg Wilhe1m Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie 1lI, neu hrsg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Frankfun/M. 1971 [= Theorie-Werkausgabe. Bd. 201. S. 420-454, hier S.
440f!.). 107 Schelling,-Damellung meines Systems der Philosophie, S. 19 (§ 23). Schelling universalisiert hier offenkundig die Kategorie der Quantität, die Fichte hingegen dem Begriff der Substaßlialität zugeordnet halte (vg1. Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre [1794], S. 31Of., sowie vorbereitend S. 272 u. 297); diese Verschiebung entspricht durchaus der von Hegel als wesentliches Moment der Identitätsphilosophie hervorgehobenen Ersetzung des Fichteschen Ich durch die Spinozistische Substanz (vgl. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie Ul, S. 438f.). 108 Vgl. Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, S. 272 f. Schelling folgt damil Spinozas berühmtem - für Hegel besonders folgenreichem - Diktum: »detenninatio negatio este (Epist. 50 (unbek. Empfanger], 2. 6. 1674, in: Spinoza, Opera, hrsg. v. C. Gebhardt, Bd. 4, HeideIberg 1924, S. 240). 109 Vgl. Schelling, Darslellung meines Systems der Philosophie, bes. S. 29 f.
(§ 42). 38r. (§ 51);47 (§ 62) u. 98 (§ 141). 110 Vgl. hierzu Georg Wehrung, Die Dialektik Schleiennachers, Tübingen 1920, S. 392f., u. Wagner, Schleiennachers Dialektik, bes. S. 240. 111 Vgl. Dial 0 142ff., sowie hierzu Wagner, Schleiennachers Dialektik, bes. S. 79f., 251 u. 255. 112 Vgl. PhE 96f. (»Brouillon zur Ethik 1805/06e) u. Dial 0 159f., 347, 372, sowie Wagner, Schleiennachers Dialektik, S. 239f. - Speziell im Hinblick auf die Henneneutik notien Schleiennacher im »Ersten Entwurf von 1809/10e: »Erörterung über das Verhältniß. Es giebt ein Minimum von grammatischer und ein Minimum von technischer, jedes neben dem Maximum des entgegengesezten. Mannigfaltige Oscillation zwischen beiden. (...]- Ueber die Combination beider. Da jede Operation die andere voraussezt müssen sie unminelb[ar] verbunden werden. Dies gilt auch wo die eine nur im minimo staufmdet weil ich das nicht vorher weiße (HK 56). 113 So Schleiermachers übersetzung des griechischen Terminus in seiner »Einleitung« zum ..Staatsmanne, in: Schleiennacher, Platons Werke, Th. 2, Bd. I, S. 243-255, hier S. 244. Zur Sache vgl. Paul Friedländer, Platon, Bd. 1-3, Berlin lI954-1960, bes. Bd. I, S. 161, u. Bd. 3, S. 217, 229, 261 u. 472. I 14 Plalo, Opera, hrsg. v. J. Bumet, Bd. I, Oxford 1956 (11900), Stephanuspag. 218 e 3 - 221 c 4; übs. in: Schleiermacher,Platons Werke, Th. 2, Bd. I, S. 151 (wiederabgedruckt in: Platon, Sämtliche Werke, nach der übersetzung von F. Schleiermacher hrsg. v. W. F. Otto, E. Grassi, G. Plamböck, Bd. 4, Hamburg 1958, don S. 191). - Weitere Platonische Diäresen vgl. Gorgias 464
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a -465 e (Kochkunst), Politeia 258 b - 268 c (Herrscherkunst) u. 279 b- 283 b (Weberei). 115 Vgl. Schleiennac:her, Dialektik, hrsg. v. L. Jonas, S. W. m, 412, S. 245 ff., u. Dial 0 392ff.; hierzu Dilthey, Leben Schleiermac:hers, Bd. 2. S. 196ff., u. Wagner, Sc:hleiennachers Dialektik, S. 247ff. u. 270ff. 116 3. Tagebuch, Nr. 130, in: Denkmale der inneren Entwicklung Schleiennachers, S. 136. 117 Vgl. bes. Manfred Frank, Das individueUe AUgemeine. Textstrukturie· rong und -interpretation nach Schkiermacher, FrankfurtlM. 1977, S. 289 ff., u. ders.• Archäologie des Individuums. Zur Hermeneutik von Sanres .Aaubert•• in: ders., Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur neuesten französischen Hermeneutik und Texttheorie, FrankfurtlM. 1980, S. 36-113. hier S. 81 ff. 118 Zu Schleiermachers Begriff des Verstehens als .Nachkonstruierenl und dessen Herkunft aus der romantischen Kunstkritik vgl. Birus, Hermeneutische Wende?, bes. S. 215-221. 119 Vgl. ansatzweise schon HK 61 (.Gefühll vs.•Vergleichung(), sowie PhE 49 (.unmitte1bar1 vs. H:OmparatiVl). 120 In diesem Sinn wird das Begriffspaar >divinatorischI V$. >oomparativ( vor allem in den heiden Akademiereden (bes. HK 132-140 {318-327] u. 149ff. (338 Cf.]) gebraucht. Angeregt ""'oh] durch Friedrich Schlegels Sprachgebrauch, spricht Schleiennacher übrigens schon in seinen .Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde. (1800) von der .Divination im ersten Augenblilr:.k. im Gegensatz zur _Nothwendigkeit der Untersuchung (...) auf dem sicheren Wege. (S.W. 111, 1,421-506, hier S. 455). 121 Die neuzeitliche Bedeutungsa!temative von divino.rio im Sinne der Gegensatzpaare .Wissen - Vumutt'1H oder .Vergangenheit - Zukun[tl geht letztlieh auf Cicero zurück, bei dem dieses Wort in drei deutlich untenchiedenen Bedeutungen vorkommt: _8) im Sinn von lreine Spekulation, bloße VermutungI; b) als terminus technicus für ein bestimmtes juristiSChes Verfahren des römischen Strafprozeßrechtes, mit dessen Hilfe vor dem eigentlichen Prozeß die zahl der Ankläger eingeschränkt wird; c) als lateinisches Äquivalent für ,Mantik, Wahrsagekunst1, eine Bedeutung, die nach der Etymologie die ursprüngliche sein müßte. (Heinz Schaefer, Divinatio. Die antike Bedeutung des Begriffs und sein Gebrauch in der neuzeitlichen Philologie. in: Archiv für Begriffsgeschichte 21(1977], S. 188-225, bier S. 195). Freilich ist seit der Renaissance immer wieder eine etymologisierende Umdeutung jener entgenannten Bedeutung und damit eine Grentverwischung zwischen Philologie und Mantik \'orgenommen worden: _Gli umantsti amtrappongono alla coni«rura la divinario [...]: mentre laconitauro. si muo\'e nel campo della verosimiglianz.a e pUD sostenersi 5ul ragjonamento, ladil'iMrio tqualoosa di irrazionale, quasi un'ispirazione divina .• (Silvia Rizzo, IIlessiro filologjco degli umanisti, Rom 1973, S. 290.) 122 Vgl. Dilthey, Entstehung der Hermeneulik, S. 327. 123 So hatte Schleiermacher im _Brouillon zur Ethik 1805106. betonl, _daß Denken und Sprechen identisch sein muß. (PhE 97, entsprechend auch PhE 164) - und in der Abhandlung _Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens. (t813): .daß wesentlich und innerlich Gedanke und Ausdrukk
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ganz dasselbe sind, (...) auf dieser Ueberzeugung beruht doch die ganze Kunst alles Verstehens der Rede" (S. 232). Dagegen wird vom späten Schleiermacher eingeräumt, daß möglicherweise .. Sprache und Denken gar nicht so genau zusammenhangen" (Psychologie, hrsg. v. L. George, S. W. 1II, 6, 150 - als Einschränkung der Identitätsthese ebd. S. 133 ff.) und daß man ..das Denken und das innere Sprechen nicht als ganz gleich ansehen" könne (Dialektik, hrsg. v. Jonas, S. 491); vielmehr wird es von Schleiermacher nun als eine Besonderheit der antiken Philosophie bezeichnet, daß .. Denken und Reden die alten nicht trennen konnten" (Geschichte der Philosophie, hrsg. v. H. Ritter, 5. W. 111,41 I, 99). 124 Dies hat vor allem die mißliche Konsequenz, daß das ..vollkommene Verstehen des Styls" (HK 104 [168]) nun allein der technisch-psychologischen Seite der Hermeneutik zugeschlagen wird. Schleiermachers konstante Weigerung, .. unter Styl nur die Behandlung der Sprache zu verstehen" (ebd. - Hervorh. von mir), radikalisiert sich damit aus Systemzwang zu einem - freilich nie konsequent durchgehaltenen - Verständnis des Stils als bloßer .. Eigenthüm· lichkeit der Darstellung (...] auch abgesehen von der Sprache" (HK 113f. (171 LI). - Um der faktischen Vermittlungsposition der >technischen Interpretation' auch systematisch gerecht werden zu können, hätte Schleiermacher aJlerdings seine prinzipiellen Reserven gegenüber triadischen Begriffskonstruktionen (vg!. Dial 0 395fL) suspendieren müssen - wofür es bei ihm durchaus nicht an Präzedenzfallen fehlt: vg!. Dial 0 157 ff., Erziehungslehre (5. W. IU, 9, 62lf.), Die christliche Sitte (5.W. I, 12, 54f.), Der christliche Glaube (auf Grund der 2. Aufl. neu hrsg. v. M. Redeker, Berlin 71960, Bd. I, S. I7ff.). 125 Hierzu und zum Folgenden vg!. Kuhn, Struktur wissenschaftlicher Re· volutionen, bes. S. 25 u. 37ff. 126 Vg!. Kant, Kritik der reinen Vernunrt, Vorrede zur zweiten Aufl., S. 7 (Originalpag. S. VII). 127 Vg!. August Boeckh, Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, hrsg. v. E. Bratuschek, I. Hauptteil: Formale Theorie dcr philologischen Wissenschart, (Repr. der Ausg. Leipzig 21886, hrsg. v. R. Klussmann), Darmstadt 1966, S. 82-157, u. Heymann Steinthai, Die Arten und Formen der Interpretation, in: ders., Kleine sprachtheoretische Schriften, hrsg. v. W. Bumann, HildesheimfNew York 1970, S. 532-542.- Was das Verhältnis zu Schleiermacher angeht, so schreibt Böckh über dessen postum erschienene .. Hermeneutik und Kritike: .. Ein vollständiges, von Meisterhand entworfenes System. In meiner Darstellung sind 5chleiermacher's Ideen nicht aus dieser Schrift, sondern aus früheren Minheilungen benutzt, doch so, dass ich nicht mehr im Stande bin das Eigene und Fremde zu unterscheiden" (Enzyklopädie und Methodenlehre, S. 75); dagegen Steinthai: .. Was zumal die Theorie der Hermeneutik und Kritik betrifft, so hat hier Böckh alles, was Fr. Schlegel in geistvollen Aphorismen um sich wirft und woran sich Ast versucht hat und Schleiermacher in seiner Weise abmüht, in ein klares System zusammengefasst. Dieses ist ganz und gar seine Schöpfung« (Rez. von Aug. Böckh: Encyc10pädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, in: Steinthai, Kleine sprachtheoretische Schriften, S. 543-563, hier S. 562) - was zu beweisen wäre.
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128 Eine Radikalisierung nicht nur unter dem inhaltlichen Gesichtspunkt einer - bei Schleiermacher noch ganz undenkbaren -Interpretation kultureller Gebilde als ISublimation< von )niedrigen, ja verachteten< Regungen (Niettsche, Menschliches, Allzumenschliches 1) und der vergleichbaren strategischen Funktion von Begriffen wie )Ressentiment( und }Verdrängung< bei Nietzsche und Freud, sondern auch im Hinblick darauf, daß für Schleiennacher das Uno bewußte im wesentlichen mit dem Noch-nicht-Reflektierten zusammenfällt (vg1. HK 84 (94)), während es bei Niettsche wie bei Freud gerade nicht mehr durch aUlOnome Selbstreflexion erschlossen werden kann. 129 Vgl. Dilthey, Entstehung der Hermeneutik, S. 318f., u. ders., Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, bes. S. 205-224; zu Heideggers Programmformel vgl. ders., Sein und Zeit, S. 50f. u. 97 Anm. I (Originalpag. S. 37f. u. 72). Hinsichl1ich der Ansätze zu einer lmusikalischen Henneneutik< bei Schleiermacher vgl. jüngst Gunter Scholtz, Schleiermachers Musikphilosophie, Göningen 1981, S. 140-150.
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HEINRICH ANz
Hermeneutik der Individualität Wilhelm Diltheys hermeneutische Position und ihre Aporien
»Die Hannäckigkeit des Individuums ( ) ist mir ein Beweis. daß so etwas existiere ( j.t
Goelhe zu Eckennann (3. 3. 1830)
Innerhalb der Geschichte der philosophischen Hermeneutik kommt der Diltheyschen Theorie des Verstehens eine zentrale Position zu. Ohne Diltheys Darstellung der Geschichte der Hermeneutik und ohne seine umdeutende Aufnahme hätte die Hermeneutik Schleiermacbers schwerlich den Charakter eines Paradigmas gewonnen; 'ohne sein unablässiges erkenntnistheoretisches Bemühen, das ,Verstehen( zur Grundlage aller .Wissenschaften vom handelnden Menschen.. l und der »geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit«J zu machen, wäre Heideggers Entwurf einer _existenzialen Hermeneutik« wohl kaum möglich gewesen j 4 ohne seine gegen Metaphysik und spekulativen Idealismus gerichtete Grundlegung der Geisteswissenschaften gäbe es gewiß nicht Gadamers Versuch, die philosophische Hermeneutik als >prima philosophiac zu entfalten.! Eine vergleichbare Bedeutung kommt der hermeneutischen Position Diltheys auch innerhalb der Geschichte der philologischen Hermeneutik zu, nur daß in ihr weniger die erkenntnistheoretische Klärung des Verstehens von individuellem Ausdruck als die aus ihr folgende hermeneutische Praxis einer genetisch-typologischen Interpretation, die sogenannte 1geistesgeschichtliche Methode<, und ein trivialisierter Erlebnisbegriff wirksam geworden sind. 6 Die fortgesetzte produktive und kritische Rezeption Diltheys innerhalb der sich herausbildenden hermeneutischen Philosophie 1 steht freilich in deutlichem Kontrast zu der mittlerweile emphatisch ablehnenden Haltung der deutschen Literaturwissenschaft, für die DiJthey als Begründer der >geistesgeschichtlichen< und auch der
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>werkimmanenten< Methode nicht nur als obsolet, sondern auch als durch die Geschichte einer ldeutschen Wissenschaft< kompromittiert gilt.Diltheys anhaltende, wenn auch unterschiedlich beurteilte Wirkung, die ihn bereits zu einem >Klassiker der Philosophie< hat werden lassen,' folgt aus der fongesetzten Aktualität seiner Fragestellung: Die historisch-philologischen Disziplinen, die Geistes- und Sozialwissenschaften bedürfen einer Rechtfertigung der Sachangemessenheit ihrer Methoden und Begriffe, die Diltheys philosophische Grundlegung der» Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und Geschichte« zu leisten verspricht, 10 sofern sie in die>Wirklichkeit< individuellen geschichtlichen Lebens zurückgeht und aus dem Prozeß seiner Selbsterschließung und Selbstgesraltung die Kategorien wissenschaftlicher >Nachkonstruktion< gewinnt. Und die Wirkungsgeschichte Diltheys bezeugt, daß der Rückgang in den aller Wissenschaft vorausliegenden Lebensvollzug, in das >Erleben<, in der Tat Möglichkeiten wissenschaftlichen Verständnisses und Formen der Vergegenwänigung und Aneignung >geschichtlichen Lebens< zu erschließen vermochte und vermag, wie kritisch sie auch zu sehen sind. l l Dariiber hinaus enthäh Dihheys Rückgang in die >Wirklichkeit< individuellen geschichtli· ehen Lebens und die Frage seiner wissenschaftlichen Erfassung einen permanenten Einspruch gegen allen Szientismus, der sich bereits in Diltheys eigener >szientistischen< Hermeneutik der lndividualität zur Geltung bringt - paradox genug: in deren Schwierigkeiten und deren Scheitern.• Die Hartnäckigkeit des Individuums«, die Goethe Beweis für die Existenz der Entelechie war, I~ wendet sich gegen den Theoretiker einer hermeneutischen Wissenschaft selbst. Die Darstellung von Diltheys hermeneutischer Position sieht sich vor eine besondere Schwierigkeit gestellt; sie liegt in dem .Protei· schen«, das Hofmannsthai an derGestalt Diltheys fasziniert hat: udaß Dilthey seinen ursprünglichen wissenschaftstheoretischen Ansatz in sich fonlaufend verändernden systematischen und historischen Richtungen verfolgt und daß seine schriftstellerische Darstellung deshalbzwischen in ihrer Terminologie wechselnden, umständlichen Distinktionsversuchen und der halbpoetischen Sprache geschichtlicher Darstellung schwankend - nicht die abgeschlossene Gestalt eines philosophischen Werkes erreicht. .übermenschlich angefangen, unmöglich zu vollenden«,I" - solche Bewunderung ließe sich sinnvoll wohl nur in einer entwicklungsgeschichtlichen Darstellung des Diltheyschen
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Denkens einlösen, die zugleich Diltheys überwältigend umfangreiche hermeneutische Praxis im Felde historischer und literarischer Charakteristik mit einbezöge. Das kann eine Analyse von Diltheys hermeneutischer Position nicht leisten; ihr kann als Leitfaden Diltheys eigene Frage nach dem Verständnis geschichtlicher Individualität dienen, die sie an Dilthey selber richtet: ob Diltheys Theorie des Ausdrucksverstehens das in jedem Verstehen )mitgehende( Verständnis von Individualität so aufzuklären vermag, daß sie die Individualität nicbt zum Verschwinden bringt. Noch voll und bewußt im Banne der klassisch-romantischen Kunstperiode stehend, rückt für Dilthey das Studium der Individualität 'S ins Zentrum seiner philosophiscben Beschäftigung mit der geschichtlichen Welt und seiner erkenntnistheoretischen Versuche, »die Natur und die Bedingung des geschichtlichen Bewußtseins zu untersuchen«. 16 Dilthey nennt dies historisch-erkenntnistheoretische Unternehmen, das sein gesamtes mannigfaltiges und schwer überschaubares Oeuvre bestimmt, eine »Kritik der historischen Vernunft« 11 und bezeichnet damit die Absicht, der erkenntnistheoretischen Begründung der Naturwissenschaften in Kants Kritik der reinen Vermmft seinerseits eine entsprechende Grundlegung der Geisteswissenschaften an die Seite zu stellen 18 - eine Rechtfertigung also aller» Wissenschaften des handelnden Menschen«J9 und der »geschichtlich-geseUschaftliehen Wirklichkeit«.20 Angesichts der GeschichtJichkeit des Bewußtseins kann diese Grundlegung nicht mehr auf ein transzendentales Subj~kt zurückgehen, sondern nur auf die geschichtsbildende Kraft empiriscber Individuen. Das »bedeutende Individuum« gilt Dilthey nicht nur als der »Grund körper der Geschichte« und .in gewissem Verstande [als] die größte Realität derselben«; 21 bereits in der alltäglichen Lebenspraxis ist das Verständnis fremder Individualität für die Orientierung sinnvollen Handeins und Redens unumgänglich vorausgesetzt,22 und nur im Verhältnis zu ihm wird die eigene Individualität erfahrbar. 2) Das ursprüngliche praktische Interesse an der fremden und eigenen Individualität wird durch das nicht minder ursprüngliche Interesse verstärkt, im Verständnis des Individuellen die Grenzen der ·Indi....idualität zu erweitern, ja noch mehr: ihre Schranken in den offenen Spielraum nachvollziehbarer Lebensmöglichkeiten zu übersteigen. 2• Das Verständnis des Individuellen versetzt »in Freiheit«.25 Fast überschwenglich charakterisiert Dilthey das Interesse am Individuellen, das zugleich auf dessen Aufhebungzielt: »Das Geheimnis der Per61
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son reizt um seiner selbst willen zu immer neuen und tieferen Versu· ehen des Yerstehens. Und in solchem Verstehen öffnet sich das Reich der Individuen«16 - ein Reich »der unenneßlichen Fülle singulärer Gestaltungen«;, in dem )sich die Menschheit auslebt<.27 Nicht bloß aus der aktuell vordringlichen Arbeit an der Grundlegung der Geisteswissenschaften heraus, sondern dem vorgängigen 10-· teresse der Lebenspraxis folgend, gelangt Dilthey zu der Frage »nach der wissenschaftlichen Erkenntnis der Einzelpersonen, ja der großen /' Formen singulären menschlichen Daseins überhauptc,28» Wie kanne. so lautet seine Grundfrage, .ein individuell gestaltetes Bewußtsein [...] eine fremde und ganz anders geartete Individualität zu ~bjektiver Erkenntnis bringen?«19Im Vorgang des Verstehens, wäre mit Dilthey selbst zu antworten, erschließt sich die fremde und im Verhältnis zur fremden die eigene Individualität; und so mündet die philosophische Grundlegung in eine »Analysis des Verstehensc,JO die nicht nur die Möglichkeit des Verständnisses fremder Individualität, sondern auch die Wahrheitsbedingungen des Verstehens zu klären hat. Das geschieht unter dem Titel lHermeneutik<. Als allgemeine Theorie des Verstehens gefaßt, erweitert Hermeneutik hierzugleich ihre Fragestellung. Sie fragt nicht; Wie ist Verstehen möglich?, sondern sie will erklären, wie wabres, d. h. allgemeingültiges Verstehen möglich sei, stellt also das Verstehen des Individuellen von vornherein unter den Vorgriff der Frage nach der Wahrheit im Sinne allgemeiner Gültigkeit, NachpTÜfbarkeit und Verbindlicbkeit. Die innere Widersprüchlichkeit dieses Ansatzes bestebt darin, daß die erkenntnistheoretische Orientierung der hermeneutischen Fragestellung das Verständnis des Individuellen gar nicht auf die Individualität als Individualität, sondern auf das Allgemeine ausrichtet, als dessen Besonderung das Individuelle erscheint. Die so wirkungsvolle Diltheysche Typenlehre ist die Antwort auf diese Fragestellung, sofern in der Schematisierung des Typus das Individuelle als Allgemeines faßbar wird und zu ausweisbarem Verständnis gebracht werden , kann. JI • ""'Die Eigentümlichkeit der DJltheyschen Hermeneutik iSt durch die Einschränkung der hermeneutischen Fragestellung auf das Verständnis des Individuellen und durch die innere WidersprüchJichkeit des Verständnisses des Individuellen als eines Allgemeinen noch nicht hinreichend charakterisiert. Mitgesehen werden muß die bereits an-
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gedeutete systematische Stellung des hermeneutischen Problems, der die philosophische Hermeneutik bei M. Heidegger und H.-G. Gadamer insbesondere gefolgt ist. War die hermeneutische Theorie bis zu Dilthey auf das Verstehen der (mündlichen und schriftlich fixierten) Rede eines anderen ausgerichtet, so verläßt sie nun den Spielraum sprachlicher Mitteilung in Gespräch und Rede, den Bereich von Sprachlichkeit überhaupt. Verstehen artikuliert die Erfahrung fremder und eigener Individualität, für die der sprachliche Ausdruck nur ein kontingentes, wenn auch besonders geeignetes Medium ist. J2 Aus der >begrenzten( intellektuellen Leistung des Rede-Verstehens wird ein elementarer und umfassender Vorgang alltäglicher vorwissenschaftlicher Lebenspraxis, dessen Klärung gleichwohl die Rechtfertigung einer besonderen wissenschaftlichen Erkenntnisweise und ihres Wahrheitssinnes erbringen soll. Dieses Legitimationsverfahren, das Wissenschaft als einen lediglich methodisch radikalisierten und ausdrücklich geübten Vorgang alltäglicher Lebenspraxis begründet, verbindet sich fortan auch mit dem Titel )Hermeneutik< und verleiht ihm seine spezifische Wirksamkeit. Zum Paradigma der Diltheyschen Hermeneutik gehört über die Widersprüchlichkeit der Frage nach dem Individualverstehen und der vorwissenschaftlich-praktischen Legitimation von Wissenschaft hinaus eine weitere, systematisch entscheidende Merkwürdigkeit: Dilthey selbst vollzieht die IWende< in eine )hermeneutische Philosophie< nicht,JJ das hermeneutische Problem selbst wird gänzlich unhermeneutisch behandelt. Damit ist gemeint, daß die »Analysis des Verstehens« nicht vom Verstehen seinen Ausgang nimmt und primär gar nicht danach fragt, was es heißt, Sinn oder Bedeutung zu verstehen, sondern daß die Analysis der Entstehung von IBedeulSamkeih, der Hervorbringung von Ausdruck nachgeht undlVerstehen< nur als einen im Verhältnis zur ursprünglichen Konstitution von Ausdruck abgeleiteten Modus zum Thema macht. Die Grundlegung geht nur scheinbar auf die ursprüngliche Erfahrung des Verstehens zurück; tatsächlich überspringt sie das Verstehen, indem sie, aus dem vorherrschenden Interesse an der Individualität heraus, der Genesis von Individualität als eines gelebten Bedeutungszusammenhanges, als einer sich im jeweiligen Lebensverlauf herausbildenden Ausdrucksgestalt nachfragt. Deshalb kommt Dilthey nicht zu einem geklärten und konsistenten Begriff von Verstehen - auch nicht in seiner ausgebreiteten hermeneutischen Praxis, die, der systematischen Vorzeichnung folgend, ge-
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netisch verfährt. Als Beleg dafür sei nur der berühmte Essay Goethe und die dichterische Phantasie genannt.3~ Das derart in sich widersprüchliche Paradigma einer Hermeneutik der Individualität gehört einer bestimmten geschichtlichen Lage zu; und Dilthey ist sich dessen voll bewußt gewesen, so sehr, daß er die systematische Klärung des hermeneutischen Problems immer zugleich auch als historische betreibt. Die lAnalysis des Verstehen$< schließt für ihn die Aufarbeitung der Geschichte der Hermeneutik ein, deren ge· lehrter Historiograph Dihhey deshalb ist;35 nicht anders verlangt di, »Analysis des geschichtlichen Bewußtseins«J6 die umfassende Dar stellung der Geschichte der europäischen Philosophie und Kullur al einer Selbstentfaltung des geschichtlichen Bewußtseins. 37 Was als ein, Schwäche des philosophischen Gedankens erscheinen muß: der fortgesetzte übergang in eminent gebildete geschichtliche Darstellungen, trägt der Geschichtlichkeit der Grundlegungsarbeit und des hermeneutischen Problems Rechnung. Freilich enthält der Rückgang in die Geschichte ein ungelöstes systematisches Problem: Sofern der Rückgang immer auf die eigene Posilion hinführt und sich in ihr vollendet, die Geschichtlichkeit des Geschichtlichen also immer in einen Expli· kations- und Entwicklungsgang aufgehoben wird, läßt er das Ge· schichtliche nicht )zu sich selber kommen<. Die geschichtliche Lage ist dadurch charakterisiert, daß im lpostmetaphysischen< Zeitalter der modemen Wissenschaften die Stellung der Philosophie gegenüber der Lebenspraxis fragwürdig geworden ist. Das philosophische Denken müßte Bedingungen und F0':'len 19ü1tigen Wissens< klären, das .in dem unsteten Wechsel der Sinneswahrnehmungen, Begierden und Gefühle (...) eine stetige und einheitliche Lebensführung möglich machte .38 Bisher hat dies die Metaphysik als lnatürliches System< geleistet, innerhalb dessen »der Geist den inneren und allgemeinen Zusammenhang der Wirklichkeit zu erkennen gewiß wau. J9 Zwar hatte bereits Kant in der »Dialektik« der Kritik der rei· nen Vemun!t gezeigt, daß Metaphysik als wissenschaftliche Erkenntnis unmöglich ist; zwar hat der unerhörte Fortschriu der empirischen Wissenschaften und ihres Methodenbewußtseins die Metaphysik auch geschichtlich überholt; gleichwohl bleibt, wie Dilthey meint, »diese große g~istige Tatsache« unüberwunden, solange sie nicht begriffen ist,40 und das heißt: »Nur wer diesen Standpunkt in seiner ganzen Kraft sich klar gemacht, d. h. das Bedürfnis desselben, das in der unveränderlichen Natur des Menschen wurzelt, geschichtlich verstan-
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den, seine lang währende Macht in ihren Gründen erkannt und seine Folgen sich entwickelt hat, vermag seine eigene Denkart von diesem metaphysischen Boden ganz zu lösen [...]. Hat doch die Menschheit selber diesen Gang genommen«.'" Der sich als )metaphysisches Bedürfnis<42 äußernde unüberholbare Anspruch auf eine einheitliche und sinnvolle Lebensführung kann von den empirischen Wissenschaften nicht eingelöst werden, was ihr Recht -gegenüber allen spekulativen Konstruktionen keineswegs schmälert. {)araus resultiert »die große Krisis der Wissenschaften und der europäischen Kultur, in der wir leben«:J daraus die »Lage desgegenwärti~en Geistes, in welcher Skepsis alles durchzieht«."4 Gegen die skepti'che Konsequenz wissenschaftlicher und historischer Aufklärung, de'ren Negativität Dihhey immer wieder beschwört,"5 hält er am normativen Anspruch llphilosophischer Besinnung« fest. Selber am Ende einer »Geschichte der Intelligenz«46 stehend, muß die Besinnung die Situation der Krise und die in ihr herrschende »historische Anarchie« der Systeme41 akzeptieren und ihren positiven Sinn entfalten, der dann zum Vorschein kommt, wenn sie »nach ihrem Bezug zu der Lebendigkeit, in welcher sie gegründet sind, verstanden werden«:18 . Dabei'verschiebt sich der Charakter der Normativität vom Inhaltlichen auf die Genese und die Form, ein folgenschwerer Vorgang, der sich in gleicher Weise innerhalb der hermeneutischen Theorie wiederholt. Wenn sich in der Aufhebung des »metaphysischen Bewußtseins«49 in das »historische Bewußtsein« der »letzte Schritt zur Befreiung des Menschen« vollzieht,SO dann ist die Metaphysik damit keineswegs überwunden, sondern sie kehrt gleichsam als )negative< zurück: in der Universalität des )historischen Bewußtseins< erschließt sich die Totalität der geschichtlichen Welt dem Verstehen um den Preis, daß sie ihre inhaltliche Normativität verliert und in eine unermeßliche Fülle )obliquer< Formen auseinandertritt, deren fQrmales Einheitsmoment ihre gleichartige Generierung ist. Der Praxisbezug >philosophischer Besinnung<, der sie nach »Prinzipien oder Normen [suchen läßt], welche das Leben in ausreichender Weise zu regeln imstande seien«,s I und der die )Analysis des Verstehens< zu Recht auf die Frage nach der Allgemeingültigkeit des Verstehens festlegt, kehrt sich damit gegen sich selbst: er hebt die Möglichkeit von Normativität auf, sofern unter dem Aspekt der Genesis alles gleiche Geltung beanspruchen kann. Auch in dieser Problematik ist die hermeneutische Position Diltheys paradigmatisch fijr die sie weiterbildende phiJosophische 65
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Hermeneutik: Es gehört zu einer der Irritationen phiJosophischer Hermeneutik, daß sie entweder die Normativität aufhebt (Heidegger) oder aber in deren Ausarbeitung, ihrem antimetaphysischen Impuls zuwider, die Metaphysik wiederbelebt (Gadamer) ..52 Dilthey hat immer wieder den Primat der Praxis betont: »Der Zweck des Menschen [ist] Handeln«,.53 »nicht, um zu sein, ist der Mensch da, sondern um zu handeln« ..54 Mit dem Begriff >Besinnung< wird die Zugehörigkeit der philosophischen Reflexion zur Lebenspraxis ineins mit ihrem Verfahren auch terminologisch angegeben. In der >philosophischen Besinnung< soll die »Selbstbesinnung des Lebens« lediglich methodisch radikalisiert,55 soll das vorwissenschaftliche Nachdenken über sich selbst und die bestimmende Bedeutung des eigenen Lebens in ein »zusammenfassende[s] Bewußtsein«.56 gebracht werden: »In der Selbst besinnung, welche den ganzen unverstümmelten Befund seelischen Lebens umfaßt, hat sie ihre Grundlage« ..5? Das kaum verdeckte polemische Pathos dieser Bestimmung philosophi· scher Reflexion richtet sich gegen den Rückgang in die transzenden· tale Subjektivität als den Grund gegenständlicher Erkenntnis und Geltung. In ihr ist das Seelenleben nicht bloß unvollständig, sondern auch entstellt. »ln den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit«,,58 lautet Diltheys lebensphilosophische Kritik in der Vorrede zu seiner Einfeilllng in die Geisteswissenschaften. Statt in den Selbslbezug des transzendentalen Subjekts hat die Grundlegung in den »realen Lebensprozeß«.59 geschichtlicher Individuen zurückzugehen. Die reflexive Bewegung des Rückgangs und seine erkenntnistheoretische Absicht bedeuten aber, daß die empirische Korrektur transzendentaler Konstruktion nur scheinbar ist. Der Sache nach ist Diltheys Fragestellung immer noch eine transzendentale. Das bringt sich darin zur Geltung, daß die Grundlegungsdimension nicht in der Hermeneutik, sondern in der Psychologie erreicht wird, die in der >inneren Wahrnehmung< ihren zur >äußeren Wahrnehmung< komplementären Grundbegriff hat. 60 Es macht dabei wohl einen sachlichen, nicht aber einen systematischen Unterschied, daß Dilthey die zugrundezulegende Psychologie in Opposition zur >erklärenden< naturwissenschaftlichen Psychologie seiner Zeit als eine >beschreibende< konzipiert. Seine deskriptive Psychologie verfahrt im Entwurf eines dynamischen Strukturmodells des individu· ellen Seelenlebens nicht minder konstruktiv. Der Ausgang von der
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>Selbstbesinnung< hätte eine >hermeneutische Wendung< möglich gemacht und zu einer Klärung des im individueUen Lebensverlaur vollzogenen Selbstverständnisses führen können. Da Dilthey aber das methodische Problem nicht erörtert, wie der übergang von der vorwissenschaftlichen Selbstbesinnung in die erkenntnislheoretisch orientierte philosophische ReOexion vor sich geht, so behält die Psychologie durchgehend die Stellung erkenntnistheoretischer Grundlegung. In ihr verschwindet auch der als ursprünglich und unaufhebbar behauptete Praxisbezug )philosophischer Besinnung<, Innerhalb der deskriptiven Psychologie wird nun auch der Vorgang des Verstehens thematisiert; und die Bestimmungen, die er hier in einer )subjektiven Wendung< erhält, bleiben auch dann gültig, wenn in den späten philosophischen Fragmenten Diltheys die psychologische Grundlegung in den Hintergrund tritt. Ausgangspunkt ist der Begriff der >inneren Wahrnehmung<, der in den Begriff der )inneren Erfahrung< und schließlich in den Grundbegrirr der Diltheyschen Theorie des Verstehens, den Begriff des >Erlebnisses<, übergeht. In der )inneren Erfahrung< ist sich die aller Wissenschaft vorausliegende lebendigkeit ihrer selbst >inne<. Solches )Innesein< hat seine unmittelbare, nichthintergehbare Evidenz, die sie als »eine unterschieden charakterisierte Art« kennzeichnet, »in welcher Realität für mich da ist. Das Erlebnis tritt mir nämlich nicht gegenüber als ein Wahrgenommenes oder Vorgestelltes; es ist uns nicht gegeben, sondern die Realität Erlebnis ist für uns dadurch da, daß wir ihrer innewerden, daß ich sie als zu mir in irgendeinem Sinn zugehörig unmittelbar habe. Erst im Denken wird esgegenständlich.«61 Die unmittelbare und vorreOexive )Gelichtetheit< des sich inneseienden Lebens ist die rundamentale Tatsache, hinter die »das Denken nicht zurückgehen« kann. 62 Für sie ist zugleich charakteristisch - und das ist der entscheidende Neuansatz der Diltheyschen >beschreibenden Psychologie< -, daß sich das Leben immer als ein vorgängiger Zusammenhang, als eine dynamische Einheit erschlossen ist. Die deskriptive Psychologie kann das »Seelenleben« deshalb nicht aus einfachen, durch Abstraktion gewonnenen Elementen >erkIäreß(,6J sondern muß seinen ursprüpglich gegebenen »erlebten Zusammenhang«64 )zergliedern( und >beschreiben(. Von der nicht weiter auOösbaren, letzten Gegebenheit des »Inne-Sein[s]« aus 6S entraltet sie das individuelle »Seelenleben« in den unterschiedlichen Aspekten der beweglichen bewuBtseinsmäBigen Einheit, in die es sich zusammenschließt. Ihr kommt dabei zugute, daß sie dem individuellen
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Leben nicht, wie der Natur, als schlechthin Fremdem gegenübersteht. In der deskriptiven Entfaltung tritt es vielmehr :tvon innen, als Realität und als ein lebendiger Zusammenhang originalitere auf. 66 Solche Explikation des Lebens :taus ihm selbste geschieht in den :tKategorien des Lebense,61 mit deren Ausarbeitung die Grundlegung konkret geleistet werden soll und mit deren Bestimmung Dilthey auch einen eigenständigen Beitrag zu einer Selbstbewußtseinstheorie gibt, die Selbstbewußtsein als einen an seiner Einheit und Gestalt interessierten LebensvoUzug denkt. Indem das Verstehen dabei eine zentrale Rolle spielt, ist Dilthey ebenfalls für die folgende philosophische Hermeneutik paradigmatisch geworden. Mit dem Terminus >Kategorien des Lebens< ist die Intention der Diltheyschen Grundlegung jedoch nicht voll wiedergegeben. Kant hatte >Kategorien< als »reine Verstandesbegriffee bestimmt, :tdie apriori auf Objecte gehene,68 ohne die also kein Gegenstand gedacht werden kann. Die Kategorien des Lebens aber sollen bei Dilthey nicht :tArten der Auffassunge von Gegenständlichem sein, sondern Weisen, wie individuelles Leben selber >da istc 69 Für sie gilt, daß sie :tnicht apriori auf das Leben als ein ihm Fremdes angewandt werden, sondern daß sie im Wesen des Lebens selber liegene. 'o Die Kategorien des Lebens sind nicht sekundäre :tArten der Formung, sondern die strukturellen Formen des Lebens selbst in seinem zeitlichen Verlauf kommen in ihnen zum Ausdrucke. '1 Als solche im individuellen Lebensvollzug erscheinende strukturelle Formen der Selbstkonstitution und Selbstexpljkation 12 nennt Dilthey die Lebenskategorien auch »realee. 13 Um ihren veränderten ontologischen Status deutlicher anzuzeigen, bezeichnet M. Heidegger sie dann als :t Existenzialiene. 14 Sie stehen zudem in einer spezifischen Zweideutigkeit: Die Kategorien des Lebens haben als )reale Kategorien<, in denen die strukturellen Formen individuellen Lebens zur Darstellung kommen, hermeneutische Relevanz. Vom Verhalten des Verstehens sagt Dilthey, daß es :tsich in eigenen Kategorien [vollziehe], welche dem Naturerkennen als solchem fremd sinde. 's Die realen Lebenskategorien sind zugleich die hermeneuti· sehen Kategorien des Verständnisses von Leben, denn es gilt: :tLeben erfaßt hier Lebene. '6 Diese Merkwürdigkeit, daß die hermeneutischen Kategorien als Auffassungsarten nicht dem auffassenden Verstehen entstammen, sondern als reale Kategorien Strukturformen des individuellen Lebens darstellen, macht besonders prägnant deutlich, daß der Verstehensbegriff trotz seiner zentralen Rolle für die Er-
