Thieme
Humanistische Psychotherapie Quellen, Theorien und Techniken Werner Eberwein
69 Abbildungen 2 Tabellen
Georg...
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Thieme
Humanistische Psychotherapie Quellen, Theorien und Techniken Werner Eberwein
69 Abbildungen 2 Tabellen
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Anschrift des Autors Dipl.-Psych. Werner Eberwein Aachener Straße 27 10713 Berlin www.Werner-Eberwein.de
© 2009 Georg Thieme Verlag KG Rüdigerstraße 14 70469 Stuttgart Telefon: +49/(0)7 11/89 31-0 Unsere Homepage: www.thieme.de Printed in Germany Zeichnungen: Andrea Schnitzler, Innsbruck Umschlaggestaltung: Thieme Verlagsgruppe Satz: stm media GmbH, 06366 Köthen gesetzt aus Indesign CS3 Druck: Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co, Calbe ISBN 978-3-13-143921-5
1 2 3 4 5 6
Wichtiger Hinweis: Wie jede Wissenschaft ist die Medizin ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere was Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in diesem Werk eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autoren, Herausgeber und Verlag große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jeder Benutzer ist angehalten, durch sorgfältige Prüfung der Beipackzettel der verwendeten Präparate – gegebenenfalls nach Konsultation eines Spezialisten – festzustellen, ob die dort gegebene Empfehlung für Dosierungen oder die Beachtung von Kontraindikationen gegenüber der Angabe in diesem Buch abweicht. Eine solche Prüfung ist besonders wichtig bei selten verwendeten Präparaten oder solchen, die neu auf den Markt gebracht worden sind. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers. Autoren und Verlag appellieren an jeden Benutzer, ihm etwa auffallende Ungenauigkeiten dem Verlag mitzuteilen.
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Wir sind hier, weil es letztlich kein Entrinnen vor uns selbst gibt. Solange wir uns nicht in den Augen und Herzen unserer Nächsten begegnen, sind wir auf der Flucht. Solange wir unsere Freunde nicht an unserem Innersten teilhaben lassen, gibt es für uns keine Geborgenheit. Solange wir uns fürchten, durchschaut zu werden, sind wir allein und können weder uns selbst noch andere erkennen. Wo, wenn nicht in unseren Mitmenschen können wir einen solchen Spiegel finden? Erst in der Gemeinschaft mit ihnen können wir uns selbst richtig begegnen. Hier können wir beginnen, uns nicht mehr als die Riesen unserer Träume oder die Zwerge unserer Ängste zu sehen. Im Boden der Gemeinschaft können wir Wurzeln schlagen und wachsen, nicht mehr allein und entmutigt, sondern lebendig, als Menschen mit Menschen und als Teil des Ganzen. Richard Beauvais, einer der Urväter der psychotherapeutischen Selbsthilfe
VI
Geleitwort
Der Humanistischen Psychotherapie gehört die Zukunft, da sie auf einem positiven Menschenbild beruht, ohne das der Umgang mit Menschen zu einer Hülse wird. Die knappe und übersichtliche Einführung von Werner Eberwein in dieses lohnende und komplexe Tätigkeitsfeld trägt die wesentlichen Gedanken, Modelle und theoretischen Voraussetzungen sowie die praktischen Vorgehensweisen auf diesem Gebiet zusammen und stellt sie in gut verständlicher Form auf dem neuesten Wissensstand dar. Die Humanistische Psychotherapie und Psychologie hat sich immer in der Philosophie westlicher und östlicher Traditionen verankert gesehen und diesem Gesichtspunkt wird der Autor in seinem geschichtlichen Überblick und seinen theoretischen Ausführungen gerecht. Aber auch die Darstellung der Psychopathologie und der Salutogenese, der Bindungstheorie und der strukturellen Störungen ist einheitlich aufeinander bezogen und in transparenter Weise gelungen. Mit der Diskussion der therapeutischen Beziehung inklusive der Regelung von Distanz und Übertragungsphänomenen sowie der Darstellung der Psychodynamik emotionaler Prozesse wird das Bild einer ganzheitlichen Darstellung menschlichen Denkens, Verhaltens und Fühlens einleuchtend begründet und sowohl durch eine tiefenpsychologische Sichtweise wie eine humanistische Perspektive verständlich.
Im Anschluss an die theoretische Einbettung nimmt der Autor dann eine Einteilung in die wichtigsten Humanistischen Therapieformen vor, dabei werden die Gesprächstherapie ebenso wie die Körpertherapie und die Gestalttherapie in ihren wichtigsten Verfahren der Behandlung und Diagnostik beschrieben und aufeinander bezogen. Hinzu kommt die Hypnotherapie, die vom Autor folgerichtig mit ihren humanistischen Ansprüchen ebenso wie das Psychodrama gesehen wird. Das Buch wird abgerundet durch die Darstellung neuerer dynamischer Ansätze wie der provokativen Therapie von Farrelly, der psychodynamischen Kurzzeittherapie von Davanloo und der Primärtherapie von Janov. Das Buch besticht durch Klarheit und ist auch durch die zahlreichen Abbildungen trotz der komplexen Materie leicht lesbar. Eine gelungene Synthese verschiedenartiger Denkansätze und Handlungsmodelle, die alle den gemeinsamen Nenner Humanistische Psychotherapie verdienen. Es gibt wohl kaum ein vergleichbares Buch, in dem so wesentliche Bestandteile aus unterschiedlichen Wissensbereichen zu einem homogenen Therapiekonzept zusammengeführt werden. Tübingen, im Dezember 2008
Dirk Revenstorf
VII
Einleitung
» Der Mensch ist auch ein Tier, aber er ist unend-
lich mehr als ein Tier, und zwar um nichts weniger als eine ganze Dimension, nämlich die Dimension der Freiheit. Viktor Frankl
«
Die Humanistische Psychotherapie geht davon aus, dass dem Menschen in jeder Angelegenheit und in jedem Augenblick trotz seiner Formung und Begrenzung durch seine biologische Natur, seine Lebensgeschichte und seine soziale Umgebung die Möglichkeit bleibt, wahlfrei zwischen einer Vielzahl von Optionen zu entscheiden. Wie sich der einzelne Mensch im Einzelfall entscheidet, kann nicht vorhergesagt werden. Diese existenzielle Wahlfreiheit kann dem Menschen nicht genommen werden, und er kann sich aus ihr nicht herausstehlen. Die Möglichkeit des Menschen, sein Leben wahlfrei zu gestalten und übergeordneten Zielen und Werten zu widmen, eröffnet eine ganze Dimension jenseits der biologischen Triebe und der Verhaltenskonditionierungen. Auf der Idee der existenziellen Wahlfreiheit und Sinnorientierung basiert das humanistische Menschenbild, das die Möglichkeit und Unausweichlichkeit der Gestaltung der Welt durch den Menschen hervorhebt. Jeder Mensch, jede soziale Gemeinschaft, ja die ganze Menschheit erzeugt und reproduziert durch ihre wahlfreien Entscheidungen auf Basis der gegebenen Bedingungen ihre Lebensumwelt. Die soziale Wirklichkeit ist vom Menschen geschaffen und wird durch Entscheidungen aufrechterhalten oder verändert. Eine solche Sichtweise öffnet einen weiten Raum. Sie konfrontiert uns mit unserer Verantwortung für unser Leben, aber sie weist auch auf unsere Veränderungsmöglichkeiten hin. Wir sind
für die Ausgestaltung unseres eigenen Lebens, für die Gestaltung der sozialen Beziehungen und der ökologischen Bedingungen, unter denen wir leben, verantwortlich. Wir gestalten unsere Biografie durch unsere wahlfreien Entscheidungen. Damit hat jeder Einzelne Teil an der Gestaltung des Ganzen. Selbst unter noch so begrenzten und beschränkenden äußeren Umständen bleibt dem Menschen eine Freiheit der Wahl. Wie die aufwühlenden Berichte des in Wien geborenen Psychiaters Viktor Frankl über seine Erfahrungen als Insasse mehrerer Konzentrationslager zeigen (Frankl 2005), hat der Mensch selbst unter den unmenschlichsten, absurdesten und restriktivsten Bedingungen mindestens noch die Freiheit der Wahl, • sich der scheinbaren Aussichtslosigkeit seiner Lage passiv zu ergeben, und damit seinem Leben als sinnhafter und lebenswerter Existenz ein Ende zu setzen, oder • durch einen inneren Bezug zu einem persönlichen Sinn, ein in selbstbestimmten Werten wurzelndes Leben zu gestalten. Eine der wertvollsten Ergebnisse von Frankls Reflexionen seiner schrecklichen KZ-Erfahrungen war, dass diejenigen seiner Mitinsassen, die sich aufgaben, die also an der Absurdität ihrer Lage verzweifelten , „in den Zaun gingen“, d. h. ihrem Leben an dem Hochspannungszaun, der die KZ umgab, ein Ende setzten. Dagegen fanden diejenigen, die selbst im KZ den Bezug zu etwas Sinngebendem behielten, sei es eine Religion, die Hoffnung auf das Wiedersehen ihrer Familienangehörigen, eine Philosophie oder noch so kleine gegenseitige Unterstützungen, einen inneren Halt, der ihnen die Kraft zum Überleben gab.
VIII Einleitung
Frankls Begriff des persönlichen Sinns und der Orientierung an Werten sind Grundkonzepte der Humanistischen Psychotherapie. Wenn der Mensch als existenziell frei betrachtet wird, also als ein Wesen, das den Sinn und die Orientierung seines Lebens durch wahlfreie Entscheidungen hervorbringt, dann ist jeder Mensch für die leitenden Prinzipien und die Ausgestaltung seines Lebensweges verantwortlich. „Wir sind in die Freiheit geworfen“, sagt Sartre (1982). Über alle Bedingungen und Konditionierungen hinaus gestaltet der Mensch aktiv seine Existenz, also auch die Art, wie er mit psychischem Leid umgeht. Wenn ein psychisch leidender Mensch einen Humanistischen Psychotherapeuten aufsucht, so hat er eine Entscheidung getroffen, wie er den Umgang mit seinem Leid gestalten möchte. Er hätte auch anders entscheiden können. Niemand kann vorhersagen, welchen Weg ein psychisch leidender Mensch einschlagen wird. Niemand kann ihm diesen Weg vorgeben. Man kann ihn beraten, ihn ermutigen, drängen oder sogar zwingen (z. B. durch psychiatrische oder juristische Maßnahmen), aber selbst dann bleibt ihm eine Wahlfreiheit, die ihm nicht genommen werden kann. Nur schwerste Störungen, wie hirnorganische Schädigungen, Schizophrenie oder Demenz, können die Willensfreiheit teilweise oder ganz aufheben, und in diesen Fällen kann Humanistische Psychotherapie wenig erreichen. Humanistische Psychotherapie setzt Entscheidungsfreiheit voraus und sie dient dem Gewahrsein und der Ausdehnung der Wahlfreiheit. Wenn ein Mensch in psychischem Leid einen Humanistisch orientierten Psychotherapeuten aufsucht, so wird dieser ihm verdeutlichen, dass er, der Therapeut, sich nicht als derjenige versteht, der die Therapie „macht“. Der Humanistische Psychotherapeut mit seinem Fachwissen und seinen Techniken sieht nicht primär sich für den Ablauf und den Erfolg des psychotherapeutischen Prozesses verantwortlich. Vielmehr ist es der Klient, der in der Therapie mit aller Kraft seinen Weg suchen und selbst gehen muss, und dabei erhält er die kompetente, professionelle Unterstützung des Therapeuten. Der Humanistische Psychotherapeut versteht sich als Kooperationspartner, als Begleiter und Unterstützer, manchmal als Herausforderer, aber nicht als „Macher“ der Therapie. Das mag banal klingen, hat aber weitreichende Folgen für die Gestaltung des Therapieprozesses. Aus der Sicht der Humanistischen Psychotherapie wird dadurch
ein therapeutischer Fortschritt überhaupt erst möglich. Die Humanistische Psychotherapie beschäftigt sich vorrangig mit dem, was am Menschen spezifisch menschlich ist. Sie vertritt den Standpunkt, dass die Subjektivität und Intersubjektivität des Menschen nur begrenzt empirisch-statistisch oder biologisch-medizinisch erfasst und abgebildet werden kann. Der Mensch als Subjekt ist kein Ding, kein Zahlenwert und kein Neuronenimpuls, sondern eine Person und nur als Ganzheit in ihrem Erleben und Handeln zu erfassen. Die Subjektivität eines Menschen kann ein anderer Mensch nur in Beziehung mit ihm, also intersubjektiv durch Verstehen und Dialog, Einfühlung und Abgrenzung erfahren. Die Seele kann grundsätzlich nicht wie ein Objekt untersucht werden, weil sie kein Objekt ist. In der Humanistischen Psychotherapie gibt es keinen objektiven Beobachterstandpunkt außerhalb der therapeutischen Beziehung zum Klienten. In der Humanistischen Psychotherapie geht es um intraund intersubjektive Prozesse. Der Therapeut ist mit dem Klienten in eine Beziehungsgesamtheit, ein interpersonelles System, eingebunden, in dem der Therapeut durch professionelle Distanz und Fachwissen einen Raum ausfaltet, in dem der Klient seine Gefühle und Beziehungsmuster reflektieren und transformieren kann. Psychotherapie ist Heilung im Kontakt und mit den Mitteln des Kontaktes. Kontakt im Sinne der Humanistischen Psychotherapie ist etwas Dialogisches, Intersubjektives. Die Humanistische Orientierung ist vor allem eine Einstellung. Sie besteht aus Prinzipien, Theorien und Techniken, aber sie ist kein lehrbuchartig fixierbares, einheitliches Verfahren. Die Humanistische Psychotherapie hat keinen relevanten Dachverband, keine Mitgliedschaft und keine allgemein verbindliche Ausbildungsordnung. Viele ihrer Anhänger sind auch in den klassischen, von den Krankenkassen anerkannten Verfahren ausgebildet, also Verhaltenstherapeuten, Tiefenpsychologen oder Analytiker, manche mehreres zugleich. Kristallisationspunkt der Humanistischen Psychotherapiebewegung war in den 1960er-Jahren das Esalen-Institut in Kalifornien, in dem viele Begründer und große Vertreter der Humanistischen Psychologie und Psychotherapie, wie z. B. Abraham Maslow, Fritz Perls, Alexander Lowen, Carl Rogers, Stan Grof und Ida Rolf gearbeitet haben. Humanistische Psychotherapie versteht sich als dritter Weg neben den verhaltensorientierten und analytischen Verfahren der Psychotherapie und
Einleitung IX
verschreibt sich der Integration der Konzepte. Humanistische Psychotherapeuten arbeiten auf der Basis ihrer humanistischen Grundeinstellung mit einer Vielfalt von Theorie und Techniken, die auf Wahlfreiheit und Sinnorientierung, Verstehen und Dialog beruhen. Humanistische Psychotherapie integriert verbale und nonverbale Techniken. In Humanistischen Psychotherapiesitzungen wird geredet, aber auch geatmet, gemalt, getanzt, massiert, getrommelt, gespielt, meditiert und visualisiert. Die therapeutischen Prozesse können in Worte, Dialoge, Bewegungen, Töne, Imaginationen, Rollenspiele oder Rituale umgesetzt werden. Humanistische Psychotherapie ist eine integrative psychotherapeutische Orientierung, die das psychische Wachstum durch Entfaltung spezifisch menschlicher Potenziale auf ein von Sinn getragenes, selbstverwirklichendes, authentisches Leben hin in den Mittelpunkt stellt. In der Humanistischen Psychotherapie wird der psychotherapeutische Prozess als fortgesetzte Tiefenselbsterkundung des Erlebens und besonders der Beziehungsmuster des Klienten in einem kooperativen Dialog mit dem Therapeuten gesehen. Humanistische Psychotherapie integriert erfahrungsorientierte, psychodynamische, ressourcen- und zielorientierte Ansätze. Sie dient dazu, die Lebendigkeit des Klienten und seine latenten Potenziale aus den Fesseln gefrorener Angepasstheit oder blinder Rebellion zu befreien. Ihr Ziel ist es, Beziehungsstörungen und Traumata zu transformieren, archaische Gefühle und Impulse zu kultivieren, also spürbar, lebbar und kontrollierbar zu machen und dem Klienten zu helfen, seine Identität zu erfühlen und zu definieren, seine eigenen Grenzen zu spüren, zu schützen und auszuweiten, um einen vitalen, erfüllten Lebensweg zu gestalten.
Ziel der Humanistischen Psychotherapie ist die Integration von abgewehrten Anteilen, die Förderung der Wahlfreiheit, die Entfaltung latenter Potenziale und die Orientierung der Lebensperspektive an sinnstiftenden Werten. Abb. 1 zeigt die Ebenen und Ziele der Humanistischen Psychotherapie. Unter einem psychotherapeutischen „Verfahren“ wird nach der Definition des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) eine psychotherapeutische Arbeitsweise verstanden, die über eine umfassende Theorie der Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen verfügt sowie über Behandlungsstrategien für ein breites Spektrum von Anwendungsbereichen bei „versorgungsrelevanten Störungen“. Unter einer „Methode“ versteht der wissenschaftliche Beirat eine psychotherapeutische Arbeitsweise, die speziell für die Behandlung einer oder mehrerer Indikationen, nicht aber für ein breites Spektrum von Störungen geeignet ist. Unter einer „Technik“ versteht der G-BA eine konkrete Vorgehensweise, mit der die angestrebten Ziele im Rahmen der Anwendung von Verfahren und Methoden erreicht werden sollen (Weidhaas 2008). Ich gehe davon aus, dass es drei große psychotherapeutische Orientierungen gibt: • die psychodynamische, • die behaviorale und • die humanistische. Innerhalb dieser Orientierungen gibt es jeweils verschiedene „Verfahren“, z. B. Psychoanalyse und Tiefenpsychologie, Verhaltenstherapie, Gesprächspsychotherapie, Psychodrama, Gestalttherapie, Körperpsychotherapie und Hypnotherapie. In jedem Verfahren wird eine Fülle von „Techniken“ angeAbb. 1 Ebenen und Ziele der Humanistischen Psychotherapie.
X Einleitung
wandt, z. B. einfühlendes Verstehen, Deuten, kognitive Umstrukturierung, Rollenspiele, bioenergetische Übungen und Feedback. In der psychotherapeutischen Praxis sehen wir vor dem Hintergrund einer sich in der Zukunft abzeichnenden Allgemeinen Psychotherapie vielfältige konzeptuelle Hybridisierungen von Orientierungen, Verfahren, Methoden, Techniken und Interventionen. Es ist daher nahezu unmöglich und meines Erachtens auch nicht sinnvoll, die Humanistische Orientierung hundertprozentig von den psychodynamischen und den behavioral orientierten Verfahren abzugrenzen. Die Abschottung der psychotherapeutischen Schulen gegeneinander ist eine Fiktion und hat wissenschaftlich und praktisch keine Zukunft. Für mich sind die drei großen psychotherapeutischen Orientierungen (die psychodynamische, die behaviorale und die Humanistische) eher als Attraktoren in einem vernetzten Feld von Verfahren und Techniken zu verstehen, die untereinander erfreulicherweise in einer regen Wechselwirkung gegenseitiger Befruchtung stehen. Ich verstehe dieses Buch als Beitrag zur Vernetzung der psychotherapeutischen Verfahren. Meines Erachtens ist es von grundlegender Wichtigkeit für die Weiterentwicklung der psychotherapeutischen Profession, in der Theorie das abzubilden, was viele Psychotherapeuten in der Praxis ohnehin tun, nämlich aus den bestehenden Therapieverfahren diejenigen Theorien und Techniken herauszufiltern und systematisch miteinander zu kombinieren, die am besten geeignet sind, dem individuellen Klienten in seinen speziellen Anliegen zu helfen, und die dem persönlichen Stil des Psychotherapeuten entgegenkommen, und dabei allen dogmatischen Ballast beiseite zu lassen. Das Neue an diesem Buch über die vorliegenden Publikationen z. B. von Quitmann (1996), Revenstorf (1993) und Kriz (2007) hinaus, ist vor allem die detaillierte Beschreibung der aktuellen Anwendungen der Humanistischen Psychotherapieverfahren und -techniken in ihrem Bezug zu der zugrundeliegenden Humanistischen Philosophie mit vielen Anwendungsbeispielen vor dem Hintergrund meiner 25-jährigen psychotherapeutischen Praxis in der Anwendung Humanistischer Verfahren und Techniken. Das vorliegende Buch ist vor allem für Psychotherapeuten, Ärzte, Heilkundler und Auszubildende der Heilverfahren gedacht, aber auch für Psychotherapie-Klienten und andere an Psycho-
therapie Interessierte, die wissen wollen, was es im Spektrum der Psychotherapie über die klassischen psychodynamischen und behavioralen Verfahren hinaus noch gibt. In der Humanistischen Psychotherapie spricht man traditionell nicht von „Patienten“, sondern von „Klienten“. Der Begriff „Patient“ (von lat. patientia: das Ertragen, der Leidende, der vom Arzt zu behandelnde Kranke) gilt als mit dem medizinischen Krankheitsmodell assoziiert, in dem psychisches Leid als etwas objektiv Beschreibbares verstanden wird, das nach operationalisierten Symptomlisten diagnostiziert und durch technische Interventionen von außen geheilt werden könne. Ein „Patient“ wird definiert (und definiert sich selbst) als psychisch krank mit Anspruch auf Empfang einer Heilbehandlung durch den Arzt, als passiver Empfänger von Interventionen. Der Begriff „Klient“ (von engl. / frz. client: der selbstbestimmte Auftraggeber, z. B. eines Rechtsanwaltes) im Sinne der Humanistischen Psychotherapie betont dagegen das Eingehen einer psychotherapeutischen Kooperationsbeziehung, in der die Arbeit des Klienten an sich selbst und die Unterstützung seiner Autonomie im Vordergrund stehen. Weiterhin wird in diesem Buch weitgehend der subjektive Begriff „psychisches Leid“ verwendet, statt Begriffe wie „psychische Krankheit“, „seelische Störung“, „Neurose“ usw., die den Schein eines objektiven Sachverhalts erwecken. Gemeint sind damit als leidvoll erlebte, anhaltende Gefühlszustände, Beziehungsmuster, Einstellungen, Selbstbilder und Verhaltenstendenzen. Leid als Reaktion auf schmerzliche Erfahrungen ist ein unausweichlicher Teil der menschlichen Existenz. Erst wenn psychisches Leid sich verfestigt, über die leidmachenden Ereignisse hinaus anhält und sich unbewusst reproduziert, ist Psychotherapie erforderlich. Was die Geschlechterbezeichnungen betrifft, so verwende ich mangels einer gut lesbaren sprachlichen Alternative die männlichen Formen, wenn geschlechtsunspezifische Zusammenhänge gemeint sind, die anders nicht flüssig ausgedrückt werden können. Aus Gründen der Einheitlichkeit habe ich in diesem Buch in der wörtlichen Rede die Klientenanrede durchgängig mit „du“ formuliert. In der Praxis orientiere ich mich bei der Anrede an dem Wunsch und den sozialen Gepflogenheiten des jeweiligen Klienten.
XI
Danksagung
Für ihre hilfreichen Feedbacks zu einzelnen Abschnitten des Manuskriptes möchte ich mich bedanken bei (in alphabetischer Reihenfolge) Karin Behrens, Heiner Bertram, Walter Bongartz, Heike Brendel, Ulfried Geuter, Martin Goßmann, Gerda Gottwik, Wolfgang Hegenbart, Karl-Otto Hentze, Michael Hohmann, Agnes Kaiser-Rekkas, Johannes Morschel, Angelika Moser, Ulrich Schlünder,
Frank Staemmler und Manfred Thielen, sowie Anja Horn, die für viele der Therapiefotos „gemodelt“ hat. Bedanken möchte ich mich auch bei Matthew Speyer, der die Idee für dieses Buch hatte, sowie bei meinen Ausbildern, Therapeuten und Kollegen und bei meinen Klienten, Gruppen- und Fortbildungsteilnehmern – ohne sie hätte dieses Buch nicht entstehen können.
XII
Inhalt
Geleitwort ........................................................................................................................... VI Einleitung ............................................................................................................................. VII Danksagung ........................................................................................................................ XI
Geschichte und Philosophie
1
1
Gesellschaftlicher Hintergrund ................................................................................
3
2
Philosophische Quellen .............................................................................................
6
2.1
Humanismus ....................................................................................................................
6
2.2
Existenzialismus ...............................................................................................................
8
2.3
Hermeneutik .................................................................................................................... 11
2.4
Holismus und Feldtheorie .............................................................................................. 13
2.5
Dialogphilosophie ............................................................................................................ 15
2.6
Östliche Philosophien ....................................................................................................... 17
Theorien
23
3
Grundbegriffe ............................................................................................................. 25
3.1
Bedürfnisse und Werte ..................................................................................................... 25
3.2
Sinn .................................................................................................................................. 27
3.3
Gefühle ............................................................................................................................. 29
4
Die Entstehung von psychischem Leid .................................................................... 32
4.1
Fragmentierungsangst ..................................................................................................... 32
4.2
Leid erzeugende Beziehungskonstellationen ................................................................... 34
4.3
Frühe Bindungsstörungen ................................................................................................ 38
4.4
Abwehr von Fragmentierungsangst .................................................................................. 39
Inhalt XIII
4.5
Die Wiederkehr des Abgewehrten .................................................................................... 42
4.6
Symptome und Syndrome ................................................................................................ 43
4.7
Psychische Struktur und Strukturstörungen ..................................................................... 44
5
Die existenzielle Dimension in der Psychotherapie ............................................... 49
5.1
Dasein .............................................................................................................................. 49
5.2
Existenzielle Fragen .......................................................................................................... 50
6
Die psychotherapeutische Beziehung ..................................................................... 51
6.1
Professionelle Distanz ....................................................................................................... 52
6.2
Übertragung und Gegenübertragung ............................................................................... 54
6.3
Stabilisierung fragiler Strukturen ..................................................................................... 56
6.4
Struktur und Raum ........................................................................................................... 61
6.5
Erlebnisaktivierung .......................................................................................................... 62
6.6
Altersregression ............................................................................................................... 64
Verfahren und Techniken
67
7
Wertschätzendes Einfühlen ...................................................................................... 69
7.1
Der Personzentrierte Ansatz ............................................................................................. 69
7.2
Empathie .......................................................................................................................... 71
7.3
Focusing ........................................................................................................................... 77
7.4
Gewaltfreie Kommunikation ............................................................................................. 81
8
Psychodynamisches Deuten ..................................................................................... 86
9
Körperarbeit ............................................................................................................... 89
9.1
Grundlagen ...................................................................................................................... 89
9.2
Körperenergie .................................................................................................................. 92
9.3
Psychosomatische Zyklen ................................................................................................. 92
9.4
Körperenergie-Diagnostik ................................................................................................. 95
9.5
Heranführen des Klienten an Körperarbeit ....................................................................... 99
9.6
Körperwahrnehmung ....................................................................................................... 101
9.7
Veränderung des Atemmusters ........................................................................................ 103
9.8
Ausdrucksarbeit ............................................................................................................... 105
9.9
Aggressionsübungen ........................................................................................................ 109
9.10 Halt gebende Körperarbeit ............................................................................................... 111 9.11 Arbeit mit Körperhaltungen ............................................................................................. 113 9.12 Berührungstechniken ....................................................................................................... 115
XIV Inhalt 9.13 Psychotherapeutische Massage ........................................................................................ 117 9.14 Weitere körperpsychotherapeutische Techniken .............................................................. 120
10
Gewahrsein und Kontakt .......................................................................................... 124
10.1 Quellen und Grundbegriffe der Gestalttherapie ............................................................... 125 10.2 Kontakt ............................................................................................................................ 128 10.3 Kontaktstörungen ............................................................................................................ 130 10.4 Gestalttherapeutische Techniken ..................................................................................... 133 10.5 Gestalttherapeutische Sprachformen ............................................................................... 136
11
Trance und Suggestion .............................................................................................. 139
11.1 Grundbegriffe der Hypnotherapie .................................................................................... 139 11.2 Klassische und Erickson'sche Hypnose .............................................................................. 145 11.3 Einleitung einer Trance ..................................................................................................... 146 11.4 Pacing und Leading .......................................................................................................... 148 11.5 Metaphern ....................................................................................................................... 149 11.6 Hypnotherapeutische Sprachformen ................................................................................ 152 11.7 Hypnotischer Ressourcentransfer ..................................................................................... 152 11.8 Trance-Dialog .................................................................................................................... 156 11.9 Weitere Trance-Techniken ................................................................................................ 163
12
Rollenspiele und Identifikationstechniken ............................................................. 169
12.1 Psychotherapeutisches Stegreiftheater ............................................................................ 169 12.2 Stellvertreter-Techniken .................................................................................................... 174 12.3 Doppeln ........................................................................................................................... 175
13
Auseinandersetzung und Konfrontation ................................................................ 177
13.1 Konfrontation mit Kontaktvermeidungen ........................................................................ 177 13.2 Humorvolle Provokation .................................................................................................. 182 13.3 Durchfühlen der Abwehr................................................................................................... 184 13.4 Psychodynamische Konfrontation .................................................................................... 188
14
Weitere Techniken ..................................................................................................... 191
14.1 Gruppendynamik ............................................................................................................. 191 14.2 Musik und Tanz ................................................................................................................ 193 14.3 Kreative Medien ............................................................................................................... 196 14.4 Selbsthilfe ......................................................................................................................... 197
Anhang
201
15
Literatur ...................................................................................................................... 203
16
Sachverzeichnis .......................................................................................................... 214
Geschichte und Philosophie 1 2
Gesellschaftlicher Hintergrund Philosophische Quellen
3
1 Gesellschaftlicher Hintergrund
Ursprünge. Die Humanistische Psychotherapie hat viele Quellen. Sie ist geprägt durch Einflüsse aus der Philosophie, besonders aus dem Humanismus, dem Existenzialismus, den östlichen Philosophien, aus sozialkritischen Bewegungen, aus der jüdischen Kultur, aus körper- und ausdrucksorientierten sowie künstlerischen Techniken und aus der Aufbruchstimmung der 1960er- und 1970er-Jahre. Sie wurde auch von den klassischen Psychotherapieverfahren Verhaltenstherapie und Psychoanalyse beeinflusst – viele ihrer Begründer waren Dissidenten der Psychoanalyse. Innere Demokratisierung. Die Humanistische Psychotherapie kann verstanden werden als eine psychosoziale Strömung, die sich die Emanzipation des Individuums zu Humanität, Selbstbestimmung und Toleranz, also quasi eine innere Demokratisierung, zum Ziel setzt. Sie entstand unter dem Eindruck der erschreckenden Zerstörungskraft faschistischer und stalinistischer Regime in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Viele Begründer der Humanistischen Psychotherapie waren deutsche und österreichische Juden, die beim Aufkommen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft nur durch Emigration der Vernichtung entgingen. Die meisten Mütter und Väter der Humanistischen Psychotherapie flohen in die USA. USA. In den Vereinigten Staaten war mit der Wirtschaftskrise 1929 dem Selbstbewusstsein der Pionier- und Gründerzeit vorübergehend die Basis entzogen worden. Die Politik und die konservative geistige Orientierung der Präsidenten Coolidge und Hoover wurden unter Präsident Roosevelt (Amtszeit 1933–1945) abgelöst durch eine gewisse politische und kulturelle Erneuerung (und eine
erhebliche Konzentration der politischen Macht in den Händen der Zentralregierung) unter der Bezeichnung New Deal. Roosevelt und sein Beraterstab waren an einem humanistisch orientierten Pragmatismus ausgerichtet. Emigranten. Die von den Nazis verfolgten Intellektuellen, die aus Europa nach Amerika emigrierten, brachten die Existenzphilosophie (Kierkegaard, Heidegger, Buber, Jaspers, Sartre) mit und stießen damit auf großes Interesse. Sie förderten die Beschäftigung mit östlicher Philosophie (Taoismus, Buddhismus, Zen) und machten die Schriften des davon beeinflussten Hermann Hesse in Amerika bekannt. Die Begründer der Gestaltpsychologie (Wertheiner, Köhler, Koffka, Lewin u. a.) emigrierten geschlossen in die Vereinigten Staaten und übernahmen dort Lehrtätigkeiten an verschiedenen Universitäten. Auch viele Dissidenten der Psychoanalyse (Adler, Reich, Fromm, Rank, Perls, Cohn, Horney, Fromm-Reichmann, Deutsch u. v. a.), die auf die eine oder andere Weise die theoretischen und behandlungstechnischen Begrenzungen der Freud’schen Psychoanalyse in Frage stellten, emigrierten nach Amerika und beeinflussten die dort entstehenden Humanistischen Psychotherapieformen (Quitmann 1996). Grundlegende Postulate. Im Jahr 1961 wurde in den USA die Association for Humanistic Psychology (AHP) gegründet. Im Jahr 1964 veröffentlichte James Bugental im Journal of Humanistic Psychology fünf grundlegende Postulate, aus denen die Richtung erkennbar wird, in die sich die Humanistische Psychotherapie in den folgenden Jahren entwickelte (Bugental 1964):
4
Geschichte und Philosophie
1. Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Teile. Denken, Fühlen und Handeln, Körper und Seele, Kindheit und Lebensperspektive eines Menschen können nicht getrennt voneinander verstanden werden, sondern nur als eine Ganzheit (holistisch). 2. Der Mensch existiert in seinen Zusammenhängen. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Was er erlebt und tut, ist nicht bloß individuell zu verstehen, sondern nur in seinen sozialen, gesellschaftlichen Bezügen. 3. Der Mensch lebt bewusst. Die Motive seines Handelns und Erlebens können nicht als bloße biologische Trieb- oder konditionierte Verhaltensautomatismen verstanden werden, sondern nur als Produkte bewusster, reflektierender Auseinandersetzung mit der Welt. 4. Der Mensch kann wählen. Er ist durch seine Biologie und seine Biografie geformt, aber nicht determiniert. Er hat eine existenzielle Wahlfreiheit – ob er das anerkennt oder nicht. 5. Der Mensch lebt auf Ziele hin. Er ist nicht nur durch seine Vergangenheit (kausal) bestimmt, sondern auch durch seine Ausrichtung auf Werte, Sinn und Ziele hin (teleologisch). Die 1960er- und 1970er-Jahre. Die von den damaligen Blocksupermächten ausgehenden oder gesteuerten Interventionen und Kriegshandlungen, besonders in Südostasien und im Nahen Osten, waren in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre Auslöser einer weltweiten antimilitaristischen Bewegung. Sie richtete sich zunächst vor allem gegen den Vietnamkrieg, der mindestens 1,5 Millionen Tote unter der vietnamesischen Zivilbevölkerung gefordert hatte, und weitete sich zur 1968er-Revolte aus. In Deutschland wurde, ausgehend von den Hochschulen und beeinflusst u. a. durch die Thesen der Frankfurter Schule (Horkheimer, Adorno, Marcuse) auf der kulturellen und politischen Ebene das etablierte Denken umfassend in Frage gestellt. Die Struktur der Wissenschaften und der Universitäten sowie die Methoden, Inhalte und Ziele der Forschung wurden im Hinblick auf ihre gesellschaftlichen Auswirkungen auf den Prüfstand gestellt. Die historischen, politischen und kulturellen Strukturen und Traditionen sowie die persönlichen und vor allem sexuellen Beziehungen und Lebensweisen, die Familie, die Prinzipien der Kindererziehung und das Verhältnis der Geschlechter wurden radikal hinterfragt. Vielfältige
(teilweise problematisch entgrenzte) alternative Lebensformen wurden erprobt. Nach dem Abflauen der antiautoritären Protestbewegung wandte sich ein Teil der Anhänger und Sympathisanten des Aufruhrs in die Innenwelt, was in den 1970er und 1980er-Jahren eine blühende und teilweise bizarre Therapie- und Esoterikszene hervorbrachte. Das Psychotherapeutengesetz. Nach jahrzehntelangem Tauziehen in und zwischen den politischen Gremien und den Verbänden des Gesundheitswesens trat 1999 in Deutschland das Psychotherapeutengesetz in Kraft. Es führte mit der Integration der als Psychotherapeuten tätigen Psychologen in die Kassenärztlichen Vereinigungen mit der Möglichkeit der Kassenabrechnung zu einer Absicherung der beruflichen Existenz der kassenzugelassenen Psychotherapeuten (unter Ausschluss der nicht zugelassenen Kollegen), brachte aber auch eine zunehmende Bürokratisierung der Psychotherapie und die Festlegung auf die klassischen Psychotherapieverfahren, ihre Behandlungs- und Forschungsparadigmen mit sich. Seither entscheiden der „Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie“ und der „Gemeinsame Bundesausschuss“ über die berufs- und sozialrechtliche Anerkennung der Tätigkeit von Psychotherapeuten.
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Der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie (WBP) ist paritätisch mit je sechs Vertretern der Bundesärztekammer und der Bundespsychotherapeutenkammer besetzt. Der WBP ist ein Gutachtergremium für die Feststellung der Wissenschaftlichkeit von Psychotherapieverfahren. Seine Gutachten sollen die Grundlage bilden für Entscheidungen der zuständigen Landesbehörde über die Anerkennung von Ausbildungsstätten, an denen eine „vertiefte Ausbildung“ absolviert werden kann, die zur Approbation als Psychologischer Psychotherapeut oder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut führt.
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Stimmberechtigte Mitglieder des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) sind Vertreter des Bundes der Krankenkassen, der Kassenärztlichen und der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung und der Deutschen Krankenhausgesellschaft sowie drei unparteiische Mitglieder. (Daneben nehmen ohne Stimmrecht Vertreter von Patientenverbänden an den Sitzungen teil.) Der G-BA bestimmt den Leistungskatalog der Gesetzlichen
1 Gesellschaftlicher Hintergrund
Krankenversicherung (GKV) und legt damit fest, welche Leistungen von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden. Damit entscheidet er auch, für welche psychotherapeutischen Leistungen die Kosten von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Standespolitik. Einige Humanistische Psychotherapieverfahren versuchen seit Jahren erfolglos von den genannten Gremien anerkannt zu werden, deren Gutachten- bzw. Beschlusspraxis in der Fachöffentlichkeit umstritten ist (Eckert 2007, Kriz 2008). Die Personzentrierte Gesprächspsychotherapie wurde zwar vom Wissenschaftlichen Beirat bereits 1999 als wissenschaftliches Verfahren anerkannt, dennoch hat der Gemeinsame Bundesausschuss 2007 ihre sozialrechtliche Anerkennung zum wiederholten Mal abgelehnt. Der Hypnotherapie ist es 2007 gelungen, vom Wissenschaftlichen Beirat für die Indikationen „psychosomatische Störungen“ und „Abhängigkeitserkrankungen“ als wissenschaftliche Methode (nicht aber umfassend als Therapieverfahren) anerkannt zu werden. Der Antrag auf wissenschaftliche Anerkennung des
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Psychodramas wurde im Jahr 2000 vom Wissenschaftlichen Beirat abgelehnt (Margraf u. Hoffmann 2001). Die Körperpsychotherapie und die Gestalttherapie haben noch keinen Antrag auf eigenständige wissenschaftliche Anerkennung gestellt. Gegenwart. Aufgrund ihrer kritischen Haltung gegenüber den derzeit in Deutschland angewandten Kriterien der Wissenschaftlichkeits- und Effizienzprüfung tun sich die Humanistischen Psychotherapieverfahren schwer, durch das Nadelöhr der berufs- und sozialrechtlichen Anerkennung zu schlüpfen und sich im Kassensystem zu etablieren. Jedoch fällt es Humanistischen Psychotherapeuten ohne Kassenzulassung auf die Dauer auch schwer, neben dem System der Krankenkassenversorgung und in Konkurrenz zu den für die Klienten scheinbar kostenlosen klassischen Psychotherapieverfahren zu existieren. In den letzten Jahren ist darüber hinaus in den klassischen Verfahren eine Tendenz zu bemerken, Theorien und Techniken der Humanistischen Psychotherapien zu vereinnahmen (z. B. Young 2008, Sulz 2005, Moser 2002).
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2 Philosophische Quellen
2.1 Humanismus
» Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Protagoras « Der Mensch im Mittelpunkt. Die Humanistische Psychotherapie basiert auf der humanistischen Weltanschauung. Humanismus ist – allgemein ausgedrückt – die Idee der Menschlichkeit und das Streben danach, das menschliche Dasein zu verbessern. Das Wohlergehen des einzelnen Menschen und des Menschen als Gattung bilden den höchsten Wert, an dem sich jedes Handeln orientieren soll. Im Zentrum der humanistischen Grundüberzeugungen steht der Respekt für die Würde des Menschen und seine Persönlichkeit, das Vertrauen in die Fähigkeit jedes Menschen, zu wachsen, sich zu entwickeln und sich zu bilden, das Bestreben, die Voraussetzungen zu schaffen, damit sich die schöpferischen Kräfte des Menschen entfalten können, sowie Mitgefühl für die menschlichen Schwächen. Der Humanismus sieht sich u. a. als einen Weg, um ethische Standpunkte unabhängig von Religionen zu entwickeln. Er grenzt sich von Weltanschauungen ab, die von der Existenz von Instanzen oder Werten ausgehen, die dem Menschen übergeordnet sind (z. B. höhere Wesen, politische Dogmen), weil der Mensch sich nur aus eigenem Antrieb weiterentwickeln kann und muss. Der grundlegende humanistische Wert der menschlichen Würde hat, nicht zuletzt als historische Konsequenz aus dem Staatsterror des Nationalsozialismus, Eingang sowohl in die Charta der Vereinten Nationen als auch in das deutsche Grundgesetz gefunden. Humanistische Werte. Der Humanismus (von lat. humanus: menschlich, menschenwürdig, menschen-
freundlich; humanitas: Menschlichkeit) ist eine Philosophie, die sich an den Bedürfnissen, den Werten und der Würde des Menschen orientiert. In der humanistischen Weltanschauung gelten höhere menschliche Werte wie Toleranz, Gewaltfreiheit, Entscheidungs- und Gewissensfreiheit als zentrale Prinzipien menschlichen Zusammenlebens. Geschichte. Bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. entstand in der Athener Demokratie das humanistische Ideal einer umfassenden geistigen und körperlichen Bildung des Menschen. Die griechischen Philosophen Heraklit (um 500 v. Chr.) und Protagoras (490–411 v. Chr.) lehrten, es gebe keine geistige, moralische oder gesetzliche Absolutheit und der Mensch sei die höchste Autorität. Im alten Rom prägte maßgeblich Cicero (106–43 v. Chr.) den Begriff „Humanitas“, der das bezeichnen sollte, was den Menschen zum Menschen macht: Gerechtigkeit, liebevolles Miteinander, Muße, Freude und die Pflege des Geistigen. Als einziges Wesen sei der Mensch fähig, aus Einsicht heraus zu handeln und sein Leben kreativ und selbstbestimmt zu gestalten. In der Folge wurden viele bekannte Philosophen und Wissenschaftler dem Humanismus zugeordnet, von den Frühhumanisten (z. B. Dante Alighieri, Erasmus von Rotterdam, Albrecht Dürer, Thomas Morus, Philipp Melanchthon, Ulrich von Hutten) bis zu den neuzeitlichen Humanisten (z. B. Albert Einstein, Albert Schweitzer, Erich Fromm, Bertrand Russell, Charlotte Bühler, Jean-Paul Sartre, Carl Friedrich von Weizsäcker, Abraham Maslow, Carl Rogers).
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Moderner Humanismus. Vom modernen Humanismus spricht man ab der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, in der die jahrhundertelange geistige Stagnation des Mittelalters aufgebrochen wurde. In der Nachfolge von Kant wurden auf der Basis der menschlichen Vernunft alle Denkweisen infrage gestellt, die auf den Glauben an Autoritäten begründet waren. Die bürgerliche Moderne begann mit der Verkündung der Menschenrechte und der subjektiven Freiheit in der Französischen Revolution 1789. In dieser Zeit setzte die Aufklärungsphilosophie den vorher unanfechtbaren Rechten und Privilegien des Adels, den im Mittelalter alle geistigen Freiheit erstickenden Dogmen der Kirche und der unanfechtbaren Autorität der Bibel die Macht der Vernunft entgegen, die durch freie Auseinandersetzung der Meinungen zur Grundlage der sozialen Ordnung werden sollte. Nach dem 2. Weltkrieg begründete Jean Paul Sartre mit seinem viel gelesenen Essay „Der Existenzialismus ist ein Humanismus“ (2000, erstmals veröffentlicht 1945) die Basis für einen existenzialistischen Humanismus. 1978 beschrieb Erich Fromm in dem
Abb. 2.1 Erich Fromm (mit freundlicher Genehmigung von Rainer Funk).
Sammelband „Humanismus als reale Utopie“ den Humanismus als Alternative zur Selbstentfremdung des Menschen im industriellen Zeitalter. „Der Sinn des Lebens (besteht) in der völligen Entwicklung der menschlichen Eigenkräfte, insbesondere in der von Vernunft und Liebe, im Transzendieren der Enge des eigenen Ichs und in der Entwicklung der Fähigkeit, sich hingeben zu können, in der vollen Bejahung des Lebens und von allem Lebendigen.“ (Fromm 1978, S. 65 f) Humanistische Psychologie. Die Humanistische Psychologie ist eine an den humanistischen Werten orientierte psychologische Wissenschaft. Sie ist die psychologische Basis der Humanistischen Psychotherapie und wurde hauptsächlich begründet von Abraham Maslow, Charlotte Bühler, James Bugenthal und Carl Rogers. In ihrem Mittelpunkt steht das Ziel der Verwirklichung der Persönlichkeit durch Entwicklung latenter Fähigkeiten und Potenziale. Die Entstehung und die Konzepte der Humanistischen Psychologie wurden von Quitmann (1996) detailliert beschrieben.
Erich Fromm (1900–1980) war Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe. Er wurde in Frankfurt/Main geboren, studierte zunächst Jura, dann Soziologie, absolvierte in Berlin eine Ausbildung zum Psychoanalytiker und praktizierte ab 1929 als Laienanalytiker. Ab 1930 war er Angehöriger der „Frankfurter Schule“ und Leiter der sozialpsychologischen Abteilung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Er gehörte einem Kreis marxistischer Psychoanalytiker um Wilhelm Reich und Otto Fenichel an und veröffentlichte Publikationen über Marxismus und Psychoanalyse. 1934 emigrierte er in die USA. Ab 1957 war er in der US-amerikanischen Friedensbewegung aktiv. Viele seine Veröffentlichungen zu Psychoanalyse, Religionspsychologie und Gesellschaftskritik, in denen er einen spirituellen und demokratisch-sozialistischen Humanismus vertrat, wurden zu Bestsellern und auch außerhalb der Fachwelt breit diskutiert. Er schrieb unter anderem über die Entfremdung des Menschen und ihre Überwindung, über die Voraussetzungen und Folgen von Gewalt in Familie und Gesellschaft, über die Folgen von Überanpassung und über die „Pathologie der Normalität“.
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Geschichte und Philosophie
2.2 Existenzialismus
» Der Mensch ist frei, selbst wenn ihn von allen Seiten Zwänge bedrängen. Wir sind in die Freiheit geworfen. Jean-Paul Sartre « Selbstverwirklichung. Der Existenzialismus ist eine Philosophie der Selbstverwirklichung. Er hatte seinen Höhepunkt in den Schriften Jean-Paul Sartres am Ende des 2. Weltkrieges und in der Nachkriegszeit. Als Hauptvertreter des Existentialismus gelten neben Sartre, Albert Camus, Simone de Beauvoir, Karl Jaspers und Gabriel Marcel. In der Literatur werden z. B. Autoren wie Franz Kafka, Rainer Maria Rilke, Gottfried Benn, Jean Améry, Samuel Beckett, Charles Bukowski, William Faulkner, Ernest Hemingway, John Steinbeck und Jerome Salinger als vom Existenzialismus beeinflusst betrachtet. Geschichte. Die Geschichte des Existenzialismus beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts mit Max Stirner, Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche, die der fest strukturierten viktorianischen Gesellschaft ihre rigoros vereinzelte Existenz entgegensetzten. Ihre Bücher, die von der radikalen Befreiung des Einzelnen aus den Zwängen der Moral, der Sitte und des Gesetzes handeln, fanden vor allem in der Künstlerboheme der Jahrhundertwende eine begeisterte Leserschaft. Nach dem Ersten Weltkrieg inspirierten die Existenzphänomenologen Karl Jaspers und Martin Heidegger die französischen Existenzialis-
ten Sartre, de Beauvoir und Camus. Die Philosophie in der Mitte des 20. Jahrhunderts war tief geprägt, ja traumatisiert durch Faschismus und Stalinismus, also durch geistige Barbarei, die sich inmitten der Aufklärung mit all ihren technischen, politischen, sozialen und kulturellen Errungenschaften entwickelt hatte (Welsch 1994). Der Existenzialismus kann verstanden werden als eine philosophische Gegenbewegung zu diesen destruktiven Systemen, weil er dem Zwang der totalitären Übermächte die radikale Freiheit und Verantwortung des Einzelnen entgegensetzt. Der Existentialismus geht davon aus, dass der Mensch in seinem Wesen frei und für die Ausgestaltung seines Lebensweges unter den vorgefundenen Bedingungen selbst verantwortlich ist, wobei sich durch die wahlfreie Gestaltung seines Lebens auch die Bedingungen seines Lebens verändern (siehe Abb. 2.2). Sinn. Das Leben eines Menschen hat für Existenzialisten keinen vorgegebenen Sinn, der sich von einer höheren Macht, einer übergeordneten Moral oder einem politischen System herleiten ließe und den dieser Mensch bloß finden und verwirklichen müsste. Vielmehr wird der Sinn eines menschlichen Lebens durch wahlfreie Handlungen kreativ geschaffen, also selbst gewählt und dadurch verwirklicht. Der Sinn kann nicht gefunden werden wie ein Diamant im Erdreich, weil er nicht exisAbb. 2.2 Der Mensch ist Bedingungen unterworfen und dennoch wahlfrei.
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tiert, bevor er gesetzt wird. Es ist an uns, unserem Leben einen Sinn zu geben. Der Wert unserer Existenz ist nichts anderes als der Sinn, den wir wählen. Der Sinn des individuellen Lebens wird durch die Art, wie ein Mensch sein Leben lebt, seine Beziehungen, seine Arbeit, seine Äußerungen, seinen Umgang mit seinem Körper usw. von ihm selbst geschaffen (Sartre 2005). „Gott ist tot.“ Nietzsche schrieb 1881: „Gott ist tot“ (Nietzsche 2000) und Dostojewski ergänzte: „Wenn Gott nicht existierte, so wäre alles erlaubt.“ Diese Idee ist der Ausgangspunkt des Existenzialismus. Wenn es keine höhere Macht gibt, an der der Mensch die Prinzipien seiner Entscheidungen orientieren kann, so sieht sich der Mensch vor eine radikale Freiheit gestellt. Er findet keine äußere Orientierung und keine Entschuldigungen. Wenn Gott tot ist, dann ist der Mensch Herr seiner Verhältnisse und verwirklicht in seiner Wahlfreiheit ein Stück Selbstgestaltung der Menschheit. Damit werden biologische, psychodynamische, ökonomische, politische, rechtliche, militärische oder ideologische Bedingungen und Zwänge keineswegs ignoriert, aber als durch wahlfreie individuelle und kollektive Entscheidungen beeinflussbar, veränderbar und somit gestaltbar betrachtet. Der Zwang zur Freiheit. Der Mensch kann, so Sartre, seiner Freiheit nicht entfliehen. Er kann nicht nicht wählen, denn wenn er nicht wählt, so wählt er auch und muss die Folgen seines Nicht-Entscheidens tragen. In seiner existenziellen Freiheit ist der Mensch gezwungen, sein Gesetz, also die orientierenden Werte seines Handelns, selbst zu bestimmen. Er muss sich selbst erschaffen,
» Das Schicksal mischt die Karten. Wir spielen. Arthur Schopenhauer « Nach Sartre trägt jeder Mensch das Potenzial seiner Befreiung zu seinen Möglichkeiten hin in sich. Mit seinen wahlfreien Entscheidungen folgt der Mensch bewusst oder unbewusst einem Selbstentwurf. Der Mensch wird zu dem, wozu er sich macht. Für den Existenzialismus ist der Mensch zunächst bloß vorhanden. Er existiert bloß, noch ohne sein Wesen zu verwirklichen in der Welt, in der er sich zurechtfinden muss. Im Nachhinein ist die Person in ihrem Wesen so, wie sie sich gewollt und geschaffen hat. Das individuelle Ausgestalten des Lebens aufgrund wahlfreier Entscheidung wird
im Existenzialismus als „Subjektivität“ bezeichnet. Die innere Orientierung, der ein Mensch folgt, wenn er sein Leben ausgestaltet, wird „Selbstentwurf“ oder „Lebensplan“ genannt. Existenzielle Angst. Wenn dem Menschen bewusst wird, dass letztlich nichts und niemand über ihn bestimmt und dass er seiner Verantwortung nicht entrinnen kann, erlebt er, so Sartre, existenzielle Angst, die „Angst vor der Freiheit“ (Fromm 1942). Für Sartre ist existenzielle Angst kein neurotisches Symptom, sondern eine unausweichliche Begleiterscheinung des Bewusstseins der radikalen Verantwortung in Abwesenheit einer vorgegebenen Orientierung. Für den, der seine Verantwortung anerkennt und akzeptiert, ist diese Angst kein Hinderungsgrund, sich zu verhalten und zu definieren, vielmehr ist sie im Gegenteil die Bedingung seiner Selbstdefinition und seines aktiven Handelns. Der Mensch, der sich seiner existenziellen Freiheit bewusst wird, findet keinen äußeren Halt, aber auch keine Begrenzungen seiner Freiheit, unter den gegebenen Bedingungen seine Handlungen und deren Prinzipien zu wählen. Identität als Entscheidung. Ein Mensch ist eine Person, kein Objekt, kein Ding. Ein Objekt kann sich nicht aus sich selbst heraus wandeln. Ein Tisch kann nicht aus sich selbst heraus zu einem Schrank werden, aber ein Alkoholiker kann sich jetzt, in diesem Moment entscheiden, sich von seiner Sucht zu verabschieden. Ein Gewalttäter kann sich mit seiner Aggressivität auseinandersetzen und seinen Weg des Friedens finden. Ein Mensch, der zu überbordender Impulsivität neigt, kann sich entscheiden, dass er lernen will, sich zu beherrschen. Ein ängstlicher Mensch kann sich seinen Ängsten stellen, um sie zu überwinden. Der Mensch als Subjekt hat die Wahlfreiheit, seine Prägungen und Begrenzungen zu überschreiten, zu transzendieren. Wie weit diese Selbstgestaltungsmöglichkeiten gehen können, zeigen die Ergebnisse der Resilienzforschung (WelterEnderlin u. Hildebrand 2006, Bohn 2006) sowie Beispiele von Menschen, die unter Bedingungen aufwachsen, die alle Kriterien schwerer Traumatisierung erfüllen und die dennoch ein erfülltes und selbstverwirklichendes Leben führen. Die existenzielle Wahlfreiheit des Einzelnen, auf Basis der vorgefundenen Bedingungen zu wählen, was er ist, und damit seine Lebensbedingungen zu beeinflussen, ist die konzeptuelle Basis der Humanistischen Psychotherapie.
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Geschichte und Philosophie
Selbsttäuschung. Im Angesicht unserer existenziellen Wahlfreiheit und einsamen Entscheidungsverantwortung fliehen wir, so Sartre, oft in die Selbsttäuschung einer Vorstellung zwingender Abhängigkeit, Hilflosigkeit und des Nicht-andersKönnens hinein, weil die Verhältnisse es vorgeblich nicht zulassen, weil wir etwas nicht ertragen zu können glauben, weil wir uns als ausweglos geprägt sehen durch unsere Lebensumstände, unsere Vergangenheit oder von diesseitigen oder jenseitigen Mächten, beschränkt durch unsere Beziehungen und Bindungen, begrenzt durch die Mängel unserer Fähigkeiten. Wir sperren uns selbst ein durch die Art, wie wir unsere Identität als gegebene definieren („So bin ich, ich kann nicht anders.“). Die Tendenz des Menschen, in geflissentlichem Hinwegsehen über seine Entscheidungsoptionen vor der Selbstverantwortung zu fliehen, indem er sich selbst als determiniert, hilflos, schwach, unwissend oder krank betrachtet, bezeichnet Sartre als „Unaufrichtigkeit“ oder „Selbstbetrug“. Der Mensch, der sich in angeblicher Unfreiheit versteckt, ist nach Sartre Lügner und Belogener zugleich. Er setzt sich selbst die Grenzen, unter denen er dann leidet.
» Die Menschen sind frei, aber sie wissen es nicht. Jean-Paul Sartre « Verantwortung. Nach Sartre ist auch jeder Mensch unaufrichtig, der seine „Leidenschaften“ (Gefühle, Bedürfnisse, Triebe) vorschiebt und sich mit ihnen entschuldigt. Für den Existenzialismus ist der Mensch nicht durch innere Faktoren wie Gefühle, Triebe oder Konditionierungen kausal determiniert. „Der Existenzialist glaubt nicht an die Macht der Leidenschaft … Der Mensch ist für seine Leidenschaft verantwortlich …“ (Sartre 2000, S. 166 ff). Sartre erkennt an, dass es Triebe und Konditionierungen gibt, aber er bestreitet, dass diese uns die Entscheidungsfreiheit nehmen. Der Existenzialismus versteht sich als eine Weltanschauung, die den Menschen in seiner Würde erkennt und bestätigt, weil sie ihn nicht zu einem passiven Objekt, zum handhabbaren Ding macht. Wahlfreiheit im Sinne von Sartre bedeutet nicht, dass der Mensch zu allem in der Lage wäre. Es geht auch nicht darum, sich möglichst große Wahlmöglichkeiten offen zu halten. Freiheit bedeutet, sich entscheiden zu können und um diese Entscheidung nicht herumzukommen. Frei ist der, der sich entschieden hat und für seine Entscheidung einsteht. Durch freie Wahl legt er sich
fest und lässt sich ein, denn mit jeder Wahl gehen für diesen Moment alle anderen, nicht gewählten Möglichkeiten für immer verloren. Die Freiheit des Menschen bewegt sich also in einer Dialektik zwischen Festlegung und Selbstüberschreitung. Die Humanistische Psychotherapie setzt diesen Grundgedanken in praktisches psychotherapeutisches Handeln um. Die Existenzialistische Generation. Existenzialistische Romane wie Sartres „Ekel“ (1939) oder Camus’ „Der Fremde“ (1942) prägten die Lebenseinstellung der Nachkriegsjugend in Europa, die daher auch als die Existenzialistische Generation bezeichnet wird. In den 1950er-Jahren wurde der Existenzialismus – besonders in Paris – auch außerhalb der Künstler- und Intellektuellenszene zum Lebensstil einer Gegenkultur, die mit der offiziellen bürgerlichen Kultur brach. In den 1960erJahren politisierte sich der Existenzialismus und prägte, verbunden mit marxistischen und psychoanalytischen Inhalten, die Revolte des Pariser Mai. Sartre wurde zu einem der Wortführer der 1968er-Bewegung (Seibert 2000). Sartres Vortrag „Der Existenzialismus ist ein Humanismus“ (2000) wurde mehrere hunderttausend Mal gedruckt, in 18 Sprachen übersetzt und bewegte die Intellektuellen einer ganzen Generation. In den Nachkriegsjahren war Sartre das moralische und politische Gewissen Frankreichs und der einflussreichste Philosoph Europas. Humanistische Psychotherapie. Der Existenzialismus als Philosophie der Freiheit und Selbstverwirklichung hat die Humanistische Psychotherapie entscheidend geprägt. Wenn der Mensch in seinem Wesen Subjekt ist und seiner Natur nach „in die Freiheit geworfen“, also weder seinen Trieben und Ängsten noch sozialer Manipulation passiv ausgeliefert, dann zerstört keine Prägung, kein Trauma und kein Mangel die Möglichkeit zur freien Entscheidung ganz. In jedem Moment, in jeder Sekunde kann der Klient sich und sein Leben in freier Entscheidung vollkommen verändern – und kein Therapeut kann das an seiner Stelle tun. Humanistische Psychotherapie ist eine Psychotherapie der Wahlfreiheit und Selbstverantwortung. Eigenverantwortung. Der Humanistische Psychotherapeut unterstützt den Klienten beim aktiven Gestalten seines Lebens. Der Klient wird als derjenige betrachtet, der aktiv und kreativ an
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sich arbeitet. Der Therapeut faltet dafür einen Beziehungs-Reflexions-Raum aus und unterstützt den Klienten in seinen Bemühungen um Tiefenselbsterkundung. Der Motor des psychotherapeutischen Prozesses ist aber der Wachstumsimpuls, der Selbstintegrationswunsch des Klienten. Was der Therapeut tut, dient der Förderung der Wahlfreiheit des Klienten und der Förderung seiner Fähigkeit, sich selbstbestimmt auf persönliche und soziale Bindungen einzulassen. Humanistische Psychotherapie ist Ermutigung zur Eigenverant-
wortung: „Wenn also Verweigerung von Verantwortung in die Sklaverei der Neurose führt, dann ist der erste Schritt ihrer Therapie die … Befreiung von der Illusion der Verantwortungslosigkeit. Nur nachdem ich akzeptiert habe, dass ich, und niemand sonst, mein Leiden aktiv produziere, kann ich erkennen, auf welche konkrete Weise ich das tue, und die Bewusstheit davon ist eine der Voraussetzungen jeder Veränderung.“ (Staemmler u. Bock 2004, S. 26) .
2.3 Hermeneutik
» Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir. Wilhelm Dilthey « Verstehen. Die grundlegende Methode und Form der Beziehungsgestaltung, mit der sich der Humanistische Psychotherapeut dem Klienten nähert, ist das theoriegeleitete, einfühlende Verstehen und das dialogische Deuten. Dies wird als Hermeneutik bezeichnet (von gr. hermeneuein: erklären, deuten, interpretieren). Sie ist die philosophische Basis des empathisch verstehenden Ansatzes der Humanistischen Psychotherapie. Antike und Mittelalter. In der Antike und im Mittelalter ging es in der Hermeneutik vor allem um die Auslegung von Texten. In der Philosophie des Altertums wurden z. B. die sinnbildlichen Bedeutungen der Texte Homers diskutiert und ausgelegt. Im christlichen Mittelalter war die Bibel der vorrangige Gegenstand der Hermeneutik, wobei die Regeln und Grenzen der Textkritik von einem exegetischen Code bestimmt wurden, der als Doktrin durch die Allmacht der katholischen Kirche festgelegt war. Bestimmte Bedeutungsebenen wurden als für den Menschen zu Lebzeiten grundsätzlich nicht verstehbar betrachtet, da sie ihm erst im Jenseits offenbart würden. Friedrich Schleiermacher. Im 19. Jahrhundert wurde die Humanistische Hermeneutik mit Friedrich Schleiermacher (1769–1834) zu einer zentralen philosophischen Disziplin. Texte wurden nicht mehr als Träger höherer Wahrheiten verstanden, die vom Menschen lediglich aus dem Text herausgeholt werden müssten, sondern vielmehr als kreativer Ausdruck des menschlichen Geistes auf
Basis der Lebensgeschichte und der historischen Lebensumstände des Verfassers. Ein Text konnte in seinen tieferen Bedeutungsschichten verstanden werden, indem sich der Leser in den Verfasser, dessen Weltanschauung und sozialhistorische Umgebung hineinversetzte. Hermeneutik findet seither überall dort Anwendung, wo es darum geht, die Bedeutung der Geistesprodukte von Menschen zu ergründen. Wilhelm Dilthey. Der Schleiermacher-Schüler Wilhelm Dilthey (1833–1911) betonte, dass das menschliche Leben und Erleben nicht allein mit den Begriffen und der Logik der Naturwissenschaften verstanden werden kann. Jeder kommunikative Akt zwischen Menschen, so Dilthey, beinhaltet unweigerlich Prozesse der Einfühlung in die intersubjektive Bedeutung der Mitteilungen des anderen und Prozesse der Auslegung, also der Deutung des Sinns der Mitteilung. Für Dilthey kann die Äußerung einer Person niemals von einer objektiven Außenposition aus in einem bloß kognitiven Prozess verstanden werden, sondern nur im Zusammenhang der Lebenswirklichkeit des Verstehenden und des Verstandenen, in dem Gefühle und Willensimpulse, gesellschaftliche und unbewusste Faktoren miteinander verwoben sind. Das innere Erleben drückt sich, so Dilthey, symbolisch z. B. durch sprachliche oder künstlerische Äußerungen aus, es „objektiviert“ sich. Der äußere Ausdruck kann als Zugang zum inneren Erleben und dessen subjektiver Bedeutung genutzt werden. Das Verstehen arbeitet sich also vom Symbol zur erlebten Erfahrung vor, quasi von den Äußerungen in die Person hinein und nach innen hin zurück.
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Geschichte und Philosophie
Martin Heidegger. Im 20. Jahrhundert wurde die Hermeneutik von Martin Heidegger (1889–1976) auf Basis der Phänomenologie Edmund Husserls (1859–1938) weiterentwickelt. In einem hermeneutischen Zirkel nähere sich der Verstehende mehr und mehr dem zu Verstehenden an. Zunächst hat der Verstehende eine vorläufige Hypothese, die dann durch Auseinandersetzung mit dem zu Verstehenden fortgesetzt revidiert und weiterentwickelt wird. Weitere Hypothesen entstehen, die in der Auseinandersetzung mit dem zu Verstehenden immer weitere Tiefendimensionen aufdecken. Hans-Georg Gadamer. Diese Idee Heideggers wurde von Hans-Georg Gadamer (1900–2002) in seinem 1960 erschienenen Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ weiterentwickelt. Nach Gadamer ist Bemühen um Verstehen unvermeidbar, weil jede Äußerung eines Menschen und jedes Erleben nicht bloß als faktisches Phänomen, sondern stets auch symbolisch und bedeutungshaft ist, also gedeutet werden kann und muss. Der Bedeutungszusammenhang eines Textes, eines Kunstwerkes, des Erlebens oder der Äußerungen eines Menschen kann niemals vollständig verstanden werden, denn ihre Bedeutung wird durch vielfältige historische und lebensgeschichtliche Zusammenhänge bestimmt. Für Gadamer ist Verstehen eine Form des Dialogs, gleichgültig, ob man sich mit einem Gesprächspartner, einem Text, einem Kunstprodukt oder einer Naturerfahrung auseinandersetzt. Hierbei kann das Ganze nur aus dem Einzelnen und das Einzelne nur aus dem Ganzen verstanden werden. Eine einzelne Äußerung eines Menschen ist nur zu verstehen auf der Basis der Lebensumgebung dieses Menschen, seiner Beziehungen, seiner Biografie und seiner Weltanschauung. Neuere Entwicklungen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Hermeneutik von dem französischen Philosophen Paul Ricoeur (1913– 2005) sowie von den Vertretern der Frankfurter Schule und des Poststrukturalismus kritisch weiterentwickelt und ausgearbeitet. Sie beeinflusst heute vor allem die qualitative Sozialforschung,
die sich mit der Auswertung der Bedeutung von Daten beschäftigt. Tiefenhermeneutik. In der Humanistischen Psychotherapie erkunden Therapeut und Klient gemeinsam, was im Bewusstsein und im Unbewussten des Klienten vor sich geht, indem sie sich bemühen, das aktuelle Erleben des Klienten vor dem Hintergrund seiner lebensgeschichtlichen Erfahrungen und seiner persönlichen Wertesysteme zu verstehen und einzuordnen. Dieser Prozess wird als biografisches Verstehen bezeichnet. Dabei befassen Psychotherapeut und Klient sich nach Habermas (1968) besonders mit solchen Bedeutungszusammenhängen, bei denen der Klient sich über sich selbst täuscht, also Zusammenhänge nicht erkennt oder verkennt. Im tiefenhermeneutischen Prozess der Psychotherapie können latente oder verborgene Bedeutungen zugänglich gemacht und in die bewusst verfügbaren Sinnzusammenhänge und das Selbst- und Weltbild des Klienten integriert werden. Humanistische Hermeneutik. Das hermeneutische Konzept des Sich-Hineinversetzens und Sich-Einfühlens findet sich in der Humanistischen Psychotherapie vor allem im Konzept der Empathie wieder, das die Grundlage jeder verstehenden Psychotherapie und die technische Basis insbesondere der Personzentrierten Gesprächspsychotherapie nach Carl Rogers, der Selbstpsychologie nach Heinz Kohut und der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg ist. Humanistische Psychotherapie kann als professionelle, intersubjektive Tiefenhermeneutik verstanden werden. Der Therapeut bemüht sich, den Klienten in seiner Tiefe zu verstehen und ihn zu unterstützen, Abgewehrtes und latente Ressourcen zu integrieren, was die Basis für persönliches Wachstum ist. Fortgesetzte dialogische Auseinandersetzung mit dem manifesten und latenten Erleben des Klienten ermöglicht es diesem, abgespaltene Anteile zu integrieren. Dadurch kann sich der Klient tendenziell aus unbewusst fixierten Vermeidungen und Zwängen lösen und mehr Wahlfreiheit realisieren (siehe Abb. 2.3).
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Abb. 2.3 Der hermeneutische Zirkel in der Humanistischen Psychotherapie.