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kenntnistheorie nicht ursprünglich gewonnen ist. Im Rahmen der Strukturbestimmungen individuellen Lebens kommt ihm keine Eigenständigkeit zu; und doch hat dies für eine Hermeneutik der Individualität zunächst anscheinend durchaus positive Folgen: die realen Lebenskategorien als henneneutische gefaßt, sichern die volle Verständ· lichkeit fremder Individualität. Sie bilden sozusagen die >generative Grammatikc individuellen Lebens, nach deren Regeln sein Strukturund Bedeutungszusammenhang erzeugt und verstanden wird. Die semantische Komponente f,Hlt dabei freilich aus, was um so merkwürdiger erscheint, als die Kategorie der )Bedeutung( ihrer sachlichen und systematischen Funktion nach die zentrale Lebenskategorie ist und, wie Dilthey sich vorsichtig genug ausdrückt, »offenbar einen beson· ders nahen Zusammenhang zum Verstehene hat. 77 Als Kategorie be· zeichnet >Bedeutung( eine bestimmte »strukturelle Forme, einen bestimmten .»Gesichtspunkte des Wechselverhältnisses von Teil und Ganzem innerhalb der Einheitsbildung individuellen Lebens," deo Wirkungsbezug der >Bedeutsamkeit( (relevance); jeder Anklang an den lingwstisch-semiologischen Bedeutungsbegriff (meaning) ist zunächst femzuhalten. Statt von >Bedeutung( kann Dilthey auch von )Kraft( sprechen. 19 Das Gleiche gilt von den anderen Lebenskategorien )Wert(, >Zweckt, >Entwicklung( und lGestalt<:80 sie sind Strukturbegriffe, die nicht auf Inhalte, sondern auf die Bedingungen von Inhalten zielen. Diesen )strukturalistischen( Charakter der Diltheyschen Lebcnskategorien zu betonen ist wichtig, weil Dilthey selbst ihn in der erkenntnistheoretischen Klärung derbewußtseinsmäßigen Formen, in denen der in den Lebenskategorien artikulierte Strukturzusammenhang )gegeben( ist, wieder verwischt. Das primäre Interesse geisteswis· senschaftlicher Grundlegung an der vollen Verständlichkeit fremder Individualität führt hier dazu, daß die Strukturbestimmungen in dersich in >Erlebnis<, >Ausdruck( und >Verstehen( artikulierenden - Bewegung individueller Selbsterfassung nun doch inhaltlich gefaßt werden: >Bedeutung( als Aspekt struktureller Einheit wird mit >Bedeutung( als Korrelat des Ausdruck.verstehensgleichgesetzt. Will man das nicht einfach als eine undurchschaute Äquivokation abtun, die bedauerlicherweise zum Fehlen einer Bedeutungstheorie führt SI und die zudem die Unvereinbarkeit des genetischen und des hermeneutischen Ansatzes geschickt verdeckt, dann ergibt sich für die hermeneutische Theorie Diltheys, daß es in ihr gar nicht um ein Verstehen von Sinn geht, das wie auch immer auf SprachJichkeit bezogen wäfe, sondern
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um das _Wiederfinden« vorgängig existierender psychischer Struktu· ren,1l die in den Lebenskategorien so thematisiert werden, daß sie in der hermeneutischen Theorie universalisierbiu sind. u Es ist die Posi· tion eines konsequenten _ontologischen Strukturalismus«," die sich hier abzeichnet. Der Ursprung der Strukturbestimmungen liegt in der Polarität des temporalen und des teleologischen Charakters individuellen Lebens. Im _Leben ist als erste kategoriale Bestimmung desselben, grundlegend für alle andern, die Zeitlichkeit enthahen«.85 Grundlegend ist >Zeit< nicht bloß deshalb, weH sie in ihrer DimensionaLität die Gliede· rung der Lebenskategorien vorzeichnet;" sie ist es vor allem durch ihren Charakter der _Korruptibilität«,'l des :.rastlosen Fortrükken(s)«," der _überwunden wird durch einen Zusammenhang, der das zeitlich voneinander Getrennte in eine innere Verbindung setzt«. 19 lm _Schmerz über die Endlichkeit (liegt] die Tendenz seiner Aufhebung, Streben nach Realisation und Objektivierung«,. eine Tendenz, die Dilthey im limmanent teleologischen( Charakter indivi· duellen Lebens zu fassen meint." Leben hat kein außerhalb seiner auffindbares Telos, von dem her es seine _Gebrechlichkeit«'2 aufheben und sich zu einer sicheren Ord· nung bestimmen könnte. Gleichwohl ist es in sich selbst teleologisch, d. h. auf ein Ziel hin geordnet, das es >Von innen her< aus sich selbst und für sich selbst zu erreichen sucht. Wenn :.die in ihm bestehende Zweckmäßigkeit (...] nicht einen ihr durch die Natur oder Gott vorge· schriebenen Zweck« realisiert, es überhaupt kein :.bestimmtes Ziel (erwirkt]«, sondern _nur Zielstrebigkeit [enthält]«,93 dann bedeutet der .Charakter immanenterTeleologie«,94 daß das Leben sich in eine Ordnung bringt, in der es gegen seine Hinfalligkeit seine Zielstrebigkeit als solche zu bewahren sucht. _Sofern der Lebenszusammenhang dies vollzieht, bezeichnen wir ihn als Kraft.c 95 Nicht >Zeite, sondern >Krafte wäre also die eigentliche Ursprungskategorie der Strukturbestimmungen, die dementsprechend als _Energiebegriffe« aufzufassen wären. 96 Was lediglich wie eine Akzentverschiebung in der Charakterisierung des Lebens aussieht, hat ontologische Bedeutung. Ist die Ur· sprungskategorie lKraft(, so gilt Umberto Ecos Kritik des _ontologi· sehen Strukturalistenc, daß er die Kultur untersuche, _um sie in NaJura Narurata zu übersetzen, in deren lnnerstem er die (ein für allemal einzige) Nalura NaJurans anwesend und wirkend erkenntc. 97 Ist die
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Ursprungskategorie )Zeit<, so wäre es möglich, zugleich mit den tem· poral bestimmten Lebenskategorien jenen Grundcharakter der Nich· tigkeit individuellen Lebens, den Dilthey immer wieder als Gebrechlichkeit, Fremdartigkeit, Dunkelheit und Rätselhaftigkeit be· schwön,98 in die Hermeneutik der Individualität mit einzubeziehen, ja die »Endlichkeit in allem, was Leben ist«," wirklich zum Grund der Individualität und ihres Verständnisses zu machen - und zwar so, daß sie nicht in der Konstruktion eines hermeneutischen Objektes verschwindet. 100 Daß diese Möglichkeit einer Begriindungder Individua· lität und ihres Verständnisses, die in Diltheys Ausgang von der Erfahrung >endlicher Zeitlichkeit< durchaus enthalten ist, nicht wirksam wird, daß die Strukturbestimmungen des individuellen Lebens, gleich ob sie von der Kategorie der )Zeit( oder von der Kategorie der )Kraft( aus entfaltet werden, den Vorzeichnungen einer >Ontologie der Präsenz< folgen, 101 ist eine Folge der von Dilthey zugrunde gelegten Bestimmung von Zeit. Dabei ist es freilich ein wichtiger systematischer Schritt hermeneutischer Theoriebildung, daß Dilthey überhaupt in eine Theorie von Zeit und Zeitlichkeit zurückgeht. Philosophische Hermeneutik ist ihm darin gefolgt, wenn sie die Zeitlichkeit des her· meneutischen Vorgangs zu ihrem zentralen Thema macht. 102 Dilthey unterscheidet die »reale Zeih: des Lebens von der >mathematischen Zeit< des linearen Verlaufs und bestimmt die reale Zeit in Abhebung von ihr als »das rastlose Vorrücken der Gegenwan«, das »beständige Versinken des Gegenwänigen«, das sich nach rückwärts, in der Vergangenheit, und nach vorwärts, in der Zukunft, .. im Dun· kein verliert«. 10J Der Charakter der >Korruptibilität( und der >Dirnensionalität< der )wirklichen Zeit( individuellen Lebens läßt sich also von der lmathematischen Zeit< her nicht klären. Die Anwendung der )ma· thematischen Zeite auf das individuelle Leben führt vielmehr in den doppelten Widerspruch, daß, obwohl »wir immer in der Gegenwart leben«, 104 »die Gegenwart niemals ist« 105 und daß sie »keine Ausdehnung hat«. 106 Wenn Diltheys Bestimmung der >realen Zeit< die durch die )mathematische Zeit< gestellten Widersprüche auch auflöst, bleibt doch die )mathematische Zeit< für die Zeitdefinition maßgebend. Das bedeutet: der Begriff der >realen Zeit< ist nicht ursprünglich gewonnen, sondern abgeleitet, und alle den Begriff der )realen Zeit< explizie· ren den kategorialen Bestimmungen des Lebens sind Konstruktionen, die zu ihrer ,Haltbarmachung( unterschiedliche Ausformulierungen verlangen. Das gilt insbesondere von der Explikation der >realen Zeit< 71
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in dem für Diltheys hermeneutische Position grundlegenden Ecgriff des )Erlebnisses<. Die Definition der >realen Zeit< beruht auf einer Neubestirrmung von )Gegenwart<. lGegenwart< ist nicht der ausdehnungslose Jetztpunkt unendlicher Sukzession, das Jetzt, das »eben dieses ist: inoom es ist, schon nicht mehr zu seine (Hege!), 107 sie ist vielmehr die »Erfüllung eines Zeitmomentes mit Realität [...), die in fortrückender Zeit kontinuierlich und immer bestehte. 108 lGegenwart< ist »immer da«; 109 nicht der Charakter des Nichtseins, sondern des Wirklichseins, des intensiven Daseins und der »Lebensfüllee gilt für sie. 110 Dilthey illustriert den Wirklichkeitscharakter der >Gegenwart< mit dem poetischen Bild des Lebensschiffes, das auf dem Zeitstrom dahingetragen wird: I11 »Gegenwart ist immer, wo wir auf diesen Wellen leben, leiden, wollen, erinnern, kurz wo wir in der Fülle unserer Realität erleben.c 111 lErieben< als Intensivum zu lLeben< interpretiert den zeitlichen Charakter individuellen Lebens als einen qualitativen, als Steigerung von Kraft, Stärke und Fülle. Im Begriff des lErlebens< oder des >Erlebnisses<, die Dilthey ausdrücklich synonym gebraucht, 113 ist aber nicht nur der >energetische< Charakter kontinuierlicher »Erfüllung [...] mit Realität« gemeint. >Erleben< und lErlebnis< haben zugleich eine faktitive und resultative Bedeutung, in der von der qualitativen Bestimmung von >Gegenwart< aus die »Konstanz des Lebense 114 und seine Dimensionalität entfaltet werden. Um im Begriff )Erlebnis< die überdauernde Einheitlichkeit individuellen Lebens zu fassen, wird anstelle des qualitativen Verhältnisses von Fülle und Leere das strukturelle Verhältnis von Teil und Ganzem maßgebend. Die Schwierigkeit, die Zeitlichkeit und die überdauernde Einheitlichkeit des individuellen Lebensverlaufs im Verhältnis von Teil und Ganzem miteinander zu verbinden, liegt für Dilthey zuerst darin, daß das individuelle Leben als zeitlicher Vollzug (>Erleben<) prinzipiell unabgeschlossen ist und erst am »Ende des Lebensverlaufes«, »in der Todesstundee 115 sich zu einem überschaubaren Ganzen zusammenschließt, daß die formale Ganzheit individuellen Lebens also immer und notwendig aussteht; 116 ferner darin, daß sich auch keine inhaltlich definierte Ganzheit aus einer vorausliegenden Sinnbestimmung individuellen Lebens angeben läßt, 117 daß insgesamt also die Anwendung des Begriffs >Ganzes< auf das Leben problematisch ist. Eine weitere Schwierigkeit, ein »unauflösbares Rätsel«, sieht Dilthey 72
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in der Verhältnisbeziehung selbst, sofern »im Verhältnis des Ganzen zum Teil [...] an sich nicht [liegt], daß der Teil eine BedeulUng für das Ganze habe«.llllm Begriff der >Bedeutung< aber soll der für das individuelle Leben spezifische Zusammenhang von Teil und Ganzem faßbar sein. Die Aporien der Diltheyschen »Bedeutungslehre« 11' sind damit vorgezeichnet: Gegenüber einer möglichen >henneneutischen< Interpretation der Kategorie >Bedeutungc 110 definiert sie nahezu durchgehend >Bedeutungc als Verhältnisbestimmung, als )Bedeutsamkeit<; da das Ganze, für das derTeil eine Bedeutung hat, aberprinzipiell unabgeschlossen ist und aussteht, kann aus ihm kein Kriterium für die Bedeutsamkeit des Teils angegeben werden. Die lBedeutung( hat deshalb »unbestimmt-bestimmten« Charakter und ist »niemals ganz vollzogen«. 111 In der »Bedeutungslehre« macht sich damit die gleiche systematische Schwierigkeit geltend wie in Diltheys Versuch, die lmathematische Zeit( in der Bestimmung der >realen Zeit( zu überwinden. In ihr müßte der gegen die >erklärende Psychologie( behauptete ursprüngliche und einheitliche Zusammenhang individuellen lebens so bestimmt werden, daß die ontologischen Voraussetzungen >erklärender Psychologie( nicht mehr fortgelten. Indem aber das Verhältnis von Teil und Ganzem unbefragt für die Bestimmung individuellen Lebens übernommen wird, wird die >erklärende Psychologie( nicht wirklich überwunden; sie bleibt in der Abwehr wirksam - als lNaturalisierung( des Lebensverlaufs. Die Schwierigkeit, den zeitlichen und in sich zugleich einheitlichen Verlauf individuellen Lebens im Verhältnis von Teil und Ganzem zu fassen, betrifft schließlich auch den Teil, den mit Realität erfüllten jeweiligen gegenwärtigen Lebensmoment. Der jeweilige Lebensmoment ist nur die kleinste Einheit innerhalb des Ganzen des Lebensverlaufs; das Ganze des Lebensverlaufs ist wiederum nur in dem jeweiligen Lebensmoment da. Die Paradoxie, daß der Teil zugleich das Ganze enthält, dessen Teil er doch ist, löst Dilthey ebenfalls in der Kategorie der >Bedeutung( auf. Als lreale Kategorie< »wohnt sie«, wie er sagt, »dem Leben (...] ein als die eigentümliche Beziehung, die zwisehen seinen Teilen obwaltet«. m Die lBedeutungsbeziehung( umfaßt den Bezug der Lebensmomente untereinander und den des jeweiligen Lebensmomentes zum ganzen Lebensverlaufi nur so ist der »Lebenszusammenhang [...] nicht eine Summe oder ein Inbegriff aufeinanderfolgender Momente, sondern eine durch Beziehungen, die alle Teile verbinden, konstituierte Einheit«.l2J Die gemeinsame Bedeutung ist
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000-47~~S einheitsbildende Moment des Lebensverlaufs, für dessen Bestimmung angesichts der dargestellten Aporien das formale Verhältnis von Teil und Ganzem nicht ausreicht. Die Bedeutsamkeit der Lebensmomente ist durch einen _eigenen Charakter von Präsenz« charakteri· siert. Dilthey bestimmt ihn im Rückgang auf den BegriH der )Kraft< entweder als deren Fortbestehen und Fortwirken m - Einheit meint also die Einheit eines Wirkungszusammenhangs,l2.5 in dem die Bedeutsamkeit aus der sich verändernden, aber fortdauernden Wirksamkeit resultiert -, oder aber als deren Ausfaltung in ihre )ganze Fülle(, die nicht fortschreitende Verdeutlichung einer ein für allemal feststehenden Bedeutsamkeit ist, sondern Herausbildung einer Qualität, eines )Wertes<. 126 Aber weder vom Wirkungsbezug noch vom Wertbezug aus ergibt sich die Einheit des gesamten Lebensverlaurs. Erst wenn die )immanente Teleologie( der Kraft in die Bestimmung aufgenommen wird, nicht nur im Sinne von )Zweckmäßigkeit(, sondern auch von )Vollkommenheit(,läßt sich das die Bedeutung bestimmende Prinzip angeben: die _teleologische Harmonie«, 127 in der individuelles Leben - nicht bloß als Ablauf, sondern als Streben gefaßI 118 - seinen angemessenen Zustand erreicht, angemessen im Hinblick auf seine vitale Einheit und Fülle. Eine solche >anthropologische( Interpretation des Kraftbegriffs bedeutet eine Naturalisierung. In Diltheys CharakterisierungdesBedeutungszusammenhangs individuellen Lebens als eines Strukturzusammenhangs findet sie ihren deutlichen Ausdruck. Im Begriff >Struktur. ist die Permanenz und die Einheitlichkeit und Gegliedertheit angegeben, die Ziel und Ergebnis des individuellen Lebensprozesses ist. >Bedeutung( und >Struktuf( erklären einander: Was im Lebensverlauf als Bedeutung >erlebt( wird, wird in der Erfassung des Lebensprozesses zum »Nexus« 129 eines Zusammenhangs, der sich selbst hervorbringt und darstellt. Der Aspekt der Selbstdarstellung führt weiler: nur als »Explikation«IJO in ihre Ausdrucksgestalt läßt sich die vorgängige Einheit des individuellen Lebensverlaufs wirklich fassen: »Was der Jüngling von Sais entschleiert, ist Gestalt und nicht Leben.«ul Der >Naturalisierung( des Lebensverlaufs in einem anthropologisch verstandenen Begriff von >Kraft( entspricht, so läßt sich sagen, eine >Ästhelisierung( der Lebenserscheinung im Begriff der )Gestalt(. Von ihr aus wird verständlich, warum eine weitere, bei Dilthey nur gelegentlich anklingende Erläuterung der Kategorie >Bedeutung(, die sich am Verhältnis von Wortbedeutung und Satzsinn orientiert, keine
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)hermeneutische Wende( bringt. Maßgebend für die Klärung ist auch hier nur das strukturelle Verhältnis und die» Wechselwirkung« 132 von Teil und Ganzem, in ihrer Dynamik gefaBt als ein »Bestimmen unbestimmt-bestimmter Einzelheiten«,133 das von der vorausliegenden Ganzheit her und auf diese hin sich volweht. Da es Dilthey nur auf die speziflSChe Art des Bezuges ankommt, wird die Möglichkeit, den individuellen Lebensvollzug als ein Ihermeneutisches Geschehen( der Explikation eines Sinnzusammenhanges darzuslellen, nicht thematisiert; ausdrücklich wird für die Kategorie )Bedeulungc der semiologische Bezug von Zeichen und Bezeichnelem ausgeschlossen 1)4 und statt dessen neben dem strukturell-funktionalen Bezug von Teil und Ganzem der genetische Zusammenhang von )innen( und laußen( zur ErkJä· rung herangezogen. Der »Begriff der Bedeutung [...l enthält nur eine Beziehung eines Äußeren, Sinnfälligen zu dem (nneren, dessen Ausdruck es ist«. llS Mh dem Bezug von Iinnerem< und ,Äußerem(, der im Begriff der ,Krafh angelegt ist, sofern es zum Wesen von Krafl gehört, sich zu äußern, ist ein weiteres systembildendes Verhähnis im Aufbau der Diltheyschen Hermeneutik genannt. Der ,immanent-teleologische< Zusammenhang individuellen Lebens vollendet sich erst in seinem, die zeitliche Korruptibilität aufhebenden ,Ausdruck(, wobei ,Ausdruck( den Doppelsinn von )Äußerung< und )Gestall< hat. Sofern in ihm die einheitliche Bewegtheit des Lebensverlaufs in ihr Telos kommt, be· deutet ,Ausdruck< eine qualitative Steigerung des Lebens. Das Ver· hähnis von sich im Erleben bildendem Zusammenhang ()Innerlich· keit<) und Ausdruck ist deshalb nicht das von Zeichen oder Abbild, sondern das derlRepräsentationc. DerlAusdruck< »repräsenliert« den Lebenszusammenhang. 136 lAusdruck< kann deshalb nicht im Sinneder »Ausdrucke, die etwas meinen oder bedeuten wollen«,U? verstanden werden; die Kategorie der ,Bedeutung( wird ausdrücklich nicht im Rahmen sprachlicher Kommunikation definiert - eine der entscheidenden Schwächen von Diltheys hermeneutischer Position. ll7 • IAusdruck( als Repräsentation wird verständlich an Ausdrucksformen wie der Gebärde des Schreckens oder der Miene von Freude und Schmerz, bei denen das Ausgedrückte im Ausdruck selbst da ist. U8 Das Repräsentalionsverhältnis wird problematisch dadurch, daß es über die phänomenale Bestimmlheit solcher Ausdrucksfunktion hinaus auf alle Formen individuellen Handeins ausgedehnl und als »Explikation« charakterisiert wird, »die zugleich Schaffen ist«. 139 Damit
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wird alles zweckrationale oder kommunikative Handeln als >Lebens· äußerung( aus seinem intentionalen Zusammenhang herausgenommen und auf den _Hintergrund des Lebenszusammenhangsc'Neue5<.14. Auch )Ausdruck< ist ein )Energiebegriff<. Als solcher vermag er mehr, _als jede Introspektion gewahren kann. Er hebt aus TIefen, die das Bewußtsein nicht erhelltc.·42 Zugleich gibt er als sinnfallige Äußerung eines loneren dem vorausliegenden Lebenszusammenhang Festigkeit und Dauer: _Was im Erleben ohne Besinnen auftritt, wird im Ausdruck desselben gleichsam herausgeholl aus den Tiefen des Seelenlebens. Denn der Ausdruck quillt aus der Seele unmittelbar, ohne Reflexion und hält dann durcb seine Festigkeit dem Verstehen stande.· 4) Das Moment der )Festigkeil< ist entscheidend; von ihm her kann man sagen, daß der erlebte individuelle Lebenszu· sammenhang wohl im >Ausdruck<, eigentlich aber erst im _dauernd fi· xiertenc Ausdruck sein Telos erreicht.· u Das begTÜndet unter anderem die überragende Stellung der Kunsl und vor allem der Poesie als Ausdrucksgestalt des Lebens. Sofern der Erlebnisausdruck im poetischen Gebilde von praktischen Interessen des Redens und Handeins frei ist und sich mil der Sprache eines zwar gemeinsamen, aber zu vollständigem und erschöpfendem Ausdruck des Individuellen fähigen Mediums bedienl, .4j geht das »Erlebte (...) hiervolJ und ganz in den Ausdruck einc.· 46 Deshalb kann Dilthey auch sagen, daß wir mit dem poetischen Gebilde _in ein Gebiet [treten], in dem die Täuschung endigt [...]. Wahrhaftig in sich, steht es flXiert, sichtbar, dauernd da, und damit wird ein kunstmäßiges sicheres Ver· stehen desselben möglich.c 147 Kunst und Poesie werden zu dem ent· scheidenden »Organ des Lebensverständnissesc,·4e weil die imma· nenHeleologische Bewegung des Lebens hier ihre reinste Ausdrucks· gestalt findet. Der erlebte, gegliederte Zusammenhang des individuellen Lebens·
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verlaufs vollendet sich zwar in seiner Ausdrucksgestalt, er kommt in ihr aber noch nie.ht an sein Ende. In der Dynamik seiner )inneren Kraft< strebt er danach, die )monadische< Existenz 149 seiner Gestalt zu erweitern (aber nieht aufzuheben); es ist »ein unvertilgbares Bedürf· nis, die Erweiterung des Horizontes von Leben, Kraft, Existenz nach allen Seiten zu erstrecken«. ISO Darin liegt das ursprüngliche Interesse an fremder Individualität begründet, das für Dilthey eine Hermeneutik der Individualität auf den Weg bringt. Denn solche >Erweiterung< vollzieht sich im Versteben fremden Daseins, durch das wir, wie Dilthey meint, »uns universal unsere Innenwelt gestalten«,151 - eine Wendung, die die hermeneutische Position Diltheys in all ihrer Fragwürdigkeit besonders klar zusammenfaßt. )Verstehen< ist terminologisch auf das Erfassen >anderer Personen< und )fremder individueller Lebensäußerungen< festgelegt, und nursofern wir unsere eigenen Lebensäußerungen fixiert im )Ausdruck< wie fremde aufzufassen genötigt sind, kann auch vom Verstehen der eigenen Individualität gesprochen werden; im eigentlichen Sinne verstehen wir uns nicht selbst. Eine Maxime aus Goethes Betrachtungen im Sinne der Wanderer in seinem Sinne interpretierend, IS2 begründet Dilthey das nur über den >Ausdruck< mögliche Selbstverständnis mit den >Grenzen der introspektiven Methode<; »nur seine Handlungen, seine fixierten Lebensäußerungen, die Wirkungen derselben auf andere belehren den Menschen über sieh selbst; so lernt er sich nur auf dem Umweg des Verstehens [seiner eigenen fixierten Lebensäußerungen und ihrer Wirkungen] selber kennen.« 153 Trotz der Gebundenheit des Verstehens an den Ausdruck und der Indirektheit des Sclbstverstehens wird die Selbstbiographie für Dilthey zum klassischen Fall von Verstehen, 154 und zwar deshalb, weil in ihr derjenige, »welcher diesen Lebenslauf versteht, identisch list] mit dem, der ihn hervorgebracht hat. Hieraus ergibt sich eine besondere Intimität des Verstehens.« IS5 Freilich ist solche »Intimität« nur eine graduelle Steigerung dessen, was für Dilthey die Bedingung der Möglichkeit allen Ausdrucksverstehens ist: die vorgängige Selbigkeit des Verstehenden und des Zu· verstehenden, kraft deren gilt: »Das Verstehen ist ein Wiederfinden des Ich im DU«.156 Es kann verwundern, daß >Verstehen< fremder Individualität als )Erweiterung< des Eigenen und zugleich als )Wiederfinden< des Eigenen charakterisiert wird. Dieser Widerspruch löst sich in der genaueren Bestimmung des Verstehens als »Nacherleben« auf, das »auf der 77
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Grundlage der allgemeinen Menschennatur« möglich wird. lS7 Maßgebend ist auch hier das lVerhältnis des Äußern und Innem<. Wenn sich die gegliederte und einheitliche Bewegung des Lebensverlaufs (,Erleben<) im Ausdruck entfaltet und zusammenfaßt, Ausdruck aber nicht Signifikation, sondern Repräsentation meint, dann kann das Verstehen anscheinend nur die Bewegung der )dynamischen Einheit< von Erlebnis und Ausdruck in der umgekehrten Bewegungsrichtung nachvollziehen. Im »Gang des Verstehens von außen nach innen« 158 vollzieht das Verstehen aber, wie Dilthey behauptet, tatsächlich ein »Sichhineinversetzen«, d. h. eine» übertragung des eigenen Selbst in einen gegebenen Inbegriff von Lebensäußerungen«, so daß im Hineinversetzen als Verstehen die ursprüngliche Ausdrucksbewegung lwiederholt<, d. h. nacherlebt und nachgebildet wird; 159 ja noch mehr: »Nacherleben ist das Schaffen in der Linie des Geschehens.«J60 Im Gelingen des lnacherlebenden Schaffens< liegt der »Triumph« des Verstehens,l61 der über das Hineinversetzen (Transposition) und Nachbilden (Reproouktion) hinaus ein qualitativ Neues bedeutet. Auch IVersteheo< ist ein IEnergiebegriff<. Im Verstehen als Schaffen liegt die »psychologische Begründung« für den »kühnen Satz [... l, es gelte, einen Autor besser zu verstehen als er sich selbst verstand«. 162 Die die Identifikation des Verstehens (Nacherleben, Nachbilden) ermöglichende vorgängige »Gemeinschaftlichkeit der Menschen untereinander« 163 hat Dilthey in der Ausarbeitung seiner hermeneutischen Position unterschiedlich bestimmt. Zunächst ist die anthropologisch-psychologische Ausformulierung der )Gemeinschaftlichkeit< vorherrschend: die )Gleichartigkeit und Gleichförmigkeit der Menschennatur unter allen geschichtlichen Bedingungen< 164 ermöglicht das Verstehen fremder Individualität. Die Unterschiede zwischen Individuen sind nicht qualitativer, sondern quantitativer Art; sie sind zudem auf der Grundlage einer)zweckmäßiggestalteten Struktur< regelhaft.l 65 »Alle individuellen Unterschiede sind letztlich nicht durch qualitative Verschiedenheiten der Personen voneinander,sondem nur durch Gradunterschiede ihrer Seelenvorgänge bedingt.« 166 Auf der INaturgrundlage< der gleichen psychischen Struktur wird in der Transposition diese Struktur lwiedergefunden< und in der Reproduktion die graduelle Differenz aufgehoben, der eigene seelische Zusammenhang )erweitert< (bereichert). Verstehen fremder Individualität zielt auf deren Aufhebung. Die Lebensfunktion des Yerstehens illustriert Dilthey gelegentlich 78
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an der Möglichkeil, »religiöse Zustände [...] erleben« zu können, die für einen modemen Menschen kaum noch möglich sind. 161 Im Verstehen der Dokumente von Luthers Leben und Wirken und der Quellen der Reformationsgeschichte könne man nämlich einen »religiösen Vorgang von einer solchen eruptiven Gewalt, von einer solchen Energie [... 1, daß er jenseits jeder Erlebnismäglichkeit für einen Menschen unserer Tage liegte, erleben. Denn »nacherleben kann ich ihn«, weil der Unterschied »religiösen Gemütslebense zwischen Luther und seinem modemen Interpreten nur ein gradueller ist. Das Beispiel macht zunächst deutlich, was Verstehen als >Nacherleben< leistet. Der komplexe Vorgang der Geschichte (Reformation) wird auf ein Strukturmoment des Seelenlebens (Religiosität) hin zentriert und in der >genialen Energie< einer>großen religiösen Natur< (Luther) begründet, an ihr kann der Verstehende partizipieren und darin sein individuelles Leben erweitern und steigern. Ein geschichtlicher Vorgang wird strukluriert, aber um den Preis, daß die in ihm verhandelte Sache in den Hintergrund triu und aufgeboben wird in einen Modus »religiöser Lebendigkeite, 168 den der Verstebende nacherlebt. Zu glauben und um den Glauben zu streiten ist etwas anderes, als Glauben nachzuerleben. Der Aufhebung des Sachgehaltesentspricht eine >Entwirklichung( des eigenen Selbst, das »in der Imagination viele andere Existenzen erleben kann«. 169 Gegen diesen von Dilthey unbefangen gefeierten Triumph des bistorischen und ästhetischen Bewußtseins in einer Hermeneutik des Ausdrucksverstehens scheint eine veränderte Bestimmung der vorgängigen )Gemeinschaftlichkeit der Menschen untereinander< einen Widerhalt zu bieten. Wenn Dilthey die» Welt des objektiven Geistes« einführt als das »Medium, in welchem sich das Verständnis anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen vollzieht«,"° dann bedeutet das anscheinend eine wesentliche Korrektur am Psychologismus des Ausdrucksverstehens. Jede Lebensäußerung steht nun in einem doppelten Bezug. Sie ist »erfüllt [...] von einer rn ihrgegebenen Beziebung auf ein Inneres«, und sie ordnet sich ein in eine »Sphäre der Gemeinsamkeit«, in die in sich gegliederte» Welt des objektiven Geistes«. 171 Diese Welt umfaßt die Gesamtheit intersubjektiv gültiger Symbolsysterne, in denen die »Beziehung zwischen der Lebensäußerung und dem Geistigen festgelegte ist. So wie ein Satz nur verständlich ist innerhalb eines in einer Sprachgemeinschaft geltenden Sprachsystems, so erhält auch innerbalb aller anderen Formen des >objektiven Gei-
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stesc das einzelne Phänomen seine Bedeutung innerhalb eines Bedeu· tungssystems. Die Formen des )objektiven Geistes< reichen »von dem Stil des Lebens, den Formen des Verkehrs zum Zusammenhang der Zwecke, den die Gesellschaft sich gebildet hat, zu Siue, Recht, Staat, Religion, Kunst, Wissenschaft und Philosophie«. 112 Neben eine Hermeneutik der Individualität tritt, so könnte es scheinen, eine Art allgemeiner Semiotik der )geistigen Welt<, der Systeme der Kultur. In der Tat ist das bei Dilthey im Begriff des )objektiven Geistes< angelegt; aber dieser, wie er meint, von Hegel »tiefsinnig und glücklich gebildete Begriff« 17J verhindert zugleich die Klärung der )Sphäre von Gemeinsamkeit< in sich selbst und in der Bedingung ihrer Möglichkeit. Indem Dilthey den Begriff des X>bjektiven Geistes< aus· driicklich aus der spekulativen Bewegung des )absoluten Geistesc herausnimmt, wird die Allgemeinheit der )geistigen Welt<, ihr »aus dem Zusammenwirken der Individuen nicht ableitbares Wesen«,IN unbegründbar. Wie aus der »zwischen den Individuen bestehenden Gemeinsamkeit« 115 in deren )Objektivationc »überindividuelle Subjekte« 176 entstehen, kann Dilthey schließlich doch nur im Rückgang auf das »schaffende Individuum« erklären, »das sich zugleich als Repräsentation von Gemeinsamkeit« zeigen soll, 177 - wohl in der Weise, daß sich in ihm die )allgemeine Menschennatur< in besonderer Energie, Kraft und Mächtigkeit ausdrückt und so allgemeine Geltung gewinnt. Was Dilthey derart noch für Sitte, Recht, Religion, Kunst und Philosophie meint darstellen zu können, 178 findet spätestens an dem immer wieder zur lIlustration des Begriffs )objektiver Geist< gebrauchten Beispiel )Sprache< seine Grenze. Nicht von ungefähr kommt Sprache in der Reihe der Formen des >objektiven Geistes< selbst nicht vor, sondern exemplifiziert nur einen Verweisungscharakter. Der im Ausdrucksverstehen vollzogenen Aufhebung des Individuellen in den Lebensprozeß entspricht die Individualisierung des AJIgemeinen im nicht-spekulativen Begriff des X>bjektiven Geistes<; sowohl das Individuelle wie das Allgemeine, die )Kraft des Individuums< und der )objektive Geist< sind Lebensäußerungen derselben )Men· schennatur< und ontologisch nicht unterscheidbar. Daß die Erweiterung des Ausdrucks zu einer »zweifachen Relation« 179 - der Rückbezug auf ein )Inneres< und die Einordnung in ein Gemeinsames - die Psychologisierung des Verstehensbegriffes nicht überwindet, zeigt sich daran, daß Dilthey den beiden Bezügen zwei Formen des Verstehens zuordnet: 180 Das )elementare Verstehen< bewegt sich unreflek-
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tiert in der Sphäre der Allgemeinheit ()()bjektiver Geist<), während die )höheren Formen des Verstehensc den >Rückgang in den ganzen Le~ benszusammenhang< (Individualität) im Nacherleben vollziehen. Auch wenn das >höhere Verstehen< (Nacherleben) ein »intellektueller Prozeß von höchster Anstrengung« 181 und nicht >Nachempfinden< ist, bleibt es in den dargestellten Aporien des Ausdrucksverstehens befangen. Dilthey beruft sich für die psychologische Konzeption des Verstehens auf Schleiermacher, den er lediglich zu radikalisieren meint,'82 wenn er Schleiermachers unaufhebbare Duplizität von grammatischer und psychologischer Interpretation in der Unterscheidung von elementarem und höherem Verstehen aufnimmt, erweitert und einseitig zugunsten der psychologischen Interpretation verschiebt. Die Berufung beruht auf einem deutlichen Mißverständnis und macht die entscheidende Aporie von Diltheys hermeneutischer Position sichtbar: Die Balance zwischen grammatischer und psychologischer Interpretation kann nicht einfach verschoben werden. ohne daß der Aspekt der Vermittlung verloren geht. In der grammatischen Interpretation ist die Sprache als die »objektive Totalität«, 183 innerhalb deren individuelle Rede anhebt, in einer Weise festgehalten, die sie bei Dihhey als bloßes Ausdrucksmittel verliert; auch für die psychologische Interpretation ist die Berufung auf Schleiermacher zweifelhaft: es geht diesem hier gar nicht um )Nacherleben< fremden Seelenlebens, sondern um die Einsicht in den ltProzeß der Gedankenerzeugung (...) (im] Verhältnis zum Wesen des Denkens selbst«. 184 Darum zielt die Schleiermachersche Hermeneutik auch nicht auf das Verständnis der Indivi· dualität, sondern auf die Bewegung der Vermittlung von Einzelnem und Allgemeinem durch die Individualität. 18S Die Notwendigkeit sol· eher Vermittlung ergibt sich für Dilthey im Grunde nicht; und selbst dort, wo sie in der )zweifachen Relation< des Ausdrucks in den Blick kommt, wird sie nicht zur Aufgabe, weil das Individuelle und das All· gemeine in der vorgängigen Einheit des Lebens stehen. Der Herme· neutik der Individualität als einer Theorie des Entstehens von Aus· druck entgleitet das, was ihr Interesse ausmacht, die Individualität, und es entgleitet ihr zugleich deren )Medium<, das Allgemeine. Was hermeneutische Theorie nötigt, über Diltheys Position hinaus· zugehen, die Aufhebung der Erscheinungen in den einen LebensprozeB, erschien den Zeitgenossen gerade als das Faszinierende und Produktive. Hugo von Hofmannsthai hat dem in seinem Nachruf auf Dil·
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they enthusiastischen Ausdruck gegeben: • Wie lebte nicht für diese Augen eine geistige Weit, und Wehen über Wehen, Schicht über Schicht, und eins im andem gespiegelt, und eins aus dem andem ge· zeugt, und Verwandlung überall, und Einheit überall [... J. Was sich heraufwindet durch die Zeit, und ist doch einheitliches Wesen, und wirkt sich aus, in Individuen, in Institutionen, nun dichterisch und heißt Hans Sachs, nun sittlich-seelenhaft und heißt LUlher, nun denkerhaft und heißt Leibniz, nun anonym als ein Statulum und heißt Preußisches Landrecht, diesem Proteischen sein Eigentliches abgewinnen (... l, das heißI Philosophie treiben, das heißt eines Philoso· phen Leben leben.« 186 Man wird Hofmannsthais Idealismus des Lebensgefühls, der ihn mit Dilthey verbindet, nicht mehr folgen können; zurück bleiben die Aporien einer Hermeneutik, derin ihren systematischen Grundbegriffen das hermeneutische Problem selbst entglitten ist.
Anmerkungen Wilhe1m Dillheys Arbeiten werden zitien nach den bisher in achtzehn Bänden erschienenen Gesammelten Schriften (künftig zitiert als Ges. Sehr.) - und 'wO< Band 1: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, hrsg. v. B. Groethuysen, Stuttgart/Göttingen 81979: Band 2: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. Abhandlungen zur Geschichte der Philosophie und Religion, hrsg. v. G. Misch, StuttgartlGöuingen 10 1977; Band 5: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfle: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. hrsg. v. G. Misch, StulIgartlGöttingen '1974; Band 6: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Zweile Hälfte: Abhandlungen zur Poetik, Ethik und Pädagogik, hrsg. v. G. Misch, StuugartlGöttingen '1978; Band 7: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hrsg. v. B. Groethuysen, Sluugan/Götlingen 71979; Band 8: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, hrsg. v. B. Groethuysen, StulIgartlGöttingen 51977; Band 13: Leben Schleiermachers. Erster Band, hrsg. v. M. Redeker, zwei Halbbände, Göttingen, J 1979; Band 14: Leben Schleiermachers. Zweiter Band: Schleiennaehers System als Philosophie und Theologie, hrsg. v. M. Redeker, zwei Halbbände. Göttingen 1966;
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Band 18: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften (1865 bis 1880), hrsg. von H. Johach u. F. Rocli, Göttingen 1977.
1 Ges. Sehr. V, S. 317-338; Ges. Sehr. XIII u. XlV. 2 Ges. Sehr. XVIII, S. 19ft. 3 Ges. Sehr. I, S. 4. 4 Martin Heidegger, Sein und Zeit, (hrsg. v. F.·W. von Hemnann), Frankfurt/Mo 1977 (= Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 2), Originalpag. S. 46f.,S. 397ft. Vgl. dazu auch Georg Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen Richtung mit Heidegger und Husserl, Dannsladt 31967. 5 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41975, S. 205-240. Gadamers Hermeneutik kann durchgehend, wie er selbst bemerkt, als eine überwindung der Ausdruckshermeneutik gelesen werden (ebd. S. 476). 6 Vgl. Jost Hermand, Synthetisches Interpretieren. Zur Methodik der Literaturwissenschaft, München 1968; Karol Sauerland, Diltheys Erlebnisbegriff. Glanzzeit und Verkümmerung eines literarischen Begriffs, Berlin/New York 1972. 7 Vgl. auch Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 31975, S. 178-233; Manfred Riedei, Verstehen oder Erklären? Zur Theorie und Geschichte der hermeneutischen Wissenschaften, Stuttgart 1978. 8 Vgl. Georg Lukäcs, Die Zerslörung der Vernunft, DarmstadtlNeuwied 1962 (= Werke, Bd. 9), S. 363-386; Bemd Peschken, Versuch einergermanistischen Ideologiekritik. Goelhe, Lessing, Novalis, Tieck, Hölderlin, Heine in Wilhelm Diltheys und Julian Sehmidts Vorstellungen, Stultgart 1972. 9 Vgl. die Darstellung von Hans Ineichen, Wilhelm Dihhey (1833-1911), in: Q. Höfte (Hg.), Klassiker der Philosophie, Bd. 2: Von Immanuel Kant bis Jean-Paul Same, München 1981, S. 187-202. 10 Ges. Sehr. 1,3-120; Ges. Sehr. VII. 11 Die Wirksamkeit Diltheys ließe sich in der Germanistik an Friedrich Gundolf, Rudolf Unger, Hennann August Korff, Paul Kluckhohn, Emil Stai· ger u. a. nachweisen, in der Theologie an Karl HolI, Rudolf Buhmann u. a., in der Pädagogik an Eduard Spranger, Hermann Nohl, Friedrich BoUnow u. a. Die Wirksamkeit reicht bis in die )neue Anthropologie<. 12 Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hrsg. v. E. Beutler, Zürich 1948 (= Johann Wolfgang Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe u. Gespräche, Bd. 24), S. 399 (3. 3. 1830). 13 Hugo von Ho(mannsthal, Wilhelm Dilthey, in: Hofmannsthai, Prosa m, (hrsg. v. H. Steiner), Frankfurt/M. 1952 (= Gesammelte Werke in Einzelausgaben, [Bd. 7]), S. 53-56, hier S. 56. 14 Ebd. S. 54. 15 Ges. Sehr. V, S. 241 ff. 16 Ges. Sehr. V, S. 9. 17 Ges. Sehr. I, S. IX; V, S. 9, VII, S. 191 u. ö. VgJ. Peter Krausser, Kritik
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der endlichen Vernunft. Diltheys Revolution der aUge meinen Wissenschaftsund Handlungstheorie, Frankfurt/M. 1968, S. 84-92, 210-219. 18 Ges. Sehr. V, S. 27. Vgl. Der junge Dillhey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern. 1852-1870, hrsg. v. C. Misch, SlullgartlGöuingen l1960, S. 120. 19 Ges. Sehr. XVIII, S. 19rf. 20 Ges. Sehr. I, S. 4. Dilthey nennt sie auch .moralisch-politische Wissenschaften. (Ges. Sehr. V, S. 31 u. ö.). Zur Problemgeschichte des Terminus lGeisteswissenschaften<, den Dilthey nur sehr zögernd übernimmt, vgL Erich Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, Darmstadt 1965, S. 4-16; Alwin Diemer, D.ie Differenzierung der Wissenschaften in die Nalurund Geisteswissenschaflen und die Begründung der Geisteswissenschaften als Wissenschaft, in: ders. (Hg.), Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie im 19. Jahrhundert, MeisenheimlGlan 1968, S. 174-223. 21 Ges. Sehr. V, S. IOf. 22 Ebd. S. 317; vgl. Ges. Sehr. VII, S. 21Of. 23 Ges. Sehr. VlI, S. 86f.; V, S. 318. 24 Ges. Sehr. V, S. 317; vgl. ebd. S. 33H., VII, S. 215f!. 25 Ges, Sehr. VII, S. 216; vgl. ebd. S. 143. 26 Ebd. S. 212. 27 Ges. Sehr. V, S. 241. 28 Ebd. S. 317. 29 Ebd. S. 318. 30 Ebd. S. 333 f.; vgl. ebd. S. 327. 31 Ebd. S. 279ff.; VI, S. 185ff.; VlU passim. 32 Ges. Sehr. VII, S. 42f. 33 Vgl. Riedel, Verslehen oder Erklären?, S. 3, 23 u. Ö. 34 Wilhelm Dillhey, Das Erlebnis und die Dichtung, Göttingen Ij1970, S. 124-186. Vgl. dazu die ideologiekritisc:he Analyse des Goethe-Essays von Peschken, Versuch einer germanistiSchen Ideologiekritik, S. 11-49. 35 Ges. Sehr. V, S. 317-338; XIV/2, S. 595-787. 36 Ges. Sehr. 11, S. VlII. 37 Vgl. Ges. Sehr. 1 und n. 38 Ges. Sehr. VII, S. 6; vgl. Ges. Sehr. VI. S. 189. 39 Ges. Sehr. I, S. 125t. 40 Ebd. S. 126. 41 Ebd. 42 Ges. Sehr. 11, S. 437; vgl. Ges. Schr. I, S. 364t. 43 Der junge Dihhey, S. vn. 44 Ges. Sehr. vm, S. 200. 45 Vgl. ebd. S. 7St., 198. 46 Ges. Sehr. I, S. 133. 47 Ges. Sehr. VIII, S. 78. 48 Ges. Sehr. VI, S. 6. 49 Ges. Sehr. I, S. 386; 11, S. 494ff. 50 Ges. Sehr. VII, S. 290. 51 Ges. Sehr. VI, S. 189.
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52 Vgl. Heinrich Anz, Die Bedeutung poetischer Rede. Studien zur hermeneutischen Begründung und Kritik von Poetologie, Kopenhagen/Münehen 1979 (:: Text & Kontext, Sonderreihe Bd. 6), S. 54ff. 53 Ges. Sehr. V, S. 27. 54 Ebd. S. XV. 55 Ges. Sehr. I, 178f.; VHI, S. 183ft.; XIV/I, S. 463f. 56 Ges. Sehr. V, S. 430. 57 Ebd. S. 151. 58 Ges. Sehr. I, S. XVIII. 59 Ebd. 60 Vgl. Ges. Sehr. V, S. 170ff., 243ff. 61 Ges. Sehr. VI, S. 313f.; vgl. Ges. Sehr. VII, S. 27f. 62 Ges. Sehr. V, S. 5; VII, S. 361; VIU, S. 184, 193 u. Ö. 63 Ges. Sehr. V, S. 139ff. 64 Ebd. S. 151. 65 Ges. Sehr. VII, S. 27. 66 Ges. Sehr. V, S. 143. 67 Ges. Sehr. VII, S. 192ff., 228-245. 68 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. 2. AuO. 1787, Berlin 1911 (:: Gesammelte Sehriften, Akademie.Ausgabe, I. Abth., Bd. 3), S. 92 (Origi· nalpag. S. tOS). 69 Ges. Sehr. VII, S. 192; vgl. ebd. S. 232. 70 Ebd. S. 232. 71 Ebd. S. 203. 72 Ebd. S. 240. 73 Ebd. S. 192ft., 197ff. 74 Heidegger, Sein und Zeit, Originalpag. S. 45. 75 Ges. Sehr. VII, S. 196f.; "gI. ebd. S. 232. 76 Ebd. S. 136. 77 Ebd. S. 234. 78 Ebd. S. 232. 79 Ebd. S. 194. 80 Ebd. S. 201, 236, 362. Zur Rekonstruktion des Strukturbegriffs vgl. Heinrich Küntzel, Ober Wilhelm Diltheys Begriff der Struktur und des Erlebnisausdrucks, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 47 (1973), S. 1-25. 81 Das Fehlen einer Bedeutungstheorie wird ganz besonders in Dittheys eigentümlicher Aufnahme von Edmund Husserls Logischen Untersuchungen deutlich (vgl. Ges. Sehr. vn, S. 39ft.). Vgl. dazu Hans Ineichen, Erkenntnis-theorie und geschichtlich·gesellschaftliche Welt. Diltheys Logik der Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. 1976, Kapitel 8. 82 Vgl. Ges. Sehr. vn, S. 191; vgl. ebd. S. 208. 83 Zum Verfahren der Uni"ersalisierung der Lebenskategorien "gi. ebd. S. 230 Anm. 84 Umbeno Eco, Einführung in die Semiotik, übs. v. J. Trabant, München 1972, S. 39~16. 85 Ges. Sehr. VII, S. 192.
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86 Ebd. S. 206, 236. 87 Ebd. S. 229, 325 u. ö.; VUI, S. 140f. 88 Qes. Sehr. VI, S. 315. 89 Ges. Sehr. VtJ, S. 325. 90 Ebd. S. 238, vgl. ebd. S. 150; vgl. ders., Das Erlebnis und die Dichlung, S. 1261. 91 Vgl. Ges. Sehr. VI, S. 67,310, 314; VII, S. 257, vgl. Ges. Sehr. V, S. 207, 215u.ö. 92 Ges. Sehr. VU, S. 150. 93 Ebd. S. 329f. 94 Ebd. S. 257. 95 Ebd. S. 203. Zur Problematik des Kraft-Begriffes bei Dilthey vgl. Ouo Friedrich Bollnow, Dillhey. Eine Einführung in seine Philosophie, Slungart 31967, S. 129 ff.; vgl. auch Gadamer, Wahrheit und Melhode, S. I 92ff., 213 ff. 96 Ges. Sehr. VU, S. 203, 280, 333; vgl. Gadamer, Wahrheil und MClhodc, S. 213. 97 Eoo, Einführung in die Semiolik, S. 397. 98 Vgl. Ges. Schr. VII, S. 150; VtlI, S. 80f., 141 ff. 99 Ges. Sehr. VII, S. 150. 100 Vgl. Anz, Bedeutung poetischer Rede, S. 46ff. 101 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, Originalpag. S. 25; ders., Kanl und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/M. 31965, § 44; ders., Holzwege, (hrsg. v. F.·W. von Herrmann), Frankfurt/M. 1977 (= Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 5), Originalpag. S. 142,318ff. 102 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 68; Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 284ft., 329ff. 103 Hierzu und zum Folgenden vgl. Ges. Sehr. VII, S. 72f., 192ff., VI. S.315f. 104 Ges. Sehr. vn, S. 72. 105 Ebd. S. 73. 106 Ges. Sehr. VI, S. 315. 107 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, nach dem Texte der OriginaJausg. hrsg. v. J. Hoftmeister, Hamburg 61952, S. 85f. 108 Ges. Sehr. VII, S. 72, 193. 109 Ebd. 110 Ebd. 111 Zur philosophischen Zeitmetaphorik vgl. Poul Lübcke, Tidsbegrebet, Kopenhagen 1981. 112 Ges. Sehr. VtJ, S. 73 (Hervorh. von mir). Daß Dihhey statt _erleben .. auch _leben.. sagen kann (ebd. S. 193), hebt diesen Charakler hervor. 113 Ges. Sehr. VII, S. 231. 114 Ges. Sehr. VII, S. 233; vgl. Ges. Sehr. VI, S. 315. 115 Ges. Schr. VII, S. 233, 237. 116 Vgl. Ges. Sehr. XVUJ, S. 165. 117 Ges. Sehr. VU, S. 329f. 118 Ebd. S. 262. 119 Ges. Sehr. VI, S. 319.
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120 In diesem Punkt revidiere ich meine eigene DanteUung in: Anz, Bedeutung poetischer Rede, S. 106-112. 121 Ges. Sehr. VI, S. 319. 122 Ges. Sehr. VII, S. 73. 123 Ebd. S. 140. 124 Ges. Sehr. VI, S. 315. 125 Ges. Sehr. VlI, S. 238. 126 Ges. Sehr. VI, S. 319; vgl. ebd. S. 316-319. 127 Ebd. S. 310. 128 Ges. Sehr. VII, S. 329f. 129 Ebd. S. 330. 130 Ges. Sehr. VI, S. 316; Ges. Sehr. VII, S. 232. 131 Ges. Sehr. vn, S. 195. 132 Ebd. S. 235. 133 Ebd. S. 220; vgl. ebd. S. 227. 134 Ebd. S. 235; vgl. ebd. S. 234. 135 Ebd. 136 Ges. Sehr. VI, S. 317. 137 Ges. Sehr. Vll, S. 205. 137a Jürgen Habermas' Rekonstruktion der Diltheyschen Theorie des Ausdrueksverstehens läßt sieh deshalb nicht halten; vgl. Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 178 ff. 138 Ges. Sehr. VII, S. 207f.; vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 474-476. 139 Ges. Sehr. VII, S. 232; vgl. ebd. S. 220. 140 EIxI. S. 206. 141 Ges. Sehr. VI, S. 317. 142 Ges. Sehr. VB, S. 206. 143 Ebd. S. 328f. 144 Ges. Sehr. V, S. 319. 145 Ges. Sehr. VII, S. 217. 146 Das Erlebnis und die Dichtung, S. 165f.; vgl. Ges. Sehr. V, S. 319. 147 Ges. Sehr. VII, S. 207; vgl. Ges. Sehr. V, S. 319. 148 Ges. Sehr. V, S. 274ff., 280. 149 Vgl. Ges. Sehr. VII, S. 199,242. 150 Ges. Sehr. V, S. 276; vgl. elxl. S. 317 f.; Ges. Sehr. VIl, S. 141 ff., 215t 151 Ges. Sehr. V, S. 281 Anm. 152 Goclhe, Gedenkausgabe, Bd. 9, Zürich 1949, S. 554. 153 Ges. Sehr. VII, S. 87. 154 Vgl. ebd. S. 198ff., 246ff.; vgl. Ges. Sehr. V, S. 225. 155 Ges. Sehr. VII, S. 200. 156 Ebd. S. 191. 157 Ges. Sehr. V, S. 329. 158 Ges. Sehr. Vll, S. 82. 159 Ebd. S. 214f., 218; vgJ. Ges. Sehr. V, S. 276ft. 160 Ges. Sehr. VlI, S. 214. 161 Ebd. S. 215; vgl. Ges. Sehr. V, S. 335.
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162 Ges. Sehr. vn, S. 217; vgl. Ges. Sehr. V, S. 331, 335; vgl. dazu Gadamer, Wahrheil und Melhode, S. 180fr. 163 Ges. Sehr. V, S. 329. 164 Ebd. S. 259fr.; ebd. S. 225, 229, 242, 250f., 268. 165 Ebd. S. 229; vgl. ebd. S. 329r. 166 Ebd. S. 329r. vgl. ebd. S. 334. 167 Ges. Sehr. VII, S. 215 f. (hier auch die folgenden Zilale); vgl. Ges. Sehr. V, S. 181; VlII, S. 64r. 168 Ges. Sehr. VIlI, S. 29. 169 Ges. Sehr. vn, S. 216. 170 Ebd. S. 208. 171 Ebd. S. 209. 172 Ebd. S. 208; vgl. ebd. S. 146ff. 173 Ebd. S. 148. 174 Ebd. S. 150. 175 Ebd. S. 208. 176 Ebd. S. 144. 177 Ebd. S. 151. 178 Vgl. Ges. Sehr. VIII, S. 26ff. 179 Ges. Sehr. VII, S. 143. 180 Ebd. S. 207-216. 181 Ebd. S. 227; vgl. dazu das Beispiel der >Aufgabe, Bismarck zu verslehen, (ebd. S. 142 f.). 182 Ges. Sehr. V ,So 329. Vgl. zum Folgenden Wilhclm Anz, Idealismus und Nachidealismus, in: Die Kirche in ihrer Geschichle. Ein Handbuch, hrsg. v. B. Moeller, Bd. 4, Ug. P, Göttingen 1975, S. 99-212, hier 201 f. 183 F(riedrieh) D[aniel] E(msl] Schleiennacher, Ober den Begriff der Henneneutik mil Bezug auf F. A. Wolfs AndeUiungen und ASIS lehrbuch, in: ders., Henneneutik und Krilik. Mil einem Anhang sprachphilosophischer Texte Sehleiermaehers, hrsg. u. eingel. v. M. Frank, Frankfurt/M. 1977, S. 309--346, hier S. 336. 184 Ebd. S. 328; vgl. ebd. S. 324. 185 Vgl. hierzu Manfred Frank, Das individuelle Allgemeine. TexlSlruklurierung und -inlerprelalion nach Schleiennacher, Frankfurt/M. 1977, bes. S. 156ft. u. 294ff. 186 Hofmannslhal, Wilhelm Dilthey, S. 55 f.
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GONTER FIGAL
Selbstverstehen in instabiler Freiheit Die hermeneutische Position Martin Heideggers
Wohl kaum ein Autor hat zur Hermeneutik so extreme Positionen vertreten wie Martin Heidegger. War das Hauptwerk Sein und Zeit noch dem Programm gewidmet, im Rahmen einer .Hermencutik der Faktizität« lVerstehen< als »die ursprüngliche Vollzugsform des Da- _ seins« I zu erweisen, wird in den späten Texten der Aufsatzsammlung Unterwegs zur Sprache sogar das Recht einer Hermeneutik poetischer Texte bestritten und an die Stelle des lVerslchens< das lentsprechende Verhalten< zur Sprache in ihrer Wesensbestimmtheit gesetzt. Wer die Philosophie Heideggers verstehen will, muß diese Wandlung erklären und nach der Plausibilität ihrer Gründe fragen. Ist die philosophische Entwicklung Heideggers in ihrer Abkehr von der Henneneutik zwingend? Aber nicht nur wenn man sich entschließt, diese Frage zu bejahen, liegt der Gedanke nahe, daß auch bereitsSein und Zeil nicht ohne Schwierigkeiten eine hermeneutische Theorie genannt werden kann. Zwar bezeichnet Heidegger die >Phänomenologie des Daseins< als _Hermeneutik in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, wonach es das Geschäft der Auslegung bezeichnet«.2 Aber Heidegger blendet hier - bewußt - ab. daß es dem Geschäft der Auslegung seit jeher wesentlich um den Sinn der Rede ging. So definiert Schleiermacher Hermeneutik als .die Kunst. die Rede eines anderen, vornehmlich die schriftliche, richtig zu verstehen«.3 Heidegger hingegen beschäftigt sich in Sein und Zeil mit Rede und Sprache eher am Rande und geht weder auf die konkreten Ausprägungen des Verstehens noch auf das Verfahren der Auslegung von Rede im einzelnen ein. Dies steht in einem bemerkenswerten Kontrast zu der Bedeutung, die Heidegger für die Etablierung der Hermeneutik als einer philosophischen Tradition gehabt hat. Denn nicht nur hat er als erster auf die philosophische Bedeutung Wilhelm Dihheys hingewiesen und konnte deshalb mit Recht sagen: .ich habe mich schon [...] mit Dihhey [...]
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auseinandergesetzt., _als es noch unanständig war, ihn ineinem philosophischen Seminar zu nennen.;4 ebenso ist die programmatisch als >philosophische Hermeneutik< auftretende Philosophie Hans·Georg Gadamers ohne Heideggers Einfluß undenkbar. Heidegger, so wird man folgern müssen, ist für die mit Schleiermacher beginnende Tradition philosophischer Hermeneutik einerseits zentral und andererseits ihr gegenüber exzentrisch. Seine Exzentrizität jedoch fordert gerade dazu heraus, ihn gemeinsam mit Schleiennacher, Dilthey und Gadamer zu diskutieren. Allen genannten Autoren ist es gemeinsam, daß sie den Terminus _Hermeneutik. polemisch verwenden. Während Schleiermacher sich gegen den spekulativen Idealismus - vor allem denjenigen Hegels-wendet, ist es die empirische Psychologie des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, die Dilthey in der Ausarbeitung seiner zentralen Begriffe zu überwinden versucht; und Gadamer versteht sein Buch Wahrheit und Me/hode als Gegenentwurfzu dem Versuch, eine Grundlegung der Geisteswissenschaften in der wissenschaftstheoretischen Klärung methodischer Probleme zu gewinnen. Ebenso ist Heideggers _Hermeneutik der Faktizität. polemisch an den Erkenntnistheorien des Neukantianismus und Husserlsorientiert, und darüber hinaus gehört bereits zur Intention von Sei" und Zeit die - Destruktion der Geschichte der Ontologie. (SZ 39; GA 26, 197), einer Formation des Denkens also, die Heidegger später _die abendländische Metaphysik- nennen wird und aus der für ihn auch die Grundzüge der Neuzeit faßbar werden. Aber selbst wenn Heidegger den polemischen Grundzug der Hermeneutik teilt, so sperrt sich doch sein Denken gegen die Integration in diese, denn seine polemische Verwendung des Begriffs .Hermeneutik. richtet sich implizit auch gegen das Programm philosophischer Hermeneutikselbst. Deshalb ist es ein- freilich produktives- Mißverständnis, Heideggers Ansatz in einer ausgearbeiteten Theorie sprachlichen Verstehens einlösen zu wollen. Die Hermeneutik Gadamers und die sprachanalytische Philosophie Ernst Tugendhats lassen sich als Versuche verstehen, von Heidegger aus zu einer ausgearbeiteten Theorie des Verstehens und der Bedeutung zu gelangen. Gadamer geht der Frage nach, _wie die Hermeneutik, von den ontologischen Hemmungen des Objektivitätsbegrifis der Wissenschaft einmal gefreit, der Geschichtlichkeit des Verstehens gerecht zu werden vermöchte.,' und entwickelt auf der Grundlage der überzeugung, daß _Verstehen (... ] der ursprüngliche Seinscharakter des menschlichen
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Lebens selber«6 ist, eine henneneutische Theorie des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins. Demgegenüber (ragt Tugendhat, was es überhaupt h,eißt, einen sprachlichen Ausdruck zu verstehen, und überführt damit die Hermeneutik in fonnale Semantik. Diese bietet für Tugendhat auch eine Möglichkeit, Heideggers Kritik an der traditioneUen Orientierung der Ontologie am Vorhandenen, am angeschauten Gegenstand, aufzunehmen und neu, wie Tugendhat glaubt: überzeugungskräftiger zu fonnulieren. 7 Gadamer und Tugendhat folgen Heidegger darin, daß sie seinen Gedanken eines Zusammenhangs von Verstehen und Selbstverstehen aufnehmen, aber sie unterscheiden sich von ihm darin, daß sie einen Begriff des Selbstverstehens aus einer Theorie sprachlichen Verstehens gewinnen wollen. Während Gadamer zeigen wiU, daß der Verstehende _von der überlieferung erreicht und aufgerufen ist«' und sich also selbst versteht, bildet eine Theorie des vernünftigen, sich sprachlich ausweisenden Handeins den Fluchtpunkt der Tugendhatschen Konzeption. Sich selbst zu verstehen heißt für ihn vor allem, dem Anspruch kritischer Argumentation nicht auszuweichen;9 indem ~ie formale Semantik die Wahrheitsbedingungen sprachlicher Ausdrücke klärt, kann sie zugleich sprachanalytische Grundlegung der Ethik sein. Wenn Gadamer und Tugendhat gemeinsam davon ausgehen, daß nur im Zusammenhang sprachlichen Verstehens gezeigt werden kann, was es heißt, sich selbst zu verstehen, behaupten sie implizit, Heideggers Daseinsanalyse sei gerade in ihrem Zentrum unvollständig geblieben. Dementgegen möchte ich im folgenden versuchen zu zeigen, daß (i) Heidegger den Titel der _Hermeneutik« nicht im Sinne einer spezifischen Theorie sprachlichen Verstehens und der Bedeutung verwendet, wenngleich die Konzeption von Sein und Zeit eine solche Theorie nicht prinzipiell ausschließt, und daß (ii) Heideggers Verzicht auf den Titel der _Hermeneutik« in seinen späteren Schriften bereits in der Konzeption von Sein und Zeit angelegt ist. Heidegger gibt bereits in seinem Hauptwerk dem für die Hermeneutik zentralen Begriff des _Verstehens« eine anrihermeneutische Wendung. Mit _Verstehen« bezeichnet erden Grundzugnicht notwendig sprachlicher Praxis, und wenn er versucht, die Struktur und die Grenzen von Praxis herauszuarbeiten, so nimmt er dabei auf Momente Bezug, die keine internen Bedingungen des Verstehens sind. Damit bindet er jede mögliche Theorie des Verstehens in eine Theorie der menschlichen Freiheit ein,
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deren traditionelle Bezugspunkte die Freiheitstheorien Schellings und Kierkegaards sind und nicht die Hermeneutiken SchJeiermachers und Diltheys. Für seine Theorie menschlicher Freiheit nimmt Heidegger seinerseits den Titel »Hermeneutik« in Anspruch. »In dieser Herme· neutik«, so sagt er, »ist dann, sofern sie die Geschichtlichkeit des Daseins ontologisch ausarbeitet [... 1, das verwurzelt, was nur abgeleile· terweise >Hermeneutik! genannt werden kann: die Methodologie der historischen Geisteswissenschaften« (5Z 38). Und, so wird man ergänzen müssen, die sei es hermeneutische, sei es sprachanalytische Theorie des Verstehens und der Bedeutung. Unklar ist allerdings, in welch'em Verhältnis die Hermeneutik des Daseins zur abgeleiteten Hermeneutik genau steht; ob es als Fundierungsverhältnis aufgefaßt werd~n kann, wird erst noch zu klären sein. Was macht nun die phänomenologische Hermeneutik des Daseins aus, und inwiefern unterscheidet sie sich so von jeder spezifischen... Hermeneutik, daß diese als abgeleitet bezeichnet werden kann? In ei· ner ersten Skizze läßt sich diese Frage mit einem Hinweis auf das thematische Feld der Daseinshermeneutik beantworten: in ihr geht es nicht nur um das Verstehen des Bestimmten und Bestimmbaren, son· dem wesentlich um die Darstellung von Verstehen im Horizont des Unbestimmten und Unbestimmbaren. Diese Darstellung nimmt ihren Ausgangspunkt in einer Analyse menschlicher Praxis. Von ihr aus soll, wie Heidegger sagt, durch das EQllllveüuv der Phänomenologie »dem zum Dasein selbst gehörigen Seinsverständnisder eigentliche Sinn von Sein und die Grundstrukturen seines eigenen Seins kundgegeben werden« (SZ 37). Das Verstehen von Sein gründet jedoch, wie Heidegger an anderer Stelle im Anschluß an den platonischen Sokrates formuliert, :tim Entwurf eines tnExuva ti']o:; ouo(ao:;«, 10 in dem also, was nicht nur über» jede mögliche Bestimmtheit eines Seienden« (SZ 38), sondern auch über das Sein und die Seinsstruktur hinausreicht. Folgt man dem Gang von Sein und Zeit, so wird man »ausgehend von der Hermeneutik des Daseins« (SZ 38) fragen müssen, wie das btEXEt.Va 'tTio:; ou0(0.0:; (>jenseits des Seienden in seiner Wesensbestimmtheit() gefaßI und bestimmt werden kann. Um dies zu klären, empfiehlt es sich zunächst, der Frage nachzugehen, wie Heidegger »Dasein« und das Seinsverständnis des Daseins begreift. Der § 9 von Sein und Zeit, der das Thema der Analytik des Daseins bestimmt, beginnt mit den Sätzen:
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Das Seiende, dessen Analyse zur Aufgabe steht, sind wir je selbst. Qas Sein dieses Seienden ist je meines. Im Sein dieses Seienden verhält sich dieses selbst zu seinem Sein. Als Seiendes dieses Seins ist es seinem eigenen Sein überantwortet. Das Sein ist es, darum es diesem Seienden je selbst geht. (SZ 4 t f.)