2.4 Holismus und Feldtheorie
» Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Aristoteles « Der Holismus (von gr. holos: ganz) ist eine philosophische Position, die davon ausgeht, dass die Elemente eines materiellen oder geistigen Systems nur in ihren Strukturbeziehungen untereinander und in ihrer Dynamik miteinander verstanden werden können, dass also das Ganze stets mehr und etwas anderes ist als die Summe seiner Teile. Holistische Grundauffassungen finden sich bereits in der Antike bei Aristoteles, Parmenides und Platon, später bei Hegel und Leibniz. Hauptargument des Holismus gegen den Reduktionismus ist die nicht vollständige Erklärbarkeit des Ganzen aus seinen Teilen (Emergenz). Der Begriff Holismus geht zurück auf das 1926 erschienene Buch „Holism and Evolution“ des südafrikanischen Naturphilosophen und Politikers Jan Christiaan Smuts (1870–1950). Smuts war 1919–1924 und 1939–1948 Premierminister von Südafrika sowie 1933–1939 Justizminister. Er beschäftigte sich mit Physik und Biologie und war an der Gründung des Völkerbunds und der UNO beteiligt. Er war der einzige Politiker, der am Ende beider Weltkriege die jeweiligen Friedensverträge unterschrieb. Smuts geht davon aus, dass es in der objektiven Welt und auch in der Welt des Geistigen eine Tendenz zur Herausbildung und Höherentwicklung von Ganzheiten gibt.
Selbstschöpferische Systeme. Der Holismus betrachtet Systeme nicht nur als ganzheitlich, sondern auch als selbstschöpferisch. Als Modell für diese Betrachtungsweise kann ein Organismus dienen. Der Organismus besteht aus Zellen, aber er ist nicht einfach als Summe seiner Zellen zu verstehen. Vielmehr sind die Strukturen und Funktionen der Zellen durch ihre Einbindung in die Ganzheit des Organismus bestimmt. So arbeiten z. B. die an der Immunreaktion beteiligten Zelltypen abgestimmt zusammen. Das Immunsystem kann nicht verstanden werden, wenn die Aktivitäten der einzelnen Zellen lediglich aufsummiert würden. In der holistischen Sichtweise ist die Welt strukturiert in systemischen Beziehungen, die im menschlichen Bewusstsein als sinnhafte Bedeutungsgefüge erscheinen.
»
Ganzheitlichkeit ist etwas, das angestrebt wird. Die Dinge streben nach Vervollständigung, sie streben danach, ein Ganzes zu werden. Jan Christiaan Smuts
«
Feldtheorie. Der Feldbegriff wurde ab dem 19. Jahrhundert entwickelt, zunächst in der Naturwissenschaft, um die Fernwirkung von Kräften (z. B. des Elektromagnetismus oder der Gravitation) zu beschreiben. In Analogie zu solchen physikalischen Feldern sprachen die Gestaltpsychologen
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Geschichte und Philosophie
(Wertheimer, Köhler) von Wahrnehmungsfeldern. Ihr Schüler Kurt Lewin (1890–1947) übertrug den Feldbegriff auf soziale Prozesse. Das Erleben und Handeln des Menschen spielt sich immer in einem raumzeitlichen sozialen Feld ab. Alle Prozesse in diesem Feld stehen in Wechselwirkung miteinander.
» Probleme sind immer Probleme eines Feldes, und ihre Lösungen sind die Lösungen dieses Feldes. Gary Yontef « Humanistischer Holismus. Humanistische Psychotherapie versteht sich als vernetztes System aufeinander bezogener Konzepte und Prozesse. Die holistische Sichtweise wird in der Humanistischen Psychotherapie z. B. deutlich in ihrem theorie- und technikintegrativen Ansatz, in ihrem Verständnis von Körper und Psyche als psychosomatischem System und in der psychotherapeutischen Arbeit mit vielen Elementen und auf vielen Ebenen zugleich (auf der körperlichen, emotionalen, kogni-
tiven, sozialen, Beziehungs-, Übertragungsebene usw., siehe Abb. 2.4). Humanistische Psychotherapie strebt ein vertieftes Selbst- und Beziehungserleben, die Veränderung von Einstellungen und Verhalten und die Veränderung von emotionalen und körperlichen Prozessen an. Dabei wird mit Verhaltensübungen ebenso gearbeitet wie mit kognitiver Umstrukturierung, mit psychodynamischen, Identifikations-, körperorientierten, kreativen und Trancetechniken. In der Gestalttherapie geht man davon aus, dass die Kontaktprozesse des Menschen eine Tendenz in sich tragen, sich als vollständiges Sinngefüge auszubilden. Perls spricht von der Tendenz einer „offenen Gestalt“, sich zu schließen, d. h., „unerledigte Geschäfte“ zum Abschluss zu bringen. Ebenso können die grundlegenden Konzepte der Körperpsychotherapie, wie z. B. Körperenergie und Abwehrpanzerung sowie die körperpsychotherapeutischen Techniken wie Atem-, Ausdrucks- oder Berührungsarbeit nur im Rahmen einer holistischen Konzeption von Leib und Seele als integratives System verstanden und angewandt werden. Abb. 2.4 Die holistische Sichtweise.
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2.5 Dialogphilosophie Martin Buber (1878–1965) war ein jüdischer Religionsphilosoph. Er verstand sich als religiöser Sozialist und gab 1919 posthum die Schriften von Gustav Landauer heraus, einem führenden Theoretiker des pazifistischen Anarchismus in der Münchner Räterepublik. Von 1924–1933 war er Honorarprofessor für jüdische Religionslehre und Ethik in Frankfurt am Main. Buber entkam 1938 aus Nazi-Deutschland nach Jerusalem, wo er bis 1951 Anthropologie und Soziologie lehrte. Er engagierte sich politisch für eine friedliche Koexistenz zwischen Juden und Arabern in einer binationalen Föderation, übersetzte zahlreiche chassidische Erzählungen und zusammen mit dem Philosophen Franz Rosenzweig, Teile der jüdischen heiligen Schrift ins Deutsche, wobei er besonderen Wert auf die Beibehaltung des ursprünglichen Sinngehalts legte.
Abb. 2.5 Martin Buber (mit freundlicher Genehmigung des Gütersloher Verlagshauses in der Verlagsgruppe Random House GmbH).
» Der Mensch wird am Du zum Ich. Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Martin Buber « Psychotherapie als Dialog. Das Konzept des psychotherapeutischen Dialogs geht zurück auf Martin Buber, der vor allem in seinem 1923 erschienenen Hauptwerk „Ich und Du“ eine dialogische Philosophie entwickelt hat, die viele Begründer und Vertreter der Humanistischen Psychotherapie beeinflusst hat. Humanistische Psychotherapie ist ein professioneller Dialog zum Zwecke der Förderung der psychischen Integration des Klienten. Der Humanistische Psychotherapeut bemüht sich, in den Grenzen des therapeutischen Settings und auf Basis seiner professionellen Abstinenz in der persönlichen Begegnung mit dem Klienten die wertschätzende, haltgebende, authentische, angemessen abgegrenzte und wenn erforderlich ehrlich konfrontative Beziehung herzustellen, aufrechtzuerhalten und zu schützen, die gleichzeitig heilend und Ziel des Heilungsprozesses ist. Ich und du. Buber (1984) unterscheidet zwei Formen von Kontakt: die Ich-Du-Beziehung und die Ich-Es-Beziehung: • In der Ich-Du-Beziehung begegnen sich zwei Personen als Subjekte, wobei jede von beiden
die andere als eigenständige Person wahrnimmt, anerkennt und respektiert. • In der Ich-Es-Beziehung tritt ein Subjekt einem Objekt gegenüber, das ihm äußerlich bleibt. Wenn dieses Objekt eine andere Person ist, so entsteht zu dieser eine objekthafte, versachlichte Beziehung. Für Buber ist die persönliche Begegnung zwischen Menschen als Subjekten etwas grundsätzlich anderes als der Kontakt eines Menschen zu Dingen oder zu als Objekt betrachteten Menschen. Sofern ein Mensch einen anderen als Objekt betrachtet und behandelt, sieht er ihn nicht wirklich. Ein Mensch kann von einem anderen Menschen nur als Person, als Subjekt, in seinem Wesen gesehen und erkannt werden. Ebenso findet der Mensch nach Buber sein eigenes Wesen nur in seinen Beziehungen zu anderen Menschen. Das Ich bildet sich in Beziehungen heraus und es lebt in Beziehungen. Eine Ich-Du-Beziehung findet nie zwischen Objekten statt, und sie kann auch nicht zwischen einem Subjekt und einem als Objekt betrachteten anderen Menschen stattfinden. Die Ich-Du-Beziehung (Begegnung) ist zwischenpersönliche Seelenspiegelung im intersubjektiven Kontakt.
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Geschichte und Philosophie
» Einer hat immer Unrecht. Aber mit Zweien beginnt die Wahrheit. Friedrich Nietzsche « Hier und Jetzt. Begegnungen zwischen Personen finden nach Buber immer im Hier und Jetzt statt, während der Kontakt zu Objekten (oder zu als Objekt betrachteten Menschen) in der Vergangenheit stattfindet, weil er von Begriffen und Konzepten durchsetzt ist, die im Moment der Begegnung bereits alt sind und die Gegenwart des aktuellen Moments nie wirklich erfassen können. Die IchDu-Beziehung geschieht unmittelbar. Alles, was an Vorannahmen, Begriffen, Einordnungen, Verallgemeinerungen oder Konzepten zwischen Ich und Du tritt, schmilzt, so Buber, im Ich-Du-Kontakt, in dem Konzepte hilfreich und hinderlich zugleich sind. Erst durch alle Begriffe, Erklärungen und Einordnungen hindurch und jenseits von diesen entsteht persönliche Begegnung, die immer konkret, einmalig und unwiederbringlich ist. Abgrenzung. Begegnung im Dialog bedeutet für Buber auch die klare Abgrenzung unterschiedlicher Standpunkte. Das demonstrierte Buber eindrücklich in einem Gespräch mit Carl Rogers, dem Begründer der Personzentrierten Gesprächspsychotherapie, das 1957 stattfand (GwG 1992). In diesem Gespräch vertrat Carl Rogers den Standpunkt, dass die von ihm entwickelte Methode des Verstehens in der Psychotherapie mit dem dialogischen Prinzip von Buber identisch sei. Buber stellte klar, dass er mit dieser Position nicht völlig übereinstimme, denn im Kontext der Psychotherapie sei eine völlige Gegenseitigkeit der Selbstöffnung weder möglich noch wünschenswert. Buber demonstrierte dabei, wovon er sprach, durch eine Gesprächsweise, die im Dialog das Verbindende benannte, gleichzeitig aber auch das Abgrenzende, also die unterschiedlichen Standpunkte klar und respektvoll einander gegenüberstellte, ohne die Unterschiede zu nivellieren. Dialog im Sinne von Buber ist auch eine pluralistische Auseinandersetzung differierender Standpunkte. Umfassung. Humanistische Psychotherapie dient der Förderung der Dialogfähigkeit des Klienten. Die Dialogfähigkeit setzt sich zusammen aus der Fähigkeit, sich auch im Konflikt in das Gegenüber einzufühlen (Empathie) und der Fähigkeit, auch in schwierigen Situationen und Bereichen mit sich selbst in einem guten emotionalen Kontakt zu sein (Selbstempathie). Auf dieser Basis kann jeder
Dialogpartner dem anderen seine Emotionen und Befindlichkeiten respektvoll mitteilen (Selbstausdruck) und lernen, Standpunkte und Befindlichkeiten des Gegenübers zu erfassen und zu benennen (Spiegelung), wobei die Unterschiede des Erlebens und der Standpunkte beider deutlich gemacht und respektiert werden (Abgrenzung) und sich in einer fruchtbaren, konstruktiven Reibung miteinander bewegen (Auseinandersetzung). Die Dialektik von klar abgegrenztem Mit-sich-selbstin-Kontakt-Sein und empathischem Sich-in-denanderen-Einfühlen wird von Buber als Umfassung bezeichnet. Die Paradoxie der Psychotherapie. Im Vorwort zu Hans Trübs Buch „Heilung aus der Begegnung“ (1951) weist Buber auf die Paradoxie der Tätigkeit des Psychotherapeuten hin, die darin besteht, dass der Psychotherapeut eine reale Person, also ein „Mensch unter Menschen“ (Buber) ist, dem Klienten aber gleichzeitig mit den Zielvorgaben, Konzepten, Regeln und Grenzen seiner Profession gegenübertritt. Der Psychotherapeut ist unweigerlich auch Mensch mit all seinen Vorlieben und Mustern, Prägungen, Grenzen und Schwachpunkten. Nach Buber sucht der Klient den Therapeuten letztlich nicht als distanzierten Techniker, sondern als realen Menschen, auch mit seinen Tiefen und Untiefen. Gleichzeitig besteht die psychotherapeutische Tätigkeit darin, sich auf eine professionelle zwischenmenschliche Beziehung zum Klienten einzulassen, um gemeinsam mit ihm die Bereiche des Erlebens des Klienten zu erkunden, die dieser normalerweise als intim versteht und teilweise sogar vor sich selbst beschützt. Der Psychotherapeut hat als Brücke zum individuellen Welterleben des Klienten letztlich nur sich selbst, also sein eigenes emotionales Erleben zur Verfügung. Ein psychotherapeutisch hilfreicher Dialog ist weder aus einer unpersönlich-distanzierten Haltung heraus, noch in einer persönlich-privaten Beziehung möglich. Die psychotherapeutische Profession erfordert persönliches emotionales Sich-Einlassen und gleichzeitig klare professionelle Abgrenzung. Nähe und Distanz. Professionelle Distanz zum Klienten trägt den Psychotherapeuten, so Buber, nur so weit, bis der Therapeut spürt, dass das, was der Klient von ihm will und braucht, sich auch in der Sphäre des persönlichen Kontakts bewegt. Was heilen kann und wachstumsfördernd wirkt, ist wirkliches, persönliches Interesse, echte
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Abb. 2.6 Humanistische Psychotherapie als professioneller therapeutischer Dialog.
Zuwendung und Wohlwollen in den Grenzen der psychotherapeutischen Berufsethik. Humanistische Psychotherapie ist reflektierender interpersonaler Tiefenkontakt im Rahmen professioneller Distanz (siehe Abb. 2.6). Die Humanistische Psychotherapie bewegt sich im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen, die einen therapeutisch fruchtbaren Erfahrungsraum aufspannen, aber auch zu Verwicklungen und Verwirrungen führen können, sodass diese Dynamik im therapeutischen Prozess und in der Supervision des Therapeuten reflektiert werden muss. Wenn der Therapeut sich in seinem Inneren vom Prozess des Klienten bewegt fühlt, so spürt er eine persönliche Involviertheit im therapeutischen Dialog. Aus dem konstruktiven Sich-Einlassen auf diese Involviertheit entsteht eine psychotherapeutische Grundeinstellung und Arbeitsweise, die sowohl von professioneller Distanz und fachlicher Reflexion als auch von persönlicher Präsenz und engagiertem Sich-Auseinandersetzen getragen wird. Person und Profession. Die Spannung zwischen dem professionellen, technischen Aspekt der psychotherapeutischen Tätigkeit und der persönlichen, emotionalen Tiefenbegegnung mit dem Klienten stellt sich im guten Fall als eine fruchtbare Dialektik, im schlechten Fall als ein störender Bruch dar. Wer sich als Humanistischer Psychotherapeut versteht, ist weder ein kalter Techniker, der seine Profession emotional unbe-
teiligt ausübt, noch bringt er sich ganz in eine persönliche Begegnung mit dem Klienten ein, in der er als Person völlig sichtbar würde. Er fühlt mit, aber er leidet nicht mit. Er bewegt sich im Dialog mit dem Klienten innerhalb der Regeln seiner Profession und lässt die Gefühle des Klienten bei diesem. Der professionell abgegrenzte zwischenmenschliche Kontakt und die reflektierte emotionale Resonanz mit dem Klienten ist Gegenstand und Werkzeug der psychotherapeutischen Tätigkeit. Dialogische Spiegelung. Eine dialogische Haltung in der Psychotherapie entfaltet heilsame Wirkungen insbesondere dann, wenn an der Entstehung des psychischen Leidens des Klienten Faktoren wie Gängelung, Ignoranz, Verwirrung oder chaotisches Laisser-faire beteiligt waren. Solche Kontakt- und Grenzverzerrungen können in einem heranwachsenden Kind einen Zustand zur Folge haben, in dem es ihm an sicherer Bezogenheit, klarer Orientierung, emotionalem Angenommenwerden und dem Gefühl, als Person wichtig und wertvoll zu sein, mangelt. Ihm fehlt zentral die dialogische Spiegelung durch ein stabiles und konsequent zugewandtes, Halt und Grenzen gebendes Gegenüber. Hier ist die wohlwollende Zugewandtheit und spiegelnde Aufmerksamkeit des Therapeuten bei gleichzeitiger professioneller Abgrenzung ein zentraler therapeutischer Faktor.
2.6 Östliche Philosophien 2.6.1 Daoismus Dao. Eine weitere Wurzel der Humanistischen Psychotherapie sind verschiedene östliche Philosophien, besonders Daoismus, Buddhismus und
Zen. Der Daoismus (alte Schreibweise: Taoismus) ist eine altchinesische Philosophie, die auf das Daodejing (Tao-Te-King) des Laozi (Lao-Tse) aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. zurückgeht. Der Daoismus beeinflusste in China als Gegenspieler des
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Geschichte und Philosophie
Konfuzianismus weite Bereiche der Politik, der Wirtschaft, der Philosophie, Literatur, Kunst, Musik, Ernährung, Medizin, Chemie und Kampfkunst. Das chinesische Wort Dao (Tao) bedeutet wörtlich übersetzt „Weg, Straße oder Pfad“ und meinte im klassischen China auch Methode, Prinzip oder den rechten Weg. Das chinesische Schriftzeichen für Dao setzt sich zusammen aus einem Zeichen, das für sich genommen „Kopf“ bedeutet und einem Radikal für „Gehen“. Er kommt dem nahe, was im Westen als „Existenz“ bezeichnet wird: das SoSein in Bewegung. Wu-Wei. Im Leben des Menschen wird das Dao verwirklicht durch Wu-Wei. Darunter versteht man im Daoismus ein „Handeln durch Nichthandeln“ in dem Sinne, dass man natürlich handelt, die immanente Dynamik des Dao nicht behindert und die natürliche Bewegung der Lebendigkeit nicht festzuhalten und nicht zu schieben versucht. Daoismus und Dialektik. Der Daoismus kann als eine frühe dialektische Philosophie verstanden werden. Er beschreibt die gegenseitige Ergänzung und die Bewegungsdynamik von Widersprüchen, die beispielsweise in die chinesische Bewegungsmeditation Taiji (Tai Chi), in die Kampfkunst des Gongfu (Kung Fu), in die Heilgymnastik Qigong (Chi Gong), in die Akupunktur und die anderen Verfahren der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) Eingang gefunden haben. Im Daoismus geht man davon aus, dass polare Gegensätze wie männlich – weiblich, Anspannung – Entspannung, Kontakt – Rückzug oder Aktivität – Ruhe (YangYin) sich miteinander bewegen, dass jedes dieser Teile in seinem Zentrum den anderen Anteil in sich trägt, und dass die Bewegung dieser Widersprüche die Dynamik des Lebendigen hervorbringt. In der Humanistischen Psychotherapie findet sich dieser Grundgedanke beispielsweise im körperpsychotherapeutischen Konzept des psychovegetativen Zyklus, in der Dialektik zwischen Kontakt und Distanz und in der Idee des nicht direktiven Begleitens und Förderns der Autodynamik des Klienten.
2.6.2 Buddhismus Eine Religion ohne Gott. Der Buddhismus (besonders der Zen-Buddhismus) hat viele Humanistische Psychotherapeuten beeinflusst. Der Buddhismus hat heute weltweit etwa 400 Millionen Anhänger.
Lhamo Dhondrub (genannt Dalai Lama) ist das Oberhaupt der tibetischen Gelug-Schule des Buddhismus und weltweit sein bekanntester Repräsentant. Der Buddhismus ist eine Religion ohne Gott, kennt weder Himmel noch Hölle, noch das ewige Leben oder das Konzept einer Seele. Er verspricht Erlösung durch Selbsterkenntnis. In seiner modernen, westlichen Form kann der Buddhismus als ein erfahrungsorientiertes spirituell-psychologisches System verstanden werden, dessen Anwendungspraxis die Meditation ist. Es dient der Befreiung des Geistes aus Leid verursachenden Bindungen durch Auflösung der Identifikation mit automatisierten geistigen Abläufen. In Deutschland gibt es zurzeit etwa 250 000 aktive Buddhisten, etwa die Hälfte von ihnen sind eingewanderte Asiaten. Der Buddhismus gilt als friedfertig und undogmatisch (was er beispielsweise in Japan im 2. Weltkrieg oder im alten Tibet keineswegs immer war, vgl. Victoria 1999), stressreduzierend und persönlichkeitsstabilisierend. Das mag die Faszination erklären, die die viertgrößte Weltreligion heute auch im Westen auf viele Menschen ausübt. Ziel. Anders als das Christentum versteht sich der Buddhismus nicht als Offenbarungs-, sondern als Erfahrungsreligion. Es geht darum, im unmittelbaren Erleben das Anhaften an Wünsche und Begierden zu überwinden, denn diese erzeugen nach der buddhistischen Auffassung Leid. Der angestrebte Zustand kann durch fortgesetzte aufmerksame und gleichmütige Betrachtung des eigenen Selbst (Meditation) erreicht werden. Gefühle und Gedanken sollen als vorübergehende, vergängliche psychische Phänomene akzeptiert werden. Die Befreiung des Geistes durch Dekonditionierung des Bewusstseins wird im Buddhismus nicht als Akt höherer Gnade und als erst im Jenseits erfahrbar betrachtet, sondern als Erfahrung im Hier und Jetzt angestrebt. Ursprung. Die buddhistische Lehre geht zurück auf Siddharta Gautama (genannt Buddha, der Erwachte), dessen Lebensdaten von 563–483 v. Chr. angegeben werden. Er wurde als Sohn eines Adligen geboren und lebte im heutigen indisch-nepalesischen Grenzgebiet. Ausgangspunkt der buddhistischen Psychologie ist die Erfahrung des Leidens, der Unzufriedenheit und der Vergänglichkeit des Glücks – nicht gesehen als individuelle Neurose, sondern als Grunderfahrung menschlichen Seins. Ursachen des Leidens sind nach buddhistischer Auffassung:
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• • •
Gier: der Wunsch, etwas zu haben, was man nicht hat, Hass: der Wunsch, etwas nicht haben zu wollen, was aber da ist, Verblendung: der Versuch, etwas nicht anerkennen zu wollen, was aber dennoch der Fall ist.
Einstellungen. In der buddhistischen Weltanschauung ist die Art, wie wir die Welt und uns selbst wahrnehmen, geprägt und gefiltert durch Einstellungen und Bewertungen, die selbst nicht Wahrnehmungen, sondern etwas der Wahrnehmung Hinzugefügtes sind. In der buddhistischen Vorstellung wird Leiden durch Projektion eines von Begierden getrübten Bewusstseins erzeugt. Durch Überwindung der Projektionstätigkeit durch Meditation können unsere verfälschten Bilder von der Wirklichkeit (Maya) durchdrungen werden, sodass das reine, klare Bewusstsein verbleibt, das sich nach buddhistischer Vorstellung als vollkommene Leere zeigt.
» Auf der Suche nach der idealen Rose sehen wir nicht, dass jede Rose die äußerste Vervollkommnung ihrer selbst ist. Claudio Naranjo « Leere. Man kann die buddhistische Lehre als einen mystischen Nihilismus kritisieren, aber sie trifft offenbar das Bedürfnis vieler westlicher, dauerndem sensorischen Input ausgesetzter Menschen nach Innesein in der Stille des eigenen Selbst. Das Erlebnis der Leere und Weite des Geistes hat die buddhistische Meditationspraxis mit alten und modernen Trancetechniken gemeinsam, die oft ähnliche Methoden der Versenkung verwenden wie die verschiedenen Schulen der buddhistischen Meditation. Meditation. Die buddhistische Meditation besteht in der Zähmung des menschlichen Geistes durch Beruhigung seiner Bewegungen. In der Meditationspraxis geht es darum, die Assoziationen und Bewertungen, die einer Erfahrung übergestülpt werden, zu reduzieren und das Erleben auf die unmittelbare Wahrnehmung dessen, was ist, zurückzuführen. Man kann die buddhistische Meditation als angewandte Phänomenologie betrachten, bei der im menschlichen Geist alles unterlassen werden soll, was nicht unmittelbar Wahrnehmung ist. In der Praxis der Meditation steigen vielerlei Assoziationen und auch abgewehrte Anteile ins Bewusstsein auf, die aber
nicht analysiert und verstehend durchgearbeitet werden, wie in der Psychotherapie, sondern wahrgenommen, anerkannt und losgelassen werden sollen. Die fortgesetzte Fokussierung des Bewusstseins auf das unmittelbare Wahrnehmen bei weitgehender Vermeidung von sensorischem Input und aktivem Handeln während der Meditation führt allmählich zu einer Beruhigung des Geistes. Nicht-Anhaften. In der Meditation gibt sich der Meditierende dem stetigen Fluss der Inhalte seines Geistes hin, ohne bestimmte Inhalte festhalten oder andere vermeiden zu wollen. Diese Haltung wird im Buddhismus als Nicht-Anhaften bezeichnet. Wenn Bewusstseinsinhalte ungehindert das Bewusstsein durchströmen, spricht man in der buddhistischen Psychologie von „touch and go“: der Inhalt tritt in das Bewusstsein, man wird seiner gewahr und lässt ihn wieder gehen. Durch gelassene Beobachtung der eigenen Geistesvorgänge entsteht allmählich eine Des-Identifikation zu den eigenen geistigen Prozessen. Das Bewusstsein wird zu einem inhaltsleeren inneren Ruhepol, weil es nicht mehr mit den geistigen Abläufen identifiziert ist, gleichsam zu einem Spiegel, der nicht mit dem Gespiegelten identisch ist. Im Laufe jahrelanger meditativer Praxis beruhigt sich das Gedankenkarussell, der Willenskrampf löst sich und der Geist entspannt sich. Das Loslassen und Vorbeiziehenlassen der Inhalte des Geistes erzeugt einen Zustand der Gelöstheit, schließlich der Auflösung des Identitätsgefühls, was als Überwindung von Verbissenheit und Verbiesterung, als Zentriertheit und schließlich als Leere und heitere Gelassenheit erlebt wird. Mitgefühl. Was nach der Überwindung leidvoller Projektionen zurückbleibt, ist nach der buddhistischen Vorstellung Weisheit und mitfühlendes Handeln, die als Eigenschaften des ursprünglichen, freien Geistes und als bedingungsloses Glück verstanden werden (Olvedi 2006). Gewahrsein. Die Idee des meditativen Gewahrseins findet auch in der Humanistischen Psychotherapie Anwendung. Das Sich-Einschwingen auf das Hier und Jetzt in der Psychotherapie verstärkt den Kontakt des Klienten und des Therapeuten zur Unmittelbarkeit ihrer Erfahrungen in ihrer Frische und Klarheit. Fortgesetzte Aufmerksamkeit für das, was sich im Geist bewegt, seien es innere
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Geschichte und Philosophie
Bilder, Gedanken, Körperempfindungen, Emotionen, Wünsche oder Impulse, erlaubt dem Geist, sich auf sein eigenes Funktionieren zu fokussieren. Der Geist nimmt sich selbst wahr und kann dadurch seine eigenen Leid erzeugenden und -aufrechterhaltenden Muster erkennen und lernen, sie loszulassen. Freundliche Aufmerksamkeit. In der Humanistischen Psychotherapie wird die meditative Einstellung in der Regel informell als Gewahrseinsintention ohne traditionelles Meditations-Setting praktiziert (also ohne formelle Meditations-Körperhaltung, -Bekleidung, rituellen Ablauf usw.). Die meditative Einstellung in der Humanistischen Psychotherapie wird praktiziert als Gewahrseinsraum, in dem Klient und Therapeut sich offen halten für alles, was in ihre Wahrnehmung kommt und geht, ohne etwas anzustreben, was nicht da ist, ohne im Erleben zu vermeiden, was da ist und ohne etwas nicht anzuerkennen, was der Fall ist. Mit freundlicher Aufmerksamkeit wird betrachtet, beachtet und wertgeschätzt, was kommt, und es wird nicht festgehalten, wenn es wieder geht. Die meditative Grundeinstellung der freundlichen Aufmerksamkeit für die inneren Prozesse findet sich implizit z. B. in vielen Körperwahrnehmungs- und Trancetechniken, in Kohuts, Rogers und Rosenbergs Konzepten von Empathie und Selbstempathie sowie in der Übung des Gewahrseinskontinuums in der Gestalttherapie.
2.6.3 Zen Zen (jap., von chin. Chan, Sanskrit Dhyana: Versenkung) entstand in China im 5. Jahrhundert n. Chr. als Vereinigung von Elementen des MahayanaBuddhismus und des Daoismus. Ab dem 12. Jahrhundert gelangte Zen nach Japan und entwickelte dort eine neue Blüte. Zen lehnt (theoretisch) alle religiösen, philosophischen oder weltanschaulichen Systeme ab und lehrt die unmittelbare Erfahrung der Befreiung des Geistes von allen konventionellen Bindungen und Identifizierungen. Dafür wurde in der Zen-Tradition eine Vielzahl von meditativen, provokativen, körperorientierten und künstlerischen Techniken entwickelt (Herriegel 2003, Aitken 1995, Suzuki 2003, Thich 2003, De-
shimaru 1991, Suzuki 2005, Reps 1989, Fromm u. Suzuki 1971, Dürckheim 1994, Bohn 2006, Brück 2004, Watts 1986). Sein als Ziel. Zen ist die radikale Konzentration des Bewusstseins auf sich selbst in diesem Augenblick. In einer tiefen Zen-Erfahrung verlieren tendenziell sowohl die Zeit-Dimension als auch die Ich-Identität ihre Bedeutung. Das Bewusstsein erlebt sich in sich selbst, außerhalb von Zeitabläufen und Identifizierungen. Die verschiedenen Schulen des Zen streben die Befreiung des Bewusstseins durch Konfusionen, Paradoxien und Konfrontationen an. Ziel der Zen-Praxis ist die Überwindung der Gedankenflut und das Erleben von innerer Stille, Leere und Ausgeglichenheit. Die Zen-Erfahrung ähnelt vermutlich dem Erlebnis der Ich-Losigkeit in einer Tätigkeit, die in der Psychologie als Flow bezeichnet wird (Csikszentmihalyi 1995). Die Grundideen der Zen-Philosophie finden sich in der Humanistischen Psychotherapie beispielsweise in der Erlebnisorientierung des psychotherapeutischen Prozesses, in der Arbeit mit meditativen Trancetechniken oder in der Arbeit aus der Spontaneität des Unbewussten heraus (Eberwein 1996). Stille. In der Humanistischen Psychotherapie geht man davon aus, dass in den Therapiesitzungen nicht immer etwas geschehen muss. Gerade die Zeiten, in denen „nichts“ geschieht, in denen Klient und Therapeut schweigend da sind, ohne etwas zu tun, können für den Klienten sehr bedeutungsvoll sein. Wenn äußerlich nichts geschieht, gehen manchmal im Inneren des Klienten Umlagerungs- oder Beruhigungsprozesse vor sich, manchmal fühlt der Klient sich von Aktivitätsdruck befreit, nimmt sich auf tiefere Weise oder jenseits von konkreten Bewusstseinsinhalten wahr, genießt sein Sein jenseits von Problemen, oder sein Geist öffnet sich für die Wahrnehmung der Welt. Diese Tal-Erfahrungen, Erlebnisse der Leere und Stille, das Geschehenlassen, Einsinken, Verdauen, In-sich-selbst-Ruhen ohne Aktivität werden in der Humanistischen Psychotherapie als wesentlicher Aspekt psychotherapeutischer Prozesse verstanden und wertgeschätzt. Die folgende Überblicksgrafik (Abb. 2.7) zeigt zusammenfasst die wichtigsten Quellen der Humanistischen Psychotherapie.
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Abb. 2.7 Quellen der Humanistischen Psychotherapie.
Theorien 3 4 5 6
Grundbegriffe Die Entstehung von psychischem Leid Die existenzielle Dimension in der Psychotherapie Die psychotherapeutische Beziehung
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3 Grundbegriffe
3.1 Bedürfnisse und Werte Abraham Maslow (1908–1970) war US-amerikanischer Psychologe und maßgeblicher Mitbegründer der Humanistischen Psychologie. Maslow wurde als Kind jüdisch-russischer Eltern in Brooklyn geboren. Er promovierte 1934 in Psychologie und war ab 1937 Professor an der Columbia University in New York. Maslow kam mit bedeutenden Psychologen wie Karen Horney, Erich Fromm, Alfred Adler, Max Wertheimer und Kurt Goldstein zusammen. 1962 wurde unter seinem Vorsitz die „American Association of Humanistic Psychology“ (AAHP) gegründet. 1968 wurde er zum Präsidenten der „American Psychological Association“ (dem amerikanischen Psychologenverband) gewählt. Maslow entwickelte ein hierarchisches Modell der menschlichen Motivation, die Maslow’sche Bedürfnispyramide.
Abb. 3.1 Abraham Maslow (mit freundlicher Genehmigung von Brandeis University)
Der selbstverwirklichende Mensch. Abraham Maslow kritisierte, dass sowohl die psychoanalytische Triebtheorie als auch die verhaltenstherapeutische Konditionierungstheorie die Motivationen des Menschen auf einer bloß animalischen Ebene beschreiben. Die menschliche Motivation gehe aber eine ganze Ebene über das bloß Animalische hinaus. Der Mensch sei in seiner Bedürfnisstruktur auch ein Tier, aber er sei wesentlich mehr als nur ein Tier. Zur Erforschung der spezifisch menschlichen Ebenen der Motivation untersuchte Maslow die Biografie und die Lebensweise von selbstverwirklichenden Menschen, die für Maslow zu den besten Exem-
plaren der Gattung Mensch zählten, z. B. Lincoln, Einstein, James, Spinoza, Schweitzer und Huxley. Aus den Triebfedern ihres Handelns leitete Maslow eine Theorie der höheren Motivationen des Menschen ab (Maslow 1981). Die Maslow’sche Bedürfnishierarchie. Maslow ging von einer Hierarchie der Bedürfnisse aus, die von den animalischen Trieben bis zu den höheren, spezifisch menschlichen Bedürfnissen reicht. Die niederen Motivationsformen werden von ihm als Mangelbedürfnisse bezeichnet: dem Menschen fehlt etwas; sobald er es erreicht hat, ist das Bedürfnis für den Moment befriedigt.
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Theorien
Die höheren Bedürfnisse bezeichnet Maslow als Wachstumsbedürfnisse: sie sind auf einen Prozess der fortwährenden Weiterentwicklung gerichtet und können nicht durch die Erreichung eines homöostatischen Gleichgewichts befriedigt werden (siehe Abbildung 3.2). 1. Die unterste Ebene der Maslow’schen Bedürfnispyramide sind die physiologischen Bedürfnisse nach physischer Selbst- und Arterhaltung. Hierzu zählen Hunger und Durst, das Bedürfnis nach Wärme sowie die biologische Sexualität. 2. Die zweite Ebene sind die Sicherheitsbedürfnisse nach klaren, haltgebenden Strukturen. Hierzu zählen das Bedürfnis nach überschaubarer Ordnung, Regeln und Grenzen, nach Schutz vor Krankheit, vor Schmerz oder vor den Elementen (z. B. durch Kleidung, Wohnung usw.). 3. Die dritte Ebene stellen soziale Bedürfnisse nach Liebe und Zugehörigkeit dar, die sich auf das Eingebundensein in eine soziale Gemeinschaft richten. Hierzu zählen das Bedürfnis nach Liebe im partnerschaftlichen Sinn, nach Zuneigung, nach Sozialkontakten und nach Eingebundenheit in eine Familie oder eine Gemeinschaft. 4. Die vierte Ebene sind die Wünsche nach Achtung und Geltung, was Selbstachtung, Achtung durch andere, Bedürfnisse nach Freiheit und Autonomie sowie nach Können, Stärke und Leistung einbezieht. 5. Die höchste Stufe der Bedürfnisse sind Wünsche nach Selbstverwirklichung und Persönlichkeitswachstum, die auf die Entfaltung latenter Fähigkeiten sowie nach Wissen und Verstehen, nach Ästhetik und Schönheit zielen. Damit sich die höheren, spezifisch menschlichen Bedürfnisse entfalten können, sind bestimmte äußere Voraussetzungen erforderlich, wie politische und ökonomische Freiheit, geordnete soziale Verhältnisse sowie fördernde soziale Stimulation und Herausforderung. „Zentrales Anliegen der Humanistischen Psychotherapie ist der Aufbau einer verlässlichen, unterstützenden und innigen Beziehung, in der die in ihrer Entwicklung gehemmte Persönlichkeit sich vom Widerstand gegen beziehungsweise von der Fixierung auf Mangelbedürfnisse lösen, auf allen Stufen der Bedürfnispyramide ihre Bedürftigkeit erkennen, Kompetenz zur Befriedigung erarbeiten sowie ihr Potenzial für ein Leben als selbstbewusste Person entfalten lernen kann.“ (Büntig 2008, S. 2).
Abb. 3.2 Die Maslow’sche Bedürfnishierarchie.
Bedürfnisse und Werte. Die höheren, spezifisch menschlichen Bedürfnisse sind auf Werte hin orientiert. Im Bereich der menschlichen Motivation sind Bedürfnisse und Werte zwei Aspekte derselben Erfahrung: • Der Begriff Bedürfnis meint den motivationalen (Antriebs-)Aspekt, • Der Begriff Wert meint den ethischen (Zielrichtungs-)Aspekt. Höhere menschliche Motivationen sind immer auf Werte, also Ideale gerichtet, die dieser Mensch als erstrebenswert empfindet. Wenn ein Mensch z. B. ein Bedürfnis nach Identität, Authentizität, Integrität, Echtheit oder Ehrlichkeit hat, so kann dieses Bedürfnis nicht auf bloß biologisches Triebgeschehen reduziert werden – es ist ein Bedürfnis, das sich auf Werte hin orientiert. Spezifisch menschliche Bedürfnisse und Werte:
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Identitiät, Authentizität, Integrität, Echtheit, Ehrlichkeit
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Liebe, personale Wärme, Intimität
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Humor, Lachen, Begeisterung
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Frieden, Sicherheit, Vertrauen
Autonomie, Wahlmöglichkeit, Entfaltung Freundschaft, Zuverlässigkeit Austausch, Dialog, Spiegelung Kreativität, Selbstausdruck, schöpferisches Hervorbringen Verantwortung, Möglichkeit zur Mitgestaltung, Wirkung
3 Grundbegriffe
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psychische Gesundheit und Stabilität, Ausgeglichenheit, Gelassenheit, innere Ruhe Glück, Erfüllung, Gipfelerfahrungen, Ekstase Selbstverwirklichung, Wachstum, Selbstentfaltung, Freiheit des Ausdrucks und des Fühlens Mitgefühl, Ausrichtung auf das Mitmenschliche Bewusstsein, Reflexion, Selbsterfahrung, Selbsterkenntnis
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Gleichwertigkeit (z. B. der Geschlechter, von Menschen unterschiedlicher Hautfarben, Kulturen oder sexueller Orientierung), Toleranz, Pluralismus, Gerechtigkeit Würde, Respekt, Würdigung, Wertschätzung Integrität, Standfestigkeit, Standpunkte, Überzeugungen
3.2 Sinn
» Dem Menschen geht es niemals nur um sich selbst. Viktor Frankl « Das Bedürfnis nach Sinn. Die Gesamtheit der Werte, an denen das Streben eines Menschen orientiert ist, wird in der Humanistischen Psychotherapie als persönlicher Sinn bezeichnet (Frankl 2005, 1985, 1982, 2007). Der persönliche Sinn des Lebens eines Menschen besteht aus den über seine biologische Natur und sein bloß individuelles Sein hinaus gehenden Werten, auf die hin er sein Leben orientiert. Durch sein Sinnbedürfnis ist der Mensch orientiert auf etwas, das über ihn als Einzelwesen hinaus weist (siehe Abb. 3.3). Der persönliche Sinn kann nur begrenzt in Worte gefasst werden und ist dem Bewusstsein nur teilweise zugänglich. Die Orientierung des Lebens eines Menschen an sinngerichteten Werten ist grundlegend für sein Wohlbefinden und seine psychische Stabilität. Sinnerfüllte Wünsche geben ihm Halt und Richtung in der Welt. Sie können ebenso wichtig oder noch wichtiger werden als die biologischen Bedürfnisse z. B. nach Nahrung oder nach Sicherheit. Ein Leben ohne Sinn und ohne tragende Werte, das nur auf das Individuum selbst, auf diesen Moment oder auf die Befriedigung biologischer Bedürfnisse ausgerichtet ist, ist zutiefst unbefriedigend und weist auf einen psychisch leidenden Menschen hin. Eine rein egoistische oder nur triebhafte Orientierung bedingt aus Sicht der Humanistischen Psychotherapie ein äußerst begrenztes Leben, das psychisches Leiden erzeugt und als Symptom psychischen Leidens verstanden werden muss. Das Fehlen einer oder eine Verunsicherung in der Sinnorientierung eines Menschen, ein Mangel an oder eine Ambivalenz in seinen tragenden Werten verursacht psychisches Leid. Weil der Mensch ein Sinn suchendes Wesen ist, leidet er, wenn sein Bedürfnis nach Sinn frustriert ist.
Ein 32-jähriger Klient arbeitet in einer Behinderteneinrichtung. Seine Tätigkeit befriedigt ihn nicht: „Ich bin eher zufällig dahin geraten.“ Er bricht immer wieder in depressive Krisen ein und hatte seit zwölf Jahren keine Beziehung zu einer Frau, die länger als wenige Wochen gehalten hätte. Er sehnt sich nach „einem Nest“, in dem er sich „einfach nur wohl fühlen kann“. Er fühlt sich sowohl in seinem privaten als auch in seinem beruflichen Leben außerstande, eine klare innere Orientierung zu finden, die ihm Halt und Kraft gibt: „Ich taumele durch mein Leben und weiß nicht wohin.“ Dem Klienten fehlt emotionales Eingebundensein in tragende Bindungen und eine Ausrichtung seines Lebens auf einen persönlichen Sinn.
Sinngestaltung. Nach Frankl (1985) kann ein Mensch sein Leben sinnvoll gestalten durch: • schöpferische Werte: Hervorbringen und Gestalten z. B. von Produkten, Werken, Kindererziehung • Erlebniswerte: Erleben und Erfahren z. B. von Begegnungen, Natur, Kultur, Wissen, Selbsterfahrung • Einstellungswerte: innere Haltung und Stellungnahmen, z. B. Wertschätzung, Anerkennung, Selbstverantwortung Pseudobedürfnisse. Bedürfnisse können durch Ersatzangebote korrumpiert werden, die sich anfühlen wie natürliche Bedürfnisse, die aber nicht nähren, sondern aushöhlen. Pseudobedürfnisse treten am deutlichsten bei Süchten in Erscheinung: physiologisch süchtigmachende Stoffe (z. B. Alkohol, Nikotin, Tranquilizer, Heroin) docken im Gehirn an Bedürfnisrezeptoren an und werden daher subjektiv als organisches Begehren wahrgenommen. Die Anfälligkeit dafür sowie für immaterielle Süchte, wie zum Beispiel nach Berühmtsein,
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nach Begehrtwerden, ewiger Jugend, perfekter Schönheit oder nach Macht, Kontrolle und Beherrschung entstehen durch strukturelle Verzerrungen der Persönlichkeit. Besonders die vermarktbaren Süchte werden von den Massenmedien mit ihren immer invasiver werdenden Werbemethoden geprägt und verstärkt.
für diesen Weg entschieden, daher versetzt sie der nahende Beginn des Berufslebens in Unsicherheit. Sie lebt nicht ihr eigenes Leben. Ihre Berufswahl ist nicht in eine persönliche Sinnorientierung und aktive Orientierungsentscheidungen eingebunden.
Eine 24-jährige Klientin studiert Betriebswirtschaft. Sie kommt zur Therapie wegen Prüfungs- und Zukunftsängsten und Depressionen. Auf die Frage, ob sie sich auf die aktuell anstehenden Prüfungen gut vorbereitet hat, antwortet sie: „Ehrlich gesagt nicht besonders. Ich bin mir einfach nicht sicher, ob das das richtige Studium für mich ist.“ Auf die Frage, wie sie sich für das Studienfach entschieden hat, antwortet sie: „Eigentlich gar nicht. Mein Vater ist Betriebswirt. Ich wusste nicht, was ich machen soll, deswegen habe ich mich dafür eingeschrieben.“ Sie kann sich „eigentlich überhaupt nicht vorstellen, als Betriebswirtin zu arbeiten“. Sie hat sich nie wirklich
Biologischer Reduktionismus. Das Freud’sche Primat der Lust, besonders der sexuellen Lust, ebenso wie bspw. Adlers Wille zur Macht, rücken nach Maslow erst dann in den Vordergrund, wenn das Bedürfnis eines Menschen nach einem sinnhaften Leben dauerhaft frustriert wird oder unerfüllbar erscheint. Nur ein existenziell unbefriedigter Mensch strebt nach bloßem Sex ohne Liebesbindung und ohne personalen Dialog oder nach bloßer Macht ohne Orientierung an Idealen oder sinnorientierten Werten. Nur unter massivem Stress, nach brutalem Drill oder als Folge von schweren strukturellen oder neurologischen Störungen agiert ein Mensch z.B. animalische Aggressionen aus, ohne Kontrolle durch ethische Werte. Abb. 3.3 Biologische und spezifisch menschliche Bedürfnisse.
3 Grundbegriffe
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3.3 Gefühle Der für die Humanistische Psychotherapie zentrale Begriff Gefühl wird oft recht unscharf benutzt. • Gefühle sind nach Damasio (1994, 2000) subjektiv als bedeutungsvoll wahrgenommene psychosomatische Körperzustände, die die Lebensereignisse und das soziale Umfeld eines Menschen vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte und seiner Bedürfnisse bewerten. • Von Gefühlen sprechen wir im Alltag aber auch häufig, wenn wir körperliche Empfindungen im Sinne von physikalischen Körpersensationen meinen, z. B. „Meine Füße fühlen sich kalt an.“ „Ich fühle, dass mein Nacken angespannt ist.“ • Darüber hinaus sprechen wir alltagssprachlich von einem Gefühl, wenn damit eine Intuition, also ein Signal aus dem Unbewussten gemeint ist: „Ich habe das Gefühl, ich sollte mir mehr Ruhe gönnen.“ „Ich fühle mich zu ihm/ihr hingezogen.“ • Umgangssprachlich spricht man manchmal von Gefühlen, wenn eigentlich projektive Pseudogefühle gemeint sind, also indirekte Bewertungen des Verhaltens anderer Menschen, z. B. „Ich habe das Gefühl, du willst gar keine feste Beziehung.“ „Ich habe das Gefühl, du bist eingeschnappt.“ In der Psychotherapie ist es wichtig, diese unterschiedlichen Verständniszusammenhänge des Begriffes Gefühl klar unterscheiden zu können
Eine Therapiegruppenteilnehmerin sagt zu einer anderen: „Ich fühle mich von dir abgelehnt. Ich habe das Gefühl, du bist sauer auf mich.“ (Sie benennt Pseudogefühle, die in Wirklichkeit Interpretationen bzw. Projektionen sind.) Ich sage zu ihr: „Du sprichst nicht über deine Gefühle, sondern du interpretierst die Situation. Im Grunde sind das Aussagen über XY (die andere Teilnehmerin), nicht über dich.“ Die Teilnehmerin sagt: „Na ja, ich fühle mich eben so, wie soll ich das anders ausdrücken?“ Ich bitte sie, mit ihrer Aufmerksamkeit in ihren Körper zu gehen und wahrzunehmen, was sie in ihrem Inneren spürt, wenn – nach ihrem Eindruck – die andere Teilnehmerin sie ablehnt und sauer auf sie ist. „Ich glaube, ich bin zornig.“ Ich frage weiter: „Wenn du in dich hineinspürst, was du dir eigentlich wünschst von oder mit XY … was erscheint dann in deinem Inneren?“ Wieder spürt die Teilnehmerin nach, dann sagt sie: „Ich sehe ein verwundetes Herz hinter einer Mauer.“ Ich frage: „Kannst du dir vorstellen, was
das emotional bedeuten könnte?“ Sie antwortet: „Ich glaube, ich fühle mich gekränkt und habe mich zurückgezogen. Aber eigentlich möchte ich mit XY in Kontakt kommen.“ Die Teilnehmerin hat sich Schritt für Schritt von projektiven Pseudogefühlen über physikalische Empfindungen zu Emotionen, Bedürfnissen und Intuitionen vorangetastet.
Neurobiologie der Gefühle. Nach der James-Lange-Theorie der Emotionen (benannt nach dem US-amerikanischen Psychologen und Philosophen William James und dem dänischen Physiologen Carl Lange) entstehen Gefühle aus der inneren Wahrnehmung von Körperprozessen. In der Tradition dieser Theorie hat der in Portugal geborene US-amerikanische Neurowissenschaftler Antonio Damasio eine neurobiologische Theorie der Gefühle entwickelt (Damasio 1994, 2000, 2005). Nach Damasio werden die Wahrnehmungen von Beziehungen und Ereignissen im Gehirn in einer Vielfalt von neuronalen Netzwerken und – sofern sie bewusst werden – im präfrontalen Cortex kognitiv verarbeitet. Zwischen diesem und dem limbischen System im Zwischenhirn werden Wahrnehmungen und Vorstellungsbilder mit den Bedürfnissen und Werten des Menschen abgeglichen. Vermittelt über das motorische, das vegetative und das endokrine System werden dann im Körper spezifische somatische Zustände und Handlungsbereitschaften erzeugt. Diese werden dem Gehirn entweder durch die innere Körperwahrnehmung zurückgemeldet und im präfrontalen Cortex als Gefühle wahrgenommen, oder sie beeinflussen als Intuitionen unterschwellig das Erleben und die Handlungen des Menschen (siehe Abb. 3.4). Somatische Marker. Ebenso wie der Biologe Roth (2001) und der Psychologe Gigerenzer (2008) betont Damasio die Wichtigkeit der Gefühle in Entscheidungsprozessen. Die Vernunft orientiert sich an den Gefühlen, die wiederum als Wahrnehmungen von Körperzuständen verstanden werden. Körperzustände haben in Damasios Theorie die Funktion, als somatische Marker den kognitiven Zentren Rückmeldungen über die Bewertungen von Beziehungen und Ereignisse im Hinblick auf ihre Zuträglichkeit oder Unzuträglichkeit in Bezug
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auf die Bedürfnisse und Werte des Menschen zu geben. Nach Damasio speichert der Mensch die Erfahrungen seiner Lebensgeschichte in einem emotionalen Erfahrungsgedächtnis, das sich ihm über das körperliche Signalsystem der somatischen Marker mitteilt und ihm bei der Entscheidungsfindung hilft. Wenn dem Menschen verschiedene Handlungsalternativen zur Verfügung stehen, geben ihm die somatischen Marker auf der Basis gespeicherter emotionaler Erfahrungen Rückmeldungen zur Bewertung der Alternativen. Sie wirken (bewusst oder unbewusst) als Start- oder Alarmsignale, indem sie Alternativen aufgrund individueller Erfahrung als begehrenswert oder gefährlich (oder beides zugleich) erscheinen lassen. Wenn die somatischen Marker bewusst wahrgenommen werden spricht Damasio von Gefühlen. Wenn es sich um instinkthafte Reaktionen handelt, spricht er von Emotionen. Wenn sie im Unbewussten wirken, bezeichnet er sie als Intuitionen. Zwischen Körper und Psyche sowie zwischen rationalen Entscheidungen und Gefühlsbewertungen besteht also nach Damasio ein unauflösbarer Zusammenhang.
Untersuchungen an Hirngeschädigten. Damasio schließt diese Zusammenhänge aus Untersuchungen an Menschen, die aufgrund von Gehirnverletzungen oder -tumoren die Fähigkeit zur somatischen Markierung verloren haben. Diese Menschen können Handlungsalternativen nicht mehr auf Basis emotionaler Erfahrungen bewerten und ziehen daher von mehreren Handlungsalternativen stets die unmittelbar belohnende Wahlmöglichkeit vor, auch wenn diese ihnen nach ihrer eigenen Erfahrung langfristig schadet. Sie entscheiden kurzsichtig, weil sie aus momentanen Erfahrungen auch mit Hilfe kognitiver Überlegungen keine langfristigen emotionalen Wertungen ableiten und speichern können. Sie können keine somatischen Marker bilden und sich daher nicht an Gefühlsbewertungen orientieren. Es fehlt ihnen die Fähigkeit zur emotionalen Vorausschau (Antizipation). Hirnstrukturen. Für die Gefühle sind Hirnstrukturen im Zwischenhirn entscheidend, die als limbisches System bezeichnet werden – ein Netzwerk aus Hirnregionen, die stammesgeschichtlich älter sind als die Großhirnrinde und unter dieser liegen. Die instinkthaften und traumatischen
Abb. 3.4 Körperzustände als somatische Marker nach Damasio (vereinfacht).
3 Grundbegriffe
Gefühlsreaktionen finden in dem Teil des limbischen Systems statt, das als Amygdala (Mandelkern) bezeichnet wird. Für die bewusste, kognitive Verarbeitung ist ein vorn gelegener Teil der Großhirnrinde entscheidend, der als präfrontaler Cor-
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tex bezeichnet wird. Die somatischen Marker entstehen im präfrontalen Cortex, in dem Signale von allen Sinnesorganen und Körperteilen einlaufen, Vorstellungsbilder aktiviert und Gefühle erzeugt werden können.
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4 Die Entstehung von psychischem Leid
» Die Krankheiten der Seele sind Krankheiten der Beziehung. Martin Buber « Psychisches Leid. In den verschiedenen Verfahren der Humanistischen Psychotherapie wurden viele Ideen dazu entwickelt, was psychisches Leid ist, wie es entsteht, wie es festgestellt und überwunden werden kann. Es gibt jedoch zur Zeit keine Theorie der Entstehung, Aufrechterhaltung und Überwindung psychischen Leids, die unter den Vertretern der verschiedenen Verfahren der Humanistischen Psychotherapie allgemein akzeptiert wäre. Viele Humanistische Psychotherapeuten beziehen, wenn es um die Entstehung psychischen Leids geht, andere, besonders moderne psychodynamische Theorien ein, wodurch in der Anwendungspraxis eine Hybridisierung zwischen Humanistischen, psychodynamischen und anderen Konzepten entsteht und praktiziert wird, die zur Zeit theoretisch noch relativ wenig ausgearbeitet ist. Diese Integrationstendenz wird verstärkt dadurch, dass die meisten
Humanistischen Psychotherapeuten in Deutschland inzwischen eine Kassenzulassung haben – die meisten als Tiefenpsychologen. Von den Humanistischen Pschychotherapeuten werden insbesondere Aspekte der Objektbeziehungstheorie (Kernberg 2000) und der Selbstpsychologie (Kohut 1979) einbezogen sowie u. a. Elemente aus der Säuglingsforschung, der Traumatherapie und der DialektischBehavioralen Therapie (Linehan 1996). Ich halte die konzeptuelle Vernetzung von psychotherapeutischen Verfahren verschiedener Orientierungen (mit der Perspektive einer künftig zu entwickelnden Allgemeinen Psychotherapie, in der die derzeit existierenden Verfahren Schwerpunkte wären) für sinnvoll und fruchtbar – schließlich muss nicht jeder das Rad neu erfinden. Im Folgenden möchte ich versuchen, meine Sicht der Entstehung psychischen Leids darzustellen. Sie basiert auf einem psychodynamisch-humanistischen Konzept unbewusster Abwehrprozesse.
4.1 Fragmentierungsangst Abwehr von Fragmentierungsangst. Psychisches Leid (psychische Störungen, Symptome und Strukturstörungen) kann betrachtet werden als Ergebnis der unzureichenden Verarbeitung leidvoller lebensgeschichtlicher Beziehungsprägungen aufgrund von Abwehrprozessen. Leidvolle Lebensereignisse oder Beziehungsmuster konnten in der Biografie nicht angemessen bewältigt werden, und grundlegende Fähigkeiten konnten sich nicht angemessen entwickeln und wurden daher abgewehrt. Durch Abwehr wurde die alte Dynamik notdürftig bewältigt, aber auch verewigt. Wenn sich ein
Klient im Laufe des Therapieprozesses allmählich in sein Inneres hineinspürt und die Wurzeln seiner Symptome ergründet, so findet er zunächst unlösbar erscheinende emotionale Ambivalenzen und dann Abwehrprozesse (Verdrängung, Spaltung, Dissoziation usw.). Abwehrprozesse sind Notfallmaßnahmen, um etwas zu bewältigen, womit man anders nicht klarkommt. Was aber ist es, was abgewehrt wird? Wenn der Klient mit Hilfe des Therapeuten seine Abwehrbarrieren schrittweise durchfühlt und Abgewehrtes integriert, so findet er im Zentrum dessen, was abgewehrt wird, eine
4 Die Entstehung von psychischem Leid 33
innere Dynamik, die derart bedrohlich ist, dass sie als unerträglich erlebt wird. Es ist das schwer zu beschreibende Erleben eines Zustandsverlustes des Ich. Was sich hinter den tiefsten Abwehrbarrieren verbirgt, ist eine Angst vor dem Zerfallen der Selbststruktur, vor der Auflösung der Identität, vor der Desintegration des Selbst, vor dem Ich-Tod. Dieser überaus bedrohliche Zustand wird als „latente Fragmentierung“ bezeichnet (Kohut 1976, Benedetti 1983) und subjektiv als unerträgliche, gestaltlose, „unsagbare“ Angst erlebt. Außenperspektive/Innenperspektive. Wenn wir psychisches Leid auf objektivierende Weise beschreiben, so erhalten wir diagnostische Kategorien (z. B. „Phobie“, „Depression“, „Strukturstörung“ usw.). Diese Beschreibungen sind kategoriale Zuordnungen von außen, sie beschreiben nicht das subjektive Erleben von innen. Auf der Erlebnisebene (in der Innenwelt) besteht das, was abgewehrt wird, zunächst aus schwer aushaltbaren Emotionen wie Frustration, Wut, Trauer, Schuld oder Scham. Noch wesentlich schwerer sind geladene emotionale Ambivalenzen zu ertragen, in denen sich einander ausschließende Emotionen gegenseitig blockieren. Das ist z. B. der Fall, wenn ein Klient einer wichtigen Person gegenüber gleichzeitig Respekt und Verachtung, Zuneigung und Angst oder Begehren und Abscheu empfindet. Letzten Endes handelt es sich um einen inneren Kampf zwischen Liebe und Hass, zwischen hingebungsvoller Gebundenheit und aggressiver Abwendung derselben Person gegenüber. Wie aber fühlt man sich inmitten eines solchen inneren Kampfes, wenn die im Konflikt stehenden Anteile unlösbar miteinander verwoben sind und einander gleichzeitig radikal ausschließen? Bevor dieses Erleben durch Abwehrprozesse verzerrt wird, fühlt man sich, als ob man zwischen Mühlsteinen zerrieben wird. Wie aber erlebt man es subjektiv, wenn das eigene Selbst zerrieben wird? Die drohende Zerstörung (Desintegration) des Ich wird nicht als Gefühl wahrgenommen, sondern als Zustand, der gekennzeichnet ist durch einen Strukturverlust des Ich. Weil Denken und Sprechen, kognitives Einordnen und Verbalisieren, Verstehen und Zuordnen, Kontrollieren und Reflektieren selbst Fähigkeiten des Ich sind, können Zustände der latenten Fragmentierung nur schwer identifiziert, kognitiv eingeordnet und sprachlich kommuniziert werden. Sie werden in der Regel als diffuse Gefühlsüberflutungs- und gleichzeitig
Gefühlsabschaltungsprozesse erlebt und entweder agiert (z. B. durch Aggression oder Rückzug) oder somatisiert (z. B. durch psychosomatische Störungen) oder beides zugleich. Der Kern der Angst. Wovor genau hat ein Klient Angst, der (klaustrophobische) Ängste hat, U-Bahn zu fahren? Er fühlt sich vielleicht eingesperrt, er hat keine Kontrolle über die Situation, er fühlt sich beengt wie in einem engen Rohr, er hat die irrationale Angst, dass im selben Schacht eine andere U-Bahn entgegenkommt und kann nicht mehr richtig atmen. Der Kern der Angst aber ist der schwer mit Worten zu beschreibende Zustand der drohenden Zerstörung des Ich durch die Gewalt ambivalenter archaischer Emotionen (hier z.B.: massive Alarmiertheit, Panik und Entsetzen). Der tiefste Schrecken besteht darin, dass das Ich sich auflöst, also auf destruktive Weise seinen Zusammenhalt (seine Kohärenz) verliert. Im Zentrum der Abwehr hat der Klient Angst, dass sein Selbst kaputtgeht (desintegriert). Und wenn sein Selbst (also er selbst) auseinanderfliegt, so geht – im subjektiven Erleben – die Welt unter. Vermeidung und Abwehr. Gefühle, die als unangenehm empfunden werden, z. B. Wut, Angst, Scham, Ekel oder psychischer Schmerz, werden in der Regel vermieden, sie müssen jedoch nicht zu Abwehrprozessen führen. • Das Vermeiden unangenehmer Gefühle findet vor allem auf der Verhaltensebene statt: man vermeidet Situationen, in denen die entsprechenden Gefühle auftreten würden. • Abwehrprozesse dagegen sind innerpsychisch und automatisiert, sie betreffen auf der tiefsten Ebene die drohende Vernichtung der Integrität des Selbst, die mit massiver Verwirrung und Emotionsüberflutung einhergeht. Vermieden wird Unangenehmes – abgewehrt wird Unerträgliches, was nicht auf der Verhaltensebene vermieden werden kann. Drohende Fragmentierung. Wenn das Ich zerstört und das Selbst fragmentiert ist, ist die Person psychotisch. Fragmentierungsangst ist ein Zustand der drohenden Fragmentierung, in dem die Selbststruktur als instabil erlebt wird, aber noch relativ funktionsfähig ist (vgl. Abb. 4.1). Der Begriff Fragmentierungsangst ist eigentlich viel zu kühl und zu theoretisch, um die Gewalt des Erlebens
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Abb. 4.1 Die Dynamik der psychischen Struktur.
zu beschreiben, das er benennt. Wir können uns als Analogie einen Tsunami oder einen Vulkanausbruch vorstellen, um eine Ahnung von dem Gefühl des Untergangs der Wirklichkeit zu erhalten, als das die drohende Fragmentierung des Ich subjektiv erlebt wird. Wenn das Ich fragmentiert, bleibt im Erleben kein Stein auf dem anderen, nichts bleibt übrig. Und der Verlust der Wirklich-
keit ist im subjektiven Erleben nicht irgendwann vorbei, sondern der Untergang der Welt wird als Dauerzustand erlebt. Das macht unerträgliche Angst. Um die drohende Fragmentierung notdürftig zu überstehen, werden Abwehrprozesse aktiviert, was zu den verschiedenen Formen von psychischem Leid führt.
4.2 Leid erzeugende Beziehungskonstellationen Beziehungsmuster. Was die Selbststruktur instabil werden lässt, sind Leid erzeugende Beziehungskonstellationen. Im Laufe der Entwicklung eines Kindes prägen sich Muster aus Gefühlen, Einstellungen, Identifikationen und Beziehungsvorstellungen in das Kind ein. Der gewohnheitsmäßige Interaktionsstil zwischen den primären Bezugspersonen und dem heranwachsenden Kind verkörpert sich zu emotio-somatischen Mustern, die später, im Erwachsenen, zu automatisierten Rastern für Kontakt und Abgrenzung werden. Der Körperpsychotherapeut George Downing (1994) spricht in diesem Zusammenhang von „affektmotorischen Schemata“. Er geht davon aus, dass in der Kindheit komplexe Dynamiken
von Ausdrucksbewegungen, Emotionen und Einstellungen „eingekörpert“ werden, die jeweils motorische, affektive und kognitive Komponenten sowie Beziehungskomponenten enthalten. Downing bezeichnet diese auch als „somatische Erinnerungen“, als „kinästhetische Engramme“ oder als „Kinogramme“, ich spreche von „verkörperten Beziehungsmustern“ oder kurz von „Beziehungsmustern“. Beziehungsmuster gehen mit als zwingend erlebten Gefühlsreaktionen einher. Manchmal klaffen dabei das verstandesmäßige Begreifen und der emotionale Zustand auseinander.
4 Die Entstehung von psychischem Leid 35
Ein Klient kommt bedrückt wirkend, hohlwangig und graugesichtig in die Therapie. Er hat auf dem Handy seiner Frau eine SMS von einem anderen Mann gelesen, der sich bei ihr für ein angenehmes Gespräch im Rahmen einer Betriebsfeier bedankt. Der Klient sagt: „Ich weiß, dass das harmlos ist. Kann sein, dass der Typ versucht, meine Frau anzubaggern, aber ich glaube nicht, dass sie sich für ihn interessiert. Trotzdem fühle ich mich, als ob gleich die Welt untergeht.“ Der Klient erlebt auf der emotionalen Ebene eine beängstigende Bedrohung, die ein Beziehungsmuster alter Verlassenheitserfahrungen aktiviert, obwohl er auf der Verstandesebene davon ausgeht, dass seine Angst nicht begründet ist.
Beziehungsstörungen und Traumata. Der Charakter eines Kindes formt sich in der Auseinandersetzung zwischen seinem Temperament, seinen anderen Anlagen und den Beziehungen und Bindungen in seiner sozialen Welt. Hier bildet sich die individuelle psychische Struktur des Kindes heraus, und hier formt sich der biografische Untergrund für psychisches Glück und Leid. Anhaltendes psychisches Leid entsteht biografisch durch unverarbeitete Beziehungsstörungen und durch nicht bewältigte Traumata. • Von einer biografischen Beziehungsstörung sprechen wir, wenn ein Kind, das sich noch in der Entwicklung befindet, langfristig durch Beziehungsverzerrungen geprägt wird. Die Eltern eines Klienten waren sehr stark auf Leistung, Außenwirkung und Erfolg orientiert, während ihnen Freude an emotionalem Kontakt, fürsorgliche Zuwendung und gewährendes Mitfühlen weitgehend fremd waren. Der Klient entwickelte einen zwanghaften Drang nach Größe, Perfektion und Brillanz, fühlt sich aber innerlich leer und unfähig. Es fehlen ihm tragende, liebevolle Bindungen. Er entwickelte eine narzisstische Struktur.
•
Von einem Trauma sprechen wir, wenn ein Mensch mit einer zunächst relativ integrierten psychischen Struktur durch den Einbruch massiver Gewalt ohne Möglichkeit der Verarbeitung psychisch destabilisiert wird.
Eine heute 38-jährige Klientin wurde im Alter von 18 Jahren beim Trampen zur Disco von einem psychopathischen Ehepaar entführt und von dem alkoholisierten Mann auf brutale Weise mit einem Messer an der Kehle vergewaltigt. Die Klientin war vorher ein normaler Teenager gewesen. Die Entführung und Vergewaltigung war ein gewaltsamer Einbruch in ihre Struktur: „Meine heile Welt brach zusammen.“ Ihre Familie und ihre Freunde reagierten hilflos. Betreuungsangebote gab es keine. Sie hatte vor Therapiebeginn 20 Jahre lang mit niemandem über die Traumatisierung gesprochen.
Der Unterschied zwischen einer Beziehungsstörung und einem Trauma besteht darin, dass bei einer Beziehungsstörung die sich entwickelnde Struktur eines Menschen bereits in ihrer Entstehung über längere Zeiträume hinweg gestört ist, während bei einem Trauma zunächst eine relativ stabile Struktur bestand, die dann durch einen Einbruch äußerer Gewalt dauerhaft destabilisiert wird. Natürlich sind auch Misch- und Übergangsformen möglich. Beides sind Leid erzeugende Beziehungskonstellationen, die zu fragmentierungsbedrohten Zuständen und, falls diese nicht verarbeitet werden, zu chronischem psychischem Leid führen. In begrenztem Umfang sind Beziehungsstörungen und Traumata unvermeidbare Erfahrungen des Lebens. Sie prägen die Herausbildung von Bewältigungsfähigkeiten, Identität und Kompetenz und die Reifung der Persönlichkeit. Wenn sie jedoch massiv oder anhaltend geschehen, wenn kompensatorische soziale Ressourcen fehlen, wenn sie ein Kind oder einen bereits vorgeschädigten Menschen treffen, können sie zu einer dauerhaften Verzerrung der psychischen Struktur und damit zu chronischem psychischem Leid führen (vgl. Abb. 4.2). Freezing und Hyperarrousal. Wenn sich ein Mensch existenziell bedroht fühlt, ist seine unmittelbare Reaktion, entweder zu kämpfen (Wut) oder zu fliehen (Angst). Wenn aber beides nicht geht, entweder weil die Bedrohung übermächtig ist oder weil die Situation durch Kampf oder Flucht nicht bewältigt werden kann, so verfällt die Person in einen Erstarrungszustand (Freezing), der oft mit innerer Übererregung (Hyperarrousal) gepaart ist. Wenn eine solche Schockstarre wegen eines Mangels an psychischen oder sozialen Ressourcen nicht aufgelöst und verarbeitet werden kann, so entsteht ein
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Abb. 4.2 Biografische Ursachen von psychischem Leid.
anhaltender posttraumatischer Zustand. Im posttraumatischen Syndrom sind im Energiesystem des Menschen quasi Gaspedal und Bremse gleichzeitig betätigt. Der Körper ist überangespannt und auf lähmende Weise bewegungsunfähig. Alternierend dazu oder gleichzeitig befindet sich der Traumatisierte in einem Zustand agitierter Überwachheit und Alarmiertheit. Traumata bewirken eine Instabilität der Selbststruktur, die chronische oder zyklisch auftretende Fragmentierungsneigungen und -ängste zur Folge hat. Der Traumatisierte erlebt einen ständigen Wechsel von traumatischem Wiedererleben mit emotionaler Überflutung (Intrusion) und Zuständen von Abwesenheit und Emotionsabschaltung (Dissoziation). Es kann zu Panikattacken und überfallartigen Reaktivierungen des Traumazustandes (Intrusionen, Flashbacks) oder zu Zuständen von geistiger Leere und kognitiver Desorientiertheit (Numbness) kommen. Reaktionen dieser Art sind nicht nur Resultat von Traumatisierungen, sondern können auch das Ergebnis früher Bindungs- und Beziehungsstörungen sein (Wöller 2006). Intrusionen. Intrusionen sind wiederkehrende, unkontrollierbare Einbrüche in Zustände des Wiedererlebens der traumatischen Situation oder der damit assoziierten Gefühle und Zustände. In einer
Intrusion wird das traumatische Vergangene so erlebt, als ob es hier und jetzt stattfindet. Intrusionen können unerwartet und ohne erkennbare äußere Auslöser auftreten (z. B. beim Autofahren oder in der Badewanne) oder aufgrund von spezifischen Auslösereizen, die an die traumatische Dynamik gekoppelt sind (Trigger). Ein zentrales Ziel der Psychotherapie nach Traumata ist es, aus Intrusionen Erinnerungen zu machen. Eingeprägte Überzeugungen. Unverarbeitete Beziehungsstörungen und Traumata prägen sich als schwer korrigierbare Aspekte der Identität im Unbewussten ein. Sie können auch durch vielfältige entgegengesetzte Erfahrungen im Erwachsenenalter nicht ohne weiteres verändert werden. Wenn ein Mensch als eingeprägtes Beziehungsmuster die tiefe Überzeugung (das „Schema“, vgl. Young et al. 2008) in sich trägt, in seinem Wesen nicht liebenswert zu sein, ein verhöhnter Außenseiter, ein hilfloses Opfer oder bedroht von einer feindlichen Welt, so können noch so viele Liebeserklärungen, Erfolgserlebnisse, Mitgliedschaften oder Sicherungsmaßnahmen im erwachsenen Leben diese alten Gefühle manchmal nur notdürftig kompensieren, aber nicht dauerhaft korrigieren.