Und diese Charakteristika zusammenfassend, sagt Heidegger: • Das >Wesen< dieses Seienden liegt in seinem Zu-Sein« (5Z 42). Wenn mit dem Wesen bezeichnet ist, was das Dasein ist (essentia), so liegt in der Bestimmung des Wesens als Zu-sein zunächst, daß jedes Seiende von der Seinsart des Daseins dadurch, wie es sich zu seinem Sein verhält, also welche Möglichkeiten zu sein es wählt bzw. verwirft, bestimmt, was es ist. Sich zu seinem Sein als zu dem, was es je sein kann und sein will, zu verhalten ist charakteristisch für das Dasein in der Seinsbe· stimmung der Existenz. Mit .Existenz« bezeichnet Heidegger also das Sein des Daseins lediglich unter einem bestimmten Aspekt. Für die .mögliche[n] Weisen zu sein« (5Z 42) gilt nun, daß wir sie nurergreifen können, wenn wir mit ihnen bekannt sind; da aber jedes Seiende von der Seinsart des Daseins immer nur einen begrenzten Bereich von Handlungszielen, Haltungen und Verhaltensweisen kennt, kann Hei· degger sagen, daß wir unserem Sein überantwortet sind. Aber diese Formulierung impliziert noch mehr: daß wir uns zu unserem Sein verhalten können und inder Wahl zwischen möglichen Weisen zu sein frei im Sinne dt;r Freiwilligkeit sind, 11 besagt auch, daß wir uns zu unserem Sein nicht nicht verhalten können. Dies macht die Faktizität des Daseins aus, zu der wir uns existenziell verhalten müssen. Mit dem Gesag· ten ist auch zunächst die Bestimmung geklärt, derzufolge das Sein .je meines« ist: jeder ist dadurch charakterisiert, sich verhalten zu müs· sen, gleichgültig, ob er sich darüber Klarheit verschafft oder nicht; und dies kann ihm in Wahrheit niemand abnehmen, selbst wenn er ver· sucht, sich·von seinem Sich-Verhalten-müssen zu entlasten. Damit sind auch bereits die beiden grundlegenden Seinsmöglichkeiten des Daseins vorgezeichnet; mit den Worten Heideggers gesagt: weil Dasein je seine Möglichkeit ist, .kann dieses Seiende in seinem Sein sich selbst )wählen<, gewinnen, es kann sich verlieren bzw. nie und nur )scheinbare gewinnen« (52 42). Sich zu verlieren heißt demnach, den Möglichkeitscharakter des je eigenen Seins nicht wahrhaben zu wollen. Mit diesen Bestimmungen ist die Daseinsanalyse Heideggers bereits im Grundriß gegeben. Die analytische Arbeit selbst besteht nun darin, das vorerst noch sehr vage Strukturmodell des Daseins in seinen ein· 93
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zeinen Momenten zu entwickeln. Eine erste Präzisierung erfährt es in der Formel: Dasein ist ln·der-Welt·sein. Bestrebt, eine dualistische Auffassung dieses Ausdrucks zu vermeiden, für die »Dasein« äquivalent mit »res cogitans« und» Welt« äquivalent mit »res extensa« wäre, insistiert Heidegger immer wieder darauf, daß die Formel ein »einheit· fiches Phänomen« (5Z 53) bezeichnet, und d. h. »Dasein« und »inder- Welt-sein« sind äquivalent. Dies wird allein schon deutlich, wenn man berücksichtigt, daß mit» Welt« der Spielraum aller je bekannten möglichen Weisen zu sein gemeint ist, und nicht etwa, wie Heidegger hervorhebt, »das All des Seienden« (5Z 64),12 Weil Heidegger, wo er vom »1n·der·Welt-sein« spricht, das »in« nicht in einem räumlichen Sinne verstanden wissen will, können wir nicht von jedem Seienden sagen, daß es in der Welt ist. »In-sein« bedeutet nämlich: lsich aufhal· ten bei,. ,(, >vertraut sein mit ",e Gemäß dieser auf den ersten Blick befremdlichen Bedeutung des »in« - Heidegger belegt sie mit der etymologischen Ableitung Jakob Grimms lJ - kann nur Seiendes von der Seinsart des Daseins in der Welt sein. Heidegger versteht diesen Gedanken als eine Radikalisierung der Husserischen Theorie der Intentionalität. 14 Er faßt die von Husserl aufgewiesene Struktur der Vernunft jedoch so, daß nun nicht mehr allein das Erkennen seine Bezogenheit auf Gegenstände impliziert und deshalb die erkenntnistheoretische Frage nach der Möglichkeit einer Relation zwischen Subjekt und Objekt hinfällig wird. Vielmehr hält Heidegger auch noch die von Husserl vorausgesetzte Gegebenheit der Gegenstände im Bewußtsein für ein cartesianisches Dogma, dem· gemäß das Bewußtsein selbst als res verstanden werden muß. Gerade weil Husserl davon ausging, daß die Evidenz der Gegebenheit von Gegenständen im Bewußtsein begründet sei, konnte er die Selbstgegebenheit des Bewußtseins analog der Gegebenheit von Gegenständen denken. Dabei ist es prinzipiell gleichgültig, daß die Gegenstände auch bei Husserl in einem» Welt« genannten Zusammenhang stehen. Der Ansatzpunkt für Heideggers Kritik ist nämlich, daß »Welt« bei Hus· serl als Korrelat der Subjektivität gedacht wird, das durch die transzendentale Reduktion in seiner Gegebenheit für die Subjektivität mit dieser zum Gegenstand der Reflexion werden kann. Das Konzept der Selbstgegebenheit als einer wenn auch ausge· zeichneten Subjekt-Objekt-Relation ist in den Augen Heideggers jedoch regressiv, weil es gerade keine Antwort auf die Frage-» nach dem Seinscharakter des Bewußtseins« (GA 20, 147) gibt. Heideggers AI-
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ternative zur Argumentation Husserls besteht nun darin, daß er so· wohl die )Selbstgegebenheit< des Bewußtseins als auch die Gegebenheit von Gegenständen einsichtig zu machen versucht, indem er beide auf den Seinscharakter des Daseins zurückführt. Dasein ist an ihm selbst so verfaßt, daß es sowohl von sich als auch von den Gegenständen immer nur im Zusammenhang mit anderen Seienden von der selben Seinsart und mit anderen Gegenständen weiß. Dieses Wissen ist in dem Sinne unhintergehbar, daß es seinerseits nicht noch einmal zum Gegenstand des Wissens gemacht werden kann. Das zu versuchen wäre gleichbedeutend mit einer Rückkehr in den HusserIschen Regreß, und deshalb ist es auch nur konsequent, wenn Heidegger die den Regreß artikulierende Rede vom Bewußtsein und vom Erkennen, das einen Gegenstand hat, überhaupt verwirft. An ihre Stelle treten bei Heidegger die Tennini »Erschlossenheit« und »Verstehen«. »Erschlossenheit« meint daher gerade nicht die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß Dasein Gegenstände auf Grund seiner eigenen Konsti· tutionsleistung haben kann, die für sich noch einmal in einer transzendentalen Reduktion aufklärbar wäre, SOndern das Begegnen von Gegenständen in der Weise, daß das Begegnen durch die Seinsart des Daseins geprägt ist. Während die transzendentalphilosophische Position Husserls immer noch die Kantische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis zu beantworten suchte, die nach der LelZtbegründung von Erkenntnis und damit auch nach einem Maßstab ihrer Gewißheit fragt, setzt Heidegger den Möglichkeitscharakter des Daseins unhintergehbar an: Gegenstände können begegnen, weil das Dasein Möglichsein ist, und sie begegnen primär als Möglichkeiten des Daseins. lli Möglichkeit als Existenzial 16 ist, wie Heidegger sagt, »die ursprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins« (5Z 143 C.). Nach der Gewißheit von ErkeDnlnis überhaupt zu fragen, ist nun unsinnig, weil Dasein in seinem Möglichsein von vornherein als weltlich gedacht wird. Die Frage nach der Gewißheit der Welt ist ihrerseits in der Subjekt-Objekt-Relation befangen und kommt nur zustande, indem dasjenige, dessen Gewißheit begründet werden soll, von dem, was die Gewißheit begründen soll, abgetrennt wird. Wenn jedoch der Gedanke einer von der res extensa abgetrennten res cogitans aufgegeben wird, muß auch unser Verhältnis zu den Gegenständen anders bestimmt werden. Deshalb ersetzt Heidegger den Ter!"inus »Erkennen« durch denjenigen des »Verstehens« und deutet das
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Erkennen lediglich als einen Sonderfall des Verstehens. Es wird sich zeigen, daß die Gewißheitsproblematik in diesem Zusammenhang nicht einfach eliminiert wird, sondern ebenfalls eine Umdeutung erfährt. Gegenstände kommen dem Dasein nicht primär )in den Blick(, san· dem sind ihm zuhanden. Indem wir mit den Dingen, die von Heideg· ger als Zuhandene .Zeug« genannt werden, umzugehen wissen, wis· sen wir, was das jeweilige Ding ist. Diese Auffassung des Wissens als eines praktischen Wissens impliziert die Pluralität von Zeug: Ein Zeug ,ist< strenggenommen nie. Zum Sein von Zeug gehön je immer ein Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein kann, das es ist. Zeug ist wesenhaft >etwas, um zu ...<. Die verschiedenen Weisen des >Um-zu<, wie DienJichkeit, Beiträglichkeit, Verwendbarkeit, Handlichkeit konstituieren eine Zeugganzheit.
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Daß Zeug ,etwas, um zu ...< ist und immer in einem Zeugzusammenhang steht, also auf anderes Zeug verwiesen ist, faßt Heidegger auch als .Bewandtnis« und bestimmt den Zusammenhang selbst als .Be(wandtnisganzheit«. Aber Bewandtnisganzheit ist nicht .Welt«, obwohl in ihr das wesentliche Moment des In-der-Welt·seins, die Vertrautheit, auch bereits ausgeprägt ist: zu wissen, wozu etwas tauglich bzw. untauglich ist, heißt auch immer, sich auf dieses zu verstehen oder mit ihm vertraut zu sein. Heidegger will jedoch zeigen, daß diese Ver· trautheit nur im Zusammenhang einer )ursprünglicheren< Vertrautheit angemessen begriffen werden kann: Die Bewandlnisganzheil selbst (...] geht letztlich auf ein Wozu zurück, bei dem es keine Bewandtnis mehr hat, was selbst nicht Seiendes ist in der Seinsan des Zuhandenen innerhalb einer Welt, sondern Seiendes, dessen Sein als ln-derWelt~sein bestimmt ist. [...] Das primäre )Wozu< ist ein Worum-willen. Das ,Um-willen< betrifft aber immer das Sein des Daseins, dem es in seinem Sein wesenhaft um dieses Sein selbst ge~t. (52 84)
Heideggers Ausdruck. Worum-willen« ist eine übersetzung des griechischen Oll EvEXCt. Es bedarf jedoch einer genaueren Erläuterung, was damit gemeint ist, daß es dem Dasein in seinem Umgang mit Zeug letztlich um sich selbst geht. Heidegger will nämlich nicht sagen, daß wir jede Tätigkeit um unserer selbst willen in dem Sinne ausüben, daß die Tätigkeit eines jeden nur auf ihn bezogen wäre. Dies mag zwar partiell der Fall sein, aber wesentlich tun wir das, was wir tun, :»umwillen Anderer« (52 123). Das wiederum heißt auch nicht nur, daß die Anderen die Adressaten unserer Tätigkeiten sind, sondern daß unsere
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Tätigkeiten für uns nur sinnvoll sind, weil die Anderen sie uns als sinnvoll erschlossen haben und sie als sinnvoll ansehen. Damit ist nicht gemeint, eine Tätigkeit sei nur sinnvoll, wenn die Anderen ihr zustimmen. Vielmehr gilt eine Tätigkeit als sinnvoll, wenn sie von den Ande· ren als eine mögliche Verhaltensweise in dem Zusammenhang, der als )unsen Handlungsraum aufgefaßt wird, identifIZiert werden kann. Die Gebundenheit unserer Tätigkeiten an Andere faßt Heidegger, ohne das wirklich ausdrücklich zu machen, mit dem Terminus .bedeuten« und nennt dann das .Bedeutungsganzedieses Bedeutens« die .BedeulSamkeit« (5Z 87). Die Bedeutsamkeit .ist das, was die Struktur der Welt, dessen, worin Dasein als solches je schon ist, ausmacht« (5Z 87), und d. h.: Welt ist nichts anderes als der Handlungsspielraum des Daseins, sofern er von Seienden von der Seinsart des Daseins er· schlossen ist. Die Weise dieser Erschlossenheit als Bedeutsamkeit macht die Weltlichkeit der Welt aus. Das wesentliche Charakteristikum des Handlungsspielraums • Welt« ist die in der Weltlichkeit konstituierte Vertrautheit, weil ohne die Erschlossenheit des Sinns von Handlungszielen und Handlungsweisen Handeln überhaupt unmöglich ist. 17 lf Verstehen« heißt deshalb bei Heidegger auch nur in zweiter Linie )sich auf etwas verstehen<. Vielmehr bestimmt er den Verste· heosbegriff ganz unter dem Aspekt des Sinns einer Handlung oder ei· ner Tätigkeit, und nur deshalb kann er auch das Verstehen als lfEot· wurf« interpretieren. Mit diesem Terminus will Heidegger hervorhe· hen, daß das Dasein sich mit jederTätigkeit für eine Weise zu sein entscheidet. Weil Tätigkeiten als sinnvolle von den Anderen erschlossen und im formalen Sinne anerkannt sind, bezieht sich das Dasein auf vorgegebenen Sinn, wenn es sich einen Sinn gibt und darin zu seinem Sein verhält. Umgekehrt gibt jeder in seinem Sich· Entwerfen auch den Anderen Sinn vor. Auf diese Wechselseitigkeit geht Heidegger unter dem Terminus des lfMitseins« näher ein. Dasein ist Mitsein, d. h. ebensowenig, wie je ein bloßes Subjekt ohne Welt gegeben ist, ist lfZU· nächst ein isoliertes Ich gegeben ohne die Anderen« (5Z 116). Weil Heideggerdie VOTStellungeines isolierten Ich vermeiden will, versteht er auch unler _den Anderen« nicht den lfRestder übrigen außer mir«; .. die Anderen sind vielmehr die, von denen man selbst sich zumeist nicht unterscheidet, unter denen man auch ist« (5Z 118). ln diesem Zusammenhang wird noch klarer, worin sich der Terminus .. Dasein« von traditionellen Termini wie .. Bewußtsein« oder .. Subjekt« unter· scheidet: .. Dasein« impliziert immer die wechselseitige Bezogenheit Bayerische
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der Seienden 'Ion der Seinsart des Daseins, ohne die so etwas wie Erschlossenheit gar nicht denkbar wäre. 18 Aus dem bisher Gesagten ist deutlich geworden, daß Heidegger »Verstehen« als Sich-Entwerfen des je einzelnen Seienden 'Ion der Seinsart des Daseins im Mitsein auffaßt. Aber ist, weil für das Mitsein Sprache wesentlich ist, damit nicht gerade die Abhängigkeit des Verstehens '10m sprachlichen Verstehen und d. h. die Abhängigkeit einer Theorie des Entwurfs von der Hermeneutik sprachlichen Verstehens behauptet? Nur wenn es Heidegger gelingt zu zeigen, warum diese Frage verneint werden muß, kann er die Priorität des Selbstverstehens und der daseinsanalytischen Henneneutik mit Gründen vertreten. Einen Schritt zur Klärung des Verhältnisses 'Ion Verstehen und Sprache tut Heidegger in der Erörterung des Verstehens 'Ion innerweltlich begegnendem Seienden von der Seinsart des Zuhandenen. Dieses bezeichnet er als .Auslegung«: Das Entwerfen des Verstehens hat die eigene Möglichkeit, sich auszubilden. Die Ausbildung des Verstehens nennen wir Auslegung. In ihr eignet sich das Verstehen sein Verstandenes verstehend zu. In der Auslegung wird das Verstehen nicht etwas anderes, sondern es selbst. (SZ 148)
Es ist wichtig zu sehen, daß hier mit »Auslegung« nicht etwas anderes gemeint ist als mit» Verstehen«, sondern ein anderer Aspekt desselben Phänomens. Heidegger stiftet darüber einige Unklarheit, indem er sagt, daß das Verstehen in der Auslegung es selbst »wird«, SO daß man meinen könnte, es sei möglich, ein bloßes und damit unvollständiges Verstehen 'Ion einem vollständigen zu unterscheiden, das es erst in der Auslegung geworden ist. Mit »Auslegung« ist jedoch lediglich die Weise bezeichnet, in der innerweltlich Seiendes dem Dasein begegnet, nämlich »als etwas«. Daß wir »etwas als etwas« auslegen, heißt, daß wir Zuhandenes in seiner Verwiesenheit auf anderes einsehen, selbst wenn wir nicht in der Lage sind, es zu bezeichnen. Der Tenninus »Auslegung« hat insofern vor allem einen polemischen Sinn, als Heidegger die Zugänglichkeit 'Ion Zuhandenem vorsprachlich denken will: Die Artikulation des Verstandenen in der auslegenden Näherung des Seienden am Leitfaden des ,Etwas als etwas< liegt vor der thematischen Aussage darüber. In dieser taucht das >Als< nicht zuerst auf, sondern wird nur erst ausgesprochen. (5Z 149)
Heidegger ist in diesem Zusammenhang recht ungenau. Wir können jedoch seine Unterscbeidung des »etwas als etwas« 'Ion der sprachli~
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ehen Artikulation desselben verstehen, wenn wir sie als Abweisung der erkenntnistheoretischen Annahme auffassen, wir wüßten nur, was etwas ist, wenn wir in der Lage wären, ibm Prädikate zu- bzw. abzusprechen. Heidegger will gar nicht bestreiten, daß es die primäre Zugänglichkeit von etwas ist, die in der Prädikation, wie er sagt, ausgesprochen wird; die Struktur des _etwas als etwas« ist für ihn die Struktur der Prädikation. Es geht ihm jedoch darum zu zeigen, daß Bewandtnis nicht in sprachlicher Kompetenz begründet werden kann. 19 Dies gilt im Prinzip auch für die Bedeutsamkeit als Weltlichkeit der Welt, die, wie wir gesehen haben, den Rahmen der Auslegung bilde!. Die Weise, in der dem Dasein seine Bedeutsamkeit erschlossen ist, nennt Heidegger .Sinn«: .Sinn ist das, worin sich Ve.rständlichkeit von etwas hält. Was im verstehenden E.rschließen artikulierbar ist, nennen wir Sinn« (SZ 151). Damit ist die Struktur wechselseitiger Erschließung und Anerkennung von Verhaltensweisen und Handlungszielen gemeint, wie sie bereits skizziert wurde. Deshalb ist es auch einsichtig, daß Heidegger den Terminus .Sinn« nicht semantisch verwendet. Zwar streitet er nicht ab, daß sprachliche Artikulation eine notwendige Bedingung der Erfahrung von Sinn bildet, aber das impliziert nicht, daß die Erfahrung von Sinn als ein sprachliches Phänomen hinreichend beschrieben werden kann. Sinn wird zwar in der .Rede«, wie Heidegger zur Betonung des performativen Aspekts der Sprache sagt,1O artikuliert, aber das Artikulierte wird nur als Sinn erfahren, weü Dasein sich in ihm selbst ve.rstehen kann. Solches Selbstverstehen aber ist durch die Weise des In-der-Welt-seins begründet. Was das heißt, bedarf noch einer genaueren Klärung. Zunächst möchte ich jedoch zeigen, wie Heidegger versucht, die Struktur von .Sinn« im einzelnen zu bestimmen. Dies geschieht in einer terminologischen Differenzierung ihrer Momente.,. Daß jedes Seiende von der Seinsart des Daseins sich immer schon in einer verstandenen Bewandtnisganzheit bewegt, also innerweltlich begegnendes Seiendes immer schon in einem Sinnzusammenhang auslegt, bezeichnet Heidegger als .V~rhabe«. Dem entspricht die .Vorsicht« als die Perspektive auf den jeweiligen Zusammenhang des Mitseins, aus dem eine Verhaltensweise oder eine Handlung, die innerweltlich begegnendes Seiendes auslegt, als sinnvoll erfahren werden kann. Und schließlich bewegt sich jedes V~rhalten in einem Sprachspiel, gemäß dessen Bedeutungsregeln Verhaltensweisen oder Handlungsziele artikulierbar sind; dieses Struktunnoment faßt Heidegger
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mit dem Terminus »Vorgriff« (5Z 150). Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff sind miteinander zirkulär verklammert: was in die Vorsicht genommen werden kann, muß bereits als Vorhabe gegeben sein; die Vorhabe ist umgekehrt nichts anderes als der Inbegriff eines Komplexes von Vorsichten. Für beide gilt ferner, daß sie in je bestimmten Vorgriffen artikuliert sind und diese also wiederum sowohl die Vorhabe als auch die Vorsicht je umgrenzen. Aber diese Grenzen sind nicht nur nicht die einzigen, sondern nach Heideggers Meinung auch nicht die wichtigsten, die dem Sinnverstehen des Daseins gesetzt sind. Wie Dasein sich nämlich versteht, hängt in der Hauptsache von seinen Stimmungen ab. Die Gestimmtheit des Daseins, die Heidegger auch als »Befindlich· keit« bezeichnet, konstituiert »die Weltoffenheit des Daseins« (SZ 137); d. h. von der jeweiligen Stimmung hängt es ab, wie wir erleben, was wir faktisch sind und welche Möglichkeiten zu sein wir ergreifen können, aber auch, wie uns innerweltJich Seiendes begegnet und wie wir die Bedeutsamkeit der Welt selbst erfahren. Allein an dieser Auf· zählung ist zu sehen, daß Heidegger mit der »Befindlichkeit« den Zusammenhang der Bestimmungen des ln-der- Welt-seins - der Faktizität, der Existenz, der Welt als Bewandtnisganzheit und der Welt in ihrer Weltlichlteit - zum Thema macht. Die Faktizität des Daseins wird Heidegger zufolge in der'Befindlichkeit im Sinne der Unmöglichkeit, sich nicht zu verhalten, offenbar: »In der Gestimmtheit ist immer schon stimmungsmäßig das Dasein als das Seiende erschlossen, dem das Dasein in seinem Sein überantwortet wurde als dem Sein, das es existierend zu sein hat« (5Z 134), Zwar können wir mögliche Weisen zu sein nur ergreifen, wenn wir diese im Entwurf verstanden haben, aber wir entwerfen uns immer nur als Gestimmte, und d, h. in einem Spielraum von Erschlossenheit, der nicht nur durch das Verstehen selbst konstituiert ist. Das zeigt sich auch am Sich-Verstehen auf in· nerweltlich begegnerldes Seiendes. Daß wir uns auf etwas verstehen können, ist, so Heideggers Gedanke, immer darin begründet, daß wir von dem Begegnenden in der einen oder anderen Weise betroffen sind, Die Betroffenheit aber durch die Undienlichkeit, Widerständigkeit, Bedrohlichkeil des Zuhandenen wird ontologisch nur so möglich, daß das ln-Sein als solches existenzial vorgängig so beslimmt ist, daB es in dieser Weise von inner• weltlich Begegnendem ang~gangen werden kann, Diese Angänglichkeil gründel in der Befindlichkeit, als welche sie die Welt zum Beispiel auf Bedrohbarkeit hin erschlossen hat. (5Z 137)
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Man mag es für befremdlich halten, daß Heidegger sich hier und durchgängig an negativen Stimmungen orientiert, wo es ihm doch darum geht, die konstitutive Bedeutung der Befmdlichkeit auch für den unproblematischen Umgang mit innerwelt1ich begegnendem Seienden deutlich zu machen. Dies hat jedoch den Grund, daß immer dann, wenn wir uns auf etwas verstehen und in einem ungestörten Bewandtniszusammenhang bewegen, uns unser Gestimmtsein nicht ausdrücklich wird. Umgekehrt zeigt sich allerdings in jeder negativen Stimmung, daß wir immer schon gestimmt sein müssen, um solche Stimmungen, die eigens bewußt werden, haben zu können. Als bedrohlich z. B. kann uns etwas eigens bewußt werden, weil es sich aus dem Bewandtniszusammenhang, in dem wir uns verhalten, heraushebt. Die negative Stimmung unterscheidet sich von unserer Grundstimmung und wird dadurch ausdrücklich. Die Grundstimmung unseres In-der-Welt-seins ist Vertrautheit: »Worin Dasein [...] sich je schon versteht, damit ist es ursprünglich vertraut« (5Z 86). In dieser Vertrautheit »gründet« die »Geschlossenheit des Verweisungsganzen« (GA 20,253) und ebenso die Bedeutsamkeit. Weil der Sinn eines Verhaltens oder eines Handlungsziels von Anderen erschlossen und anerkannt ist, impliziert jedes Verhalten und Handeln Vertrautheit mit den Anderen. In solcher Vertrautheit beflnden wir uns »zunächst und zumeist. (5Z 43), und d. h. für Heidegger: sie macht die Alltäglichkeit des Daseins aus. Sein und Zeil ist vor allem im ersten Abschnitt eine Analyse der Strukturen alltäglichen In-der-Welt-seins. Heidegger selbst kennzeichnet das Verfahren dieser Analyse als »hermeneutisch. und versucht, mit den Termini, die er in der Erörterung des Verstehens und der Auslegung eingeführt hat, auch die »hermeneutische Situation« (5Z 232) der ontologischen Aufklärung des alltäglichen ln-der- Welt-seins zu fassen: Ontologische Interpretation, die Seiendes hinsichtlich der ihm eigenen Seinsverfassung rreilegen soll, ist daran gehalten, das thematische Seiende durch eine erste phänomenale Charakteristik in die Vorhabe zu bringen, der sich alle nachkommenden Schritte der Analyse anmessen. Diese bedürlen aber zugleich einer Führung durch die mögliche Vor-sicht auf die Sdnsan des betr. Seienden. Vorhabe und Vorsicht zeichnen dann zugleich die Begrifilichkeit vor (Vor. grirr), in die alle Seinsstrukturen zu heben sind. (SZ 232)
Heidegger begründet die Äquivalenz der Strukturbestimmungen ontologischer Analyse und existenziellen Verstehens, indem er geltend macht, daß es zum Sein des Daseins gehört, sieb zu seinem Sein verste101
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hend ZU verhalten. Ontologie ist nichts anderes als die- freilich ausge· zeichnete- Selbstauslegung des Daseins. Aber selbst wenn das richtig ist, bleibt es doch fraglich, ob die Daseinsanalyse sich wirklich von der hermeneutischen Situation des ln-der-Welt-seins ihr Verfahren vorgeben läßt. Was heißt es, daß die Ontologie eine au.sgeleichneu~ Selbstauslegung des Daseins ist? Zunächst unterscheidet die ontologische Interpretation sich von existenziellem Verstehen darin, daß sie, wie Heidegger auch selbst sagt, das thematisch Seiende zuerst in die Vorhabe bringen muß. Denn daß _die durchschnittliche Alltäglichkeit das ontische Zunächst« des Daseins ausmacht, ist der Grund dafür, daß sie »immer wieder in der Explikation des Daseins übersprungen« wurde: .Das ontisch Nächste und Bekannte ist das ontologisch Fernste, Unerkannte und in seiner ontologischen Bedeutung ständig übersehene« (5Z 43). Den Blick auf dieses Nächste und Bekannte gewinnt Heidegger erst, wie die vor dem Erscheinen von Sein und Zeit in Marburg gehaltenen Vorlesungen sehr viel deutlicher zu erkennen geben als das Buch selbst, indem er die canesianische Transzendentalphilosophie Husserls kritisien. Die Analyse der AUtäglich.keit folgt aus dem Begriff des ln·der- Weltseins, nicht umgekehn, und d. h. Heideggers Entdeckung der Alltäg· lichkeit ist eine philosophische Entdeckung zu dem Ziel, die Fragestellung der Ontologie von der reduktiven Festlegung auf das Vorhandene, dem bloßen Anschauen Gegebene, zu befreien. Wenn Heidegger also bezogen auf die Alltäglichkeit von. Vorhabe« spricht, so meint der Ausdruck schlicht >das Thema der Darstellung in seiner formalen Bestimmtheit< und damit etwas anderes als bezüglich der hermeneutischen Situation des ln-der- Welt-seins. Das gleiche gilt auch von dem Terminus» Vorsicht«. Während im aUtäglichen Verstehen des Daseins mit» Vorsicht« die Perspektive auf den jeweiligen Zusammenhang des Mitseins gemeint war, ist die .Vorsicht« der Da.seinsanalyse die Perspektive auf die vollständige Bedeutung der Bestimmung: Dasein ist Möglichsein. Das aber ist die Bestimmung des Möglichseins als Freiheit, die nicht nur Freiwilligkeit ist. Die Terminologie von Sein und Zeit schließlich ist mitnichten einem Sprachspiel alltäglichen Seinsverständnisses vergleichbar, sondern ergibt sich vielmehr aus der Intention Heideggers, eine traditionelJe, transzendentalphilosophisch geprägte Sprache zu vermeiden. Heidegger überlastet seinen Verstehensbegriff, wenn er ihn sowohl für das praktische Verstehen des Daseins als auch für die interpretatorische Leistung der Daseinsanalyse in 102
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Anspruch nimmt. 21 Auf die Konsequenzen, die das hat, wird noch einzugehen sein. Sehr viel deutlicher als durch die Parallelisierung alltäglichen Verstehens und ontologischer Analyse wird Heideggers Verfahren in dem, was er über den Status seiner Strukturanalyse an anderer Stelle sagt. Weil alle identirtzienen Strukturmomeote die Seinsan des Daseins betreffen, nennt Heidegger diese »Existenzialien«. Existenzialien sind modifiziene Kategorien, oder anders gesagt: Heidegger fühn den Terminus »Existenzial« nur ein, weil der Terminus »Kategorie« zu sehr in den Zusammenhang der traditionellen Vorhandenheitsontologie gehört. Wenngleich die Existenzialien in diesem Sinne von den Kategorien »scharf zu trennent( (52 44) sind, haben sie doch die gleiche Grundstruktur wie diese. Beide »umfassen die apriorischen Bestimmungen des im )'6yo~ in verschiedener Weisean-. und besprechbaren Seienden. Existenzialien und Kategorien sind die beiden Grundmöglichkeiten von Seinscharakteren« (52 45). Als solche unterscheiden sie sich vom A6yo; darin, daß sie »in einem ausgezeichneten A.tyElV« das im ).6yo; an- und besprechbare »Sein dieses Seienden [...) als das, was es ist und in jedem Seienden schon ist« (52 44), faßbar machen: »Das je schon vorgängige Ansprechen des Seins im Besprechen (A.6y~) des Seienden ist das XClTlly<>QEi
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ausdrücklich macht. Weil die Vertrautheit nicht einzelnes begegnendes Seiendes, sondern die Welt insgesamt in ihrer Alltäglichkeit erschließt, mu8die Stimmung, in der die Vertrautheit ausdrücklich wird, selbst UßpriingUcher als die Vertrautheit sein, also noch entscheidender rur das $ein des Daseins; insofern entspricht das Verstehen, das sich in ihr befindet, einem faktischen IdeaJ von Existenz. Letzteres zu sagen set2t allerdings eine Idee von Existenz und des Seins des Daseins überhaupt voraus, d. h. erst die existenziale Interpretation kann die Stimmung, in der die Vertrautheit ausdrücklich wird, als die ursprüngUchere einsichtig machen, indem sie bestimmt, wie das Dasein immer schon ist. Wie diese Bestimmungzustandekommt, wird noch zu . . zeigen sem. Ursprünglicher als die Vertrautheit ist die Angst. Anders als die Furcht hat die Angst kein bestimmtes, d. h. als innerweltlich Seiendes bestimmbares .Wovorc. Vielmehr ist das Wovor der Angst .das Inder-Welt-sein als solchesc (5Z 186). Wenn das In-der-Welt-sein als solches ängstet, ist die .innerweltlich entdeckte Bewandtnisganzheit des Zuhandenen und Vorhandenen [...] als solche überhaupt ohne Belang. Sie sinkt in sich zusammen. Die Welt hat den Charakter völliger Unbedeutsamkeitc (5Z 186). Dies darf man nicht so verstehen, als ob das Dasein in der Angst weltlos wäre. Es wird vielmehr im Sinne der aU täglichen Lebenspraxis handlungsunfähig, weil der im Mitsein erschlossene und anerkannte Sinn fragwürdig wird. Die Fragwürdigkeit macht überhaupt erst ausdrücklich, daß dem Dasein Sinn aUtäglich erschlossen ist, oder wie Heidegger sagt: .die Welt in ihrer WeltlichJc.eitc (5Z 187) drängt sich dem Dasein auf. Damit ist jedoch nicht gemeint, .daß in der Angst die Weltlichkeit der Welt begriffen wird« (5Z 187), im Gegenteil: • Wenn die Angst sich gelegt hat, dann pflegt alltägliche Rede zu sagen: >es war eigentlich nichts(c (5Z 187). Erst das XatllyoeEwftm der ontologischen Interpretation vermag dem alltäglichen Ausdruck .nichtsc eine spezifische Bedeutung abzugewinnen: nun ist das .nichts« nicht mehr nur .nichts Bestimmtesc, sondern die Nichtigkeit des Daseins selbst. Die Da.seinsanalyse macht offenbar, daß es die E:rschlossenheit des Abgrundes ist, in die die Gründung des Daseins in der alltäglichen Vertrautheit umschlägt. In seiner Marburger Vorlesung aus dem Sommer 1925 sagt Heidegger:
Das Wovor und das Worum der Angst ist beides das Dasein selbst, genauer gesprochen. das Faktum. daß ich bin; ich bin nämlich im Sinne des nackten Inder-Welt-seins. Diese nackte Tatsächlichkeit ist nicht die des Vorbandenseins
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wie ein Ding, sondern die Seinsart, die konstitutiv ist für das Sichbefinden. (...) Es (das Dasein] findet sich nicht lediglich als Vorhandenes im Sinne des Grundes und Bodens, daß es ist, sondern der Grund ist einui5ttmz.jaJer, d. h. ein erschlossener Grund - und zwar ein Abgrund. Das ist die existenziale Positivität des Nichts der Angst. (GA 20,402)
Obwohl Heidegger hier nicht mit wünschenswerter Klarheit formuliert, würde man doch die Intention Seines Denkens verfehlen, wenn man den Sau, daß das Wovor und das Worum der Angst das Dasein in seinem »ich bine: ist, im Sinne einer solipsistischen Selbst beziehung verstünde. Heidegger versucht ja gerade, in seinem Anti-Cartesianismus die Konzeption zu überwinden, derzufolge die Evidenz des Selbstseins in der Abkehr von der Welt zustandekommt. Wenn vom Dasein die Rede ist, ist immer das Dasein als Mitsein gemeint. Daß die Angst »vereinzelte: und das Dasein als »solus ipsee: erschließt (5Z 188), steht dazu in keinem Widerspruch, denn die Vereinzelung impliziert, daß mir auch die Anderen als Einzelne erschlossen sind. So gesehen besagt die Erfahrung der Angst, daß ich der Anderen, in denen ich mich im alltäglichen Vertrautsein gründe, indem ich mich auf den von ihnen erschlossenen und anerkannten Sinn hin entwerfe, nicht als eines solchen Grundes sicher sein kann, weil der erschlossene und anerkannte Sinn selbst entworfen ist, und ich doch nicht anders kann, als mich zu entwerfen. Aber impliziert diese Interpretation nicht doch, daß in der Angst die Weltlichkeit der Welt begriffen ist? Heidegger ist darum bemüht, dies auszuschließen und bezeichnet deshalb den erschlossenen Grund als existenzialen, d. h.: der erschlossene Grund ist als Abgrund bestimmbar, und zwar nur im Xattl)'OQEla6m der Philosophie. Man muß sogar noch einen Schrill weiter gehen und sagen, daß der Grund als Abgrund vom Dasein nicht einmal verstanden werden kann. Gemäß der Heideggerschen Verwendung des Terminus» Verstehene: im Sinne des praktischen Verstehens ist dies per definitionem ausgeschlossen: verstehen kann Dasein nur Sinn, nicht den »Abgrund der Sinnlosigkeite: (5Z 152). Heidegger hat freilich nicht diskutiert, obdas Dasein die Erfahrung der Sinnlosigkeit nicht wenigstens in dem Sinne verstehen kann, daß es in der Lage ist, diese zu artikulieren. Das »es war eigentlich nichtse: ist, so könnte man meinen, allzu restriktiv gegen das praktische Verslehen gewendet. Aber Heidegger scheint, wie im einzelnen zu belegen wäre, der Meinung zu sein, daß jeder Artikulalionsversuch der Angst diese zumindest tendenziell als Furcht behandelt und des-
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wegen der Verzicht auf Artikulation der Angst einzig adäquat ist. Wohl aber kann sich Dasein existenziell, d. h. in seiner Praxis, so verstehen, daß es den in der Angst erschlossenen Abgrund entweder aushält oder sich von ihm abwendet und dann die Welt in ihrer Weltlichkeit als das nimmt, was sie nicht ist, nämlich als Grund. Während das Aushalten der Erschlossenheit des Abgrunds den Seinsmodus der .. Eigentlichkeitt: charakterisiert, macht letzteres den Seinsmodus der .. Uneigentlichkeitt: aus. Die beiden Seinsmodi sind existenzial darstellbar, obwohl im einzelnen Fall nie mit Sicherheit zu sagen ist, ob sich jemand im Modus der Eigentlichkeit oder im Modus der Unei· gentlichkeit befindet. Sein Verhalten kann dafür kein unmißverständliches Kriterium sein. In der Uneigentlichkeit ist das Dasein .. von ihm selbst als eigentlichem Selbstseinkönnen zunächst immer schon abgefallen und an die >Wehe verfallen. Die Verfallenheit an die >Weite meint das Aufgehen im Miteinandersein, sofern dieses durch Gerede, Neugier und Zweideutigkeit geführt wirda: (52 175). Mit .. Geredea:, .. Neugiert: und .. Zweideutigkeitt: benennt Heidegger diejenigen Weisen der Vertrautheit mit Anderen, die einem gleichsam blinden Vertrauen-Wollen entspringen; dieses ist identisch mit der »Abkehrt: von der in der Angst erschlossenen Abgründigkeit. Untcr dem Verfallen ans Gerede versteht Heidegger das Sich-Entwerfen auf einen artikulierten Sinn, für das die Frage, ..ob ich auch so sein kannt:, irrelevant geworden ist: »Das Gerede ist die Möglichkeit, alles zu verstehen ohne vorgängige Zueignung der Sache. Das Gerede behütet schon vor der Gefahr, bei einer solchen Zueignung zu scheiternt: (52 J 69). Ähnliches gilt von der Neugier und der Zweideutigkeit: während die Neugier von einer Möglichkeit zur nächsten überspringt und keine Möglichkeit mehr wirklich ergreift, gilt fü r die Zweideutigkeit, daß ergreifbare Möglichkeiten, bevor sie wirklich ergriffen werden können, in öffentlicher Rede als unwichtig oder überholt abgetan werden. Die Öffentlichkeit des Mitseins, sofern sie durch Gerede, Neugier und Zweideutigkeit charakterisiert ist, nennt Heidegger .. das Mant:. Im »Man« sind die Anderen .. in ihrer Unterschiedlichkeit und AusdrückIichkeitt: (52126) verschwunden, und wichtig ist allein die Bekanntheit und Zugänglichkeit von Sinn. Wenngleich Heidegger das Man auch »das >realste Subjekte der AlItäglichkeih (52 128) nennt, müssen wir doch zwischen Alltäglichkeit und Uneigentlichkeit unterscheiden. Die Alltäglichkeit ist nämlich »indifferentt: gegenüber den be-
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stimmten Seinsmodi der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit, an~ ders gesagt: Dasein existiert in der Alltäglichkeit sowohl eigentlich als auch uneigentlich. Aber läßt sich denn dann die These aufrechterhalten, Vertrautheit sei die Grundstimmung der Alltäglichkeit? Oder müßte man nicht vielmehr sagen, daß für die Eigentlichkeit die Stimmung der Angst, also die Unvertrautheit, charakteristisch ist? Wenn man jedoch aus der Eigentlichkeil alle Vertrautheit ausschließt, ist es konsequent, den Gedanken eines eigenllichen Existierens überhaupt aufzugeben. Exi· stieren ist per definitionem Sich-Entwerfen, und Entwerfen iSI immer sinn bezogen, impliziert also VertraUlheit. Aber - und dies ist der Punkt, auf den es Heidegger ankommt - Dasein kann sich in der Vertrautheit der Alltäglichkeit so befinden, daß es von der Unvertrautheit absehen will, oder so, daß es die Vertrautheit als eine solche akzeptiert, die niemals völlig stabil sein kann. Die Rede von der UneigenlIichkeit setzt also die Erschlossenheit des Abgrunds voraus. Wenn Heidegger die Unterscheidung von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit rechtfertigen will, obwohl das alltägliche Verhalten kein unmißverständliches Kriterium für sie bietet und die Angst wesentlich unartikuliert bleibt, muß er zeigen können, wieso das Dasein die Erfahrung der Abgründigkeit überhaupt machen kann. Dasgeschieht im Aufweis der Zeitlichkeit des Daseins. Weil Dasein zeitlich ist, ist seine alltägliche Vertrautheit instabil, aber nur deswegen ist es auch frei. D. h. zunächst einmal, daß der Entwurfcharakter des Daseins ein »5ich-vorweg-seillf: (5Z 192) impliziert; in der Entscheidung, so oder so sein zu wollen, Hegt die Verwiesenheil auf das Noch-nicht des So~ oder-So-seins. Als das »äußerste Noch~nicht« (52 250) des Daseins denkt Heidegger den Tod, so daß die Zeitlichkeit und die Endlichkeit des Daseins identisch sind. 11 Von allen Möglichkeiten, die dem Dasein erschlossen sind, unter~ scheidet sich die Möglichkeit des Todes dadurch, daß sie (i) nicht in dem Sinne ergriffen werden kann, daß sie auch grundsätzlich verworfen werden könnte, (ii) jederzeit eintreten kann und (iii) dem Einzelnen von Anderen nicht abgenommen zu werden vermag. Daß Seiendes von der Seinsart des Daseins, solange es lebl, sterben kann,2J be~ sagt also, daß es zwar ist, wie es existiert, aber wenigstens eine Möglichkeit hat, die schlechterdings faktisch ist (i); außerdem ist jedes Sichentwerfen in dem Sinne von der Möglichkeit des Todes begrenzt, daß keine entworfene Möglichkeit später als die Möglichkeit des To107
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des ist (ii); schließlich ist der Tod eine Möglichkeit, die jedem Einzel· nen in der gleichen Weise zukommt und damit die Bezogenheit auf Andere in der Bekanntheit und Zugänglichkeit von Sinn begrenzt (Hi). Darin, daß der Tod in jedem Augenblick möglich ist, liegt für das Dasein »eine aus seinem Da selbst entspringende, ständige Bedrohung« (52265), die ihm in der Angst erschlossen wird. Während das Dasein in der Uneigentlichkeit diese Stimmung nicht wahrhaben will und be· strebt ist, sie zu verdecken, gibt sich das Dasein in der Eigentlichkeit »frei für sie«: Das vorlaufende Freiwerdenfiir den eigenen Tod befreit von der Verlorenheit in die zufallig sich andrängenden Möglichkeiten, so zwar, daß es die faktischen Möglichkeiten, die der unüberholbaren vorgelagert sind, allererst eigentlich verstehen und wählen läßt. [...] Für die eigensten, vom Ende her bestimmten, das heißt als endliche verstandenen Möglichkeiten, bannt das Dasein die Gefahr, aus seinem endlichen Existenzverständnis her die es überholenden Existenzmöglichkeiten der Anderen zu verkennen oder aber sie mißdeutend auf die eigene zurück.zuzwingen - um sich so der eigensten faktischen Existenz zu begeben. Als unbezügliche Möglichkeit vereinzelt derTod aber nur, um als unüberholbare das Dasein als Mitsein verstehend zu machen für das Seinkännen der Anderen. (52 264)
Die Freiheit des Daseins in ihrer vollständigen Bestimmung besteht darin, die Instabilität des eigenen Seins als Mitsein verstehen zu können bzw. sich diesem Verständnis zu entziehen, ohne daß dadurch die eigene Instabilität in Wahrheit aufgehoben würde. Vorlaufend zum Tode zeigt sich dem Dasein, daß seine Instabilität ein Streben nach Stabilität insofern impliziert, als jedes Sichentwerfen an den Sinn des Woraufhin des Entwurfs gebunden ist, daß aber der Sinn als Stabilitätsmoment des Entwurfs hypostasiert wird, wenn das Dasein die Instabilität als »Grund« des Stabilitätsstrebens verdrängt. Von hier aus ist, wie ich hoffe, klar, wieso Heidegger die alltägliche Vertrautheit als indifferent gegenüber den beiden Seinsmodi denken muß: auch das eigentliche Verstehen kann auf die Vertrautheit nicht verzichten. 24 Unklar ist allerdings, in welcher Weise Heidegger den Ausdruck »Verstehen« verwendet, wenn er davon spricht, daß das Dasein durch das Vorlaufen zum Tode verstehend wird für das Seinkönnen der Anderen oder daß die Möglichkeiten zu sein als endliche verstanden werden. »Verstehen« ist hier nicht im Sinne des Sich-Entwerfens auf von Anderen vorgegebenen und anerkannten Sinn zu deuten, sondern bezeichnet eine andere Einstellung des Sich-Entwerfens. Was damit gemeint ist, wird klarer, wenn man sich an die Wechselsei108
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tigkeit des Entwerfens auf vorgegebenen Sinn und der gleichzeitigen Vorgabe von SOln erinnert. Jedes Entwerfen geschieht in einem Handlungs- und Verhaltensspielraum, der keine dem Entwerfen externe Bedingung ist, sondern im Entwerfen selbst konstituiert wird. Das Entwerfen öffnet also den Spielraum, in dem es selbst möglich ist; und d. h. die Offenheit des Spielraums, in dem Sinn erschlossen ist, ist ein lmplikat des praktischen Verstehens. Dies meint Heidegger, wenn er sagt, daß Dasein nicht nur erschlossenen Sinn, sondern auch die Erschlossenheit von Sinn versteht. Solches Verstehen ist aber auch ein gestimmtes: in der Angst, die als Todesangst die Erfahrung der eigenen Unbe~timmtheit ist, wird die Offenheit, wie sie das praktische Verstehen implizien, ausdrücklich. Diese Ausdrücklichkeit ist Selbstgewißheit. Sie besagt, »daß ich bin und zu sein habe«. Weil sich die Selbstgewißheit jedoch einstellt, indem die Angst .die Unmöglichkeit des Sich-Entwerfens auf ein primär im Besorgten fundiertes Seinkönnen der Existenz« (SZ 343) enthüllt, zeigt sie dem Dasein seine Sinngrenzen. Aber heißt dies, daß Dasein sich in der Angst anders fundien'? Oder dementiert Heideggers These, dem Dasein werde mit seiner Nichtigkeit auch seine Faktizität ausdrücklich, nicht vielmehr die Möglichkeit einer solchen Fundierung'? Wir waren ausgegangen von Heideggers Satz: .Das Verstehen von Sein gTÜndet im Entwurf eines E7teXElVa riit; ouo(at;« (GA 24, 402). Dasjenige, was »selbst nicht Sein ist, sondern über das Sein an Würde und Kraft hinausragt« (oux ouoCat; ÖvtO; [... l, CUJ,.' €tL E7teXElVa riit; OUOlOt; 7tQEO(3E(~ xoi öuv6.IlEL \l1tEQExOVtot;),25 ist für Platon die [öto t"O'ü aya{toü, die >Idee des Guten<, wie geläufig übersetzt wird. Die Idee des Guten ragt über das Sein hinaus, weil es, wie Platon im Sonnengleichnis der Politeia darstellt, das, was ist, sowohl erhält als auch sehen läßt. Auf diese Bestimmung der Idee des Guten reagiert Glaukon, der Gesprächspartner des Sokrates, mit Gelächter (f.l6.Aa. YE)..oiwt;)1 sie ist ein wunderbarer, seltsamer und vom Himmel gesandter Oberschwung (ÖOlIlOVlOt; U7tEQ(30I..ij;), ein Schritt über das hinaus, was als mit den Augen Sichtbares (oQat6v) und in seinem Wesen Erschaubares (vorrr6v) zugänglich sein kann. Ober das Erkennen hinaus ist die Idee des Guten in der Weise, daß alles Erkennen, weil es an ihr teilhat, durch sie ermöglicht wird. Als dasjenige, was nicht nur das Erkennen,sondern alles, was ist, in seiner Beständigkeit ausmacht, ist die Idee des Guten nichts anderes als der eine, keinem Werden unterworfene Grund von allem (oQx'i tWv n6.vtwv); und die sokratische unEQ-
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ßo}"fl ist nicht als Versuch gemeint, das, was über das Sein hinausragt, dennoch als ein Seiendes zu nehmen und zu bestimmen. Das Gute erscheint vielmehr im Seienden, sofern es ist und gesehen wird, unmittelbar,26 und zwar darin, daß das Seiende als ein Geordnetes erscheint und - wenjgstens relativen - Bestand hat. Aber dennoch ist für Heidegger die Platonische Rede von der Idee des Guten und damit auch die u1tEQßo)..fl zweideutig. Platon hat Hei. degger zufolge die unEQßoAf( nicht radikal genug gefaßt. Zwar ist das Gute nicht wie ein Seiendes Gegenstand der Erkenntnis, aber dennoch steht es als Idee .ständig im Blick«,27 und deshalb ist es auch möglich, den Blick dem Guten gemäßer zu machen: .An der 6Q'fr6't'lS, der Richtigkeit des Blickens, liegt alles. Durch diese Richtigkeit wird das Sehen und Erkennen ein rechtes, so daß es zuletzt geradeaus auf die höchste Idee geht und in dieser >Ausrichtung( sich festmacht« (PL W 230). Heidegger hat dies in endgültiger Form erst dreizehn Jahre nach dem Erscheinen von Sein und Zeit und damit auch im Zusammenhang einer veränderten Fragestellung formuliert. Dennoch erscheint es mir legitim, den Gedanken der Erschlossenheit des eigentlichen Existierens in der Angst bereits als eine implizite Platon-Kritik zu deuten. Dieser Gedanke radikalisiert insofern die sokratische unEQßoAfl, als diese nicht mehr als Voraussetzung einer Erkenntnis des Seienden, die sich in ihrer Richtigkeit soll ausweisen können, gefaßt wird, sondern als Oberschwung des Daseins ins Nichts, der ihm lediglich seine instabile Freiheit offenbar mach!. Aber die platonische Zweideutigkeit überwindend, wird Heidegger seinerseits zweideutig, wenn er vom Entwurf eines bttxElva Ü1S oUalaS spricht. Dies meint doch offenbar, daß die existenziale Interpretation der Angst, also das Xa't'lYOQEloita~, als ein Sich-Entwerfen des Daseins aufgetaßt werden muß. Darauf zielt auch die Formulierung, daß Dasein »auf dem Grunde seiner Existenzbesrimmtheit an ihm selbst >ontologisch(c (SZ 13) ist, oder wie Heidegger in seiner Freiburger Antrittsvorlesung mit Platon sagt: »Sofern der Mensch existiert, geschieht in gewisser Weise das Philosophieren.c 28 Aber während die Platonische Frage nach der Idee des Guten noch im Zusammenhang der nawda (>Bildung() stand und gekennzeichnet war durch den Gedanken einer »vorgreifenden Anmessung an einen maßgebenden Anblick, der deshalb das Vor-bild heißt« (PL W 217), schließt die Konzeption von Sein lind Zeit der Sache nach eine Deutung der existenzialen Interpretation als Entwurf entweder aus, oder .Entwurfc heißt existenzial etwas ganz anderes als existen110
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zieH. Die Frage nach dem .Sinn von Seine, der Heidegger seine Da~ seinsanalyse unterstellt, ist zwar noch die Frage nach dem, worin das Dasein sein Bestehen hat. Indem Heidegger aber die Zeit als den Horizont des Daseins herausarbeitet, dementiert er implizit, daß das Dasein sich auf das, worin es sein Bestehen hat, als auf ein Beständiges, ein. Vor-bilde hin entwerfen kann. Als Zeitliches kann sich Dasein nicht auf die Zeitlichkeit, die seine Offenheit ausmacht, hin entwerfen, sondern nur auf den von ihm selbst erschlossenen Sinn als einen zeitlich erschlossenen. Die Angst erschließt das Dasein in seiner Zeitlichkeit selbst als den Horizont von .Sinne, und d. h., daß jede Stabilität und Beständigkeit erschlossenen Sinns aus der Instabilität der Freiheit begriffen werden muß. Wenn Heidegger also von einer .Idee von Existenze spricht, SO muß das im Sinne der Voraussetzung einer Konzep~ tion von instabiler Freiheit aufgefaßt werden, die erst im Gangder Untersuchung in ihrer Plausibilität erwiesen wird. Das XatllyoQEto{}m der existenzialen Interpretation wird von hier aus als Destruk·tio~r..Metaphysik einsichtig; diese Destruktion hat ihre eXIstenzielle >Bezeugung< in der Erfahrung von Instabilität. Heidegger formuliert die Frage nach dem >Sinn von Sein< um zur Frage nach dem Sinn von .Seine (5Z I), und d. h. danach, wie wir .Seine aufzufassen haben, wenn wir davon abgehen, das was ist, in seiner Ordnung als ein Sinnvolles an ihm selbst ansehen und begründen zu wollen. Die existenziale Interpretation als Ontologie entspricht dem existenziellen, durch die Angst gestimmten Vorlaufen zum Tode insofern, als sie begrifflich die Erfahrung der Erschlossenheit des Nichts als Erfahrung des Seinshorizonts bestimmt. Was über das Sein hinausragt, kann nun nicht mehr als Idee, also als letzter Sinn, auf den Dasein sich entwerfen kann, verstanden werden. Die Erschlossenheit des Nichts, so würde Heidegger sagen, ist .ursprünglichere als jede sei es magische, sei es religiöse, sei es metaphysische Deutung dieser Erfahrung. Weil die existenziale Interpretation kein praktischer Selbstentwurf des Daseins ist, kann sie als auslegende Darstellung solchen Sich-Entwerfens den Titel.Hermeneutike für sich in Anspruch nehmen. Aber wenn auch alle spezifischen Theorien des Verstehens den Spielraum instabiler Freiheit als Raum des Sinnverstehens voraussetzen müssen, erscheint es mir problematisch, die phänomenologische Hermeneutik als Fundierung .spezifischere Hermeneutik aufzufassen. Sollte eine solche überhaupt möglich sein - was hier nicht zu diskutieren ist -, so müßte diese versuchen, die internen Bedingungen des praktischen und 111
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des sprachlichen Verstehens im einzelnen zu klären. Aber Heidegger hat weder universalpragmatische noch erkenntnistheoretische Absichten; seine Kritik an Husserl ist Kritik der Erkenntnistheorie, und sicherlich ließen sich aus dem Gedanken unhintergehbaren In-derWelt-seins auch Argumente gegen universal pragmatische Konzeptionen gewlOnen. Bisher ist noch undiskutiert, welche Grunde es dafür gibt, die ex.i· stenziale lnterpretation einen ,Entwurfe zu nennen, da doch die Rede vom Entwurf eines tnEx€tVo. ri}~ ooo(o.~ sachlich nicht gerechtfertigt erscheint. Heidegger hebt hier vor allem darauf ab, daß die Eröffnung eines Handlungsspielraums ein Implikat des Verstehens ist: wie das existenzielle Entwerfen dem Dasein seinen Handlungsspielraum eröffnet, so gibt die Hermeneutik des Daseins diesem eine ausgezeich· nete Sicht seiner selbst, indem sie den Raum des Sinnverstehens als den Spielraum instabiler Freiheit aufdeckt. Aber so zu argumentieren ist nicht wirklich zwingend, weil einerseits im Gedanken eines eigentlichen Existierens impliziert ist, daß das Dasein einer solchen existenzialen Aufdeckung gar nicht bedarf; die existenziale Interpretation macht andererseits Strukturbestimmungen geltend, die nicht dem Sprachspiel des alltäglichen Existierens angehören und zugleich die alltägliche Erschlossenheit von Welt voraussetzen. Diese Divergenz hat Heidegger in seinen späteren Schriften zu überwinden versucht und deshalb auch den Begriff der »Hermeneutikf: anders gefaßt. Durch das EQllllVEUElV sollen nun nicht mehr dem Dasein »die Grundstrukturen seines eigenen Seinskundgegeben werden. (SZ 37), sondern das .. EQllllVEUElV ist jenes Darlegen, das Kunde bringt, insofern es auf eine Botschaft zu hören vermag•. 29 Diese Bestimmung wendet Heidegger gegen die Auffassung des Hermeneutischen als eines Auslegens von Vorgegebenem. Das Hermeneutische ist nun nicht erst das Auslegen, »sondern vordem schon das Bringen von Botschaft und Kunde. (GS 122), d. h. hermeneutisch ist nun »die Sprache •. In ihr geschieht, was Heidegger in Sein und Zeit noch als Leistung des Entwurfs gedacht haUe. Die Eröffnung von Weh in der Sprache bedarf jedoch keiner philosophjschen Interpretation, sondern sie angemessen zu denken, schließt das traditionelle Konzept von Philosophie ge· radezu aus. Für die Umdeutung des Hermeneutischen kommt Heideggers Abhandlung über den Ursprung des Kunstwerks eine Schlüsselstellung zu. Im ersten Vortrag der Abhandlung 30 nimmt Heidegger die Frage 112
nach dem .Zeughaften des Zeuges« (UK 17/28) wieder auf und läßt sich bei der Bestimmung der Zeughaftigkeit von einem Gemälde van Goghs leiten, das ein Paar Bauernschuhe darstellt. Während die Zeuganalyse vonSein und Zeit noch mit einer Kritik an dertraditionellen, ursprünglich griechischen Vorhandenheitsontologie eingeleitet wird, will Heidegger nun _ein Zeug ohne eine philosophische Theorie einfach beschreiben« (UK 18/28). Dies ist nun jedoch nur möglich, weil das Gemälde -zu wissen [gibt), was das Schuhzeug in Wahrheit ist« (UK 21/32),d. h. das Werk diente nicht, _wie es zunächst scheinen mochte, lediglich zur besseren Veranschaulichung dessen, was ein Zeug ist. Vielmehr kommt erst durch das Werk und nur im Werk das Zeugsein des Zeuges eigens zum Vorschein« (UK 21/32). Wichtig ist hier vor allem, daß es nicht mehr die Befindlichkeit ist, durch die das Zeug erst in seiner Undienlichkeit ausdrück.lich wird, sondern daß das Werk allein diese Ausdrücklichkeit bewirken kann. Das Werk nimmt nun methodisch die Stelle ein, die Heidegger in Sein und Zeit mit der Befindlichkeit und der existenzialen Interpretation doppelt besetzt hatte. Der zweite Vortrag der Abhandlung macht das noch deutlicher. Um zu zeigen, inwiefern das Werk als _Geschehnis der Wahrheit« (UK 27/40) begriffen werden kann, wählt Heidegger das Beispiel eines griechischen Tempels: _Das Tempelwerk eröffnet dastehend eine Weil und stellt diese zugleich zurück auf die Erde, die dergestalt selbst erst als der heimatliche Grund herauskommt« (UK 28/42). Das _Er· öffnen« entspricht der Erschlossenheit in Befindlichkeit und Verstehen, die Heidegger auch bereits in Sein und Zeit als >Wahrheit< be· stimmt.J I Aber anders als dort unterscheidet er jetzt nicht mehr zwi· sehen dem Bestimmten des erschlossenen Sinns und dem Unbestimmten des Nichts, sondern zwischen _Welt« und _Erde«. _Welt« be· zeichnet auch hier noch den Handlungsspielraum des Daseins: _Der Tempel gibt in seinem Dastehen den Dingen erst ihr Gesicht und den Menschen erst die Aussicht auf sich selbst. Diese Sicht bleibt so lange offen, als das Werk ein Werk ist [...)« (UK 29/42f.). Die _Erde« ist demgegenüber das, _wohin das Aufgehen alles Aufgehende und zwar als ein solches zurückbirgt« (UK 28/42), und d. h. die Erde ist der Grund, der als das Ver\x;rgene und Verbergende im Entbergen des Eröffnens einer Welt anschaulich wird. Die Erde ist im Werk _als das Sichverschließende« _ins Offene« gebracht (UK 33/48) und gestaltet, so daß also die Kunstwerke den Grund, aus dem das Offene als solches 113
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deutlich wird, umgreifen. Deshalb sind die Kunstwerke Emwürfe, die uns die Bewegung des Seins als Bewegung zwischen Offenheit und Verborgenheit erschließen, wenn wir uns >entsprechend< zu ihnen verhalten. Dieses »entsprechende Verhalten« ist allerdings kein alltägliches mehr: Je einsamer das Werk, festgestellt in die Gestalt, in sich steht, je reiner es alle Bezüge zu den Menschen zu lösen scheint, um so einfacher mit der Stoß. daß solches Werk ist, ins Offene, um so wesentlicher ist das Ungeheure aufgestoßen und das bislang geheuer Scheinende umgestoßen. Aber dieses viemiltige Stoßen hat nichts Gewaltsames: denn je reiner das Werk selbst in die durch es selbst eröffnete Offenheit des Seienden entrückt ist, um so einfacher rückt es uns in diese Offenheit ein und so zugleich aus dem Gewöhnlichen heraus. Dieser Verriickung folgen, heißt: die gewohnten Bezüge zur Welt und zur Erde verwandeln und fortan mit allem geläufigen Tun und Schätzen, Kennen und Blicken ansichhalten, um in der im Werk geschehenden Wahrheit zu verweilen. (UK 54174 r.)
Indem Heidegger die Erschlossenheit instabiler Freiheit zur Eröffnung des Wechselspiels von Welt und Erde transformiert, denkt er zwar noch die andere Einstellung zur Welt, die für das eigentliche Verstehen charakteristisch war; aber diese andere Einstellung betrifft nun nicht mehr das sich entwerfende, alltägliche In-der·Welt-sein, sondern das Werk rückt die Menschen in dem Sinne in die Welt ein, daß es ihrem geläufigen Tun und Schätzen - und damit der Alltäglichkeit Einhalt gebietet. Deshalb kann Heidegger auch sagen, daß das entsprechende Verhalten zum Werk »das Für· und Miteinandersein als das geschichtliche Ausstehen des Da-seins aus dem Bezug zur Unverborgenheit« »gründet« (UK 55/77 - Hervorh. von mir). Zu solcher Gründung, die dem Dasein gemäß der Konzeption von Sein und Zeit in seiner Abgründigkeit versagt blieb, ist das Werk fähig, weil es Dichtung ist. Unter »Dichtung« versteht Heidegger, wie er im dritten Vortrag der Abhandlung zeigt, nicht etwa einen speziellen Gebrauch der Sprache. Vielmehr ist alle Sprache ihrem Wesen nach Dichtung, und in einer von Heidegger nicht näher bestimmten Weise haben alle Künste am Dichtungscharakter der Sprache Anteil. Das dichterische Wesen der Sprache liegt in ihrem .Nennen«: Indem die Sprache erstmals das Seiende nennt, bringt solches Nennen das Seiende erst zum Wort und zum Erscheinen. Dieses Nennen ernennt das Seiende zu seinem Sein aus diesem. Solches Sagen ist ein Entwerfen des lichten, darin angesagt wird, als was das Seiende ins Offene kommt. Entwerfen ist das Auslösen eines Wurfes, als welcher die Unverborgenheit sich in das Seiende als solches schickt. (UK 61/84)
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Aus dieser Fassung von »Entwurfe sind die praktischen Implikationen, die Heidegger in Sein und Zeit veranJaßten, das Verstehen als Entwurfzu denken, zwar nicht getilgt, aber doch entscheidend modifiziert. Denn was in Sein und Zeit» Verstehene hieß, ist nun »entsprechendes Verhaltene geworden, d. h. ein Sprechen in der durch die Kunst eröffneten Offenheit. Der Mensch, so sagt der späte Heidegger, »spricht nur, indem er der Sprache entsprichte .32 Und der dichterische Entwurf des Werkes ist es, der zum Sprechen bringt, indem er Welt eröffnet. Mit diesem Gedanken hat Heidegger die Divergenz von existenziellem Entwerfen und existenzialer Interpretation scheinbar aufgelöst. Als Entwürfe geben die Kunstwerke den Menschen die Offenheit vor, in der sie sein können, und machen ihnen ausdrücklich, daß und wie sie sind. Damit, so könnte man denken, ist die Möglichkeit eigentlicher Praxis einsichtiger gemacht als im Rekurs auf die Erfahrung eigener InstabiJüät in der Angst. Denn während die Angst in ihrer Unverständlichkeit der existenzialen Interpretation als eines xa't'lYOQEiaßal bedurfte, sind die Kunstwerke övta, begegnende Seiende, zu denen wir uns verhalten können und die für das Dasein begründend sind, ohne letzter und unzeitlicher Grund im Sinne der Platonischen rÖEa 'tau ayaßoii zu sein. Wenn Heidegger demzufolge auch nach Sein und Zeit seiner Orientierung an menschlicher Praxis treu bleibt, so verändert sich doch damit, daß diese keine daseinsa"alytische Orientierung an alltäglicher Praxis mehr sein will, sein Selbstverständnis: statt von der Philosophie spricht er nun vom »Denkene, das »die Sprache in das einfache Sagen. 33 sammelt und sich in seinem bewußt hermetischen Verfahren der Poesie angleicht. Die Fragwürdigkeit dieses Verfahrens liegt jedoch darin, daß auch das späte Denken Heideggerssich noch im Rahmen der.ienigen Fragestellung bewegt, die durch die existenziale Interpretation exponiert und ausgearbeitet worden war. Nur dann nämlich, wenn man den Gedanken der instabilen Freiheit voraussetzt, läßt sich einsehen, weshalb wir den eröffnenden Entwürfen der Kunstwerke auch nicht entsprechen können. Daß Dasein sich in den Kunstwerken andererseits verstehen kann, setzt seine eigene Seinsstruktur und deren Zugänglichkeit fürdas Dasein selbst voraus: indem es den Kunstwerken entspricht, läßt Dasein sich einen Grund sein, dessen es nur in seiner Abgründigkeit bedarf. Auch nach Sei" und Zeit bleiben also fürdas Denken Heideggers die antihermeneutischen Momente der existenzialen Interpretation we-
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sentlich. Dies mag ihn dazu bewogen haben, nun auch die auslegende Darstellung alltäglichen Verstehens nicht mehr .Hermeneutik« zu nennen. Weil aber die Bestimmung, daß die Sprache selbst >hermeneutisch< ist, nichts mehr mit einer wie auch immer gefaßten begriffljehen Klärung sprachlichen Verstehens (etwa gar im Sinne einer >Kunstlehre() zu tun hat, ist Heideggers Verzicht auf den Titel .Hermeneutik. konsequent.