4 Die Entstehung von psychischem Leid 37
Beziehungskonstellationen. Man unterscheidet vier Beziehungskonstellationen, die, wenn sie die Bewältigungsfähigkeiten eines Menschen überfordern, zur biografischen Ursache für psychisches Leid werden können: 1. Invasion: Unter einer Invasion versteht man das gewaltsame oder manipulative, destruktive Durchdringen der Selbstschutzgrenze eines Menschen. Invasionen sind z. B. körperliche Züchtigung, Misshandlung, Vergewaltigung, fortgesetzte Anzüglichkeiten, Abwertung, Entwürdigung, übergriffige Berührungen, massive Drohungen oder Überforderung. Psychische Invasion findet insbesondere durch Misshandlung, Missbrauch oder Demütigung in der Kindheit statt. Ein Mensch, der Invasion erlebt, fühlt sich in seiner körperlichen oder psychischen Integrität verletzt oder bedroht und bräuchte eigentlich Sicherheit und Schutz. 2. Deprivation: Von Deprivation spricht man, wenn einem Menschen etwas fehlt, was eigentlich notwendig da sein müsste, um ein ausgeglichenes Leben in Wohlbefinden zu führen, z. B. Orientierung, halt- und schutzgebende Strukturen, vertrauenswürdige und konstante Beziehungen, verlässliche emotionale Zuwendung,
Abb. 4.3 Leid erzeugende Beziehungskonstellationen.
Wärme, Aufmerksamkeit, Auseinandersetzung mit seiner seelischen Befindlichkeit, Schutz vor Angriffen oder nachvollziehbare Grenzen. Psychische Deprivation findet besonders durch Vernachlässigung, Ignoranz oder Bindungsmangel in der Kindheit statt. Ein Mensch, der Deprivation erlebt, spürt einen Mangel an Halt und bräuchte eigentlich Fürsorge und Zuwendung. 3. Restriktion: Unter Restriktion versteht man eine dauerhafte, übermäßige Einengung des Bewegungs-, Aktivitäts- oder Gefühlsspielraums eines Menschen z. B. durch unnötige, einengende oder übertriebene Verbote, Tabus oder moralische Normen. Ein Mensch, der unter restriktiven Bedingungen lebt oder aufwächst, fühlt sich in seinem Bewegungs-, Gedanken- und Gefühlsspielraum eingeengt und bräuchte eigentlich Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten. 4. Konfusion: Konfusion ist ein Zustand der Ver wirrung durch unklar definierte wichtige Beziehungen, aufgeladene Doppelbotschaften, chaotische Verhältnisse, Mangel an Regeln und Strukturen oder massive Bedeutungsverwirrungen. Ein konfusionierter Mensch fühlt sich in seinem Bedürfnis nach vertrauensvollen
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Bindungen desorientiert und bräuchte eigentlich Klarheit und Zuverlässigkeit.
in Beziehungsstörungen als auch bei Traumata auf und können gemeinsam, überlagert oder vermischt vorkommen.
Diese Leid erzeugenden Beziehungskonstellationen sind in Abb. 4.3 dargestellt. Sie treten sowohl
4.3 Frühe Bindungsstörungen Frühe Muster. Am folgenreichsten sind Beziehungsstörungen und Traumata in der frühen Kindheit, wenn der Mensch noch viel sensibler und verwundbarer ist, als er es später je wieder sein wird. Ein Säugling oder ein Kleinkind hat noch ein weit geöffnetes sensorisches Fenster, es fühlt mehr und kann sich weniger ablenken, es ist abhängig von seinen primären Bezugspersonen und kann nicht auf andere Beziehungen ausweichen. Daher prägen sich frühe Beziehungsmuster viel stärker ein, als das später möglich sein wird. „ Ein Baby, das etwas braucht und es nicht bekommt, hat keine andere Alternative, als entweder ständige Qual zu fühlen oder sich abzuschließen … Es verdrängt. Verdrängen ist eine automatische Reaktion auf den Schmerz emotionaler Entbehrung … Die katastrophalsten Schmerzen sind die frühen Schmerzen, die lebensbedrohend sind … Das System ist nicht dazu ausgestattet, Schmerzen dieser Größenordnung zu ertragen … Wenn der Schmerz zu viel wird, werden wir taub und spüren nichts mehr … Daraus ergibt sich eine emotionale Taubheit, eine Unfähigkeit zu fühlen … Wenn wir wieder auftauen und zu fühlen beginnen, haben wir erneut Schmerzen“. (Janov 1993, S. 35 ff) . Bindungsforschung. Schon in den ersten Lebensmonaten und -jahren können sich die Folgen von Bindungsproblemen in Form von Kontakt- und Entwicklungsstörungen zeigen. Die Vertreter der Säuglings- und Bindungsforschung beschäftigen sich mit den Folgen von Beziehungsstörungen in den frühesten Phasen des Lebens (z. B. Bowlby 1976, Stern 2007, Dornes 1993, 1997, Bowlby 2000, 2003, Lichtenberg 1991, Beebe u. Lachmann 2004, Papoušek 2004, Kestenberg 1991, Fonagy 2004). Instabile Bindungen. Säuglinge, die aufgrund frühkindlicher Interaktionsstörungen nicht stabil und liebevoll mit ihren primären Bezugspersonen gebunden sind, können je nach Charakter und Intensität der Interaktionsstörung unterschiedliche Strukturen psychischen Leids entwickeln:
•
Eine mangelnde oder unsichere Bindung des Säuglings an seine primären Bezugspersonen kann zu einer Verlassenheitsdepression führen, die die Urform für die Gefühle der Leere und Unlebendigkeit ist, die Menschen mit instabiler Selbststruktur in dissoziierten Zuständen erleben und fürchten (Masterson 1998, 2003). • Wenn sich bei einem Menschen die Fähigkeit zur Affektregulation (Fonagy 2004) nicht ausreichend entwickelt, kann eine entgleiste Struktur mit einer mangelnden Fähigkeit zur Selbstberuhigung entstehen – die frühkindliche Basis für die Entstehung einer Borderline-Dynamik. • Ein Säugling, der chronische emotionale Deprivationen erleidet, kann eine Prädisposition für eine depressive Struktur entwickeln. • Ein Baby, das sich in den Interaktionen mit seinen frühen Bezugspersonen nicht ausreichend gehalten fühlt, ist anfälliger für die Entstehung von chronischen Ängsten. Instabil gebundene Babys entwickeln bereits früh eine überstarke muskuläre Anspannung in den äußeren Schichten des Körpers (eine Frühform des Muskelpanzers), während sie in ihrem Inneren emotional entleert sind, weil es ihnen an haltgebender, liebevoller Zuwendung mangelt. In der psychotherapeutischen Arbeit mit bindungstraumatisierten Erwachsenen ist es wichtig, dass der Therapeut im erwachsenen Klienten die Not des sich verlassen oder überstimuliert fühlenden Säuglings erkennen kann, um darauf angemessen psychotherapeutisch eingehen zu können. Frei flottierende Angst. Nach Winnicott (2004) empfindet ein bindungstraumatisierter Säugling die Abwesenheit oder den Verlust einer haltgebenden Beziehung als Vernichtung seines Selbst und der Welt, was mit grauenhafter Fragmentierungsangst einhergeht, die zunächst weder sprachlich noch gedanklich repräsentiert werden kann. Diese Angst findet sich bei erwachsenen Klienten mit fragiler Selbststruktur z. B. als Empfindung des Fallens ins Bodenlose oder als panisches Gefühl des
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Orientierungsverlustes (Dulz u. Schneider 1997). Die vielfältigen und häufig wechselnden Symptome strukturell fragiler Klienten (dissoziative Symptome, Impulsdurchbrüche, Minipsychosen, Somatisierungen, Leeregefühle, Phobien, Zwänge, Autoaggressionen, Depressionen usw.) können vor dem Hintergrund früher Bindungsstörungen als misslingende Versuche verstanden werden, einer grundlegenden, unerträglichen Fragmentierungsangst zu entkommen, die aus einem Gefühl resultiert, in der Welt nicht sicher zu sein. Annihilation. Eine narzisstische Form von Fragmentierungsangst aufgrund von frühen Bindungsstörungen ist das von Atwood, Stolorow u. Orange (2003) beschriebene Erleben von Annihilation. Gemeint ist ein Gefühl, als Person nicht wahrgenommen oder übergangen zu werden, was als „Genichtetsein“ oder „Zunichte gemacht werden“ erlebt wird.
Eine Klientin mit einer (narzisstischen) Selbstwertproblematik berichtet, dass sie sich im Kreis der Freunde und Kollegen ihres Mannes oft „vollständig ignoriert“ fühlt. Sie sitzt dann z. B. mit ihrem Mann und dessen Freunden zusammen und hat das Gefühl, dass niemand sie anspricht, dass niemand Interesse an ihr hat und dass sie nicht in der Lage ist, sich in das Gespräch einzubringen und „sichtbar zu werden“: „Ich fühle mich wie Luft, als ob ich gar nicht da bin. Keiner nimmt mich wahr, keiner interessiert sich für mich.“ Sie fühlt sich wie nicht existent als Person. Dabei ist es zunächst unklar, ob sie tatsächlich ausgegrenzt wird, ob sie aufgrund ihrer narzisstischen Struktur die Ausgrenzung unbewusst herstellt oder ob sie die Situation aufgrund ihrer narzisstischen Verletzbarkeit nur so wahrnimmt, als ob sie ignoriert würde.
4.4 Abwehr von Fragmentierungsangst Abwehrprozesse. Allgemein ausgedrückt fasst man unter dem Begriff Abwehr alle automatisiert (unbewusst) ablaufenden inneren Prozesse zusammen, die dem Erleben dessen, was ist, zuwiderlaufen. Zu den Abwehrprozessen zählen z. B. Verdrängung, Spaltung, Dissoziation, Diffusion, Projektion, Somatisierung, Erstarren, Regression, Ausagieren, Intellektualisieren u. v. a. (A. Freud 1992, Perls 1979, Reich 1970, Kohut 1979, Levine 1998, Sachsse 2007 u. v. a.). Wenn ein Mensch eine überwältigende Beziehungsstörung oder ein schweres Trauma erlebt, entsteht eine Überflutung mit einem Gefühlschaos, das die Integrität seiner Selbststruktur bedroht. Der Mensch erlebt Angst vor dem „Zerschmettertwerden“ seiner psychischen Struktur durch nicht zu integrierende Emotionen. Diese Angst ist unerträglich und muss abgewehrt werden. Die innere Spannung zwischen Abwehr und Abgewehrtem ist die energetische Quelle des psychischen Leids, das sich in psychischen oder psychosomatischen Symptomen manifestiert. In den Symptomen sind die Beziehungsstörungen oder Traumata, die zu ihrer Entstehung geführt haben, durch Abwehrprozesse vom Bewusstsein ferngehalten, aber gleichzeitig verewigt. Abwehraffekte. Abwehrprozesse werden von aversiven Gefühlen wie Angst, Scham, Ekel, Hass, Trauer, Schuld, Schwindel oder emotionalem
Schmerz begleitet. Diese so genannten „Abwehraffekte“ können unerträglich intensiv sein und werden dann wiederum abgewehrt, was zu sekundären Abwehrmustern führt (Reich 1970).
Eine Klientin fühlte sich als Kind überwältigt von den „unerfüllbaren Vorschriften“ ihrer als tyrannisch erlebten, religiös-fundamentalistischen Eltern. „Jedes bisschen Lebendigkeit war Teufelswerk“, sagt sie. Ihr sich herausbildendes Selbst wurde auf verzerrte Weise geprägt von unhinterfragbaren, widersprüchlichen Anforderungen, die sie „schier um den Verstand brachten“. Die daraus entspringenden Desintegrationsängste wurden überdeckt durch Hassgefühle, die sich v. a. gegen ihren eigenen Körper und insbesondere gegen lustvolles Begehren richteten. Diese Hassgefühle mussten unter der familiär vorgeschriebenen „Diktatur der Liebe“ wiederum abgewehrt werden. Die Klientin ent wickelte eine äußerlich überangepasste Struktur, eine emotionale Gehemmtheit mit latenten, panischen Ängsten vor allem, was ihre Hassgefühle auslösen konnte, und das war insbesondere alles, was lustvolle Körpergefühle in ihr auslöste. Diese Ängste wurden wiederum abgewehrt durch Taubheitszustände, reflexartige Vermeidungshaltungen und sozialen Rückzug. In der Seele der Klientin waren also mehrere Abwehrschichten übereinander gelagert.
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Theorien
Abb. 4.4 Abwehr und Integration.
Abwehrschichten. Man kann sich die Abwehrdynamik eines Menschen als Schichtenmodell vorstellen (siehe Abb. 4.4): • Die tiefste Schicht sind die abgewehrten Fragmentierungs- und Entgrenzungsängste als Ausdruck einer destabilisierten Selbststruktur. Daher ist es therapeutisch grundlegend wichtig, dem Klienten in der Therapie durch Strukturierung, Kontinuität, Präsenz und Empathie Halt zu geben, um seine von Fragmentierung bedrohte Psyche zu stabilisieren. • Als primitivste, früheste Form der Abwehr finden wir Spaltungsprozesse, die zu vertikal dissoziierten Persönlichkeitsanteilen führen, von denen jeder sowohl bewusste als auch unbewusste Anteile beinhaltet und mit entsprechenden Selbstbildern und Weltwahrnehmungen einhergeht. Am gründlichsten untersucht wurde die Borderline-Spaltung (Kernberg 2000, 2005, 2007), die narzisstische Spaltung (Kohut 1976, 1989) und die posttraumatische Dissoziation (z. B. Huber 2007, Fiedler 2002). Auf dieser Ebene steht als therapeutisches Ziel im Vordergrund, Verbindungen mit und zwischen den gespaltenen Teilen herzustellen, um sie tendenziell miteinander zu integrieren. Die verschiedenen Formen von Spaltung sind in Abb. 4.5 dargestellt. • Die darüber gelagerte (reifere) Schicht der Abwehr ist die Verdrängung: Hier geht es darum, dass bestimmte, als bedrohlich oder sozial
•
inakzeptabel wahrgenommene Gefühle und Impulse unbewusst gehemmt, also unterdrückt werden und dann als Symptome wiederkehren. Auf dieser Ebene steht die therapeutische Arbeit an der Integration der verdrängten Gefühle, Impulse, Selbstanteile und Wahrnehmungen in das Bewusstsein und das Selbstbild im Vordergrund. An der Oberfläche der psychischen Struktur finden wir Vermeidungen und Zwänge: der Klient ist nicht in der Lage zu tun, was er tun möchte, oder er fühlt sich gezwungen, etwas tun, was ihm nicht guttut. Auf dieser Ebene ist die Aufgabe der Therapie, den Klienten zu ermutigen und zu befähigen, sich dem Vermiedenen zu stellen und Zwanghaftes zu unterlassen (was den psychodynamischen Zugang zu tieferen Schichten der Abwehr eröffnen kann).
Dissoziation. Unter den Abwehrprozessen ist die Dissoziation für das Verständnis der posttraumatischen Zustände und der Persönlichkeitsstörungen von besonderer Bedeutung. Unter dem Begriff Dissoziation (von lat. dissocio: trennen, scheiden) werden Abwehrprozesse zusammengefasst, bei denen psychische Elemente, die natürlicherweise als Einheit zusammengehören, voneinander getrennt sind. Dissoziation als Abwehr kann massive Beeinträchtigungen der Persönlichkeitsstruktur bewirken. Dissoziative Abwehrprozesse unterbrechen die Kontinuität des Selbstempfindens. Es
4 Die Entstehung von psychischem Leid 41
Abb. 4.5 Formen von Spaltung.
entstehen Brüche und Löcher im Gewahrsein, im Körperempfinden, in der Biografie und im Beziehungssystem: • Leichte Formen von Dissoziation wären z. B. Benommenheit, Vergesslichkeit, Abwesenheit. • Das Bewusstsein kann vom Körper dissoziiert sein. • Ein Körperteil kann aus der Wahrnehmung des Körpers abgetrennt sein. • Ich und Emotionen können voneinander getrennt sein. • Gedanken und Empfindungen können voneinander getrennt sein. • Bestimmte Erinnerungen können nicht zugänglich sein (dissoziative Amnesie). • Tatsächlich stattgefundene Ereignisse (Traumata) können geleugnet werden (Ungeschehenmachen). • Körperempfindungen können von ihren emotionalen Bedeutungen abgespalten sein. • Ein Mensch kann sich fremd im eigenen Körper fühlen (Depersonalisation). • Die Umwelt oder das eigene Selbst können als unwirklich erlebt werden (Derealisation). • Ein Mensch kann vorübergehend innerlich abwesend sein (Absence). • Das Gesichtsfeld kann eingeschränkt sein (Tunnelblick). • Die Körperwahrnehmung kann verändert sein (z. B. kann sich der Körper anfühlen, als ob er größer oder kleiner, dicker oder dünner ist, als in Wirklichkeit).
• •
Ein Mensch kann keine oder unvollständige Erinnerungen an kurz zurückliegende Ereignisse haben (Zeitverlust, Amnesie). Verschiedene Ich-Kerne (Sub-Persönlichkeiten) können von einer Haupt-Persönlichkeit (Host) und voneinander dissoziiert sein (multiple Persönlichkeit).
Abwehr und Abgrenzung. Abwehr ist nicht nur ein Leid erzeugender, destruktiver Prozess, sondern auch eine Fähigkeit, eine Ressource, die das Leben oder den Verstand eines Menschen retten kann. Abwehrprozesse ermöglichen es, Zustände zu ertragen, die sonst nicht zu ertragen wären. Abwehr ist ein Notbehelf für aktuell auf andere Weise nicht zu bewältigende Erfahrungen oder Konstellationen. Abwehr ist ein natürlicher Bewältigungsmechanismus, der einen „Gewinn“ mit sich bringt, der aber auch einen „Preis“ hat. Abwehrprozesse halten Unerträgliches vom Bewusstsein fern, aber sie binden das Erleben auch dauerhaft daran. In integrierten Bereichen mit stabilen Strukturen muss das Ich nicht abwehren. Dort hat es eine flexible Ich-Grenze mit einem ausgewogenen Verhältnis zwischen emotionalem Kontakt und emotionaler Abgrenzung. Ein zentrales Ziel der Humanistischen Psychotherapie ist es daher, aus Abwehr Abgrenzung zu machen, den Klienten also zu befähigen, sich ohne destrukturierende Abwehrprozesse auf vitale, strukturell stabile Weise innerlich und nach außen abzugrenzen und gleichzeitig mit sich und anderen in einem guten Kontakt zu sein.
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4.5 Die Wiederkehr des Abgewehrten Fixierung. Abgewehrtes ist nur notdürftig unter Kontrolle gebracht, aber nicht bewältigt. Wenn viel Unbewältigtes sich angesammelt hat, kann das Abwehrsystem überlastet werden und das Abgewehrte kehrt auf leidvolle Weise in Form von Symptomen ins Erleben zurück, die dann an der Oberfläche des Erlebens dem Psychotherapeuten als zu behandelnde Störungen beschrieben werden (Index-Symptome). Die Gefühle und Zustände, die von den Symptomen ausgelöst werden (z. B. Schmerz, Angst, Einsamkeit, Druck, Stagnation, Auflösung), sind genau die Gefühle und Zustände, die in der Primärdynamik als unerträglich empfunden und daher abgewehrt wurden, nur sind sie jetzt aus ihrem biografischen Beziehungskontext herausgelöst (vgl. Abb. 4.6). Der Klient wird den alten Schmerz und die alten Ängste durch Abwehr nicht los, sondern ist an sie gefesselt (fixiert). Re-Inszenierung. Auf der Beziehungsebene wird die Beziehungskonstellation, die in dem Abwehrmuster eingekapselt ist, zu einem Filter, der bestimmt, wie der Klient Ereignisse wahrnimmt und zu einer Schiene, die vorgibt, wie er auf sie reagiert. Daher erlebt der Klient die alte, unbewältigte Konstellation immer wieder aufs Neue, weil er sie unbewusst immer wieder herstellt. Die Tendenz zum Re-Inszenieren, also Wiedererleben oder Wiederherstellen alter Beziehungsstörungen und Traumata wurde von Freud (1989) als Wiederholungszwang bezeichnet. In der Traumatherapie spricht man von Reviktimisierung (Wöller 2006).
Wenn ein Mensch in der unbewussten Re-Inszenierung einer leidvollen Konstellation gefangen ist, so fühlt, denkt und handelt er in der Gegenwart so, als sei er in der Vergangenheit und befinde sich in der alten Konstellation.
Eine 19-jährige Therapiegruppenteilnehmerin wuchs in chaotischen Familienverhältnissen auf. Beide Eltern waren schwere Alkoholiker. Mit 13 Jahren wurde sie von ihrem Vater vergewaltigt, der wenig später Selbstmord beging. Die Teilnehmerin ist klein und zierlich, wirkt aber übermäßig reif und reflektiert und spricht wie eine viel ältere Frau. In der Therapiegruppe bewegt sie sich vom ersten Moment an so, als ob sie schon seit Jahren dabei sei. Sie kommentiert und kritisiert andere Teilnehmer, die dreimal so alt sind wie sie, stets aus einer Position der Überlegenheit. Ohne jede Ausbildung plant sie, ein Buch über spirituelle Psychologie zu schreiben. Sie hat als Kompensation ihres inneren Chaos eine pseudostabile, schein-reife (narzisstische) Größenidentität entwickelt. Unter Stress bricht sie zusammen und wird überflutet von Panik und Hass, die sie dann rückhaltlos ausagiert, zum Beispiel gegenüber ihrem jeweiligen Freund oder in ihrer Wohngemeinschaft. Als Kind war die Klientin massiv überfordert – nun überfordert sie sich selbst. Als Kind wuchs sie im Chaos auf und erlebte massive Gewalt – nun reproduziert sie Chaos und Gewalt. Sie wiederholt Beziehungskonstellationen ihrer Geschichte.
Abb. 4.6 Die Wiederkehr des Abgewehrten.
4 Die Entstehung von psychischem Leid 43
4.6 Symptome und Syndrome Der Kern des Abgewehrten. Nach meiner Auffassung ist die Fragmentierungsangst aufgrund eines drohenden Ich-Zerfalls der Kern dessen, was abgewehrt wird (Abb. 4.7). Im Zentrum aller psychischen und psychosomatischen Symptome finden sich abgewehrte Fragmentierungsängste: • Phobische Ängste (z. B. vor Nähe, vor Alleinsein, vor Selbstbehauptung, Sozialkontakten, vor Tieren, Höhen, engen Räumen, Prüfungs- oder Konfliktsituationen, vor medizinischen Eingriffen oder Krankheiten) sind Befürchtungen, sich in Situationen des Kontrollverlustes und der Hilflosigkeit in psychisches Chaos aufzulösen. • Zwänge (z. B. Zwangsgedanken, Ordnungs- oder Sauberkeitszwänge, Wasch-, Kontroll- oder Sammelzwänge) sind Versuche, durch Überkontrolliertheit die Welt und sich selbst in den Griff zu bekommen, damit man nicht auseinanderfällt. • Bei Depressionen (reaktiven oder chronischen Zuständen von Stimmungstief, Müdigkeit, Überforderung, Wertlosigkeit, Versagensgefühlen und Motivationsmangel) wird unbewusst das psychosomatische Energieniveau gedämpft, statt dass der Klient sich an Herausforderungen heranmacht, die er auf katastrophische Weise als nicht zu bewältigen empfindet. Der Depressive fürchtet ein unerträgliches Scheitern, wenn er seine Kraft und Liebe aktiviert und manöv-
•
•
•
riert sich unbewusst in eine selbstgemachte Betäubung, Lähmung und Agonie hinein. Psychosomatische Störungen (vegetative Dysharmonien mit oder ohne organische Gewebeveränderungen) sind Versuche, desintegrierende emotionale Überflutungen durch körperliches Einkapseln einzudämmen. Der Psychosomatiker fürchtet, sich in einem Schwall unintegrierbarer Emotionen aufzulösen und sperrt darum deren Energie in seinem Körper ein. Süchtige (Abhängige von Substanzen, Handlungen, Stimuli oder Beziehungen) flüchten vor der Konfrontation mit der als unerträglich bedrohlich, hart, unkontrollierbar oder öde erlebten realen Welt in ein chemisch oder durch Beziehungskompensationen scheinbar handhabbar gemachtes emotionales, Körper- und Welterleben hinein. Ist die Sucht erst einmal etabliert, wird der Süchtige darin festgehalten durch seine Angst vor Entzugserscheinungen, in denen er wiederum mit Fragmentierungsängsten konfrontiert wird. Traumatisierte (durch Misshandlung, Missbrauch, Katastrophenereignisse, Verbrechen, Vernachlässigung oder Demütigung) verharren in chronischen Schockzuständen bei gleichzeitiger Übererregung quasi dauerhaft am Rande der Fragmentierung, um nicht im Zentrum des traumatischen Erlebens ihre Selbststruktur zu verlieren. Abb. 4.7 Entstehung von psychischem Leid durch Abwehr von Fragmentierungsangst.
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Syndrome. Wenn ein Problem relativ begrenzt ist und isoliert auftritt, dann kann man dem Klienten durch ressourcenaktivierende Kurzzeittherapie oft recht schnell helfen. In vielen Fällen sind die Index-Probleme (Symptome) des Klienten aber eingebettet in ein Muster aus weiteren Schwierigkeiten auf verschiedenen Ebenen, die sich je nach Lebenslage aktivieren, deaktivieren, verändern und fortentwickeln. Solche komplexen Störungsmuster werden als Syndrome bezeichnet. Bei diesen häufig weit verzweigten, übereinander geschichteten und vernetzten Problemmustern bringt die Behandlung
isolierter Symptome langfristig wenig, weil die zugrundeliegende Problematik eine generalisierte Strukturstörung ist. Hier ist es erforderlich, den gemeinsamen Kern der Schwierigkeiten des Klienten (seine Charakterdynamik) zu ergründen. Das kann man z. B. tun, indem man von einem konkreten Symptom ausgeht und sich von dort aus gemeinsam mit dem Klienten in die Tiefe vorantastet. Man kann das Symptom als Erscheinungsform der darunter liegenden Abwehrprozesse betrachten und Zugang suchen zu dem, was die gemeinsame Wurzel der Probleme des Klienten ist.
4.7 Psychische Struktur und Strukturstörungen
» Die Vergangenheit klopft an die Tür. George Downing « Struktur. Unter der psychischen Struktur versteht man den inneren Aufbau und den Zusammenhalt (die Integrität, die Kohärenz) des Selbst. Eine Strukturstörung liegt vor, wenn die Fähigkeiten und Funktionen, die zur Regulation des Selbst in seinen Beziehungen erforderlich sind, nicht oder nur eingeschränkt verfügbar sind. Strukturbildend sind insbesondere die Fähigkeiten zur Regulation der eigenen Gefühle und zur emotionalen Abstimmung in nahen, vor allem intimen, partnerschaftlichen Beziehungen. Dabei handelt es sich um Fähigkeiten, die so grundlegend sind, dass selbst erfahrene Psychotherapeuten manchmal Schwierigkeiten haben, zu erkennen, dass manche Klienten diese Fähigkeiten nicht ausreichend entwickelt haben oder in Krisensituationen zeitweise verlieren.
• •
emotionale Belastungen aushalten
•
sich von unerträglichen Situationen, Reizen, Emotionen oder Zuständen distanzieren
•
sich selbst als lebendig wahrnehmen
•
aktiv Kontakt aufnehmen
•
spüren, wenn einem etwas nicht guttut
•
deutlich machen, wenn man etwas will oder nicht will
• •
sich selbst emotional verstehen
•
die Gefühle, Bedürfnisse und Sichtweisen anderer Personen auch dann anerkennen, wenn sie sich vom eigenen Empfinden unterscheiden
Beispiele für strukturelle Fähigkeiten
Gefühle und Erregungszustände regulieren und sich beruhigen
andere Menschen emotional verstehen und sich in sie hineinversetzen
•
sich selbst über die Zeit hinweg als identische Person wahrnehmen
•
•
sich selbst, andere Menschen und die Außenwelt voneinander differenzieren
sich selbst aus einer Außenperspektive reflektieren
•
•
innerseelische Prozesse differenziert wahrnehmen und verbal kommunizieren
Widersprüche zwischen dem Selbstbild und der Wahrnehmung durch andere aushalten
•
•
verschiedene Emotionen auseinanderhalten und differenziert benennen
das Selbstwertgefühl unabhängig von aktueller Zu- oder Abwendung stabil halten
•
•
sich selbst als Urheber von Handlungen und Willensentscheidungen empfinden
zu anderen Menschen in emotionalen Kontakt treten
• •
sich auf eine Bindung einlassen destruktive oder überlebte Bindungen lösen
4 Die Entstehung von psychischem Leid 45
•
eine innere Bindung auch dann aufrechterhalten, wenn die andere Person vorübergehend nicht anwesend ist
•
sich an Vereinbarungen, Regeln und Grenzen halten, um Bindungen stabil zu halten
• •
sein Handeln kontrollierend steuern sich abwägend zwischen Alternativen entscheiden (vgl. Arbeitskreis OPD 1996)
Strukturstörungen. Ebenso wie organische Gesundheit als fortgesetzter Prozess der Bewältigung von Krankheiten verstanden werden kann, so kann ein integriertes Selbst verstanden werden als fortgesetzter Prozess der Bewältigung psychischer Destabilisierungen. Ein integriertes Selbst mit einer stabilen und vitalen Struktur und klaren, flexiblen Grenzen ist ein Idealzustand, der in der Realität immer wieder erreicht und immer wieder verloren wird. Wenn die psychische Struktur eines Menschen instabil ist und immer wieder in fragmentierungsbedrohte Zustände einbricht, sprechen wir von einer Strukturstörung oder Persönlichkeitsstörung. Hier sind die Grenzen dauerhaft schwach oder übermäßig starr, weil fortgesetzt Fragmentierungsneigungen mit den dazu gehörigen Ängsten unter Kontrolle gehalten werden müssen. Erscheinungsformen. Menschen mit Strukturstörungen haben Schwierigkeiten, Gefühle differenziert wahrzunehmen, ihre Emotionen zu verstehen und angemessen zum Ausdruck zu bringen. Es fällt ihnen schwer, ihre oft heftigen Gefühlsreaktionen einzudämmen und sich selbst und die Welt emotional zu verstehen. Sie neigen zu emotionalen Überflutungen und defensiven Erstarrungs- und Taubheitsreaktionen, fühlen sich von anderen Menschen abgeschnitten, mit ihnen verschmolzen oder verstrickt, verlieren leicht den Kontakt zu sich selbst und dadurch die Orientierung in der Welt. Subjektiv erleben Menschen mit Strukturstörungen das Verhalten nahestehender Menschen oft als unerträglich, weil es sie wegen ihrer mangelnden Fähigkeiten zur Abgrenzung und Emotionsregulation in nicht aushaltbare Erregungsspannungen versetzt. Strukturgestörte Menschen neigen zu emotionalen Überreaktionen, Impulsaus- und Durchbrüchen, zu Konfusionszuständen und zu Notfall-Gefühlsabschaltungen. Sie können ihr inneres Erleben schwer verbal beschreiben und fühlen
sich ihren Gefühlsreaktionen hilflos ausgeliefert. Strukturgestörte Menschen haben die Fähigkeit verloren oder nie erworben, ihre emotionale Befindlichkeit sozial angemessen zu vermitteln und dadurch von anderen emotional beachtet, verstanden, beruhigt und getröstet zu werden. Sie können sich selbst nicht verstehen und nicht beruhigen, neigen zu Grenzverschwimmungen, haben Sehnsucht nach und gleichzeitig Angst vor Auflösung ihrer Selbstgrenzen und emotionaler Verschmelzung mit Personen, die ihnen nahe stehen (Rüger/ Reimer 2000, Rudolf 2004). Strukturstörungen zeigen sich vor allem als Störungen der Interaktion in nahen Beziehungen, daher früher oder später auch in der Beziehung zum Therapeuten. Instabile Selbstgrenzen. Bei einem Menschen mit einer latent instabilen Selbststruktur ist auch die Selbstgrenze instabil. Daher hat er Schwierigkeiten, aus emotionalen Erregungszuständen herauszufinden, sich zu beruhigen und die Intensität seiner emotionalen Reaktionen zu begrenzen. Er neigt zu überflutenden „Steinzeit-Emotionen“, die massiv und potenziell zerstörerisch oder selbstzerstörerisch sein können (Borderline-Gefühle). Wenn die Struktur des Ich instabil ist, können archaische Emotionen und Impulse (z. B. mörderischer oder selbstmörderischer Hass, grenzenlose Gier oder allumfassende Angst) nicht eingedämmt und sozial relativiert werden. Das kann zu Gefühlsüberflutungen und Impulsdurchbrüchen und in der Folge zu defensiven Gefühlsabschaltungen und Lähmungszuständen führen. Rigidität und Diffusität. Strukturelle Verzerrungen des Selbst im Dienste der Abwehr bestehen aus rigiden und diffusen Anteilen. • Unter Rigidität versteht man psychische oder körperliche Bereiche, die starr und unflexibel sind, die den betreffenden Menschen einengen, blockieren, verhärten und aus denen heraus er wiederum die Personen seiner Umgebung einer rigiden Kontrolle zu unterwerfen sucht. Eine Extremform der rigiden Struktur findet man bei zwanghaften Menschen, bei denen das gesamte Leben und das Leben der Personen, die ihnen nahe stehen, einem strengen Reglement unterworfen sein kann, das der Über-Geordnetheit einer altpreußischen Finanzbehörde ähnelt. • Der Gegenpol zur charakterlichen Rigidität ist die Diffusität, also ein Mangel an Struktur, ein Fehlen von Klarheit, eine Aufgelöstheit, Verwirrt-
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Theorien
heit, Vernebeltheit, die handlungsunfähig machen kann. Einen Extremfall von Diffusität findet man in der schizoiden Struktur, in der ein Mensch sich nur vage seiner eigenen Identität, seiner Grenzen, Wünsche und Standpunkte, seiner Gefühle und Ausdruckssignale bewusst ist. Ein schizoider Mensch wirkt im Sozialkontakt schwer zu fassen und abwesend, man schaut leicht über ihn hinweg oder durch ihn hindurch oder man ignoriert ihn, weil es schwer ist, einen klaren Kontakt zu ihm herzustellen. Rigidität und Diffusität sind die Pole einer Dialektik, die in gewissem Umfang Anteil der Persönlichkeit jedes Menschen ist. Derselbe Mensch kann sowohl rigide als auch diffuse Zonen in seinem Charakter haben. Als chronische Abwehr- und Kompensationsstrukturen dienen beide Muster dem Selbstschutz, bringen aber gleichzeitig immer wieder Verletzungen und Frustrationen hervor.
Ein 36-jähriger Klient hat seit seiner Jugend große Schwierigkeiten, sich auf dauerhafte partnerschaftliche Beziehungen einzulassen. Wenn er allein ist, sehnt er sich nach Nähe – wenn er in einer Beziehung ist, macht die Nähe ihm Angst. Sobald eine Beziehung zu nahe wird, hat er Angst, sich aufzulösen und die Orientierung zu verlieren und wird von archaischen Hassgefühlen und Verlassenheitsängsten überflutet. Sekundär hat er überstabile (zwanghafte) Muster der Kontaktregulation entwickelt, um seine Auflösungsängste notdürftig zu bewältigen. Seine Beziehungsversuche wiederholen seit vielen Jahren ein vorhersehbares, wie automatenhaft ablaufendes Muster, das nach kurzer Zeit zur Trennung führt. Auch die Therapiesitzungen verlaufen schienenartig in immer den gleichen Bahnen, wobei er auf alle Versuche, diese Bahnen zu verlassen oder zu thematisieren, mit Angst und Wut reagiert. Er hat eine diffuse, entgrenzte (Borderline-)Persönlichkeitsstruktur entwickelt, die durch eine rigide (zwanghafte) Struktur überdeckt ist.
Psychotherapeutische Intentionen. Die grundlegende Richtung (Intention) der psychotherapeutischen Arbeit unterscheidet sich je nach der Struktur des Klienten: • Bei einem Klienten, dessen psychische Struktur fragil und diffus ist, steht stabilisierende psychotherapeutische Arbeit im Vordergrund. Stabilisierend wirkt vor allem die zuverlässige, fürsorglich-zugewandte und professionell abgegrenzte
Präsenz des Therapeuten, das einfühlende Verstehen und Spiegeln, das stützende Bekräftigen, das stabilisierende Haltgeben sowie die gezielte Aktivierung von Stabilitätsressourcen. • Wenn dagegen die psychische Struktur des Klienten vorwiegend rigide, also starr, unnahbar und unbeweglich ist, so ist die vorrangige Intention des Therapeuten, die psychische Struktur des Klienten zu dynamisieren, das heißt, zu mehr Mobilität, Flexibilität, Beweglichkeit und Durchlässigkeit einzuladen. Dynamisierend wirken z. B. erlebnisaktivierende Techniken, mobilisierende Körperarbeit, konfrontative Rollenspiele, Feedbacktechniken und provokative Herausforderungen. Da es im Klienten in der Regel sowohl diffuse als auch rigide Anteile gibt, und weil diese oft schichtenartig übereinander liegen, bewegen sich die Intentionen des Psychotherapeuten in der Regel in einer Dialektik von Stabilisieren und Dynamisieren, Haltgeben und Herausfordern, Bestärken und Bewegen. Persönlichkeitsstörungen im ICD10. In dem für die Kassenpsychotherapie in Deutschland verbindlichen diagnostischen Manual ICD 10 (International Category of Diseases) werden die Persönlichkeitsstörungen normativ und mit pathologisierenden Begriffen aus der klassischen Psychiatrie benannt und beschrieben. Sie werden definiert als: „… tief verwurzelte, anhaltende Verhaltensmuster, die sich in starren Reaktionen auf unterschiedliche persönliche und soziale Lebenslagen zeigen. Sie verkörpern gegenüber der Mehrheit der betreffenden Bevölkerung deutliche Abweichungen im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in den Beziehungen zu anderen. Solche Verhaltensmuster sind meistens stabil und beziehen sich auf vielfältige Bereiche des Verhaltens und psychologischen Funktionen. Häufig gehen sie mit einem unterschiedlichen Ausmaß persönlichen Leidens und gestörter sozialer Funktionsfähigkeit einher.“ (ICD 10, zit. n. Berger 2004, S. 880) Als Persönlichkeitsstörungen werden im ICD 10 bezeichnet:
•
die paranoide (inkl. querulatorische) Persönlichkeitsstörung (F60.0)
• •
die schizoide Persönlichkeitsstörung (F60.1) die dissoziale (inkl. antisoziale, psychopathische, soziopathische) Persönlichkeitsstörung (F60.2)
4 Die Entstehung von psychischem Leid 47
•
die emotional instabile (inkl. aggressive, Borderline-, reizbare/explosive) Persönlichkeitsstörung (F60.3)
•
die histrionische (inkl. hysterische, infantile) Persönlichkeitsstörung (F60.4)
•
die anankastische (zwanghafte) Persönlichkeitsstörung (F60.5)
•
die ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung (F60.6)
•
die abhängige (asthenische, inkl. passive) Persönlichkeitsstörung (F60.7)
•
sonstige (z. B. exzentrische, narzisstische, passivaggressive, unreife) spezifische Persönlichkeitsstörungen (F60.8)
Regression. Wenn der therapeutische Prozess sich intensiviert sowie als Folge akuter Krisen werden im Klienten verstärkt die kindlichen Beziehungsmuster aktiviert, die die biografische Basis seiner Schwierigkeiten sind. Der Klient geht dann in eine Regression, d. h. er fühlt, denkt und verhält sich in gewissem Umfang wie ein (bedürftiges, gekränktes, wütendes, verletztes, verlassenes, trotziges) Kind. Der regredierte Klient trägt dann auch an den Therapeuten die Befürchtungen und Erwartungen heran, die seinen dominanten, alten Beziehungsmustern entsprechen. Er hat z. B. das Bedürfnis mit bedingungsloser Liebe genährt, vom Therapeuten umfassend beschützt, gehalten oder geführt zu werden. Gleichzeitig befürchtet er, vom Therapeuten ignoriert, vernachlässigt, gedemütigt, missbraucht, abhängig gemacht oder manipuliert zu werden.
Ich begrüße eine Klientin mit einer (narzisstischen) Selbstwertproblematik mit einem nach meinem Gefühl freundlichen Lächeln. Sie starrt mich verletzt und empört an und zischt: „Was grinst du so?“ Sie hat eine Geste, die für mich eine freundliche Zuwendung war, als hämisches Auslachen empfunden.
Akute Regressionen geschieht regelmäßig z. B. in narzisstischen Krisen, in bestimmten psychosomatischen Symptomen (z. B. Migräne, Asthmaanfall), in Panikattacken, in traumatischen Flashbacks oder in zyklischen Depressionen. Wenn der Klient einen vorübergehenden regressiven Zustand wieder ver-
lässt und in sein stabiles Selbst zurückgekehrt ist, kann er sich in der Regel zwar an vieles (nicht alles) erinnern, was er im regressiven Zustand erlebt und getan hat, dennoch hat er meist zu seinem Erleben im regressiven Zustand keinen empathischen Kontakt mehr. Er versteht nicht, wie er eben noch war. Das regressive Erleben erscheint ihm fremd und emotional nicht zu ihm gehörig (dissoziiert). Wenn abgespaltene regressive Zustände immer wieder aktiviert werden, kann das Leben des Klienten zu einer Abfolge von Einbrüchen bzw. einem fortgesetzten Hin- und Herkippen zwischen einem relativ stabilen, aber emotionsarmen erwachsenen Zustand und einem leidvoll gefühlsüberfluteten, regressiven Kind-Zustand werden. Das Kippen zwischen solchen gespaltenen Zuständen ist eine Herausforderung für den Therapeuten, weil der Klient in seinem erwachsenen Zustand nur schwer Kontakt zu dem regressiven Zustand findet. Der Klient kann die regressiven Anteile im stabilen Zustand schwer bearbeiten, weil der emotionale Bezug zu ihnen fehlt. Im regredierten Zustand dagegen ist der erwachsene Kooperationspartner des Therapeuten geschwächt oder nicht vorhanden. Eine Aufgabe der Therapie besteht daher darin, eine Verbindung zwischen dem regressiven, kindlichen Erleben und dem funktionierenden Alltags-Ich herzustellen mit dem Ziel, die abgespaltenen Anteile zu verarbeiten und tendenziell zu integrieren.
Eine 31-jährige Klientin, deren Herkunftsfamilie von schwerer krimineller Gewalt und massiver Vernachlässigung geprägt war, wechselt häufig zwischen einem Zustand, in dem sie „alles im Griff“ hat, zur Überaktivität neigt, aber „praktisch überhaupt nichts fühlt“ und einem zweiten Zustand, in dem sie in endlose Verzweiflungsgefühle, Schmerz und Wut versinkt, sich hilflos und unfähig fühlt und „nur noch beschützt, gehalten und getröstet werden möchte“. Sie kippt zwischen diesen beiden Extremen hin und her: „Ich kriege das nicht zusammen. Ich habe keine Mitte.“ Wenn sie sich in einem der beiden Zustände befindet, kann sie sich zwar rational erinnern, dass es den anderen Zustand gibt, aber sie findet keinen empathischen Zugang und keinen Übergang dazu. Jeder der beiden Zustände erscheint ihr, wenn sie sich darin befindet, als immerwährend und unveränderbar. Ihr Selbsterleben ist in zwei Ich-Zustände gespalten, zwischen denen es zwar keine amnestische, aber eine empathische und eine Übergangsbarriere gibt.
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Ego-States. Dissoziative Abwehrprozesse können zur Entstehung von dissoziativ getrennten Ich-Zuständen (Ego-States) führen. Ego-States sind psychische Sub-Identitäten mit jeweils zugehörigen Selbst- und Weltvorstellungen, Emotionen, Beziehungsmustern, Bedürfnissen und Ängsten. Sie können eine gewisse Eigenständigkeit entwickeln, sodass der Klient in einem Ego-State Schwierigkeiten hat, Kontakt zu den anderen Ego-States aufzunehmen.
Bei Ego-States im engeren Sinne bestehen amnestische Barrieren zwischen den einzelnen Zuständen. Der Klient kann sich im einen Zustand an den anderen nicht erinnern, sodass die Einheit und Kontinuität des Bewusstseins unterbrochen ist (Watkins 2003). Die Aufgabe der Therapie besteht hier u. a. darin, Kommunikation bzw. Kontakt zwischen den verschiedenen Ego-States herzustellen mit der Perspektive, sie tendenziell zu integrieren.
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5 Die existenzielle Dimension in der Psychotherapie
5.1 Dasein
» Man überwindet niemals etwas, indem man sich ihm widersetzt. Man kann etwas nur überwinden, indem man tiefer hineingeht. Claudio Naranjo « Integration. Die Integration von abgewehrten Anteilen ist – neben einer haltgebenden therapeutischen Beziehung und dem Aufbau und der Aktivierung von latenten Ressourcen – ein entscheidender Faktor für therapeutischen Wandel. Wenn der Klient sich mehr und mehr bewusst wird, dass und wie er sein Leiden durch Abwehrprozesse aufrechterhält, dann ist eine Veränderung seiner Einstellungen, seines Erlebens und Verhaltens die natürliche Folge. Wenn der Klient hineinspürt in sich selbst und in das, was er tut und allmählich lernt, das, was er dort findet, anzunehmen, dann und nur dann verändert er sich. Er verändert sich, indem er sich wahrnimmt und akzeptiert, wie er ist. Dieser Grundgedanke wird als paradoxe Theorie der Veränderung bezeichnet (Naranjo 1990). So-Sein. Die paradoxe Theorie der Veränderung ähnelt dem daoistischen Konzept des Wu-Wei, der Veränderung durch Nicht-Verändern, des Handelns durch Nicht-Handeln. Naranjo hat die Orientierung am Selbsterleben im Hier und Jetzt in der Psychotherapie folgendermaßen zusammengefasst: 1. Lebe jetzt. Befasse dich mit der Gegenwart, statt mit der Vergangenheit oder der Zukunft. 2. Lebe hier. Setze dich mit dem Gegenwärtigen, statt mit dem Abwesenden auseinander. 3. Hör auf, deiner Einbildung zu folgen. Erfahre das Wirkliche. 4. Stoppe unnötige Gedanken. Öffne stattdessen deine Sinne, deinen Geschmack und deine Augen.
5. Drücke dich aus, statt zu manipulieren, zu erklären, zu rechtfertigen und zu beurteilen. 6. Lass dich auf Unangenehmes und Schmerzen ebenso ein wie auf Angenehmes. Begrenze nicht dein Gewahrsein. 7. Akzeptiere kein „Sollte“ oder „Müsste“, wenn es nicht von dir selbst kommt. Verehre keine Götzen. 8. Übernimm die volle Verantwortung für dein Tun, dein Fühlen und dein Denken. 9. Gib dich so wie du bist dem Sein hin (Naranjo 1996, S. 36).
»
Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, nicht wenn er versucht, etwas zu werden, das er nicht ist. Arnold Beisser
«
Präsenz. Humanistische Psychotherapie kann verstanden werden als dialogisch angeleitete, interpersonelle Selbsterkundungs- und Selbstoffenbarungserfahrung. In der Humanistischen Psychotherapie lernt der Klient, seine eigene Präsenz und die seines Gegenübers tiefer zu erleben. Mit Präsenz (von lat. praesens: anwesend, gegenwärtig) ist gemeint, dass sich Klient und Therapeut auf die Gegenwärtigkeit des Hier und Jetzt fokussieren, vor dem Hintergrund der Idee, dass auch die biografische Vergangenheit nur im Hier und Jetzt erlebbar ist. Daher würdigt und fördert der Therapeut das unmittelbare Spüren (Gewahrsein) des Klienten und stellt abgehobenes „Drüberwegreden“, Intellektualisieren und Sich-Verlieren in Fantasien in Frage. Präsent sein bedeutet offen zu sein für tatsächliche und neue Erfahrungen, unterscheiden zu können zwischen Realität und Fantasie, die
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Bereitschaft, Enttäuschungen in Kauf zu nehmen und sich für andere Menschen wahrnehmbar und spürbar zu machen. Das authentische verbale und nonverbale Ausdrücken des Erlebens des Klienten, begleitet durch die aufmerksame Präsenz des Therapeuten, schärft die Tiefe und Präzision der
Wahrnehmung des Klienten für sich selbst und ermöglicht es ihm, auch Erlebnisse am Rande des Gewahrseins durch Hineinspüren, Ausdruck und Versprachlichung ins Bewusstsein zu integrieren.
5.2 Existenzielle Fragen Die Frage nach dem Sinn. Die Auseinandersetzung mit existenziellen Themen, wie der Frage nach dem Sinn der persönlichen Existenz, mit persönlichen Werten oder mit der Haltung zu existenzieller Absurdität sind wesentliche Aspekte der Humanistischen Psychotherapie. Die Frage nach dem Sinn; ist die Grundfrage der menschlichen Existenz: „Wozu/wofür lebe ich?“ Wenn einem Menschen das persönliche Sinnerleben fehlt, so entsteht eine noogene Depression (von altgr. nous: Sinn: vgl. Frankl 2005). Der noogen depressive Mensch empfindet seine Existenz als entfremdet und sich selbst als ein bloßes Rädchen in einem sinnentleerten Getriebe. Besonders durch schwere Traumata oder Schicksalsschläge kann ein Mensch sein Gefühl für das Eingebundensein in ein sinnhaftes Welterleben verlieren. Plötzlich sieht sich der Mensch konfrontiert mit der Endlichkeit seines Lebens und all dessen, was ihm am Herzen liegt. Angesichts der Gewissheit des eigenen Todes stellt sich grundsätzlich die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens und insbesondere nach dem Sinn des Leidens. Schweres psychisches Leiden kann ein Mensch nur dann ertragen, wenn sein Leben und seine Weltsicht an einem persönlichen Sinn orientiert ist, der über das bloß momentane Empfinden und über sich selbst als Individuum hinausweist. Letzten Endes kann sich ein Mensch nur dann konstruktiv mit psychischem Leid auseinandersetzen, wenn er es als Herausforderung zum Lernen und Wachsen versteht, und wenn er sein eigenes Wachstum als Beitrag zur Entwicklung des Menschen als Gattung, also als sinnhaft empfindet. Simple facts of life. Wenn wir nicht die biografische Genese des psychischen Leidens fokussieren, sondern seine aktuelle Aufrechterhaltung und Reproduktion, so können wir mit Yalom (1980)
feststellen, dass psychisches Leid immer dann entsteht, wenn ein Mensch versucht, existenzielle Tatsachen des Lebens zu ignorieren. Yalom meint damit simple, aber schwer zu ertragende Grundwahrheiten, wie z. B.: • dass die Möglichkeiten und Fähigkeiten jedes Menschen begrenzt sind, • dass alles als sicher Geglaubte jederzeit und unwiederbringlich verloren sein kann, • dass man sich selbst und andere Menschen niemals vollkommen versteht, • dass es keine höhere Gerechtigkeit auf der Welt gibt, die dafür sorgt, dass die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden, • dass es keine Garantie dafür gibt, dass wir Hilfe erhalten, wenn wir sie brauchen, • dass nicht alle Probleme lösbar sind, • dass es Fragen gibt, auf die man auch durch noch so großes Bemühen keine Antwort findet. Wenn ein Mensch existenzielle Begrenzungen dieser Art nicht anerkennt oder glaubt, sie nicht ertragen zu können, so führt das zu psychischem Leid. Existenzielle Krisen. Jeder Mensch erlebt im Laufe seines Lebens unweigerlich existenzielle Krisen, die ihn an den Rand seiner psychischen Verarbeitungsfähigkeiten führen, also an innere Abgründe. Eine wichtige Aufgabe des Humanistischen Psychotherapeuten ist es, den Klienten zu ermutigen, solche Krisen als Herausforderung zum Wachsen zu verstehen und alle Kraft zu ihrer Verarbeitung einzusetzen. Der Klient wird ermutigt, die schicksalhafte Alternative „zerbrich oder wachse“ auch dann anzunehmen, wenn er die Herausforderung nicht gewollt hat oder zunächst glaubt, ihr nicht gewachsen zu sein. Hierbei kann die therapeutische Beziehung zur wichtigen Stütze und Bewältigungsressource werden.
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6 Die psychotherapeutische Beziehung
» Ein Führer ist am besten, wenn man kaum weiß,
dass es ihn gibt. Von einem guten Führer, wenn das Werk getan, das Ziel erreicht ist werden alle sagen: ‚Wir haben es selbst getan‘. Laozi (Lao-Tse)
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Relativität. Ein Humanistischer Psychotherapeut tritt nicht als allwissender Fachmann auf. Er wagt sich in die Relativität einer kooperativen Beziehung zum Klienten. Er bringt seine eigenen emotionalen Reaktionen, seine Gedanken und intuitiven Assoziationen kontrolliert in den psychotherapeutischen Prozess ein. Er lässt sich vom Klienten korrigieren, kritisieren, in Frage stellen und herausfordern, und er empfindet das, auch wenn es manchmal schmerzhaft ist, als wichtige Reifungsschritte im Prozess des Klienten. Ein Therapeut, der sich hinter seiner Funktion, seiner Erfahrung, seiner Qualifikation oder seiner Kompetenz verschanzt und unangreifbar macht, der sich unpersönlich, distanziert, großartig, überlegen oder allwissend gibt oder psychotherapeutische Theorien und Techniken zu einem Geheimwissen stilisiert, über das nur er als Fachmann verfügt, ist kein Humanistischer Therapeut, sondern er agiert eigene narzisstische Muster aus. Individualität. Psychodiagnostische Konzepte können beim Erkennen von Leid erzeugenden Mustern helfen, und psychotherapeutische Techniken können beim gezielten Verändern dieser Muster helfen. Dennoch darf der Klient nicht bloß als Fall eines Fachterminus betrachtet und quasi in einer psychologischen Kategorie ertränkt werden. Der psychotherapeutische Prozess darf nicht zur repetitiven Anwendung reproduzierbarer Techniken gefrieren. Der Humanistische Psychotherapeut bemüht sich, den Klienten in seiner persönlichen Eigenart, also in seiner Individualität zu erkennen,
zu bestätigen und zu fördern. Jeder Klient sucht und braucht seinen eigenen Prozess, seinen eigenen Weg zur Integration und Individuation, „Je mehr der Arzt schematisiert, desto größeren Widerstand leistet völlig zu Recht der Klient. Der Klient erwartet, in seiner Einzigartigkeit erfasst zu werden, … und zu diesem Zweck muss sich der Therapeut selbst als Person engagieren und riskieren“ (Friedman 1987, S. 20).
»
Jeder Klient braucht seine eigene Therapie. Milton Erickson
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Psychosomatische Resonanz. Das wichtigste Wahrnehmungsorgan des Therapeuten, mit dem er die emotionale Befindlichkeit und die Beziehungsmuster des Klienten erspüren kann, und mit dem er im Laufe des Prozesses Veränderungen in der Strukturdynamik des Klienten erfasst, ist sein eigenes emotio-vegetatives System. Das Mitschwingen zwischen Therapeut und Klient, das kognitive, emotionale und vegetative Prozesse umfasst, wird als psychosomatische Resonanz bezeichnet. Psychosomatische Resonanz ist die vegetative Basis der psychotherapeutischen Kontakt- und Übertragungsprozesse.
Ein Klient spricht über etwas, was für ihn sehr schmerzlich ist. Er ringt mit den Tränen und versucht seine Trauer „herunterzuschlucken“. Ich spüre einen heftigen Hustenreiz. Ich huste, und während ich huste, tränen meine Augen. Ich erlebe eine Resonanz mit dem Klienten auf der vegetativen Ebene.
Formen von Resonanz. In der Humanistischen Psychotherapie unterscheiden wir:
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kognitive Resonanz – Wechselwirkungsprozesse auf der Ebene von Wahrnehmungen und Gedanken, emotionale Resonanz – Wechselwirkungen im Bereich der Gefühle, vegetative Resonanz – Wechselwirkungen auf der Ebene von vegetativen Körperprozessen, symmetrische Resonanz – Wechselwirkungen, bei denen die Beteiligten dieselben oder ähnliche Reaktionen haben, komplementäre Resonanz – Wechselwirkungen, bei denen die Beteiligten unterschiedliche, aber polar zusammengehörige Reaktionen haben.
Ein Klient mit einer abhängigen Persönlichkeitsstruktur liebt eine Frau, die sich nach seinem Empfinden nicht wirklich auf ihn einlässt, ihn aber auch nicht loslässt. In der Therapie bricht er immer wieder
in regressive Verzweiflungszustände ein, in denen er fordert, dass ich jederzeit vollkommen verfügbar für ihn bin, seinen Schmerz mit ihm teile, ihm aus seiner Sackgasse heraushelfe und ihn aus seiner inneren Spannung befreie. Er möchte die Frau unbedingt für sich gewinnen, klammert sich verzweifelt an ihr fest und will gleichzeitig aus seiner Abhängigkeit von ihr erlöst werden. Ich spüre ihm gegenüber den Impuls, ihn in seinem verzweifelten Festhalten empathisch begleiten zu wollen, andererseits fühle ich den Impuls, ihn zu ermutigen, sich aus der Abhängigkeitsbindung zu lösen. Ich spreche das aus und er antwortet: „Das hat X (seine Freundin) letzte Woche auch gesagt, dass es ihr mit mir so geht.“ Ich spüre also das Gegenstück der aktuellen Beziehungskonstellation des Klienten mit seiner Partnerin in meinen Gefühlen ihm gegenüber (komplementäre Resonanz/Gegenübertragung).
6.1 Professionelle Distanz Kontakt und Distanz. Professionelle psychotherapeutische Arbeit setzt ein ausgewogenes Verhältnis von Kontakt und Distanz zum Klienten voraus. Eine dynamische Balance zwischen Sicherheit gebender Distanz und emotionalem Tiefenkontakt zum Klienten ist zentral für den Humanistischen Therapieprozess. Der Therapeut darf seine privaten Bedürfnisse nicht mit dem Klienten ausleben und seine spontanen Impulse nicht unreflektiert ausagieren. Dennoch lässt er sich in seinen Äußerungen, Interventionen und Deutungen von seiner emotionalen Tiefenresonanz und seinen inneren Impulsen leiten (Eberwein 1996). Der Therapeut lässt sich im Rahmen und in den Grenzen des therapeutischen Settings auf eine emotionale Beziehung zum Klienten ein, ohne dass daraus eine private Beziehung wird. Therapeutische Abstinenz. Wenn die therapeutische Beziehung heilsam sein soll, muss die professionelle Abstinenz gewahrt sein. Das bedeutet unter anderem, dass Zeit und Raum der Therapie klar begrenzt sind und dass es zwischen Therapeut und Klient außerhalb der Therapie keinen Kontakt gibt. Der Ort des Zusammentreffens ist festgelegt, es ist die Praxis des Therapeuten (bei Wochenendseminaren vielleicht ein Seminarhaus). Telefonate mit Klienten sind beschränkt auf Formalitäten wie
Terminvereinbarungen und Ähnliches. (In akuten Krisensituationen führen manche Therapeuten kurze Krisengespräche auch am Telefon.) Psychotherapie mit Verwandten, Freunden oder Bekannten des Therapeuten ist nicht möglich, weil ihm die erforderliche professionelle Distanz mit ihnen fehlt. Ein Therapeut, der seine eigenen Probleme in die Therapie einbringt und den Klienten damit belastet oder private Bedürfnisse mit dem Klienten befriedigt, hat seine professionelle Distanz verloren. Das führt zu Rollendiffusionen oder zu einer Wiederholung alter Grenzüberschreitungen, was den therapeutischen Prozess zerstört. Der Therapeut muss seine eigenen Probleme in Eigentherapie und Supervision bearbeiten und seinen privaten Bedürfnissen im Privatleben nachgehen. Regeln und Grenzen. Psychotherapie ist durch spezifische Regeln strukturiert und begrenzt. Vieles ist juristisch geregelt, z. B. durch das Zivil- und Strafrecht, die Berufsordnung der Psychotherapeuten, den Behandlungsvertrag usw. Die Beziehung zwischen Therapeut und Klient ist auch ein Vertragsverhältnis mit unterschiedlichen Aufgaben für beide. Die psychotherapeutische Beziehung ist ein professioneller Kontakt mit dem Ziel, die Selbsterkundungs- und Integrationsbemühungen des Klienten zu unterstützen, um mit ihm gemein-
6 Die psychotherapeutische Beziehung 53
sam Wege aus seinem psychischen Leid zu finden. Der Humanistische Psychotherapeut ist bestrebt, seine emotionalen Reaktionen, Assoziationen und Impulse nur so weit und auf eine Weise in die Therapie einzubringen, dass es dem Prozess des Klienten nutzt. Bei Klienten mit Grenzüberschreitungsproblematik durch Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung oder Abgrenzungsmangel in der Kindheit kann die Auseinandersetzung mit den emotionalen und körperlichen Grenzen der therapeutischen Beziehung und mit den Bemühungen des Therapeuten um förderlichen persönlichen Kontakt bei klarer Abgegrenztheit zeitweise zu einem zentralen Thema des therapeutischen Prozesses werden. Körperliche Grenzen. Der körperlichen Nähe zum Klienten sind klare Grenzen gesetzt. Manche Humanistischen Psychotherapeuten arbeiten mit Methoden des körperlichen Kontakts sowie mit Berührungs- und Massagetechniken, bei denen besonders auf klare innere und äußere Abgrenzung geachtet werden muss. Hier ist großes Feingefühl erforderlich, insbesondere was die Themen sexuelle Verführung, Abhängigkeitsbindungen und Gewalt betrifft. Was körperliche Berührung betrifft, so gilt als Grundregel, dass der körperliche Intimbereich des Klienten und des Therapeuten sowie erotisierende oder gewaltsame Berührungen tabu sind. Darüber hinaus darf der Therapeut keine verführende oder sonstwie entgrenzte Intentionen, Andeutungen oder Einladungen aussenden. Der Therapeut darf auf entsprechende direkte oder indirekte Einladungen des Klienten nicht eingehen, sondern muss diese zum Thema der Therapie machen. Für die Arbeit mit Aggressionen gilt, dass es nicht zu realen Verletzungen oder Sachschäden kommen darf. Die körperliche Integrität des Klienten und des Therapeuten sowie des Therapieraumes müssen geschützt werden.
Im Lauf eines Therapiegruppenwochenendes arbeiten wir mit Musikinstrumenten. Ich weise die Teilnehmer darauf hin, dass die Instrumente nicht zum Abreagieren gedacht sind, sondern als Musikinstrumente benutzt und sorgsam behandelt werden müssen. Eine Teilnehmerin nimmt sich eine große, mit Ziegenleder bespannte Rahmentrommel und steigert sich in einen Wutanfall hinein, in dessen Verlauf sie so kräftig auf die Rahmentrommel
schlägt, dass das Fell reißt. Am Ende der Sitzung gehe ich zu der Teilnehmerin und bitte sie, den Schaden zu ersetzen, entweder in Form von Geld oder die Trommel reparieren zu lassen. Die Teilnehmerin nimmt die Rahmentrommel mit, lässt sie in einem Fachgeschäft neu bespannen und malt selbst mit einer Spezialtusche das chinesische Schriftzeichen wieder darauf, das auf dem Original zu sehen war.
Aushebelungsversuche. Manche Klienten versuchen, geprägt durch alte Beziehungsmuster, den Therapeuten aus seiner Distanz zu reißen und ihn zu Grenzüberschreitungen zu verleiten oder zu provozieren, entweder weil sie es nichts anders gewohnt sind oder weil sie eine abgegrenzte, kooperative Beziehung aufgrund ihrer Geschichte nicht ertragen können. Dann ist es erforderlich, dass der Therapeut auf der Basis wohlwollend respektierender Zugewandtheit die Verwicklungsversuche des Klienten taktvoll und explizit zum Thema der Therapie macht, die Manipulationen des Klienten also weder wegschauend ausblendet noch sich von ihnen einwickeln lässt, sondern als Aufforderung versteht, die Beziehungsdynamik, die darin zum Ausdruck kommt, therapeutisch zu bearbeiten.
Eine Klientin befindet sich in einer Phase der Therapie, in der verstärkt Themen berührt werden, die sie als bedrohlich empfindet. In einer Sitzung erscheint sie auffallend leicht bekleidet und verhält sich offensichtlich sexuell provozierend. Meine Hypothese ist, dass sie sich in den vorangegangenen Stunden mir gegenüber ausgeliefert gefühlt und mich als mächtig und überlegen wahrgenommen hat, sodass sie jetzt – nur teilweise bewusst – versucht, „Macht über den Mächtigen“ zu gewinnen, indem sie versucht, mich durch Verführung zu kontrollieren und „auszuhebeln“. Ich spreche in der Sitzung diese Hypothese behutsam auf fragende Weise aus. Die Klientin weist meine Idee zunächst weit von sich, wickelt sich in eine Wolldecke ein, denkt eine ganze Zeitlang nach und sagt dann: „Na ja, es ist mir peinlich, aber ich glaube, mit meinem Vater habe ich das als Kind genauso gemacht.“
Grenzen. Der Therapeut darf seine Funktion und Kompetenz nicht missbrauchen, um Zwang oder Druck auf den Klienten auszuüben oder um den
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Klienten moralisch oder weltanschaulich zu beeinflussen. Er kann den Klienten anregen, herausfordern, provozieren oder konfrontieren, darf aber nicht versuchen, ihn zu manipulieren, zu belehren, zu missionieren oder zu zwingen. Die Leiterin einer Fortbildungsveranstaltung, an der ich teilnehme, versucht während einer Kleingruppenübung, mich dazu zu drängen, einen ihr bekannten Schamanen zu konsultieren, der angeblich hellsichtig sei. Ich sage ihr, dass das für mich nicht passt, weil das meiner Weltanschauung nicht entspricht. Sie kommt in Kleingruppenübungen und im Plenum mehrfach darauf zurück und versucht, auch anderen Teilnehmern den Schamanen schmackhaft zu machen. Außerdem beschreibt und kommentiert sie „die Aura“ einiger anwesender Kollegen, die sie angeblich sehen kann. Ich nehme nicht weiter an der Fortbildung teil und schreibe ihr einen Brief, in dem ich deutlich mache, dass ich ihre ungefragten weltanschaulichen Beeinflussungsversuche nicht in Ordnung finde.
Asymmetrie und Hierarchie. Die psychotherapeutische Beziehung ist nicht symmetrisch. Sie ist keine private Beziehung unter Gleichen, sondern ein asymmetrisches Kooperationsverhältnis mit bestimmten Zielvorgaben. Sie soll dem emotionalen Wachstum des Klienten dienen, weshalb der
Therapeut für seine Unterstützung ein Honorar erhält. Der Klient öffnet sich und setzt sich mit seinen Schwierigkeiten auseinander. Der Therapeut öffnet sich nur begrenzt und nur so weit, wie es dem Prozess des Klienten dient. Dadurch entsteht zwischen Therapeut und Klient eine Ungleichheit (Asymmetrie), die manchmal als Oben-Unten-Verhältnis (Hierarchie) wahrgenommen wird. Der Klient will etwas vom Therapeuten. Er wendet sich an ihn als Spezialisten für psychische Probleme. Die Therapie findet in den Räumen des Therapeuten statt. Der Klient muss eine Reihe von Vorgaben, Regeln und Grenzen des Therapeuten akzeptieren. Das kann den Klienten subjektiv in eine Froschperspektive dem Therapeuten gegenüber bringen. Andererseits ist der Klient der Auftraggeber des Therapeuten. Er bezahlt ihn oder sorgt für dessen Bezahlung. Er erwartet Unterstützung und Hilfe. Manchmal weist er die Verantwortung für den therapeutischen Fortschritt oder eine Stagnation des therapeutischen Prozesses einseitig dem Therapeuten zu. Manchmal sieht der Klient sich selbst als den zahlungskräftigen Kunden und den Therapeuten als den bemühten, nicht allzu erfolgreichen Dienstleister. Das Oben-Unten im therapeutischen Prozess hat also auch die umgekehrte Seite, in der der Klient auf den Therapeuten hinabschaut. Diese Dynamik kann durch narzisstische Dynamiken verstärkt und zum Hin-und-her-Kippen gebracht werden.