Anmerkungen 1 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tühingen ·1975. S. 245. 2 Manin Heidegger, Sein und Zeit, (hrsg. v. F.-W. von Herrmann), Frankfurt/Mo t 977 (: Gesamtausgabe, I. Abt:, Bd. 2), S. 37 (künftig zitiert als 52, und zwar um der leichteren Auffindbarkeit der Zitate willen mit den in der Gesamtausgabe beigegebenen Seitenzahlen der Originalausgabe). 3 F[riedrich] D{anicl] E[rnst] Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, hrsg. U. eingel. v. M. Frank, Frankfurt/M. 1977, S.71. 4 Manin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, (hrsg. v. K. Held), Frankfurt/M. 1978 ('" Gesamtausgabe. 2. Abt., Bd. 26), S. 178 (künftig zitien als GA 26). 5 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 250. 6 Ebd. S. 246. 7 Ernst Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt/M. 1976, vor allem S. 13-124. 8 Gadamer, Wahrhei! und Methode, S. 359. 9 Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. SprachanaJytische Interpretationen, Frankfurt/M. 1979, vor allem S. 236 ff. Vgl. aber auch ders., Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, S. 497 ff., u. ders., Der Wahrheitsbegrirf bei Husscrl und Heidegger, Berlin 1970, S. 321 ff. IO Manin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, (hrsg. v. F.-W. von Herrmann), Frankfurt/M. 1975 (= Gesamtausgabe, 2. Abt., Bd. 24), S. 402 (künftig zitiert als GA 24). II Wir sagen von jemandem, daß er freiwillig gehandell hat, wenn er auch anders hälle handeln können. Diese klassische Definition der Freiwilligkeit findet sich präzise dargestellt in: Gilben Ryle, Der Begriff des Geistes, (The Concept of Mind, übs. v. K. Baier), Stungan 1969, S. 78-106. 12 Die Auffassung der Welt als AJI des Seienden ist Heidegger zufolge erst für die neuzeitliche Metaphysik charakteristisch. In GA 26, 218ff. erläutert Heidegger seinen eigenen Weltbegriff im Kontext der antiken und christlichen Tradition.
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13 Vgl. S2 54; außerdem: Manin Heidegger, Prolegomena zur Geschidne des Zeitbegriffs, (hrsg. v. P. Jaeger), Frankfurt/M. 1979 (= Gesamtausgabe. 2. AbI.. Bd. 20), S. 213 (künftig zitien als GA 20). 14 Zur ausftihrlichen Kritik Heideggers an Husserl vgl. GA 20, 34-171, u. Tugendhat, Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, S. 262 ff.
15 Vgl. Tugendhat, Wahrheitsbegriffbei Husserl und Heidegger, S. 262ff. Tugendhat maeln hier gehend, daß Heidegger nicht etwa, wie Husserl meinte. aus der trans:zendenlalphilosophi:schen Problematik in ein naives Verständnis der Welt zurückfällt. sondern vielmehr den transzendentalphilosophisdlen AnsalZselbst radikalisien. Aber Heidegger .küml die transzendentale Reduk· tion. indem er die Sdbstgegebenheil des Daseins nicht mehr nach dem Muster einer Subjekt-Objekt-Relatioo denkt. Dadurch wird das die transzendentale Reduktion 'eitende Interesse an Unbezweifelbarkeit und Gewißheit unmöglich. Wenn man diesen AnsalZ noch .uans:zendentalphibsophisc:h< nennen will, muß man mindestens sagen, daß der Begriff der Transzendentalphibsophie hier eine andere Bedeutung hat als bei Husserl. Die Weise, in der Heidegger, wie ich unten zeigen werde, den Gedanken der Gewißheit aufnimmt, hält Tu· gendhat selbst für -analytisch wohl begrtlndetc. Vgl. Tugendhat, Selbstbe· wußtsein und Selbstbestimmung. S. 235. 16 Auf den Begriff des .Existenzialse gehe ich weiter unten ausführlicher em. n Von der .Venrautheitl her, wie ich sie dargestellt habe, ist auch die beriihmte Definilion der ,Welte,SZ 86, zu verstehen. Wenn Heidegger »Weite bestimmt als das »Worin des sichvc,.....risenden Versuhens als Woraufhin des Begegnen/arsens von Seiendem in der Seinsarr der Bewandtnise, so ist das • Worine im Sinne des .In-seinsc, also der Vertrautheit, mit gemeint. Es ist also nicht so, daß wir .in'" der Welt sind und dann mit ihr vertraut, sondern das Ver· trautsein macht gerade das In·sein aus. 18 In: SelbstbewuBtsein und Selbstbestimmung, S. In. weist Tugendhat auf den .eigentümlichen und sachwidrigen Egozentrismuse in dem Terminus .Dasein. hin und macht geltend, daß sich .oasein. in dieser Hinsicht von »Subjektivität. oder »Bewußtseine nicht grundsätzlich unterschiede. Als singulare tanturn habe .Oasein. eine andere Grammatik als .Mensch. oder .Person •. 'Tatsächlich kommt Heidegger immer wieder in Ausdrucksschwie· ripeiten. wenn er die Pluralität von .Seienden von der Seinsart des Daseins. im Blick hat. Sachlich scheint er mir jedoch durchweg von dieser Pluralität auszugehen. 19 Dies hat die Kritik an Heideggers Terminus der »Auslegung", vielfach übersehen. So schreibt Gerold Prauss: .Oiese Idee der >Vorprädikativen( Wahrnehmung indessen bleibt unverständlich. und zwar in doppelter Hinsicht. Nicht nur wird nicht verständlich, was jene Struktur des >etwas als etwas" die auch Heidegger der Wahrnehmung lassen muß, eigentlich anderes sein soll als die Grundstruktur der Prädikation. Es wird auch umgekehrt nicht verständlich, wie diese Grundstruktur der Prädikation bloß in der Äußerlichkeit einer Aussage bestehen soll.'" (Prauss, Erkennen und Handeln in Heideggers Sei" und :&iI, Freiburg und München 1977, S. 32.) Die argumentative VorausselZung
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von Prauss ist eine grundsätzliche Trennung des »etwas als etwas_ von der Aussage, die Heidegger in dieser Weise nicht vornimmt. 20 Mit diesem Gedanken steht Heidegger in der Tradition Wilhelm von Humboldts. So schreibt Humboklt: »Denn wenn wir gleich gewöhnt sind. von den Lauten zu den Wönern und von diesen zur Rede überzugehen. so ist im Gange der Natur die Rede das Erste und das Bestimmende.« (Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues § 26, in: Wllhelm von Humboldt. Gesammelte Schriften, hrsg. v. A. Leitzmann (u. 30.1, Bd. 6, Berlin 1907, S. 111-303, hier S. 142 f.) 21 Auf die Vieldeutigkeit des Heideggersdlcn Verstchensbegriffes weiSI auch Thgendhat hin: Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, S. 226. 22 Daraus folgert Heidegger konsequenterweise die Endlichkeit der Zeit· lichkeit; die Unendlichkeit der Zeit ist ein Privativum. Vgl. dazu GA 24,442. 23 So ist der Möglichkeitsbegriff hier gemeint. Den Tod eine Möglichkeit des Daseins zu nennen, heißt also nicht, dem Dasein eine propositionale Möglichkeit zuzusprechen, sondern eine logisch dispositionale. Man kann also nicht sagen: es kann sein, daß Seiendes von der Seinsan des Daseins stirbt, es kann aber auch nicht sein; sondern nur: solange es Dasein gibt, kann dieses sterben. wenn bestimmte Bedingungen eintreten. 24 Deshalb erscheint es mir auch unplausibel, das _Oaseinsverständnis_ von Sein und ZLil als »heroi5che.n Nihilismus_ zu bezeichnen; so Walter Schulz. Oberden philosophiegeschichtlichen Ort Martin Heideggers. in: 0110 Pöggeler (Hg.), Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werks, Köln 1969, S. 95-139, hier S. 115. 25 Platon, Politeia 509 b 7-10, in: Plato, Opera, hrsg. v. J. Burnet, Bd. 4, Oxford 1902; Obs. in: Platon, Sämtliche Werke, nach der übersetzung von F. Schieiermacher hrsg. v. W. F. Ouo, E. Grassi. G. Plamböck, Bd. 3, Hamburg 1958, S. 67-310, hier S. 221. Zum folgenden vgl. Politeia 507e-509c. 26 Vgl. dazu Hans-Georg Gadamer, Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles, Heidelberg 1978 (- SilZUngsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philos.·histor. KI., Jg. 1978. Abh. 3), S. 75. 27 Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, in: ders., Wegmarken, (hrsg. v. F.·W. von Herrmann), FrankfunlM. 1976 (= Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 9). S. 203-238, hier S. 228 (künftig zitien aJs PLW). 28 Manin Heidegger, Was ist Metaphysik?, in: den., Wegrnarlr.en. S. 103-122, hier S. 122. 29 Manin Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache, in: den., Unterwegs zur Sprache, Pfullingen '1979, S. 83-155. hier S. 121 (lcünflig zitiert als GS). 30 Manin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: den., Holzwege, (hrsg. v. F.-W. von Herrmann), Frankfurt/M. 1977 (- Gesamtausgabe, 1. Ab!., Bd. 5), S. 1-74 (künftig zitien als UK. unter Hinzufiigung der Seitenzahl der Reclamausgabe: Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, mit einer Eint. v. H.·G. Gadamer, Sluugan 1960). - Die Bezeichnung der Teile der Abhandlung als .Vonräge« stammt von Heidegger. 118
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31 Zu Heideggers Wahtheitsbegriff vgl. Tugendhllt, Wahtheilsbegtiff bei Hussetl und Heidegget, S. 259-405. 32 Martin Heidegget, Die Sprache, in: ders., Unlerwegs zur Sprache, S. 9-33, hier S. 33. 33 Martin Heidegger, Brief über den Humanismus, in: ders., Wegmarken, S. 313--364, hier S. 364.
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HORSTTuRK
Wahrheit oder Methode? H.-G. Gadamers »Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik«
.Der Sinn meiner Untersuchungen ist jedenfalls nicht, eine allgemeine Theorie der Interpretation und eine Differenziallehre ihrer Methoden zu geben, wie das E. Beui vorzüglich getan hate, erläutert Gadamer selbst den Doppeltitel seines Buches, »sondern das allen Verstehensweisen Gemeinsame aufzusuchen und zu zeigen, daß Verste· hen niemals ein subjektives Verhalten zu einem gegebenen )Gegenstande< ist, sondern zur Wirkungsgeschichte, und das heißt: zum Sein dessen gehört, was verstanden wird.e I Der Leser, der sich über Ansätze und Probleme einer »philosophischen Henneneutik_ orientieren wollte, sieht sich getäuscht: statt ihn in der Methode des Verstehens zu unterrichten, was der Titel immerhin auch versprach, unter· richtet ihn das Buch über die Wahrheit des Verstehens. Es gehört je· doch zu den Eigenheiten dieses Buches wie seiner Wirkung, daß sein Autor hält, was er nicht verspricht. Vergleicht man Zahl und Gewicht der Rezensionen sowie die Rolle, die das Buch in den Debatten der 60er und 70er Jahre spielte, so besteht kein Zweifel, daß der Text zu einem vieldiskutierten Werk der wissenschaftlichen Literatur gerade auf dem Feld wurde, das nach der Auskunft des Vorworts das unfruchtbarste ist: das der Methode. Nun wäre es sicher zu einfach, wenn man den Widerspruch dadurch erklären wollte, daß die Berufung auf die Wahrheit des Verstehens in diesem Buch selbst Methode hat. Nahegelegt wird diese Hypothese jedoch nicht nur durch eine Reihe methodischer Grundsätze, in denen der Leser seine eigene Erfahrung im Umgang mit Texten wiedererkennt, sondern auch dadurch, daß .die hier gestellte Frage (...] etwas aufdecken und bewußt machene will, .was die moderne Wissenschaft nicht so sehr begrenzt odcr einschränkt, als vielmehr ihr vorausliegt und sie zu ihrem Teile möglich macht_ (XVII). Seit DHthey ist es üb-
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lieh, den Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaften methodologisch, durch die Gegenüberstellung von »Erklären« und »Verste~ hen«, zu definieren - »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir«:l -, wobei das Verstehen als Verfahrensmoment auf die Eigenart geisteswissenschaftlicher Gegenstände zurückbezogen wird: »So ist überall der Zusammenhang von Erleben, Ausdruck und Ver~ slehen das eigene Verfahren. durch das die Menschheil als geisteswissenschaftlicher Gegenstand für uns da ist.«l Wenn Gadamer den Gesichtspunkt des »Verfahrens« durch den Gesichtspunkt der »Zugehö~ rigkeit« ersetzt, daß nämlich das» Verstehen [...) zum Sein dessen ge~ hört, was verstanden wird«, so argumentiert er, wenn auch auf andere Weise als die Verfechler der »Einheitswissenschaft«.4 für eine Aufhebung der Dichotomie von Natur- und Geisteswissenschaften, wobei er sich sowohl auf Kant als auch auf Heidegger beziehe Als eine Theorie des Verstehens, die in das Feld der angewandlen Logik gehöre, hatte bereits F. Schleiermacher die .allgemeine Hermeneutik« konzipiert: .Der Philosoph an sich hat keine Neigung, diese Theorie aufzustellen, weil er selten verstehen will, selbst aber glaubt, notwendig verstanden zu werden.e s Gadamer greift diesen Ansatz auf, indem er die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens durch die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens ersetzt: • Wie ist Verstehen möglich?« (XVlI). Um die Universalität 6 des hermeneutischen Ansatzes zu demonstrieren, behauptet Gadamer - am Beispiel der _Kunsl« und der _Tradition des ästhetischen Humanis~ mus« (XVI) - eine Determination des Verstehens durch diezu verste~ hende _Sache« (360). Nicht die Methode garantiere die Einheit unse~ rer Erkenntnis, sondern das _wirkungsgeschichlliche Bewußtsein«. worunter er das .im Gang der Geschichte erwirkte und durch die Ge· schichte bestimmte Bewußtsein« verstehl, das zugleich .ein Bewußtsein dieses Erwirkt- und Bestimmtseinse ist (XXH.). Mit der historisch-philologischen Hermeneutik Schleiennaehers und Diltheys bleibt Gadamer dadurch verbunden, daß er einerseits an einer Auffassung der Sprache als _Gespräche, andererseits an einem _methodischen Vorzuge der schriftlichen überlieferung fest hält. D. h. aber, gerade indem er diese Frage offenläßt, basiert seine Argumentation in letzter Instanz auf einer Spielart des _hermeneutischen Zirkels«: der Wechselimplikation von .Textsinn« und »Sache«.' die in der Rekonstruktion des .überlieferungsgeschehens« ausgeführt wird. Die Gadamer-Rezeption der 60er und 70er Jahre hai entweder die 121
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Theorie des .Verstehens« oder die Rekonstruktion des .überlieferungsgeschehens« nach dem • ModeU des Gespräches« (360) zu eigenen, kritischen Ansätzen ausgebaut.' Daneben finden sich im Zuge der Heidegger-Rezeption des französischen Poststrukturalismus auch Ansätze zu einer Aktualisierung der wechselseitigen implikation von .Textsinn« und .Sache« aus der Perspektive der Signifikation.9 Die Bedeutung des Gadamerschen Ansatzes scheint mir indessen im ausgeführten Zusammenhang dieser Momente und d. h. in der Methode der Durchführung zu liegen. Dementsprechend soll im folgenden eine kritische Rekonstruktion unter drei Gesichtspunkten versucht werden: I. Ist die »philosophische Hermeneutik« als Gesprächs- oder als Texthermeneutik zu verstehen? 2. Welche Rolle spielt der applizierende Interpret in der Rekonstruktion des .übcrlieferungsgeschehens«? 3. Ist der .Schluß« auf die Zugehörigkeit .zum Sein dessen [...], was verstanden wird«, als eine Spielart des »hermeneutischen Zirkels« zwingend?
J. Gesprächs- oder Texthermeneutik?
Die Frage: Gesprächs- oder Texthenneneutik? ist deshalb vorrangig zu beantworten, weil auf den ersten Blick nicht klar wird, ob das Verstehen von Texten nach dem Vorbild des .Sichverstehens« im Gespräch (I 68) oder aber das .Sichverstehen« im Gespräch nach dem Vorbild des Verstehens von Texten behandell wird. Was versteht Gadamer unter >Verstehen(? Einerseits wird das Verstehen im Rückgang auf das Gespräch als .Einverständnis« definiert: .Verstehen heißt zunächst, sich miteinander verstehen. Verständnis ist zunächst Einverständnis« (ebd.). Andererseits beginnt die .eigene« (ebd.) oder .eigentliche [...] Aufgabe« (368) des Verstehens erst, wenn .dieses natürliche Leben im Mitmeinen des Gemeinten (...] gestört wird« (168 f.), d. h. gegenüber schriftlich fixierten Texten: .So ist schriftlichen Texten gegenüber die eigentliche hermeneutische Aufgabe gesteilt« (368). Nun ist aber die .Schriftlichkeit« sowohl ein defizienter als auch ein potenter Modus der Sprache. Die Def12ienz läßt sich aus der Perspektive der Gesprächshermeneutik als .Selbstentfremdung« der Sprache, die Potenz aus der Perspektive der Texthenneneu[ik als .Zugehörigkeit alles Sprachlichen zum Verstehen« beschreiben. Je 122
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nachdem, ob die Perspektive des Gesprächs oder die Perspektive des Verstehens eingenommen wird, variiert die Auffassung von der Aufgabe des Verstehens. »Schriftlichkeit ist Selbstentfremdung. lhre Oberwin?ung, das Lesen des Textes, ist also die höchste Aufgabe des Verstehensc (368). Gadamer übernimmt das Platonische Argument von der Schwäche der schriftlichen Rede, der niemand zu Hilfe zu kommen vermag, doch er modifiziert es aus einer bei Schleiermacher vorgebildeten Perspektive des Verstehens: »Daß aber Sprache schriftfähig ist, das ist für das Wesen der Sprache durchaus nicht sekundär« (370). Schleiermacher hatte vom Standpunkt der »Auslegekunstc aus zwei Arten von »Redec unterschieden, ausdrücklich ohne von dem Kriterium der »Schriftlichkeitc Gebrauch zu machen: »Nicht alles Reden ist gleich sehr Gegenstand der Auslegekunst. Einige Reden haben für dieselbe einen Nullwert, andere einen absoluten; das meiste liegt zwischen diesen beiden Punktenc (HuK 82). Entsprechend sei in der Kunst der Auslegung entweder eine »laxere« oder eine »strengere Praxisc zur Anwendung zu bringen: »Die laxere Praxis in der Kunst geht davon aus, daß sich das Verstehen von selbst ergibt und drückt das Ziel negativ aus: Mißverstand soll vermieden werden. (...] Die strengere Praxis geht davon aus, daß sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden_ (HuK 92). Wenn Gadamer die »strengere Praxis_ des Verstehens erneut an das Kriterium der »Schriftlichkeit_ bindet - »in der abstrakten Fremdheit aller >Texte< drückt sich die vorgängige Zugehörigkeit alles Sprachlichen zum Verstehen auf eigentümliche Weise aus_ (367) -, dann zeigt dies, daß er nicht mehr wie Schleiermacher versucht, eine »Kunstlehrec (HuK 71) des Verstehens »aus der Natur der Sprache und aus den Grundbedingungen des Verhältnisses zwischen dem Redenden und Vernehmenden« herzuleiten (HuK 346), sondern stattdessen - unter Berufung auf Kant - eine transzendental· philosophische Frage stellt: Kant halte wahrlich nicht die Absicht, der modemen Naturwissenschaft vorzu· schreiben, wie sie sich verhalten müsse, damit sie vor dem Richterstuhl der Vernunft beslÜnde. Er hat eine philosophische Frage gestellt, d. h. er hat gefragt, welches die Bedingungen unserer Erkenntnis sind, durch die die modeme Wissenschaft möglich ist und wie weit sie reicht. In diesem Sinne stellt auch die vorliegende Untersuchung eine philosophische Frage. [...] Sie fragt, um es kantisch auszudrücken: Wie ist Verstehen möglich? (XVII)
Gadamer kennt also neben der ontologischen Zugehörigkeit des Verstehens »zum Sein dessen [...], was verstanden wird«, in Anknüpfung 123
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an Heidegger, eine methodologische .Zugehörigkeit alles Sprachli· chen zum Verstehen« in Anknüpfung an Kant. 1o Nimmt man die erkenntnistheoretische Fragestellung der philosophischen Hermeneutik ernst, dann muß sich die Zugehörigkeit .zum Sein dessen [...}, was verstanden wird« (XIX), ebenso wie die Schriftfähigkeit der Sprache aus einer Theorie des Verstehens herleiten lassen. Nach Schleiermacher beruht .der Unterschied zwischen dem Kunstmäßigen und Kunstlosen in der Auslegung (...] weder auf dem von einheimisch und fremd, noch auf dem von Rede und Schrift, sondern immer darauf, daß man einiges genau verstehen wiU und anderes nicht« (HuK 91). Nun sind die Fälle, in denen man .genau verstehen will«, entweder Fälle, in denen man die Meinung eines anderen .genau verstehen will«, oder Fälle, in denen man eine Sache .genau verstehen will«. Die dritte Möglichkeit, daß man den Text .genau verstehen will«, schließt entweder die beiden bereits genannten Fälle ein oder abstrahiert von der Möglichkeit eines inhaltlichen Verstehens. Gadamer operiert insofern auf dem Niveau der romantischen Hermeneutik, als er, ausgehend von dem .Modell des Gespräches« (360), .das sachliche Recht dessen, was der andere sagt« (276) zur Geltung bringt: Wenn wir das hermeneutische Phänomen nach dem Modell des Gespräches, das zwischen zwei Personen statthat, zu betrachten suchen, so besteht die leitende Gemeinsamkeit zwischen diesen beiden scheinbar so sehr verschiedenen Situationen, dem Textverständnis und der Verständigung im Gespräch, vor allem darin, daß jedes Verstehen und jede Verständigung eine Sache im Auge hOl [... 1(360).
D. h. aber, Gadamer führt die Gleichsetzung von Gesprächs- und Texthermeneutik über eine Determination des .Textsinns« durch die .Sache« ein, obwohl die Ausarbeitung gerade dieses Punktes auf die Bedingungen der Schriftkultur verweist. Vorausgesetzt ist der Gedanke eines .produktiven« Verstehens, wenn Gadamer die Schleiermachersche Formel, es komme darauf an, .die Rede zuerst ebensogut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber« (HllK 94), durch den weitergehenden Anspruch ersetzt, .nicht nur gelegentlich, sondern immer« übertreffe .der Sinn eines Textes seinen Autor«, Daher sei • Verstehen kein nur reproduktives, sondern stets auch ein produktives Verhalten«. Es genüge .zu sagen, daß man anders versteht, wenn man überhaupt versteht« (280). Während die Einschränkung am Schluß dem Anspruch auf .Besserverstehen« gilt, wird .das produk124
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tive Momento;, das im Andersverstehen liegt, breit entfaltet- unter dem Gesichtspunkt der »überlieferung«: Sprachliche überlieferung ist im eigentlichen Sinne des Wortes überlieferung, d. h. hier ist nicht einfach etwas übriggeblieben (...), sondern es wird übergeben, d. h. es wird uns gesagt (367),
unter dem Gesichtspunkt der »Schriftlichkeit«: In der Form der Schrift ist alles überlieferte tUr jede Gegenwart gleichzeitig. In ihr besteht mithin eine einzigartige Koexistenz von Vergangenheit und Gegenwart, sofern das gegenwärtige Bewußtsein zu allem schriftlich überlieferten die Möglichkeit 'eines freien Zugangs haI (ebd.),
sowie unter dem Gesichtspunkt der Produktivität des »Zeitenabstandes« : In Wahrheit kommt es darauf an, den Abstand der Zeit als eine positive und produktive Möglichkeit des Verstehens zu erkennen. (281)
Die entscheidende Voraussetzung betrifft jedoch das Verhältnis von »Textsinn« und .Sache«. Um den Gedanken eines .produktiven« Verstehens im Unterschied zur »wiedererkennenden Interpretation« (PI 43) vertreten zu können, muß Gadamer voraussetzen, daß auf der Grundlage des identischen Textsinns eine zur Sprache gebrachte »gemeinsame Sache« »neu und anders verstanden« (292) wird. Das kennzeichne »gerade die Aufgabe einer historischen Hermeneutik, daß sie das Spannungsverhältnis durchreflektiert, das zwischen der SeIbigkeit der gemeinsamen Sache und der wechselnden Situation besteht, in der dieselbe verstanden werden soll« (292). In seiner Verteidigung der »wiedererkennenden Interpretation«; weist E. D. Hirsch darauf hin, daß die Determination des »Textsinns« durch die .Sache« ebenso wie die Determination des»Textsinns« durch die »Autonntention« eine »Entscheidung«; des Interpreten sei, die sich nicht zwingend aus der »Natur geschriebener Texte« ergebe, »sondern durch das Ziel, das sich der Interpret setzt«, bestimmt werde (PI 43). Gadamers ltEntscheidung« für das »Ideal« der »erkennenden« im Unterschied zur .wiedererkennenden Interpretation« verstößt gegen die Entscheidbarkeit der Interpretation; denn ihre Pointe besteht in der. Unausschöpfbarkeit« des »Textsinns«. Es können jedoch zu ihren Gunsten sowohl Argumente aus der .Natur geschriebener Texte« als auch methodologische Argumente ins Feld geführt werden. Zumindest für eine Teilklasse von »Gegenständen« scheint zu geiten, daß man sie nicht anders als durch eine genaue Lektüre der Texte
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kennenlernt, durch die sie entworfen worden sind, so daß eine wechselseitige Abhängigkeit von .Textsinn'l und .Sache« schon von der .Sache« her nahe zu liegen scheint. Gegenstände wie das Heideggersche .Dasein«, Kants .transzendentale Einheit der Apperzeption'l, Rousseaus .volonte generale«, das .Unbewußte« von Freud, Platons .Ideen« sind Gegenstände, die man verstanden haben muß, bevor man die Art, wie sie »intendiert« wurden, die .Meinung« des Autors über sie, verstehen kann: .[...] hier bewährt sich, daß Verstehen primär heißt: sich in der Sache verstehen, und erst sekundär: Die Meinungdes anderen als solche abheben und verstehen« (278). Doch man versteht sie nicht so, wie man sich .auf selbstverständliche Weise in Familje, Gesellschaft und Staat [versteht]« (26 t) - dies muß gegen Gadamer eingewendet werden -, sondern auf die Weise, d~ man sie aus dem. Textsinn« erschließt. »Textsinn« und »Sache« sind insofern eng aufeinander bezogen, als die .Sache« zunächst als entworfener Sachverhalt existiert und der »Textsinn« seine Aufgabe darin erfüllt, sie als intendierbaren Sachverhalt zu exponieren. Der Ansatz läßt sich schließlich auch durch die Geschichte der Textauslegung erhärten, die zeigt, daß der besondere »vom Autor intendierte Sinn« erst in dem Maße zur Abhebung kommt, wie die Sache auf der Grundlage desselben Textes nicht durch beliebige, wohl aber durch verschiedene Verständnisse, Weisen, sie zu verstehen, intendiert wird. Wie im Punkt des neu und anders Verstehens, so gilt auch hier, daß Gadamer auf ein Phänomen der Schriftkultur aufmerksam macht; denn erst unter der Bedingung der »Schriftlichkeit« können Sachverhalte diesen Typs auf die skizzierte Art zum Thema weiterer Diskurse werden, die sich in wechselnder Einstellung oder Intention auf dieselbe Sache beziehen, wodurch der Ausgangstext, der den Rahmen für dieses Geschehen ab· gibt, in die Position eines geradezu unausschöpfbaren Paradigmas der Erörterung bestimmter Fragen aufrückt. Nach Gadamer .weiß der Philologe, der es mit dichterischen oder philosophischen Texten zu tun hat, um deren Unausschöpfbarkeil« (355). Gegen die Determination des »Textsinns« durch die .Sache« statt durch die Intention des Autors scheinen dann aber immer noch die methodologischen Bedenken zu sprechen, die Hirsch aus der Penpek· rive eines finiten »Ziel[s] der Interpretation« gegen die verstehende Interpretation anführt.• Ich habe bereits angedeutet«, beißt es bei Hirsch zum Verhältnis von Verstehen (subri/iras inreJligendi) und Interpretation (subrilirQS explicandO, .daß die Kunst der Interpretation 126
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und die Kunst des Verstehens zwei verschiedene Funktionen sind, die allzuoft miteinander verwechselt werden« (PI 169). Hirsch beruft sich für diese These auf den Unterschied in der Terminologie, daß wir den Sinn einer» Äußerung [...] innerhalb ihrer eigenen termini verstehen« müssen, bevor wir das Gesagte »in anderen, neuen termini aus[ ...). drücken« können (PI 172). Vor allem aber versucht er, mit dieser Un· terscheidung dem Umstand Rechnung zu tragen, daß es »verschiede· ne«, einander nicht widersprechende, nicht nur »unterschiedliche«, einander ausschließende Interpretationen desselben »Textsinn[s)« gibt. Um das zuletzt genannte Problem zu lösen, unterscheidet Hirsch zwischen Verstehen (subtilita5 ime/ligendi) und Interpretation (subti/i· tas explicandi), wobei dem Verstehen die Aufgabe zufällt, den »identischen Sinn« aufzufassen, während die Interpretation auf dieser Grundlage und auf der Grundlage einer jeweils »neuen« Terminolo· gie eine Varietät »Verschiedene(r)«, »nicht notwendigerweise unter· schiedlich{er}« (PI 168) Interpretationen hervorbringt. Es ist offensichtlich, daß Hirsch dasselbe methodologische Problem, das Gadamer aus der Perspektive der subtilitas itlle/ligendi verstehenstheoretisch abhandelt, aus der Perspektive der Darstellung des gewonnenen Verständnisses über die Sprache zu lösen sucht. Indem erdie Perspektive des neu und anders Verstehens durch die Perspektive der »anderen neuenoc fermi"i ersetzt, muß er jedoch zu der absurden Konsequenz kommen, daß »das Verständnis [...}still, die Interpretation äußerst beredt« sei (PI 174). Wenn sich das Verständnis »still«, d. h. »gänzlich innerhalb der tennini [... J des Textes« (PI 172) vollzöge, dann wäre nicht einzusehen, wieso überhaupt verstanden werden kann; denn jedes Verstehen bleibt bis zu einem gewissen Grad an die fermi"i des Verstehenden gebunden, durch die er versteht. Der Unterschied von» Verstehen« (Erkennen im Horizont der Terminologie des Textes) und »lnterpretation« (Erkennen im Horizont derTerminologie des Interpreten) kann also immer nur ein gradueller, nie ein kategorialer sein. Insoweit ist dann aber Gadamers These, daß die »Auslegung [... ) nicht ein zum Verstehen nachträglich [...) hinzukommender Akt, sondern [...] die explizite Fonn des Verstehens« sei (291), zuzustimmen. Die weitergehende Annahme, daß» jedes Verstehen und jede Verständigung« eine Autor und lnterpret verbindende, »gemeinsameoc (292) »Sache im Auge hat« (360), von der eben deshalb gelten müsse, daß ihr .Zur-sprache-kommen« (ebd.) die Intention des Autors 127
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.übenriffte, läßt sich unter dieser Voraussetzung ebenfalls erhärten . • Lesendes Verstehene, heißt es bei Gadamer, .ist nicht ein Wiederholen von etwas Vergangenem, sondern Teilhabe an einem gegenwärtigen Sinne (370). Dem entspricht bei Hinch: .Die Interpretation von Texten befaßt sich ausschließlich mit teilbarem, d. h. miueilbarem Sinne (P/35). Der Unterschied zwischen Gadamer und Hirsch besteht hier wie an anderen Stellen darin, daß Hirsch auf eine Gemeinsamkeit des. Wonsinnse (ebd.), Gadamer auf eine Gemeinsamkeit der .Sachee rekurrien. Während die Annahme einer Gemeinsamkeit auf der Ebene des. Wonsinns« daran scheiten, daß nicht gezeigt werden kann, wieso überhaupt verstanden wird, bietet die Annahme einer Gemeinsamkeit auf der Ebene der .Sache_ einen Ansatz zu Lösung dieses Problems: sobald nämlich unter der .Sache_ im Gadamerschen Sinn die durch Auslegungsakte hervorgebrachte .Sache_ verstanden wird. Die Bedingung der .Selbigkeite ist im Rahmen des jeweiligen • Textsinnse insofern erfüllt, als alle Interpretationen desselben Textes zur selben Sache zu gehen scheinen.•Gemeinsame ist die Sache insofern, als alle Beteiligten, der Autor und seine Interpreten, an ihr teilhaben. Das .Zur-sprache-kommene der ltgemeinsamenOl Sache (169), die nur durch ihr .Zur-sprache-kommenOl existiert (360), wirft dann aber das weitere Problem auf, daß nicht nur die .Sprache«, sondern vor allem auch die Texte, durch die die ltgemeinsame« Sache (169) zur Sprache kommt, verschieden nach ihrer Funktion sind: der Text, der Gegenstand der Interpretation ist, und die Texte der Interpretation. Gerade in diesem entscheidenden Punkt dürfte eine Präzisierung im Sinn des lTextmodells< am Platze sein. Sie zeigt, daß auch im Rahmen des Gadamerschen Ansatzes das .Modell des Gespräches [...] zwischen zwei Personen« (360) nur eine beschränkte Erklärungskraft besitzt. Der Versuch, die .Situation« der Textauslegung .nach dem Modell des Gespräches« (360) zu rekonstruieren, fühn zu der Schwierigkeit, daß zwar die interpretierenden Texte untereinander eine An .Gespräch« über den interpretienen Text bzw. dessen sachliche Aussage darstellen können, daß aber das Verhältnis zwischen ihnen und dem interpretienen Text ein anderes ist. Für den interpretierten Text gilt gerade auch nach der Gadamerschen Analyse, daß nur er den .methodischen Vorzug« der wiederholten Auslegung genießt. Natürlich könnten auch interpretierende Texte in den Rang eines interpretandum gehoben werden. Sie wären dann jedoch nicht mehrTexte im Zu-
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ammenhang der verstehenden Rede, sondern selbst Gegenstand der terpretation. Die UnteßCheidung ist in zweifacber Hinsicht von Beeutung: weil das »Zur-sprache-kommen. der .gemeinsamen Sache. on dieser funktionalen Verschiedenheit abhängt; dann aber auch, 'eil nur unter dieser Voraussetzung das .Ziel. der verstehenden Interpretati.on zu ermitteln ist. Die Ausführung, die Gadamer zu diesem unkt macht, ist zumindest irreführend.•Wir hauen gesehen., heißt zur »Aufgabe. des Verstehens: »Das Ziel aller Verständigung und lies Verstehens ist das Einverständnis in der Sache. So hat die Hereneutik von jeher die Aufgabe, ausbleibendes oder gestörtes Einerständnis herzustellen. (276). Es scbeint an der ungenauen Ausareitung des Gesprächsmodells zu liegen, daß solche und ähnliche Formulierungen die Hermeneutik als eine Art Soziahherapie präsenieren. Die Auslegungsbemühung verweist auf eine Sonderform des esprächs, in der die Äußerung eines Teilnehmers für alle Beteiligten, en Sprecher eingeschlossen, zum Gegenstand der Auslegung wird. ur der Seite der Interpreten kann die Auslegungsbemühung von verhiedenen Absichten geleitet sein: von der Absicht, eine Verständiung übu die Äußerung herbeizuführen, von der Absicht, die Äußerung zu verstehen, oder von der Absicht, den Auslegungsrahmen eines gestörten Einverständnisses wiederherzustellen. Der beuristische Wert einer solchen Applikation des GesprächsmodeUs liegt darin, daß sie das .Ziel. der »philosophischen Hermeneutik. präzisiert. Aus der Perspektive der .Zugehörigkeit [...] zum Verstehen« kann nur der an zweiter Stelle genannte Fall rur die Erzielung eines »Einverständnisses in der Sache. von Interesse sein.