6.2 Übertragung und Gegenübertragung Alte Beziehungsmuster. Das Konzept der Übertragung und Gegenübertragung stammt aus den psychodynamischen Therapieverfahren, wird aber auch von vielen Humanistischen Psychotherapeuten mitgedacht und angewandt. Grundgedanke ist, dass im psychotherapeutischen Prozess alte, kindliche Erlebens- und Beziehungsmuster des Klienten nicht nur bearbeitet, sondern auch aktiviert werden. Unweigerlich reagiert der Klient emotional und in seinem Verhalten mit den Beziehungsmustern, die er zur Verfügung hat. Diese Muster sind weitgehend in seiner Kindheit entstanden und durch die Bindungen zu seinen Eltern und anderen damals nahestehenden Personen geprägt. Die Beziehung des Klienten zum Therapeuten ist also, wie alle seine anderen Beziehungen auch, durch Muster aus alten Beziehungskonstellationen geformt und kann vor dem Hintergrund dieser alten Beziehungsmuster
als Übertragungsbeziehung verstanden werden. Analog kann die emotionale Beziehung des Therapeuten zum Klienten als Reaktion des Therapeuten auf die Muster des Klienten und als Reaktivierung alter Muster des Therapeuten selbst, also als eine Gegenübertragungsbeziehung verstanden werden. Unweigerlich wird also die therapeutische Beziehung durchdrungen von unbewussten Prozessen und Dynamiken beider Beteiligter. Bei Balint (1988) und in der intersubjektiven Schule der Selbstpsychologie (Stolorow, Brandchaft u. Atwood 1996) wird diese wechselseitige Dynamik von Beziehung und Übertragung zwischen Therapeut und Klient als Zwei-Personen-Psychologie bezeichnet. Selbsterfahrung. In manche Muster des Klienten kann sich der Therapeut nur schwer einfühlen, oder er kann sie nur schwer ertragen. Besonders
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Klienten mit Strukturstörungen neigen dazu, sich schnell, heftig und immer wieder mit dem Psychotherapeuten zu verwickeln und dessen Distanz, Akzeptanz, Wertschätzung und Einfühlungsvermögen auf harte Proben zu stellen. Ein Therapeut ist selbst nach jahrzehntelanger Arbeit an sich selbst niemals frei von blinden Flecken oder Neigungen zum Abwehren, Vermeiden oder zum Ausagieren von Gegenübertragungen. Daher müssen sich Psychotherapeuten immer wieder in Eigentherapie, Supervision und Fortbildung mit sich selbst auseinandersetzen, damit sie mit ihren emotionalen Reaktionen dem Klienten hilfreich sein können und nicht ihre eigenen unbewussten Muster unproduktiv in der Therapie agieren. Wegen der Gegenübertragung und der Verwicklungsgefahren ist für Therapeuten eine intensive und fortgesetzte psychotherapeutische Selbsterfahrung unabdingbar. Der Therapeut muss seine eigenen Neigungen zum Abwehren und Agieren immer wieder reflektieren. Er muss sein eigenes Unbewusstes fortgesetzt erkunden, integrieren und durcharbeiten. Das ist nur erreichbar, wenn der Therapeut immer wieder intensiv Eigentherapie macht. Ambivalente Übertragungen. Durch Regression und Übertragung wird die therapeutische Beziehung unweigerlich ambivalent. Oft werden unangenehme Gefühle (Angst, Ärger, Neid, Eifersucht usw.) in der Übertragung und der Gegenübertragung zunächst vermieden oder verdrängt, um eine vertrauensvolle, angenehme Beziehung zu erhalten. Aber früher oder später werden die Übertragungsambivalenzen zu unterschwelligen Störungen und dann zu Blockaden des therapeutischen Prozesses. Spätestens dann müssen sie geklärt und durchgearbeitet werden, was einen Zugang zu bisher unergründeten Bereichen des Unbewussten des Klienten eröffnen kann. Das Durcharbeiten ambivalenter Übertragungsverstrickungen ist ein wichtiger Schlüssel zu den Leid verursachenden, alten Beziehungsmustern im Unbewussten des Klienten. Zugang zum Unbewussten. Unter dem Blickwinkel der Übertragung kann die therapeutische Beziehung als Projektionsfläche für die unbewussten Prozesse des Klienten betrachtet werden, auch
wenn diese unweigerlich von der Person und den unbewussten Dynamiken des Therapeuten mit beeinflusst ist. Die Beziehung zum Therapeuten kann als Modellsituation verstanden werden, in der die alten Beziehungsmuster des Klienten aktiviert sind und reflektiert werden können. Im Unterschied zu spontanen Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen im Alltag finden Übertragungsdynamiken in der Psychotherapie in einem geschützten und strukturierten Beziehungs-Reflexions-Raum statt, in dem Therapeut und Klient die therapeutische Beziehung als Projektionsfläche und Modellsituation im Dienste des psychotherapeutischen Prozesses betrachten können. Dabei ist der Klient stärker „in“ der Übertragung, d. h. er empfindet seine in die Beziehung zum Therapeuten hinein übertragenen, alten Kontaktmuster zunächst in der Regel unzweifelhaft als Realität. Der Therapeut steht (optimalerweise) aufgrund seiner Funktion und seiner Ausbildung stärker „neben“ seiner Gegenübertragung, d. h. er lässt die Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse nur begrenzt und gefiltert an sich heran. Auf diese Weise entsteht ein psychotherapeutisches Beziehungsfeld, das zwar dialogisch von zwei realen Personen gestaltet wird, in dem der Klient aber dennoch primär seine eigenen Übertragungsdynamiken erleben und reflektieren kann. Doppelbewusstsein. Die Arbeit an Übertragungen erfordert beim Klienten und beim Therapeuten die Etablierung eines therapeutischen Doppelbewusstseins. Darin ist die therapeutische Beziehung Realität und Leinwand zugleich: einerseits eine reale Interaktion zwischen realen Menschen, andererseits eine Bühne zur Reflexion alter Muster des Klienten. Die Übertragungsbindung wird als Modellsituation für die Beziehungsmuster des Klienten betrachtet, die im Hier und Jetzt reflektiert und auf abgewehrte Anteile hin untersucht werden. Der Beziehungsraum zwischen Therapeut und Klient ist das Feld, in dem die Therapie stattfindet und gleichzeitig ein zentraler Gegenstand der therapeutischen Arbeit. Hier wird die Tiefendynamik des Klienten unmittelbar deutlich. Hier finden die entscheidenden Veränderungen beim Klienten statt, und hier werden diese Veränderungen zuerst spürbar (Abb. 6.1).
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Abb. 6.1 Das therapeutische Doppelbewusstsein.
6.3 Stabilisierung fragiler Strukturen
» Bewusstsein kann das Dämonische integrieren, es persönlich machen, und dies ist der Zweck der Psychotherapie. Rollo May « Strukturelle Instabilität. In den 1970er-Jahren stand in einigen Verfahren der Humanistischen Psychotherapie die entpanzernde, emotional befreiende (kathartische) Arbeit im Vordergrund. Diese Form der Psychotherapie ist für eher rigide strukturierte Klienten bzw. für psychische Bereiche geeignet, in denen Leid durch Verdrängung unintegrierbarer Gefühle und Impulse im Rahmen einer starren, emotionsarmen Struktur aufrechterhalten wird. In den letzten Jahrzehnten sind Psychotherapeuten jedoch verstärkt mit einem anderen Typ von psychischem Leid konfrontiert, das durch eine vorwiegend labile, fragmentierungsbedrohte psychische Struktur bestimmt ist. Klienten mit fragilen Selbststrukturen neigen zu Gefühlsüberflutungen, zu akuten Regressionen, zur Dissoziation, zum Spalten und zum Erstarren. Bei diesen Klienten sind konfrontative psychotherapeutische Techniken zur Mobilisierung und Intensivierung von Emotionen oder zur Lockerung der Selbstkontrolle nicht angezeigt, solange das Ich so schwach ist, dass die psychische Stabilität
des Klienten bedroht ist. Akut fragmentierungsgefährdete Klienten können ihre Affektstürme nicht beherrschen und neigen daher zum destruktiven Agieren und zur Selbstgefährdung, zu Therapie- und Beziehungsabbrüchen, zu psychotischen Episoden und zur Suizidalität. Bei Klienten, deren zentrales Problem darin besteht, dass ihre Struktur instabil ist, besteht das primäre Ziel der Psychotherapie zunächst darin, ihre Struktur und ihre Fähigkeiten zu Selbstkontrolle zu stabilisieren. Diese Klienten brauchen vor allem einen zuverlässigen und belastbaren, durch klare Regeln und Grenzen sowie durch gut abgegrenzte emotionale Wärme, persönliche Akzeptanz und Distanz des Therapeuten sicher gestalteten psychotherapeutischen Raum. Schutzmaßnahmen. Für manche Klienten mit fragiler Selbststruktur sind besondere Schutzmaßnahmen erforderlich. Der Therapeut muss z. B. immer wieder ausdrücklich die Freiwilligkeit des psychotherapeutischen Prozesses verdeutlichen und die Regeln und Grundkonzepte der psychotherapeutischen Arbeit bis zu einem gewissen Grad verdeutlichen und transparent machen. Manchen Klienten mit fragiler Struktur muss
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explizit die Erlaubnis gegeben werden, Übungen nicht oder „nur in Gedanken“ zu machen oder Vorschläge des Therapeuten nicht aufzugreifen, wenn sie das Gefühl haben, dass ihnen das nicht guttut oder dass sie sich dabei nicht sicher fühlen. In Therapiegruppen brauchen manche Teilnehmer mit fragiler Struktur die explizite Erlaubnis, das Gruppensetting vorübergehend zu verlassen, wenn ihre Gefühle sie zu überfluten drohen. In der Einzeltherapie brauchen sie die explizite Erlaubnis, zu schweigen, nichts zu tun, Vorschläge des Therapeuten nicht anzunehmen oder zu modifizieren, die Sitzung zu unterbrechen oder einen größeren räumlichen Abstand zum Therapeuten einzunehmen, wenn es ihnen zu viel wird.
Eine Einzelklientin möchte mir etwas erzählen, sagt aber, sie könne es nicht ertragen, wenn ich sie dabei sehe. Sie setzt sich von mir abgewandt hinter einen Sessel in eine Ecke des Therapieraums auf den Boden und bedeckt sich bis über den Kopf mit einer Decke. Sie bittet mich, mich ebenfalls von ihr abgewandt in die andere Ecke des Therapieraumes hinter einen zweiten Sessel zu setzen, sodass sie sicher sein kann, dass ich sie nicht sehe. Erst diese Konstellation ermöglicht es der Klientin, mir über ein Ereignis in ihrem Leben zu berichten, das für sie mit überwältigenden Schamgefühlen verbunden ist.
Ein Klient kommt in die Sitzung, setzt sich in die Nähe der Tür („um jederzeit flüchten zu können“), spricht einige Sätze mit mir und verfällt für den Rest der Sitzung in Schweigen. Dieser Prozess wiederholt sich über mehrere Monate hinweg in jeder Sitzung. Erst langsam traut sich der Klient, über längere Strecken mit mir in verbalem Kontakt zu bleiben. Er spricht darüber, dass er in seinen Schweigephasen in einen inneren Zustand geht, der sich „vollkommen leer“ anfühlt, „fast ohne Gedanken und ohne Gefühle“. Er betont, wie sehr er es braucht, dass ich in diesen Phasen mit meiner Aufmerksamkeit bei ihm bleibe, ohne Druck auszuüben und ohne ungeduldig zu werden. Wenn er den Eindruck hat, dass meine Aufmerksamkeit abdriftet, fühle er sich „vollkommen verlassen“ und wird panisch. Meine aufmerksame Präsenz gebe ihm Halt in einem Zustand, in dem er selbst „nicht mehr da“ sei.
Stabilisierung und Integration. Der psychotherapeutische Prozess bei struktureller Instabilität besteht aus zwei Komponenten: Stabilisieren und Integrieren. Durch empathisches Begleiten, Deuten, Beraten, Empfehlen, Beruhigen usw. kann der Therapeut dem Klienten helfen, inneren Halt zu finden. Die Stabilität ist aber nur dauerhaft, wenn der Klient sich (im Rahmen seiner Möglichkeiten) seinen Fragmentierungsängsten stellt und lernt, mit ihnen umzugehen. In der Therapie kann der Klient lernen, vorübergehende Zustände von struktureller Instabilität ohne zusätzliche Eskalation zu durchleben und psychische Abspaltungen durch Erleben und Verstehen zu integrieren. Dadurch kann er vorübergehende Regressionen leichter ertragen, ohne die Situation durch panisches Ausagieren weiter zu verschlimmern oder seine Vitalität durch Dissoziation abzutöten. Dies ist nicht allen Klienten in gleichem Umfang möglich. Wenn das Ich zu instabil ist und die Ressourcen zu schwach sind, kann es hilfreich sein, wenn der Klient sich zunächst in einem sicheren Umfeld beruhigen und erden kann (z. B. in einer entsprechend orientierten Klinik). Der Therapeut kann den Klienten mentale Dissoziationstechniken lehren, damit er bei akuter Überflutung mit seinen Gefühlen zurechtkommt (Reddemann 2008, Huber 2007, Shapiro 1998). In manchen Fällen ist es schon ein Erfolg, eine Verschlimmerung zu verhindern oder eine akute Krise so weit aufzufangen, dass das Überleben des Klienten gesichert ist. Klienten mit ausreichend stabiler Selbststruktur und ausreichenden psychischen und sozialen Ressourcen dagegen kann der Therapeut ermutigen, sich durch ihre Fragmentierungsängste hindurchzufühlen. Dabei hilft er dem Klienten, auch im Zustand latenter Fragmentierung handlungsfähig zu bleiben, um seine körperliche Integrität und seine tragenden Beziehungen nicht zu gefährden. Klient und Therapeut können gemeinsam versuchen, die psychodynamischen Ursachen der Fragmentierungsängste des Klienten zu verstehen, und der Therapeut kann dem Klienten Begriffe an die Hand geben, mit denen er die diffusen und schwer zu erfassenden Erscheinungen der drohenden oder erlebten Fragmentierung des Ich verstehen und kommunizieren kann. Die therapeutische Beziehung als Ressource. Noch vor jeder psychotherapeutischen Intervention ist die Erfahrung, sich beim Therapeuten angenommen und aufgehoben zu fühlen, die Grundlage jedes psychotherapeutischen Prozesses, gleich
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welcher Schule. Durch vielfältige empirische Untersuchungen (z. B. Luborsky et al. 1988) konnte nachgewiesen werden, dass eine stabile, vertrauensvolle therapeutische Beziehung, in der der Klient den Therapeuten als wohlwollend, warmherzig, zugewandt und auseinandersetzungsfähig erlebt, zentral bedeutsam für einen konstruktiv verlaufenden psychotherapeutischen Prozess ist. Die Beziehung des Klienten zum Psychotherapeuten ist für den Klienten eine emotional bedeutsame Beziehungserfahrung, die sich von all seinen bisherigen Beziehungen grundlegend unterscheidet. Der Therapeut ist mit seiner wohlwollenden Aufmerksamkeit beständig für den Klienten da. Er ist ausschließlich am Wohlergehen und am psychischen Wachstum des Klienten interessiert, ohne eigene Wünsche und Interessen zur Geltung bringen zu wollen. Das wird vom Klienten auf der realen Ebene als haltgebende, professionelle Beziehung und auf der Übertragungsebene als korrektive „Nachbeelterung“ erlebt. Akzeptanz und Einstimmung. Wenn wir davon ausgehen, dass eine wichtige biografische Ursache für die Fragilität der Selbststruktur in einem Mangel an empathischer Einstimmung seitens der primären Bezugspersonen besteht (Kohut 1979), dann wird eine therapeutische Beziehung, in der sich der Klient angenommen und wertgeschätzt fühlt, zu einem zentralen Wirkfaktor der psychischen Stabilisierung und Integration des Klienten, besonders wenn das empathische Verstehen des Therapeuten auch die Abgründe der Fragmentierungszustände und die darüber liegenden, massiven Ambivalenzen und Aggressionen umfasst. Wenn ein strukturell labiler Klient sich auch in der Konfusion und Verzweiflung seiner Auflösungsängste und in seinem primitiven Hass auf diejenigen, die er am meisten liebt, verstanden und angenommen fühlt, so hilft ihm das aus seinen Fragmentierungsängsten heraus. Gehen auf zwei Beinen. Da fragmentierungsgefährdete Klienten oft körperliche oder psychische Gewalt in unsicheren oder verwirrenden Beziehungskonstellationen erfahren haben, ist es erforderlich, behutsam, langsam, ressourcenaktivierend und bestärkend zu arbeiten, weil sonst die Gefahr besteht, dass der Klient von neuem erschrickt, sich verschließt, dissoziiert oder destruktiv agiert. Dennoch ist es auch für diese Klienten wichtig, ihre zum Teil radikalen emotionalen Reaktionen und dissozi-
ativen Erlebnisse emotional zu integrieren und kognitiv zu- und einordnen zu lernen, um sich selbst ganzheitlich fühlen und sozial mitteilen zu können. Das technische Gleichgewicht zwischen Stützen und Spüren, zwischen Stabilisieren und Integrieren kann man als „Gehen auf zwei Beinen“ bezeichnen.
Ein Einzelklient mit einer fragilen Selbststruktur ist seit fünf Jahren gebunden an eine Frau, bei der er sich sicher und gehalten fühlt, während ihm aber intime Sinnlichkeit und erotische Körperlichkeit mit ihr von Anfang an gefehlt haben. Er sagt: „Ich mag sie, ich fühle mich ihr vertraut, aber sexuell bin ich frustriert. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, sie zu verlassen. Ich kann nicht ohne sie. Wenn ich auch nur in Gedanken beginne, mich für eine andere Frau zu interessieren, kriege ich Panik.“ Der Klient kann sein (abhängiges) Beziehungsmuster erkennen und beschreiben, aber es kommt ihm „verrückt“ und „übertrieben“ vor, weil er sich nicht erklären kann, warum er so reagiert. Ich führe ihn in eine leichte Trance und bitte ihn, sich einen „Erinnerungsfilm von sich selbst als Kind“ auf die gegenüberliegende Wand des Therapieraums projiziert vorzustellen und aus sicherer Distanz anzuschauen. Mit Hilfe dieser und ähnlicher, dissoziativer Integrationstechniken aus dem Repertoire der Hypnotherapie gelingt es dem Klienten allmählich, seine Ängste vor Verlassenheit biografisch zuzuordnen und zu verstehen.
Traumatherapie. Auch in der Arbeit mit posttraumatischen Zuständen ist es erforderlich, • mit dem Klienten ressourcenaktivierend, stabilisierend und stützend zu arbeiten, seine natürlichen Selbstheilungsbemühungen zu fördern und unmittelbar wirksame Bewältigungsmöglichkeiten (Coping-Skills) zu erarbeiten (Linehan 1996) und • dem Klienten zu helfen, die biografische Basis seiner Traumasymptome zu erleben und zu verstehen, zu erinnern, auszusprechen, einzuordnen, was wirklich geschehen ist und die Dinge beim richtigen Namen zu nennen.
Eine 38-jährige Klientin geht in einer Sitzung spontan in eine dissoziative Altersregression, in der sie einen sexuellen Missbrauch durch den Vater der Pflegefamilie wiedererlebt, in der sie aufgewachsen ist. Das
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dissoziative Erleben entsteht spontan, es wird von mir weder induziert noch gefördert, sondern nur haltgebend begleitet. Nachdem sich die Klientin aus der Regression reorientiert hat, kann sie das, was sie gerade erlebt hat, nicht als zu sich gehörig identifizieren und spaltet es wieder ab. Zu Beginn der nächsten Sitzung hat sie vergessen, was sie in der Sitzung zuvor erlebt hat. Im Laufe der Therapie gelingt es der Klientin allmählich, auch in ihrem Alltags-Ich die Verbindung zu den traumatischen Erinnerungen herzustellen und aufrechtzuerhalten. Ich bemühe mich, ihre inneren Suchprozesse, Orientierungsversuche, Zweifel und Integrationsbemühungen begleitend zu unterstützen, ohne durch vorschnelle Deutungen oder Einordnungen Pseudoerinnerungen zu produzieren oder zu verfestigen. So gelingt es der Klientin allmählich, die Kontinuität ihrer Erinnerungen wiederzufinden. Nach etwa einem halben Jahr sagt sie: „Irgendwo in mir habe ich das immer gewusst. Es hat mit 7 Jahren angefangen und ging bis zu meinem 14. Lebensjahr. Ich habe darüber vorher noch nie mit irgendjemandem gesprochen.“
Integration. Viele strukturell instabile Klienten wollen nicht nur sozial funktionsfähig sein, sondern sie wollen wissen, was mit ihnen los ist und was die Ursache ihrer Instabilität und ihrer überflutenden Emotionen ist. Sie wollen sich selbst verstehen und die Zustände und Gefühle integrieren, mit denen sie in ihren fragmentierungsbedrohten Zuständen in Kontakt sind. Der psychotherapeutische Zugang zu der traumatischen Konstellation in der Biografie des Klienten kann oft nicht unmittelbar geschehen, weil das zur Folge hätte, dass der Klient in unbeherrschbaren Emotionen ertrinkt und sich nur durch nochmalige dissoziative Abwehr davon distanzieren kann. Strukturell instabile Klienten müssen lernen, gleichsam auf sicherem Grund am Rande des traumatischen Abgrundes zu bleiben, ohne hineingezogen zu werden. Dafür ist es erforderlich, die Arbeit an der Integration der abgespaltenen archaischen Emotionen und der dissoziativ gespaltenen Zustände einzubetten in einen Halt gebenden Rahmen, in dem Sicherheitsressourcen, Stabilisierungsmöglichkeiten und Beziehungsnetze sowie altersangemessene psychische Strukturen und Bewältigungsfähigkeiten unterstützt und entwickelt werden. Akute strukturelle Regression. Wenn der Klient in der Therapiesitzung in eine akute Regression ein-
bricht, ist es nicht leicht, mit ihm einen kooperativen, erwachsenen Kontakt aufrechtzuerhalten, weil sein erwachsenes Ich vorübergehend nicht oder nur schwer erreichbar ist. Hier besteht die psychotherapeutische Arbeit zunächst darin, dass der Therapeut • zeitweise sich selbst als haltgebende Bezugsperson zur Verfügung stellt, • durch einfühlendes Verstehen für den Fragmentierungszustand und seine Folgen im subjektiven Erleben und in den Beziehungen des Klienten hilft, die Ich-Struktur des Klienten zu stabilisieren und • dem Klienten hilft, auf sanfte Weise die „Büchse der Pandora“ wieder zu schließen, z. B. indem er, sich auf alltägliche Außenwahrnehmungen fokussiert. In den stabilen Phasen des Klienten ist es wichtig, dass der Therapeut gemeinsam mit ihm • Erste-Hilfe-Maßnahmen für akute Überflutungsbzw. Dissoziationszustände erarbeitet, • einen Notfallplan erarbeitet für den Fall, dass der Zustand für den Klienten unerträglich wird und praktikable Möglichkeiten entwickelt, wie der • Klient aus akuten Überflutungs- oder Dissoziationszuständen heraus wieder in die aktuelle, erwachsene Realität zurückfinden kann. Emotionale Selbstregulation. Klienten mit fragiler Selbststruktur fällt es schwer, ihre Gefühle zu regulieren. Für diese Klienten ist es hilfreich, wenn der Therapeut mit ihnen unmittelbar wirksame Möglichkeiten der emotionalen Selbstregulation erarbeitet. Hilfreiche Techniken hierzu sind in der Literatur ausführlich beschrieben worden (z. B. Reddemann 2007, Hofmann 2006, Sachsse 2004, Wöller 2005, Linehan 1996 u. a.). Grundidee dieser Techniken ist es, die traumatische ÜbererregungsGefühlsabschneidungs-Dynamik zu unterbrechen, eine angemessene Distanzierung von den anflutenden Emotionen zu ermöglichen und einen geerdeten Kontakt zu den eigenen Gefühlen und zum eigenen Körper zu stärken.
• Eine Klientin hat morgens nach dem Aufstehen Schwierigkeiten, ihren Körper wahrzunehmen und sich „als reales Wesen in der Welt zu empfinden“. Durch Ausprobieren verschiedener Möglichkeiten findet sie heraus, dass es ihr hilft, ihren Körper leicht zu klopfen und zu massieren.
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• Ein Klient findet heraus, dass es für ihn in Situa-
tionen emotionaler Überflutung hilfreich ist, einen Igelball (einen etwa tennisballgroßen, igelartig aussehenden Ball aus Plastik) in seinen Händen zu halten und zu drücken, was es ihm erleichtert, „in der Realität seines Körpers zu bleiben“.
Im Verlauf eines Therapiegruppenwochenendes gerät eine Teilnehmerin in einen überflutungsbedrohten (Borderline-)Zustand. Sie berichtet über Schlafstörungen und über einen Impuls, die Gruppe zu verlassen und nach Hause fahren zu wollen. Die anderen Gruppenteilnehmer erscheinen ihr als intrusiv und überwältigend. Sie fühlt sich überschwemmt von Ängsten und Aggressionen. Ich bespreche mit ihr konkrete und aktuell wirksame Möglichkeiten, ihre überflutenden Emotionen zu dämpfen (einige davon hat sie in einem kurz zurückliegenden Klinikaufenthalt kennengelernt): • Wenn die Überflutungen in der Gruppe zu stark würden, solle sie dem Teilnehmer neben sich kurz Bescheid sagen, wohin sie gehe, die Gruppe auf respektvolle Weise vorübergehend verlassen und zurückkommen, wenn sie sich beruhigt habe. • Um akute Überflutungen einzudämmen, könne sie eine von mir mitgebrachte Chilischote beißen (was sie dann auch einige Male tat). • In der Gruppe besprechen wir, welche Gruppenteilnehmer zu welchen Zeiten und in welchem Umfang bereit und in der Lage wären, mit ihr zu sprechen, spazieren zu gehen oder sie tröstend in den Arm zu nehmen. • Für den Fall, dass all diese Möglichkeiten nicht ausreichen, besprechen wir mittelfristige Möglichkeiten der Medikamenteneinnahme oder der Selbsteinweisung in eine Klinik. Auf diese Weise entsteht ein strukturierender Stufenplan von Optionen, der die Klientin beruhigt, weil er ihr konkrete, bewährte und abgestufte Möglichkeiten aufzeigt, um mit ihren Überflutungszuständen zurechtzukommen.
Eine Klientin mit einer aktivierten Borderline-Dynamik kommt aufgelöst und desorientiert zur Sitzung. Auslöser war ein (von außen betrachtet harmloser) Streit mit ihrem Freund, der sie in panische Tren-
nungsangst versetzt hat. Ich führe sie in eine leichte Trance und leite sie an, eine sichere und haltgebende Umgebung zu imaginieren. Sie stellt sich zunächst sich selbst als neugeborenes Baby vor, das von einer liebevollen Mutter gehalten wird. Die Mutterfigur wandelt sich in „eine überlebensgroße, freundliche Muttergöttin“, die der Klientin freundlich zulächelt, während diese in ihrem Schoß sitzt und „von ihrer Liebe trinken kann, die übervoll aus ihren Brüsten fließt“. Diese Vorstellung hilft der Klientin, sich zu beruhigen, weil sie sich von einer Sicherheit gebenden Entität schützend eingehüllt fühlt, die von der aktuellen Zuwendung durch ihren Freund unabhängig ist.
Eine Klientin mit generalisierten Ängsten aufgrund einer instabilen Selbststruktur, die mehrere längere Klinikaufenthalte hinter sich hat, erlebt nach einem heftigen Streit mit ihrer Schwester eine Krise, die ihre psychische Struktur destabilisiert. Die Klientin wacht nach 3–4 Stunden unruhigem Schlaf mitten in der Nacht auf und läuft mit Panikgefühlen stundenlang ziellos in der Wohnung herum. Wir vereinbaren eine Woche lang tägliche Einzelsitzungen, um die Krise abzufangen. 1. In der ersten Sitzung entwickeln wir zusammen folgenden Plan für den nächsten Morgen: – Wenn die Klientin früh am Morgen panisch aufwacht, steht sie auf, setzt sich an ihren Computer und schreibt auf, was sie beschäftigt und belastet. Wenn sie möchte, kann sie mir alles oder einen Teil davon als E-Mail schicken. – Danach geht sie wieder zu Bett und hört eine beruhigende Selbsthypnose-CD. – Danach steht sie auf und geht für eine halbe Stunde Joggen. – Sie frühstückt und liest dabei die Zeitung. – Danach geht sie in ein nahe gelegenes Café, sitzt dort für etwa eine Dreiviertelstunde, trinkt einen Cappuccino, liest in einem Roman und nimmt die Menschen um sich herum wahr. – Danach geht sie zur Arbeit. Dieser detailliert vorbesprochene Ablauf gibt der Klientin einen stützenden Orientierungsrahmen. 2. In der zweiten Sitzung berate ich die Klientin über Notfallmaßnahmen für den Fall, dass sie an die Grenze ihrer Bewältigungsfähigkeiten kommt.
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3. In der dritten Sitzung arbeiten wir mit körperpsychotherapeutischen Erdungs- und HoldingTechniken und mit ausleitender Massage an den Händen und Füßen. 4. In der vierten Sitzung führe ich die Klientin in einen Versenkungszustand (Trance) und suggeriere ihr, dass sie sich an einem Ort befindet, der in jeder Hinsicht nach ihren Sicherheitsbedürfnissen ausgestattet ist („sicherer Ort“). Sie könne jederzeit innerlich an diesen Ort gehen, wenn ihr das guttue. 5. In der fünften Sitzung stehen das empathische Begleiten der Auflösungsängste der Klientin und ihre Ambivalenz ihrer Schwester gegenüber im Vordergrund. 6. In der sechsten Sitzung bitte ich die Klientin, dem Gefühl der panischen Übererregung in ihrem Geist eine Farbe, Form und Gestalt zu geben. In ihrer Fantasie entsteht eine große, japanische Bronzeglocke, die mit einem stählernen Ham-
mer schnell und so kräftig angeschlagen wird, dass sie zu zerbrechen droht. Wir arbeiten die Submodalitäten des Symbols (Entfernung, Helligkeit, Dimensionalität, Rhythmik, Farbigkeit usw.) heraus und verändern diese gemeinsam über imaginierte Schieberegler, um die Übererregung zu dämpfen. Ihr ist diese komplexe NLP-Technik (Andreas 2000, Bandler et al. 2000) aus der vorangegangenen Therapie bekannt, sodass sie sie als Selbsthilfemethode einsetzen kann. Durch diese und weitere Stabilisierungshilfen kann die akute Krise aufgefangen werden. Es gelingt der Klientin, die Krise ohne Medikamenteneinnahme und ohne Klinikeinweisung zu bewältigen. Die Klientin beruhigt sich, sie schläft wieder ausreichend und fährt für eine Woche zu einer Freundin in ein anderes Bundesland. Danach fühlt sie sich deutlich stabiler. Die Frequenz der Therapiesitzungen kann wieder auf eine Sitzung pro Woche reduziert werden.
6.4 Struktur und Raum Vorstrukturierung. Eine vom Therapeuten stark strukturierte Therapie, in der mit vorher vereinbarten, genau nachvollziehbaren Settings und Übungen an explizit fokussierten Themen gearbeitet wird, gibt dem Klienten Halt und Orientierung, aber sie fördert nicht seine Fähigkeit, seine eigenen Wege zu finden. Eine relativ wenig strukturierte therapeutische Situation dagegen ist für manche Klienten eine Überforderung, weil sie ohne äußere Orientierung mangels eigener, innerer Strukturiertheit im Chaos verloren zu gehen drohen. Manche Klienten suchen beim Therapeuten nach direktem Rat in Lebensfragen oder nach Vorgaben bezüglich der Themen und der konkreten Schritte der Therapie. Manche Klienten fordern immer wieder, dass der Therapeut ihnen Formen, Strukturen, manchmal auch Inhalte oder gar den ganzen Therapieprozess vorgibt. Die Suche nach äußerer Orientierung kann Ausdruck von Verwirrung und Überforderung sein und einen Strukturmangel im Innern des Klienten widerspiegeln. Manche Klienten nutzen unstrukturierte Therapiesitzungen zur Abwehr, indem sie sich auf unfruchtbare Weise mit Nebenschauplätzen beschäftigen. In solchen Fällen führt strukturarme therapeutische Arbeit in eine Sackgasse. Manche Klienten brauchen also
zeitweise oder dauerhaft klar vorgegebene Strukturen.
In einer unstrukturierten Phase im Laufe eines Therapiegruppenwochenendes beginnt die Aufmerksamkeit der Teilnehmer abzuschweifen. Sie werden müde und lenken sich auf unterschiedliche Weise ab. Sie tuscheln miteinander, gehen zur Toilette, beginnen zu dösen oder betrachten die Bilder an der Wand. Wir machen eine kurze Pause. Anschließend lade ich die Teilnehmer zu einer Körperübung ein, in der sie ihre körperliche Befindlichkeit tiefer spüren können. In der Rückmeldungsrunde nach der Körperübung sprechen mehrere Teilnehmer Themen an, die ihnen wichtig sind. Die Körperübung hat ihnen geholfen, aus einem diffusen Abdriften heraus und mit relevanten Themen in Kontakt zu kommen.
Selbstverantwortung. Der Wunsch eines Klienten nach Strukturierung der Therapie durch den Therapeuten kann aber auch darauf hinweisen, dass der Klient vermeidet, sich in der Therapie mit seinen eigenen Wünschen, Ideen und Impulsen zu
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entdecken oder zu zeigen. Indem er möglichst nur das tut, was ihm vorgegeben wird, erkennt er sich nicht selbst. Er vermeidet, seine eigenen Kräfte zu mobilisieren und Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Wenn die Suche nach Vorgaben des Therapeuten zu Abwehrzwecken dient, ist eine weniger strukturierte Therapiesituation angezeigt, in der Formen und Inhalte weitgehend offen gelassen werden. Das ist eine Einladung und Herausforderung an den Klienten, sich selbst zu definieren, indem er den therapeutischen Prozess so weit wie möglich aus seinem Inneren heraus entstehen lässt und selbstverantwortlich gestaltet. Der Therapeut gibt einen Rahmen (Zeitstruktur, Honorar, ethische Grenzen, Aufmerksamkeit usw.) vor. Innerhalb dieses Raumes entwickelt der Klient den therapeutischen Prozess aus seinem Inneren heraus, während der Therapeut ihn vor allem begleitet und ihm nur gelegentlich und dezent unterstützende Anregungen gibt. Dadurch kommt der Klient nicht umhin, Eigenverantwortung für die Ausgestaltung des Therapieprozesses und letztlich für sein Leben zu übernehmen. Je weniger dem Klienten Form und Inhalt der Therapie vom Therapeuten vorgegeben werden, um so mehr kann er das, was er in der Therapie erlebt und herstellt, als sein Eigenes erkennen. Er übernimmt Verantwortung.
Ein Klient kommt in die Therapiestunde, setzt sich auf einen Sessel und schaut teilnahmslos schweigend vor sich hin. Nach etwa zehn Minuten sagt er genervt: „Und … was jetzt?“ Ich antworte: „Ja, was jetzt, ich bin gespannt.“ Ich nehme die Delegation des Klienten, ihm ein Therapieprogramm bieten zu sollen, nicht an und spiele den Ball zurück auf sein Feld. Das geht noch einige Male hin und her. Schließlich sagt der Klient: „Ich möchte heute über meine Beziehung zu meiner Familie sprechen.“ Er hat sich entschieden, das Thema zu bestimmen.
» I am not the action-man. Ernest Rossi « Zu eng – zu weit. Strukturschwache Klienten können von einer wenig strukturierten Therapie überfordert sein, weil der Strukturmangel ihr inneres Chaos verstärkt. Zu stark strukturierte Therapien können als Einengung empfunden werden und den Klienten veranlassen, gegen die vorgegebene Struktur zu rebellieren, sie zu demontieren oder aus ihr auszubrechen. Daher ist es wichtig, in der Psychotherapie auf ein ausgewogenes Verhältnis von strukturierenden Vorgaben und raumgebendem Gewähren zu achten.
6.5 Erlebnisaktivierung Grenzen verbaler Empathie. Verbales empathisches Begleiten und Spiegeln ist ein relativ niedrigschwelliges Therapieangebot, das den Klienten behutsam behandelt, bei sorgsamer Anwendung kaum Überprovokationsgefahren in sich birgt und auf Seiten des Klienten relativ wenig Selbstkonfrontationsmotivation erfordert. Allerdings stößt die Arbeit nur mit verbaler Empathie dort an ihre Grenzen, wo die Abwehrprozesse des Klienten so stark sind, dass er mit Hilfe von Empathie allein nicht aus ihnen herausfindet. Verbale Therapie hilft oft nicht weiter, wenn frühe Muster aus der präverbalen Zeit im Vordergrund stehen, die nur schwer verbal kommuniziert werden können. In diesen Fällen führt die Beschränkung auf verbales Begleiten zu einem oberflächlich bleibenden, endlosen und letztlich fruchtlosen Therapieprozess, in dem tiefere Schichten gar nicht erst berührt werden. Durch die erlebnisaktivierenden Verfahren der Humanistischen Psychotherapie
dagegen können tiefere Erlebensebenen und neue Erfahrungen ins Spiel kommen. Erlebnisaktivierende Techniken. In den Humanistischen Psychotherapieverfahren wurde eine Vielfalt von erlebnisaktivierenden Techniken entwickelt. Es handelt sich z. B. um Körper-, Atem- oder Bewegungsübungen, Massagetechniken, Rollenspiele, Systemaufstellungen, Imaginationen, Trance-Methoden, Sprachformen, gruppendynamische und konfrontative Techniken (siehe Kap. „Verfahren und Techniken“). All diesen Arbeitsweisen ist gemeinsam, dass sie einen beschleunigten Zugang zu tieferen Ebenen des Erlebens und effiziente Umstrukturierungen der Muster des Klienten ermöglichen und den therapeutischen Prozess intensivieren und beschleunigen können. Erlebnisaktivierung kann Emotionen aktivieren oder verstärken. Psychotherapeutische Aktivierung von Emotionen ist
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dann hilfreich, wenn ein Klient Gefühle auf leidvolle Weise unterdrückt und strukturell stabil genug ist, diese in ihrer originären Intensität zu durchfühlen. Aktivierung von Emotionen. Bei der psychotherapeutischen Arbeit mit der Aktivierung von Emotionen geht es nicht – wie man vielleicht meinen könnte – darum, sich immer weiter in Gefühle hineinzusteigern oder ziellos emotionale Ausbrüche zu produzieren. Vielmehr kann der Klient in der Therapie mit aktivierten Emotionen lernen, seine Angst vor starken Gefühlen abzubauen, intensive Erregungszustände zuzulassen, seine Kraft zu spüren, zu genießen und auszudrücken, aber nicht auszuagieren. Das setzt voraus, dass der Therapeut aus eigener Erfahrung mit starken und ambivalenten Emotionen und Impulsen umgehen kann, dass er sie befreien, begrenzen, mobilisieren und auf ein Ziel ausrichten kann und vor allem, dass sie ihm keine Angst machen. Für einen Klienten, der sich emotional abgetötet fühlt, weil er intensive Gefühle unterdrückt, kann es eine sehr befreiende Erfahrung sein, diese Gefühle in ihrer ganzen Intensität zuzulassen und dabei zu erleben, dass sie weder ihm selbst noch anderen Schaden zufügen. Er fühlt sich hinterher vital und kraftvoll, verbunden mit der Welt und mit seinen energetischen Ressourcen. Dabei muss der Therapeut Entgrenzungs- und Dissoziationsneigungen des Klienten erkennen und haltgebend damit umgehen können, damit die Arbeit mit Emotionsaktivierung therapeutisch fruchtbar wird. Dynamisierung. Erlebnisaktivierende Verfahren können dazu dienen, an Stellen stärkerer Abwehr und jenseits von Sprache die unbewussten Prozesse des Klienten in Bewegung zu bringen (zu dynamisieren) und zu verändern (zu transformieren). Erlebnisaktivierende Verfahren können vitale und manchmal kathartische Therapieprozesse erzeugen. Sie erfordern beim Klienten ein höheres Maß an Selbsterkundungs- und Selbstkonfrontationsbereitschaft und -fähigkeit als nur verbal empathisch begleitende Techniken. Die therapeutische Trance-Realität. Durch erlebnisaktivierende Verfahren wird der Klient in einen inneren Erfahrungsraum geführt, der als thera-
peutische Trance-Realität (oder als Körper-Trance, im Psychodrama als Surplus-Realität) bezeichnet wird. Die therapeutische Trance-Realität bestimmt im Rahmen der psychotherapeutischen Arbeit das Erleben und die emotionalen Reaktionen des Klienten. In einer körperorientierten therapeutischen Arbeit erlebt ein 32-jähriger Klient eine Altersregression. Er fühlt sich, bewegt sich, spricht und sieht aus wie ein kleiner Junge im Alter von 3–4 Jahren. Der Klient hat als Erwachsener eine problematische, von Streit und gegenseitiger Abwertung geprägte Beziehung zu seinem Vater. Ich lade ihn ein, sich in seinen Vater in der Zeit hineinzuversetzen, in der der Klient sich in der Altersregression befindet, was dem Klienten in der therapeutischen Trance leicht gelingt. Der Klient schlüpft in seinem subjektiven Erleben in seinen Vater „damals“ hinein und beschreibt die Beziehung seines Vaters zu ihm als 3–4jährigem Kind aus der Perspektive des Vaters. Dabei erlebt der Klient mit großer emotionaler Evidenz bestimmte Aspekte der Beziehung zwischen seinem Vater und ihm als Kind, die seinem Bewusstsein vorher nicht zugänglich waren. Mit einem Teil seines Gewahrseins „ist“ er vorübergehend sein Vater in der damaligen Zeit und hat Zugang zu Erlebnisebenen, die ihm vorher verschlossen waren.
Emotionale Dichte. Während oder nach der Arbeit mit erlebnisaktivierenden Verfahren sind manche Klienten überrascht über die Intensität der Gefühle, die emotionale Dichte und das Gefühl von Authentizität, die sie in der Sitzung erleben. In erlebnisaktivierenden Gruppenpsychotherapien haben die Teilnehmer außerdem die Möglichkeit, die anderen Teilnehmer unterhalb der alltäglichen sozialen Masken zu erleben, also auf eine wahrhaftigere Weise, als das im Alltagsleben normalerweise möglich ist. Die Tiefenselbsterfahrung und -begegnung, die energetische Entlastung und das Erlebnis, in einem emotional geöffneten Zustand die emotionale Unterstützung zu finden, die in der Kindheit meistens gefehlt hat, entfaltet als korrektive Erfahrung in der therapeutischen Trance-Realität eine heilsame Wirkung.
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6.6 Altersregression Das Damals im Jetzt. Therapeutische Altersregression bedeutet, dass der Klient nicht nur über Zusammenhänge zwischen seinem aktuellen Erleben und seiner Biografie nachdenkt, sondern dass er sich quasi-halluzinatorisch in die damalige Zeit versetzt fühlt, alte Beziehungsdynamiken unmittelbar erlebt und im therapeutischen Doppelbewusstsein gleichzeitig reflektieren kann. Dadurch können alte Beziehungsstrukturen psychotherapeutisch bearbeitet werden, während sie emotional aktiviert sind. Psychotherapeutische Altersregression öffnet ein Fenster zur biografischen Vergangenheit. In der Regression erfährt der Klient die dynamischen Ursprünge seiner aktuellen Muster so, wie er sie damals erlebt hat. Er fühlt sich wie als Kind und halluziniert die damalige Umgebung und die beteiligten Personen. Dadurch nehmen Leid aufrechterhaltende Reaktionsweisen, die dem Klienten zunächst diffus und unverstehbar erschienen, biografisch Form an und können verstehend durchgearbeitet werden. In der psychotherapeutischen Altersregression ist dem Klienten bewusst, dass es sich um eine Als-ob-Situation handelt. Er weiß, dass es sich um ein therapeutisches Setting handelt, dass er erwachsen und der Therapeut sein Therapeut ist. Gleichzeitig erlebt der Klient in der therapeutischen Trance-Realität Bindungsmuster, Gefühle, Zustände, Wünsche und Ängste, Gedanken und Körperreaktionen wie damals.
Ein 46-jähriger Klient fühlt sich in einer körperorientierten Trance als etwa 3-jähriges Kind und sucht emotionalen Kontakt zu seiner Mutter. Seine Finger beginnen, sich auf eine suchende, tastende Weise zu bewegen. Ich lade ihn ein, diesem Impuls zu folgen, um zu spüren, was seine Finger tun wollen. Er sagt: „Ich möchte dein Gesicht berühren, um zu spüren, ob du da bist.“ Ich lade ihn ein, diesen Impuls zuzulassen. Er beginnt, mit einer ängstlichen, vorsichtig tastenden Bewegung mein Gesicht zu berühren und zu erkunden. Schließlich legt er beide Hände sanft auf meine Wangen, strahlt mich an und sagt: „Mama, guck mal!“ Er erlebt eine Altersregression.
Spontane Regression. Klienten mit einer labilen Selbststruktur rutschen häufig in spontane Regressionen, in denen sie sich wieder so fühlen wie als Kind in einer alten, belastenden Beziehungskon-
stellation, verlieren dabei aber die Fähigkeit, sich und die Situation zu reflektieren und zu kontrollieren. Im Gegensatz zu der therapeutischen Altersregression hat die akute, spontane Regression keinen Als-ob-Charakter. Der Klient verfügt vorübergehend nicht mehr über Ich-Ressourcen wie Selbstreflexion, Selbstkontrolle, Abgrenzungsoder Selbstberuhigungsfähigkeit. Dieser Zustand geht oft mit archaischen Hassgefühlen und/oder unerträglichen Ängsten einher. Der Klient verliert vorübergehend die Fähigkeit, aus einer reflektierenden, dritten Position heraus das reale Gefährdungspotenzial einer Situation zu erkennen und seine realen Bedürfnisse zu spüren und zu vertreten. Er fühlt sich inneren und äußeren Bedrohungen hilflos ausgeliefert und davon abhängig, dass ihm von außen Halt, Schutz und Orientierung gegeben werden. Hier ist es besonders wichtig, dass der Therapeut den regressiven Zustand des Klienten erkennt und zunächst akzeptiert, um den Klienten in der Regression zu erreichen, ihn darin begleiten und ihm aus ihr heraushelfen zu können. Der Weg in die therapeutische Altersregression. Gesteuerte Altersregression als psychotherapeutische Technik kann durch verschiedene Techniken bewirkt oder gefördert werden, z. B. durch psychodramatische, hypnosuggestive, körperorientierte oder imaginative Interventionen oder durch Übertragungsdeutungen. Um den Klienten gezielt in eine therapeutische Altersregression hineinzuführen, kann der Therapeut den Klienten z. B. bitten, die angezielte biografische Szenerie zunächst von außen (dissoziiert) zu beschreiben, sie dann symbolisch mit Platzhaltern und Raumankern im Therapieraum aufzustellen und sich dann in die Szene (und damit subjektiv in die damalige Zeit) „hineinzubegeben“.
Ein Klient berichtet über eine „alles beherrschende Atmosphäre von Kontaktlosigkeit“ in seiner Familie, als er ein Kind war. Er beschreibt eine Szene in seiner Kindheit am Esstisch, die durch „dumpfe NichtKommunikation“ und „angsterfüllte Bedrücktheit“ bestimmt war. Ich bitte ihn, die Szene mit Kissen, Decken usw. symbolisch im Therapieraum aufzubauen. Dann bitte ich ihn, sich auf das Kissen zu setzen, das ihn selbst in der Situation damals repräsentiert und sich imaginativ in die alte Situation hineinzu-
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versetzen. Der Klient erlebt mit großer emotionaler Lebendigkeit die Esstischsituation wieder. Anschließend bitte ich ihn, sich nacheinander auf die Kissen zu setzen, die seine Mutter und seinen Vater damals repräsentieren und sich in diese in der damaligen Situation hineinzuversetzen. Das hilft ihm unter anderem, die damalige materielle und emotionale Not seiner Eltern nachzuvollziehen. Sie erscheinen ihm nicht mehr als Feindbilder. Er erlebt unmittelbar, dass beide Eltern „von ihrer eigenen Geschichte schwer geschädigt“ waren. Anschließend bitte ich ihn, einen imaginierten Dialog zu spielen, in dem die wahren Befindlichkeiten und Gefühle aller Beteiligten in der Esstischsituation zum Ausdruck gebracht werden. Das hilft ihm, das damals Tabuisierte zu klären und in sein Bewusstsein zu integrieren.
Biografisches Einordnen. Wenn altersregressives Erleben aktiviert ist, kann der Therapeut gemeinsam mit dem Klienten den biografischen Kontext (das emotionale Assoziationsnetzwerk) erkunden, in den das aktivierte Beziehungsmuster eingebettet ist. Oft kann der Klient unmittelbar spüren, in welcher Altersstufe und Beziehungsdynamik er sich befindet. Der Therapeut kann ihm helfen, sich biografisch-zeitlich zu orientieren, indem er ihn z. B. fragt: „Kannst du spüren, in welche Zeit oder zu welcher Person das gehören könnte?“ oder „Siehst du, wo du bist, was um dich herum ist und wer noch da ist?“ Präverbale Regression. Bei Regressionen in die frühe, präverbale Zeit erlebt der Klient oft IchZustände und Beziehungsmuster, die kognitiv und sprachlich zunächst nur schwer repräsentiert werden können. Er kann sich z. B. in einem Zustand befinden, in dem seine Identität mit seinen Bezugspersonen oder mit der Umwelt verschwommen und in dem sein Ich-Erleben mit der Person und den Gefühlen beispielsweise seiner Mutter vermischt ist. Oder er kann sich in dissoziativen Regressionen wiederfinden, die er sprachlich schwer beschreiben kann, z. B. kann er das Gefühl haben, nicht vorhanden, ohne Ich, ohne Haut, tot, taub, aus seinem Körper heraus, in sein Inneres zurückgezogen, von der Umwelt abgeschottet, mit der Außenwelt vermischt oder mehrfach vorhanden zu sein. Wenn das Regressionserleben im Bewusstsein noch nicht repräsentiert ist, taucht es oft als Körperphänomen (als psychosomatische
Störung) auf. Leidvolle psychovegetative Zustände können nach medizinischer Abklärung als „Körper-Erinnerungen“ verstanden und als Zugang zum altersregressiven Erleben genutzt werden. Der Therapeut kann dem Klienten helfen, solche Erlebnisweisen zu verbalisieren, damit sie ins sein Bewusstsein integriert und kommunizierbar werden. Ein 48-jähriger Klient mit zyklisch wiederkehrenden Depressionen beschreibt ein Engegefühl in der Herzgegend. Medizinische Diagnostik blieb ohne somatischen Befund. Mit meiner Hilfe fühlt sich der Klient in das Engegefühl hinein. Er sagt: „Mein Herz ist verschlossen. Ich habe sogar Angst, meiner Frau meine Liebe zu zeigen.“ Er beschreibt seine Herzgegend wie die Engstelle einer Eieruhr: „Im Bauch ist Raum, im Kopf ist auch Platz, aber in der Mitte, da, wo die Liebe sitzt, fühle ich mich wie zugeschnürt.“ Das Engegefühl geht mit einer Atemhemmung einher, und der Brustkorb des Klienten ist habituell zusammengezogen. Ich bitte ihn, durch Bewegungen des Schultergürtels seinen Brustkorb behutsam auszuweiten, um seinen festgehaltenen Atem zu befreien. Er sagt: „Mir fallen gerade viele Situationen ein, in denen ich das Gefühl hatte, mein Herz wird in Stücke zerrissen.“ Die habituelle Kontraktion des Klienten in seiner Herzgegend beginnt sich zu lockern; das ermöglicht ihm den erlebnisorientierten Zugang zur biografischen Dynamik der in seinem Brustbereich verkörperten (somatisierten) Gefühle.
Biografische Schlüsselsituationen. In der therapeutischen Altersregression findet sich der Klient oft in biografischen Schlüsselsituationen wieder. Dabei handelt es sich meistens nicht nur um einzelne traumatische Ereignisse, sondern um assoziative Kristallisationspunkte zeitübergreifender Interaktionsmuster. Wenn ein Klient in der Therapie eine bestimmte Situation erinnert, so wird in dieser häufig eine Beziehungskonstellation deutlich, die die Lebensbedingungen des Klienten möglicherweise über lange Zeit hinweg geprägt hat.
Eine Klientin spricht in der Therapie wiederholt über eine Situation, in der sie im Alter von etwa sieben Jahren versucht hatte, die Aufmerksamkeit
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ihres berufstätigen Vaters zu erringen, der sie auf schroffe, verletzende Weise zurückwies, woraufhin sie sich gekränkt in ihr Zimmer zurückzog und für einige Zeit für niemanden mehr ansprechbar war. Sie beschreibt eine vermutlich real so erlebte Erinnerung an eine konkrete Situation, aber gleichzeitig ein zeitübergreifendes Beziehungsmuster in ihrer Primärfamilie, das ihren Umgang mit Kränkungen, ihr Selbstwertgefühl und ihr Verhalten in Konflikten langfristig geprägt hat.
Reale und Pseudo-Erinnerungen. Die Frage nach der Realität von durch therapeutische Altersregression gewonnenen Erinnerungsfantasien ist umstritten. Offenbar gibt es beides: sowohl wirkliches Wiedererinnern vorher verdrängter Ereignisse als auch Deck- und Pseudoerinnerungen, die nicht oder nur teilweise der Realität entsprechen (obwohl auch sie Verdichtungen oder Symbolisierungen von realen Erfahrungen sein können). Was sich biografisch einprägt, sind nicht „reale“, objektive Vorgänge, sondern emotionae Erfahrungen auf der Basis vorher etablierter Muster. Manchmal können altersregressive Erlebnisse durch Informationen von dritter Seite (z. B. durch Befragung von Verwandten, medizinische Unterlagen, Tagebücher von Eltern, Akten der Familienfürsorge o. ä.) verifiziert werden. Manchmal – aber nicht immer – stellt sich heraus, dass die Erinnerungen präzise die damaligen Ereignisse wiedergeben. Manchmal sind auch mehrere Ereignisse, Lebensphasen oder Personen vermischt oder vertauscht. In Bezug auf
Gewalterfahrungen, auf Vernachlässigung oder auf das Miterleben von Gewalt in der frühen Kindheit kann es schwierig oder unmöglich sein, eine letzte Sicherheit darüber zu gewinnen, ob und inwieweit das regressiv Erinnerte der historischen Wahrheit entspricht oder nicht. Oft sind in der Therapie geäußerte Erinnerungen unmittelbar evident und es besteht kein Anlass, sie infrage zu stellen, aber manchmal können auch nach jahrelanger Therapie Zweifel bestehen bleiben. In diesen Fällen bleibt dem Klienten nur der Weg, die Unklarheit ertragen zu lernen, was manchmal alles andere als leicht ist.
Eine sonst psychisch relativ stabile, 28-jährige Klientin erlebt seit einigen Wochen anfallartig anbrandende Emotionen von Wut und Trauer, die sie in ihrer Heftigkeit ihrem aktuellen Leben nicht zuordnen kann. Ich lade sie ein, sich hinzulegen und ihren Gefühlen und Impulsen zu folgen. Nach einer Weile findet sich die Klientin in einer Babyhaltung mit geballten Fäusten und angewinkelten Knien leise wimmernd wieder. Ich frage sie: „Wo bist du? … Kannst du sehen, was sich um dich herum befindet? … Gibt es etwas zu hören? … Was fühlst du?“ Die Klientin beschreibt eine Szenerie, in der sie als Baby im Alter von einigen Monaten in einem Bettchen im Dunkeln liegt, schreit und niemand kommt. Sie erlebt eine Altersregression. In dem Maße, wie sie in den folgenden Sitzungen ihre alte Verlassenheitsangst durchfühlt und integriert, nehmen die Wut- und Trauer-Wellen in ihrem Alltag ab.
Verfahren und Techniken 7 8 9 10 11 12 13 14
Wertschätzendes Einfühlen Psychodynamisches Deuten Körperarbeit Gewahrsam und Kontakt Trance und Suggestion Rollenspiele und Identifikationstechniken Auseinandersetzung und Konfrontation Weitere Techniken
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Wertschätzendes Einfühlen
Abb. 7.1 Carl Rogers (mit freundlicher Genehmigung von Geneviève Odie).
Carl Rogers (1902–1987) war ein US-amerikanischer Psychologe, Psychotherapeut und der Begründer des Personzentrierten Ansatzes. Rogers war von der Philosophie John Deweys, von dem Psychoanalytiker Otto Rank und von der fernöstlichen Philosophie (besonders von Zen) beeinflusst. 1942 erschien sein Buch „Counseling and Psychotherapy“ (deutsch: „Die nichtdirektive Beratung“), der Grundstein der Personzentrierten Gesprächspsychotherapie. Rogers betonte die heilsame Wirkung von Echtheit, Empathie und Wertschätzung des Therapeuten. Rogers Personzentrierter Ansatz beeinflusste die in den 1970er-Jahren verbreitete Encountergruppenbewegung sowie die Grundhaltung vieler Psychotherapeuten unterschiedlicher Verfahren, Berater, Supervisoren, Pädagogen, Ärzte, Seelsorger, Sozialarbeiter, Eltern und Führungspersonen. In seinen letzten fünfzehn Lebensjahren beschäftigte sich Rogers verstärkt mit sozialen Fragen, insbesondere mit der Friedenspolitik und mit den politischen Implikationen seines Personenzentrierten Ansatzes.
Integrative Methodik. Die Techniken der Humanistischen Psychotherapie werden in der Praxis meist im Rahmen eines integrativen psychotherapeutischen Prozesses angewandt. Ein Humanistischer Therapieprozess besteht aus einer Vielzahl von Elementen. Diese Elemente fügen sich auf Basis einer verbindenden Philosophie und eines Fachwissens um die Entstehung und die Ausprägungsformen von psychischem Leid und um die Beziehungsdynamiken psychotherapeutischer
Prozesse zu einer Ganzheit zusammen. Die technische Basis der Humanistischen Psychotherapie ist das theoriegeleitete Verstehen des Erlebens des Klienten. Darauf baut eine Vielfalt von strukturierenden, vertiefenden, erlebnisaktivierenden und transformativen Techniken auf.
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Wenn du als einziges Werkzeug einen Hammer hast, sieht jedes Problem wie ein Nagel aus. Sprichwort, Quelle unbekannt
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7.1 Der Personzentrierte Ansatz Der Klient als Experte seiner selbst. Die Bezeichnung Personzentrierter Ansatz ist der vorläufige Endpunkt einer langen Suche nach einer
treffenden Bezeichnung für das Humanistische Psychotherapieverfahren, das auf den US-amerikanischen Psychologen Carl Rogers zurückgeht.
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Verfahren und Techniken
Frühere Bezeichnungen waren u. a. Nichtdirektive Beratung und Klientenzentrierte Therapie sowie im deutschen Sprachraum Gesprächspsychotherapie. Während seiner Arbeit in einer Erziehungsberatungsstelle machte Rogers die Erfahrung, dass Hilfesuchende leichter ihren eigenen Weg fanden, wenn er den Klienten als Experten seiner selbst betrachtete und sich bemühte, das subjektive Erleben des Klienten genau, nicht urteilend und nicht lenkend zu verstehen. Im Mittelpunkt des Personzentrierten Ansatzes steht nicht die Beseitigung von Symptomen und nicht die unmittelbare Lösung von Problemen, sondern die persönliche Entwicklung, die zu Problemlösungen führt (Eckert 2001, Auckenthaler 2001). Dies wird durch die bewusste Gestaltung einer förderlichen therapeutischen Beziehung bewirkt.
und Selbstkonzept ist, desto größer ist die Inkongruenz und die innere Spannung des Klienten. Die Personzentrierte Therapie zielt darauf, das Selbstbild des Klienten mit seinen Erfahrungen mehr in Übereinstimmung zu bringen. Der Therapeut gestaltet bewusst die therapeutische Beziehung unter Verzicht auf Bewertungen und unterstützt den Klienten, vorher nicht zugängliche Anteile in sein Selbstbild zu integrieren. Der Klient wird ermutigt, in einem dialogisch begleiteten Prozess der Selbsterkundung sein Erleben zu erforschen, um zu einer Erweiterung seines Selbstkonzeptes zu gelangen. Der Klient kann immer mehr emotionale Erfahrung zulassen, verstehen und kommunizieren, dadurch wird ihm mehr Entwicklung und psychisches Wachstum möglich.
Grundkonzepte. Im Personzentrierten Ansatz wird der Mensch als sowohl auf sich selbst (substanzial), also auch auf seine Mitmenschen bezogen (relational) aufgefasst. Die Person lebt in einem unzertrennlichen Wechselverhältnis zwischen Autonomie und Bindung. Ziel der Personzentrierten Psychotherapie ist es, den Klienten zu befähigen, seine Selbstexploration zu vertiefen, emotionale Erfahrungen zu klären und in sein Selbstbild zu integrieren. Im Zentrum der Aufmerksamkeit des Personzentrierten Therapeuten steht das Erleben des Klienten. Theoretische Erklärungen und sichtbares Verhalten werden gegenüber dem subjektiven Bedeutungserleben des Klienten (und des Therapeuten) als zweitrangig betrachtet. Rogers geht davon aus, dass jeder Mensch den Wunsch und die Fähigkeit in sich trägt, sich zu entwickeln, zu wachsen und dadurch seine Probleme zu bewältigen. Dieses Potenzial bezeichnete Rogers als Aktualisierungstendenz. Die zentrale Technik des Personzentrierten Verfahrens ist die verbale Rückmeldung der vom Klienten verbal oder nonverbal ausgedrückten emotionalen Inhalte durch den Therapeuten ohne Veränderung oder Bewertung.
Eine 31-jährige Klientin sieht sich selbst als „immer sehr bemüht um Harmonie“. Sie glaubt, sie sei ein besonders rücksichtsvoller Mensch und stets ängstlich darauf bedacht, niemandem zu nahe zu treten. In einer Sitzung beschreibt sie sichtlich aufgebracht, wie ihr Vorgesetzter sie „kontrolliert, herabsetzt und drangsaliert“. Ich frage sie: „Könnte es sein, dass du wütend auf ihn bist?“ Sie erschrickt bei dieser Vorstellung. Erst nach einer langen Schweigepause sagt sie: „Da könnte schon was dran sein.“ Aggressive Gefühle passen nicht in ihr Selbstbild, daher hat sie Schwierigkeiten, sie in sich wahrzunehmen.
Inkongruenz. Nach Rogers ist der Klient dann verletzbar oder ängstlich, wenn er sich in einem Zustand befindet, den Rogers als Inkongruenz bezeichnet. Das bedeutet, dass der Klient etwas bzw. sich selbst auf eine Weise erlebt, die nicht mit der Vorstellung übereinstimmt, die er von sich selbst hat (seinem Selbstbild oder Selbstkonzept). Je größer die Kluft zwischen Selbsterleben
Wachstumsfördernde Faktoren. Rogers (1973) beschrieb sechs Bedingungen für eine wachstumsfördernde Gestaltung der psychotherapeutischen Beziehung: 1. Kontakt – Zwischen Klient und Therapeut muss ein Minimum an Kontakt und Beziehung bestehen, weil sich psychotherapeutische Veränderung innerhalb von Beziehungen vollzieht. 2. Inkongruenz – Der Klient fühlt psychisches Leid, d. h. nach Rogers: er fühlt sich verletzbar und ängstlich, weil aktuelle Erfahrungen nicht mit dem Bild übereinstimmen, das er von sich selbst hat, wodurch ein (oft diffus erlebter) Spannungszustand entsteht. 3. Echtheit – Der Therapeut bemüht sich in der Beziehung zum Klienten echt und kongruent zu sein. Er bemüht sich um Übereinstimmung zwischen dem, was er in sich spürt, und dem, was er ausdrückt (Authentizität).
7 Wertschätzendes Einfühlen 71
4. Bedingungslose Wertschätzung – Der Therapeut bemüht sich, dem Klienten mit Wertschätzung gegenüberzutreten, die nicht an Bedingungen geknüpft ist. Die wertschätzende Zuwendung und emotionale Bejahung des Klienten soll nicht auf manche Anteile des Klienten beschränkt sein und andere Anteile ausschließen, sondern jedes Erleben des Klienten umfassen (Wärme, Interesse, Zugewandtheit, Akzeptanz). 5. Einfühlendes Verstehen – Der Therapeut bemüht sich, sich in das subjektive Erleben des Klienten mit seinen ständig wechselnden Gefühlsbedeutungen hineinzuversetzen, ohne zu bewerten und ohne Urteile zu fällen, dabei auch die emotionalen Bedeutungen zu erfassen, die am Rande des Gewahrseins des Klienten liegen, ohne ihn zu drängen, z. B. abgewehrte Anteile aufzudecken (Empathie). 6. Wahrnehmung/Vermittlung – Nach Rogers ist psychisches Wachstum mit positiven Veränderungen erst dann möglich, wenn der Klient den Therapeuten und die therapeutische Beziehung auch tatsächlich als echt, wertschätzend und empathisch erlebt. Daher bemüht sich der
Therapeut, seine durch Echtheit, Wertschätzung und empathisches Verstehen geprägte Haltung sowie das, was er vom Klienten zu verstehen glaubt, dem Klienten verbal zu spiegeln und zu vermitteln. Selbstakzeptanz. Wenn der Therapeut die Äußerungen, Gefühle und Gedanken des Klienten grundsätzlich nicht be- oder abwertet, so ist es nach Rogers dem Klienten möglich, sich selbst gegenüber mehr und mehr eine akzeptierende, selbstwertschätzende Haltung zu entwickeln und einzunehmen: „Während sie (die Klienten, Anmerkung W. Eberwein) die verborgenen und ‚schrecklichen‘ Aspekte ihres Selbst bloßlegen, spüren sie, dass sich an der akzeptierenden Haltung ihres Gegenüber nichts ändert. Und nach und nach beginnen die Klienten, diese akzeptierenden Einstellungen sich selbst gegenüber anzunehmen und sich so, wie sie sind zu akzeptieren, womit sie Voraussetzungen für ihre Weiterentwicklungen schaffen.“ (Rogers 1987, S. 33)
7.2 Empathie
» Es ist im Leben sehr selten, dass uns jemand zu-
hört und wirklich versteht, ohne gleich zu urteilen. Dies ist eine sehr eindringliche Erfahrung. Carl Rogers
«
Das therapeutische Ambiente. Wenn ein Klient einen Therapeuten aufsucht, so weiß er in der Regel zu Beginn der Therapie weder genau, was der Kern dessen ist, woran er leidet, noch was die Ursachen seines Leidens sind, noch was ihm helfen könnte. Was er braucht, ist die ungeteilte, nicht wertende und nicht manipulierende, offen zugewandte Aufmerksamkeit des Therapeuten bei gleichzeitiger professioneller Abgegrenztheit. Der Klient braucht, dass der Therapeut ihn aushält und annimmt, auch in den Bereichen, in denen der Klient sich zunächst selbst nicht aushalten und annehmen kann. Er braucht eine Atmosphäre, in der er sich reflektieren, seine Gedanken und Empfindungen ordnen und Kontakt mit den tieferen Schichten seines Inneren aufnehmen kann. Er braucht das Gefühl, dass er in seinem Wesen und seinem Wohl dem Therapeuten am Herzen liegt, und dass er diesem als Person wichtig ist, ohne dass aber der Thera-
peut vom Leiden des Klienten infiziert oder destabilisiert wird. Einfühlendes Verstehen. Einfühlendes Verstehen ist eine Basisfertigkeit jedes psychotherapeutischen Handelns. Es ist die grundlegende Haltung der Personzentrierten Psychotherapie. Heinz Kohut (1913–1981), Arzt, Psychoanalytiker und Begründer der Selbstpsychologie, kam von einem psychoanalytischen Hintergrund aus zu einer Methodik, die dem empathischen Verstehen in der Personzentrierten Psychotherapie in der Praxis nahe kommt. Grundgedanke sowohl bei Rogers als auch bei Kohut ist, dass jeder Mensch ein tiefes Bedürfnis nach wohlwollender Aufmerksamkeit und wertschätzender Zuwendung ohne infragestellende Kritik und eigennützige Manipulation hat. In Phasen und Bereichen emotionaler Verwirrung und Desorientiertheit steigt das Bedürfnis nach bedingungslosem Angenommenwerden stark an. Wer sich innerlich zerrissen, instabil oder in Gefühlsknoten gefangen fühlt, braucht echte, persönliche Anteilnahme und wohlwollende, um Verstehen bemühte Aufmerksamkeit. Wenn der
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Verfahren und Techniken
Klient sich als Person angenommen und wertgeschätzt fühlt und den emotionalen Raum verspürt, auch unangenehme, schmerzliche, peinliche oder angstbesetzte Gefühle und Fantasien wahrzunehmen und auszudrücken, so stabilisiert das seine Selbststruktur und stärkt seine Fähigkeit und Bereitschaft, sein Inneres zu erkunden. Empathie. Unter Empathie versteht man in der Humanistischen Psychotherapie ein Sich-Einfühlen und Sich-Hineinversetzen in den inneren Bezugsrahmen eine anderen Person (speziell des Therapeuten in den Klienten), ohne die eigene Identität zu verlieren, im Sinne einer stellvertretenden Introspek tion. Empathie ist Mitfühlen ohne mitzuleiden. Empathie ist besonders dort erforderlich und hilfreich, wo der Klient sich selbst nicht angemessen spüren oder reflektieren kann. Im Alltag ist Empathie und Selbstempathie die Basis zwischenmenschlicher Beziehungen und insbesondere konstruktiver Konfliktlösungen. Empathie als Haltung. Psychotherapeutische Empathie ist keine mechanisch praktizierbare Psychotechnik, die ohne persönlichen Bezug zum anderen unbeteiligt ausgeübt werden könnte. Carl Rogers verwahrte sich gegen die Verzerrung der von ihm herausgearbeiteten empathischen Grundhaltung zu einer kalten Technik, die in Form von Skill-Trainings oder als bloße Sprachmuster vermittelt werden könnte (Rogers 1980). Empathie ist eine humanistische Grundeinstellung. Jeder Psychotherapeut, aber auch jeder Mediziner, Lehrer, Sozialarbeiter, jede Arzthelferin, jede Mutter, Liebespartner/in oder Nachbar/in braucht, um mit anderen Menschen respektvoll und angemessen umgehen zu können, die Fähigkeit, sich in diese einzufühlen und auf die Stimmungen, Wünsche und Befürchtungen anderer Menschen empathisch und angemessen abgegrenzt zu reagieren. Für Humanistische Psychotherapeuten gilt dies in besonderem Maße. Tiefenempathie. Empathie in der Humanistischen Psychotherapie richtet sich nicht nur auf die bewusst zugänglichen Schichten des Erlebens, sondern besonders auf die Tiefenschichten des Gewahrseins, die dem Klienten nur vage bewusst sind, sowie darauf, wie der Klient den Therapeuten, die therapeutische Beziehung und seine Beziehungen zu anderen wichtigen Personen erlebt.
Öffnung. Wenn der Klient sich vom Therapeuten verstanden fühlt, wenn er spürt, dass der Therapeut ihn ebenso oder vielleicht sogar noch tiefer versteht als er sich selbst, wenn der Therapeut dem Klienten sein Verstehen und das Verstandene vermittelt und ihm Worte, Symbole und Konzepte anbietet, die ihm helfen, sein Erleben einzuordnen und zu sortieren, dann öffnet sich die Seele des Klienten. Er fühlt sich sicher. Er spürt, dass er ankommt und angenommen wird. Er kann seine gewohnheitsmäßigen Schutzbarrieren allmählich öffnen und mit Begleitung des Therapeuten immer tiefer in sein Inneres hineinspüren. Annehmen und Integration. Die Erfahrung, vom Therapeuten verstanden, akzeptiert und angenommen zu werden, auch in Bereichen, in denen sich der Klient zunächst selbst nicht versteht und nicht akzeptieren kann, ist für den Klienten entlastend. Wenn das psychisch Ausgegrenzte im zwischenpersönlichen Kontakt zum Therapeuten auf wohlwollende Annahme trifft, so traut sich im Innern des Klienten immer mehr auch geheim gehaltenes Erleben an die Oberfläche des Gewahrseins und kann Stück für Stück integriert werden. Der Klient erlebt seine abgewehrten Anteile als nachvollziehbar und formulierbar. Die automatisierte Gewohnheit des Klienten, diese Anteile vor anderen und sogar vor sich selbst verborgen zu halten, nimmt ab. Der Klient wird vollständiger und ausgeglichener. Sein Selbstkonzept erweitert und harmonisiert sich. Eine von Fragmentierung bedrohte Selbststruktur wird durch konsequente empathische Zugewandtheit stabilisiert. Das stabilisierte Ich befähigt den Klienten dazu, Probleme zu bewältigen, die ihm im Zustand der strukturellen Instabilität als überfordernd und nicht zu bewältigen erschienen wären: „Wenn der andere verletzt, verwirrt, gequält, verängstigt, entfremdet, erschreckt ist oder wenn er an seinem Selbstwert zweifelt, sich seiner Identität nicht sicher ist, dann ist Verstehen nötig. In solchen Situationen ist mitfühlendes Verstehen, glaube ich, das kostbarste Geschenk, das man einem anderen machen kann.“ (Rogers 1980, S. 93). Ein 44-jähriger Klient mit einer (narzisstischen) Selbstwertproblematik kippt seit vielen Jahren zwischen einem grandiosen, überlegenen Selbst-
7 Wertschätzendes Einfühlen 73
Zustand und einem entwerteten, autodestruktiven Zustand hin und her. Er kann seine Phasen massiver Selbstentwertung und besonders seine darin auftretenden Impulse, alle seine tragenden Bindungen zerstören zu wollen, schwer annehmen. In seinen ausgeglichenen Zeiten schämt er sich für seine Selbstwert-Einbrüche und ist damit beschäftigt, wie er diese Anteile „wegkriegen“ kann. Im Laufe einer jahrelangen therapeutischen Begleitung durch viele dieser selbstentwertenden Phasen hindurch gelingt es uns allmählich gemeinsam immer mehr, das verzweifelte „innere Kind“ zu verstehen, in das hinein der Klient in seinen Selbstentwertungsphasen regrediert. Das ermöglicht dem Klienten, sein inneres Kind gleichsam in die Arme zu nehmen und es in seiner Panik durch Geduld und Zuwendung zu beruhigen. Dadurch nimmt die Intensität der narzisstischen Einbrüche allmählich ab. Der Klient wird insgesamt stabiler und gefestigter.
» Sehen, dass du nur du bist, wenn du alles bist,
was du bist: das Zarte und das Wilde, das, was sich anschmiegen und das, was sich losreißen will. Erich Fried
«
Einfühlung in das Fremde. Empathie bedeutet nicht, dem Klienten in all seinen Bewertungen zuzustimmen oder die Sichtweisen des Klienten stets unhinterfragt zu übernehmen. Es ist im Gegenteil erforderlich, dass sich der Therapeut im Prozess des Einfühlens seiner eigenen, vom Klienten unterschiedenen Empfindungen, Standpunkte und Wertungen gewahr bleibt. Die Erfahrungen des Therapeuten und die des Klienten sind niemals gleich. Empathisches Verstehen darf nicht zu grenzverwischender Identifikation werden. So wäre es für einen Humanistischen Psychotherapeuten sicherlich eine große Herausforderung, aber dennoch möglich, sich in gewissem Umfang in einen Gewaltverbrecher, einen militanten Rassisten oder einen religiösen Fundamentalisten einzufühlen, ohne aber dessen Sichtweise, Wertungen und Handlungsimpulse gutzuheißen oder als seine eigenen zu übernehmen. In der Arbeit mit strukturgestörten Klienten, mit Straftätern und in der Gewaltprävention, aber auch in der Psychotherapie mit Klienten aus anderen Kulturen ist die Gleichzeitigkeit von Verstehen und Eigenständigkeit des Therapeuten zentral für eine förderliche therapeutische Haltung.
Ähnliches als Brücke. Dem Therapeuten können ähnliche eigene Erfahrungen oder Erlebnisweisen als Brücke zum Einfühlen in das Fremde dienen, das er selbst nicht kennen kann. Je mehr der Therapeut sich in seinen eigenen Tiefen erkundet hat, umso mehr findet er in sich selbst Erlebnisweisen, die denen von Schizophrenen, Fragmentierten, Drogenabhängigen, Delinquenten, Perversen oder Gewalttätern ähneln. Wir alle tragen latent all diese Strukturen in uns, nur werden sie bei manchen Menschen manifest und dominieren zeitweise Erleben und Verhalten, in anderen Menschen bleiben sie im Hintergrund, sind aber dennoch als Möglichkeit vorhanden, können unter Stress aktiviert werden und sind daher der Tiefenselbsterkundung grundsätzlich zugänglich. Verwurzelung des Therapeuten. Mit der Vertiefung der therapeutischen Beziehung werden die Gefühle, Zustände und Beziehungsmuster des Klienten zunehmend im Inneren des Therapeuten gespiegelt. Durch seine eigene Person hindurch kann der Therapeut dann in seinem Inneren manchmal auch solche Aspekte der Innenwelt des Klienten wahrnehmen, die der Klient nicht oder nur vage spürt oder nicht zu spüren wagt. Wo der Therapeut dagegen selbst abwehrt oder ausagiert, hat der Klient keinen sicheren Boden unter den Füßen. Er muss sich vorsehen und hält seine Abwehr geschlossen, statt weiter in die Tiefe zu spüren. Rogers (2004) betont, dass das empathische Begleiten die Fähigkeit des Therapeuten voraussetzt, eigene Ansichten und Wertvorstellungen vorübergehend beiseite zu stellen, um die Welt des Klienten ohne Vorurteile betreten zu können. Das sei nur einer Person möglich, die in sich selbst sicher genug sei, um zu wissen, dass sie in der (möglicherweise seltsamen oder bizarren) Welt des Anderen nicht verloren geht und in ihre eigene Welt zurückkehren kann, wenn sie das will. Empathieblockierungen. Das akzeptierende SichEinfühlen in den Klienten ist manchmal schwer durchzuhalten, vor allem, wenn der Klient Themen anspricht oder Beziehungsdynamiken aktiviert, die im Therapeuten Abwehrprozesse auslösen. Der Therapeut spürt dann vielleicht Unwillen, emotionalen Rückzug oder Impulse, dem Klienten Veränderungsrezepte anzubieten oder ihn in Richtung einer für den Therapeuten naheliegenden Lösung drängen zu wollen. Diese Impulse sollten als Ergebnis einer unterschwelligen emotionalen Kommuni-
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Verfahren und Techniken
kation mit dem Klienten (als Gegenübertragung) betrachtet, behandelt und gegebenenfalls in der Supervision des Therapeuten bearbeitet werden. Versprachlichen. Der Therapeut bemüht sich, dem Klienten das Verstehen und das Verstandene durch Worte, durch seine Stimmlage und durch seinen nonverbalen Ausdruck mitzuteilen (zu spiegeln). Mit seinen um immer tieferes Verstehen bemühten Äußerungen stellt der Therapeut dem Klienten Begriffe zur Verfügung, die es dem Klienten erleichtern können, sein eigenes Erleben in Worte zu fassen und in sein Bewusstsein zu integrieren. Das ermöglicht dem Klienten, auch in seinen Alltagsbeziehungen verbal zu vermitteln, wie es ihm geht und was in ihm vorgeht, statt alte, Leid aufrechterhaltende Muster reflexartig auszuagieren. Oft spürt der Klient etwas, aber er findet dafür zunächst keine Worte. Er kann nicht einordnen, was er empfindet, oder seine Empfindungen sind so vage, verwirrend oder widersprüchlich, dass er sie schwer in Worte fassen kann. Der Therapeut kann ihn ermutigen, Vergleiche, Symbole oder Bezeichnungen zu finden, die dem Klienten passend erscheinen, um sein inneres Erleben zum Ausdruck zu bringen. Wenn dem Klienten das nicht gelingt, kann der Therapeut ihm Formulierungen oder Analogien anbieten, die der Klient auf Übereinstimmung mit seinem Erleben prüfen kann. Eine Klientin liegt etwa zehn Minuten lang schweigend mit geschlossenen Augen auf einer Matratze. Eine Träne sickert aus ihren Augenwinkeln. In mir taucht die Fantasie eines kleinen Mädchens auf, das erschrocken und traurig in einer Ecke steht, weil es ausgeschimpft wurde, aber nicht weiß, warum. Ich sage: „Wie fühlt sich das an, diese … Traurigkeit … oder … dieses Erschrockensein …?“ Wieder schweigt sie für einige Minuten, dann sagt sie: „Ich kann es schwer beschreiben … Ich bin so traurig … Ich fühle mich … ausgeschlossen … und ich weiß gar nicht warum.“ Meine Verbalisierungsversuche haben sie ermutigt, ihre Gefühle in ihre eigenen Worte zu fassen.
Meta-Gefühle. Wenn der Therapeut den Klienten empathisch begleitet, dann ist es wichtig, dass er auch die Meta-Gefühle des Klienten erfasst. Meta-Gefühle sind die Gefühle des Klienten seinen Gefühlen gegenüber, also die Art, wie der Klient seine eigenen Gefühle emotional bewertet.
In einem Vorgespräch spricht eine Klientin von ihrer Tendenz, sich „in Prüfungssituationen in eine hysterische Überaufgeregtheit hineinzusteigern“. Dabei werden ihre Augen feucht und sei weint. Dann presst sie die Lippen zusammen, schüttelt den Kopf und sagt: „Diese ständige Heulerei macht mich wahnsinnig. Ich kann doch nicht immer nur traurig sein.“ Ich frage: „Fühlst du dich überfordert von deiner Traurigkeit und versuchst darum, sie wegzumachen?“ Die Klientin nickt. Ich habe anscheinend zutreffend Meta-Gefühle gespiegelt.
Selbstempathie. Der Sinn des empathischen Begleitens durch den Therapeuten ist es, die Selbstempathie des Klienten zu fördern, also zu bewirken, dass der Klient seine Innenwelt immer genauer und vollständiger spürt und versteht, die Bedeutung seiner Gefühle und Zustände und ihre Eingewobenheit in seine aktuellen und biografischen Beziehungskontexte erfasst, sich innerer Anteile und Zusammenhänge gewahr wird, die ihm vorher nicht zugänglich waren und eine immer genauere Abstimmung vornimmt zwischen dem, wie er sich erlebt und seiner Vorstellung von sich selbst. Wertschätzung. Über das Spiegeln der in den Klientenäußerungen zum Ausdruck kommenden Gefühle und Bedürfnisse hinaus kann der Therapeut, sofern es seiner tatsächlichen emotionalen Reaktion entspricht, dem Klienten sein ehrliches Interesse, seine Wertschätzung und seinen Respekt sowie seine persönliche Anteilnahme und gegebenenfalls Sorge um den Klienten mitteilen. Eine Klientin erwähnt beiläufig in einem Nebensatz, dass sie manchmal nicht mehr wisse, ob es sich noch lohne weiterzuleben. Ich mache mir Sorgen, ob die Klientin suizidgefährdet ist und sage zu ihr: „Ich bin gerade wirklich darüber erschrocken, dass du das so beiläufig erwähnst. Ich bin besorgt, ob du vielleicht gefährdet sein könntest. Kannst du mehr dazu sagen?“ Die Klientin ist sichtlich berührt von meinen Worten. Sie beschreibt phasenartig auftretende Verzweiflungsgefühle, in deren Verlauf sie Suizidgedanken hat, nicht aber konkrete Suizidabsichten. Gegen Ende der Therapie teilt die Klientin mir mit, dass meine persönliche Anteilnahme in dieser Sitzung sehr wichtig für sie gewesen sei. Sie habe ihr emotionalen Halt gegeben „in einer Phase, in der es auch hätte schlimmer werden können“.
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Übernahme der Klientenperspektive. Im Modus des einfühlenden Verstehens stellt der Therapeut sein eigenes Selbst vorübergehend beiseite, um „in die Haut des Klienten zu schlüpfen“ und das Erleben des Klienten so weit wie möglich aus dessen subjektiver Sicht nachzuerleben und zu spiegeln. Die Empathie des Therapeuten dient für den Klienten als stellvertretende Introspektion. Der Therapeut benennt stellvertretend für den Klienten auch solche Gefühle und Bedürfnisse, die in dessen Äußerungen und Signalen zum Ausdruck zu kommen scheinen, für den Klienten aber noch nicht sagbar sind. Die konsequente Übernahme der Klientenperspektive ist ein Kennzeichen sowohl der Gesprächspsychotherapie nach Rogers als auch der Selbstpsychologie nach Kohut (Finke 2003, Kohut 1989). Partielle Identifikation. Einfühlung ist der Versuch einer inneren Nachformung des Erlebens des anderen. Es handelt sich um ein zeitlich begrenztes Sich-Identifizieren, um eine partielle identifikatorische Teilhabe am Erleben des anderen. Diese Teilhabe darf allerdings nicht ihren Als-ob-Charakter verlieren. Im Rahmen einer professionellen therapeutischen Beziehung ist es unabdingbar, dass das Einfühlen nicht zum „Eins-Fühlen“ wird, dass es also nicht zu einer Gefühlsansteckung (Stimmungsübertragung) kommt, in der Klient und Therapeut emotional miteinander verschmelzen. Ein emotional verschmolzener Zustand ist eine Abwehr gegen die Anerkennung der tatsächlichen Unterschiedenheit beider Personen. Wenn Klient und Therapeut emotional verschmelzen, dann zieht der Klient den Therapeuten in seinen leidvollen Gefühlsstrudel mit hinein, und damit ist niemandem gedient. In der therapeutischen Beziehung ist daher gleichzeitig zum empathischen Begleiten eine professionelle emotionale Distanz erforderlich, bei der sich der Therapeut seines Getrenntseins und Andersseins bewusst bleibt. Bezugssysteme. Um nah an der Eigenwahrnehmung des Klienten zu bleiben, versucht der Therapeut den Klienten in dessen eigenem Bezugssystem zu verstehen (Rogers 1973). Unweigerlich begegnet der Therapeut dabei dem Klienten mit einem Vorverständnis und mit seinem eigenen, durch seine Lebenserfahrung und seine Ausbildungen geprägten Bezugssystem. Im Prozess des Verstehens entfaltet sich zwischen dem Bezugssystem des Therapeuten, dem Bezugssystem des Klienten, dem Bemühen des Klienten, sich mitzuteilen, und
dem Bemühen des Therapeuten, den Klienten zu verstehen, eine Dialektik, die immer tiefere Schichten des Erlebens des Klienten erreicht.
Ein homosexueller Klient, der als Jugendlicher vielfach homosexuell missbraucht wurde, ist in einem Land aufgewachsen, das, als der Klient ein Kind war, diktatorisch religiös-fundamentalistisch regiert wurde. Ich gehe von der Vorannahme aus, dass dort Homosexualität von drakonischen Strafen bedroht und massiv sozial geächtet gewesen sei. Im Laufe der Therapie korrigiert der Klient meine Vorstellung: „Homosexualität war und ist in meinem Heimatland gesetzlich verboten, sie wird drastisch bestraft, aber insgeheim war sie im Umfeld meiner Familie sehr verbreitet. Viele meiner Freunde hatten schon als Jugendliche homosexuelle Kontakte zu älteren Männern, die nach außen hin fromme Bürger und brave Familienväter waren. Wo ich aufgewachsen bin, galt außerdem nur die passive Ausübung von homosexueller Sexualität (das Penetriertwerden, W.E.) als verpönt und ‚unmännlich‘, die aktive Ausübung, auch mit Jugendlichen, war de facto sozial akzeptiert.“ Nun konnte ich mich differenzierter in die emotionalen und moralischen Zwiespälte einfühlen, die in dem Klienten im Laufe von fortgesetzten sexuellen Traumatisierungen im Jugendalter entstanden waren.
Aspekte und Stufen des einfühlenden Verstehens. • Der Begriff Einfühlung benennt die emotionale Komponente der psychotherapeutischen Hermeneutik. • Der Begriff Verstehen fokussiert den kognitiven Aspekt und besonders die Erfassung biografischer Sinnbezüge. Finke (2003) unterscheidet sechs Stufen des einfühlenden Verstehens: 1. Akzentuierendes Wiederholen. Der Therapeut stellt akzentuierend heraus, was er für den Kern der Aussage des Klienten hält. 2. Aufgreifen des vorherrschenden Gefühls. Der Therapeut spricht Gefühle des Klienten an, die von diesem nicht ausdrücklich benannt werden, aber durch den Kontext seiner Aussagen naheliegen. Auf diese Weise regt der Therapeut den Klienten an, sich nicht nur mit äußeren Ereignissen und dem Verhalten anderer Menschen zu beschäftigen, sondern sich mit seinen Gefühlen in Bezug auf diese Ereignisse auseinanderzusetzen.
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Verfahren und Techniken
3. Verdeutlichung des situativen Kontexts (konkretisierendes Verstehen). Der Therapeut hebt die unmittelbaren situativen Zusammenhänge des Erlebens des Klienten hervor, insbesondere dessen Bedürfnisse und Beziehungserwartungen. 4. Aufgreifen von selbstreflexiven Gefühlen. Der Therapeut hebt Zusammenhänge zwischen dem Erleben des Klienten und dessen Selbstbewertungen sowie Einstellungsmustern hervor. 5. Aufgreifen von haltungsprägenden Gefühlen und Bedürfnissen. Der Therapeut stellt Bezüge zu Emotionen her, die im Klienten schon lange bestehen und dessen Selbst- und Weltsicht prägen, die aber nicht explizit, sondern nur vorsymbolhaft ausgedrückt werden. 6. Verdeutlichung des lebensgeschichtlichen Kontextes. Der Therapeut stellt Bezüge zwischen dem aktuellen Erleben des Klienten und dessen biografischen Beziehungskonstellationen und Sinnzusammenhängen her. Beziehungsansprache. Wenn der Klient direkt ausdrückt, wie er den Therapeuten und die therapeutische Beziehung erlebt, so wird das in der Gesprächspsychotherapie als Beziehungsansprache bezeichnet. Geschieht dies nur indirekt, beispielsweise nonverbal, in allgemeiner Form, durch Reden über Dritte, über sich selbst oder durch Schweigen, so wird das Beziehungsanspielung genannt (Finke 2003). Ein Personzentrierter Psychotherapeut lässt sich vom Klienten als reale Person meinen, auch dann, wenn die Ansprache nur indirekt, also in Form von Beziehungsanspielungen erfolgt. Finke (2003) vergleicht mögliche Reaktionen eines männlichen Therapeuten auf den Satz einer weiblichen Klientin: „Ich weiß nicht, ob Männer so etwas überhaupt verstehen können.“
• Ein
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Therapeut könnte darauf antworten: „Sie möchten in dem, was Ihnen nahegeht, angenommen und erkannt werden.“ Mit dieser Reaktion würde sich der Therapeut bemühen, das Erleben der Klientin zu spiegeln, ließe sich selbst und das indirekte Gemeint-Sein seiner Person durch die Anspielung der Klientin aber außen vor. Wenn der Therapeut dagegen beispielsweise antwortet: „Sie zweifeln vielleicht, ob ich als Mann das, was Ihnen wichtig ist, wirklich nachvollziehen kann“, dann lässt sich der Therapeut von der Klientin unmittelbar meinen und bezieht ihre Reaktion auf ihn als männlichen Therapeuten in sein empathisches Spiegeln ein.
Selbstöffnung. Ob, inwieweit, auf welche Weise und zu welchem Zweck der Therapeut sich dem Klienten gegenüber emotional öffnen sollte, ist in den verschiedenen Schulen der Humanistischen Psychotherapie umstritten. Rogers (1977) vertrat die Position, dass sich der Therapeut „selektiv“ dem Klienten gegenüber transparent machen solle, in dem Sinne, dass er seine emotionale Resonanz auf die Mitteilungen des Klienten und auf die Dynamik der therapeutischen Beziehung dem Klienten auf kontrollierte Weise mitteilt.
Eine 28-jährige Klientin erzählt mir aufgewühlt, wie sie im Alter von 14 Jahren auf brutale Weise vergewaltigt wurde. Sie sagt, sie habe bisher noch niemals mit jemandem darüber sprechen können und fragt mich dann: „Wie geht es dir damit, wenn du das hörst?“ Ich antworte: „Ich bin wirklich erschüttert.“ Das ist die Wahrheit und ich glaube, dass es wichtig und therapeutisch hilfreich für die Klientin ist, auf ihre Frage eine offene und direkte Antwort zu erhalten.
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7.3 Focusing Eugene Gendlin, *1926, Psychologe, Philosoph und Begründer der Focusing-Technik, bezieht sich philosophisch auf die Hermeneutik Diltheys und den amerikanischen Pragmatismus von William James. Er war 1957–1963 Leiter eines Forschungsprojektes mit schizophrenen Klienten in Wisconsin/USA in der Nachfolge von Carl Rogers. Sein 1978 veröffentlichtes Buch „Focusing“ wurde in zehn Sprachen übersetzt und fand auch unter NichtPsychotherapeuten großen Zuspruch.
Abb. 7.2 Eugene Gendlin (mit freundlicher Genehmigung von Nada Lou).
Der Focusing-Prozess. Focusing ist eine sanfte, sowohl verbale als auch trance- und körperorientierte Technik der Humanistischen Psychotherapie, um unterschwelliges Erleben zugänglich zu machen und in Worte fassen zu lernen. Focusing wurde von Eugene Gendlin auf Basis der Personzentrierten Gesprächspsychotherapie entwickelt (Gendlin 1998, 2004). Der Kern der Focusing-Technik besteht darin, den Klienten zu ermutigen, seine Themen im Inneren seines Körpers als ganzheitliches Erleben zu erspüren und eine Beziehung dazu aufzunehmen. Beim Focusing orientiert sich der Klient an bedeutungsvollen Körperempfindungen, die als Felt Sense (etwa: gefühlte Bedeutung) bezeichnet werden. Der Klient fühlt den Felt Sense in seinem Körper als ganzheitliche somatische Resonanz auf das Thema, mit dem er sich gerade beschäftigt. Der Focusing-Prozess kann informell und beiläufig oder formalisiert als strukturierte Technik angewandt werden. Entstehung. Gendlin untersuchte in den 1960erJahren Erfolge und Misserfolge psychotherapeutischer Behandlungen. Er überprüfte die Resultate klassischer und moderner Therapieverfahren und analysierte tausende von Therapiestunden, die auf Tonband aufgenommen worden waren. Er fand heraus, dass Klienten, die erfolgreiche Psychotherapien durchlaufen hatten, eine ganz
bestimmte Art hatten, sich mit ihren Problemen auseinanderzusetzen. Diese Art der Selbstauseinandersetzung konnte bereits im Laufe der Therapie identifiziert werden, und daraus konnte der spätere Therapieerfolg vorhergesagt werden. Der positive psychotherapeutische Effekt wurde nicht so sehr davon bestimmt, worüber ein Klient inhaltlich sprach, sondern vielmehr dadurch, auf welche Weise er über seine Themen und Probleme sprach und nachdachte. Zu therapeutisch wirksamen Veränderungen kam es vor allem dann, wenn der Klient beim Denken und Sprechen über ein Thema die Aufmerksamkeit immer wieder darauf richtete, was er in seinem Körper erlebte. Nach Gendlin spürt der Klient in seinem Körper die emotionale Bedeutung, die das Thema für ihn hat. Gendlin entwickelte eine Trainingsmethode, mit der der Klient lernen konnte, in Kontakt mit dieser emotionalen Bedeutung zu kommen und zu bleiben und nannte sie Focusing. Das Erleben der subjektiven Bedeutung eines Themas im Körper betrachtete Gendlin als Bindeglied zwischen Denken und Fühlen, zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten sowie als zentrale Navigationshilfe für den therapeutischen Prozess. Prinzip. Focusing ist eine Technik des inneren Feedbacks durch Selbstwahrnehmung subtiler,
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Verfahren und Techniken
ganzheitlicher Körperempfindungen. In der Focusing-Technik geht es um eine spezielle Form des Kontakts zur eigenen Innenwelt. Der Klient wird eingeladen, sich in seinem Inneren einen Raum für die Wahrnehmung seiner ganzheitlichen körperlichen Reaktion auf ein Thema zu schaffen, zunächst ohne diese Empfindungen zu benennen oder auf andere Weise zu symbolisieren. Die ganzheitliche Körperempfindung (Felt Sense) verändert sich im Laufe des Prozesses, wenn sie verstanden und zutreffend symbolisiert wird. Der Felt Sense. Die Grundidee beim Focusing ist, dass im Felt Sense wie in einem Hologramm alle Aspekte der persönlichen Bedeutung eines Themas für den Klienten in einer präsymbolischen Form enthalten sind. Der Felt Sense ist nach Gendlin die noch ungreifbare, noch unbestimmte, unbenannte innere Ganzheitswahrnehmung eines Themas. Wenn man zu früh versucht, das Ganzheitsgefühl zu benennen (zu symbolisieren), dann redet man darüber hinweg, und wesentliche Aspekte und Tiefendimensionen gehen verloren. Der Felt Sense besteht nicht aus Gedanken, Worten oder klar identifizierbaren Gefühlen. Er ist eine vage, holistische, körperliche Ganzheitsempfindung. Der Felt Sense ist nicht mit dem identisch, was wir als Gefühl bezeichnen und er ist auch nicht mit den unmittelbaren Körperempfindungen gleichzusetzen. Wenn der Klient zu Thema X ein Gefühl wahrnimmt, sich
z. B. bedrückt oder aufgeregt fühlt, so ist das nicht der Felt Sense. Der Felt Sense ist die ganzheitliche Empfindung, die die Bedeutung des Themas für den Klienten in all ihren Aspekten und in seiner ganzen Fülle und Tiefe trägt. Es erfordert etwas Zeit (etwa 10–30 Sekunden), um den Felt Sense als vage, umfassende Ganzheit wahrzunehmen. Bei einer freundlichen inneren Beziehungsaufnahme zum Felt Sense entstehen aus ihm heraus Symbolisierungen (Worte, Bilder, Gesten u. ä.), die evident die Bedeutung des Themas für den Klienten auf den Punkt bringen, weiterentwickeln und verändern. Die sechs Schritte des Focusing. Gendlin (1998) beschreibt den Focusing-Prozess in sechs Schritten. Diese Schritte sind nicht als mechanisch streng einzuhaltender Ablauf zu verstehen, sondern eher als didaktische Einheiten, die das Erlernen von Focusing erleichtern und die sich allmählich integrieren, wenn Focusing zu einem intuitiven Prozess geworden ist. 1. Den Raum bereiten (siehe Abb. 7.3): Der Therapeut leitet den Klienten an, die Augen zu schließen, es sich bequem zu machen, in seinen körperlichen Innenraum hineinzuspüren, mit seiner Aufmerksamkeit dort zu verweilen und zu beobachten, was er dort wahrnimmt, wenn er sich mit seiner inneren Stimme beispielsweise folgende Fragen stellt: „Wie geht es Abb. 7.3 Den Raum bereiten.
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mir in meinem Leben?“ oder „Was ist jetzt das Wichtigste für mich?“ Der Therapeut kann den Klienten auch bitten, mit seiner inneren Stimme zu sich selbst zu sagen: „In meinem Leben ist alles wunderbar“, dann soll der Klient spüren, wie sein Körper auf diesen Satz reagiert. In der Regel spürt der Klient dann z. B. ein Gefühl von Unwohlsein in Zusammenhang mit kleinen oder großen Problemen, die ihn belasten. Der Therapeut bittet ihn, diese Probleme imaginativ vor sich zu positionieren, sodass er sie „im Blick“ hat. Dann bittet der Therapeut den Klienten, sich selbst mit seiner inneren Stimme z. B. zu fragen: – „Wenn diese Probleme gelöst wären, wäre dann alles okay?“ – „Abgesehen davon, fühle ich mich gut und voller Freude in meinem Leben?“ – „Wenn das gelöst wäre, was würde ich in meinem Körper spüren? Der Klient soll auf diese Fragen nicht unmittelbar antworten, sondern das innere Ganzheitsempfinden spüren, das als Reaktion auf die Frage entsteht. Er soll in diese Empfindungen aber nicht tiefer hineingehen und sie auch zunächst nicht verstehen wollen oder benennen. Der Klient soll zunächst nur innerlich wahrnehmen mit der Haltung: „Aha, das ist also da … und das ist auch noch da … und das auch noch.“ Er soll in seinem Inneren gleichsam einen kleinen Abstand lassen zwischen sich und seinen Empfindungen, während er mit ihnen in Kontakt ist. Er soll in seinem inneren Raum seine Themen und Probleme auflisten, mit der (dissoziierenden) Einstellung: „Ich habe diese Gefühle/Probleme, aber ich bin sie nicht“. Er soll seine Empfindungen wahrnehmen, sich aber nicht von ihnen einnehmen oder überfluten lassen. Dann soll er sich z. B. fragen: – „Was fühle ich noch?“ – „Wenn das geklärt wäre, wäre dann alles in Ordnung?“ Wiederum soll der Klient auf die „Bauchgefühle“ warten, die er als Reaktion auf diese inneren Fragen wahrnimmt. Einige seiner Themen bzw. Probleme stellt er gleichsam zur Seite, um sich gegebenenfalls später mit ihnen zu beschäftigen. Andere Themen und Probleme stellt er imaginativ oder im Rahmen einer symbolischen Inszenierung in die Mitte seines Gewahrseins, um sich jetzt damit zu befassen. Er fokussiert also ein möglichst klar umrissenes Thema oder Problem. Dann stellt er in seiner inneren Welt das zu fokussierende Thema oder Problem gleich-
sam vor sich hin. (Auf diese Weise entsteht eine gewisse schützende Dissoziation von dem Problem.) Schließlich findet sich der Klient in einem offenen inneren Freiraum, in dem er unabhängig von allen Problemen ist, die ihn belasten. Von diesem inneren Freiraum aus setzt sich der Klient im weiteren Verlauf mit seinen zu fokussierenden Problemen auseinander. Zu Beginn eines Wochenendworkshops meiner Therapiegruppe leite ich die Teilnehmer an, die Themen und Probleme, die sie zur Zeit beschäftigen, in Form großer, verschiedenfarbiger ZeichenkartonBlätter um sich herum zu legen. Ich bitte sie, auf jedes Blatt ein Symbol zu malen oder ein Stichwort zu schreiben, um zu verdeutlichen, worum es sich handelt. Die Teilnehmer können die Blätter auch in kleinere Stücke reißen, falten, zusammenknüllen, weitere Details darauf schreiben oder malen usw. Dann bitte ich sie, zusammengehörige Themen zueinander zu sortieren, den wichtigsten Themenkomplex vor sich hin zu legen und alle anderen, weniger wichtigen Themen an die Seite zu legen. Ich lade die Teilnehmer ein, zu spüren, welchen Abstand sie zu dem Zentralthema brauchen, damit es sie weder überwältigt noch zu sehr in die Ferne rückt. Ich bitte sie, sich in einer angemessenen Entfernung von dem zu fokussierenden Themenkomplex hinzustellen und sich diesen Themenkomplex in seiner Gesamtheit zu vergegenwärtigen.
2. Den Felt Sense entstehen lassen: Nun leitet der Therapeut den Klienten an, wahrzunehmen, was er im Inneren seines Körpers fühlt, wenn er an das zu fokussierende Thema denkt. Der Klient soll zunächst nicht aussprechen, was er wahrnimmt, sondern sich eine Weile (ca. 10–30 Sekunden) Zeit lassen, um sich in diese Empfindung hinein zu versenken. Auf diese Weise soll vermieden werden, dass sich der Klient auf einen oberflächlichen, ihm bereits gut bekannten Aspekt des Themas begrenzt oder auf eine bloß kognitive Weise darüber spricht. Als Faustregel beim Focusing kann gelten, dass eine schnelle verbale Reaktion des Klienten in der Regel aus seinem Kopf kommt, weil das Entstehenlassen und vertiefte Fühlen des Felt Sense eine kleine Weile dauert.
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Um die Teilnehmer einer Fortbildungsgruppe mit einem Felt Sense in Kontakt zu bringen, bitte ich sie, sich als Vorübung zwei Personen vorzustellen, die sie gut kennen. Dann sollen sie in ihrem Inneren zwischen diesen beiden Personen hin und her gehen und jeweils spüren, wie sich Person A als Ganzheit anders anfühlt als Person B. Fast alle Teilnehmer können spüren, dass sich der Felt Sense der beiden Personen unterschiedlich anfühlt, zunächst ohne dass sie die Unterschiede klar benennen könnten.
3. Einen Griff finden: Erst wenn der Klient den Felt Sense tief und umfassend fühlt, lädt der Therapeut ihn ein, Symbole (z. B. Begriffe, Bilder, Vergleiche, Gesten) aus ihm entstehen zu lassen. Der Therapeut kann den Klienten bitten, sich innerlich z. B. zu fragen: „Wie fühlt sich dieses ‚alles von Thema X‘ körperlich an?“, z. B.: „Wie fühlt sich ‚Berufswechsel/Kopfschmerzen/Trennung/ein Kind bekommen/Prüfungsangst‘ körperlich an?“ Er bittet den Klienten, ein erstes, noch vorläufiges Wort, ein Bild, ein Symbol, eine Analogie, eine Assoziation, eine Geste oder einen Stimmlaut aus dem Felt Sense heraus entstehen zu lassen, der zu diesem zu passen scheint. Wenn man Klienten auf diese Weise zu einem offenen Symbolisieren ermutigt, dann kommt als Begriff manchmal „funny language“ heraus, d. h. der Klient erfindet Worte wie z. B. „murkelig“, „schneidig“ oder „rinnig“. Es kann bspw. auch eine Kombination von Worten sein (z. B.: „angespannt … traurig“) oder ein visuelles oder akustisches Symbol (z. B.: „wie eine lachsfarbene Welle“, „wie Kreide, die auf einer Tafel quietscht“). Die Symbolisierung wird zunächst als vorläufig verstanden und im Focusing als Griff (engl.: handle) bezeichnet. 4. Den Griff mit dem Felt Sense abgleichen und der Body Shift: Nun fordert der Therapeut den Klienten auf, zwischen dem Griff und dem Felt Sense hin und her zu gehen und zu überprüfen, ob beide miteinander übereinstimmen und wie beide miteinander interagieren. In diesem Prozess, der als Resonating bezeichnet wird, kann der Felt Sense sich erweitern oder vertiefen. Wenn der Felt Sense zwischendurch verschwindet, bittet der Therapeut den Klienten, den Griff laut oder mit seiner inneren Stimme vor sich hin zu spre-
chen und dabei in sein Inneres hineinzuspüren. Beim Vergleichen kann sich der Felt Sense verändern, und der Griff kann sich verändern. Beide bewegen sich, öffnen sich, vertiefen sich, erweitern sich und bewegen sich aufeinander zu. Wenn sich der Klient unsicher ist, soll er sich wieder in den Felt Sense hineinversenken und wiederum Symbole aus ihm entstehen lassen. Der therapeutische Prozess besteht hier also über einige Zeit hinweg darin, zwischen Griff und Felt Sense (d. h. zwischen Begriffen und Empfindungen) zu pendeln, mit dem Ziel, die körperlich gefühlten Bedeutungen immer differenzierter, tiefer und umfassender zu erfassen und zum Ausdruck zu bringen. In aller Regel wird der Klient dabei feststellen, dass der Griff zunächst noch nicht wirklich oder nur teilweise passt. Er wird neue und andere oder differenziertere Begriffe, Worte, Symbole, Vergleiche oder Gesten finden, die die gespürte Bedeutung des Themas immer differenzierter und präziser zum Ausdruck bringen. Der Klient geht also zwischen Griff und Felt Sense hin und her, um die Symbolisierung immer präziser auf das körperliche Ganzheitsempfinden abzustimmen. Dabei wird die Wahrnehmung des Felt Sense immer genauer getroffen und der Felt Sense verändert sich auch inhaltlich (Content Mutation). Wenn der Griff in gewissem Umfang zu dem Felt Sense passt, spürt der Klient das als eine erste kleine, in der Regel subtile, manchmal aber auch überwältigende, deutlich spürbare, angenehme Öffnung, Entkrampfung oder Entspannung in seinem Körper, so als ob etwas ins Fließen kommt (Body Shift, engl für: körperlich spürbare Veränderung). Der Klient geht so lange zwischen Griff und Felt Sense hin und her, bis ihm ein Body Shift signalisiert, dass „es passt“. Von außen kann der Body Shift als körperliche Entspannung wahrgenommen werden. Der Body Shift ist der Kompass, der die Richtung zu einem immer präziseren Erfassen und zur Veränderung des Felt Sense weist. 5. Fragen: Der Therapeut kann den Klienten nun bitten, zu spüren, was in seinem Inneren geschieht, wenn er sich z. B. selbst fragt: „Was ist es, was deine Beziehung zu deiner Tochter so ‚murkelig‘ macht?, Was macht deine Berufsperspektive so ‚schneidig‘?, Was macht deine Beziehung so ‚rinnig‘?, Was macht deine Kopfschmerzen so ‚stichelnd‘?, Was ist das, das ‚schwarze Loch‘?,
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Was ist in ‚roter Ball‘?, Was braucht das ‚Flimmern in der Brust‘?“. Der Klient oder der Therapeut kann den Felt Sense auch direkt befragen. Beispielsweise könnte die Frage lauten: „Was willst du mitteilen?“ oder „Was brauchst du, um zu heilen?“. Es gibt viele Fragen, die hier gestellt werden können. Wichtig ist, dass der Klient nicht vorschnell aus dem Kopf heraus antwortet, sondern innerlich in Kontakt mit seinem Felt Sense bleibt, der spürbar wird, sich verändert und vertieft. Wenn der Klient reflexartig und schnell auf einer rein kognitiven Ebene antwortet, bittet der Therapeut ihn, sich wieder in seinen Felt Sense hineinzuversenken und die Antwort aus dem Felt Sense heraus entstehen zu lassen. Dieser Prozess wird so lange weitergeführt, bis der Klient in seinem Inneren eine Körperreaktion (ein Body Shift) spürt, die ihm zeigt: „Ja, das ist es“.
6. Empfangen: Am Ende des Focusing-Prozesses besteht eine gewisse Gefahr, dass der Klient wieder in seine gewohnten Schienen zurückfällt und das soeben im Focusing Erlebte zerredet, vergisst, verniedlicht oder entwertet. Daher leitet der Therapeut ihn zum Schluss an, sich das Erhaltene noch einmal zu vergegenwärtigen, wertzuschätzen und zu bewahren: „Was ist gekommen?“, „Was hast du erhalten?“, „Was hast du erfahren/erlebt/ gelernt?“ Der Therapeut kann den Klienten bitten, die Inhalte des Focusing nach der Sitzung aufzuschreiben oder zu malen. Er ermutigt den Klienten, alles, was er im Laufe des FocusingProzesses erhalten hat, anzunehmen und zu behalten, gleichgültig, was es ist, auch dann, wenn es nicht nur angenehm, nur ein subtiler Hinweis oder eine kleine Erleichterung war.
7.4 Gewaltfreie Kommunikation Marshall Rosenberg (*1934) ist Psychologe und Begründer der Gewaltfreien Kommunikation. Er wuchs in Detroit/USA auf, wo er als Kind Zeuge von Rassenunruhen wurde, und lebt heute in der Schweiz. Sein Konzept ist beeinflusst von seinem Lehrer Carl Rogers und von Mahatma Gandhis Prinzip der Gewaltfreiheit.
Abb. 7.4 Marshall Rosenberg (mit freundlicher Genehmigung von David Luczyn).
» Was das Dämonische vor der Anarchie rettet, ist der Dialog. Rollo May « Gewaltfreiheit. Gewaltfreie Kommunikation (GFK) ist ein von Marshall Rosenberg entwickeltes Konzept zur De-Eskalation von Konflikten und zur Herstellung oder Wiederherstellung eines empathischen Kontakts zwischen im Konflikt befindlichen Personen oder Gruppen. Dieses Konzept wird auch
im Rahmen von Humanistischen Therapieprozessen eingesetzt. Die Gewaltfreie Kommunikation hat nach der Veröffentlichung von Rosenbergs gleichnamigem Hauptwerk 2005 in vielen Ländern der Welt Verbreitung gefunden und wird als Methode der Konfliktbewältigung und der konstruktiven Kommunikation gelehrt und eingesetzt. Nach Rosenberg geht es in der Gewaltfreien Kommunikation nicht darum, den anderen dazu zu bringen, zu tun, was
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man selbst will. Ziel ist es vielmehr, die Anliegen aller beteiligten Parteien zu erkunden, zu berücksichtigen, wertzuschätzen und zu erfüllen. Nur wenn das gelingt, sei, so Rosenberg, ein Konflikt lösbar.
dann ist ihr Organismus angefüllt mit Stresshormonen, was es ihnen schwermacht, konstruktiv miteinander zu kommunizieren und sich emotional zugewandt miteinander zu verbinden.
Das Prinzip der Gewaltfreiheit. Die Idee der Gewaltfreiheit ist durch Mahatma Gandhi (1896– 1948) geprägt, dem geistigen und politischen Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung, die 1947 mit dem von ihm entwickelten Konzept des gewaltfreien Widerstandes das Ende der britischen Kolonialherrschaft herbeiführte. Im Mittelpunkt von Gandhis Weltanschauung standen die Sanskrit-Begriffe „Satyagraha“ (festhalten an der Wahrheit) und „Ahimsa“ (nicht-gewaltsam). Durch Gewaltlosigkeit und die Bereitschaft, notfalls auch Schmerz und Leiden auf sich zu nehmen, solle die Vernunft und das Gewissen des Gegners angesprochen werden.
Grundbedürfnisse. Rosenberg geht davon aus, dass die primäre Motivation von Menschen auch im Konflikt niemals darauf gerichtet ist, gegen andere Menschen oder deren Interessen zu handeln. Vielmehr will jede Seite im Grunde das, was auch die Gegenseite will, nämlich ihre Grundbedürfnisse befriedigen. Die Grundbedürfnisse aber sind, so Rosenberg, bei allen Menschen gleich und schließen einander letztlich nicht aus, sondern ein. Die Grundbedürfnisse des einen können letztlich nur erfüllt werden, wenn auch die Grundbedürfnisse des anderen erfüllt sind.
Entstehung von Gewalt. Gewalt entsteht laut Rosenberg durch die Nichterfüllung von Grundbedürfnissen. Besonders wenn alte Muster berührt sind und das „innere Kind“ frustriert oder gekränkt wird, – geht ein Mensch oft in die Offensive und wird wütend oder – er geht in die Defensive, zieht sich zurück und bricht den Kontakt ab, oder – er wird konfus und sendet unklare, ambivalente und verwirrende Botschaften aus (vgl. Abb. 7.5). Wut, Rückzug und Unklarheit im Konflikt sind Formen von Gewalt, weil sie zur Ausweitung einer Eskalationsspirale beitragen können. Wenn sich die Beteiligten bereits in einer Eskalation befinden,
Gewaltfreiheit als ethisches Prinzip. Um aus einer Eskalationsspirale herauszufinden, ist meines Erachtens zunächst eine Grundsatzentscheidung erforderlich, nämlich, sich an der Gewaltfreiheit als ethischem Prinzip auch im Angesicht von Gewalt zu orientieren, also Frieden und empathische Verbindung mit aller Kraft zu wollen, auch mit einem Menschen, der sich in diesem Moment vielleicht gewaltsam verhält. Das setzt voraus, den anderen nicht als zu überwältigenden oder zu meidenden Feind (d. h. als Feindbild) zu betrachten, sondern als Menschen, als zu respektierende Person. Wenn man sich dem ethischen Prinzip der Gewaltfreiheit verpflichtet, so resultiert daraus radikale Eigenverantwortung nicht nur für das eigene Verhalten, sondern, so Rosenberg, auch für die eigenen
Abb. 7.5 Gewaltfreie Kommunikation.
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Gefühle. Nach Rosenberg sind Gefühle, also emotionale Bewertungen, durch Einstellungen geprägt. Wer Gewalt ausgesetzt sei, müsse nicht gewalttätig antworten. Er könne lernen, seine Bedürfnisse konsequent auf gewaltfreie Weise zu vertreten, was kein leichter Weg sei, aber die Wahrscheinlichkeit erheblich erhöhe, dass sowohl die eigenen Bedürfnisse als auch die des anderen befriedigt würden.
Ich sitze im Urlaub in einem süditalienischen Dorf in einem Restaurant. Ein Mann am Nebentisch schaut zu mir herüber und murmelt deutlich vernehmbar ein böses italienisches Schimpfwort. Ich bin irritiert und verärgert. Der Besitzer des Lokals kommt zu mir und sagt, ich solle den Mann nicht ernst nehmen, es sei sein Bruder, habe bei einem Unfall einen Hirnschaden erlitten und sage dasselbe Wort immer wieder, ansonsten sei er vollkommen harmlos, jeder im Dorf kenne ihn. Meine Empörung verschwindet augenblicklich, und an ihre Stelle tritt Mitgefühl. Ich habe die Situation kognitiv anders eingeordnet, und dadurch haben sich meine Gefühle grundlegend verändert.
Selbstempathie. Ein Humanistischer Psychotherapeut, der sich an den Prinzipien der Gewaltfreien Kommunikation orientiert, wird einen Klienten, der sich in einem Konflikt befindet, zunächst anleiten, innezuhalten und in sich selbst hineinzuspüren. Wenn der Klient in Gefahr ist, sich immer weiter in ein destruktives, eskalationsbedrohtes Pingpong-Spiel zu verwickeln, so ist es nach Rosenberg das Beste, zunächst gar nichts zu sagen oder zu tun, sondern sich stattdessen mit seinen eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen, um die Eskalationsspirale nicht weiter anzuheizen. Der Therapeut lädt den Klienten ein, für eine Weile die aggressiven Dialoge und Inszenierungen in seinem Inneren zu beobachten, ohne sie auszuagieren und dabei die tieferen Gefühle zu erkunden, die unter seiner Wut, seinem Rückzug oder seiner Konfusion verborgen sind. Das Ziel der Selbstempathie-Phase der Gewaltfreien Kommunikation ist es, sich zu beruhigen und dadurch die Bereitschaft zu fördern, sich in den anderen einzufühlen. Die nach innen zu stellenden Fragen in dieser Phase könnten z. B. lauten: • „Wie fühle ich mich?“ • „Was ist unter meiner Wut / meinem Rückzug / meiner Verwirrtheit?“
• •
„Welches meiner Grundbedürfnisse wurde nicht erfüllt?“ „Was würde meine Bedürfnisse erfüllen?“
Empathie geben. Als Nächstes fordert der Therapeut den Klienten auf, sich so gut es geht in die Person einzufühlen, mit der er gerade in den Konflikt verwickelt ist. Der Klient solle versuchen zu erfassen, was sein Gegenüber vermutlich empfindet und welche Bedürfnisse der anderen Person als Auslöser für deren verärgerte, zurückgezogene oder konfuse Reaktion frustriert wurden. Dann lädt der Therapeut den Klienten ein, der anderen Person deren vermutete Gefühle und Bedürfnisse verbal zu spiegeln, am besten in Frageform, z. B.: • „Bist du verwirrt, weil du nicht genug Eindeutigkeit bekommen hast?“ • „Bist du frustriert, weil dein Bedürfnis nach Gerechtigkeit nicht erfüllt ist?“ • „Bist du traurig, weil du Liebe und Nähe brauchst und nicht kriegst?“ • „Tut es dir weh, weil dein Bedürfnis nach Respekt nicht erfüllt ist?“ Selbstausdruck. Dann ermutigt der Therapeut den Klienten, sich selbst seinem Gegenüber auf eine Weise mitzuteilen, die geeignet ist, den Konflikt zu deeskalieren und eine solidarische Verbundenheit mit dem Gegenüber herzustellen. Dies geschieht nach Rosenberg am besten in folgenden vier Schritten: 1. Konkreter Auslöser: Die erste Aufgabe des Klienten ist es, den konkreten Auslöser zu identifizieren, auf den er verärgert, zurückgezogen oder verwirrt reagiert hat und diesen Auslöser dem anderen konkret und ohne Interpretation mitzuteilen. In der Gewaltfreien Kommunikation geht man davon aus, dass jeder Mensch aufgrund seiner kognitiven Bewertungsprozesse für seine Gefühlsreaktionen selbst verantwortlich ist, sodass das Verhalten des anderen stets nur als Auslöser, nicht aber als Ursache für die eigenen Empfindungen betrachtet wird. Das Identifizieren des Auslösers ist ein wichtiger erster Schritt, um aus alten Übertragungsfilmen heraus in die Realität des Hier und Jetzt mit klaren Bezügen zum aktuellen Geschehen zu finden. Wenn die Eskalation schon fortgeschritten ist, oder wenn es sich um eine Übertragungsverwicklung handelt, ist es oft nicht leicht, den konkreten Auslöser für den Streit zu identifizie-
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ren und diesen als faktische Beobachtung, ohne Anklage oder Zuschreibung mitzuteilen. Manchmal wirkt der Auslöser belanglos und erklärt bei weitem nicht die Wucht der Gekränktheit oder Wut, die sich an ihm entzündet. 2. Ich-Gefühle : Im zweiten Schritt der Gewaltfreien Kommunikation wird der Klient aufgefordert, in Form von Ich-Botschaften die Gefühle zu benennen, die durch das im ersten Schritt beschriebene Verhalten der anderen Person ausgelöst wurden. Der Klient wird angeleitet, tiefer in sich hineinzuspüren, um die Gefühle wahrzunehmen, die unter seiner Wut, seinem Rückzug oder seiner Verwirrung verborgen sind. So kommt der Klient beispielsweise mit Empfindungen von Frustration, Traurigkeit, Schmerz, Einsamkeit oder Verzweiflung in Kontakt, die durch Wut, Rückzug oder Verwirrung überdeckt waren. Diese Gefühle teilt der Klient der anderen Person in Form einer Ich-Aussage mit. Spontan werden solche Gefühle oft zunächst projektiv ausgedrückt, das heißt, es werden Aussagen über den anderen gemacht, die sich nur so anhören, als ob es Aussagen über die eigenen Gefühle seien, z. B.: • „Ich fühle mich missachtet.“ • „Ich habe das Gefühl, ich bin dir völlig gleichgültig.“ • „Ich fühle mich ignoriert.“ • „Ich fühle mich abgelehnt.“ Projektive Aussagen dieser Art beschreiben eigentlich den anderen und setzen nur grammatikalisch ein „ich fühle“ davor. Der Klient wird dann vom Therapeuten ermutigt, seine eigenen Empfindungen zu spüren: „Was fühlst du, wenn du denkst, dass XY dich missachtet/ignoriert/ ablehnt?“ 3. Grundbedürfnisse: Als dritter Schritt wird der Klient eingeladen, diejenigen seiner Grundbedürfnisse zu benennen, die frustriert wurden. Wenn der Klient der anderen Person ein frustriertes Grundbedürfnis mitteilt, dann spürt die andere Person unmittelbar, dass sie dieses Bedürfnis im Grunde auch hat. Dies führt potenziell zu einer solidarischen Verbundenheit zwischen beiden in dem Gefühl, dass eigentlich beide dasselbe wollen und, was ihre Grundbedürfnisse betrifft, keine wirklichen Interessendifferenzen haben. Grundbedürfnisse im Sinne der Gewaltfreien Kommunikation wären zum Beispiel das Bedürfnis nach Harmonie,
nach Austausch, nach Liebe, nach Erholung oder nach Verbundenheit. In der Gewaltfreien Kommunikation wird Wert darauf gelegt, streng zwischen Grundbedürfnissen und Strategien zu unterscheiden. • Grundbedürfnisse sind Motivationen, die jeder Mensch hat. • Strategien sind konkrete Verhaltensweisen, um Grundbedürfnisse zu befriedigen. Wenn ein Klient beispielsweise sagt: „Ich brauche, dass du mir zuhörst“, so wird das nicht als ein Grundbedürfnis, sondern als eine Strategie verstanden, um ein Grundbedürfnis zu erfüllen. Das Grundbedürfnis in diesem Fall wäre ein Bedürfnis nach Austausch und Kommunikation. Konflikte gibt es nach Rosenberg nur zwischen den Strategien der Beteiligten, nicht aber zwischen ihren Grundbedürfnissen. Auf der Ebene der Grundbedürfnisse erleben die Menschen sich als verbunden. 4. Konkrete Bitte: Der vierte Schritt in der Gewaltfreien Kommunikation besteht darin, dass der Klient an die andere Person eine konkrete Bitte richtet, die geeignet ist, seine Grundbedürfnisse zu befriedigen. Diese Bitte bezieht sich stets auf ein konkretes Verhalten der anderen Person. Dem anderen wird mitgeteilt, was er tun kann, um die Frustration des Klienten zu beenden. Die Bitte sollte verhaltensbezogen und im Hier und Jetzt formuliert sein, um dem anderen die Möglichkeit zu geben, die Bitte zu verstehen und – wenn er das möchte – zu erfüllen. Die Bitte, die am ehesten geeignet ist, aus dem Konflikt herauszuführen, ist nach Rosenberg eine Bitte um Feedback. Sie kann in der einfachsten Form die Bitte an den anderen sein, zu wiederholen, was er gerade gehört hat. In Streitsituationen werden statt Bitten oft Forderungen gestellt, z. B.: • „Könntest du mich bitte ausreden lassen.“ • „Schau mich wenigstens an, wenn ich mit dir rede.“ … oder es werden abstrakte Ziele benannt, z. B.: • „Ich brauche eben meine Freiheit.“ • „Ich möchte, dass du mich siehst.“ … oder die Bitte wird in negativer Form geäußert, z. B.: • „Ich will nicht mehr angebrüllt werden.“ • „Hör endlich auf, an mir herumzukritteln.“ Als konkrete Bitte im Unterschied zu einer Forderung wird in der Gewaltfreien Kommunikation
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verstanden, wenn der Klient ein „nein“ akzeptiert, ohne dass dadurch die Beziehung belastet wird. Man glaubt zunächst oft, dass eine solche offene Form des Bittens zu schwach sei, um die eigenen Wünsche durchzusetzen, oder man fühlt sich durch ein solches Bitten entwürdigt. Nach Rosenberg erhöht sich aber gerade dadurch, dass man dem anderen von Herzen freistellt, die Bitte zu erfüllen oder auch nicht, erheblich die Wahrscheinlichkeit, dass die andere Person aus freiem Willen bereit ist, die Bitte zu erfüllen, weil – so Rosenberg – jeder Mensch den Wunsch hat, zu einem erfüllten Leben anderer Menschen beizutragen. Dagegen führt eine mit Druck vorgebrachte Forderung fast immer zu einer aktiven oder passiven Verweigerung der anderen Person. GFK als Haltung. Die vier Schritte der Gewaltfreien Kommunikation sind nicht als schematische Vorgaben zu verstehen, die stets rituell in genau vier aufeinanderfolgenden und genau so zu formulierenden Sätzen abgehandelt werden müssen. Vielmehr handelt es sich um eine konfliktpräventive und deeskalierende Kommunikationsweise auf der Basis einer gewaltfreien, humanistischen Einstellung, wobei jeder einzelne Schritt für sich, bereits ein Weg heraus aus dem Konflikt und hin zu einer solidarischen Verbundenheit sein kann. Es ist durchaus möglich, dass sich beispielsweise ein Paar über eine ganze Sitzung hinweg nur mit einem
der beschriebenen Schritte auseinandersetzt, um vielleicht in der nächsten Sitzung zu einem anderen Schritt überzugehen. Der Therapeut kann das Vier-Schritte-Modell auch diagnostisch nutzen, um festzustellen, an welcher Stelle die Konfliktparteien hängen bleiben, um einen Ausweg aus einem Kreislauf aus Gewalt, Verwirrung und Rückzug aufzuzeigen. Die Familienkonferenz. Familienkonferenz nennt sich ein von dem US-amerikanischen Psychologen Thomas Gordon (1918–2002) in seinem gleichnamigen Buch (1970) entwickeltes Konzept zur gewaltfreien Konfliktlösung in Familien, das er ebenfalls aus der Personenzentrierten Gesprächspsychotherapie von Carl Rogers heraus entwickelt hat, und das als ein Vorläufer der Gewaltfreien Kommunikation nach Rosenberg gelten kann. Gordon wurde für seine Arbeit am gewaltlosen Lösen von Konflikten ohne Verlierer für den Friedensnobelpreis nominiert. Kern der Methode ist es, dass die Eltern • dem Kind aktiv empathisch zuhören, um es anzuleiten, seine eigenen Probleme zu verstehen, in der einfachsten Form, indem sie die Aussagen des Kindes mit ihren eigenen Worten wiederholen, und dem Kind durch Ich-Botschaften ihre eigene • Befindlichkeit deutlich machen, mit dem Ziel, dass das Kind das Problem emotional als relevant erkennt und anerkennt.
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Psychodynamisches Deuten
» Wer sich an die Vergangenheit nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen. George de Santayana « Psychodynamisches Verstehen. Die Theorie und Technik des psychodynamischen Verstehens und Deutens kann hier nur angedeutet werden. Die Methodik ist in der psychodynamischen Literatur vielfältig beschrieben worden, z. B. in der selbstpsychologischen Variante von Orange (2004) und Milch (1999). Die biografische Wurzel psychischen Leids sind Beziehungsstörungen und Traumata, die nur vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte des Klienten verstanden werden können. Daher suchen Therapeut und Klient in der Humanistischen Psychotherapie gemeinsam nach biografischen Bezügen für die Muster des Klienten (biografisches Verstehen). Leitfragen dabei können z. B. sein: • Welches Gefühl gehört in welche Zeit? • Welches Beziehungsmuster gehört zu welcher Person? Ohne psychodynamische Konzepte, die das aktuelle Erleben als Resultat unbewusster Dynamiken und Abwehrprozesse vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte erfassen (psychodynamisches Verstehen), kann die spezifische Erlebnisweise eines Menschen, der in alte Beziehungsmuster verstrickt ist, nicht angemessen erfasst werden. Auf der erwachsenen Ebene erscheint das Erleben des Klienten dann als unangemessen, unverständlich, verschroben oder gar als verrückt. Erst als Ergebnis abgewehrter alter Konstellationen wird es verständlich.
Ein 24-jähriger Klient leidet häufig unter nächtlichen Angstfantasien im Halbschlaf, aus denen er voller Angst und schweißgebadet hochschreckt. In seinen Fantasien liegt er in dem Bett, in dem er sich tatsächlich befindet und erlebt einen Zustand, in dem er vollkommen gelähmt ist. In der Tür sieht er einen bedrohlichen dunklen Schatten, der sich ihm in seiner Fantasie nähert, ihm eine Hand auf seine Brust legt und fest zudrückt, sodass der Klient nicht mehr atmen kann. Diese nächtlichen Angstattacken begannen einige Monate zuvor, als der Klient in einen Konflikt mit einem älteren Mann verwickelt war, den er als sehr bedrohlich erlebte. Der Klient fragt mich, ob ich seine nächtlichen Erlebnisse für paranoide Wahnvorstellungen halte. Er findet keine Erklärung dafür, daher scheint ihm die Erklärung „verrückt sein“ als die naheliegendste. Ich beruhige den Klienten und teile ihm mit, dass ich sein Erleben nicht für psychotisch halte. Ich biete ihm an, gemeinsam mit ihm zu untersuchen, worum es sich bei den nächtlichen Ängsten handelt. In den weiteren Sitzungen wird dem Klienten zunächst deutlich, dass sich der Schatten in seinen Fantasien „irgendwie männlich anfühlt“. Später sagt er: „Die Art, wie er sich bewegt, der Schlafanzug, ja sogar wie er riecht – das ist mein Vater.“ Im Laufe mehrerer Sitzungen findet er durch seine Angstfantasien Zugang zu immer detaillierter werdenden Erinnerungen daran, dass der Vater des Klienten zu ihm als vier- bis fünfjährigem Kind oft nachts ins Zimmer, kam, ihn streichelte und dabei den Penis des Klienten stimulierte. „Ich spürte Empfindungen in mir und in ihm, die ich als Kind nicht zuordnen konnte. Heute würde ich sagen, er war erregt und ich war auch erregt. Gleichzeitig hatte er Angst, weil er merkte, dass das nicht in Ord-
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nung war, was er tat. Und ich hatte auch Angst.“ Im Laufe der weiteren Therapie, in der es auch um viele weitere Aspekte der Beziehungsdynamik in der Primär familie des Klienten geht, verschwinden seine Panikfantasien. Das Erinnern und emotionale Integrieren hat dem Klienten geholfen, seine nächtlichen Ängste zu verstehen und zu verarbeiten.
Symbolisierung. Damit der Klient sich verstehen und sich verstanden fühlen kann, braucht er es, dass der Therapeut ihm Formulierungen, Begriffe, Symbole oder Beschreibungen anbietet, mit denen er sein zunächst oft schwer fassbares, vages oder chaotisches Erleben besser einordnen und begrifflich formulieren kann. Solche Symbolisierungsversuche des Therapeuten werden als Deutungen bezeichnet. Es sind Versuche der Ein- und Zuordnung dessen, was der Klient erlebt, vor dem Hintergrund biografischer Strukturentwicklungsprozesse. Auch Deutungen im Hier und Jetzt, also Interpretationen der Psychodynamik ohne die biografische Perspektive sind möglich. Sie wirken behutsamer und sind daher besonders für Klienten mit fragiler Struktur geeignet (Kernberg 2000). Deutungen werden in der Humanistischen Psychotherapie stets mit einem halben Fragezeichen angeboten, das den Klienten einlädt, zu überprüfen, ob der Beschreibungs- und Einordnungsversuch des Therapeuten stimmt oder abgeändert werden muss.
Eine Klientin von mir wirkt in einer Therapiesitzung auffällig niedergeschlagen und desorientiert. Sie klagt über eine Reihe körperlicher und Beziehungsstörungen, äußert aber den Eindruck, dass all das nach ihrem Gefühl nur die Oberfläche sei, und dass sie das, was wirklich mit ihr los ist, nicht richtig in Worte fassen könne. Ich sage zu ihr: „Ich könnte mir vorstellen, dass du dich gerade wie ein Kind fühlst, das leidet, aber nicht weiß, woran, und das es daher braucht, dass Mama oder Papa versteht, was mit ihm los ist und es wieder in Ordnung bringt. Ergibt das Sinn für Dich?“ Die Klientin antwortet: „Naja … irgendwie schon … ich fühle mich … wie ein Baby … das … hm … unleidlich … oder … unausgeglichen … ist.“ Sie ändert meine vorschlagenden Formulierungsversuche so ab, dass die Beschreibung für ihr Erleben besser passt.
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Leitende Theorien. Deutungsversuche des Therapeuten finden unvermeidlich vor dem Hintergrund einer theoretischen Orientierung und auf der Basis konzeptioneller Vorannahmen statt. Wenn der Therapeut das, was er durch Hineinspüren in den Klienten erfasst zu haben glaubt, versucht in Worte zu fassen, kommen unweigerlich Interpretationen ins Spiel. Viele Humanistische Psychotherapeuten machen dabei Anleihen an Richtungen, die sich aus der Psychoanalyse heraus entwickelt haben. Andere beziehen systemische oder ressourcenorientierte Konzepte oder Orientierungen aus östlichen und anderen Philosophien ein. Eine rein phänomenologische Empathie, also ein einfühlendes Verstehen des Klienten nur auf Basis von Klientenäußerungen und unabhängig vom theoretischen und weltanschaulichen Hintergrund des Psychotherapeuten ist meines Erachtens nicht möglich und wäre auch nicht anstrebenswert. Im Hinterkopf des Psychotherapeuten befinden sich unweigerlich u. a. seine Lebenserfahrung, seine eigenen Konzepte über existenzielle, soziale, weltanschauliche und ethische Grundpositionen, psychopathologische und psychodiagnostische Einordnungen, Persönlichkeitstheorien, bindungs- und entwicklungspsychologische Theorien über die Dynamik einer psychotherapeutischen Beziehung usw., die es ihm überhaupt erst ermöglichen, den Klienten angemessen zu verstehen. Hier zwei Beispiele: • Die Sprünge zwischen radikal unterschiedlichen Beziehungsmustern, die extremen, ambivalenten Wertungen und das innere Chaos eines Borderline-Klienten kann ein Therapeut weder verstehen noch zuordnen, wenn er die Kategorie Borderline nicht zur Verfügung hat. Wenn er nicht weiß, wie diese Dynamik psychodynamisch und biografisch entsteht und in Erscheinung tritt, woran er sie erkennt und wie er damit umgehen muss, besteht die Gefahr, dass er sich mit dem Klienten zusammen in dessen Chaos verstrickt. • Ein Psychotherapeut, der das Konzept der traumatischen Dissoziation nicht kennt, wird die Abgetrenntheit von sich selbst, die Betäubtheit und gleichzeitig Übererregtheit, die emotionale und vegetative Dysreguliertheit und Instabilität und die Angst vor wiederkehrenden Intrusionen dieser Klienten nicht verstehen, nicht einordnen und nicht angemessen benennen können. Wenn der theoretische Hintergrund des Therapeuten breit genug und die Deutung vorsichtig genug ist, hilft das Deuten dem Klienten, sich besser zu
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Verfahren und Techniken
verstehen. Jedoch darf der Therapeut nicht vorgefasste Theorien in die Klientenäußerungen hineindeuten.
Eine 32-jährige Klientin ist oft verwirrt und kann die chaotischen Emotionen, von denen sie überflutet wird, nicht zuordnen. Im Lauf der Therapie ist es für die Klientin hilfreich, wenn ich ihr Begriffe und Bezüge anbiete, mit denen sie das, was mit ihr geschieht, in Worte fassen kann. So sagt sie z. B. im zweiten Jahr der Therapie: „Für mich gibt es nur schwarz und weiß und nichts dazwischen. Es macht mich verrückt, dass ich immer nach Eindeutigkeit suche, sie aber nicht finde und auch gar nicht ertragen kann.“ Das vorher von mir in umgangssprachlicher Form angebotene Konzept des dichotomisierenden Schwarzweißdenkens als Symptom einer Spaltung von Selbstanteilen half ihr, sich selbst zu verstehen, sich verbal mitzuteilen und damit ein Stück weit zu stabilisieren.
Übertragungsdeutungen. Eine große Herausforderung an die Verstehensbemühungen des Therapeuten ist es, empathisch zu erfassen, wie der Klient den Therapeuten und die therapeutische Beziehung empfindet, in Bereichen, in denen die Wahrnehmung und Ausformung der therapeutischen Beziehung durch alte Muster des Klienten geprägt ist (Übertragung). In der Regel befürchtet der Klient, dass sich mit dem Therapeuten alte, leidvolle Beziehungskonstellationen wiederholen und hofft gleichzeitig auf eine heilende, korrektive Beziehungserfahrung. Psychodynamisches Verstehen kann hier vor destruktiven Verwicklungen in der Therapie schützen und helfen, die aktivierte Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamik zu erkennen, zu benennen und therapeutisch zu nutzen. Besonders im Bereich von Persönlichkeitsstörungen kann es für den Therapeuten aber schwer werden, die Wahrnehmung seiner Person durch den Klienten zu ertragen und empathisch nachzuvollziehen, weil diese oft in manchen Aspekten überaus präzise, aber gleichzeitig durch alte Beziehungsmuster des Klienten massiv verzerrt ist.