2. Die Rolle des Incerpreten Die traditionelle Hermeneutik basierte auf zwei GrundunteßCheidungen: zwischen >Auslegung( und .Verstehen(, um die Darstellung des gewonnenen Verständnisses vom Verstehen zu trennen, und zwischen >Hermeneutikl und >Kritik(, um die Auslegung von der Anwendung zu trennen. Während Gadamer in der Frage des Primats des Verstehens gegenüber der Auslegung (sub/ililßs in/elligendi gegenüber subtilitas explicandi) an die romantische Hermeneutik anknüpfen konnte, knüpft er - trotz aller gegenteiligen Beteuerungen - in der 129
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Frage des Primats der Anwendung (der SllbtiJitas applicandi gegen· über der subti/itas explicandi und intelJigendi) an die verschwiegeneIl Voraussetzungen der historischen Hermeneutik des 19. Jahrhundertl an. Wir werden sehen, daß die Zusammengehörigkeit von Auslegun~ und Anwendung zwar unter dem Gesichtspunkt des Sachverhaltsverstehens grundsätzlich anzuerkennen ist, in der An jedoch, wie Gada· mer sie ausführt, eine Selbstverleugnung des Verstehenden und del Verstehens zugunsten einer Selbstauslegung der Geschichte impli· zien. Dies wird deutlich, sobald wir uns der .slIbtilitas applicandi« al! .integrierendc[m] Bestandteil des hermeneutischen Vorgangs« (291) zuwenden. Gadamer erklärt sich ausdrücklich gegen die Trennung VOll silbti/itas intelJigendi undsubtilitas explicandi. Die sllbtilitas intelJigendl sei nicht als eine formalisierbare .Kunst« des Verstehens aufzufassell (162), die silbtilitas exp/icandi keineswegs nur die nachträgliche Darstellung des gewonnenen Verständnisses: .Auslegung ist nicht eil1 zum Verstehen nacqträglich und gelegentlich hinzukommender Akt. sondern Verstehen ist immer Auslegung, und Auslegung ist daher die explizite Form des Verstehens« (291). Vor allem aber reklamien el die subtilitas applicandi als .Bestandteil des hermeneutischen Vorgangs« (291). Das Verbindende zwischen .Verstehen« und .Auslegung« sei vielmehr die .Anwendung« oder .Applikation«. Sie kann jedoch auf unterschiedliche Weise in Anschlag gebracht werden: als Anwendung des Interpretenhorizontes auf den Text, wie die Aufklärungsphilologie die Applikation verstand, oder als .Anwendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten«, wie Gadamer die Applikation versteht (291). Gadamer, der sich in diesem Punkt an einer Idee der theologischen und juristischen Hermeneutik orientiert, läßt nur die zuletzt genannte Möglichkeit geiten: _Nun haben uns unsere überlegungen zu der Einsicht geführt, daß im Verstehen immer so etwas wie eine Anwendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten stattfindet« (291). Zwei Gründe scheinen für diese Entscheidung zu sprechen: einerseits soll .dem Anspruch, den der Text erhebt«, aus der Perspektive der Zugehörigkeit .zum Sein dessen {... l, was verstanden wird«, durchaus entsprochen werden, andererseits scheint dem neu und anders Verstehen bereits dadurch Genüge getan zu sein, daß der Text unterveränderten historischen Bedingungen sowieso eine andere Auslegung erfahrt:
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Sowohl für die juristische Hermeneutik wie für die theologische Hermeneulik ist ja die Spannung konstitutiv, die zwischen dem gesetzten Text-des Gesettes oder der Verkündigung - auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem Sinn besteht, den seine Anwendung im konkreten Augenblick der Auslegung erlangt, sei es im Urteil, sei es in der Predigt. (...1 Das schließt in beiden Fällen ein, daß dcr Text, ob Gesett oder Heilsbotschaft, wenn er angemessen verstanden werden soll, d. h. dem Anspruch, den der Text erhebt, entsprechend, in jedem Augenblick. d. h. in jeder konkreten Situation, neu und anders verstanden werden muß. (292)
Indem Gadamer die Anwendung vorrangig an der Zugehörigkeit »zum Sein dessen [... l, was verstanden wirde, orientiert, entsteht jedoch ein doppeltes Problem: daß die Auslegung zur Selbstauslegung der Geschichte wird (in die Gewalt der »konkretene Augenblicke oder Situationen der Geschichte gerät) und daß der Begriff der Geschichte auf diese Selbstauslegung eingeschränkt wird (die Geschichte zur Geschichte der Textauslegung wird). In seiner Rekonstruktion des .wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins« entwickelt Gadamer aus der wiederentdeckten IApplikation< eine OIltologische Bestimmung des Verstehens. Die Auslegung wird nicht rnehr als »die explizite Form des Verstehense, dem imelligere .zugehörige, aufgefaßt, sondern als expüzite Form der Anwendung, dem applicare »zugehörig«. So ist es kein Zufall, daß Gadamer an dieser Stelle auf den Verwendungssinn am Beispiel juristischer und theologischer Texte rekurriert: Ein Gesetz will nicht historisch verstanden werden, sondern soll sich in seiner Rechtsgeltung durch die Auslegung konkretisieren. Ebenso will ein religiöser Verkündigungstext nicht als ein bloßes historisches Dokumenl aufgefaßl werden. sondern er soll so verstanden werden, daß er seine Heilswirkung ausübt.
(292)
Juristische und theologische Texte .wollene jedoch durchaus .historische, und d. h. unter einem doppelIen Anwendungsvorbehalt, .aufgefaßt werden«. So rekurriert der Jurist, sobald sich Probleme der Gesetzesanwendung ergeben, auf .den Willen des Gesetzgeberse, um im Weg der Gesetzesauslegung zu prüfen, ob die ins Auge gefaßte weitere oder engere Auslegung mit dem historischen Textsinn kompatibel ist oder ob eine Geseu:esänderung anzustreben wäre, die der veränderten Situation Rechnung trägt. 11 Als in der Theologie des 18. und 19. Jahrhunderts vergleichbare Anwendungsprobleme auftraten, wurde mit einer Einschränkung, die sich aus dem Charakter einer Offenbarungsreligion ergibt, das gleiche Verfahren angewendet. Der Weg der 13 1
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Textänderung konnte nicht gewählt werden; also verlegte sich die Auslegungskunst auf eine Perfektion der historischen Textkritik mit dem Resultat, daß das Spektrum der Applikationsmöglichkeiten durch eine Vertiefung des historischen _Textsinns_ erweitert wurde. 12 Nun benutzt Gadamer die juristische und theologische Hermeneutik gewiß nur als Beispiel. Er blendet an ihnen jedoch gerade die Seiten aus, die auf den wachsenden Einfluß der historisch-philologisch~n Disziplinen seit der Aufklärung zuriickdeuten. IJ Historisch gesehen ist es verständlich, daß sich die von Haus aus theoretisch orientierte, historisch-philologische Hermeneutik überihren Verwendungssinn neu definiert. Bereits für Dilthey ergab sich aus dem geistesgeschichtlichen Ansatz der historischen Interpretation, daß nicht nur der Text im Licht der Geschichte _historisch_ aufzufassen sei, sondern vor allem auch die Geschichte im Licht des Textes: Ober die Beweggründe der handelnden Personen in der Geschichte können wir uns irren, die handelnden Personen selber können ein täuschendes üChl über sie verbreiten. Aber das Werk eines großen Dichters oder Enldeckers, eines re· ligiösen Genius oder eines echten Philosophen kann immer nur der wahre Ausdruck seines Seelenlebens sein; in dieser von Lüge erfüllten menschlichen GeseUschaft ist ein solches Werk immer wahr. und es ist im Unterschied von jeder anderen Äußerung in fIXierten Zeichen für sich einer vollständigen und objekliven Interpretation fähig, ja es wirft sein Licht erst auf die anderen künstleri· schen Denkmale einer Zeit und auf die geschichtlichen Handlungen der Zeilgenossen. I.
Entsprach nicht die Geistesgeschichte als historisierte moral sciellce damit durchaus der veränderten historischen Situation, daß inzwischen die Werke der _großen_ Dichter und Entdecker, der religiösen Genien vom Schlage Luthers und der _echten«, die Lebensfragen auslotenden Philosophen anstelle der einen Schrift in die Funktion eines Orientierungs rahmens eingerückt waren? Der Methodologe Droysen: auf dessen Vorgängerschaft im Feld der _historischen Schule« sich Gadamer ausdrücklich beruft (197), halte schon 1843 gegen die Geschichte der »weltgeschichtlichen Individuen_ 15 eingewendet,daß erst »der Verstehende [Hervorh. von mir}, weil er ein Ich, eine Totalität in sich ist wie der, den erzu verstehen hat, [.. ,] sich dessen Totalität aus der einzelnen Äußerung und die einzelne Äußerung aus deS$en Totalität_ ergänze. 16 Der» WoUende« selbst gehe nicht in dem historischen Ereignis auf, als dessen Subjekt er in der Geschichtsschreibung fungiert: »Weder ging der Wollende ganz in diesem einen SachverlauC auf, noch ist das, was wurde, nur durch dessen Willensstärke, dessen 132
ntelligenz geworden: es ist weder der reine, noch der ganze Ausdruck ieser Persönlichkeit.« 11 Lag es unter diesen Umständen nicht längst schon nahe, radikaler als Dilthey, konsequenter als Droysen die Ge· ichte an der Auslegung eines Kanons handlungsleitender Texte, die Auslegung aber, gestützt auf Heideggers Analyse der Zeitlichkeit des Daseins, über die Applikation an wechselnden Situationen der Geschichte zu orientieren? Die Herleitung des Ansatzes aus der »Krise des Historismus« erklärt zwar, rechtfertigt jedoch noch nicht, daS sich der Zweig der moral sciences nach dem Vorbild einer vorkritisch ver· standenen Theologie und Rechtswissenschaft über den Verwendungs· sinn definiert. Das Verhältnis von Auslegung und Anwendung läßt sich durchaus auf der Grundlage der historisch-philologischen Hermeneutik bestimmen, ohne daß damit die von Gadamer wieder zur Geltung gebrachte integrale Bedeutung der Applikation vernachlässigt werden müßte. Für welche Gegenstände oder Verstehensf3lle gilt, daß der In· terpret eher den zu verstehenden Text auf sich, sein Urteil oder Vorverständnis anzuwenden hätte, stall umgekehrt sich, sein Urteil und Vorvecständnis auf den zu verstehenden Text? W. Stegmüller hat auf eine Analogie in der Anwendbarkeit des Terminus »verstehen« zwischen Natur· und Geisteswissenschaften hingewiesen: So ist es zwar korrekt zu betonen, daß es Literaturwissenschaftlem und Histo-rikern darum geht, Texte zu vust~h~n (oder sie v~rsteh~nd zu deut~n); daß sie sich bemühen, Motive und Charakterzüge historischer Persönlichkeiten zu vers/ehen; daß sie Norm- und WertvonteUungen von Kulturen zu vers/ehen su· chen. Solche Feststellungen kann man aber sofort durch ganz analoge Aussagen über die Tätigkeit der Mathematiker und Physiker parnUelisieren. Ein Stu· dent dieser beiden Fächer muB sich vor allem darum bemühen, die Grundbe· griffe der Mathematik und Physik zu versreh~n. Später muß er daxu übergehen, Lehrsätze, Theorien und Hypothesen zu verste~n. Und dafür wird es sieb wieder als notwendig erweisen, daß er die für die Lehrsätze gegebenen Beweise und die für die Hypothesen gegebenen Begründungen v~m~hen lernt.
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.Diese Parallele«, fährt Stegmüller foTt, »zeigt nicht etwa, daß Ma· thematik und Physik auch )hermeneutisch zu interpretieren( sind«, sie zeigt vielmehr - wäre gegen StegmüUer zu ergänzen -, welcher Art die geschichts· und literaturwissenschaftlichen »Gegenstände« sind. Mit den Grundbegriffen, Lehrsätzen, Theorien und Hypothesen, den Beweisen und Begründungen der Naturwissenschaft haben die Texte, Persönlichkeiten, Norm- und Wertvorstellungen das gemein, daß sie Gegenstände des Verstehenssind, d. h. Gegenstände, mittels derer wir
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uns die Geschichte wie die Natur verständlich: als )intentionalen Ge· genstand< zugänglich machen. Unter diesem Gesichtspunkt hat es einen guten Sinn, dem aAnspruche, verstanden zu werden, den Texte, Persönlichkeiten, Norm· und Wertvorstellungeo erheben, entsprechen zu wollen. Der Anspruch, verstanden zu werden, wird von den verstehenden Gescbichts- und Sozialwissenschaften respektiert, insoweit sie dasselbe Begriffssystem wie die Handelnden selbst 19 bei ihrer Rekonstruktion zugrundelegen. Der Anspruch, verstanden zu werden, wird von der Philologie respektiert, insoweit sie das interpretandum als ein interpretans zur Geltung kommen läßt, d. h. als einen _Gegenstande, durch den das natürliche und geschichtliche Leben als )intentionaler Gegenstand< verständlich wird. Die These von der _Vorstruktur des Verstehense sollte schon deshalb nur auf den zuletztgenannten Fall bezogen werden, weil die Geschichte von Gadamer nicht als Einheit von historia ruurn gestarum und res gestae,20 sondern als Einheit von aTradition« und aHistorie« definiert wird: aAm Anfang aller historischen Hermeneutik muß daher die Auflösung des ab/rrakten Gegensatzes z.wischen Tradition und Historie. z.wischen Geschichte und Wissen von ihrSlehen« (267). Texte, die selbst den Status eines imupretans besinen, können durchaus historisch verstanden werden. Man legt sie im aHorizontc (286) anderer zeitgenössischer Schriften bzw. im aKonte:
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adamer als »ontologisches Strukturmoment des Verstehens. (277) ie Erweiterung unserer Verstehensmöglichkeit leitet: »Erst das heitem des Versuchs, das Gesagte als wahr gelten zu lassen, führt zu em Bestreben, den Text als die Meinung eines anderen - psychologisch oder historisch - IZU verstehen(. (278). Nach Gadamer sind es mmer die Vorurteile der überlieferung, die eine Erweiterung des Verstehens ermöglichen, während die »eigenen Vorurteile. (283), die Vorurteile (... J, die wir mitbringen. (289), nur dazu dienen, jene zur Abhebung. kommen zu lassen (283). Sie kommen dabei auch selbst zur Abhebung, jedoch nur als die »geschichtliche Wirklichkeit. unsees »Seins.: l'-'mge bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen. verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellsenaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnungdes Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen ubens. Darum sind die Vorurteilf! da einulnen weil mehrauSf!inf! Urtf!ilf! die gescllichlliche Wirklichkf!iI seines Sf!iru. (261)
Indem Gadamer die Vemunfturteile als Vorurteile für die Vernunft mit den »eigenen Vorurteilen. gleichsetzt, entgeht ihm die Möglichkeit einer Erweiterung des Verstehensdurch objektive Vemunfturteile. Die» Verschmelzung. der »Horizonte. wird unter dem Gesichtspunkt einer Rekonstruktion des »überlieferungsgeschebenls]. (275) ausgefiihrt, dessen Subjekt ausdrücklich nicht der applizierende Interpret, sondern - gemäß der Zugehörigkeit »zum Sein dessen (...], was verstanden wird. - .die »Wirkungsgeschichte. (285) selbst sein soll. Gadamers »philosophische Hermeneutik. ist im Unterschied zur , Hermeneutik Droysens oder Diltheys keine methodologische Analyse I des Verstehens, sondern eine ontologische Analyse des überlieferungsvorganges, dessen Gelenkstück die »Logik von Frage und Antwort. ist: Daß ein überlieferter Text Gegenstand der Auslegung wird, heißt bereits, daß er eine Frage an den Interpreten stellt. Auslegung enthält insofern stets den Wesensbezug auf die Frage, die einem gestellt ist. Einen Text verslehen, heißt diese Frage verstehen. (351)
Natürlich stellt der Text keine Frage »an den Interpreten., sondern er stellt die .Vormeinung. (252) des Interpreten in Frage. Die Rekonstruktion dieser Frage, von der das Verstehen des Textes abhängt, muß dann aber so erfolgen, daß der Text als Antwort auf diese Frage 135
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verstanden werden kann: • Wer verstehen will, muß also fragend hinter das Gesagte zurückgehen. Er muß es als Äntwort von einer Frage her verstehen, auf die es Antwort ist« (352). Nun ist es unwahrscheinlich, daß die Frage, die der Interpret aus der Situation seines ln-Frage-gestellt-Seins rekonstruiert, die Frage ist, auf die der Text tatsächlich antwortet: »Eine rekonstruierte Frage kann ehen niemaJsin ihrem ursprünglichen Horizonte stehen« (356). Wenn der Interpret sich gleichwohl durch das Verständnis bestätigt sieht, das die rekonstruierte Frage ihm eröffnet, dann kann er dies als Beweis für die .Unausschöpfbarkeit« des Textes (355), er könnte es aber auch als Beweis für den heuristischen Wert seiner »VormeInung. nehmen. Gadamer empfiehlt, darauf zu rekurrieren, daß »jede Aktualisierung im Verstehen [...] sich selber als eine geschichtliche Möglichkeit des Verstandenen zu wissen« vermag (355). Der Interpret, der in dieser Form den »zu verstehenden Text auf die gegenwärtige Situation« anwendet (291), interpretiert sein Handeln als »die Wirkungdieser Wirkungsgeschichte« ; er rückt »in ~in Oberliejerungsgeschehen« ein: »Das V~rsre· hen ;SI selber nichl so sehr als eine Handlung der Subjdliviriit tu denken, sondern als Einrücken in ein Oberliejerungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln« (274 f.). Gadamer sieht darin keine »Entscheidung« des lnterpreten, sondern im Kapitel über das »Prinzip der Wirkungsgeschichte« postuliert er geradezu, »daß man sich selber richtiger verstehen lerne und anerkenne, daß in allem Verstehen, ob man sich dessen ausdrücklich bewußt ist oder nicht, die Wirkung dieser Wirkungsgeschichte am Werke ist. (285). Der stärkste Affront gegen eine methodologische Ausarbei· tung des Verstebens steckt jedoch in dem Zusatz. daß »aufs Ganze gesehen, [...] die Macht der Wirkungsgeschichte nicht von ihrer Anerkennung« abhänge: »Das gerade ist die Macht der Geschichte über das endliche menschliche Bewußtsein, daß sie sich auch dort durchsetzt. wo man im Glauben an die Methode die eigene Geschichtlich· keit verleugnet« (ebd.). Es ist offensicbtlich, daß nach Gadamers Rekonstruktion des überlieferungsvorgangs zwar nicht die »GeschichtUchkeit verleugnet« wird, wohl aber die Selbsttätigkeit des »endlichen menschlichen Bewußtseins. zu verleugnen ist. Einerseits gilt für den Interpreten, »der es mit einer überlieferung zu tun hat., daß er »sucht, sich dieselbe zu applizieren« (307). Andererseits gilt aus der Perspektive der Zugehörigkeit »zum Sein dessen {...], was verstanden wird., daß »sich der Sinn der Zugehörigkeit [... J durch die Gemein136
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samkeit grundlegender und tragender Vorurteilee erfüllt (279). Aus der Perspektive der Zugehörigkeit des» Versteben[s] [...] zum Sein dessen (...], was verstanden wirde, bestimmt nicht die Absicht auf eine Erweiterung des Einverständnisses im Versteben den hermeneuti· schen Vorgang, sondern ihn bestimmt vielmehr die Absicht auf eine WiederbersteIlung des gestörten Einverständnisses in der Verständigung. Dies schließt nicht aus, daß Gadamer gerade in seiner ontologi· sehen Interpretation eine treffende Analyse des faktischen Oberlieferungsvorgangs gibt; fraglich ist jedoch, ob der Schluß auf die sich durchsetzende »Macht der Geschichtee zwingend ist. Dies führt auf den letzten, in der Rekonstruktion zu beriicksichtigenden Gesichtspunkt.
3. Der Zirkel des Verstehens Um zu einer Würdigung des Gadamerschen Ansatzes zu kommen, muß die Frage gepriift werden, obdie Rekonstruktion des »Oberlieferungsgeschehense verstehenstheorerisch zu rechtfertigen ist. Hier spielt vor allem der »Zirkel des Verstehense eine RoUe, der von Gadamer in übereinstimmung mit SchJeiermacher, Dilthey, Heidegger u. a. zugestanden wird, während Böckh, Hirsch, Stegmüller u. a. ihn bestreiten. Genauergesagt handelt es sich um die Doppelthese von der Unauflösbarkeit und Produktivität des »hermeneutischen Zirkelse; wobei Schleiermacher die Unauflösbarkeit nur bedingt, im Sinn eines notwendigen Scheins, zugesteht: »überall ist das vollkommene Wissen in diesem scheinbaren Kreise, daß jedes Besondere nur aus dem Allgemeinen, dessen Teil es ist, verstanden werden kann und umgekehrt. Und jedes Wissen ist nur wissenschaftlich, wenn es so gebildet iste (HuK 95). Was Schleiermacher hier gam allgemein für das vollkommene wisseJlschaftliche Wissen postuliert, scheint für das Wissen im Umgang mit Texten und für das historische Wissen in zugespitzter Fonn zu gelten. Bereits im Blick auf die grammolische Inurprelalion begegnet die Notwendigkeit, so zu verfahren, sobald man »den Sinn eines jeden Wortse nicht nur »nach seinem Zusammensein mit denen, die es umgebene (HuK 116), sondern auch »aus dem dem Verfasser und seinem ursprünglichen Publikum gemeinsamen Sprachgebiete (HuK 101) so zu bestimmen sucht, daß man »den Verfasser [... J erkenne, [...) wie er
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10 der prache ffillarbelletc, dann aber auch, wie er »ihr Produkt ist« (HuK 167). Der .Sinn eines jeden Worts« ist dann aus .seinem Zusammensein mit denen, die es umgebene, zu verstehen, damit dieses kotextuelle Verständnis auf das Versländnisseines Werts im .Sprachgebiete EinDuß nehmen kann; und umgekehrt: sein .Zusammensein mit denen, die es umgebene, ist aus dem .Sinn eines jeden Worts« zu verstehen, damit das Verständnis »aus dem dem Verfasser und seinem ursprünglichen Publikum gemeinsamen Sprachgebiete auf das Ver-
ständnis des .Zusammensein[s). im vorliegenden Text Einfluß nehmen kann. Die Notwendigkeit wiederholt sich im Blick auf diepsychologische IlIlerpretation, die nach Schleiermacher zwei Aufgaben umfaßt: .Das eine ist, den ganzen Grundgedanken eines Werkes zu verstehen, das andere, die einzelnen Teile desselben aus dem Leben des Autors zu begreifen« (HuK 185). Auch hier gilt wieder, daß auf »das Verhältnis eines Sprechenden und Hörenden« zurückgegangen werden muß (HuK 178), wobei _Denken und Gedankenverbindung« entweder _in beiden ein und dasselbe« oder .in beiden wesentlich verschieden« sein können und dies entweder »bei Gleichheit« oder bei Ungleichheit der Sprache. Normalerweise .ist immer eine gewisse Differell2 des Denkens vorhanden zwischen dem Sprechenden und Hörenden«, so daß die skizzierte Regel abermals auf der Ebene des _Denkens und [der] Gedankenverbindung« anzuwenden ist, verschränkt mit der bereits erwähnten Anwendung auf der Ebene der Sprache. Die dritte und vorletzte Anwendung ergibt sich daraus, daß die »geschlossene Rede des anderen« in der Regel keinen »unbestimmten, fließenden Gedankengang«, sondern einen »abgeschlossenen Gedankenkomplexus« enthält, d. h. aber unter Verwendung bestimmter Darstellungsmittel und Formen zweckmäßig komponiert ist, wobei der _Zweck« oder die »Tendenz« wiederum nur ermittelt werden können, wenn man »das Ganze aus dem Einzelnen und umgekehrt« erklärt (HuK 188 f.): den Wert der Kompositionsform im Text aus ihrem zeitgenössischen Gebrauch, den zeitgenössischen Gebrauch aus ihrem Wert im Text- immer vorausgesetzt, daß man den _Grund_ gedanken« wie den Verfasser im Feld der »Komposition«, des Denkens und der Sprache »so« erkennen will, _wie er [... J mitarbeitet« an der Ausgestaltung der genannten Felder, dann aber auch -so [... l, wie er deren Produkt ist«. Während das Auffassen der -Komp?sition« Sache der technischen Interpretation ist, befaßt sich die rein psychologische mit der Aufgabe, .die einzelnen Teile« des zu verstehenden 138
»Grundgedanken(s) {...} aus dem Leben des Autors zu begreifen«, d. h. (wiederum nach dem oben skizzienen Modell der Verschränkung zum Zweck der Einflußnahme auf das Verstehen) _die Einheit des Werkes als Tatsache in dem Leben seines Verfassers« zu verstehen (HuK 185). . Ohne die nochmalige Komplizierung zu berühren, die entsteht, so· bald man das Feld der »historischen Interpretation«n betritt, hat DU· they »die zentrale Schwierigkeit aller Auslegungskunst« auf die ver· gleichsweise schlichte Formel gebracht: Aus den einzelnen Wonen und deren Verbindungen soll das Ganze eines Werkes verstanden werden, und doch setzt das volle Verständnis des einzelnen schon das des Ganzen voraus. Dieser Zirkel wiederholt sich in dem Verhältnis des einzelnen Werkes zu GeiSlesart und Entwicklung seines Urhebers, und er kehn ebenso zurück im Verhältnis dieses Einzelwerks zu seiner üteraturgattung. 1J
Im Unterschied zu diesen mehr technischen Erwägungen unternimmt die »philosophische Hermeneutik« den Versuch einer verstehenstheoretischen Herleitung des »Zirkels«, wobei der Leitgedanke, _aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu sichern«, zu der Doppelthese von der Produktivität und Unauflösbarkeit des _Zirkels« führt. _Der Zirkel darf nicht zu einem vitiosum, und sei es auch zu einem geduldeten, herabgezogen werden«, heißt es bei Heidegger: In ihm verbirgt sich eine positive Möglichkeit ursprünglichsten Erkennens, die freilich in echter Weise nur dann ergriffen ist, wenn dil;- Auslegung verstanden haI. daß ihre erste, ständige und letzte Aufgabe bleibt, sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff nicht dureh Einfalle und Volksbegriffe vorgeben zu lassen, sondern in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst herdaswissenschaft· liehe Thema zu sichern.}.t
Man geht nicht fehl, Gadamers Ausarbeitung der _Vorstruktur des Verstehens« (254) aus dieser Perspektive zu beurteilen. Denn Gadamer versucht wie Heidegger, »aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu sichern«, wenn er nicht wie Schleiermacher, Droysen oder Dilthey auf textseitige oder historische Bedingungen zurückgeht. sondern das Verstehen vom Verstehenden aus in seiner Zugehörigkeit zur Geschichte zu bestimmen sucht: _ln Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr« (261). Als Einheit von _Tradition und Historie« (267) kann die Geschichte diese RaUe durchaus spielen. Denn _Vorhabe. Vorsicht und Vorgriff« sind - jedenfalls bei Gadamer - in einem doppelten Sinn geschichtlich: Als
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_n,
.Vorurteile, [...) die wir mitbringen« (289), heben sie sich einerseits von den :t Vorurteilen der Tradition« ab, andererseits sind sie - nur eben undurcbschaut - w;~ dil!se _die geschichtliche Wirklichkeit« un· sercs :tSeinsc (261). Das »Thema«, das Gadamer, anknüpfend an Heidegger, in der Ausarbeitung der. Vorstruktur des Verslchens« (254) laUS den Sachen selbst( sichert, betrifft die Zugehörigkeit aller .Urteilee und» Vorurteile des einzelnen« zur überlieferung und d. h. zu der in ihr »sprechende[n] Sache«: .Es sind die undurchschauten Vorurteile, deren Herrschaft uns gegen die in der überlieferung sprechende Sache taub machte (254). D. h. aber: wir müssen den .Zirkel des Verstehensc, so wie er von Gadamer postuliert wird, zwar aus der Perspektive des Verstehenden, der .Srandortgebundenheit des Betrachters« (ZV 73), doch in bezug auf die Sache, die Zugehörigkeit zum »Sein dessen [...], was verstanden wird«, erörtern. Vorauszuset· zen ist dabei allerdings, daß es sich überhaupt um einen Zirkel handelt. Gerade dieser Punkt ist jedoch nicht nur zwischen Hermeneutik und Analytischer Wissenschaftstheorie, sondern auch innerhalb der Her· meneutik umstritten. Die Unmöglichkeit, in der Frage des »herme· neutischen Zirkels« zu einer klaren Entscheidung zu kommen, scheint mir indessen darin zu liegen, daß nicht mit der erforderlichen Sorgfalt zwischen dem Vorgang der Verständnisgewinnung und dem Vorgang der Beweisführung für ein bereits gewonnenes Verständnis unterschieden wird. U Beide Prozeduren sind durchaus verschieden und nicht aufeinander abbildbar. Theoretiker, die wieStegmüller der Analytischen Wissenschaftstheorie verpOichtet sind, monieren bereits den Terminus: Die Hermeneutikerselbst bestünden darauf, daß der Zirkel kein vitiöser sei, wieso SQlle man dann überhaupt von einem Zirkel sprechen? Sobald man versucht, das Verstehen als einen Sonderfall der Erklärung aufzufassen, läßt sich das Problem, um das es bei der Zirkularität geht, in ein »Dilemma« auflösen. Stegmül!er nennt - neben anderen Fällen -das »eigensprachliche Interpretationsdilemma«:
Um einen besrimmtm Tut, lW/eher in tkr Sprache des Intupnten formuliert ist, deutm zu können, muß num von riner AlU\Qhme über die Inttntion da Auton ausgthen - ich will diese Annahme eine Oberhypc)lhese nennen -, von der sich im Verlauf der Lektüre erweist" kOlln, daß sie falsch ist. Bei der daraus entspringenden Aufgabe, die im Verlauf der Lektüre widerlegte Oberhypothese durch eine bessere zu erselzen, SIÖßI man auf die folgende Schwierigkeit: Die korrekte Oberhypothese wäre allein über ein erfolgreiches Studium eben desjenigtn Tutes zu gtwinntn, der selbst nur unttr Zugrundtlegung diestr noch nidrl verfügbaren Oberhypothese ~'erständnisvoll gdesen werden kOlln. (ZV 70)
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Wir haben gesehen, daß die Annahme einer aintention des Autors_ in gewissen FäUen schon deshalb nicht weiter führen kann, weil die Beantwortung der Frage: Wie sieht der Autor die Sache? voraussetzt, daß man verstanden hat. was der Autor sieht. Einen Fall dieser Art hat StegmüUer im Auge. Beim Lesen der Phi/osophüchen Untersuchungen von L. Wittgenstein stehe der philosophisch geschulte Leser vor dem Problem, daß ihm das, was »Wingensteins Gegner sagt, [...] immer [...] richtig zu sein_ scheine, während das, awas Wittgenstein darauf antwortet. [...] teils unverständlich, teils absurd_ auf ihn wirke (ZV 70). Es ist offensichtlich, daß die Schwierigkeit nicht auf einerwie immer gearteten »Intention_ des Autors beruht, sondern darauf, daß der Leser den zur Sprache gebrachten Sachverhalt nicht versteht: In einem weiteren Stadium stellt der Leser fest, daß seine Verständnisschwieripeiten darauf beruhen dürften. daß W. eine von der herkömmlichen Auffassung vollkommen abweichende Theorie der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke vertritt. Wo' bringt den Begriff ,Bedeutung eines WortC$( in unmittelbaren Zusammenhang mit lGebrauch eines Wortes<. Der Leser erkennt diesen Zusammenhang nicht. (ZV 70)
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Stegmüller verschiebt jedoch das Problem, wenn er die Abweichung von der »herkömmlichen Auffassung_ zu einer Frage der Information auf der Seite des Lesers macht. »Erkennen_ kann der Leser den Zusammenhang bereits in § 10, bevor er das Buch zu Ende gelesen hat: »Was bezeichnen nun die Wörter dieser Sprache? - Was sie bezeichnen, wie soll ich das zeigen, es sei denn in der Art ihres Gebrauchs?«26 Nur damit, daß er den Zusammenhang »erkennt«, versteht der Leser ihn noch nicht. Auch die Stelle § 43- »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache« - hilft ihm nicht weiter. Denn der Wink. den der Autor zunächst in der Form der Gegenfrage für die irritierende Darstellungsweise gibt, wird in § 43 lediglich als These in bezug auf die Theorie wiederholt. In gewisser Weise war der Hinweis in § 10 sogar der weitergehende: Er gab nicht nur bereits eine Hindeutung auf die vorgetragene Theorie des Textes, sondern er gab vor allem auch eine Hindeutung auf die methodische Konsequenz, die sich aus der Beschaffenheit der vorgetragenen Theorie für das Verstehen des Textes ergibt. Um die Andeutung so zu verstehen. müssen wir allerdings genauer hinsehen. Wittgenstein sagt nicht: llln der Art ihres Gebrauchs<, sondern: »in der Art ihres Gebrauchs« (Hervorh. von mir). D. h. aber, es scheint in der Beschaffenheit der so zu verstehen-
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CXXl'!l~~n Theorie zu liegen, daß sie sich nicht in einer Sprache über die Sprache vortragen läßt. Die Rede, die der Autor in seinem Text fühn, ist die Sprache in ihrem Gebrauch. Dies bedeutet nicht, daß der Autor nicht immer wieder beschreibend, erläuternd, erklärend die Sprache .in der Art ihres Gebrauchs« überschritte: eben dadurch4~jg,er ja. Es bedeutet jedoch, daß die beschreibende, erläuternde, erklärende Sprache auch wieder nur eine andere »An des Gebrauchs« ist, daß sie ihr Ziel verfehlen würde, wenn sie mehr sein wollte, als eben nur eine andere »Art ihres Gebrauchs«. Der Leser erkennt also »diesen Zusammenhang«, von dem StegmüUer in seiner überlegung ausgeht, durchaus oder kann ihn doch jedenfalls erkennen. Was hat er aber dadurch gewonnen, daß er ihn erkennt? Er wird dadurch nicht in die Lage versetzt, den .Zirkel des Verstehens« zu vermeiden, sondern im Gegenteil genötigt, sich in ihn hineinzubegeben. »Um di~ PU mit wirklichem Vuständnis lesen zu können, müpt~ du user Wjllg~nsr~insB~ deutungstheori~ k~nnen«, faßt Stegmüller seine überlegung in der Form eines »Zirkels« zusammen. »Die.~e Theorie kann er aber aufkeinem anderen Wege kennenlernen als durch ein verständnisvolles Swdium eben dieses Buches« (ZV 70). Tatsächlich handelt es sich bei dem .eigensprachlichen Interpretationsdilemma« am Beispiel der Philosophischen Untersuchungen um einen vom Autor dem Leser zugemuteten .Zirkel« zwiscben »Textsinn« und »Sache«: daß der »Textsinn« der Philosophischen Untersuchungen nur aus der .Sache«, der vorgetragenen Theorie, verstanden werden kann und die »Sache«, die vorgetragene Theorie, nur aus dem »Textsinn« der Philosophischen Untersuchungen. Erkennt man diese dem Leser vom Autor zugemutete Anlage des Textes, so kann diese Erkenntnis geradezu als »lnterpretationshypothese« dienen. Sie enthält zwar keine Aussage über die .Intention des Autors«, dafür aber eine Aussage über die Beschaffenheit des Textes und der vorgetragenen Theorie sowie eine Aussage über das ihnen gegenüber gebotene methodische Vorgehen. Alle drei Aussagen sind durch die Lektüre überprüfbar. Verstehe ich die Theorie .durch ein verständnisvolles Studium eben dieses Buches«, so ist die »Oberhypothese« bestätigt, daß dieses Buch verstehbar sei. Verstehe ich die vorgetragene Theorie aus dem »Textsinn«, so ist die erste »UnterhypoIhese«, verstehe ich den »Textsinn« aus der vorgetragenen Theorie, so ist die zweite» Unterhypothese« bestätigt. Was beißt aber in diesem Zusammenhang »verstehen«? Nach StegmüUer beruht der .Zirkel 142
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des Verstehens« auf einem »fehlinterpretiert[en)« Eindruck: »dem ir· rigen Eindruck [... l, daß ein Zirkel vorliege« (ZV 64). Um dies zu beweisen, rekurriert Stegmü!ler auf eine Reihe von Kriterien, mit Hilfe derer der Interpret sein Verständnis überprüfen kann, die teils aus dem Text, teils aus der Sache, teilsaus dem Amor unddem Interpreten selbst genommen sind: »innere Konsistenz, Einklang mit möglichst vielen TextsteIlen, logischer Zusammenhang und Kohärenz der Interpretationsbestandteile, übereinstimmung mit anderweitigem Wissen über den Autor usw.« (ZV 71). Bereits das an erster Stelle genannte Kriterium der »inneren Konsistenz« besitzt als Kriterium zur überprüfung des Verständnisses zwei Anwendungen: überprüft wird die »innere Konsistenz« der Interpretationshypothesen, d. h. ihr Zusammenhalt in der Sache, dann aber auch die »innere Konsistenz« des erschlossenen Textsinns: überprüft wird, ob der Text nach der vorge· schlagenen Interpretation in allen seinen Bestandteilen »innere Kon· sistenz«, Zusammenhalt in der Sache besitzt. D. h. aber, wichtiger als die »übereinstimmung mit anderweitigem Wissen über den Autor« ist die übereinstimmung mit anderweitigem Wissen über die Sache, wo· mit das Wissen gemeint ist, das der Autor haue, das Wissen, das der Interpret mitbringt, und das Wissen, das- im Fall der Philosophischen Umersllchungen - die »Sprache [...J in der Art ihres Gebrauchs« vermittelt. Wenn Gadamer verlangt, daß der Text in seinem »Anspruch, Wahres zu sagen«, emstgenommen wird (287),so meint dies nicht, daß es keine Kriterien zur Feststellung der Richtigkeit oder Nichtrichtigkeit des Verständnisses gäbe, wohl aber, daß im Verstehen nicht nur das Wissen, das die .Sprache [... J in der Art ihres Gebrauchs« vermit· teit, in übereinstimmung mit dem Wissen des Autors und dem Wissen des Interpreten zu bringen ist, sondern daß der Interpret, wenn er die Sache verstehen will, vor allem auch versucht, das anderweitige Wissen des Autors und das eigene anderweitige Wissen in übereinstim· mung mit dem Wissen zu bringen, das die .Sprache [...] in der Art ih· res Gebrauchs« vermittelt. Mil anderen Worten: Der Interpret, der die Sache verstehen will, legt das anderweitige Wissen des Autors und das eigene anderweitige Wissen in der Sprache des Textes aus, wie er, um die Sprache des Textes zu verstehen, die Sprache des Textes im anderweitigen Wissen des Autors und dem eigenen anderweitigen Wissen auslegt. Auch das Kriterium des »Iogische[n] Zusammenhang[s]« und der »Kohärenz der Interpretationsbestandteile« muß, solange der Inter143
DDD'\7p~et sein Verstehen überprüft, sowohl textseitig als auch interpretationsseitig zur Anwendung gebracht werden. überprüft werden .Iogischer Zusammenhang und Kohärenz«, sowohl insofern die .lnterpretationsbestandteile« dem Text, als auch insofemsieder Interpretation angehören. Und auch hier gilt, daß das von Stegmüllerin den Vordergrund gestellte Kriterium im Verhältnis von Text und Interpretation, der .Einklangmit möglichst vielen Textstellen«, zirkulär anzuwenden ist: Der Interpret überprüft, ob sich die interpretation mit dem Text im .Einklang« befindet, indem er prüft, ob sich die verwendeten .Textstellen« untereinander nach der vorgeschlagenen Interpretation im .Einklang« befinden. D. h. aber, wenn der Interpret, um zu verslehen, das Kriterium der .inneren Konsistenz«, des .Einklangs«, des .logische(n] Zusammenhang{s]« und der »Kohärenz«, der »übereinstimmung mit anderweitigem Wissen« und der »innere(n] Konsistenz« in bezug auf den Text und die den Text erschließenden Interpretationshypothesen anwendet, dann tut er von Haus aus bereits das, was ihm für die Lektüre der Philosophischen Untersuchungen eigens angeraten wird: er versucht, sein Wissen in der Sprache, Komposition, Gedankenfiihrung des Textes auszulegen. Die Kriterien, die StegmülJer anführt, könnten gleichwohl als Beweis für die Auflösbarkeit des .Zirkels« dienen: dann nämlich, wenn ihr Gebrauch zum Zweck der Beweisführung für ein bereits gewonnenes Verständnis auf die Interpretationshypothesen eingeschränkt wird. Betrachtet man jedoch ihren Gebrauch im Zusammenhang des Verstehens, so wird deutlich, daß sowohl mein Verständnis von der Theorie der Bedeutung mein Verständnis der Philosophischen Untersuchungen kontrolliert als auch mein Verständnis der Philosophischen Untersuchungen mein Verständnis von der Theorie der Bedeutung. Einmal angenommen, daß der Leser keine _Theorie über Wiugensteins Bedeutungslehre« aufstellen, sondern Wiugensteins Bedeutungstheorie verstehen will, muß er nicht annehmen, die Theorie der Bedeutung richtig verstanden zu haben, wenn er die Philosophischen Untersuchungen versteht, und die Philosophischen Untersuchungen richtig verstanden zu haben, wenn er die Theorie der Bedeutung versteht? Der Schluß ist zirkulär, aber nicht vitiös; denn er beansprucht nicht, den Beweis für die Richtigkeit des gewonnenen Verständnisses gegenüber anderen Verständnissen anzutreten, sondern er beweist nur, daß die Theorie der Bedeutung aus deo Philosophischen Untersuchungen verstanden wurde und die Philosophischen Untersuchungen aus der Theorie der Bedeutung.
144
47~BJ
D. h. aber, er beweist, daß in einem nicht-trivialen Sinn verstanden wurde. Vergleicht man zu diesem Punkt die weiteren Ausführungen Stegmüllers, so wird deutlich, daß sich das Verstehen nicht von selbst versteht. Stegmüllers Intention, zu einer »Theorie der Wittgensteinschen Bedeutungslehre_ zu kommen, verwechselt das Verstehen der Wiugensteinschen Bedeutungstheorie mit ihrer Erklärung aufgrund einer anderen, vielleicht der »herkömmlichen« Theorie: Entweder man gelangt trott der Schwierigkeit zu einer Lösung (in unserem Beispiel: zu einer Theorie der Wittgensteinschen Bedeutungslehre). Dann ist das Dilemma überwunden und existiert nicht mehr. Oder aber das Dilemma bleibt bei der gegenwärtigen lnfonnation bestehen. Dann muß man, wenigstens vorläufig, die Hofmung preisgeben, zu einer brauchbaren Theorie zu gelangen (in unserem Beispiel: das Buch mit Verständnis lesen zu können), und man kann nur mehr darauf hoffen, daß man einmal in der Zukunft auf Gmnd von neuem Erfahrungsmalerial oder durch Glück, Zufall und neue Einfalle einen Weg aus der Sackgasse herausfinden wird. (2 V 71)
Es soll nicht bestritten werden, daß das Warten auf »neue[s] Erfahrungsmaterial«, »Glück, Zufall und neue Einfälle« in der Regel das Schicksal schwer verständlichen Texte ist, wohl aber, daß »neue(s) Erfahrungsmaterial«, »Glück, Zufall und neue Einfälle« - analog den Gadamerschen lIIAugenblicken« oder »Situationen« der Geschichtean die Stelle des Bemühens treten kann, den Text aus seinen eigenen theoretischen Voraussetzungen heraus zu verstehen. Wenn aber das Bemühen, den Text aus seinen eigenen theoretischen Voraussetzungen heraus zu verstehen, zu den genannten Schwierigkeiten führt, wel· ches Interesse könnte der philosophisch geschulte Leser daran nehmen, Wittgensteins Philosophische Untersuchungen aus ihren eigenen theoretischen Voraussetzungen heraus zu verstehen? Gegen die Produktivität des »Zirkels« Ließe sich einwenden, daß Wittgensteins Wink nur ein Verständnis dieser Theorie der Bedeutung impliziere, nicht aber ein Verständnis der Theorie der Bedeutung überhaupt. Man übersähe dabei jedoch, daß Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen beansprucht, die Theorie der Bedeutung in dem Sinn zu einem richtigen Verständnis zu bringen, daß er die Grenzen absteckt, innerhalb derer sich von »der« Bedeutungsprachli· cher Ausdrücke reden läßt. Eben dies macht nach dem eingangs zitierten Zeugnis Stegmüllers das Problem ihres Verständnisses aus: daß man die Philosophischen Untersuchungen nicht verstehen kann, so145
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lange man andere Theorien der Bedeutung für zureichend hält, daß man sie aber nur verstehen kann, indem man andere Theorien der Bedeutung, die man für zureichend hält, mit ihr in Einklang bringt. Das gleiche gilt auf der Ebene des .Textsinns« für das Verständnis der Philosophiscllen Untersuchungen. Der Einwand, Witlgensteins Wink im· pliziere nur, daß man ein Verständnis der Philosophischen Url1ersJ~ chungen gewinnt, wenn man sie im Licht der Bedeutungstheorie ver· steht, nicht aber das Verständnis der Philosophischen Untersucllun· gen, übersieht, daß Wittgenstein für die Philosophischen Umersucllllngen genau die Darstellungsform wählle, in der die .Theorie« der Bedeutungzu verstehen ist. Nur solange, 'Yie sich der Interpret in dem Zirkel von .Textsinn« und .Sache« aufhäll, erweitert, beschränkt oder präzisiert er sein Verständnis von der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke. Nun ist aber durchaus umstritten, ob Witlgensteins »Theorie« der Bedeutung die richtige Bedeutungstheorie ist, und es ist auch umstritten, welche Lnterpretation der Philosophischen Untersuchungen die richtige Lnterpretation ist. Wenn im Zusammenhang des Verstehens das Verständnis der Philosophischen Untersuchungen durch das .andelWeitige Wissen« im Feld der Bedeutungstheorien kontrolliert wird und zugleich das .anderweitige Wissen« im Feld der Bedeutungstheorien das Verständnis der Philosophischen Untersuchun· gen, dann gilt dies zwar auch in gewisser Weise für den Rahmen, in dem eine Kontroverse über die richtige Interpretation der Philosophischen Untersuchungen und das richtige Verständnis der Rede von der Bedeutung sprachJicher Ausdrücke geführt wird, es kann jedoch nicht für die einzelne Argumentation in der Kontroverse gelten. Denn der Schluß vom Verständnis der Philosophischen Untersuchungen auf ein richtiges Verständnis der Rede von der Bedeutung sprachlicher Aus· drücke beweist nichts gegenüber einem anderen Verständnis der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke, solange das richtige Verständnis der Philosophischen Untersuchungen mit dem Verständnis der Rede von der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke bewiesen wird und umgekehrt. Dies bedeutet jedoch nicht, daß der .Zirkel des Verstehens« im Zusammenhang des VerSlehens vermieden oder - ralschlicherweiseaus der Perspektive der Argumentation für die Richtigkeit eines gewOOl;enen Verständnisses' in ein .Dilemma« umgedeutet werden könnte. Der .Eindruck«, das gewonnene Verständnis sei ein Beweis dafür, daß richtig verstanden wurde, hat seine Funktion nicht nur im Zusammenhang des kontrollierten Verstehens, sondern gerade auch 146
.7~6J
im Verhältnis von Verstehen und Beweisführung gegen ein bereits gewonnenes Verständnis. Denn gesetzt, ich verstehe die in den Philosophischt!n Untt!rsuchungen vorgetragene Bedeutung sprachlicher Ausdrücke nicht, so kann dies die lnterpretationshypothese, die Rede von der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke sei aus den Philosophischen Untersuchungen erschließbar, widerlegen. Mein Nichtverstehen kann aber auch daran liegen, daß ich die _herkömmliche Auffassung« nicht oder nicht genügend aus den Prämissen der Philosophischen Untersuchungen in Frage gestellt habe. Texten gegenüber, die darauf angelegt sind, unsere Verstehensmöglichkeit zu erweitern, kann man nie sicher sein, daß sie nicht doch aus ihren eigenen Prämissen verstehbar sind. Weder darauf, daß _in der bloßen Tatsache der schriftlichen Fixierung ein Autoritätsmoment von besonderem Gewicht liegt« (256), noch im Warten darauf, daß _Glück, Zufall und neue Einfälle« uns ein Verständnis eröffnen, sondern darauf, daß das Nichtverstehen immer auch ein Nichtverstehen der Sache ist oder doch sein könnte, dürfte beruhen, daß nicht nur klassische, sondern gerade auch schwerverständliche Texte der Tradition immer wieder zu Gegenständen der Auslegung werden. Es liegt eine Fehlinterpretation, kein _irriger Eindruck« vor, wenn man den _Zirkel des Verstehens« unter dem Aspekt der Bestätigung eines bereits gewonnenen Verständnisses verteidigt oder anficht. Verteidigt man ihn unter dem Aspekt der Bestätigung, so mag dies ein Hinweis darauf sein, daß man seine Funktion im Zusammenhang des Verstehens zu nutzen wußle; es schließt jedoch nicht aus, daß man seine Funktion mißversteht. Bestreitet man ihn aus dem Horizont der Bestätigung schlechterdings, so kann dies ein Anzeichen dafür sein, daß man seine Funktion im Zusammenhang des Verstehens nicht zu nutzen weiß, weil man seine Funktion mißversteht. Die Beweisführung für die Richtigkeit eines bereits gewonnenen Verständnisses ist weder auf die Operation des Verstehens abbildbar, noch ist der lnterpret, was die Beweisführung für die Richtigkeit eines gewonnenen Verständnisses bzw. die Beurteilung des Verstandenen angeht, in der Situation, _ein Gefangensein im hermeneutischen Zirkel« zugestehen zu müssen (PI 212). Die ontologische Argumentation, die Gadarner, anknüpfend an Heidegger, aus der Perspektive einer Zugehörigkeit des Verstehens _zum Sein dessen [...], was verstanden wird«, für die _Zirkelstruktur des Verstehens« (250) führt, kommt zwar - in der Rekonstruktion des .Oberlieferungsgeschehens« - einem _Gefan147
OOO'7a~~
genseine gleich, ist aber aus der methodologischen Perspektive der .Zugehörigkeit aUes Sprachlichen zum Verstehene zugleich auch als weitergehende Antwort auf eine wissenschaftstheoretische Frage zu würdigen. Unter allem Wissen ist das Wissen des Nichtwissens das voraussetzungsreichste. Die Rekonstruktion des Oberlieferungsvorgangs läßt sich aus der Perspektive der .Zugebörigkeit alles Sprachüchen zum Verstehen«, die allerdings nicht die intendierte letzte Perspektive der .philosophischen Hermeneutik« ist, als Versuch einer Antwort auf die Frage lesen, wie das Verstehen als ein Fall des methodisch eingesetzten Nichtwissens möglich sei.
Anmerkungen 1 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen '1975 (' 1960), S. XIX (künftig zitien mit einfacher Angabe der Seitenzahl). 2 Wilhelm Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, StullgartlGötlingen 61974, S. 139-240, hier S. 144. 3 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, StuttgartlGöuingen '1979, S. 77-18g, hier S. 87. 4 Kritisch dazu Georg Henm: von Wright, Erklären und Verstehen, (Explanation and Understanding, übs. v. G. Grewendorf u. G. Meggk), Frank· funIM. I975,50wieRichard Rony, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Phi· Iosophie, (philosophy and the Mirror of Nature, übs. v. M. Gebautr). Frank· fwtlM. 1981. 5 F(riedrich) D{aniel] Elrnst] Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhangsprachphilosophischer Texte SchleiermadlefS. hrsg. u. emge!. v. M. Frank, FrankfunlM. 1977, S. 75 (künftig zitien als HuK). 6 Zum Verhältnis von Kantianismus und hegelianischer Gesdticbtsphibsophie bei Gadamer vgl. Wolfhart Pannenberg, Hermeneutik und Universalgeschichte (1963), in: Hans-Georg Gadamer/Gonfried Bochm (Hgg.),Seminar. Die Hermeneutik und die Wissenschaften. FrankfwtlM. 1978, S. 283--319, hier S. 308 f.: _Es ist ein eigentümliches Schauspiel, tu erleben, wie ein scharfsinniger und tiefblickender Autor alle Hände voU damit tu tun hat, seine Gedanken davon abzuhalten, daß sie die in ihnen angelegte Richtung nehmen. Dieses Schauspiel bielet Gadamc:rs Buch in seinem Bemühen, die Hegelsche Totalverminlung der gegenwärtigen Wahrheit durch die Gescbichte zu vermeiden. Dieses Bemühen ist (... J sehr wohl begründet durch den Hinweis auf die Endlichkeit der menschlichen Erfahrung, die nie in ein absolutes Wissen aufzuheben ist. Aber seltsamerweise drängen die von Gadamer beschriebenen
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41683
Phänomene immer Meder in die Richtung einer universalen Geschichtskonzeption, der er - das Hegeische System vor Augen - gerade ausweichen möchte._ Vgl. auch Jürgen Habermas. Zu Gadamers .Wahrheit und Methodec (1967), in: Hermeneutik und Ideologiekritik. Mit Reitrigen von Karl-Otto Apel, Oaus v. Bormann, Rüdiger Bubner, Hans--Georg Gadamer, Hans Joachim Giegel, JÜrae.n Habermas. Frank.furtIM. 21971, S. 45--82. 7 Elric) D(onald) Hinch. Prinzipien der Interpretation, (Validity in Interpretation, übs. v. A. A. Spälh), München 1972. S. 43 (künftig zitien. als PI). 8 Zur Ausarbeitung des. Ve.rste.heßS( vgl. JUrgen Habermas. Der Universalititsanspruch der Hermeneutik (1970). in: Hermeneutik und Ideologiekritik, S. 120-159; zur Ausarbeitung des .OberJieferungsgeschehensc vgl. Hllns Rl> ben. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation (1967), in: ders., Literaturgeschichte als Provokation, FrankfunlM. 31973, S. 144-207. 9 Vgl. dazu ManÜ'ed Frank, Das individuelle Allgemeine. TexlStrukturieruog und -interpretation nach Schleiermacher. Frankfurt/M. 1977, S. 87ft. 10 Vgl. dazu Rüdiger Bubner, Transzendentale Hermeneutik?, in: Roland Simon-SchaeferlWailher Ot(ristilln) Zimmerli (Hgg.), Wissenschaftstheorie der GeistcsMsscnschaften. Konzeptionen, Vorschläge, Entwürfe, Hamburg 1975, S. 56-70; vgl. auch den., Ober die wissenschaftstheoretische RoUe der Hermeneutik. Ein Diskussionsbeinag, in: den., Diakktik und Wissenschaft, FrankJurtIM. 2 1974, S. 89--111. 11 Emilio 8etti, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, (Te.oria generale de.lla interpretarione. übs. v. A. BaeumJer), lUbingen 1967, S. 6228'.; vgl. ferner Helmut Coing. Die juristischen Auslegungsmethoden und die Lehre der allgemeinen Hermeneutik, Köln 1959. 12 Wolfhart Pannenberg gründet darauf die .relative Selbständigkeit der Hermeneutik gegenüber der historischen Forschungc, vgi. Pannenberg, Hermeneutik und Universalgeschichte, S. 289. l3 Vgl. dazu Hellmut Aashar/Karlfried Gründer/Axel Hontmann (Hgg.), Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, Göttingen 1979. 14 Wilhelm Dillhey, Die EnLStehung der Hermeneutik (1900), in: deR., Gesammelte Schriften, Bd. 5. S. 316-338, hier S. 319f. 15 Georg Wilhdm Friedrich HegeI, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, neu hrsg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt/M. 1970 (- Theorie-Werkausgabe., Bd. 12), S. 45. 16 Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. hrsg. v. R. Hübner, München '1971, S. 329. 17 Ebd. S. 341. 18 Wolfgang Steg.müUer. Der sogenannte Zirkel des Verstehens, in: den., Das Problem der Induktion: Hume.s Herausforderung und modeme Antworten. Der sogenannte Zirkel des Verstehens, Dannstadt 1975, S. 63-88. hier S. 66f. (künftig titiert als ZV). 19 Vgl. Niklas Luhmann. Zweck - Herrschaft - System: Grundbegriffe und Prämissen Mu Webers, in: den.• Soziologische Aufklärung. Aufsätze tur Theorie sozialer Systeme, Köln/Opladen 1970, S. 90-112, hier S. 95. 20 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 83.
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•
21 Vgl. dazu auch Günther Patzig, Erklären und Verstehen. Bemerkungen zum Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften (1973). in: ders., Tatsachen, Nonnen. Sätze. Aufsitze und Vonriige. Stuttgart 1980. S. 45-75. 22 Zur .historischen Lnterpretation< im Unterschied z.ur .indivldueUenc vgJ. auch August Boeckh. En%)'klopädie und Methodenlehre der philok>gischen Wissensc:haften. hrsg. v. E. Bratuschek, 1. Haupneil: Formale Theorie der philologischen Wissensc:hafl. (Repr. der Ausg. Leipzig 11886. hrsg. v. R. Klussmann),Dannstadt 1966. bes. S. 111 ff. u. 124ff. 23 Dihhey, Entstehung der Hermeneutik, S. 330. 24 Martin Heidegger. Sein und Zeit, (hrsg. v. F.-W. von Henmann), FrankfurtlM. 1977 (=- Gesamtausgabe. 1. Abt., Bd. 2), Originalpag. S. 153. 25 Zum Verhältnis ~'on .Verständnise und 'philologischem Beweise vgl. Peter Swndi, Ober philologische Erkenntnis (1962), in:
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Nachbemerkung
Die Beiträge dieses Bandes wurden vorgetragen auf einem Symposion über Hennellemisc1le Positionen: Schleiermacher - Di/they Heidegger - Gadamer, das am 5. und 6. November 1981 im Rahmen des »Literaturwissenschaftlichen Kolloqu.iums« des Fachbereichs Hi· storisch-Philologische Wissenschaften der Universität Göttingen stattgefunden hat und für dessen Ennöglichung wir dem Dekan, ProL Dr. Ulrich Mölk, wie auch den übrigen Veranstaltern des >Kolloquiums< vielmals danken. Die Druckfassung dieser Vonräge fußt in vielen Einzelheiten auf der Diskussion zwischen den Autoren sowie mit den anwesenden Literatur- und Sprachwissenschaftlern, Philosophen und Theologen, unter denen hier nur - stellvertretend auch für andere - Dr. Anna Fuchs, Fred Lönker, Dr. Gisela Striker und Dr. Ulrich Barth (Schleiermacher-Forschungsstelle an der Universität Kiel) aufs herzlichste gedankt sei.
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Perwnenregister Aenesidemus 5. Schulze, G. E. Alben, H. 5 d'Alembert, J. 49 Anz, H. 14, 53, 85-87 Anz t W. 88 Apel, K.-O. 5, 14, 149 Aristoteles 7,45 Amauld, A. 21,44,46 Ast, F. 81., 15-17, 30r., 39, 43f., 50r" 57 Auerbach, E. 46 Augustin 44
Derrida, J. 5 Descanes, R. (Cartesius, R.) 21,49, 94, 102, to5 Dewey, J. 5 Diderot, D. 49 Diemer, A. 84 Dillhey, W. 5, 7-12,13f., 15--17,22, 34, 3~4, 46, 52, 54, 56, 58, 59-88, 89r., 92, 120f., 132f., 135, 137, 139, 148-150 Droysen, J. G. 40, 132f., 135, 139, 149
Bacon, F. 21 Barth, U. 151 Bauer, G. L. 47 Baumganen, S. 1. 43,45-48 Beetz, M. 13 Benjamin, W. 50r. Betti, E. 17,120,149 Birkner, H.-]. 14,53 BilUs, H. 14,42,56 Bismarck, Q. von 88 Böckh,A.(Boeckh,A.) 11, 16,40f.. 43,57,137,150 Boehm, G. 50, 148 Bollnow, F. 83. 86 Dapp, F. 48
Ebeling, G. 44 Eckennann, J. P. 59,83 Eco, U. 70, 85f. Eichstädl, H. C. A. 43,47 Einslein, A. 16 Emesti, J. A. 17, 23f., 43, 47 Eschenmayer, C. 35, 54
Bonnann,C. von 14,149 Brinkmann, H. 44 Bubner, R. 5, 14, 149 Buhmann, R. 83 Cartesius, R. s. Descartes. R. Chladenius, J. M. 11,24,43,47 Cicero 16, 56 Coing. H. 149 Cordes, M. 51
Dannhauer, J. C. 7 Darwin.Ch. 16
152
Fichte, J. G. 29,32,35,49-52,54 f. Fiesei, E. 50 Fink, E. 54 Aashar, H. 43, 149 Foucault, M. 6, 16, 42-44, 46, 48-50 Frank, M. 5,13,17,42,56,88,149 Freud, S. 5, 16,58, 126 Friedländer, P. 55 Fuchs, A. 151 Fülleborn, G. G. 43 Fuhrmann, M. 46r. Gadamer, H.-G. 5,7-9, 11f., 13f., 16,34,41-44,50,54,59,63,66, 83, 86-88, 90r., 116, 118, 12(}....150 Galilei, G. 16 Geldse12.er, L. 45 Giegel, H. J. 5, 14, 149
.7d6~
Goethe,J. W. von 59f.,64,17,83f.,
87 Gogh, V. van 113 Grimm, J. 48, 94 Gründer, K. 43,149 Gundolf. F. 83 Habennas. J. 5,14,17.43.83.87,
149 Hamann. J. G. 48 HegeI, G. W. F. 12, 15,32,35,39, 49,55,72,80,86,90, 148f. Heidegger.M.5,7,9-II,14,34,4I, 49. 54, 58. 59, 63. 66, 68, 83, 85 f., 89-119, t21 C.• 124, 126, 133, 137, 139f., 147, 150 Henrich, D. 50,51 Heraklit 15 Herder, J. G. 26-28,29,31. 48 Hennand, J. 83 Herms, E. 53 Heydenretch, K. H. 50 Hirsch, E. D. 17, 12S-128, 134, 137, 147.149 Höffe, D. 83 Hölderlin, F. 32 Hofmannslhal, H. von 60, 8 I f., 83.
88 Holl, K. 44, 83 Horstrnann, A. 43, 149 Hugo von St. Vielor 44f. Humnga, J. 46 Hurnboldt, W. von 10, 48-50, 118 Hurne, D. 66 Husserl. E. 85.90. 94f.. 102, 112,
117 Ineichen. H. 83,85 Jacobi, F. H. 51 f. Jaeger, H.·E. H. 13 Jakobson, R. 46 JauB. H. R. 149 Jesus 15 Kanl.1. 28f., 32, 38, 49-51, 57, 61, 64,66,68,85,95,121,123f.,126,
148
Keil, K. A. G. 25.47 Kierke8aard, S. 92 Kimmerle, H. 43 KJuckhohn, P. 83 Köhler, P. 49 Körner, J. 42 Kopemikus, N. 16 Korff, H. A. 83 Krausser, P. 83 f. Küntzel, H. 85 Kuhn, T. S. 53, 57 lacan,J.5 LancelOI, C. 44.46 Leibniz, G. W. 20, 28, 49, 82 Lichtenberg. G. 01. 53 Locke. J. 66 lönker, F. 151 Lubac, H. de 44 Lübcke. P. 86 Lücke, F. 13. 16 Luhmann, N. 149 Lukacs, G. 83 Luther, M. 19, 44f., 79, 82, 132 Mahnke, D. 49 Meier, G. F. 2~24. 45, 47 Melanchthon, Ph. 191.,45 Michaelis, J. D. 48 Migne, J.·P. 44f. Misch, G. 83 Mölk, U. 151 Moeller, B. 88 Morus, S. F. N. t7, 43, 47
Nassen, U. 45 Newton, I. 16 Niettsche, F. 5, 16. 58 Nohl, H. 83 Novalis (Hardenberg, F. von) 32 Ohly, F. 44 Palladio, A. 16 Pannenberg, W. 148f. Patsch, H. 13,42f. Patzig, G. 150 Pein~, 01. S. 46
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00047A~3
Peschken, B. 83f. Pitra, J. B. 44 Platon 12, 14. 15, 32, 35 f., 53, 55 f.. 92. 109f., 115. 118. 123, 126 pöggeler. Q. 118 Prauss,G.117f.
Raffael 16 Reinhold, K. L. 29.49-5 I Riooeur. P. 6 Riedei, M. 83 f. Rizzo. S. 56 ROl1y. R. 5f., 13. 148 Rothacker, E. 84 Rousscau, J .•J. 126 Ruslcrhotz, P. 45 Ryle.G. 116 Sachs, Hans 82 Sander, F. 13 Sartre, J.·P. 5 Sauerland, K. 83 Schader, H. 56 Schelling, F. W. J. 30. 32f., 35, 52-55, 92 Schlegel. A. W. 50 Schlegel, F. 16,32,42,48. 56f. Schleiermacher. F. O. E. 7-12,13f., 15-58,59,81,88. 89f., 92.116, 118.121, 123f., 137-139, 148 Scholtz, G. 58 Schopenhauer. A. 49 Schulz, w. 118 Schulze. G. E. (Aenesidemus) 29. 49f.
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Semler, J. S. 24 Simon·Schader, R. 149 Sakrales 92, l09f. Saiger. K. W. F. 19.44 Spinou. B. 32. 52, 55 Spranger. E. 83 Saiger, E. 83 Stegmüller, W. 5. 54. 133, 137, 14()...147. 149 Sleinthal. H. 41,57 Striker, G. 151 StrohSoChneider-Kehrs, 1. 43 Süskind, H. 52 Szondi, P. 8, 13. 17.42-44,47.51, 53f.. 150 Tieck. L. 44 Todoroy. T. 43 TugendhaI. E. 9Of., 116-119 Unger. R. 83 Vergil 16 Wach. J. 43,46, 5 I Wagner, F. 52. 55f. Wehrung, G. 55 Wittgenstein, L. 5.54, 141-147, 150 Wolf, F. A. 8f., 15, 17.23, 29f., 39, 43, 46f., 50 Welff, 01. 28,49 Wrighl, G. H. Yon Sr.. 148 Zimmerli, W. Ch. 149
Die Autoren Heinrich Anz. geboren 1942, Studium der Germanistik, Altphilologie und Philosophie in Tübingen, Berlin und Heidelberg, 1978 Promotion in Heidelberg; von 1968 bis 1976 Akademischer Tutor und Wissenschaftlicher Assislent am Germanislischen Seminar der Universitäl Heidelberg. seit 1976 Dozent am Institul ruf Ge"rmanischc Philologie der Universität Kopenhagen. Veröffentlichungen u. S.: Die Bedeutung poetischer Rede. Studien lur her· meneutischen Begründung und Kritik von Poetologie (1979); Aufsäl7.e zur Poetologie und Hermeneutik, zur Kritik liu:raturwissenschaftlicher Begriffs· bildung und zur deutschen Uteratur von Lessing bis Kalb. Hend,ik Birw, geboren 1943, Studium der Germanistik, Vergleichenden Literaturwissenschaft und Philosophie in Hamburg und Heidelbcrg, 1977 Promotion in Heidelberg; seit 1972 Wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Deutsche Philologie der Universität Göttingen. Veröffentlichungen u. a.: Poetische Namengebung. Zur Bedeutung der Namen in Lessings aNathan der Weisec (1978); Aufsätze zur literarischen Onomastik, Hermeneutik und üteraturtheorie sowie tur deutschen und europäischen Literatur.
Gümu Figa/, geboren 1949, Studium der Germanistik und Ph.ilosophie in Heidelberg, 1976 Promotion in Heidelberg; lehn seit 1976 Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und seit 1978 am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg. Veröffentlichungen u. a.: Theodor W. Adomo. Das Naturschöne als spekulative Gedankenfigur (1977); Aufsätze zur Ontologie, Ethik, Geschichtsphilosophie und Ästhetik.
Horst T/lTJc, geboren 1935. Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Hamburg, Frankfun1M. und Berlin, 1963 Promotion in Berlin, 1972 Habilitation in Freiburg i. S.; seit 1974 o. Professor für Deutsche Philologie an der Universität Göuingen. Veröffentlichungen u. a.: Dramensprach.e als gesprochene Sprache. Untersuchungen zu Kleists .Penthesileac (1965); Dialektischer Dialog. Literaturwissenschaftliche Untersuchung zum Problem der Verständigung (1975); WIJ'kungsästhetik. Theorie und Interpretation der literarischen Wirk.ung (1976); üteraturtheorie I. LiteraturwissenschaftlicherTeil (1976); (Mithg.) Urszenen. üteraturw~nschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik (1971); (Mithg.) Handeln, Sprechen und Erkennen. Zur Theorie und Praxis der Pragmatik (1978); (Hg.) Klassiker der üteratunheorie (1979); Aufsäue zur Literaturgeschichte, Literatursoziologie und Methodologie der Literaturwissenschaft soIo\ie zur deutschen Literatur vom 11. bis 20. Jahrhundert. BQycrl~che
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