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9.1
Körperarbeit
Grundlagen
Abb. 9.1 Wilhelm Reich (mit freundlicher Genehmigung von Manfred Fuckert).
Wilhelm Reich (1897–1957) war Psychiater, Psychoanalytiker und der Begründer der Körperpsychotherapie. Er studierte in Wien Medizin, wurde 1920 mit nur 23 Jahren in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung aufgenommen und praktizierte als Psychoanalytiker. 1924–1930 war er Leiter des Wiener Seminars für psychoanalytische Therapie. Reich übersiedelte nach Berlin, trat 1930 in die Kommunistische Partei ein, aus der er 1933 ausgeschlossen wurde. 1931 gründete er den Deutschen Reichsverband für proletarische Sexualpolitik und eine Sexualberatungsstelle. Er erforschte die repressiven gesellschaftlichen Strukturen, die an der Entstehung seelischer Störungen beteiligt sind, insbesondere die Unterdrückung der Sexualität. 1933 floh Reich vor den Nationalsozialisten nach Dänemark und später nach Norwegen, wo er sein körperpsychotherapeutisches Verfahren ausarbeitete. Reich entwickelte das Konzept der Muskelpanzerung als körperliches Substrat der Verdrängung sowie eine Reihe von körperlichen Interventionen, um die Panzerung abzutragen und die Lebensenergie zu befreien, um dadurch die Neurosen zu heilen. Reich bestritt Freuds Theorie eines angeborenen Todestriebs und ging von einer einheitlichen Energie der Lebendigkeit aus. Daraus und aus Reichs politischem Engagement entstand ein Konflikt mit Freud, der 1934 zum Ausschluss Reichs aus der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft und der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung führte. 1939 emigrierte Reich in die USA und übte dort großen Einfluss auf bekannte Psychotherapeuten wie Alexander Lowen, Fritz Perls und Ronald Laing aus. In der sexuellen Revolution im Nachklang der 1968er-Revolte wurde Reichs Kritik der bürgerlichen Doppelmoral und sein Kampf für die Befreiung der Sexualität aufgegriffen, später auch sein psychotherapeutisches Werk.
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Verfahren und Techniken
» Das Unbewusste spricht durch den Körper. George Downing « Psychotherapeutische Körperarbeit. Die Körperpsychotherapie basiert auf psychodynamisch orientierten Theorien der körperlichen Dynamik von Abwehrprozessen, wie sie von Reich (1970), Lowen (1981), Janov (1981), Boyesen (1987), Downing (1994), Kurtz (1985), Boadella (1986) und vielen anderen ausgearbeitet wurden. Körperpsychotherapie will psychische Veränderungen durch Arbeit mit dem Körper bewirken. Körperpsychotherapeutische Techniken ermöglichen es, mit Gefühlsprozessen dort zu arbeiten, wo sie stattfinden, nämlich im Körper. Gefühle können im Körper zugänglich gemacht, aktiviert oder auch gedämpft und harmonisiert werden. Durch Körperübungen und Berührungstechniken können Abspaltungen und Fragmentierungszustände körperlich durchgearbeitet werden. Der innere Andrang der Emotionen (emotionaler Auftrieb) kann durch Körperarbeit zielgerichtet, beschleunigt oder verlangsamt, also gesteuert werden. Wurzeln und Richtungen. Die wichtigsten Wurzeln der Körperpsychotherapie Anfang des 20. Jahrhunderts waren: • die Psychoanalyse (Groddeck, Ferenczi, Rank und v. a. Reich), • die Reform-Bewegungslehren (Gindler, Selver) und • die Tanztherapie (Laban, Schoop, Espenak, Wigman, Whitehouse). Im Rahmen dieses Buches kann nur ein Einblick in einige Grundkonzepte und Techniken der Körperpsychotherapie erfolgen, die für die praktische körperpsychotherapeutische Arbeit besonders wichtig erscheinen. Die vielfältigen Unterschiede und aktuellen Diskussionen in und zwischen den verschiedenen Richtungen der Körperpsychotherapie sind im „Handbuch der Körperpsychotherapie“ (Marlock u. Weiss 2006) detailliert dargestellt. Einen Überblick über die Ursprünge und Richtungen der Körperpsychotherapie geben darin Geuter (2006) und Langfeld u. Rellensmann (2006). Gymnastik. Die Berliner Gymnastiklehrerin Elsa Gindler (1885–1961) übte, gemeinsam mit dem Musikpädagogen Heinrich Jacoby (1889–1964) einen starken, indirekten Einfluss auf die Körperund Bewegungstechniken der Humanistischen Psychotherapie aus. Anfang der 1930er-Jahre stu-
dierten unter anderem Elsa Lindenberg, die damalige Frau von Wilhelm Reich, und Laura Perls, die zusammen mit Fritz Perls als Begründerin der Gestalttherapie gilt, bei Gindler deren Bewegungslehre. Charlotte Selver (1901–2003), eine deutsche Musikpädagogin und Schülerin von Gindler führte die Gindler-Arbeit unter dem Namen Sensory Awareness (Brooks 1991) fort und übte am EsalenInstitut in Kalifornien, in dem sie ab 1963 lehrte, einen entscheidenden Einfluss auf viele Vertreter der Human-Potential-Bewegung aus. Ihre bekanntesten Schüler waren Erich Fromm, Fritz Perls und Moshe Feldenkrais. Die Sensory-Awareness-Methode stellt darüber hinaus die Basis der EsalenMassage dar, die auf der klassischen schwedischen Massage basiert und durch Elemente verschiedener Körpertherapien, wie Feldenkrais, Kraniosakraltherapie, Rolfing, Polarity und Akupressur ergänzt wurde (Downing 1998).
Der Körper als Ort der Gefühle. In der Körperpsychotherapie betrachtet man den Körper als den Ort der Gefühle und die vegetativen Körperprozesse als die materielle, physiologische Seite der Emotionen (vgl. Damasio 2000). Seelische Probleme, wie z. B. Ängste, Depressionen oder Beziehungsstörungen werden im Körper emotional erlebt. Wenn wir uns freuen, hüpft das Herz oder es wird weit im Brustraum. Bei Angst zittern die Hände, und das Gesicht wird bleich. Bei Depressionen sinkt der Muskeltonus, und die Augen verlieren ihren Glanz. Beziehungsprobleme können sich als drückende Last auf den Schultern oder als quälende Schlaflosigkeit äußern. Ziel. Mit körperpsychotherapeutischen Techniken ist es möglich, über den Körper die Seele zu erreichen. Die psychotherapeutische Arbeit mit dem Körper ist die am stärksten erlebnisaktivierend wirkende Technik der Humanistischen Psychotherapie. Körperarbeit kann relativ schnell zum tieferen Erleben und zu psychoenergetischen Veränderungen führen. Körperpsychotherapeuten kommunizieren mit ihren Klienten auch jenseits der Sprache und können dadurch leib-seelische Schichten erreichen, die unterhalb der sprachlichkognitiven Ebene liegen. Die psychotherapeutische Arbeit mit dem Körper öffnet die Tür zum Unbewussten, zur präverbalen Phase der Biografie (zum „inneren Säugling“), zur Psychosomatik sowie zu den körperlich fixierten Mustern der
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Traumaverarbeitung. Mit Körperpsychotherapie können abgewehrte (verdrängte, gespaltene oder dissoziierte) psychische und psychosomatische Anteile durch Arbeit mit dem Körper integriert und die Leib-Seele-Einheit harmonisiert werden. Ansatzpunkt der körperpsychotherapeutischen Arbeit sind körperenergetische Dysharmonien, die auf Grundlage der Theorien des psychovegetativen Zyklus und der verkörperten Charakterstrukturen im Körper zugänglich gemacht und transformiert werden. Sprechen und Körperarbeit. In der Körperpsychotherapie wird die Arbeit mit dem Körper und die verbale Arbeit miteinander verwoben. Auch während der Körperarbeit wird oft gesprochen, um dem Klienten zu ermöglichen, seine Erlebnisse zu verstehen und bewusst zu verarbeiten. In der Regel beginnt die Sitzung im Gespräch, geht dann in Körperarbeit über und endet wieder im integrierenden Gespräch. Körperpsychotherapie und Körpertherapie. Der Ansatz und die Arbeitsweise der Körperpsychotherapie geht über die verschiedenen Richtungen der Körpertherapien hinaus. Körpertherapien haben keinen psychotherapeutischen Anspruch. Sie arbeiten körperenergetisch, aber nicht zentral an der Linderung chronisch psychischen Leids und an der Integration von Abgewehrtem. Sie arbeiten im Hier und Jetzt mit dem Körpererleben des Klienten, aber nicht psychodynamisch mit biogra-
Körperarbeit
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fischen Bedeutungen. In Körpertherapien wird die Beziehungs- und Übertragungsdynamik zwischen Klient und Therapeut nicht bearbeitet. Die Reflexion der Psychodynamik von Gefühlen und Beziehungsmustern geschieht höchstens beiläufig. Umgekehrt arbeiten Körperpsychotherapeuten aber oft mit Techniken, die in den Körpertherapien entwickelt wurden. Körpertherapien in diesem Sinne sind zum Beispiel die Feldenkrais-Methode, Klassische Massage, Osteopathie, Rolfing / Strukturelle Integration, Physiotherapie, Yoga, Alexandertechnik und Shiatsu. Verkörperung des Widerstandes. Sigmund Freud stellte in seinen psychoanalytischen Behandlungen fest, dass seine Klienten einen Widerstand gegen ihre Gesundung zu entwickeln schienen, so als ob sie nicht gesund werden wollten. Freud führte diesen Widerstand auf einen postulierten Todestrieb (Thanatos) zurück, der die Klienten dazu bringe, in ihrem Leiden zu verharren und sich gegen ihr therapeutisches Fortkommen zu wehren. Wilhelm Reich war einer der Ersten, der diese Sichtweise Freuds infrage stellte. Reich ging im Gegensatz zu Freud von einem einzigen Lebenstrieb aus und betrachtete die Widerstände als körperenergetischen Niederschlag sozialer Repression. Reich stellte fest, dass die nonverbalen Äußerungen der Klienten, ihre Körperhaltungen und ihre unwillkürlichen Ausdrucksgesten entscheidende Hinweise auf die Widerstände und Übertragungsmuster des Klienten zuließen.
Alexander Lowen (1910–2008) war ein Schüler von Wilhelm Reich und der Begründer der Bioenergetischen Analyse. Lowen war ursprünglich Jurist. Nach seiner Lehranalyse bei Reich studierte er Medizin, um Psychotherapeut zu werden. Zusammen mit John Pierrakos (1921–2001) gründete er 1956 das International Institute for Bioenergetic Analysis in New York. Lowen differenzierte Reichs Lehre von den Charakterpanzerungen und bemühte sich, die Verbindung zwischen der Körperpsychotherapie und den psychodynamischen Richtungen wiederherzustellen, die durch Reichs Ausschluss aus der psychoanalytischen Bewegung zerbrochen war. Seit Mitte der 1950er-Jahre bis ins hohe Alter von über 90 Jahren lehrte und arbeitete Lowen in vielen Ländern der Welt.
Abb. 9.2 Alexander Lowen (mit freundlicher Genehmigung von The Alexander Lowen Foundation).
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Verfahren und Techniken
In der Analyse der Behandlungswiderstände als Ausdruck negativer Übertragungen sah Reich die primäre Aufgabe des Analytikers. Diese Arbeitsweise bezeichnete er als Charakteranalyse (Reich 1970). Muskelpanzerung. Reich entdeckte spezifische Muster chronischer Muskelverspannungen als
9.2
Körperenergie
Psychosomatische Erregung. Als Körperenergie bezeichnen wir die psychosomatische Erregung, die die Basis unserer Lebensprozesse und Lebensäußerungen ist. Körperenergie wird im Stoffwechsel des Körpers durch den Umsatz von Nahrung mit Sauerstoff metabolisch erzeugt und durch muskuläre und neuronale Aktivität, also durch die Tätigkeit der Organe und des Gehirns verbraucht. Körperenergie wird durch Motivationen mobilisiert und durch Abwehrprozesse dysreguliert. Wahrnehmung von Körperenergie. Körperenergie wird subjektiv als Erregung, Aktiviertheit, Vitalität, Kraft, Lust, Ladung, Wachheit, Interesse, Teilnahme, Berührtheit oder Durchströmtheit wahrgenommen. In Gipfelerlebnissen, in Momenten leidenschaftlicher sexueller Vereinigung, im Anblick grandioser Natur, im Genuss großer kultureller Werke, beim meditativem Einsinken in innere Stille, in beruflichen oder sportlichen Erfolgserlebnissen, in dyna-
9.3
körperliche Basis der Abwehrprozesse (Muskelpanzer). Er sprach von einer funktionalen Einheit zwischen Beziehungsmustern, psychischer Struktur und körperlicher Struktur. Dieses Konzept überwand die dualistische Spaltung des Menschen in Körper und Psyche und begründete eine ganzheitliche (holistische) Sichtweise der Seele-Körper-Einheit.
mischen Körperübungen oder in tiefen emotionalen Begegnungen spüren wir, wie wir durchflutet sind von Lebendigkeit. Umgekehrt werden Zustände von Depression, Blockiertheit oder Ausgebranntheit als Energiemangel erlebt. Wenn wir erschöpft, deprimiert oder gelangweilt sind, spüren wir im Körper, dass unser Energieniveau niedrig ist. Der Körper fühlt sich schwach und schwer an, wir sind müde und lustlos. Niveau der Körperenergie. Das Niveau der Körperenergie kann also hoch oder niedrig sein, wie eine Batterie, die aufgeladen oder entladen sein kann. Die innere Batterie kann auch überladen sein, was in Stress-, Spannungs-, Stauungs- oder Überflutungszuständen der Fall ist. Dann ist mehr Energie mobilisiert, als genutzt bzw. verarbeitet werden kann, wie z. B. in posttraumatischen Erregungszuständen, bei akuten Ängsten, im Stress, in manischen oder paranoiden Zuständen.
Psychosomatische Zyklen
Aufladung und Entladung. Das Konzept des psychovegetativen Zyklus wird in einigen Schulen der Körperpsychotherapie verwandt, um körperenergetische Aufladungs- und Entladungsprozesse zu beschreiben. Grundgedanke ist, dass sich der Tonus der Körperenergie rhythmisch verändert und dabei einem zyklischen Muster von Aufladung und Entladung folgt, das mit einem Wechsel zwischen einem sympathischen und einem parasympathischen Tonus des vegetativen Nervensystems einhergeht. • Die Aktivierung und das Aufsteigen der Körperenergie von unten nach oben entsprechen dem sympathischen Tonus des vegetativen Nervensystems. Dabei werden vegetative Aktivitäts-, Kampf- oder Fluchtmuster aktiviert.
•
Das Herunterfahren und Absinken der körperenergetischen Erregung von oben nach unten entspricht dem parasympathischen Tonus des vegetativen Nervensystems. Dabei werden Harmonisierungs-, Erholungs- und Verdauungsmuster aktiviert.
Aktivität und Ruhe. Das Modell des psychovegetativen Zyklus (siehe Abb. 9.3) geht von einem biologischen, organismischen Paradigma aus – zur Beschreibung der Dynamik spezifisch menschlicher Motivationen ist es nur begrenzt geeignet. Dennoch gibt es solche biologisch begründeten psychovegetative Zyklen auch beim Menschen. Nehmen wir an, ein Mensch befindet sich gerade in einer (parasympathischen) Entspannungsphase.
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Körperarbeit
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Abb. 9.3 Der psychovegetative Zyklus.
Er schläft, ruht sich aus, plaudert entspannt mit Freunden oder sieht fern. Nach einer Weile entstehen in seinem Inneren Bedürfnisse, oder er spürt Verpflichtungen. Wenn es sich um ein Kind handelt, muss es vielleicht zur Schule, es will spielen oder sich mit Freunden treffen. Ein Erwachsener muss vielleicht zur Arbeit, will einkaufen, zu einer Sitzung oder zum Sport. Sein (sympathisches) Aktivitätsniveau erhöht sich aufgrund seiner biologischen oder sozialen Bedürfnisse. Die Bedürfnisse geben die Zielrichtung der Aktivität der Person vor. In der Aktivität wird die Körperenergie umgesetzt und realisiert. Danach geht der Mensch in eine (parasympathische) Ruhephase, um sich zu erholen und das Erlebte zu verdauen. Er entspannt sich, und nach einer Weile beginnt ein neuer Zyklus. Der affektive Zyklus. Geuter u. Schrauth (2001, 2006) haben unter der Bezeichnung affektiver Zyklus ein Modell vorgeschlagen, das von einer zyklischen Gleichzeitigkeit von Prozessen auf der vegetativen, der muskulären und der kognitivemotionalen Ebene ausgeht (siehe Abb. 9.4). Der vasomotorische Zyklus. Das Konzept des vasomotorischen Zyklus wurde von Gerda Boyesen (1987) in Anlehnung an Grundgedanken von Wilhelm Reich (1970) entwickelt. Sie ging davon
aus, dass sich der psychovegetative Tonus eines Menschen auf die Durchblutung der Gewebe des Körpers auswirkt. Im sympathischen Tonus sind, so Boyesen, die Blutgefäße im Kopfbereich und in der Skelettmuskulatur geöffnet (Vasodilatation), die Blutgefäße in der unteren Körperregion, in den inneren Organen und in den Extremitäten sind verengt (Vasokonstriktion). Daher erhöht sich im sympathischen Tonus der Blutdruck, die Stirn ist erhitzt, das Gesicht ist gerötet oder geschwollen, Hände und Füße sind kühl. Im parasympathischen Tonus ist es umgekehrt: die Stirn ist kühl, die Hände, die Füße und die Bauchregion sind warm, und der Blutdruck ist niedriger. Anhand der Durchblutung der verschiedenen Körperregionen, die z. B. an der Hauttemperatur und -rötung festgestellt werden kann, kann der psychovegetative Tonus des Klienten eingeschätzt werden. Durch verschiedene Techniken der Körperarbeit kann die Durchblutung der Gewebe selektiv verändert und dadurch der psychovegetative Tonus des Klienten beeinflusst werden. Psychovegetative Dysharmonien. Wenn der psychovegetative Zyklus sich nicht auf seine natürliche Weise bewegen kann, sondern an einer oder an mehreren Stellen seines Ablaufes blockiert ist, so entstehen körperenergetische Dysharmonien
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Verfahren und Techniken
Abb. 9.4 Der affektive Zyklus nach Geuter und Schrauth.
(vegetative Dystonien). Diese sind die körperenergetische Seite der Leid aufrechterhaltenden Beziehungsmuster. • Ein chronischer Sympathikotonus bewirkt eine Neigung, sich in Stress zu verwickeln, z. B. in Form des Workaholic-Syndroms, der Managerkrankheit, des Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms (ADS), einer ständigen Übererregtheit und Überagitiertheit oder als Typ-A-Muster des Herzinfarkt-Risikos. • Ein chronischer Parasympathikotonus bewirkt eine Tendenz zu Erschlaffung, Depression, Mutlosigkeit, Energiemangel, Antriebsarmut und Trägheit, zu chronischer Passivität und einem Mangel an Initiative. Formen von psychovegetativen Dysharmonien. Dysharmonien des psychovegetativen Zyklus können weiter differenziert werden (siehe Abb. 9.5): • Aufladungsblockade. Nehmen wir an, eine Person befindet sich gerade in einer Entspannungsphase, und bei dieser Person ist vor Kurzem ein geliebter Mensch gestorben, die Person wurde entlassen oder von einem Vorgesetzten gedemütigt. Nehmen wir an, das psychovegetative System der Person kann das Erlebte aufgrund mangelnder struktureller Stabilität und mangelnder sozialer Unterstützung nicht verarbeiten. Der psychovegetative Aufschwung kann dann durch unverarbeitete, überwältigende Gefühle gehemmt werden. Das unverarbeitete Erlebnis bewirkt eine Tendenz des vegetativen Systems, in der Entspannungsphase (quasi in einer dauernden Schonhaltung) zu verbleiben.
•
•
Körperenergetische Aufladung und Erregung werden vermieden, weil sie ein unerträgliches Gefühl der Hilflosigkeit aktivieren könnten. In der Person entsteht eine Tendenz zum sozialen Rückzug und zur Antriebsschwäche. Die Aufladungsphase des psychovegetativen Zyklus ist blockiert. Die Person entwickelt eine Depression. Ausdrucksblockade. Bei einer Ausdrucksblockade ist die Realisation eines Bedürfnisses bzw. der Ausdruck eines Gefühls unterdrückt. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn jemand sexuelles Begehren, Wünsche nach Sozialkontakt oder kreativer Selbstverwirklichung dauerhaft zurückhält, oder auch, wenn eine Person wütend ist, aber nicht wagt, ihren Ärger auszudrücken. Dann kann ein Überladungszustand entstehen. Die Körperenergie ist aufgeladen, kann aber nicht realisiert werden. Die Person fühlt sich angespannt, übererregt und nervös. Sie hat eine sich ansammelnde Ladung (Aktionsbereitschaft) in sich, die sie nicht in Handeln oder Erleben umsetzen kann. Es entsteht ein chronisch sympathischer Zustand mit Anspannung, Überregung und Stress. Restspannungsstau. Bei einem Restspannungsstau wurden Bedürfnisse zwar in gewissem Umfang realisiert, aber nicht vollständig befriedigt. Es blieb eine Restspannung übrig, die sich ansammelt und im Laufe der Zeit ebenfalls zu einem chronischen Stauungszustand führt. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn ein Mensch intensive positive oder negative Erfahrungen macht, sich danach aber nicht die Ruhe nimmt oder nicht die sozialen Bedingungen dafür vorfindet, um das Erlebte zu verdauen oder wenn ein Mensch
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Körperarbeit
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Abb. 9.5 Dysharmonien des psychovegetativen Zyklus.
bestimmte sozial nicht akzeptierte Aspekte seiner Gefühle und Bedürfnisse zurückhält. Entspannungsblockade. Bei einer Entspannungsblockade verbleibt ein Mensch dauerhaft in einem angespannten Zustand, weil er sich nicht entspannen kann. Er lebt in Unruhe und Erschöpfung zugleich, weil er seine energetischen Batterien nicht wieder aufladen kann. Das ist beispielsweise bei Leistungs- und Aktivitätszwängen der Fall oder in einer Umgebung mit invasivem sensorischem Input (Fluglärm, Überarbeitung, Dauerfernsehen).
•
Psychovegetative Harmonisierung. Psychotherapeutische Interventionen zur Harmonisierung des psychovegetativen Zyklus setzen dort an, wo die natürliche Bewegung blockiert ist:
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Bei antriebsblockierten Menschen sind bspw. energetisierende Körperübungen, mobilisierende Massagen oder aktivierende Alltagsplanungen hilfreich. Bei ausdrucksblockierten Menschen sind z. B. Entladungsübungen, entpanzernde Körperarbeit oder das Üben eines angemessenen emotionalen Ausdrucks im Rollenspiel angezeigt. Wenn die Verdauungsphase blockiert ist, ist bspw. die emotionale Verarbeitung des Erlebten im empathischen Gespräch, haltgebende Körperarbeit oder ausleitende Massage sinnvoll. Wenn die Entspannungsphase blockiert ist, helfen z. B. meditative Entspannungsübungen, Trance-Arbeit, harmonisierende Massagen oder entspannungsfördernde Körperarbeit.
Körperenergie-Diagnostik
Körperstruktur und psychische Struktur. In bestimmten Merkmalen der äußeren Erscheinung des Klienten findet der Körperpsychotherapeut Hinweise auf den Energiezustand des Klienten und kann daraus Rückschlüsse auf seine körperenergetische Gestimmtheit ziehen. In der Körperpsychotherapie geht man von einer funktionellen
Parallelität zwischen der Körperstruktur, der psychovegetativen Dynamik, den Beziehungsmustern, der frühkindlichen Biografie, dem emotionalen und dem kognitiven Erleben eines Menschen aus. Die Dynamik der Abwehrprozesse hat Auswirkungen sowohl auf die Körperstruktur eines Menschen als auch auf seine Beziehungsmuster
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Verfahren und Techniken
Körperenergiezustand Augenausdruck
Muskeltonus
Hände und Füße Bewegungen
Gesicht
vital
gedämpft
übererregt
erstarrt
offen beweglich
verhangen trüb
flirrend flatterig
leuchtend
dumpf
aufgerissen
starrend defokussiert sich in Trance befindend
strahlend wach kraftvoll agil beweglich
blicklos
bohrend
erschlafft schlaff träge kraftlos gebremst
angespannt überaktiv fahrig zittrig
kühl schlapp schwer träge behäbig verlangsamt erschlafft
hektisch nervös heiß hektisch ziellos nervös rot
hängend
gespannt
warm kräftig beweglich harmonisch anmutig geerdet rosig gut durchblutet
Tabelle 9.1 KörperenergieDiagnostik.
starr mechanisch hölzern verkrampft gespannt versteift kalt starr steif angespannt mechanisch blass blutleer
grau bewegungsarm
und Einstellungen. Die biografischen Erfahrungen eines Menschen wirken sich in gewissem Umfang auf seine Körperstruktur aus. So hat beispielsweise die Muskulatur jedes Menschen in jeder Körperregion einen Grundtonus, der die Dicke der Muskelschichten bestimmt. Der Muskeltonus wiederum ist abhängig vom psychovegetativen Tonus dieses Menschen. Ein dauerhaft hoher Tonus der Nackenmuskulatur bspw. erzeugt verdickte Muskelknoten oder -stränge (Myogelosen) im Nacken. Ebenso sind die Körperhaltung, die Körpermasse und der habituelle körperliche und mimische Ausdruck geprägt von der Psychodynamik der Person. Die Gefühle formen den Körper.
» Ab einem gewissen Alter ist jeder Mensch für sein Gesicht selbst verantwortlich. Albert Camus « Körperdiagnostik. Durch Diagnose der Körperstruktur kann ein Körperpsychotherapeut Hypothesen u. a. über das Niveau und die Richtung der Körperenergie des Klienten entwickeln. In der
Körperstruktur findet er Hinweise darauf, wie die Körperenergie verteilt ist und welche Bewegungsdynamik sie aufweist: • Bei manchen Menschen ist die körperenergetische Dynamik nach vorne gerichtet. Sie sitzen auf einem Stuhl auf der vorderen Kante, stets bereit aufzuspringen. Sie stehen auf dem Fußballen, als ob sie nach vorne kippen könnten. Sie sind auf dem Sprung wie ein Sprinter, jederzeit bereit zum Loslaufen. • Bei anderen Menschen ist die Richtung ihrer psychomotorischen Energie nach hinten verlagert. Sie stehen fersenlastig, wirken zurückgehalten und gebremst. Sie „kleben“ beim Sitzen an dem Sitzmöbel und haben Mühe, sich von einem Stuhl oder Sessel zu erheben. • Bei manchen Menschen ist der Schwerpunkt ihrer Körperenergie nach unten verlagert. Die untere Bauchregion, Hüften, Po und Oberschenkel und Waden wirken breiter und fülliger als der Oberkörper. Ihr Körper ist nach unten hin birnenförmig erweitert.
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•
Andere Menschen haben eine trichterartige Körperform. Der Brust- und Schulterbereich wirkt gedehnt. Die Schultern sind trapezförmig erweitert. Sie haben ein großes Atemvolumen, die Beine und Füße wirken dünn, die Füße sind klein, die Bodenhaftung ist schwach. Ihre Energie ist nach oben verlagert.
Eine 19-jährige Klientin ist klein, zierlich und agil. Sie ist ständig in Bewegung, häufig im Laufschritt, immer auf dem Sprung, stets bereit, Erwartungen anderer Menschen zu erfüllen. Selbst in einem Entspannungssessel in meinem Therapieraum sitzt sie wippend und ungeduldig auf der vordersten Kante. In den Therapiesitzungen beschäftigt sie oft, was ich von ihr erwarte und wie sie meine Erwartungen erfüllen kann. Ich möchte ihr helfen mit ihrer Aufmerksamkeit zu sich selbst, in ihren Körper hinein und zu mehr Ruhe zu kommen. Ich lade sie ein, sich auf eine Matratze zu legen, sich zuzudecken, in ihren Körper hineinzuspüren und still zu werden, ohne etwas zu tun. Zunächst spürt sie einen Impuls aufzuspringen und unruhig im Therapieraum hin und her zu laufen. Ich fordere sie auf, der unruhigen Getriebenheit in ihrem Inneren auf den Grund zu gehen. Nach einer Weile spricht sie über Gefühle von innerer Leere und Wertlosigkeit und von ihrer zwanghaften Tendenz, diese durch Überaktivität zu kompensieren.
Bodyreading. Für die Körperstruktur eines Menschen spielt natürlich die Vererbung eine Rolle. Die individuelle Ausprägung der körperlichen Gestalt auf Basis der ererbten Determinanten wird jedoch von der Lebensweise, der Lebensgeschichte und der Körperenergiedynamik der Person bestimmt. Abwehrformationen führen zu körperenergetischen Ungleichgewichten, und die verkörperten Abwehrstrukturen korrespondieren mit dominierenden Beziehungsmustern. Daher kann man die Abwehrdynamik und die Beziehungsmuster eines Menschen in gewissem Umfang an seiner Körperstruktur ablesen. Die körperorientierte Diagnosetechnik, in der der Therapeut aus der Körperstruktur des Klienten Hypothesen über seine Psychodynamik entwickeln kann, wird in der Körperpsychotherapie als Körperlesen (Bodyreading) bezeichnet: • Ein Mensch, der Schuldgefühle oder Depressionen wie eine schwere Last mit sich herumträgt, hält sich gebeugt; man sieht das Gewicht,
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das auf ihm lastet, an der Gekrümmtheit seiner oberen Wirbelsäule. Ein Mensch mit einer dünnen Ich-Grenze hat in der Regel wenig Muskulatur, schwaches Bindegewebe und eine dünne, blasse, wenig durchblutete Haut. Ein solcher Mensch hat auch im übertragenen Sinn eine „dünne Haut“. Er erlebt starke emotionale Resonanzen mit der Außenwelt und fühlt sich schnell durch Außenreize irritiert oder beeinträchtigt. Ein Mensch, der dazu neigt, andere Menschen durch Dominanz zu beeindrucken, hat oft viel Muskelmasse und einen breiten, aufgeblähten Oberkörper. Wer seine Muskeln gebraucht, um Impulse zurückzuhalten, der entwickelt eine chronisch angespannte Muskulatur, vor allem in den Muskelpartien auf der Rückseite des Körpers, die expressive, nach vorn gerichtete Bewegungen zurückhalten. Wer dazu neigt, Gefühle in sich hineinzufressen oder sich durch Nahrungsaufnahme zu beruhigen, entwickelt eine Tendenz zur Fettleibigkeit. Ein Mensch mit einem dicken Fell, also jemand, der massige Abwehrschichten um sich herum trägt, ist emotional schwer erreichbar und auch geschützt gegen emotionale Invasionen.
Verkörperte Einstellungen. Auch auf Einstellungen und Überzeugungsmuster finden sich Hinweise in der Körperstruktur und im nonverbalen Körperausdruck des Klienten.
Eine 52-jährige Teilnehmerin einer körperorientierten Fortbildungsgruppe fühlt sich oft einsam und verlassen, obwohl sie de facto sozial gut eingebunden ist. Ihr Augenausdruck wirkt verschleiert, hart und abweisend. In einer Einzelarbeit in der Gruppe sagt sie, sie habe Angst, andere Menschen anzuschauen, weil sie befürchte, sich im Augenkontakt aufzulösen. Sie bedeckt die Augen mit beiden Händen und sagt: „Mir ist alles zu viel. Ich möchte mich nur noch verkriechen.“ Die Augenregion der Teilnehmerin wirkt oberflächlich verschlossen, aber darunter ist sie entgrenzt und über-offen. Wenn Kontakt der Teilnehmerin zu nah wird, zieht sie sich in innere Leere zurück, und ihr Augenausdruck wird undurchdringlich und starr. Ihre korrespondierende kognitive Einstellung ist: „Wenn es nah wird, muss ich mich zurückziehen, sonst löse ich mich auf.“
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Verfahren und Techniken
Der Körper als Substanz. Auch aus der „SubstanzAnmutung“ der Körperstruktur des Klienten kann beim Bodyreading auf seine Körperenergiedynamik geschlossen werden. Der Körper kann z. B. kräftig, zart, zäh, fragil, rigide, prall, aufgeschwemmt, dünn, weich, elastisch, gestreckt, gestaucht, wacklig, warm oder kühl wirken. Dabei können einzelne Körperpartien eine unterschiedliche Anmutungsqualität haben. Ziel. Die Körperstrukturdiagnostik gibt dem Humanistischen Körperpsychotherapeuten Orientierung für den therapeutischen Prozess. Die Diagnostik der Körperstruktur kann dem Therapeuten in Verbindung mit der psychodynamischen Strukturdiagnostik (Buchheim et al. 2006) wertvolle Hinweise geben, bei welchen Klienten eine eher stützende, stabilisierende therapeutische Arbeit und bei welchen Klienten eine eher mobilisierende oder konfrontative Therapie indiziert ist. So hat ein Klient mit einer eher massigen Körperstruktur, einem dicken Muskelpanzer und einem kräftigen, gedrungenen Körper viel körperliches Abwehrpotenzial zur Verfügung. Er kann in seiner Muskulatur und seiner Körpersubstanz viel emotionale Ladung halten oder anstauen. Dagegen hat ein Klient mit einem eher dünnen Körper, schwacher Muskulatur, blasser Haut und wenig Körpergewebe weniger Möglichkeiten der Körperabwehr. Er ist vermutlich stärker von Überflutungen bedroht und neigt mehr zu Dissoziationen. Diese diagnostischen Hinweise sind jedoch immer nur als Hypothesen zu betrachten, die im psychotherapeutischen Dialog geprüft und entwickelt werden müssen. Körperstruktur und Charakterstruktur. In der Körperpsychotherapie unterscheidet man traditionell eine Reihe von Abwehrmustern, die mit bestimmten Körperstrukturen einhergehen (Reich 1970, Boadella 1986, Keleman 1992, Kurtz 1985, Lowen 1981, Reich 1970, Sartory 2006): • Charaktertypen nach Reich. Wilhelm Reich (1970) unterschied folgende Körpercharaktertypen: – Der Zwangscharakter zeichnet sich durch eine insgesamt angespannte Muskulatur und harte Gesichtszüge, einen pedantischen Ordnungssinn und einen Hang zu umständlichem, grüblerischem Denken aus. – Der masochistische Charakter hat einen gedrungenen Körperbau, er neigt zum Klagen und hat ständig das Gefühl zu leiden, ist unge-
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schickt im Umgang mit Menschen und neigt zu Selbstschädigung und Selbsterniedrigung. – Der phallisch-narzisstische Charakter hat einen athletischen Körperbau, scharfe Gesichtszüge und ein selbstsicheres, imponierendes Auftreten. – Der hysterische Charakter ist kokett in Bewegungen, Blick und Sprache, weich und überhöflich, sexuell provozierend und unbeständig in seinen Reaktionen, neigt zu gesteigerter Suggestibilität, zum Fantasieren und zu überstarken Enttäuschungsreaktionen. Charaktertypen nach Lowen und Kurtz. Lowen (1981) und sehr ähnlich Kurtz (1985) unterscheiden folgende Charaktermuster: – Der schizoide Charakter wirkt eingefroren und leblos, die Augen sind abwesend und misstrauisch, der Körper ist kontrahiert, unkoordiniert, zurückgezogen, scheu und sensitiv.
Eine 39-jährige Teilnehmerin einer Fortbildungsgruppe ist relativ klein, sie wirkt dünn und hohlwangig, ihre Haut ist blass, ihre Augen wirken groß, fragend und ratlos. Ihre Haare sind dünn, die Hände sind drahtig, ihre Bewegungen wirken überkontrolliert, als würde sie vor jeder Bewegung nachdenken, ob und wie sie diese Bewegung ausführen sollte. Sie neigt zu allergischen Hauterkrankungen. Sie hat Schwierigkeiten, ihre Gefühle verbal auszudrücken. In der Körperarbeit entstehen oft relativ schnell heftige emotionale Entladungen. Ihre psychophysische Gestalt entspricht weitgehend der von Lowen und Kurtz als schizoid beschriebenen Charakterstruktur.
– Der orale Charakter wirkt kollabiert, neigt zu einer Trichterbrust, wirkt energielos, haltsuchend und sehnsüchtig, der Muskeltonus ist schwach, der Klient wirkt Kontakt suchend, gefällig und abhängig. – Der oral-kompensierte Charakter hat dieselbe Grundstruktur wie der orale Typ, ist aber bemüht, diese Tendenz überzukompensieren durch einen hohen Muskeltonus und die Betonung von Autonomie in Beziehungen. – Der masochistische Charakter wirkt gedrungen und zugeschnürt, er neigt zu passivem Widerstand, Schuld- und Schamgefühlen sowie zu einem Babyface, der Körperschwerpunkt liegt tief, der Klient wirkt überlastet und verlangsamt.
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– Der psychopathische Charakter wirkt hochgezogen und aufgeblasen, der Blick ist intensiv und geladen, die Person wirkt manipulativ und leistungsstark, der Körperschwerpunkt ist nach oben verlagert, der Klient wirkt dominant, großzügig, kontrollierend, charmant und opportunistisch. – Die rigide Struktur wird bei Frauen als hysterisch und bei Männern als phallisch bezeichnet, sie wirkt wohlproportioniert, die Muskeln haben einen hohen Tonus, die Augen sind ausdrucksvoll, die Person hat viel Energie, Angst vor Hingabe und Passivität, ist überfokussiert und sehr emotional. Charaktertypen nach Keleman. Keleman (1992) beschreibt folgende Strukturen: – Die verdichtete Struktur wirkt kompakt, zusammengezogen, unter Druck stehend, sie verhält sich skeptisch und abgesondert und lebt in Fantasien. – Die kollabierte Struktur wirkt zusammengefallen, zurückgezogen, eingesunken, resigniert, leer, unterwürfig und verzweifelt. – Die aufgeschwollene Struktur wirkt aufgebläht, manipulierend, besitzergreifend und benutzt andere, um sich selbst als real zu fühlen. – Die rigide Struktur wirkt nach oben und hinten festgehalten, angespannt und spröde, hart und durchdringend, macht sich größer
9.5
Körperarbeit
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als sie ist und hält ihre Gefühle unter Verschluss. Grenzen der Körperstrukturdiagnostik. Körperstrukturelle Zuordnungen sind nicht als diagnostische Schablonen zu verstehen. Sie dürfen nur als Hinweise betrachtet werden, aus denen psychodynamische Hypothesen abgeleitet werden können. Sie können nämlich in die Irre führen, u. a. weil unter den nach außen hin unmittelbar sichtbaren Schichten von Körperabwehr tiefere Schichten verborgen sein können.
Ein 62-jähriger Klient hat einen massigen Körperbau mit dicken Schichten aus angespannter Muskulatur und prall gefülltem Gewebe. Auf den ersten Blick erscheint er verkrampft, erstarrt und gestaut, sodass mobilisierende und lockernde Körperarbeit angezeigt erscheinen könnte. In der Therapie stellt sich aber heraus, dass dieser Klient nur mühsam emotionale Überladungen und Fragmentierungsneigungen unter Kontrolle halten kann. Seine Panzerungen sind ein notdürftiger Versuch, sich gegen drohende Überflutung zu schützen. Daher darf bei diesem Klienten entpanzernde Therapie, wenn überhaupt, nur sehr behutsam angewandt werden.
Heranführen des Klienten an Körperarbeit
Der Therapieraum. Für körperpsychotherapeutische Arbeit ist es sinnvoll, einen geeigneten Therapieraum zur Verfügung zu haben. Der Therapieraum sollte eine gewisse Größe haben, um Bewegungsarbeit zu ermöglichen (mindestens ca. 20 Quadratmeter). Er sollte lärmfest sein, damit sich die Klienten bei Bedarf durch Schreien, Trampeln, Hüpfen, Schlagen auf Kissen o. ä. emotional ausdrücken können. Utensilien. Hilfreiche Utensilien für Körperarbeit sind: • mehrere flexible Sitzgelegenheiten wie Stühle, Hocker, Sessel oder Kissen, • Plüschtiere, Seile und Hula-Hoop-Reifen für Systemaufstellungen und Rollenspiele, • Decken, eine bezogene Schaumstoffmatratze und ein weicher Teppich für die Arbeit im Liegen, • eine Massagebank,
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ein großer, bezogener Schaumstoffklotz und Tennisschläger für Aggressionsarbeit, einfache Musikinstrumente wie Trommeln, Rasseln und Rhythmusinstrumente für den nonverbalen Ausdruck, für Biodynamiker ein Stethoskop und für Bioenergetiker eine bioenergetische Rolle.
Settings. Während in verbalen Therapieformen nur ein einziges Setting möglich ist (entweder Gegenübersitzen oder der Klient liegt, der Therapeut sitzt hinter ihm), sind in der Körperpsychotherapie vielfältige Positionen und räumliche Arrangements von Klient und Therapeut (Settings) möglich. Der Klient kann sitzen, stehen, liegen, sich im Raum herumbewegen oder zwischen Stühlen, Ringen, Decken oder Kissen hin und her wechseln. Der Körperpsychotherapeut kann ebenfalls in den verschiedensten Positionen und räumlichen Ar-
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Verfahren und Techniken
rangements mit dem Klienten kommunizieren. Der Abstand zwischen Therapeut und Klient kann variieren und sich während der Sitzung immer wieder verändern. Vom Reden zur Körperarbeit. Eine körperpsychotherapeutische Sitzung beginnt in der Regel verbal. Der Klient erzählt dem Therapeuten, wie es ihm geht und was ihn belastet. Der Übergang zum körperpsychotherapeutischen Setting geschieht am einfachsten durch einen Wechsel des Ortes und der Körperhaltung. Wenn der Therapeut den Klienten zu körperpsychotherapeutischer Arbeit einladen möchte, kann er ihn z. B. bitten aufzustehen, im Raum herumzugehen, sich auf eine Massagebank, auf den Teppich oder eine Matratze zu legen, eine Szenerie im Raum aufzubauen oder eine dynamische Körperhaltung einzunehmen. Eine 48-jährige Klientin berichtet über Schmerzen in der Kreuzbeingegend, die trotz medizinischer und physiotherapeutischer Behandlung regelmäßig auftreten. Ich frage sie, wie lange sie die Beschwerden schon hat, wie die medizinische Behandlung verläuft und in welchen Situationen die Beschwerden auftreten. Dann bitte ich die Klientin, vom Sessel aufzustehen und sich auf eine Matratze auf den Bauch zu legen, lege meine Hand auf ihre Kreuzbeingegend und bitte sie, sich dort hineinzuspüren. So beginnt die Körperarbeit.
Motivation für die Körperarbeit. Klienten, die einen Körperpsychotherapeuten aufsuchen, wollen in der Regel körperpsychotherapeutisch arbeiten. Sie erwarten und wünschen körperorientierte Arbeit und lassen sich gern auf nonverbale Techniken ein. Dennoch kann es vorkommen, dass ein Klient eine bestimmte körperpsychotherapeutische Technik oder Körperarbeit überhaupt als unpassend empfindet und sich nicht darauf einlassen kann oder möchte. Ein Humanistischer Körperpsychotherapeut wird das akzeptieren und die Therapie den Bedürfnissen des Klienten anpassen. Er könnte z. B. zunächst oder überhaupt im Gesprächssetting arbeiten, um die Befürchtungen und Grenzen des Klienten zu verstehen. Jeder Körperpsychotherapeut sollte auch in der Lage sein, nur auf der verbalen Ebene und ohne Körpertechniken psychotherapeutisch zu arbeiten. Bei Klienten, denen körperorientierte Techniken neu sind oder die sich einem angstbesetzten psychischen Bereich nur
behutsam annähern können, ist es wichtig, dass der Therapeut ihnen ermöglicht, sich der körperpsychotherapeutischen Umsetzung des Themas in vorsichtigen, kleinen Schritten anzunähern, wobei sich der Klient bei jedem Schritt aufs Neue entscheiden kann, ob er diesen Schritt gehen möchte oder nicht. Ein 22-jähriger Klient fühlt sich nach einem (narzisstischen) Zusammenbruch seines Selbstwertgefühls niedergeschlagen und mutlos (depressiv). Er quält sich selbst, weil er einer Person, die er liebte, etwas nach seinem Gefühl Demütigendes angetan hat. Das betreffende Ereignis liegt schon Jahre zurück und ist für den Klienten mit großer Scham verbunden. Ich lade den Klienten ein, die Situation mit Plüschtieren symbolisch im Raum aufzubauen, aus einem Abstand von einigen Metern anzuschauen und zu beschreiben. Dann bitte ich ihn, sich der Situation schrittweise räumlich zu nähern, bis die Schamgefühle spürbar, aber noch nicht überwältigend sind. Auf diese Weise kann sich der Klient der schambesetzten Situation emotional annähern, aber auch einen gewissen Abstand dazu halten, um nicht von Scham und Autoaggression überflutet zu werden.
Gruppenübungen. Auch Körperübungen in Gruppen können schrittweise aufgebaut werden, um einen sanften Übergang von einem verbalen Setting zur Körperarbeit zu ermöglichen.
Zu Beginn einer Therapiegruppensitzung lade ich die Teilnehmer ein, aufzustehen und sich im Raum herumzubewegen. Dann bitte ich sie, sich einen Partner zu suchen, der etwa ihre Statur hat, sich mit ihm Rücken an Rücken zu stellen und wahrzunehmen, wie sich das anfühlt. Nach 2–3 Minuten lade ich die Teilnehmer ein, paarweise mit aufrechtem Oberkörper leicht in die Knie zu gehen, sodass eine gewisse Spannung in den Oberschenkeln zu spüren ist. Nach weiteren 2–3 Minuten bitte ich die Teilnehmer zusammen noch etwas tiefer in die Knie zu gehen und die dabei spürbar werdenden Gefühle mit ihrer Stimme auszudrücken. Auf diese Weise führe ich die Gruppenteilnehmer über eine Reihe von Zwischenschritten in eine bioenergetische Körpererfahrungsund Ausdrucksübung hinein.
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9.6
Körperarbeit
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Körperwahrnehmung
Den Körper spüren. Die Förderung der Wahrnehmung des eigenen Körpers und die Sensibilisierung für die Wahrnehmung der eigenen Gefühle als Körperzustände ist eine Basistechnik der Körperpsychotherapie. Die Lenkung der Aufmerksamkeit des Klienten in den Körper hinein ist der einfachste, schnellste und sanfteste körperpsychotherapeutische Weg, um zu einer vertieften Selbstreflexion zu gelangen. Wenn sich der Klient in die Körperempfindungen hinein versenkt, die er als Reaktion auf das Thema, das ihn gerade beschäftigt, verspürt, so führt ihn das in einen körperzentrierten Trancezustand hinein, der die psychotherapeutische Arbeit intensiviert, vertieft und beschleunigt. In der einfachsten Form kann das durch die Aufforderung des Therapeuten geschehen, der Klient möge mit seiner Aufmerksamkeit in sein Körperinneres hineinspüren und fühlen, was er dort wahrnimmt.
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In einer körperorientierten Therapiegruppe frage ich eine 26-jährige Teilnehmerin, wie sie sich fühlt. Sie antwortet schnell: „Ich fühle mich gut“, wirkt aber deutlich verstört, belastet und abwesend. Ich bitte sie, die Augen zu schließen, in ihren Körper hineinzufühlen, ihren Atem wahrzunehmen und zu spüren, wie sich ihr Körperinneres anfühlt. Nach etwa einer Minute sagt die Teilnehmerin: „Ich bin sehr traurig, weil ich einfach keinen Weg mehr finde, mich mit meinem Freund zu verständigen.“ Das Hineinspüren in ihren Körper hat sie in Kontakt mit ihren Gefühlen gebracht.
Atemgewahrsein. Wenn sich der Klient mit Themen beschäftigt, die ihm Schwierigkeiten bereiten, so ist sein Atem in der Regel begrenzt. Das Unterdrücken, Kontrollieren oder Zurückhalten von Emotionen und die Hemmung der Spontaneität des Ausdrucks führen dazu, dass der Atem stockt, unrhythmisch, flach und in der Aus- oder Einatemphase festgehalten ist. Der Therapeut kann den Klienten bitten, sein Atemmuster wahrzunehmen, um zu spüren, wann und wie er Gefühle einschränkt oder blockiert. Atemdiagnostik. Der Therapeut kann das Atemmuster des Klienten beobachten, das ihm diagnostische Hinweise auf die körperenergetische Dynamik des Klienten geben kann:
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Bewegt sich der Atem langsam und fließend, so fühlt sich der Klient vermutlich ruhig und entspannt. Geht der Atem schnell und unruhig, ist der Klient vermutlich in einem Erregungszustand. Atmet der Klient überwiegend im Bauch und ruhig, so fühlt er sich vermutlich geerdet und sicher, seine Emotionen sind ruhig und gedämpft. Atmet der Klient dagegen beschleunigt und überwiegend im Brustkorb, während der Bauch angespannt ist, so erlebt der Klient vermutlich heftige Emotionen, Gefühle kommen hoch und fluten in sein Bewusstsein. Ist der Atem gebremst und verlangsamt, so sind die Emotionen des Klienten vermutlich gehemmt und zurückgehalten. Wenn der Atem frei fließt, sich spontan bewegt und verändert, so sind auch die Emotionen wahrscheinlich in freier, spontaner Bewegung. Ist der Atem flach, mit geringer Amplitude der Atembewegungen und längeren Pausen nach der Ausatemphase, so ist der Klient vermutlich abwesend, versunken, dissoziiert oder in Trance. Ist in der Atembewegung des Klienten die Ausatmung betont, so erlebt der Klient vermutlich ein Abfließen seiner Emotionen oder er drückt sie gerade aus. Ist dagegen eher die Einatmungsphase betont, so hat der Klient vermutlich gerade das Gefühl, Energie zu gewinnen, sich mit Vitalität aufzuladen oder Energie anzustauen (siehe Abb. 9.6).
Gefühle im Körper. Der Körperpsychotherapeut ermutigt den Klienten oft, seine Gefühle im Körper wahrzunehmen. Manchen Klienten fällt es schwer, ein Spürbewusstsein für das Innere ihres Körpers zu entwickeln. Sie brauchen die Unterstützung des Therapeuten, um Kontakt mit ihrem Körperempfinden aufzunehmen. Andere Klienten nehmen in ihrem Körper zunächst nur physikalische Empfindungen wie Druck, Spannung, Wärme, Schwere oder Festigkeit wahr, aber sie können diese Körperempfindungen nicht als Gefühle identifizieren. Diese Klienten brauchen Unterstützung dabei, ihre Emotionen körperlich wahrzunehmen.
Ein Klient leidet seit Jahren unter psychosomatischen Erscheinungen, die ihn oft in Panik versetzen, z. B.
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Verfahren und Techniken
an nächtlichem Herzrasen, Schweißausbrüchen oder Schwindelgefühlen. Er ruft häufig nachts den Notarzt und hat bereits jede erdenkliche medizinische Untersuchung und Behandlung erfolglos hinter sich. Er spürt körperliche Reaktionen, die er nicht versteht und mit denen er nicht umgehen kann. In einer Sitzung berichtet er z. B. über ein Zusammenziehen in der Magengegend, ein Kloßgefühl in der Kehle sowie eine geschwollene Empfindung in seinen Augenlidern. Ich frage ihn: „Bist du vielleicht traurig?“ Er antwortet: „Das könnte schon sein.“ Es fällt ihm schwer, seine vegetativen Körperprozesse als Gefühle zu spüren und zu verstehen.
Der Therapeut kann den Klienten auffordern, die Gefühle, die mit einem Thema verbunden sind, mit dem er sich gerade beschäftigt, in seinem Körper zu spüren. Die Wahrnehmung des Themas im Kör-
per hilft dem Klienten seinen emotionalen Bezug zu dem zu fühlen, worüber er gerade spricht. In einer Supervisionssitzung berichtet eine Psychotherapeutin, dass es ihr schwerfällt, einer bestimmten Klientin von ihr zuzuhören. In den Sitzungen mit der Klientin schweifen ihre Gedanken ab. Die Therapeutin empfindet sich als unkonzentriert, gelangweilt und müde. Ich bitte sie, sich an die letzte Sitzung mit der betreffenden Klientin zu erinnern, dabei mit ihrer Aufmerksamkeit in ihren Körper zu gehen und zu spüren, wie sich die Situation körperlich anfühlt. Sie schweigt etwa fünf Minuten lang, dann sagt sie: „Ich glaube, diese Klientin ist mir ziemlich ähnlich. Ich habe Angst, mich mit ihr zusammen in einen diffusen Nebel hinein aufzulösen.“ Das körperliche Nachspüren hat der Therapeutin geholfen, sich ihrer Gegenübertragungsempfindungen mehr gewahr zu werden.
Abb. 9.6 Psychovegetative Entsprechung verschiedener Atemmuster.
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9.7
Körperarbeit
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Veränderung des Atemmusters
Lösung von Atemhemmungen. Eine chronische Atemhemmung kann (ebenso wie ein dauerndes Über-Atmen) verstanden werden als eine Form der Körperabwehr. Durch ein Festhalten des Atems wird die Intensität des Erlebens gedämpft. Durch Förderung des vollen Atems kann eine solche Atemhemmung gelockert werden. Techniken zur Verstärkung des Atems wurden bereits von Wilhelm Reich (1987) angewandt. Eingebunden in einen umfassenden körperpsychotherapeutischen Prozess, behutsam und mit Rücksicht auf die strukturelle Stabilität des Klienten angewandt, können Techniken der Atemverstärkung ein kraftvolles Instrument des Zugangs zum Unbewussten sein. In der Körperpsychotherapie dienen Techniken zur Verstärkung des Atems dazu, halb bewusste oder unbewusste Inhalte erlebbar zu machen und latente Emotionen zu intensivieren. Der Therapeut lädt den Klienten ein, seinen Atem zu intensivieren, um zu spüren, welche Veränderungen in seinen psychovegetativen Prozessen, Gefühlen und Assoziationen dadurch geschehen. Eine Verstärkung der Atmung führt zu einer Verstärkung der energetischen Ladung und Zirkulation im Körper. Die psychovegetativen Prozesse werden intensiviert, dadurch werden die Emotionen und der emotionale Auftrieb verstärkt. Die Erregung des Klienten steigt, und latente, untergründige Gefühle werden manifest spürbar. Um dies zu bewirken, kann der Therapeut den Klienten z. B. auffordern, voller, schneller und höher in die Brust zu atmen.
Eine 46-jährige Klientin beschreibt eine „feststeckende, krampfartige Empfindung“ in der Solarplexusregion, die sie nicht versteht und die sie vor allem dann spürt, wenn sie allein ist. (Eine fachärztliche Untersuchung blieb ohne medizinischen Befund.) Ich bitte sie, sich hinzulegen und auf ihre Atmung zu achten. Sie atmet praktisch ausschließlich im Bauch. Die Atemwelle endet am Brustbein, unter dem Solarplexus, ihr Brustkorb bleibt beim Atmen unbeweglich. Ich mache sie auf dieses Muster aufmerksam und bitte sie, den Brustkorb in die Atembewegung mit einzubeziehen. Daraufhin entsteht zunächst eine Spannung in der Kieferregion, und die Klientin presst die Lippen zusammen. Ich bitte sie, den Kiefern zu lockern, den Mund zu öff-
nen und mit einem Stimmlaut auszuatmen. Nach einer Weile kommt sie in Kontakt mit alten Gefühlen von Einsamkeit und Angst. Ihre Körperhaltung gleicht der eines Babys, das auf dem Rücken liegt und haltsuchend strampelt. Sie sagt „Ich fühle mich wie ein ausgesetztes Kind.“ Sie spricht darüber, dass sie ab einem Alter von sechs Wochen zuerst in einem Säuglingsheim, dann bei Pflegeeltern untergebracht war.
Zu einem Gefühl hinatmen. Um die Wahrnehmung eines Gefühls zu intensivieren und den Klienten zu ermutigen, sich in das Gefühl hinein zu versenken, kann der Therapeut den Klienten auffordern, das Gefühl im Körper zu lokalisieren und zu dem Gefühl hin zu atmen.
Eine Klientin berichtet von einem Spannungsgefühl auf ihrer Stirn, das sich wie ein „Brett vor dem Kopf“ anfühlt. Ich bitte sie, zu dieser Stelle hin zu atmen. Sie atmet etwas stärker und sieht in ihrer Fantasie eine dicke, schwarze Schieferplatte in ihrer Stirn. Ich bitte sie, in die Schieferplatte hinein zu atmen. Nach einer Weile sagt sie: „Ich habe Angst, etwas zu denken, was ich nicht ertragen könnte.“
Holotropes Atmen. Holotropes Atmen ist eine von Stan Grof entwickelte Atemtechnik, mit deren Hilfe man in tiefe Erfahrungsbereiche eintreten kann, die dem Alltagsbewusstsein normalerweise nicht zugänglich sind. Ziel ist die Erfahrung und Integration abgespaltener Persönlichkeitsanteile und eine Hinbewegung auf die Ganzheit der Person, was durch den Begriff holotrop zum Ausdruck gebracht werden soll (von gr. holos: ganz, trepein: sich richten auf). Die Holotrope Atemarbeit besteht aus einer Kombination von: • beschleunigtem und vertieftem Atmen, • erlebnisevozierender Weltmusik, • gezielten Körperinterventionen (z. B. Druckmassage, Ermutigung des Ausdrucks von Gefühlen) … sowie im Anschluss an die Atemerfahrung aus: • Mandala-Malen und • Sharing (Erfahrungsaustausch).
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Verfahren und Techniken
Stanislav Grof (*1931) ist ein aus der Tschechoslowakei stammender US-amerikanischer Psychotherapeut und Psychiater. Grof studierte Medizin und Philosophie und gilt als Begründer der transpersonalen Psychologie. Er war Leiter des psychiatrischen Forschungszentrums und Assistenzprofessor für Psychiatrie an der Universitätsklinik der Hopkins Universität in Maryland/USA. 1973–1987 unterrichtete er am Esalen-Institut in Big Sur in Kalifornien. Hier entwickelte er zusammen mit seiner Frau Christina Grof die Technik und Theorie des Holotropen Atmens. Seit 1987 lebt und arbeitet er in Mill Valley in Kalifornien und leitet Workshops in vielen Ländern der Welt.
Abb. 9.7 Stanislav Grof (mit freundlicher Genehmigung von Stanislav Grof).
Atem-Trance. Holotropes Atmen ist eine körperorientierte Tieftrance-Erfahrung auf einem stark erhöhten Energieniveau. Der Klient atmet so tief und schnell, wie es ihm möglich ist und drückt, unterstützt durch einen Begleiter (den „Sitter“) und den Leiter der Gruppe seine Emotionen körperlich und mit der Stimme aus. Die Veränderung des Bewusstseinszustandes entsteht durch Verstärkung des Atems, durch Bewegung und Stimme, durch die Musik und den körperlichen Kontakt. Die dynamische Atemtrance beim Holotropen Atmen wird als Eintauchen in die Abgründe der eigenen Seele erlebt, was mit einem hochenergetischen Träumen im Wachzustand oder mit Erlebnissen mit halluzinogenen Drogen vergleichbar ist. Der Prozess, der in der Originalform drei Stunden dauert, findet in der Regel in einem Paarsetting in Gruppen statt. Er beginnt langsam, intensiviert sich, erreicht einen Höhepunkt und klingt dann allmählich aus. Im Laufe des Prozesses kann es zu kathartischen Ausbrüchen und ekstatischen Erfahrungen kommen, die unterstützend begleitet werden. Deutung. In dynamischen Atemtrancen kommt es oft zu intensiven, wachtraumartigen Erlebnissen.
• Ein
Klient fühlt sich im Laufe einer Holotropen Atemtrance als Walfisch und glaubt, er könne die Sprache der Wale verstehen.
• Eine Klientin erlebt ein mittelalterliches Ritual, in •
dessen Verlauf sie geopfert wird. Eine andere Klientin erlebt eine Szenerie, in der sie ein böser Dämon ist, der alles Leben auf der Erde auslöscht.
Solche quasi-halluzinatorischen Atemtrance-Erlebnisse aus den Tiefen der inneren Bilderwelt müssen auf ähnliche Weise integriert, deutend verstanden und verarbeitet werden wie Träume oder vergleichbare Erlebnisse während dynamischer Körperübungen. Rebirthing. Rebirthing ist eine in den 1960erJahren von dem US-amerikanischen Theologen und Unternehmensberater Leonhard Orr (*1937) entwickelte Technik des verbundenen (zirkulären) Atmens (Ein- und Ausatmen ohne Pause) zur Selbsterfahrung, zur Erweiterung des inneren Gewahrseinsraums und zur energetischen Aufladung. Beim Rebirthing können ebenfalls abgewehrte Emotionen und Erinnerungen ins Bewusstsein treten. Kontraindikationen und Probleme der Atemverstärkung. Bei der Arbeit mit Techniken der Atemverstärkung kann es zu starken vegetativen und emotionalen Reaktionen kommen. Daher sollten Personen, die z. B. unter Herz-Kreislauf-Krankheiten, Epilepsie oder schwerem Asthma leiden,
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schwangere Frauen oder Menschen mit frischen Operationswunden nicht am Holotropen Atmen teilnehmen. Ebenso sind diese Techniken für Klienten mit fragiler Struktur nicht oder nur in abgeschwächten Varianten (z. B. nur der Musik zuhören) geeignet. Am Holotropen Atmen und am Rebirthing in der klassischen Version wird kritisiert, dass die Atemtranceerlebnisse nicht psychotherapeutisch bearbeitet, nicht kritisch reflektiert und gedeutet werden und dass die körperliche
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Körperarbeit
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und seelische Stabilität der Teilnehmer vor der Teilnahme oft nicht ausreichend geprüft wird. In der Humanistischen Psychotherapie werden Techniken der Atemverstärkung stets behutsam und eingebettet in langfristige psychotherapeutische Prozesse angewandt, um Kontraindikationen auszuschließen, die Intensität des Erlebens zu begrenzen und die Atemerfahrungen hinterher mit dem Klienten aufarbeiten und integrieren zu können.
Ausdrucksarbeit
Vegetotherapie. In seinem Buch „Charakteranalyse“ (1970) beschrieb Wilhelm Reich die Theorie und Technik der Vegetotherapie. Nach Reich können psychische Abwehrsymptome geheilt werden, wenn abgewehrte Anteile und Erinnerungen zugänglich gemacht werden, indem die damit verbundenen Gefühle durch emotionale Ausdrucksbewegungen wie Zittern, Weinen oder Schlagen auf ein Kissen körperlich ausgedrückt werden. Nach Reichs Anschauung werden auf diese Weise gestaute körperenergetische Ladungen befreit und die darunter liegenden primären Energien spürbar. Charakterpanzer. Freud hatte mit seinem Prinzip „Erinnern statt Agieren“ alle Formen des körperlichen Ausdrucks von Gefühlen sowie jeden körperlichen Kontakt zwischen Therapeut und Klient aus der Psychotherapie ausgeschlossen und die Psychoanalyse zu einem rein verbalen Verfahren gemacht (Freud 1914). Reich überschritt diese Einschränkungen. Er forderte seine Klienten auf, ihre Gefühle körperlich auszudrücken. Er massierte ihre verhärteten Muskelpartien und bat sie, tiefer und schneller zu atmen. Durch die psychotherapeutische Arbeit unmittelbar am Körper, gelang es Reich, zu verdrängten Emotionen vorzudringen, die im psychosomatischen System des Klienten festgehalten sind. Diese körperlich fixierten Verdrängungsmuster nannte er „Charakterpanzer“: „Es überrascht immer wieder, wie die Lösung einer muskulären Verkrampfung nicht nur vegetative Energie entbindet, sondern darüber hinaus diejenige Situation in der Erinnerung reproduziert, in der die Triebunterdrückung sich durchgesetzt hatte. Wir dürfen sagen: Jede muskuläre Verkrampfung enthält die Geschichte und den Sinn ihrer Entstehung.“ (Reich 1987, S. 226 f)
Körperausdruck von Gefühlen. In der Körperpsychotherapie kann der Therapeut den Klienten einladen, seine Gefühle und Impulse körperlich auszudrücken. Das ist besonders dann sinnvoll, wenn der Therapeut bemerkt, dass sich ein körperlicher Ausdruck beim Klienten bereits in Ansätzen zeigt, aber zurückgehalten wird, oder wenn bestimmte Emotionen oder körperliche Ausdrucksformen beim Klienten dauerhaft unterdrückt sind. Der körperliche Ausdruck von Gefühlen verstärkt und differenziert die Wahrnehmung dieser Gefühle (siehe Abb. 9.8). Der Therapeut kann den Klienten auffordern, einen spontanen Körperausdruck zu wiederholen, zu intensivieren, zu übertreiben, zu verändern oder in sein Gegenteil zu verkehren. Wenn sich der Klient mit einem realen oder imaginierten Gegenüber auseinandersetzt, kann der Therapeut den authentischen emotionalen Ausdruck (bei gleichzeitigem Respekt für das reale oder imaginierte Gegenüber) fördern. Dabei kann der Körperausdruck des Klienten intensiv und raumgreifend, aber auch nur subtil und beiläufig sein (Makro- bzw. Mikro-Ausdrucksbewegungen). Manchmal werden relevante Selbst- und Beziehungsaspekte nur angedeutet oder indirekt ausgedrückt. In diesem Fall kann der Therapeut den Klienten einladen, das Gefühl direkt auszudrücken oder eine nur angedeutete Geste zu verstärken und zu übertreiben. Überbetonung des Ausdrucks. Die intensiven Eine 30-jährige Teilnehmerin einer Fortbildungsgruppe wirkt gehemmt und zurückgenommen. In körperlichen Übungen weint sie viel und manchmal fast endlos lange. Ansonsten wirkt sie überfreundlich, aggressionsgehemmt und sehr bedürftig nach Auf-
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Verfahren und Techniken
merksamkeit. Sie berichtet in der Gruppe, dass vor vier Wochen ihre Großmutter gestorben sei, an der sie sehr gehangen habe, und dass sie auf kindliche Weise wütend sei, weil sie sich von der Großmutter verlassen fühle. Ich bitte sie, aufzustehen und die Wut körperlich auszudrücken. Sie stellt sich in die Mitte der Gruppe, sagt: „Ich bin wütend“, schüttelt kurz die rechte Faust – und beginnt zu weinen. Ich stelle einen großen Schaumstoffklotz vor sie hin, gebe ihr einen Tennisschläger in die Hand, nehme selbst einen zweiten, schlage einige Male fest auf den Schaumstoffklotz und bitte die Teilnehmerin, es mir gleichzutun. Die Teilnehmerin schlägt zuerst zögerlich, dann immer stärker werdend und schließlich mit voller Kraft auf den Schaumstoffklotz und macht dabei ihrer Wut und ihrem Schmerz mit ihrer Stimme Luft. Danach sagt sie: „Das war gut … das habe ich mich noch nie getraut.“
Abb. 9.8 Körperpsychotherapeutische Ausdrucksübung.
emotionalen Erfahrungen in der Arbeit mit vegetotherapeutischen Techniken führten in den 1970erJahren in einigen körperpsychotherapeutischen Schulen vorübergehend zu einer Überbetonung der Förderung des emotionalen Ausdrucks. Zeitweise entstand eine neue Moral, nach der man als umso gesünder galt, je lauter man schrie oder weinte und je mehr man sich körperlich ausagierte. Bisweilen kam es zu relativ unbeteiligten Formen des körperlichen Ausdrucks, etwa indem Teilnehmer von körperpsychotherapeutischen Workshops mechanisch mit einem Teppichklopfer auf ein Kissen einschlugen, dabei aber wenig oder gar nichts fühlten – was psychotherapeutisch nicht hilfreich ist. Integration durch Fühlen. In der Körperpsychotherapie geht man heute davon aus, dass die psychische Integration nicht primär durch den Ausdruck abgewehrter Emotionen gefördert wird, sondern
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hauptsächlich durch das Fühlen des vorher Ungefühlten, durch Integration von Abspaltungen in das Selbsterleben und durch die Wiederherstellung natürlicher körperenergetischer Rhythmen (Boyesen 1987, Levin 1998, Janov 1993). Impulse von innen. Bei Klienten, deren Problem vor allem in Selbstunterdrückung und gewohnheitsmäßiger Hemmung ihrer Vitalität und Spontaneität besteht, kann der Therapeut durch einen gewährenden, erlaubenden, nichtdirektiven Stil der Körperarbeit einen Selbsterfahrungsraum öffnen, in dem der Klient seinen inneren Impulsen körperlich folgen und dadurch sein Inneres erkunden kann. In einem Therapiegruppen-Wochenende arbeiten wir im Sommer auf einer Wiese hinter einem Tagungshaus auf dem Land. Eine 25-jährige Teilnehmerin berichtet über einen Zustand von Diffusität, Kontaktlosigkeit, Erstarren und Nicht-Fühlen. Ich lade sie ein, sich in die Mitte der Gruppe zu stellen und ihren spontanen Impulsen zu folgen. Die Teilnehmerin geht in die Mitte der Gruppe, schließt die Augen und verweilt dort für etwa zehn Minuten reglos. Ohne weitere Anleitung entsteht eine kleine Unruhe in ihrem Körper. Sie wiegt sich, streckt sich, tastet mit geschlossenen Augen um sich her, lässt sich zu Boden sinken, krabbelt auf allen Vieren, rollt sich im Gras, trappelt im Liegen mit den Füßen auf den Boden usw. Es entstehen immer neue Bewegungsimprovisationen. Nach etwa fünfzehn Minuten liegt sie mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Bauch im Gras und sagt: „Ich habe das Gefühl, als würde ich die ganze Welt umarmen.“
Freie Assoziation mit dem Körper. Die Technik der freien Assoziation mit dem Körper (Eberwein 1990) ist eine nichtdirektive, prozessorientierte Technik der Körperpsychotherapie. Grundidee ist es, die psychoanalytische Technik der freien Assoziation auf körperliche Impulse und Ausdrucksbewegungen anzuwenden. Der Klient wird ermutigt, seinen körperlichen Bewegungsimpulsen zu folgen und sich durch seine spontanen Ausdrucksgesten in die Tiefe seiner Emotionen hineinführen zu lassen. Wichtig ist, dass die Bewegungen von innen her, intuitiv entstehen, sich aus dem Körpergefühl heraus entwickeln und verändern. Der Therapeut kann den Klienten z. B. mit den Worten: „Fühle, was der Körper tun will und folge dem“ auffordern, seinen emotio-
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motorischen Impulsen zu folgen. Eine solche Formulierungsweise lädt den Klienten ein, sich seinen Impulsen zu überlassen, nicht aber willentliche, gewohnheitsmäßige und kopfgesteuerte Handlungen auszuführen. So kann ein körperenergetischer Fluss, verbunden mit imaginierten Situationen entstehen, also eine Körper-Trance-Dynamik, die sich spontan aus dem Inneren herausausarbeitet.
Zu Beginn einer Therapiegruppensitzung bitte ich die Teilnehmer, aufzustehen und sich im Raum zu verteilen, ihre Augen zu schließen, ihre Körperhaltung und ihre Atmung wahrzunehmen. Dann bitte ich sie, ihre Aufmerksamkeit auf die Region ihres Körpers zu fokussieren, die sie am deutlichsten wahrnehmen und sich in die körperlichen Empfindungen zu versenken, die sie dort spüren. Dann leite ich sie an, aus dieser Körperregion heraus Bewegungen kommen zu lassen. Es entstehen vielfältige Arten der spontanen Bewegung mit verschiedenen Körperteilen. Ich bitte die Teilnehmer, die Bewegungen stärker und größer werden zu lassen, sie mit ihrem Atem zu koordinieren und daraus Stimmlaute entstehen zu lassen. Bei einigen Teilnehmern entsteht ein leiser Singsang, bei anderen ein Stöhnen, Weinen, Lachen, Wimmern oder Schnauben. Nach etwa fünfzehn Minuten bitte ich die Teilnehmer, die Bewegungen wieder kleiner werden zu lassen. Dann fordere ich sie auf, weiter in Bewegung bleibend, durch den Raum zu gehen und mit Bewegungen und Stimmlauten Kontakt zu anderen Gruppenteilnehmern aufzunehmen. Für etwa zehn Minuten entstehen vielfältige Kontaktimprovisationen in Paaren und in kleinen Gruppen, die sich in ständig neuen Varianten, teilweise mit Stimmlauten begleitet, fortentwickeln. Nachdem die Dynamik dieser Bewegungen von selbst ausgeklungen ist, bitte ich die Teilnehmer, sich mit ihren Partnern zusammenzusetzen und auszutauschen, was sie erlebt haben. Anschließend besprechen wir das Erlebte in der Gruppe. Die Teilnehmer berichten über vielfältige Gefühle, Impulse, Fantasien und Erinnerungen während der Übung.
Körperliche Entladung. Die Arbeit mit dem körperlichen Ausdruck kann zum ritualisierten (und dadurch gefahrlosen) Entladen gestauter oder gehemmter Emotionen genutzt werden.
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Verfahren und Techniken
Ein 33-jähriger Teilnehmer einer Therapiegruppe berichtet, er sei wütend auf einen anderen Gruppenteilnehmer, der ihn in der letzten Sitzung gekränkt habe. Ich bitte den Teilnehmer, in die Mitte der Gruppe zu gehen und seine Gefühle körperlich auszudrücken, ohne zu sprechen und ohne den anderen Teilnehmer zu berühren. Der Teilnehmer nimmt sich ein großes Ölfass, das in meinem Therapieraum steht und zwei hölzerne Schlägel und schlägt für etwa zehn Minuten mit großer Wut heftig und sehr laut auf das Ölfass. Danach sagt er: „Das war gut … das hilft … das erleichtert.“ Nun setzt er sich dem anderen Gruppenteilnehmer gegenüber und beginnt, unterstützt durch mich und die anderen Teilnehmer, sich mit ihm verbal auseinanderzusetzen. Es wird deutlich, dass er sich durch das Trommeln von einem Großteil seiner Wut befreit hat. Dadurch wird das Konfliktklärungsgespräch friedfertig und konstruktiv und führt nach etwa 30 Minuten zu einem friedlichen, warmherzigen Kontakt zwischen beiden.
Körperlicher Dialog zwischen Teilen. Der Therapeut kann einen Dialog zwischen verschiedenen Persönlichkeitsanteilen des Klienten anleiten, indem er den Klienten einlädt, Symptome, Befindlichkeiten, Gefühle, Stimmungen oder Organe gestisch miteinander „sprechen zu lassen“. So können verkörperte psychische Dynamiken therapeutisch ausgearbeitet und dissoziierte Teile miteinander und in das Bewusstsein integriert werden.
Eine 42-jährige Klientin mit Autoritätsproblemen umfasst während einer Sitzung ihre rechte Hand kräftig mit der linken und hält sie fest. Ich lade die Klientin ein, ihre Hände weiter miteinander interagieren zu lassen und ihre Assoziationen dazu mitzuteilen. Die rechte Hand wird zu einem Symbol für den Anteil der Klientin, der sich aggressiven Zugriffen ausgesetzt fühlt. Die linke Hand repräsentiert ihr Bedürfnis nach Selbstbeherrschung und Kontrolle. Ich fordere sie auf, die beiden Anteile abwechselnd gestisch und verbal
auszudrücken. Es entsteht ein Dialog zwischen ihrem kontrollierenden und ihrem eingeschüchterten Anteil, was unter anderem eine Beziehungsdynamik der Klientin als Kind zu ihrer Mutter spiegelt.
Impulsressourcen. In der Doppelrealität der Körper-Trance kann der Klient kreativ neue und ressourcenvolle emotio-motorische Impulse entwickeln, aus denen neue Körperbeziehungsmuster erwachsen können, die sich in der Kindheit des Klienten nicht entwickeln konnten. Dadurch findet ein „Nachreifungsprozess“ statt.
Eine 31-jährige Klientin mit multiplen Missbrauchserfahrungen in ihrer Kindheit und Jugend hat nie gelernt, sich von einem Mann, der sich ihr mit sexuellen Absichten nähert, abzugrenzen. „Wenn ein Mann mich bedrängt, lasse ich mich darauf ein, auch wenn ich gar nicht will“, sagt sie. In einer altersregressiven Körpertrance im zweiten Jahr der Therapie inszenieren wir symbolisch die übergriffige Annäherung durch einen Nachbarn, die sie als Kind erlebt hat. Ich spiele den Nachbarn, nähere extrem langsam meine Hand ihrer Wange an, ohne sie zu berühren und fordere die Klientin auf, genau zu spüren, wie sich diese Annäherung anfühlt. Sie sagt: „Ich bin verwirrt. Ich will Nähe, aber es ist auch unangenehm.“ Ich fordere sie auf, zu spüren, ob sie die Art von Nähe, die ihr der Nachbar anbietet, wirklich will. Sie solle mit ihrem heutigen Wissen als Erwachsene prüfen, ob das, was der Nachbar tut, als Kind gut für sie ist oder nicht. Sie kommt in Kontakt mit alten Ekel- und Hassgefühlen, die sie aufgrund ihrer Verwirrung als Kind nicht angemessen spüren und ausdrücken konnte. Ich lade sie ein, diese Gefühle dem Nachbarn gegenüber auszudrücken, sich deutlich gegen ihn zu wehren und zu verhindern, dass er sich ihr auf unangemessene Weise nähert. In der folgenden Sitzung berichtet die Klientin, dass sie seit der letzten Sitzung hochsensibel selbst für kleine Grenzüberschreitungen in ihrem Alltag sei und sich sehr deutlich abgrenze.
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9.9
Körperarbeit
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Aggressionsübungen
Ritualisierung von Aggression. Aus der bioenergetischen Tradition der Körperpsychotherapie stammt die Arbeit mit körperlichen Aggressionsritualen, um Klienten mit gestauten Aggressionen oder gehemmtem emotionalem Ausdruck das gefahrlose Ausdrücken und Durchleben aggressiver Impulse zu ermöglichen. Aggressionsrituale können als Erste Hilfe dienen, um dem Klienten unmittelbar Entlastung zu verschaffen. Aggressionsübungen können aber auch angewandt werden, damit der Klient seine Angst vor seiner eigenen Wut verliert und aggressive Gefühle als Teil seiner emotionalen Wirklichkeit anzunehmen lernt. Bei Klienten, die zu emotionalen Überladungen neigen, können Aggressionsrituale helfen, Hassgefühle zu kanalisieren, sodass sie nicht destruktiv ausagiert werden müssen. Aggressionsübungen ohne Gegenüber. Der Therapeut kann den Klienten einladen, Wutgefühle nonverbal auszudrücken, indem der Klient spürt, was sein Körper tun will. Eine solche offene Anleitung ist jedoch für manche Klienten eine Überforderung, weil sie eine klar vorgegebene Übungsanleitung brauchen. In diesem Fall kann der Therapeut zum Beispiel einen großen, stoffbezogenen Schaumstoffklotz vor den Klienten hinstellen, ihm einen Tennisschläger in die Hand geben, selbst einen solchen nehmen, einige Male modellhaft mit aggressiven Stimmlauten auf den Schaumstoffklotz schlagen und den Klienten auffordern, es ihm gleichzutun. Der Schaumstoffklotz eignet sich auch dafür, um dagegen zu treten. Alternativ kann der Klient Kissen an die Wand oder auf den Boden werfen, mit den Fäusten auf eine Matratze, ein Kissen oder einen dicken, weichen Teppich schlagen, eine Rolle Küchentücher „würgen“, zerreißen oder zerfleddern. In der Regel fantasiert der Klient bei solchen Ausdrucksübungen ein Gegenüber, gegen das sich seine Wutgefühle richten. Dies kann in der Folge weiter bearbeitet werden. Aggressionsübungen mit Gegenüber. Manchen Klienten fällt es relativ leicht, Aggressionen zu spüren und auszudrücken, solange sich diese nicht gegen eine Person richten. Es kann für manche Klienten jedoch eine wertvolle Erfahrung sein, sich in ihrer aggressiven Kraft auch gegenüber
einer anderen Person wahrzunehmen, ohne dass diese oder sie selbst zu Schaden kommen. Zu diesem Zweck dienen Aggressionsrituale im Zweier- oder Gruppensetting (siehe Abb. 9.9). Diese Arbeitsweise ist nur möglich, wenn für alle Beteiligten unzweifelhaft klar ist, dass das Gegenüber nicht körperlich verletzt werden darf, und dass auch der Klient selbst sich nicht verletzen darf. Der Therapeut weist vor Beginn eines solchen Rituals darauf hin, dass jeder Beteiligte die Übung mit dem Wort „stopp“ jederzeit unterbrechen kann. Für Aggressionsrituale mit Gegenüber werden manchmal schaumstoffgepolsterte Plastikröhren (Batakas) oder dicke, weich gepolsterte Boxhandschuhe benutzt. Bei der Arbeit mit Boxhandschuhen darf nicht zum Kopf, zu den Genitalien und bei Frauen nicht im Brustbereich geschlagen werden. Auch tragbare Schaumstoffpolster, wie sie im Karate-Training verwandt werden, können eingesetzt werden. Im Rahmen von Therapie oder Fortbildung verstehen selbst massiv wütende oder sonst abgrenzungsschwache Klienten, dass es sich hier um eine therapeutische Übung und nicht um eine Prügelei handelt. Wenn zu befürchten ist, dass die schützenden Regeln nicht eingehalten werden können, oder wenn das Ritual über die Grenzen zu gehen droht, muss der Therapeut die Übung sofort begrenzen oder beenden. Die Arbeit mit Aggressionsritualen erfordert, dass der Therapeut seine eigenen aggressiven Energien so weit integriert hat, dass er sie weder unterdrücken noch ausagieren muss.
In einer Therapiegruppe ist eine aggressiv-geladene Atmosphäre zu spüren, wobei die Teilnehmer sich nach außen hin konfliktscheu und gehemmt verhalten. Ich lade sie dazu ein, sich in Paaren in etwa einem Meter Abstand einander gegenüber zu stellen, die Arme halb gebeugt zur Seite auszustrecken, die Fäuste zu ballen, ein Stück weit in die Knie zu gehen und ihr Gegenüber anzuschauen. Nachdem sie eine Weile so gestanden haben, bitte ich sie, sich mit aufgerichtetem Oberkörper gemeinsam mit ihrem Gegenüber zu einer Seite hin zu bewegen, sodass ihr Gewicht nur noch von einem Bein getragen wird, wobei der Oberkörper weiter aufrecht und gerade bleibt. Diese Position ist ziemlich anstrengend und
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Verfahren und Techniken
Abb. 9.9 Aggressionsübung.
kann nur für kurze Zeit aufrechterhalten werden. (Es handelt sich um eine bioenergetische Übung, die durch muskulären Stress Aggression aktiviert.) Die Partner sollen, während sie sich weiter fixieren, die Zähne fletschen und Knurrlaute ausstoßen. In der Gruppe entsteht eine sehr lebendige Atmosphäre spielerischer Aggression. Die Teilnehmer drücken auf vielerlei Weise Wut aus und es macht ihnen
sichtlich Spaß. Ich bitte sie nach einigen Minuten, wieder zu einer mittigen Körperhaltung zurückzukommen und dort zu bleiben. Durch die Entlastung der Beine kommen die Teilnehmer zur Ruhe, die Wutäußerungen klingen ab, und die Partner können im Augenkontakt die eigene aufgeladene Präsenz und die Präsenz ihres Gegenübers spüren.
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9.10
Körperarbeit
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Halt gebende Körperarbeit
Holding. Unter „Holding“ versteht man in der Körperpsychotherapie eine Form der Berührung, bei der dem Klienten ein Gefühl von Halt und Sicherheit, Kontakt und Begleitung sowie von Erdung im eigenen Körper gegeben wird (siehe Abb. 9.10 ab). Holding kann eingesetzt werden, um chronisch verspannten und gestressten Klienten ein Gefühl von Geborgenheit und Loslassen zu vermitteln. Es kann in Krisen- oder Überflutungssituationen als Erste-Hilfe-Maßnahme dienen, um einen emotional überfluteten Klienten zu beruhigen und ihm ein Gefühl von Halt und Sicherheit zu geben. Das ist therapeutisch allerdings nur dann indiziert, wenn der Klient und ggf. die Gruppe an die Arbeit mit körperlichem Kontakt gewohnt ist. Der Klient darf die Berührung weder als einengend noch als zudringlich oder sexualisierend empfinden. Er muss sich jederzeit darüber im Klaren sein, dass er die volle Kontrolle über die Situation hat, d. h. entscheiden kann, ob ihm die Berührung zu nah, zu leicht oder zu diffus ist, ob er mehr davon haben oder das Holding beenden möchte.
In einer Therapiegruppe berichtet eine 32-jährige Teilnehmerin aufgewühlt davon, dass sie in ihrer Brust einen Knoten ertastet habe und nun Angst vor Brustkrebs habe. Am nächsten Tag habe sie einen Termin zur Mammografie. Sie sei panisch, vor allem weil sie vor einigen Jahren miterlebt habe, wie eine Freundin an Krebs gestorben sei. Ich bitte die Teilnehmerin, sich in die Mitte der Gruppe zu legen. Die anderen Gruppenteilnehmer und ich setzen uns um sie herum, schieben behutsam unsere Hände unter ihren Körper und geben ihr das Gefühl, gehalten, getragen und geborgen zu sein. Die Teilnehmerin sagt: „Das ist sehr schön … es könnte noch mehr sein.“ Die Gruppenteilnehmer und ich legen unsere Hände auf ihre Stirn, ihre Schienbeine, ihre Arme und Hände und geben ihr ein Gefühl von Gehaltenwerden und Geborgenheit. Die Teilnehmerin schluchzt heftig und zittert am ganzen Körper. Nach ca. zehn Minuten beruhigt sie sich. Ihr Atem wird ruhiger und ihre Gesichtszüge entspannen sich. Sie sagt: „Vielen Dank an euch alle … Ich fühle mich viel ruhiger.“
Korrektive Erfahrungen. Wenn sich der Klient in einem Körper-Trance-Zustand mit geöffneten Abwehrgrenzen befindet, ist es ihm möglich, kor-
rektive Erfahrungen zu verinnerlichen, die dauerhaft auch solche Muster verändern können, die im Alltagsbewusstsein durch Abwehrprozesse fixiert sind und nur immer wieder automatisch reproduziert werden.
Ein 29-jähriger Teilnehmer einer Therapiegruppe lebt in einem chronischen Gefühl des Unwillkommenseins. Er hat in seiner frühen Kindheit die Erfahrung verinnerlicht, von seinen Eltern eher geduldet als liebevoll empfangen zu sein. Er fühlt sich schnell abgelehnt und ignoriert und zieht sich dann in ein Schneckenhaus zurück. In einer altersregressiven Körper-Trance erlebt er die entleerte, depressive Atmosphäre seines Elternhauses, die Belastetheit und Ausgelaugtheit seiner Eltern und deren Mangel an emotionalen Ressourcen. Während er sich in der Altersregression befindet, frage ich ihn, wie er als Kind sich seine Familie idealerweise wünschen würde, sodass er zu einem kraftvollen, in sich selbst ruhenden Mann heranwachsen könne. Er beschreibt als Wunschbild zufriedene Eltern mit einer liebevollen Bindung zueinander und zu ihm als Kind, die stark und ausgeglichen sind und mit ihrem Leben gut zurechtkommen. Wir inszenieren diese Erfahrung in der Gruppe in einem körperorientierten Rollenspiel mit Stellvertretern für die „guten Eltern“. In der Positiv-Inszenierung sitzt die ganze Familie auf einer Bank an einem See, die „Eltern“ lächeln und schauen einander liebevoll an. Beide streichen dem „Kind“ liebevoll über den Kopf und sagen ihm, dass sie es lieb haben. Der Klient ist tief berührt. Danach sagt er: „Das ging mir durch und durch … Es ist, als ob ich die Welt jetzt viel farbiger sehe als zuvor.“
Umprägung. Korrektive Erfahrungen auf der Erwachsenenebene bleiben therapeutisch oft relativ wirkungslos. Wenn ein Mensch mit einer alten Selbstbildprägung, hässlich, dumm oder nicht liebenswert zu sein, als Erwachsener die Erfahrung macht, als attraktiv, klug oder liebenswert gesehen und behandelt zu werden, wird er das unter Umständen nicht glauben und entsprechende Angebote nicht wirklich annehmen können. Geschieht das aber im Zustand einer altersregressiven KörperTrance mit geöffneten Abwehrgrenzen, so wird das nahezu ebenso verarbeitet, als ob es sich um eine
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Verfahren und Techniken
a
b Abb. 9.10 ab Holding. a im Einzelsetting, b in der Gruppe.
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reale Kindheitserfahrung handelte. Es geschieht ein regressiver Umprägungsprozess, der Einstellungen und Beziehungsmuster dauerhaft verändern kann. Körperarbeit mit schwer strukturgestörten Klienten. Auch mit schwer traumatisierten oder psychotischen Klienten sowie im stationären oder forensischen Setting kann mit körperorientierten Techniken gearbeitet werden. Hier wird in der Regel mit einfachen, behutsamen Techniken der
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Körperarbeit
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Körperwahrnehmung oder mit minimalen Veränderungen der Körperhaltung gearbeitet, wobei besonders vorsichtig vorgegangen und immer wieder betont wird, dass die Arbeit freiwillig ist und jederzeit nach dem Gefühl und den Bedürfnissen des Klienten abgebrochen oder unterbrochen werden kann. Mit diesen Klienten arbeiten Körperpsychotherapeuten vor allem mit Techniken des Containment, des Ausleitens und Beruhigens (Asbeck u. Tasche 2007).
Arbeit mit Körperhaltungen
Körpersymbolik. Der Therapeut kann die Aufmerksamkeit des Klienten auf gewohnheitsmäßige Körperhaltungen und deren symbolische Bedeutungen lenken. Er kann dem Klienten z. B. vorschlagen, eine symbolische Körperhaltung einzunehmen, die geeignet ist, eine emotionale Dynamik zu aktivieren. Der Therapeut kann auch beobachten, was der Klient durch eine spontan eingenommene Körperhaltung emotional ausdrückt und ihn auffordern, diesen Körperausdruck zu wiederholen oder zu verstärken. Er kann den Klienten einladen, eine gezeigte Körperhaltung oder Ausdrucksgeste beizubehalten und dabei auf seine Gefühle, Fantasien und Impulse zu achten. Mit all diesen Techniken kann er den Klienten in ein Körper-Trance-Erlebnis hineinführen, in dem sich biografische Bezüge des Klienten öffnen, die dann in körperorientierter Altersregression durchgearbeitet werden können.
Ein 30-jähriger Teilnehmer einer Therapiegruppe hat sich in eine Gruppenteilnehmerin verliebt. Diese hat gerade eine neue Beziehung begonnen und ist an dem in sie verliebten Gruppenteilnehmer als Mann nicht interessiert. Der Gruppenteilnehmer spricht davon, dass er sich schrecklich fühle, das aber nicht näher beschreiben könne. Ich bitte ihn, das Gefühl körperlich auszudrücken. Er kauert sich auf dem Boden zusammen, bedeckt sich mit einer Decke und zieht sich zusammen, als ob er versuchen würde, im Boden zu verschwinden. Nach einer Weile sagt er: „Ich schäme mich so sehr … Wie konnte ich hoffen, bei dir anzukommen.“ Die Ausdrucksübung hat ihm geholfen, Zugang zu intensiven Schamgefühlen zu finden, die im weiteren Verlauf durchgearbeitet werden können.
Bioenergetische Übungen. Die psychotherapeutische Arbeit mit Körperhaltungen, in denen bestimmte Muskelpartien einer Stressspannung ausgesetzt werden, stammt aus der Bioenergetik und wurde von Lowen (1986) und Pierrakos (1999) entwickelt. Der Therapeut leitet den Klienten an, sich in eine Körperhaltung zu begeben, bei der bestimmte Muskelpartien einer Belastung ausgesetzt sind, oder bei der der Körper in bestimmten Bereichen gedehnt wird (siehe Abb. 9.11). Lowen und Pierrakos haben etwa zwanzig solcher Stresspositionen entwickelt und detailliert beschrieben.
Als Anfangsübung einer Therapiegruppensitzung bitte ich die Teilnehmer, sich im Raum zu verteilen und so hinzustellen, dass um sie herum etwas Abstand ist, die Füße etwa schulterbreit, die Augen geschlossen und den Mund geöffnet. Die Arme werden seitlich ausgestreckt, die Teilnehmer gehen leicht in die Knie und biegen dann ihren Körper langsam nach hinten, sodass von den Knöcheln bis zum Scheitel ein Bogen entsteht, der möglichst nirgendwo durch einen Knick unterbrochen sein soll. Wenn die Teilnehmer merken, dass die Position anstrengend wird, sollen sie die aufkommenden Empfindungen mit der Stimme ausdrücken. Es entsteht ein Vibrieren in den Beinen der Teilnehmer, das sich durch die Vorderseite des Körpers nach oben fortsetzt und durch wütende, stöhnende oder schluchzende Stimmlaute zum Ausdruck gebracht wird. Ich bitte die Teilnehmer, zur Verstärkung der Übung die Arme ausgestreckt seitwärts und dann langsam nach oben bis über den Kopf zu führen, was zu einer weiteren energetischen Aufladung sowie zum Ausdruck intensiver Emotionen führt. Nach einigen Minuten führe ich die Teilnehmer behutsam aus der bioenergetischen „Bogenhaltung“ wieder
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Verfahren und Techniken
Abb. 9.11 Anleitung der bioenergetischen Bogenübung.
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heraus, leite sie an, innerlich in Kontakt mit den gerade gefühlten Emotionen zu bleiben, sich in Paaren
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Körperarbeit
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zusammenzusetzen und sich darüber auszutauschen, was sie erlebt haben.
Berührungstechniken
Wozu Berühung. Im Rahmen der Humanistischen Psychotherapie kann die Arbeit mit körperlichen Berührungen dazu dienen, die Wahrnehmung des Klienten für seinen Körper, für seine Präsenz und seine Gefühle zu fördern. Sie kann in Form von Massage den körperenergetischen Tonus des Klienten aktivieren, harmonisieren oder beruhigen. Berührung kann Halt gebende Zuwendung und Fürsorge sein oder therapeutische Regression fördern. Sie kann geschützte positive Erfahrungen mit körperlichem Kontakt ermöglichen oder einen nonverbalen Kommunikationskanal zu Erlebnisschichten unterhalb des kognitiv-sprachlich Zugänglichen eröffnen. Wahrnehmungsförderung. Bei wahrnehmungsfördernden Berührungen geht es darum, die Selbstwahrnehmungsfähigkeit des Klienten für seinen eigenen Körper zu stärken und ihn mit seinem Körper und mit seinen Gefühlen in Kontakt zu bringen.
Eine 42-jährige Klientin berichtet aufgeregt, sie habe ein Wochenende mit ihrer Schwester und ihrer Mutter verbracht und sich mit beiden heftig zerstritten. Die Klientin wirkt aufgelöst und redet wie ein Wasserfall, aber ohne wirklichen emotionalen Kontakt zu sich selbst. Nachdem ich ihr etwa 15 Minuten lang zugehört habe, bitte ich sie, ihren Redefluss zu unterbrechen, sich hinzulegen und in sich hineinzuspüren. Sie sagt: „Ich habe Angst.“ Ich frage sie, wo sie die Angst körperlich spüre. Sie deutet auf ihren Bauch, etwa eine Handbreit über dem Nabel. Ich lege vorsichtig meine Hand auf diese Stelle. Die Klientin beruhigt sich etwas. Nach einigen Minuten werden ihre Augen feucht, und sie sagt: „Es ist so traurig. Wir haben uns doch eigentlich lieb.“ Die Berührung hat ihr geholfen, vom „Darüberreden“ zu ihren Gefühlen zu kommen.
Ein 25-jähriger Klient berichtet, er sei angenervt von sich selbst, weil er sich gefangen fühle in der Rolle des immer braven, netten Kerls. Ich bitte ihn, sich hinzulegen und zu spüren, wo er die Angenervtheit in seinem Körper wahrnimmt. Er deutet auf seine Magengegend und sagt: „Hier sitzt es … Es will heraus.“ Ich lege meine Fingerspitzen auf seine Magenregion und lockere mit einer leichten, vibrierenden Bewegung die Spannungen seiner Bauchmuskulatur. Der Klient beginnt, tiefer zu atmen und bewegt seine Hände in schlangenartigen Greifbewegungen in der Luft. Ich frage ihn: „Wie fühlt sich das an?“ Er antwortet: „Da ist etwas wie eine Krake in meinem Bauch … Es kommt nur bis hierher und bleibt hier stecken“, der Klient zeigt mit der Hand auf seine Kehle. Ich massiere den Solarplexus und die Zwerchfellregion und streiche leicht über Brustbein, Kehle und Kinn bis zum Mund. Der Klient äußert zunächst würgende, dann wütende Geräusche. Er tritt mit den Beinen in die Luft und sagt: „Die Krake tritt mich von innen … Sie sagt zu mir: ‚Hau auf den Tisch! Sei ein Mann!’“ Die Aggression, die der Klient zu Beginn innen festgehalten und gegen sich selbst gerichtet hatte, beginnt, eine Ausdrucksrichtung zu finden.
Symbolische Berührung. Symbolische Berührungen finden in der Körperpsychotherapie oft im Rahmen eines improvisierten Rollenspiels statt. Symbolische Berührungen drücken eine Beziehungsdynamik mit Hilfe einer Körpersymbolik aus. Ein 35-jähriger Klient im zweiten Jahr der Therapie berichtet, er fühle sich oft Männern gegenüber unterlegen, wie geschrumpft und eingeigelt in einem Gefühl der Unfähigkeit. Ich bitte ihn, dieses Gefühl körperlich auszudrücken. Er krümmt sich auf dem Boden zusammen und zieht den Kopf ein. Er sagt:
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Verfahren und Techniken
„Ich fühle mich wie ein Sklave, der für die Großartigkeit anderer Männer herhalten muss.“ Ich lege ein Kissen auf seinen Rücken, setze mich darauf und „mache es mir dort bequem“. Der Klient sagt: „Ja genau, so fühlt sich das an … Ich schäme mich, dass ich das immer wieder mit mir machen lasse“. Die Körpersymbolik lässt eine (narzisstische) Beziehungs- und Übertragungsdynamik unmittelbar erlebbar und bearbeitbar werden.
Eine 43-jährige Gruppenteilnehmerin verbrachte ihre ersten Lebensjahre bei ihren Großeltern in einem anderen Land. Sie fühlte sich abgeschoben und ihren gleichaltrigen Cousins und Cousinen gegenüber benachteiligt. Sie reagiert ablehnend auf eine andere Gruppenteilnehmerin, die sie an ihre Cousine aus der damaligen Zeit erinnert, und die die Lieblingsenkeltochter des Großvaters war. Ich setze mich leicht erhöht schräg hinter die zweite Gruppenteilnehmerin, streiche dieser symbolisch übers Haar wie ein Großvater seiner Enkelin und schaue dabei wie unbeteiligt zu der ersten Gruppenteilnehmerin hinüber. Diese sagt: „Es macht mich wahnsinnig, das so zu sehen … Ich gebe es nicht gerne zu, aber ich bin total eifersüchtig.“ Die symbolische Berührung hat das emotionale Erleben einer alten Beziehungsdynamik aktiviert.
Casriel-Bonding. Eine stark dynamisch wirkende Variante der Arbeit mit körperlicher Nähe wird als Bonding bezeichnet (Casriel 1975, Wehrli 2005, 2007). Die Bonding-Methode wurde in den 1960er-Jahren von dem New Yorker Psychiater und Psychoanalytiker Daniel Casriel (1924–1983) in der Arbeit mit schwer drogenabhängigen und persönlichkeitsgestörten Jugendlichen entwickelt. Sie wird auch als New Identity Process (NIP) bezeichnet. In seinem 1972 veröffentlichten Buch „Wiederentdeckung des Gefühls“ entwickelt Casriel die Theorie, dass Menschen, die sich in stabilen Bindungen und auch körperlich sicher gehalten und wahrgenommen fühlen und die in vertrauensvoller Nähe zu anderen Menschen leben, belastbarer in Krisen und widerstandsfähiger besonders gegen Süchte und destruktives, antisoziales Verhalten sind. „Casriel konnte beobachten, dass die meisten seiner Patienten unter
einem Mangel an menschlicher Nähe litten. Die Patienten waren nicht verrückt, sondern emotional am Verhungern“ (Wehrli 2005, S. 16). Bonding wird vor allem in Gruppen angewandt. Ziel ist es, dass die Teilnehmer ihre Wünsche nach Nähe spüren und sich mit Ängsten vor Nähe auseinandersetzen können. Ablauf des Bonding. Beim Bonding legt sich ein Gruppenteilnehmer mit dem Rücken auf den Boden, und ein anderer Gruppenteilnehmer legt sich mit seinem ganzen Körper auf seinen Bauch. (Wenn das Gewicht des oben liegenden Teilnehmers zu groß ist, kann dieser sich mit den Knien und den Ellenbogen abstützen.) Die Übung kann auch im Stehen durchgeführt werden. Sie kann nur einige Minuten dauern, aber auch über mehrere Stunden ausgedehnt werden. Der unten liegende Protagonist kann durch volles, intensiviertes Atmen tiefer in das Erleben des nahen körperlichen Kontaktes hineingehen und seine Empfindungen und Impulse körperlich und stimmlich ausdrücken. Er wird in eine körperorientierte Altersregression geführt, kann seine verletzten Bedürfnisse nach Bindung, körperlicher Nähe und emotionaler Offenheit durchfühlen und seine Empfindungen durch Schreien ausdrücken. Der Prozess kann mit der Aufforderung eingeleitet werden, einen Initialsatz zu schreien, z. B. „Warum hast du mich nicht geliebt?“, „Warum hast du nie Zeit für mich?“, „Mama, ich hätte deine Liebe gebraucht!“ oder „Ich brauche Liebe!“ Dabei kommen oft starke Gefühle und abgespaltene Erinnerungen ins Bewusstsein. Der Protagonist soll dann nach Casriel nicht vorschnell getröstet, sondern zunächst in seinem Schreien und beim Atmen unterstützt werden, bis der „Boden seiner Gefühle“ (Casriel) erreicht ist. Oft führt die Bonding-Erfahrung zu Erlebnissen aus der präverbalen Zeit, die z. B. mit überkontrollierendem oder einengendem Festgehaltenwerden oder mit einem Mangel an Geborgenheit und Halt verbunden sind. Die Arbeit mit Bonding-Techniken ist nur mit Klienten empfehlenswert, die Erfahrung mit intensiver Körperarbeit haben. Sie setzt eine respektvolle, beschützende Atmosphäre voraus sowie die Fähigkeit der Teilnehmer und des Therapeuten, dem Sinn der Übung zu folgen, die eigenen Grenzen zu schützen und sich den anderen Teilnehmern gegenüber respektvoll und klar abgegrenzt zu verhalten.
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Psychotherapeutische Massage Gerda Boyesen (1922–2005) war die Begründerin der Biodynamischen Psychotherapie. Sie studierte Psychologie und wurde als Physiotherapeutin ausgebildet. Sie verband Ansätze von Reich, Jung und Freud und erforschte den Zusammenhang von unterdrückten Gefühlen, Muskelspannungen und gestautem Bindegewebe. 1968 ging sie nach London und gründete dort ein Lehr- und Ausbildungsinstitut. Boyesen arbeitete mit der Vegetotherapie und mit dem empathischen Gespräch und entwickelte eine Theorie des Abbaus von psychischem Stress über das Verdauungssystem sowie spezifische psychotherapeutisch wirksame Massagetechniken.
Abb. 9.12 Gerda Boyesen (mit freundlicher Genehmigung von Ebba und Mona Lisa Boyesen).
Ziele psychotherapeutischer Massage. Im Rahmen einer Körperpsychotherapie kann Massage unspezifisch wohltuend und stressreduzierend wirken, aber auch psychodynamisch aktivierend. Sie kann dem Klienten helfen, sich in seinem Körpergefühl zu verwurzeln und sich seiner körperlichen Regungen bewusster zu werden. Massage kann eingekapselte, blockierte oder gestaute Lebensenergie zum Fließen bringen. Sie kann die psychosomatischen Selbstheilungsfunktionen des Körpers aktivieren, körperliche Fehlhaltungen korrigieren, einschränkende Atemmuster befreien, die Integration von Denken und Fühlen fördern, psychosomatische Beschwerden lindern oder Klienten nach traumatischen Ereignissen helfen, sich zu berühigen, zu stabilisieren und zu vitalisieren. Sie kann die Körperabwehr lockern, sodass unbewusstes Material leichter ins Gewahrsein eintritt. Sie kann die Ich-Stabilität stärken, sodass sich die Integrität des Ich gegenüber dem Unbewussten und gegenüber äußeren Einflüssen festigt. Massage-Intentionen. Die Intention der Massage kann sein: • erstarrte und gestaute Lebensenergie zu mobilisieren, sodass der Klient sich hinterher vitaler und emotionaler fühlt, • körperenergetische Disharmonien auszugleichen, z. B. Körperenergie aus einer gestauten, überladenen Region zu einer energiearmen, unterladenen Körpergegend zu transportieren, • gestaute oder verhärtete Bereiche des Körpers zu schmelzen, also angespannte Körperregionen
• •
weicher werden zu lassen, sodass der Klient loslassen und sich entspannen kann, Überladungen aus dem Körperenergiesystem auszuleiten, sodass sich der Klient nach der Massage ruhiger und entspannt fühlt, das Gewahrsein des Klienten für sein materielles Sein im Körper zu stärken, also sein Bewusstsein im Körper zu erden.
Deep Draining. Als Deep-Draining wird eine tiefe, psychodynamisch aktivierend wirkende Muskelmassage bezeichnet, die von Gerda Boyesen (1987) entwickelt wurde. Die Technik ähnelt dem Rolfing (auch: Strukturelle Integration), das die US-amerikanische Biochemikerin Ida Rolf (1896–1979) in den 1960er-Jahren entwickelte. Deep Draining dient dazu, die in chronisch verhärteten Muskelpartien eingeschlossenen Emotionen, Impulse und Erinnerungen zu befreien, um die abgewehrten Dynamiken der emotionalen Zirkulation zuzuführen. Deep Draining ist besonders geeignet für Klienten, die aufgrund einer rigiden Muskelpanzerung Schwierigkeiten haben, sich selbst zu spüren, und die daher in der Therapie dazu neigen, in rationalisierender Oberflächlichkeit zu verharren. Wenn solche Klienten über einen längeren Zeitraum hinweg regelmäßig tiefe Muskelmassage erhalten, lockert sich allmählich ihr Panzer. Der Körper wird weich und emotional durchlässig. Der Klient kommt mehr mit sich selbst in Kontakt. Die verborgenen Emotionen kommen an die Oberfläche und können psychotherapeutisch bearbeitet werden.
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Verfahren und Techniken
Die Technik des Deep Draining. Die Technik des Deep Draining besteht darin, dass der Therapeut in einer festgelegten Abfolge von Griffen alle wichtigen Muskelpartien des Körpers massiert und dabei einen Massagegriff anwendet, der dem Anschlagen einer Gitarrensaite ähnelt, sodass beim Klienten ein reflektorischer Einatmungsimpuls ausgelöst wird. Ein mit dieser Technik unerfahrener Klient hält ab einer bestimmten Massage-Intensität instinktiv den Atem an und verspannt sich. Dann gibt der Therapeut dem Klienten die Anleitung, „in den Massageimpuls hinein loszulassen“ und das reflektorische Einatmen geschehen zu lassen. Auf diese Weise wird die Muskulatur gelockert und die im Bereich von Panzerungen chronisch festgehaltene Atmung befreit, was zu einem Abschmelzen der Muskelpanzerung führt. Anwendung. Deep Draining sollte nur von gut ausgebildeten Körperpsychotherapeuten angewandt und stets mit psychotherapeutischer Arbeit zur Integration der auftauchenden Gefühle und Dynamiken kombiniert werden. Die Deep-DrainingMassage lockert den Muskelpanzer und bringt abgewehrte Körperenergie ins Fließen. Bei Klienten mit schwacher Ich-Struktur und schwacher Körperabwehr kann ein zu intensiv oder zu häufig angewandtes Deep Draining zu Überflutungszuständen führen. Daher sollte eine längere Deep-DrainingBehandlung sorgfältig dosiert und von einer aufmerksamen Strukturdiagnostik begleitet werden.
Im Rahmen meiner körperpsychotherapeutischen Ausbildung erhielt ich eine längere Serie von DeepDraining-Massagen. Am Abend vor einer dieser Sitzungen hatte ich in der Tagesschau eine Meldung gesehen, dass in Indien ein Flugzeug abgestürzt war, wobei es 148 Tode gegeben hatte. Vor der Massage konnte ich mich davon gut distanzieren. Am Ende der Massage wurde mir plötzlich das unsägliche Leid der Angehörigen bewusst, die geliebte Menschen verloren hatten. Dieses Leid mehrhundertfach konnte ich kaum ertragen. Die Massage hatte meine körperliche Schutzschicht, mit der ich mich gewohnheitsmäßig von Katastrophennachrichten dieser Art abgrenzen konnte, vorübergehend geöffnet, sodass meine emotionale Resonanz mich vorübergehend überflutete. Erst nach einigen Stunden schloss sich meine Abgrenzung wieder. Ich fühlte mich nun wieder von der Katastrophe zwar berührt, aber nicht mehr erschüttert.
Ein Klient in einem solchen übermäßig geöffneten Zustand braucht feinfühlige Empathie seitens des Therapeuten, der den latenten Fragmentierungszustand verstehen und dem Klienten erklären muss, um ihn zu beruhigen. Feedback durch Bauchgeräusche. Die Verwendung eines Stethoskops als Biofeedbackinstrument für bestimmte Formen der psychotherapeutischen Massage war eine Entdeckung von Gerda Boyesen. Als junge Physiotherapeutin bemerkte sie, dass in manchen Momenten während ihrer Massagebehandlungen bei ihren Klienten deutlich vernehmbare Bauchgeräusche zu hören waren. Diese Klienten berichteten nach der Sitzung von einem besonders angenehmen, tief entspannten Zustand und einem Gefühl der Befreiung und Erleichterung im Vergleich zu ihrem Befinden vor der Behandlung. Boyesen begann daraufhin, während ihrer Massage die peristaltischen Bewegungen der Verdauungsorgane mit einem Stethoskop zu verfolgen und orientierte sich an diesen bei der Massage (siehe Abb. 9.13). Theorie der Psychoperistaltik. Zur Erklärung der Massagebehandlung mit Stethoskop-Feedback entwickelte Boyesen eine Theorie der Psychoperistaltik (Boyesen 1987). Durch Stethoskopmassage sei es möglich, den Organismus vom sympathischen zum parasympathischen Tonus hin umzustimmen und den Klienten körperlich und psychisch aus einer chronischen Stressposition zu einem psychosomatischen Loslassen und Verdauen von Restspannungen zu führen, was an einer Zunahme bestimmter peristaltischer Geräusche festzustellen sei. Gleichzeitig würden die selbstheilenden Fähigkeiten des Organismus und die selbstregulative Funktion der Psyche aktiviert.
Ein 48-jähriger Klient beschreibt zu Beginn einer Sitzung seinen Zustand als „überangespannt, gestresst, hektisch und aufgebracht“. Er befindet sich in einer akuten Krise, die von einem Konflikt am Arbeitsplatz ausgelöst wurde. Sein Gesicht ist gerötet und wirkt aufgequollen. Seine Stirn und seine Wangen sind heiß, seine Hände und Füße sind kühl. Sein Körperenergiesystem wirkt wie ein Heißluftballon, der nach oben steigt. Seine Körperenergie sammelt sich im Kopfbereich, weil sie keine angemessene Möglichkeit der Entladung oder Beruhigung findet.
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Ich bitte den Klienten, sich auf den Massagetisch zu legen, lege ihm ein Stethoskop auf den Bauch und massiere 40 Minuten lang seinen Kopf, seine Hände und seine Füße. Während der Massage höre ich im Stethoskop ein dauerhaftes, lautes Gurgeln. Der Kopf des Klienten wird kühler, die ödemartigen Schwellungen im Gesicht nehmen ab, Hände und Füße werden warm, Atmung und Herzschlag beruhigen sich. Am Ende der Sitzung sagt der Klient: „Ich fühle mich viel ruhiger … als ob ich innerlich wieder auf dem Teppich bin.“
Abb. 9.13 Stethoskopmassage.
Körperarbeit
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Effekte der Stethoskopmassage. Wenn Stethoskopmassage über einen längeren Zeitraum angewandt wird, schmilzt sie die Abwehrstauungen in den Geweben des Körpers allmählich ab und öffnet auf sanfte Weise die Wahrnehmungskanäle des Klienten nach innen und nach außen. Auch diese Massageform sollte daher durch integrierende Psychotherapie begleitet werden, denn auch sanft schmelzende Massage wirkt längerfristig entpanzernd und kann, vor allem wenn im Untergrund hoch geladenes, abgewehrtes Material lagert, zu Überflutungszuständen führen.
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Verfahren und Techniken
9.14
Weitere körperpsychotherapeutische Techniken
Sonden. Unter einer Sonde versteht man in der Körperpsychotherapie die Aufforderung an den Klienten, zu beobachten, was emotional im Körper geschieht, wenn der Therapeut oder der Klient selbst etwas tut oder sagt (Kurtz 1985). Sonden dienen dazu, Reaktionen, die normalerweise automatisch und unbewusst ablaufen, ins Bewusstsein zu bringen. Kurtz unterscheidet verbale und nonverbale Sonden. • Verbale Sonden sind Schlüsselsätze oder -worte, die z. B. dazu dienen, ein Empfinden des Klienten versuchsweise auf einen Begriff zu bringen. Ein 29-jähriger Klient leidet unter Depressionen, Energie- und Antriebsmangel und einem unerfüllbaren Leistungsdruck. Er sagt: „Gelobt wurde ich von meinen Eltern nur, wenn ich besonders gute Schulnoten nach Hause brachte. Eine Eins war nicht ausreichend, es musste eine Eins plus sein.“ Ich bitte den Klienten, sich auf sein Inneres zu fokussieren und langsam den Satz zu sprechen: „Ich habe das Recht, glücklich zu sein.“ Er sagt den Satz einige Male und variiert ihn dann in: „Ich habe so ein ungeheures Bedürfnis, glücklich zu sein.“ Er weint und spricht über sein tiefes Bedürfnis, sich unabhängig von Leistung angenommen zu fühlen.
•
Bei nonverbalen Sonden führt der Therapeut eine Handlung aus, oder er bittet den Klienten, eine Handlung auszuführen, zum Beispiel seine Haltung zu verändern oder ein Gefühl durch eine Geste auszudrücken und zu beobachten, was daraufhin in seinem Inneren geschieht.
Ein 46-jähriger Klient berichtet über ein krampfartiges Brennen im Oberbauch. Er wurde mehrfach gastroskopisch untersucht und wird medizinisch mit säuredämpfenden Mitteln und mit Antibiotika gegen Helicobacter behandelt, dennoch spürt er, vor allem in akuten Belastungssituationen, noch immer Krampfgefühle in der Oberbauchregion. Ich bitte ihn, sich auf den Rücken auf eine Matratze zu legen. Seine Beine wirken verkrampft. Die Bauchregion wirkt angespannt. Ich hebe als Körper-Sonde sein linkes Bein und drücke gegen seine Fußsohlen, sodass sein Knie in Richtung Bauch wippt. In dem Klienten entsteht der
Impuls, gegen den Druck meiner Hand zu treten. Nach kurzer Zeit tritt der Klient abwechselnd mit beiden Beinen nach unten in die Luft. Ich stelle ihm einen großen Schaumstoffklotz hin, gegen den er treten kann und stütze diesen mit meinem Körpergewicht ab. Der Klient tritt etwa zehnmal mit zunehmender Intensität gegen den Schaumstoffklotz, dabei wölbt sich sein Körper nach oben und die Bauchregion streckt sich. Danach sagt er: „Mein Bauch fühlt sich jetzt viel freier an.“ Durch die Körper-Sonde wurde der Tret-Impuls ausgelöst, und ein zurückgehaltener Ausdrucksimpuls wurde befreit, das lockerte die emotionale Stauung in der Bauchregion.
Übernehmen von Abwehrspannungen. Unterdrückte Gefühle und Impulse können verstärkt und dem Bewusstsein zugänglich gemacht werden, indem der Therapeut die körperlichen Abwehrmuster des Klienten „übernimmt“ und damit als Gegenregulation den unterdrückten Ausdrucksimpuls stimuliert. Die Technik des Übernehmens körperlicher Abwehrspannungen basiert auf dem Gedanken, dass in einem homöostatischen System die Verstärkung einer Seite des Gleichgewichts eine Gegenregulation auf der anderen Seite hervorbringt. Das kann dadurch geschehen, dass der Therapeut mit seinen Händen mit dem Körper des Klienten das tut, was der Klient gewohnheitsmäßig selbst tut. Wenn ein Klient z. B. habituell die Schultern nach vorn zusammenzieht, um sein Herz zu schützen, kann der Therapeut die Schultern des Klienten nach vorn zusammendrücken, und so die Spannung des Klienten übernehmen, sodass der Klient die Schultern loslassen kann (siehe Abb. 9.14). So können auch solche Muskelpartien gelockert werden, die durch bewusstes Loslassen des Klienten oder durch Massage seitens des Therapeuten nicht erreicht werden können. Explizitation. Als Explizitation wird eine Technik bezeichnet, bei der der Klient aufgefordert wird, eine spontane, nonverbale Ausdrucksgeste in eine verbale Mitteilung umzuwandeln. Der Therapeut bittet den Klienten, die Botschaft einer Ausdrucksgeste mit Worten auszudrücken, um explizit verbal mitzuteilen, was vorher nur nonverbal ausgedrückt wurde.
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Abb. 9.14 Übernehmen von Abwehrspannungen.
Körperarbeit
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Verfahren und Techniken
Eine 20-jährige Klientin hält über längere Zeit mit ihrer linken Hand ihre rechte Hand fest. Ich bitte sie: „Fühl mal, was deine linke Hand gerade mit deiner rechten tut … Wenn deine rechte Hand sprechen könnte, was würde sie sagen?“ Die Klientin sagt (als rechte Hand): „Du tust mir weh, lass mich los.“ Eine Beziehungsdynamik wurde zunächst körperlich ausgedrückt und beginnt nun zu sprechen.
Extrojektion. Extrojektion ist eine körperpsychotherapeutische Technik, die darin besteht, dass der Therapeut den Klienten auffordert, mit ihm, dem Therapeuten ritualisiert, das zu tun, was der Klient normalerweise automatisiert mit sich selbst tut.
Eine 36-jährige Klientin berichtet über ein eingeklemmtes Gefühl in der Herzgegend, was sie daran hindert, durchzuatmen. Sie sitzt auf dem Boden und hat den Kopf eingezogen, in einer Haltung, die mich an eine Schildkröte erinnert. Ihre Körperhaltung wirkt, als läge ein schweres Gewicht auf ihrem Nacken. Ich stelle mich hinter sie, lege meine Hände auf ihren Nacken und drücke ihren Nacken leicht nach unten. Ich frage: „Wie fühlt sich das an?“ Sie antwortet: „Das ist noch viel zu schwach.“ Ich drücke allmählich fester werdend die Nackenregion der Klientin nach unten, übernehme also mehr und mehr die habituelle Zusammengedrücktheit der Klientin mit meinen Händen. Nach einer Weile spüre ich einen Aufrichtungsimpuls, also einen Druck des Oberkörpers der Klientin gegen meine Hände nach oben. Ich gebe diesem Impuls Widerstand, halte also mit meinen Händen gegen den Aufrichtungsimpuls, damit die Klientin die Kraft ihres Impulses deutlich erleben kann. Langsam arbeitet die Klientin sich gegen den Druck meiner Hände in eine aufrechte Position empor, findet schließlich zu einer stolzen, selbstbewussten Körperhaltung mit dem „Gefühl, Belastungen standhalten zu können“. In der nächsten Sitzung ist wieder das Gefühl von Niedergedrücktheit Thema. Diesmal setze ich mich auf den Boden und bitte die Klientin, mich auf dieselbe Weise niederzudrücken, wie sie das gewohnheitsmäßig mit sich selbst tut und Sätze dabei entstehen zu lassen, die dazu passen. Sie drückt meine Nackengegend nach unten und sagt: „Ich mache dich klein … Du hast hier überhaupt nichts zu melden.“ Sie drückt die Beziehungsdynamik ihres Körpermusters auf extrojizierte Weise aus.
Biodrama. Als Biodrama wird ein körperorientiertes Rollenspiel bezeichnet. Es handelt sich um eine Verbindung von Techniken aus Körperarbeit, Psychodrama, Gestalttherapie, NLP und Hypnotherapie. Im Kern wird körperpsychotherapeutische Arbeit innerhalb eines psychodramatischen Settings durchgeführt. Oft werden Schlüsselsituationen aus der Lebensgeschichte des Klienten nachgespielt, wobei der Klient in eine Altersregression hineingeführt wird, oder es werden schwierige künftige Ereignisse biodramatisch vorweggenommen. Der Schwerpunkt der emotionalen Interaktion liegt dabei im körperlichen Bereich. Der Klient, der Therapeut und ggf. andere Gruppenteilnehmer drücken die Gefühle, Impulse und Zustände ihrer Rollen körperlich aus und interagieren auf körperliche Weise miteinander.
In einer körperorientierten Fortbildungsgruppe berichtet eine 54-jährige Teilnehmerin, dass sie Schwierigkeiten habe, sich zu entspannen, weil immer, wenn sie das versucht, unbegründete Katastrophenängste sie wie „Wadenbeißer“ in Anspannung versetzen. Ich bitte sie, den Versuch, sich zu entspannen sowie den „Wadenbeißer“ räumlich aufzubauen. Sie wählt für jeden Anteil eine zusammengefaltete Decke und platziert die Decken verteilt im Raum. Sie legt sich am Ort der Entspannung auf den Boden, mit einem Kissen unter dem Kopf und zugedeckt mit einer weiteren Decke. Ich führe sie suggestiv ein Stück weit in die Entspannung hinein. Als sie beginnt, sich zu entspannen, stelle ich ihr linkes Knie hoch und zwicke sie überraschend in die Wade. Sie schreckt hoch und sagt: „Ja, genauso ist es immer.“ Im weiteren Verlauf der Sitzung spielt die Teilnehmerin selbst den Wadenbeißer und „beißt“ mit ihrer Hand in meinen Oberarm, sodass ich „zusammenschrecke“. Der Wadenbeißer verwandelt sich in einen frechen kleinen Kobold, dann in ein quirliges kleines Mädchen, das Aufmerksamkeit und Grenzen von Mama und Papa einfordert. Das Biodrama beginnt, eine lebensgeschichtliche Perspektive zu öffnen.
Abb. 9.15 gibt einen Überblick über den körperpsychotherapeutischen Prozess.
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Körperarbeit
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Abb. 9.15 Der körperpsychotherapeutische Prozess.
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Gewahrsein und Kontakt
Friedrich Salomon (später Frederick, genannt Fritz) Perls (1893–1970) war Psychiater und maßgeblicher Begründer der Gestalttherapie. Er studierte in Berlin 1921 Medizin, wurde Psychiater und erhielt eine Ausbildung als Psychoanalytiker. 1920 lernte er Salomo Friedlaender (1871–1946) kennen, dessen „Philosophie der schöpferischen Indifferenz“ ihn stark beeinflusste. Perls, arbeitete ab 1926 als Assistent bei dem Neurologen Kurt Goldstein in Frankfurt am Main, bei dem er die Gestaltpsychologie kennenlernte und machte Anfang der 1930erJahre eine Lehranalyse bei Wilhelm Reich. Er war am Existenzialismus und an Goldsteins Theorie der organismischen Selbstregulation, später am Zen-Buddhismus und an der Human-Potential-Bewegung orientiert. Er übernahm Rollenspieltechniken aus Morenos Psychodrama und entwickelte sie weiter.
Abb. 10.1 Fritz Perls (mit freundlicher Genehmigung von Klett-CottaVerlag, Stuttgart).
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Abb. 10.2 Laura Perls (mit freundlicher Genehmigung von Shanti Ananda).
10.1
Laura Perls (1905–1990) studierte bis 1926 Psychologie und Philosophie, promovierte in Gestaltpsychologie und war Mitbegründerin der Gestalttherapie. Sie absolvierte eine psychoanalytische Ausbildung und hatte ab 1931 eine psychoanalytische Praxis. Ab 1931 lernte sie Körper- und Bewegungsarbeit bei Elsa Gindler. Sie war an der Berliner Schule der Gestaltpsychologie und an den Ideen von Martin Buber orientiert und verstand Gestalttherapie als dialogischen Prozess. Gemeinsam besuchten Fritz und Laura Perls in den 1920er-Jahren Lehrveranstaltungen u. a. bei Wertheimer, Goldstein und Buber. Sie heirateten 1929, engagierten sich politisch gegen den aufkommenden Nationalsozialismus und flohen gemeinsam zunächst nach Amsterdam, dann nach Südafrika, um dort ein psychoanalytisches Institut aufzubauen. 1946 gingen Fritz und Laura Perls nach Amerika. Gemeinsam mit dem pazifistisch-anarchistischen Schriftsteller Paul Goodman und dem Experimentalpsychologen Ralph Hefferline schrieben sie 1951 das Buch „Gestalt-Therapie“. Ab 1963 leitete Fritz Perls in Esalen seine spektakulären GestaltWorkshops, in denen er einen eher konfrontativen Stil praktizierte, der später als „Westküstenstil“ der Gestalttherapie bezeichnet wurde. Laura Perls entwickelte einen sanften, kooperativen, klientzentrierten Stil der Gestalttherapie („Ostküstenstil“) mit eher unspektakulärer Arbeit in kleinen Schritten, der heute unter deutschsprachigen Gestalttherapeuten verbreitet ist.
Quellen und Grundbegriffe der Gestalttherapie
Quellen. Als Begründer der Gestalttherapie gelten vor allem Fritz und Laura Perls. Sie entwickelten die Gestalttherapie durch zum Teil schroffe Abgrenzung zur Psychoanalyse unter Einbeziehung von theoretischen Einflüssen aus der Gestaltpsychologie, der Feldtheorie Lewins, den körperorientierten Theorien und Techniken von Wilhelm Reich und Techniken des Psychodramas. Die Gestalttherapie wurde beeinflusst durch die existenzialistische Philosophie, den politischen Anarchismus und Goldsteins Theorie der organismischen Selbstregulation. Gestaltpsychologische Begriffe wurden und werden in der Gestalttherapie überwiegend in allgemeiner Form und oft mehr als metaphorische Analogie verwendet (Kritz 1994). Laura Perls und die zweite Generation von Theoretikern der Gestalttherapie (z. B. Gary Yontef, Miriam und Erving Polster, Heik Portele und Frank Staemmler) orientieren sich an den Schriften von Martin Buber.
Ich und Du im Hier und Jetzt. Der Slogan „Ich und Du im Hier und Jetzt“ gilt als Wahrzeichen der Gestalttherapie. Im Zentrum des gestalttherapeutischen Verfahrens steht das unmittelbar erlebte Gewahrsein des Klienten von sich selbst, von seinen Wahrnehmungen und Handlungen im Kontakt zum Therapeuten, ggf. zu anderen Gruppenteilnehmern und zu seiner sozialen Umwelt. Ziele. Ziel der Gestalttherapie ist die (Wieder-) Herstellung selbstregulatorischer Kontaktprozesse und die Integration vermiedener Anteile in die Persönlichkeit des Klienten. Gestalttherapie dient • der Erweiterung der Bewusstheit (Gewahrsein, Awareness) des Klienten als Zentrum seiner Fähigkeit zur Selbstregulation, • der Stabilisierung der Identität des Klienten und • der Förderung seiner Selbstakzeptanz und Selbstverantwortung. Ein zentrales Anliegen der Gestalttherapie ist es, den Klienten zu befähigen,
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Verfahren und Techniken
•
zu unterscheiden zwischen dem, was er wirklich erlebt, tut und wahrnimmt und dem, • was sich lediglich in seiner Fantasie abspielt. Das Reden über Spekulationen, Fantasiegebilde oder das abstrakt-theoretische Räsonieren über das, wie Realität sein könnte bzw. sein sollte, bezeichnete Perls (1976) abschätzig als „aboutism“, als „mind-fuck“ oder als „bullshit“. Gestaltpsychologie. Der Begründer der naturwissenschaftlichen Psychologie, Wilhelm Wundt (1832–1929) erforschte die psychischen Prozesse (vor allem der Wahrnehmung) experimentell so, als ob die Psyche aus einzelnen, klar unterscheidbaren Elementen bestehe (Elementenpsychologie). Als Gegenbewegung dazu entstand aufgrund von Beobachtung des österreichischen Philosophen Christian von Ehrenfels (1859–1932) in den 1930er-Jahren die ganzheitlich orientierte Berliner Schule der Gestaltpsychologie. Als ihre Begründer und Hauptexponenten gelten Max Wertheimer (1880–1943), Wolfgang Köhler (1887–1967) und Kurt Koffka (1886–1941) sowie ihr Schüler Kurt Lewin (1890–1947). Die Berliner Schule wurde vor allem durch Experimentalforschungen und phänomenologische Beschreibungen auf dem Gebiet der Wahrnehmung bekannt. Unter dem Begriff Gestalt verstanden sie ein Organisationsprinzip der Psyche, vor allem der Wahrnehmung. Gestaltgesetze. Aus der Sicht der Gestaltpsychologie ist das menschliche Erleben mehr und etwas anderes, als die Summe der Sinneswahrnehmungen oder Verhaltenselemente, nämlich eine Ganzheit, die auf einer strukturierten Anordnung der Wahrnehmungsgegenstände und des Wahrnehmungsprozesses beruht. Der Mensch nimmt nicht bloß Sinnesreize wahr, sondern Sinneinheiten, Gestalten. Assimilation. Unter Assimilation (von lat. assimulation: Ähnlichmachung) versteht man in der Gestalttherapie den Zweck, um den es beim Kontakt geht. Im Prozess der Assimilation werden, so Perls (1978) Umweltressourcen in einem aggressiven Prozess zunächst zerstört und dann nach den Bedürfnissen der Person umgewandelt. Durch Assimilation ist ein Mensch in der Lage, neue Erfahrungen aufzunehmen und sich von unzuträglichen oder unpassenden Anteilen der äußeren Welt abzugrenzen, wodurch psychisches Wachstum entsteht. Perls vergleicht den Prozess der Assimilation metaphorisch mit dem Beißen, Kauen, Verdauen
und Ausscheiden von Nahrungsmitteln. Ein Apfel wird nicht einfach der Körpersubstanz hinzugefügt. Vielmehr wird die Struktur des Apfels zunächst zerstört. Er wird mit den Zähnen zerkleinert und mit den Verdauungssäften aufgelöst. Ein Teil seiner Substanz wird physiologisch umgebaut und von der Körperchemie verarbeitet und integriert. Metabolische Überreste und unintegrierbare Bestandteile des Apfels werden via Verdauungstrakt aus dem Körper hinausbefördert. Analog, so Perls, müssen Beziehungserlebnisse, Anforderungen, moralische Ge- und Verbote, Theorien oder Wünsche anderer Menschen durch kritische Auseinandersetzung verarbeitet und dabei teils angeeignet, teils zurückgewiesen werden. „Dabei wird die Aggression … von der Destruktivität unterschieden und als eine Leben unterstützende Kraft gesehen, die den Menschen wie alle Lebewesen befähigt, auf das zuzugehen, was nährt und nützt, von dem wegzugehen, was zehrt und schadet und gegen das anzugehen, was Integrität bedroht.“ (Büntig 2008, S. 2)
Eine 25-jährige Klientin wurde zwischen ihrem achten und ihrem zwölften Lebensjahr von dem damaligen Freund der Mutter und weiteren erwachsenen Männern vielfach sexuell missbraucht. In der Folge wurde die Bereitschaft der Klientin, für nahezu jedermann sexuell zur Verfügung zu stehen zu einem Teil ihrer Identität: „Es gibt kaum einen Mann, der mir einigermaßen nahe ist, mit dem ich nicht geschlafen habe.“ Als Kind war sie aufgrund der Machtverhältnisse in der Familie nicht in der Lage, zwischen den sexuellen Zugriffen der Männer und ihren eigenen, kindlichen Bedürfnissen nach Geborgenheit, Zärtlichkeit und Anlehnung zu unterscheiden. Durch fortgesetzte Grenzdurchbrüche bzw. der Unmöglichkeit, eine funktionierende sexuelle Abgrenzung zu entwickeln, war ihre Selbstgrenze im sexuellen Bereich „durchlöchert“. Sie hat als Kind sexuelle Forderungen ohne Assimilation, das heißt, ohne „nein“ sagen zu können, introjizieren müssen. Dadurch wurde wahllose sexuelle Bereitschaft zu einem Leid erzeugenden Anteil ihres Selbstbildes. In der Therapie musste sie lernen, ihre Selbstbegrenzungsbedürfnisse und ihre eigenen zärtlichen und sexuellen Wünsche zu spüren und in Abgrenzung zu Wünschen, die an sie herangetragen wurden, zu definieren und zu behaupten. Sie musste die als Kind introjizierte sexuelle Bereitschaft im Nachhinein „durchkauen“, d. h. lernen, zwischen „du willst x“ und „ich will y“ zu unterscheiden.
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Schöpferische Indifferenz. 1920 begegnete Fritz Perls dem Philosophen Salomo Friedlaender. Dieser hatte 1918 sein Hauptwerk „Schöpferische Indifferenz“ veröffentlicht, in dem er in der Tradition von Hegel und Marx eine spezielle Konzeption der Dialektik dargestellt hatte. Nach Friedlaender bewegen sich Dinge und psychische Vorgänge in Gegensätzen, die einander bedingen. Im Zentrum jeder Polarität postuliert Friedlaender einen Indifferenzpunkt (oder Nullpunkt), aus dem heraus die Gegensätze sich entwickeln. Perls (1981) weist auf Parallellen zwischen Friedlaender und dem Daoismus hin und integriert das dialektische Prinzip in seine Arbeitsweise. Friedlaenders Konzept des kreativen Nullpunktes war der Keim von Perls Idee des Engpasses, in dem und durch den hindurch der Therapeut den Klienten begleiten müsse. Impasse. Als Engpass (engl. impasse: Engpass, Sackgasse, ausweglose Situation) wird in der Gestalttherapie eine Therapiephase bzw. eine psychische Schicht bezeichnet, in der der Klient sich festgefahren und orientierungslos fühlt, ein toter Punkt, eine Blockierung, eine Situation, in der der Klient das Gefühl hat, nicht weiter zu kommen. Der Begriff bezeichnet auch den Zustand vorübergehender Konfusion und Orientierungslosigkeit, den der Klient erlebt, wenn seine Leid erzeugenden Beziehungsmuster durch den Therapeuten herausgefordert werden. Der Klient im Engpass blockiert seine Selbstregulation, weil er an fixierten Gestalten (z. B. alten Einstellungen) festhält. „Wenn der Klient seiner existenziellen Sackgasse nahe kommt …, gerät er in einen Wirbel. Er wird von Panik ergriffen, taub und stumm – nicht bereit, das Karussell von Wiederholungszwängen zu verlassen“ (Perls 1980, S. 179). Aufgabe des Therapeuten ist es, dem Klienten die Sackgasse bewusst zu machen und ihn zu ermutigen, seine eigenen, eventuell ganz neuen Bewältigungsmöglichkeiten zu finden. Das ist oft nicht leicht, denn es setzt u. a. voraus, dass der Therapeut in der Lage ist, zusammen mit dem Klienten vorübergehend die Spannungen auszuhalten, die im Engpass zu spüren sind und dem Drängen des Klienten standzuhalten, der den Therapeuten dazu bringen will, ihm eine Lösung anzubieten, die aber letztlich nicht die Lösung des Klienten wäre.
Therapiephasen. Perls unterschied fünf Therapiephasen, die nach seiner Meinung gleichzeitig den Ebenen der psychischen Struktur entsprechen: a. die Klischee-Ebene, b. Rollen und Spiele, c. die Implosion, d. Impasse und Explosion, e. Authentizität (Perls 1981, S. 145). Staemmler u. Bock (2004, S. 83 ff) schlagen alternativ folgendes Modell der Therapiephasen vor: 1. Stagnation. Der Klient ist unzufrieden, weil wichtige Bedürfnisse nicht erfüllt sind. Er begreift sich jedoch nicht als möglicher Urheber der Veränderung seiner Situation, sondern schreibt die Macht für diese Veränderung äußeren Kräften zu, von denen er sich abhängig erlebt. 2. Polarisation. In dem Klienten steigt ein Impuls, also eine Erregung auf, die ihm Angst macht. Daher versucht er, die Erregung unter Kontrolle zu halten. Er spürt eine unangenehme innere Spannung zwischen einem expansiven und einem kontraktiven Pol. 3. Diffusion. Der Klient erlebt Verwirrung oder Leere („Nichts“), sein Erleben ist ungeordnet, unstrukturiert. Dieses Erleben ist zwar erfahrbar, aber begrifflich nicht exakt beschreibbar. 4. Kontraktion. Der Klient zieht sich körperlich zusammen, und seine Gedanken verdichten sich zu einem eindeutigen, meist aber schmerzhaften oder bedrohlichen Gefühl. 5. Expansion. Der Klient erlebt ein Sich-Ausdehnen, eine Erleichterung, Freude und Friede, Dehnung und Entspannung sowie eine Erweiterung seines kognitiven Horizonts und seiner Verhaltensmöglichkeiten. Gewahrsein. Gewahrsein im Sinne der Gestalttherapie bezieht sich auf das, was ein Mensch in der äußeren Welt und in seinem Inneren (im Organismus-Umwelt-Feld) wahrnimmt und aus den persönlichen Resonanzen, die diese Wahrnehmungen in ihm auslösen. Gewahrsein ist ein aktiver Vorgang, denn wir sind in der Lage, unser Gewahrsein auf bestimmte Aspekte des Feldes der möglichen Wahrnehmungen zu lenken.
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Verfahren und Techniken
10.2
Kontakt
Kontaktverzerrung. Grundlegend für die Theorie und Methodik der Gestalttherapie sind die Konzepte des Kontaktprozesses und der Kontaktverzerrungen. Nach Perls, Hefferline und Goodman (1979) kommt es zu psychischem Leid, wenn der Prozess der Auseinandersetzung eines Menschen mit seiner sozialen Umwelt (der Kontaktprozess) nicht angemessen und vollständig geschieht. Selbstregulation. Nach Perls, Hefferline und Goodman (1979) trägt jeder Mensch die Tendenz und die Fähigkeit zur organismischen und psychischen Selbstregulation in sich. Wenn der Prozess der Selbstregulation misslingt, so kommt die Person in einen Zustand der Dysregulation, der als psychisches Leid erlebt wird. Perls et al. verstehen den Prozess der psychischen Selbstregulation als unendliche Abfolge von Kontaktzyklen, wodurch die Persönlichkeit lebenslang wächst und reift und sich durch Auseinandersetzung mit der Umwelt und mit sich selbst weiterentwickelt. Ein Unterbrechen oder eine Blockierung von Kontaktzyklen führt zu psychischem Leid. Figur-Grund-Prozesse. Aus gestaltpsychologischer Sicht treten, gesteuert von Bedürfnissen, unentwegt bestimmte Aspekte aus der zunächst amorphen Masse von möglich Wahrnehmbarem in den Vordergrund des Gewahrseins und werden zu einer sinnhaften Ganzheit, zur Figur, die vor dem Grund (oder Hintergrund) abgehoben und dadurch prägnant wird. Wenn der Kontaktprozess auf befriedigende Weise abgeschlossen ist, oder wenn aktuell etwas anderes in den Vordergrund kommt, tritt die Figur in den Hintergrund und macht einer neuen Figur Platz. Unabgeschlossene Gestalt. Wenn eine Gestalt offen bleibt, weil ein Kontaktprozess nicht vollständig abgeschlossen werden konnte, so entsteht eine Kontaktstörung, die psychische Energie bindet.
Ein 49-jähriger Klient versucht seit Jahren erfolglos mit seinem 79-jährigen Vater in Kontakt zu kommen, um mit ihm über bestimmte Kränkungen zu sprechen, die er durch ihn erlebt hat. Der Klient ruft seinen Vater immer wieder an, schreibt ihm Briefe, besucht ihn und versucht, mit seinem Vater eine Ebene von persönlichem Dialog zu erreichen. Der Vater reagiert
stets schroff zurückweisend, was den Klienten immer wieder auf die altbekannte Weise kränkt. Die Kontaktwünsche des Klienten verbleiben unerfüllt als offene Gestalt. Seine Kontaktversuche münden weder in befriedigende Begegnungen noch in aktivem Verzicht. Sie werden nicht abgeschlossen und der Klient holt sich dieselbe Frustration immer wieder ab.
Die Gestaltwelle. In der Gestalttherapie wird psychisches Leid als Auswirkung von Unterbrechungen, Blockaden oder Vermeidungen im Verlauf der so genannten Gestaltwelle (des Kontaktzyklus) verstanden. Zur Beschreibung der Gestaltwelle wurden unterschiedliche Konzepte entwickelt. Nach Perls, Hefferline und Goodman (1979) vollzieht sich der Kontaktprozess in vier Schritten: 1. Vorkontakt 2. Kontaktanbahnung 3. Kontaktvollzug 4. Nachkontakt Blankertz und Doubrawa (2005, S. 123 f) haben ein differenzierteres, sechsphasiges Schema zur Beschreibung von Kontaktprozessen vorgeschlagen (siehe Abb. 10.3): 1. Vorkontakt. Ein Bedürfnis macht sich als noch unklare Unruhe oder Erregung bemerkbar. 2. Kontakt mit dem eigenen Bedürfnis. Das Bedürfnis wird konkret wahrgenommen und intensiver, Energie beginnt sich aufzubauen. 3. Kontakt mit der Umwelt. Der Mensch erforscht die Möglichkeiten, das Bedürfnis zu befriedigen, wählt aus und beurteilt. Die Energie steigert sich. 4. Aggression. Der Mensch handelt, greift ein, geht zu auf das, was er braucht, gestaltet um. Der direkte Kontakt findet statt. Der Höhepunkt der Erregung wird erreicht und überschritten. 5. Assimilation/Integration. Der Mensch gestaltet die Umweltressourcen um und nimmt sie in sein Inneres auf. Die Erregung flaut ab. 6. Nachkontakt. Befriedigung stellt sich ein. Die Erregung sinkt bis zum Nullpunkt ab. Der Mensch ist bereit für die nächste Welle. Die Kontaktgrenze. Gestalttherapeuten heben hervor, dass konstruktiver Kontakt stets mit angemessener Abgrenzung einhergeht. Nach Perls et al. (1979) findet Kontakt immer an der Gren-
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Abb. 10.3 Die Gestalt-Welle (nach Doubrawa u. Blankertz 2000).
ze zwischen Ich und Nicht-Ich, der Kontaktgrenze statt. Kontakt wird durch die Kontaktgrenze ermöglicht und kann nur an dieser geschehen. Die Kontaktgrenze ist gleichzeitig der Ort des Kontaktes und der Ort der Abgrenzung. Im materiellen, organismischen Sinn meinen Gestalttherapeuten damit die Haut als Begrenzung des Körpers, an der körperlicher Kontakt möglich ist. Im psychischen Sinn ist die Selbstgrenze als interaktive psychische Funktion gemeint, die die Identität eines Menschen von seiner Umwelt und von anderen Menschen abgrenzt und gleichzeitig mit diesen in Verbindung bringt.
Eine 52-jährige Klientin fühlt sich emotional verstrickt mit ihrer 34-jährigen Tochter. Beide sind LangzeitSingles und leben in zwei übereinander liegenden Wohnungen im selben Haus. Sie sehen sich oder telefonieren täglich mehrere Stunden, wobei ein Großteil der Zeit aus „gegenseitiger Anzickerei“ besteht. Die Klientin kann ihre Gefühle und Befindlichkeiten nicht klar von denen ihrer Tochter trennen. Es ist ihr z. B. oft nicht klar, ob sie auf ihre Tochter ärgerlich ist, oder ob ihre Tochter auf sie ärgerlich ist, wer von beiden sich worüber gekränkt fühlt, wer von beiden wen zu beherrschen, zu kontrollieren oder zu manipulieren versucht, wer wen einengt oder nicht loslassen kann. Die beiden erscheinen mir wie siamesische Zwillinge, die einen gemeinsamen Blutkreislauf haben und manche Organe miteinander teilen. Sie sind so weit
miteinander verstrickt, dass die Emotionen und Probleme beider ineinanderdriften und nicht eindeutig einer von beiden Personen zugeordnet werden können. „Wir machen uns gegenseitig verrückt, aber wir können uns auch nicht voneinander lösen.“ In einem längeren Therapieprozess helfe ich der Klientin, sich emotional von ihrer Tochter zu differenzieren, indem sie ihre eigenen Gefühle, Standpunkte, Gedanken und Lebensperspektiven von denen ihrer Tochter zu unterscheiden lernt. Die Klientin wird daraufhin verstärkt mit ihrer Angst vor Trennung (und angemessener Bindung) konfrontiert. Die Verstrickung zwischen beiden aber verringert sich in dem Maße, wie eine angemessene Kontaktgrenze etabliert wird.
Offene Gestalten schließen. In der Gestalttherapie geht man davon aus, dass der Mensch danach strebt, Kontaktzyklen als geschlossene Einheiten (Gestalten) abzuschließen. Offene Gestalten entstehen vor allem durch unbefriedigte Bedürfnisse. Wenn wir z. B. das Bedürfnis haben, mit einem anderen Menschen ein Problem zu klären, dann sind wir zufrieden, wenn das Problem geklärt ist, oder wenn wir akzeptiert haben, dass das Problem nicht zu klären ist. Wenn wir ein Bedürfnis nach sozialem, freundschaftlichem, erotischem oder kreativem Kontakt haben, sind wir zufrieden, wenn Begegnungen auf die entsprechende Weise stattgefunden haben, oder wenn wir ak-
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Verfahren und Techniken
zeptiert haben, dass solche nicht möglich sind. Wenn jedoch ein Kontaktzyklus aufgrund von Vermeidungsprozessen gestört oder blockiert ist, so bleibt ein unerfülltes Bedürfnis in der Schwebe, das einen anhaltenden Impuls erzeugt, die Gestalt schließen zu wollen. Die Tendenz, sich verstärkt mit unerledigten Geschäften zu beschäftigen, wird als Zejgarnik-Effekt (nach der russischen Psychologin B. V. Zejgarnik, 1900– 1988) oder als Cliffhanger-Effekt (von engl.: an einer Klippe hängen) bezeichnet. Die Gestalttherapie kann als Verfahren verstanden werden, um unerledigte Geschäfte zum Abschluss zu bringen und offene Gestalten zu schließen. Das geschieht durch die Förderung des Gewahrseins für abgespaltene Gefühle, Bedürfnisse und Beziehungsmuster, die im Hier und Jetzt untersucht und durch Intensivierung des Gewahrseins transformiert werden. Der Gestalttherapeut kann den Klienten z. B. zu Experimenten einladen, in denen dieser erlebt, was passiert, wenn er seine Kontaktvermeidungen überwindet und in einen angemessenen Kontaktprozess geht. Eine 41-jährige Klientin berichtet, dass sie seit über einem Jahr mit ihrem Freund und Vater des gemeinsamen zweijährigen Kindes auf eine Weise zusam-
10.3
menlebt, die sie als „emotional tot“ erlebt: „Er sitzt den ganzen Tag in seinem Zimmer am Computer und kümmert sich um nichts. Ich mache die Hausarbeit, versorge unseren Sohn und kümmere mich um alles. Wir reden praktisch nicht miteinander. Es gibt nichts Liebevolles oder Zärtliches zwischen uns. Wir gehen miteinander um wie Fremde.“ Nach einer Vielzahl von als unlösbar erlebten Konflikten haben sich die beiden in eine Überlebensposition zurückgezogen und den Kontakt miteinander auf ein Minimum reduziert. Die Klientin leidet unter diesem Zustand, ist aber zunächst weder in der Lage, sich konstruktiv mit ihrem Freund auseinanderzusetzen noch die Beziehung zu beenden. Das unerledigte Geschäft bringt ständiges Leid mit sich: „Den ganzen Tag über frage ich mich, warum ich mir das eigentlich antue.“ In der Therapie stellt sich heraus, dass die Klientin panische Ängste sowohl vor dem Alleinsein als auch vor Konflikten hat (was auf alte unerledigte Geschäfte v. a. mit ihrem Vater zurückgeht). Sie lernt in der Therapie, sich ihren Ängsten zu stellen, dadurch wird ihre Beziehung wieder lebendiger. Sie setzt sich mit ihrem Freund konstruktiv auseinander und kommt aus ihrer emotionalen Erstarrung heraus. Sie macht sich daran, ihre unerledigten Geschäfte anzugehen und zu einem befriedigenden Abschluss zu bringen.
Kontaktstörungen
Dysregulierter Kontakt. Psychische Funktionen, die befriedigende Kontaktprozesse stören können, wurden von Perls ursprünglich mit dem aus der Psychoanalyse stammenden Begriff Abwehrmechanismen bezeichnet. Später nannte er sie Kontaktvermeidungen, um die Begrenzung des Gewahrseins im Hier und Jetzt hervorzuheben, die mit diesen Prozessen einhergehen. In der neueren Gestalttherapie wird gelegentlich betont, dass diese Prozesse auch eine positive, integrative Funktion haben können. Daher werden sie manchmal bewertungsneutral als Kontaktfunktionen bezeichnet. Es handelt sich um psychische Regulationsprozesse, mit denen Kontakt- und Abgrenzungsprozesse und -störungen beschrieben werden können (siehe Abb. 10.4). (Ich ziehe dafür den Begriff Abwehr vor, weil ich davon ausgehe, dass diese Prozesse weitgehend unbewusst stattfinden und letztlich dazu dienen, unerträgliche Zustände latenter Fragmentierung abzuspalten.)
1. Introjektion. Unter Introjektion (von lat. intro: hinein, iactare: werfen) versteht man in der Gestalttherapie die unverarbeitete Aufnahme von Aspekten der Außenwelt in das eigene Selbst ohne Assimilation. Wenn z. B. Werte, Normen, Einstellungen, Theorien oder Anforderungen anderer Menschen passiv „einverleibt“ und „verschluckt“, also ungeprüft übernommen werden, statt sie durch aktive Auseinandersetzung anzueignen oder zurückzuweisen, so werden sie zu Fremdkörpern im eigenen Selbst, die im Inneren bekämpft werden, wodurch psychische Energie gebunden wird. 2. Projektion. Projektion ist das Gegenstück zur Introjektion. Während bei der Introjektion etwas Äußeres wegen einer nicht angemessen funktionierenden Selbstgrenze ins Innere aufgenommen wird, ist es bei der Projektion umgekehrt: ein Anteil des Inneren erscheint in der
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Abb. 10.4 Kontaktstörungen.
Außenwelt und wird dort entweder fruchtlos bekämpft oder aussichtslos begehrt. Meistens handelt es sich um Wünsche, Gefühle oder Eigenschaften, die ein Mensch in sich selbst nicht akzeptiert, weil sie ihm als bedrohlich oder verboten erscheinen. Der Projizierende reagiert dann überstark und reflexartig auf Auslöser in der Außenwelt, die mit dem projizierten Anteil assoziiert sind. Der Prozess der Projektion dient dazu, ungewollte oder unerträgliche Anteile des eigenen Selbst „loszuwerden“, indem sie „nach außen verlagert“ werden. Wenn ein Mensch projiziert, so erkennt er die projizierten Anteile nicht als sein Eigen, und er kann nicht angemessen zwischen seiner Innenwelt und der äußeren Realität unterscheiden.
Eine 30-jährige Klientin, die in einem großen Industrieunternehmen arbeitet, geht mit ihrem Vorgesetzten, der verheiratet ist, und dessen Frau im selben Unternehmen tätig ist, eine Affäre ein. Die Klientin berichtet über ihre Angst, ihr Vorgesetzter/Geliebter könne die Kontrolle verlieren, sodass er mit der
Situation nicht mehr umgehen könne. Daher versucht sie, seine Angst zu begrenzen, indem sie ihre Bedürfnisse zurückhält und ihn beruhigt. In der Therapie wird jedoch deutlich, dass es die Klientin selbst ist, die Angst hat, die Kontrolle zu verlieren und sich so weit emotional zu öffnen, dass sie den Affärencharakter der Beziehung nicht mehr ertragen kann. Sie hat ihre eigene Angst vor Kontrollverlust in ihren Geliebten projiziert.
3. Retroflexion. Unter Retroflexion (von lat. retro: zurück, flexio: Biegung) versteht man in der Gestalttherapie die Zurückwendung von eigentlich nach außen gerichteten Impulsen auf bzw. gegen das eigene Selbst aufgrund einer Blockierung des Kontaktes. Retroflexion bedeutet, dass man mit sich selbst etwas tut, was man eigentlich mit einem anderen tun will, oder man holt sich von sich selbst etwas, was man eigentlich von einem anderen möchte: „Jemand ist beispielsweise eigentlich auf jemanden anders wütend. Seine introjizierte Norm sagt ihm aber, dass Wut etwas Schlechtes sei. Er darf also nicht selbst wütend auf den ande-
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Verfahren und Techniken
ren zugehen, weil er dann ja seine Norm verletzen würde. Wohin mit der Wut? Er richtet die Energie der Wut gegen sich selbst, denn keine Norm verbietet ihm, Wut gegen sich selbst zu richten. … Ein Kontakt mit dem Gegenüber kommt auf diese Weise gar nicht mehr zustande.“ (Blankertz u. Doubrawa 2005, S. 245)
Eine 55-jährige Klientin ist Gesellschafterin in einem mittelständischen Unternehmen. Es fällt ihr schwer, im Kontakt mit anderen Menschen Themen anzusprechen, die diese als Kritik erleben könnten. In einer Auseinandersetzung mit einem langjährigen Kunden, von dem ein großer Teil des Umsatzes der Firma abhängt, wagt sie es nicht, kritisch zu Plänen dieses Kunden Stellung zu nehmen, die sie vom Finanzierungskonzept her bedenklich findet, aus Angst, dessen Aufträge zu verlieren. Sie kann ihre Einwände nicht äußern, schluckt sie hinunter und wendet sie gegen sich selbst, indem sie an sich selbst „herumkrittelt“ und mit inneren Rechtfertigungen gegen mögliche Angriffe auf ihre Kompetenz beschäftigt ist, die sie seitens des Kunden befürchtet. Statt den Kunden auf Problempunkte in seinem Finanzierungskonzept hinzuweisen, ist die Klientin damit beschäftigt, sich selbst „herunterzumachen“.
Auch die „Selbstbefriedigung“ von Bedürfnissen, die eigentlich nach außen gerichtet wären, wird in der Gestalttherapie als Retroflexion bezeichnet, z. B. übermäßiges Essen, um ein Bedürfnis nach emotionalem Genährtwerden zu stillen, Dauerfernsehen oder Konsumrausch statt Sozialkontakt, Pornografie statt sexueller Begegnung. 4. Konfluenz. Unter Konfluenz (von lat. com: zusammen, fluere: fließen) versteht man in der Gestalttherapie ein Verschwimmen der Grenzen zwischen Ich und Du bzw. zwischen Ich und Welt, also eine Kontaktstörung durch mangelnde Abgrenzung. (Manchmal wird auch von „Verstrickung“ oder „Verschmelzung“ gesprochen.) Die Differenzierung zwischen Ich und Du, zwischen Innen und Außen wird negiert. Das ist bspw. der Fall, wenn jemand sich stets nach den Erwartungen anderer richtet, jeden Konflikt vermeidet, um Harmonie und Nähe um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Hier fehlt die Kontaktfunktion der (konstruktiven) Aggression. Konfluentes Ineinanderfließen kann sich wie ein
inniger, enger Kontakt anfühlen. Aus der Sicht der Gestalttherapie ist das jedoch eine Illusion, die einen Mangel an Kontakt überdeckt. In Konfluenz kann kein wirklicher Kontakt stattfinden, weil einer der beiden Beteiligten oder beide ihre Kontaktgrenze aufgelöst haben.
Eine 39-jährige Klientin berichtet, dass es ihr sehr schwerfällt, sich ihrer Mutter gegenüber abzugrenzen. Wenn ihre Mutter zu Besuch kommt und „mit bedrücktem Gesicht“ zur Tür herein tritt, fühlt sich auch die Klientin bedrückt und ärgert sich über die „schlechte Stimmung“, die dadurch entsteht. In einem solchen Moment habe ihre Mutter vor ein paar Tagen auch noch gesagt: „Heute ist aber wieder ganz schön dicke Luft bei dir .“ Als die Klientin aus einem erholsamen Urlaub zurückkehrt, schaut sie mich zu Beginn der Sitzung an und sagt: „Du siehst heute sehr erholt aus.“ (Ich fühle mich aber nicht anders als sonst.) Als ich ein bestimmtes Thema, das sie anspricht, empathisch begleite, sagt sie zu mir: „Du kennst dieses Thema auch sehr gut aus deinem Leben, nicht wahr?“ Die Klientin neigt dazu, Inneres und Äußeres, Ich und Du miteinander zu vermischen und hat Schwierigkeiten, zwischen ihren eigenen Gefühlen und Zuständen und denen anderer Personen zu unterscheiden.
Ein konfluenter Mensch verschmilzt in seinem subjektiven Erleben mit seiner Umwelt und wird zum Teil seiner sozialen Umgebung. Er vermeidet es, sich mit seinen Ecken und Kanten zu zeigen, aus Angst, abgelehnt oder ausgestoßen zu werden. Dem Konfluenten ist das (illusionäre) Gefühl des Verschmelzens wichtiger als seine Identität und Präsenz. Er nivelliert Gefühls- und Interessendifferenzen und kann seine eigenen Gefühle und Wünsche nur vage wahrnehmen. Oft ist zugleich die Ich-Grenze nach innen aufgeweicht, sodass der Konfluente Gefahr läuft, von archaischen Gefühlen und Impulsen überflutet zu werden. Die Aufgabe für den Konfluenten besteht darin, sich aus der scheinbaren Einheit mit dem anderen, der Außenwelt und/oder seinem Unbewussten heraus zu differenzieren, reife Formen der Selbstauseinandersetzung und Begegnung zu erarbeiten und Differenzen mit nahestehenden Personen sowie innere Ambivalenzen aushalten und wertschätzen zu lernen.
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5. Deflektion. Den Begriff Deflektion (von lat. deflectare: abbiegen, ablenken) haben Erving und Miriam Polster (1973) in die Gestalttherapie eingeführt. Sie verstehen darunter eine Kontaktvermeidung durch Abwendung von den eigenen Bedürfnissen, von der Umwelt oder den eigenen Handlungsmöglichkeiten durch Abschottung nach außen. Der Deflektierende vermeidet emotionalen Kontakt und signalisiert Distanz und Desinteresse. Er verbleibt auf einer förmlichen, höflichen Ebene oder versteckt sich hinter Zynismus, Ablenkung oder Witzeleien, Weitschweifigkeit, Stereotypien oder Geschichtenerzählen. Er lässt sich nicht ein und hat keine Kraft zum Handeln. Eine verbreitete Form der Deflektion ist das „Darüber-Reden“ – ein nicht im Erleben und in den Gefühlen verwurzeltes, abgehobenes „Um-den-heißen-Brei-Herumreden“.
10.4
In einer Therapiegruppe spricht eine Teilnehmerin etwa zehn Minuten lang „darüber“, wie sie das vergangene Wochenende erlebt hat. Was sie berichtet, erscheint mir wie oberflächlicher Smalltalk. Sie möchte offenbar etwas von sich mitteilen, kommt aber nicht zum Punkt. Die anderen Gruppenteilnehmer beginnen zu dösen, wirken müde, schauen aus dem Fenster, einer gähnt. Ich sage zu der Teilnehmerin: „Ich habe den Eindruck, du bist nicht richtig mit dir in Kontakt. Könntest du kurz die Augen schließen und nach innen fühlen, was dich im Moment wirklich bewegt.“ Nach etwa zwei Minuten Schweigen spricht die Teilnehmerin weiter, diesmal aber spricht sie auf eine bewegte und bewegende Art aus, was ihr wirklich am Herzen liegt. Ich fühle mich wach und interessiert. Die anderen Gruppenteilnehmer sind aufmerksam und hören teilnahmsvoll zu.
Gestalttherapeutische Techniken
» Nicht analysieren, sondern integrieren. Fritz Perls « Das Gewahrseinskontinuum. Ein Grundkonzept und zugleich die zentrale Technik der Gestalttherapie ist das Gewahrseinskontinuum. Das Gewahrseinskontinuum kann verstanden werden als eine phänomenologische und dialogische Form der Meditation auf das gegenwärtige Erleben, die mit Worten und körperlich ausgedrückt und durch Aktualisierungstechniken unterstützt werden kann. Das Konzept wurde von Fritz Perls als Alternative zur freien Assoziation der Psychoanalyse entwickelt. (Nach Perls’ Meinung führt die Freud’sche freie Assoziation oft zu einer „freien Dissoziation“ [Perls 1981], bei der sich der Klient in abgehobenen Gedankenlandschaften verliert und aus der Wirklichkeit entflieht.) Der Therapeut leitet den Klienten an, sich von Moment zu Moment gewahr zu sein, was er gerade erlebt und tut. Dabei bemüht sich auch der Therapeut, sich seines eigenen Erlebens im Hier und Jetzt gewahr zu sein. Er fragt den Klienten immer wieder nach dessen unmittelbarem Erleben und macht den Klienten beharrlich darauf aufmerksam, wenn dieser die Ebene des aktuellen Gewahrseins verlässt. Der Klient lernt wahrzunehmen, was er erlebt und zu dem zu stehen, was er tut. Er lernt zu sein, was er ist, ohne sich zu etwas anderem machen zu wollen. Die Einstimmung auf das Kontinuum seines Gewahrseins hilft
dem Klienten, sich seiner Eigenverantwortung für seine emotionalen Zustände und für die Gestaltung seiner Beziehungen gewahr zu werden.
Ein 33-jähriger Klient berichtet über mehrere Sitzungen hinweg von einem Konflikt mit einem Kollegen, wobei er immer wieder beschreibt, auf welche Weise dieser ihn nach seinem Empfinden drangsaliert. Ich sage zu dem Klienten: „Du sprichst darüber, was dein Kollege tut. Was erlebst du selbst, während du hier sitzt und an den Konflikt mit deinem Kollegen denkst?“ Der Klient beginnt, über seine Wut und Angst gegenüber dem Kollegen zu sprechen sowie darüber, wie er sich in der Nackengegend verspannt und seinen Atem festhält. Er beginnt, sich seiner selbst gewahr zu sein, statt sich weiter über den Kollegen zu beklagen.
Mit jemandem reden statt über ihn. Gestalttherapeuten betrachten distanziertes „Darüberreden“ als Abwehrprozess. Ebenso wie fortgesetztes Reden über eine Erfahrung, wird in der Gestalttherapie auch das Reden über eine andere Person als Abwehrprozess betrachtet. Der Gestalttherapeut kann den Klienten auffordern, statt „über“ eine Person zu sprechen, in ein Fantasiegespräch mit dieser Person zu gehen. Hierbei wird oft ein leerer
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Verfahren und Techniken
Stuhl als Hilfsmittel eingesetzt, um ein Fantasiegespräch mit nicht anwesenden Personen zu ermöglichen. Der leere Stuhl. Die gestalttherapeutische Arbeit mit dem leeren Stuhl geht zurück auf Jakob Moreno, den Begründer des Psychodramas. Die Arbeit mit dem leeren Stuhl gilt als typisches Setting der Gestalttherapie. Perls (2002) forderte seine Klienten oft auf, zu spielen was sie ablehnten. Dies konnte ein anderer Mensch sein, mit dem der Klient sich in einem Konflikt befand, ein abgelehnter Persönlichkeitsanteil des Klienten, ein Hindernis, ein erschreckendes Traumelement o. ä. Das Abgelehnte wurde auf einem leeren Stuhl gegenüber dem Klienten imaginiert. Perls forderte den Klienten auf, direkt zu bzw. mit dem abgelehnten Teil zu sprechen und sich anschließend auf den leeren Stuhl zu setzen, und in der Ich-Form als das Abgelehnte zu sprechen. Diese Technik dient u. a. dazu, dass der Klient erkennt, dass das, was er ablehnt, wogegen er kämpft oder was er vermeidet, aus Projektionen von abgespaltenen Anteilen seiner eigenen Person besteht. Durch das Selbstgespräch mit Hilfe des leeren Stuhls erfährt der Klient, dass es nicht der andere ist, mit dem er sich auseinandersetzt, sondern er selbst. Auf diese Weise wird etwas Projiziertes in das eigene Erleben zurückgeholt und damit der Veränderung zugänglich. „Der leere Stuhl dient dabei entweder als Projektionsfläche und Platzhalter für Bezugspersonen, die für die Klienten im Zusammenhang mit einer bestimmten Thematik bedeutsam, aber abwesend sind. Hier rede ich von der ‚FantasiegesprächTechnik‘ … Oder der leere Stuhl dient als räumliche Markierung für bestimmte Seiten der eigenen Person, mit denen sich die Klienten beschäftigen. Dafür habe ich die Bezeichnung ‚SelbstgesprächTechnik‘ … vorgeschlagen“ (Staemmler in Fuhr et al. 1999, S. 454).
Staemmler (1995, S. 59) verdeutlich einen möglichen Einstieg in die Selbstgespräch-Technik mit dem leeren Stuhl mit folgendem Sitzungsausschnitt (Text gekürzt): „(Die Klientin) hat das Bedürfnis, sich in ihrer Arbeit neuen Situationen zu stellen, ‚etwas auszuprobieren‘. Gleichzeitig entmutigt sie sich, indem sie sich sagt, sie solle es doch bleiben lassen … – Klientin: „… Ich habe den Anspruch, wirklich gut
sein zu müssen … und da sag ich mir: Komm, lass es doch bleiben! und dann fühl ich mich dann so klein.“ – Therapeut: „Du hast gerade angefangen, laut zu dir selbst zu reden mit dem Satz: Komm, lass es doch bleiben! … Kannst Du dieser Seite in dir nochmal eine Stimme geben?“ – Klientin: „Puuh! … (… weint, dann leise: ) Komm, lass das doch bleiben …“ – Therapeut: „Hörst du deinen Tonfall?“ – Klientin: (nickt) „Da ist so was … so was Abwertendes drin.“ Die Klientin spricht mit sich selbst und wird sich gewahr, wie sie mit sich selbst spricht.
Monologische und dialogische Form. Selbstgespräche und Fantasiegespräche können in monologischer Form geschehen, wenn der Klient durchgängig zu der anderen Person bzw. dem Anteil spricht oder in dialogischer Form, wenn der Klient zwischen beiden Stühlen hin und her wechselt. Einer 40-jährigen Klientin gelingt es seit Jahren trotz intensiver Bemühungen nicht, schwanger zu werden. Diverse medizinische Untersuchungen und Behandlungen bei sich und ihrem Mann haben nicht zum Erfolg geführt. Sie sagt: „Ich weiß nicht, was ich machen soll. Das befruchtete Ei nistet sich bei mir einfach nicht ein.“ Ich schlage ihr vor, einen leeren Stuhl vor sich hinzustellen, sich das befruchtete Ei in ihrer Fantasie auf dem Stuhl vor sich vorzustellen und zu dem Ei zu sprechen. Sie weint und sagt zu dem „Ei“: „Ich möchte, dass du dich in mir einwurzelst. Ich möchte gerne, dass du dich zu einem Baby entwickelst.“ Dann wechselt sie auf den „Ei“-Stuhl und antwortet als Ei: „Du bist so glatt. Ich kann mich nirgendwo in dir festhalten.“ Es folgt ein dialogisches Selbstgespräch zwischen dem „Ei“ und der „Gebärmutterschleimhaut“, in dem sich die Frage herauskristallisiert, ob in der Gefühlswelt und der Lebensplanung der Klientin ein Kind wirklich Platz hat.
Ende der 1960er-Jahre versuchte die Journalistin Adelaide Bry ein Interview mit Fritz Perls zu führen. Dieser bot ihr stattdessen eine Demonstration seines Verfahrens an. Hier der Einstieg in das dialogische Fantasiegespräch.
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Bry: „Dr. Perls, was ist Gestalttherapie?“ Perls: „All das Diskutieren, Reden und Erklären erscheint mir unwirklich. Ich hasse es, zu intellektualisieren … Lassen Sie uns etwas anderes versuchen. Sie sind die Patientin. Seien sie echt, keine Intellektualisierungen mehr.“ Bry: „Nun gut … ich versuche, die Patientin zu sein. Dr. Perls mein Name ist Adelaide, und ich … bin depressiv und ich habe diese körperliche Angst vorm Fliegen. Meine Hände werden feucht und mein Herz schlägt schneller. – Was nun?“ Perls: „Schließen Sie Ihre Augen. Steigen Sie in das Flugzeug … Die Fantasie wird Ihnen helfen zu sehen, was Sie beim Fliegen erleben.“ Bry: „Mein Herz beginnt, schneller zu schlagen …“ Perls: „Ihr Herz beginnt schneller zu schlagen ... erzählen Sie weiter.“ Bry: „Ich sehe den Rücken des Piloten da vorne und ich bin mir nicht sicher, ob er der Situation gewachsen ist.“ Perls: „Gut. Stehen Sie auf und sagen Sie ihm das.“ (Perls 1996; Text gekürzt) Die „Klientin“ beginnt nun ein Fantasiegespräch mit dem „Piloten“.
Konkruenter Ausdruck. Der Gestalttherapeut achtet auf die Kongruenz oder Inkongruenz zwischen dem, was der Klient sagt und dem, wie er es sagt. Manchmal drückt ein Klient verbal eine Einstellung oder ein Gefühl aus, während er nonverbal etwas anderes oder das Gegenteil zum Ausdruck bringt. Der Therapeut kann ihn auf diesen Widerspruch hinweisen, was dem Klienten helfen kann, zu einer kohärenten Position zu finden und sich klar und integriert auszudrücken. Der Therapeut kann den Klienten auch bitten, nonverbale Ausdrucksgesten zu wiederholen oder zu verstärken, damit der Klient ihre Bedeutung klarer erfassen kann (vgl. Kapitel „Körperarbeit“).
In einem Vorgespräch sagt eine 40-jährige Klientin: „Ich bin seit 8 Jahren Single und irgendwie schon traurig darüber.“ Während sie das sagt, lacht sie, als ob jemand gerade einen Witz erzählt hätte. Ich sage: „Du sagst, du bist traurig, aber du lachst dabei.“ Die Klientin sagt: „Na ja, ich bin eigentlich ganz doll traurig darüber und habe Angst, wenn ich das hochkommen lasse, dann halte ich den Schmerz
kaum aus.“ Unter der Inkohärenz ihres emotionalen Ausdrucks waren tiefere Gefühle verborgen.
Gestalttherapie und Psychodrama. In der Gestalttherapie werden viele Techniken angewandt, die dem Psychodrama (siehe Kapitel „Rollenspiele und Identifikationstechniken“) ähneln, wie z. B. Rollenspiel, Rollentausch, Rollenumkehr oder experimentelles Neustrukturieren von Rollenidentitäten. Während jedoch im Psychodrama Selbstanteile oder abwesende Personen vorwiegend durch andere Gruppenteilnehmer gespielt werden, versetzt sich der Klient in der Gestalttherapie eher selbst in Anteile seiner Person oder in immaterielle Konzepte wie „mein Zögern“ oder „das Damoklesschwert über mir“ hinein. Topdog und Underdog. Eine typische Form der Selbstgespräch-Technik in der Gestalttherapie ist die Auseinandersetzung zwischen zwei polaren psychischen Anteilen, die als Topdog und Underdog bezeichnet werden: • Der Topdog ist der (scheinbar) Herrschende, der Rechtschaffende, der innere Antreiber, Unterdrücker, der Moralische und Moralisierende, der „Du-solltest“ und „Du-musst“, der Verfolger, Kontrollierer, der Autoritäre, das Gewissen. • Der Underdog ist der (scheinbar) Beherrschte, Fehlerhafte, das arme Opfer, der Angetriebene, Leidende, Frustrierte, Gekränkte, Gequälte, der Schwache, der „Ich-kann-nicht“ und „Ich-weißnicht“, der Kontrollierte, Gezwungene und Gemaßregelte. Perls geht dabei von einer Umkehrung der offensichtlichen Machtverhältnisse aus, also davon, dass letztlich nicht der Topdog, sondern der Underdog die Zügel in der Hand hält. Der Topdog kann befehlen, antreiben und bestimmen, wie er will, wenn der Underdog „nicht kann“ und „nicht weiß“, kann der Topdog nichts machen, außer Druck. Das Ziel der gestalttherapeutischen Arbeit mit Topdog und Underdog ist es, die beiden Anteile tendenziell zu integrieren, damit der Klient sich mehr als ganzer, selbstbestimmter Mensch fühlen und verhalten kann. Gestalttherapeutische Traumarbeit. Wie Perls in seinem Buch „Gestalttherapie in Aktion“ (2002) anhand von Workshop-Mitschriften verdeutlichte, ging er davon aus, dass jedes Element eines Trau-
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Verfahren und Techniken
mes einen Anteil des Träumers repräsentiert. Jedes Element, jede Person, jede Landschaft, jeder Gegenstand, jedes Tier und jeder Prozess im Traum wird als Anteil des Träumenden betrachtet, wobei das Traumgeschehen versucht, unerledigte Geschäfte des Klienten zum Ausdruck zu bringen und symbolisch abzuschließen. Ziel der gestalttherapeutischen Traumarbeit ist die Integration dieser Projektionen. Der Klient erforscht die Traumelemente, indem er sie spielt und miteinander interagieren lässt, bis er spürt, dass es sich um Teile seiner selbst handelt und dass Abspaltungen seiner selbst in den Traumelementen zum Ausdruck kommen.
Der Gestalttherapeut Claudio Naranjo (1996, S. 153) berichtet von einer Seminarteilnehmerin, die einen Traum erzählt, der in einer trockenen, wüstenartigen Umgebung spielt und dessen Personen ebenfalls trocken und karg wirken. Naranjo bittet die Teilnehmerin, zu der geträumten verdorrten Erde zu werden. „Indem sie dies tat, bekam sie einen sehr tiefen Kontakt zu einem Gefühl von Entbehrung und intensiver Trockenheit, das sie nun sogar körperlich in ihrem Gesicht und im Mund spürte. Ich bat sie dann, immer noch in ihrer Rolle der vertrockneten Erde, zu spüren, wie der Regen auf sie herniederprasselt. Für den Betrachter schien es nun, als riesele der Regen aus ihren Augen, während sie spürte, wie die Trockenheit sich in Nässe auflöste und die Wasser einen jahrhundertealten Durst stillten.“
Ein 29-jähriger Klient berichtet von einem Traum, in dem er sich „in einen Wolf verwandelt, der am Schoß einer attrak tiven Frau schnuppert“. Ich bitte den Klienten, die Traumelemente in Form von
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Kissen im Therapieraum aufzubauen. Dann solle er sich zunächst auf das „Wolf“-Kissen setzen und den Traum aus der Perspektive des Wolfes erzählen. Die Identifikation mit dem Wolf hilft dem Klienten, seine unterdrückten Wünsche nach animalischer sexueller Appetenz zu spüren. Danach bitte ich ihn, sich in den Schoß der Frau hineinzuversetzen, um zu spüren, wie das ist, wenn der Wolf an ihm schnüffelt. Als Schoß empfindet der Klient eine Ambivalenz zwischen Faszination und Bedrohung. Wieder als er selbst sagt der Klient: „Genauso nehme ich oft meine sexuellen Wünsche wahr. Sie lauern im Untergrund und schleichen an mich heran. Ich weiß nicht, ob sie mich lecken oder ob sie mich beißen wollen.“ Ich bitte ihn, seine „beißenden“ sexuellen Wünsche auf dem leeren Stuhl zu imaginieren. Es entsteht eine Interaktion, in der sich der Klient mit latent destruktiven und autodestruktiven Aspekten seines Sexuallebens auseinandersetzt.
Haltung. Gestalttherapeuten betonen, dass ihr Verfahren nicht primär durch Techniken begründet wird, sondern vor allem durch eine Haltung. „Zur Gestalt-Haltung zählen vor allem: Präsenz, wenn der Therapeut seinem Klienten begegnet, Zugewandtheit zum Klienten, Authentizität in der eigenen Offenheit und Verschlossenheit, seelisches Berührtsein, inneres Erleben, Demut in der Arbeit“ (Blankertz u. Doubrawa 2005, S. 146). Meines Erachtens sind diese Haltungen allerdings nicht spezifisch für die Gestalttherapie. Sie wurden in sehr ähnlicher Form z. B. von Rogers, dem Begründer der Personzentrierten Gesprächspsychotherapie beschrieben (Rogers 1980) und werden wohl von den meisten Vertretern der anderen Verfahren der Humanistischen Psychotherapie geteilt.
Gestalttherapeutische Sprachformen
Fragen in Aussagen verwandeln. Manche Klienten stellen in der Therapie oft hilflose Fragen, z. B.: „Was soll ich tun?“ oder „Bin ich ein hoffnungsloser Fall?“ Gestalttherapeuten gehen davon aus, dass Fragen dieser Art oft dazu dienen, zu vermeiden, eigene Bedürfnisse zu spüren und eigene Standpunkte zu definieren. Vermeidungsfragen können auch in Formulierungen wie:
„Ich weiß nicht …“, „Ich frage mich …“ oder „Ich möchte wissen …“ versteckt sein. Der Therapeut kann dem Klienten dann helfen, Verantwortung für seinen Standpunkt zu übernehmen, indem er ihn auffordert, die Frage in eine Aussage zu verwandeln.
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Eine 59-jährige Klientin sagt in einer Sitzung: „Ich möchte wissen, warum ich immer wieder diese Rückenschmerzen habe.“ Ich bitte sie, ihre Rückenschmerzen imaginativ auf einen leeren Stuhl zu setzen und diese Frage in eine Aussage an die Rückenschmerzen zu verwandeln. Sie sagt: „Du tust mir weh, warum machst du das?“ Ich bitte sie, auch diese Frage in eine Aussage zu verwandeln. Sie sagt: „Du tust mir weh … hau ab … verschwinde!“ Als „Rückenschmerzen“ antwortet die Klientin sich selbst: „Du kriegst mich nicht weg, weil du dich überlastest. Ich schütze dich vor dir selbst.“ Statt unbeantwortbare Fragen in den Raum zu stellen, tritt sie in ein therapeutisch produktives Selbstgespräch ein.
Negationen in Aufforderungen verwandeln. Wenn der Klient sich in grammatikalisch negativer Form ausdrückt, fordert der Gestalttherapeut ihn manchmal auf, die Negation in eine grammatikalisch positiv formulierte Aufforderung umzuwandeln.
Im weiteren Gespräch mit ihren Rückenschmerzen sagt die obige Klientin: „Ich will nicht, dass du mir weh tust.“ Ich bitte sie, diese Negation in eine Aufforderung umzuwandeln, den Rückenschmerzen also zu sagen, was sie tun sollen. Die Klientin sagt: „Lass mich in Ruhe … gib endlich Ruhe.“ Die „Rückenschmerzen“ antworten: „Ich versuche ja gerade, dir Ruhe zu bringen, aber wie soll ich das machen, wenn du ständig herumhetzt?“ Ich bitte die Klientin, auch die eingebettete Frage „… wie soll ich das machen …?“ in eine Aussage zu verwandeln. Die „Rückenschmerzen“ sagen: „Nimm dir Zeit für dich, oder ich sorge dafür, dass du Zeit für dich hast.“
„Wie“ statt „warum“. Gestalttherapeuten gehen davon aus, dass psychische Prozesse nicht kausalbiografisch determiniert sind, sondern sich aktuell im Hier und Jetzt herstellen und nur im Hier und Jetzt verändert werden können. Warum-Fragen könnten leicht in eine „Darüber-Rederitis“ hineinführen, also weg vom Kontakt. Wie-Fragen dagegen führen eher zum Kontakt hin. Wenn ein Klient sich daher nach einem „Warum“ fragt, so kann der Gestalttherapeut ihn auffordern, stattdessen das „Wie“ zu beschreiben.
Ein 44-jähriger Klient befürchtet, sich in einem anstehenden geschäftlichen Meeting in unauflösbare Konflikte mit seinen Kollegen zu verwickeln: „Ich möchte wissen, warum es mir nicht gelingt, einfach die Ruhe zu bewahren und ganz nüchtern zu sagen, was ich will und was ich nicht will.“ Ich bitte ihn, statt sich zu fragen, „warum“ ihm das nicht gelingt, seine Aufmerksamkeit darauf zu richten, „wie“ er sich in einen Zustand der Aufgebrachtheit hineinmanövriert. Durch die Verschiebung der Aufmerksamkeit vom „Warum“ zum „Wie“ eröffnen sich für den Klienten Optionen der Wahlfreiheit, und er kann sich auf die Suche nach alternativen Umgangsweisen machen.
„Ich“ statt „man“. Manche Klienten vermeiden es, sich konkret auszudrücken, indem sie vage von „man“ sprechen oder davon, wie „es“ ist. Der Gestalttherapeut kann den Klienten dann auffordern, konkret zu benennen, wen oder was er meint und sich mit dieser Person oder diesem Teil in einer Ich-Du-Sprache auseinanderzusetzen.
Eine 42-jährige Klientin beklagt sich über ihren Mann: „Ich finde das nicht in Ordnung … So etwas macht man einfach nicht“. Sie sagt aber nicht, was genau sie kritisiert. Ich bitte sie, konkreter zu werden: „Könntest du deinem Mann direkt sagen, was du möchtest und was du nicht möchtest.“ Sie sagt zu „ihm“: „Ich fühle mich so oft allein. Ich möchte, dass du abends bei mir bist. Ich möchte mit dir reden und dir nah sein.“
„Ich will nicht“ statt „Ich kann nicht“. Manchmal fühlt sich der Klient in einer Position der Hilflosigkeit, die sich in Formulierungen wie „Ich kann nicht …“ äußert. Der Gestalttherapeut kann diese Sichtweise des Klienten in Frage stellen, indem er ihn auffordert, die Verantwortung für sein NichtTun zu übernehmen und den Satz zu „Ich will nicht …“ umzuformulieren.
Eine 23-jährige Klientin sagt: „Ich habe zu Hause schon seit einer Woche einen Brief vom Jobcenter liegen und ich kriege es einfach nicht fertig, ihn aufzumachen.“ Ich sage zu ihr: „Wenn du stattdessen sagst, ‚Ich will diesen Brief nicht öffnen’, was ist dann anders?“ Die Klientin sagt: „Es stimmt, ich will die-
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Verfahren und Techniken
sen Brief nicht öffnen. Ich bin nicht bereit, mich von diesem Amt ständig kontrollieren zu lassen.“ Die aktive Formulierung hilft ihr, aus einer resignativen Position der Hilflosigkeit herauszufinden. Die Klientin kommt in eine aktivere Haltung und übernimmt Verantwortung für ihr Handeln bzw. Nicht-Handeln.
„Und“ statt „wenn“ und „aber“. Manchmal fühlt sich der Klient so, als ob Anteile in seinem Inneren in einem sich ausschließenden Widerspruch stünden („aber“), oder er glaubt, dass bestimmte Ereignisse in einem zwingenden kausalen Zusammenhang miteinander stünden („wenn … dann“). Der Therapeut kann ihn dann auffordern, „aber“ und „wenn … dann“ experimentell durch „und“ zu ersetzen. Wenn der Klient das tut, hilft es ihm zu spüren, dass es sich um Anteile handelt, die lediglich in seinem Bewusstsein als einander ausschließend oder als in einer Kausalbeziehung stehend definiert sind, was aber nicht zwingend so gesehen werden muss.
Eine 30-jährige Klientin sagt: „Wenn ich meinem Mann sage, dass ich möchte, dass er sich mehr um unseren Sohn kümmern soll, dann versteht er das nicht und sagt, er würde schließlich den ganzen Tag für die Familie arbeiten.“ Ich bitte die Klientin, den Satz umzuformulieren und als Bindewörter „und“ statt „wenn … dann“ zu verwenden. Sie sagt: „Ich sage zu meinem Mann, dass ich möchte, dass er sich mehr um die Familie kümmert … und … er sagt, dass
er die ganze Zeit für die Familie arbeitet.“ Die Klientin fühlt diesem Satz einen Moment nach und sagt dann: „Wir haben hier offenbar ganz unterschiedliche Sichtweisen.“ Im weiteren Verlauf der Sitzung sagt die Klientin: „Ich habe eine romantische Vorstellung von Familie, aber er möchte Karriere machen.“ Ich bitte sie, das Bindewort „aber“ durch „und“ zu ersetzen. Sie sagt: „Ich wünsche mir ein harmonisches Familienleben … und … er möchte in seinem Beruf vorankommen.“ Die Umformulierung hilft der Klientin, ihre eigene Einstellung und die ihres Mannes nebeneinander zu stellen, ohne sie als einander ausschließend zu betrachten. Das erleichtert ihr, Optionen zu entwickeln, die den Bedürfnissen beider und der Familie als Ganzes besser gerecht werden.
Weitere Techniken. Neben den beschriebenen Techniken wird in der Gestalttherapie mit weiteren Techniken gearbeitet, die ich in anderen Kapiteln dieses Buches beschrieben habe, z. B.: • mit der Technik des „heißen Stuhls“ (siehe Kapitel „Rollenspiele und Identifikationstechniken“), • mit gezielter Frustration, Provokation und anderen Konfrontationstechniken (siehe Abschnitt „Auseinandersetzung und Konfrontation“), • mit körperorientierten Techniken, z. B. Atemoder Ausdrucksarbeit (siehe Abschnitt „Körperarbeit“), • mit direktem Support, z. B. der Förderung der Bewältigungs- und Selbstunterstützungsfähigkeiten des Klienten (siehe Abschnitt „Stabilisierung labiler Strukturen“).
139
11
Trance und Suggestion
Abb. 11.1 Milton Erickson (mit freundlicher Genehmigung von Burkhard Peter).
11.1
Milton Erickson (1901–1980) war ein US-amerikanischer Psychiater und Psychotherapeut, der die Techniken und Anwendungen der Hypnose in der Psychotherapie revolutionierte und viele moderne Psychotherapieverfahren (z. B. NLP und Systemische Familientherapie) beeinflusste. Er studierte Psychologie und Medizin, war bis 1934 in Massachusetts tätig und 1934–1948 Professor für Psychiatrie in Detroit. Er arbeitete u. a. mit Jay Haley, Gregory Bateson, Aldous Huxley, Margaret Mead, Laurence Kubie und John Weakland zusammen. 1957 gründete er die American Assoziation of Clinical Hypnosis und 1958 das American Journal of Clinical Hypnosis, das er bis 1968 herausgab. Auf Basis einer positiv konnotierten Konzeption des Unbewussten begründete Erickson eine hypnotische Methodik, um therapeutische Veränderungen aus dem inneren Ressourcenspeicher im Unbewussten heraus zu entwickeln. Er entwickelte vielfältige indirekte, individualisierte und komplexe Trancetechniken sowie Methoden der beiläufigen Suggestion durch Metaphern, Geschichten und Symbole und nutzte Konfusionstechniken, um auch sehr kontrollierten Klienten den Weg in die Trance und zu hypnotherapeutischen Veränderungen zu ermöglichen.
Grundbegriffe der Hypnotherapie
Humanistische Hypnotherapie. Hypnotherapie ist Psychotherapie in dissoziativen Bewusstseinszuständen (Trance) mit subliminaler Kommunikation (Suggestion). Dieses Verfahren scheint auf den ersten Blick mit dem grundlegenden Konzept der Wahlfreiheit und dem emanzipatorischen Ansatz der Humanistischen Psychotherapie schwer vereinbar zu sein. In der Tat erfordert hypnotherapeutische Arbeit auf Basis eines Humanistischen Ansatzes ein erweitertes Verständnis von Hypnose und von trancetherapeutischen Prozessen sowie insbesondere ein kooperatives Verständnis der Anwendung hypnosuggestiver Techniken.
„Denken wir daran, … dass sogar die Hypnose, jene Form einer alten psychiatrischen Therapie, welche allen Autonomiebestrebungen der Person entgegengesetzt zu sein schien …, seit Milton Erickson eine Revolution erfahren hat: Sie wird als eine Situation aufgefasst, wo neues, autonomes, kreatives Lernen möglich wird. Sogar der Trancezustand ist in dieser Sicht zu dem Ort geworden, wo psychische Potenzialitäten und Fähigkeiten entwickelt werden“ (Benedetti in Gruen, 1986, S. 9) (siehe Abb. 11.2). Ziele. Humanistische Hypnotherapie bezieht systemische und psychoenergetische Zusammenhän-
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Verfahren und Techniken
ge, Beziehungsmuster, biografische Prägungen, Sinn- und Zielorientierungen, Abwehrprozesse und Ressourcen in den psychotherapeutischen Prozess ein. In der Humanistischen Hypnotherapie geht es nicht primär darum, Symptome schnellstmöglich wegzuhypnotisieren oder erwünschtes Verhalten herbeizuhypnotisieren. Vielmehr ist der Sinn einer Humanistisch verstandenen Hypnotherapie, den Klienten dabei zu unterstützen, im Zustand der Versenkung (Trance) aus den Ressourcen seines Unbewussten zu schöpfen und abgewehrte Anteile zu integrieren, um erweiterte Wahlmöglichkeiten zu realisieren. Kooperativ-dialogische Trance-Therapie. Die klassische, direktive Hypnose, in der der Trancezustand praktisch ausschließlich zur Dämpfung des kritischen Bewusstseins benutzt wird, und in der Suggestionen angewandt werden, um unter Umgehung des Willens des Klienten Symptome zu beseitigen, entspricht nicht der Philosophie der Humanistischen Psychotherapie. In der von Milton Erickson begründeten, modernen Hypnose dagegen sind viele Elemente enthalten, die mit den Grundüberzeugungen der Humanistischen Psychotherapie übereinstimmen. Besonders die Erickson-Schüler Gilligan (1991) und Rossi (1996) haben die moderne Hypnotherapie als kooperativ-dialogisches Verfahren ausgearbeitet, mit dem primären Ziel, latente Ressourcen aus dem Unbewussten des Klienten „hervorzulocken“. Der therapeutische Trancezustand wird von ihnen als eine Erweiterung (nicht Einschränkung) der Möglichkeiten des Bewusstseins betrachtet, als Brücke zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten
und als Möglichkeit, gezielt mit dem Unbewussten zu kommunizieren. Moderne Hypnotherapie wird verstanden als Stimulation innerer, autonomer Such- und Bewältigungsprozesse im Klienten. Trance wird verstanden als Selbstheilungs- und Integrationsmodus der Psyche. Hypnotherapie kann also humanistisch angewandt werden, auch wenn sich nicht alle hypnotherapeutischen Praktiker als Humanistische Psychotherapeuten verstehen. Möglichkeiten der Hypnose. Mit hypnosuggestiven Techniken ist es möglich, direkt auf physiologische Prozesse Einfluss zu nehmen (z. B. Muskelspannungen, Herz- und Atemfrequenz, Immunreaktion, Adrenalin-Niveau oder die Wundheilung). Manchmal ist es mit Hypnose möglich, relativ schnell Symptome zu beseitigen bzw. angestrebte Zustände oder Verhaltensweisen herbeizuführen. Dies kann im Klienten zu einer unmittelbaren Befreiung und Erleichterung führen. Das kann die Therapiemotivation fördern, weil der Klient sein Symptom als grundsätzlich veränderbar erlebt. In einzelnen Fällen kann die Wirkung solcher symptomatischer Behandlungen dauerhaft anhalten. In den meisten Fällen muss die psychotherapeutische Transformation aber durch breiter angelegte Psychotherapie unter Einbeziehung psychodynamischer und systemischer Faktoren auf eine solide Basis gestellt werden. Das Unbewusste. Unter dem Unbewussten wird der Bereich der Psyche verstanden, der dem Bewusstsein nicht direkt zugänglich ist, der aber dennoch das Handeln, Fühlen und Denken ent-
Abb. 11.2 Humanistische Hypnotherapie.
11 Trance und Suggestion 141
scheidend beeinflusst. In der Humanistischen Psychotherapie versteht man unter dem Unbewussten sowohl • den Ort des Abgewehrten, Verdrängten, an dem Unerträgliches vom Bewusstsein fern gehalten ist, als auch • einen latenten Ressourcenspeicher, der latentes inneres Wissen und verborgene Fähigkeiten enthält (siehe Abb. 11.3). Beides kann durch hypnotherapeutische Techniken zugänglich gemacht und integriert werden. Das Unbewusste wird als das verbindende „therapeutische Tertium“ (Burkhard Peter) zwischen Therapeut und Klient verstanden, das therapeutische Veränderungen ermöglicht. Das „Agens“ des hypnotherapeutischen Prozesses sind die abgewehrten Anteile und latenten Ressourcen des Klienten, die in Trance mit Hilfe der Suggestionen des Therapeuten „hervorgelockt“ und integriert werden können. Bewusstseinszustände. In der Hypnotherapie geht man davon aus, dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens und sogar im Laufe eines Tages verschiedene Bewusstseinszustände erlebt: • Im Wachzustand sind wir mit äußeren oder inneren Verrichtungen beschäftigt, wir denken, reden, lesen, arbeiten oder gehen einkaufen. • Der zweite alltägliche Bewusstseinszustand ist der Schlafzustand, der noch einmal in Phasen des Träumens und Phasen des traumlosen Tiefschlafs unterteilt ist.
• Neben
dem Wachsein und dem Schlaf gibt es Zustände, in denen wir weder wach sind noch schlafen. Diese werden in der hypnotherapeutischen Terminologie unter dem Begriff Trance zusammengefasst.
Trance. Unter Trance versteht man in der Hypnotherapie einen Bewusstseinszustand, in dem man teilweise oder ganz in innere Prozesse absorbiert ist. In Trance ist man nicht bloß mit geistigen Inhalten, z. B. Gedanken beschäftigt, sondern so weit in innere Prozesse involviert, dass man im subjektiven Erleben mehr oder weniger weit von der äußeren Realität entfernt (dissoziiert) ist. Das kann in tiefer Trance so weit gehen, dass man das Gewahrsein seiner selbst verliert, was subjektiv als Schlaf erlebt wird. Vom Wachzustand unterscheiden sich die Trancezustände u. a. dadurch, dass man in Trance für Suggestionen weiter geöffnet (suggestibler) ist als im Wachzustand. Vom Schlafzustand unterscheidet sich Trance dadurch, dass man in Trance auf die Suggestionen des Hypnotherapeuten reagiert, was im Schlafzustand nicht oder kaum der Fall ist. Subjektives Erleben von Trance. Trance ist ein dissoziativer Bewusstseinszustand. Daher sind manche Trancephänomene dem Bewusstsein nur teilweise oder nur indirekt zugänglich. Solange sich der Klient in einem leichten bis mittleren Trancezustand befindet, kann er einige Tranceeffekte bemerken und nach der Trance erinnern. Je tiefer die Trance wird, umso weniger nimmt der Klient bewusst wahr, und umso weniger erinnert er hinterher. In leichten bis mittleren Trancezuständen Abb. 11.3 Das janusköpfige Unbewusste.
142
Verfahren und Techniken
• fühlt der Klient sich entspannt, • können intensive Fantasien, Erinnerungen oder
innere Bilder sowie Farb- oder Formwahrnehmungen auftreten, • ist die Körperwahrnehmung verändert, der Körper kann sich zum Beispiel größer oder kleiner, dicker oder dünner anfühlen, einige Körperteile können in den Vordergrund des Gewahrseins treten, andere können aus dem Gewahrsein ausgeblendet sein, • können ideomotorische Signale, wie das suggerierte Heben eines Fingers wahrgenommen werden, • können suggestiv erzeugte Bewegungen oder Starrezustände gespürt werden, bis hin zu der Empfindung, Körperteile nicht mehr bewegen zu können (Katalepsie), • ist die Wahrnehmung fokussiert auf die suggerierten Inhalte, • kann das Schmerzempfinden vermindert oder ausgeschaltet sein, • kann das Zeitempfinden verändert sein, • kann der Klient das Gefühl haben, sich an einem anderen Ort zu befinden (Relokation des Ich). In Tieftrance wird das Erleben des Klienten zuerst immer diffuser, schließlich leer. Die Kontinuität des Gedächtnisses ist unterbrochen. Der Klient hat hinterher subjektiv das Gefühl, geschlafen zu haben. Er kann sich an Teile des Tranceprozesses nicht erinnern (Zeitlöcher). Äußere Kennzeichen. Äußere Trance-Kennzeichen weisen darauf hin, dass der Klient sich in einem Trancezustand befindet: • Der Klient sieht entspannt aus, • er atmet ruhiger und gleichmäßiger als im Wachzustand, • die Mimik wirkt ausdruckslos und abwesend, • die Gesichtsfarbe wirkt etwas blasser, weil der Blutdruck sinkt und sich die Gefäße im Bauchraum und in den Extremitäten öffnen, • der Schluckreflex ist vermindert oder findet nicht mehr statt, • Orientierungsreflexe sind vermindert oder finden nicht mehr statt, • der Klient verharrt in langer Bewegungslosigkeit (eine Stunde oder mehr ohne jede Bewegung), der Klient reagiert auf Suggestionen und setzt • sie um, • es ist möglich, dem Klienten Katalepsie und ideomotorische Reaktionen zu suggerieren, • der Klient reagiert verlangsamt, verzögert,
• der Klient reagiert manchmal wortwörtlich (bei•
spielsweise antwortet er auf die Frage: „Kannst du mir sagen, wie du dich fühlst?“ nur mit: „Ja“), der Klient berichtet nach der Trance von Erlebnissen, wie sie im vorigen Absatz „Subjektives Erleben von Trance“ beschrieben wurden.
Trance-Tiefe. Hypnotische Zustände werden traditionell nach ihrer Tiefe unterteilt in • leichte Trance: Versenkungszustand mit weitgehend erhaltener Außenorientierung, • mittlere Trance: Versunkenheit in innere Prozesse bei verminderter Außenorientierung, • hypnagoges Träumen: Absorbiertheit in suggestiv stimuliertes Traumerleben und • Tieftrance: subjektiv als Schlaf erlebt, wird im Nachhinein nicht erinnert, aber der Hypnotisierte reagiert darin weiter auf die Suggestionen des Therapeuten Energetische Niveaus. Man unterscheidet verschiedene energetische Niveaus von Trance-Zuständen: • Als Entspannungstrance werden veränderte Bewusstseinszustände bezeichnet, die mit körperlicher und geistiger Entspannung einhergehen. • In dynamischen Trancezuständen ist das körperenergetische Niveau erhöht. Dies ist beispielsweise bei kathartischen oder ekstatischen Trancezuständen der Fall. Suggestion. Der Trance-Zustand und die psychotherapeutischen Wirkungen werden in der Hypnotherapie durch Techniken der Kommunikation mit dem Unbewussten erzeugt, die unter dem Begriff Suggestion zusammengefasst werden. Dabei kann es sich um Worte handeln, aber auch mit der Stimmlage können suggestive Wirkungen erzeugt werden (Stimmführung). Darüber hinaus können bestimmte Berührungen (z. B. Messmer'sche Passes) oder Imaginationen hypnosuggestiv wirken (siehe Abb. 11.4). Definitionen:
•
Suggestionen sind Aufforderungen an das Unbewusste durch verbale oder nonverbale, direk tive oder subliminale Kommunikation.
•
Trance ist ein dissoziativer Bewusstseinszustand, in dem man nicht wach ist, aber auch nicht schläft. Es gibt viele verschiedene Trance-Zustände.
11 Trance und Suggestion 143
Abb. 11.4 Die Funktionsweise von Hypnose.
•
Hypnose ist ein suggestiv herbeigeführter, begleiteter, genutzter und wieder zurückgenommener Zustand von Trance, in der Regel von Entspannungstrance.
•
Hypnotherapie ist die psychotherapeutische Anwendung von Trance-Zuständen und suggestiver Kommunikation.
•
Bei einer heterogenen Trance (Fremdhypnose) wird der Trance-Prozess von einem Hypnotherapeuten eingeleitet, begleitet, geführt und wieder ausgeleitet.
•
Bei einer autogenen Trance (Selbsthypnose) geschieht das durch Autosuggestion (z. B. durch Affirmationen, Imaginationen oder Autogenes Training).
•
Showhypnose ist die Anwendung von hypnosuggestiven Techniken zur Belustigung von Publikum, oft durch Entwürdigung und durch Allmachtsillusionen. Sie wird von professionellen Hypnotherapeuten wegen ihrer antihumanistischen Praktiken abgelehnt.
Trance als Veränderungsmodus. Man kann den Trancezustand als einen speziellen Modus des psychischen Funktionierens verstehen, der geeignet ist, grundlegende psychische und psychosomatische Muster umzustrukturieren. Meines Erachtens sind wir immer, wenn sich etwas Grundlegendes in den Funktionsprinzipien unserer Seele verändert, in Trance. Relevante psychische Veränderungen finden immer in einem veränderten Bewusstseinszustand statt, ob dieser als solcher erkannt und benannt wird oder nicht. Trance ist die Brücke zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten
und zwischen Psyche und Körper. Trance ist die Versenkung des Ich zur Ganzheit des Seins hin. Eine 32-jährige Klientin mit einer abhängigen Persönlichkeitsstruktur regrediert ihrem Mann gegenüber oft zu einem bedürftigen Kleinkind. Sie sagt: „Ich fühle mich dann wie ein hilfloses Baby und möchte, dass mein Mann sich um mich kümmert, aber das tut er nicht.“ Ich führe die Klientin in Trance in ihren Baby-Zustand hinein. Nach einer Weile sagt sie: „Ich fühle mich hilflos, jemand soll kommen und mir das Gefühl geben, dass alles wieder gut wird.“ (Mit einem Teil ihres Bewusstseins „ist“ sie das Baby – ein anderer Teil bleibt als „innerer Beobachter“ mit mir in verbalem Kontakt.) Wir erkunden zusammen den Baby-Zustand der Klientin, dann helfe ich ihr, sich in ihren Mann hineinzuversetzen. Als „ihr Mann“ nimmt sie den Baby-Anteil nicht wahr. „Der Mann“ sieht „seine Frau“ als „aggressiv forderndes, klebriges Wesen, das einfach nicht zufrieden gestellt werden kann“. Durch Hin-und-her-Gehen zwischen der Identifikation mit dem „Baby“ und dem „Mann“ gelingt es der Klientin, zu verstehen, warum es ihrem Mann nicht ohne weiteres möglich ist, ihr die Zuwendung zu geben, nach der sie sich in ihrem regredierten Zustand sehnt. Dann leite ich die Klientin in Trance an, als erwachsene Frau zuerst ihrem Mann zu vermitteln, wie sie sich fühlt, und dann dem BabyTeil imaginativ zu geben, was es braucht. Die Klientin durchläuft ein hypnosuggestiv angeleitetes Psychodrama in Trance (Hypnodrama).
Rapport. Unter Rapport versteht man in der Hypnotherapie die spezielle Beziehung zwischen
144
Verfahren und Techniken
Abb. 11.5 Armlevitation in Trance.
Therapeut und Klient bei der Anwendung hypnosuggestiver Techniken. Rapport kann sich z. B. dadurch äußern, dass der Klient in Trance auf die Suggestionen des Therapeuten reagiert, auf dieselben Sätze einer anderen Person jedoch nicht. Subjektiv wird der Rapport erlebt als ein Gefühl von Verbundenheit und • auf Seiten des Therapeuten als Empathie, Fürsorglichkeit und Verantwortlichkeit, • auf Seiten des Klienten als Vertrauen, Offenheit und Getragenwerden. Rapport kann hergestellt und verstärkt werden durch empathisches Spiegeln des Erlebens des Klienten durch den Therapeuten (Pacing). Eine Rapportstörung oder ein Rapportverlust ist eine Störung der Beziehung zwischen Therapeut und Klient im Rahmen einer Trancetherapie, mit der Folge, dass der Klient irritiert ist, sich zurückzieht, sich verschließt oder spontan aus der Trance erwacht. Ideomotorik. Unter dem Begriff Ideomotorik werden in der Hypnotherapie motorische Reaktionen
des Klienten auf Suggestionen des Therapeuten zusammengefasst. Insbesondere sind damit gemeint: • Levitation. Eine Levitation ist ein teilweise oder vollständig unwillentliches Sich-Erheben eines Körperteils aufgrund von Suggestionen durch den Therapeuten. Bei der Levitation gibt es wie bei allen Reaktionen auf Suggestionen je nach Trancetiefe ein Kontinuum von Erlebnisweisen. Es reicht vom bereitwilligen Mitgehen mit den Suggestionen über eine zwar bemerkte, aber unwillentlich entstehende Bewegung und geht bis hin zu Bewegungen, die der Klient aufgrund von Suggestionen zwar körperlich ausführt, in seinem Bewusstsein aber nicht registriert (siehe Abb. 11.5). • Katalepsie. Unter Katalepsie versteht man einen vorübergehenden Starrezustand einzelner Körperteile oder des ganzen Körpers, der aufgrund von hypnotischen Suggestionen eintritt und durch diese wieder rückgängig gemacht werden kann. • Ideomotorische Signale. Ideomotorische Signale sind ein motorischer Kommunikationskanal
11 Trance und Suggestion 145
zum Unbewussten des Klienten. Entweder wird im Wachzustand vereinbart, oder es wird in Trance auf dissoziative Weise etabliert, dass eine bestimmte körperliche Reaktion (Blinzeln, Kopfnicken, Heben oder Senken eines Armes oder eines Fingers) „ja“ bedeutet. Ein anderes ideomotorisches Signal bedeutet „nein“. Ein drittes Signal bedeutet beispielsweise: „Ich weiß
11.2
nicht / ich will nicht antworten“. Mit Signalen dieser Art kann der Therapeut auch in tiefer Trance auf rudimentäre Weise mit dem Klienten suggestiv kommunizieren, wobei der Klient sich der ideomotorischen Kommunikation und ihrer Inhalte in tieferer Trance nicht vollständig oder gar nicht gewahr sein muss.
Klassische und Erickson'sche Hypnose
Direktive Suggestion. Klassische, direktive Suggestion hat entweder die Form einer Anweisung („Entspanne dich!“) oder einer Behauptung („Deine Schultern sind ganz locker.“). In der klassischen Hypnose führt der Therapeut, und der Klient folgt dem Therapeuten (wenn es funktioniert) und geht dadurch in Trance. Ein Klient, der in genügendem Umfang kooperationsbereit ist, kann direktiven Suggestionen folgen und sich auf diese Weise in einen veränderten Bewusstseinszustand hinein und zu psychotherapeutischen Veränderungen hin führen lassen.
In einer Einleitungstrance am Anfang eines Hypnotherapie-Fortbildungsseminars führe ich die Teilnehmer durch direktive Suggestionen in Trance. Ich formuliere die Suggestionen als Behauptungen oder als Anweisungen: „Lege dich bequem hin … schließe die Augen … geh mit deiner Aufmerksamkeit nach innen … die Füße werden schwerer … die Beine werden schwerer … (usw.) … die Füße werden wärmer … (usw.) … du gehst tiefer und tiefer in Trance … die Stirn wird angenehm kühl … das Herz schlägt ruhig und regelmäßig …“. In der Feedbackrunde nach der Trance berichten die meisten Teilnehmer über eine deutlich wahrnehmbare, tiefe Entspannung.
Posthypnotische Suggestion. In Trance öffnet sich die Abwehr, und der Klient ist empfänglicher für Suggestionen als im Wachzustand. Wenn der Klient in Trance ist, kann der Therapeut dem Klienten posthypnotische Suggestionen geben, die nicht nur in der Trance, sondern nachher im Wachzustand wirken. Sie können zu Beginn mit dem Klienten abgesprochen werden, oder der Therapeut kann eine Suggestion geben, bei der er davon ausgeht, dass sie für den Klienten förderlich ist.
Einem depressiven Klienten, der längerfristig bei mir in Psychotherapie ist, suggeriere ich in einer Trance – neben vielen anderen Suggestionen – direktivposthypnotisch „Dein Herz … und dein Kopf … sind und bleiben … hell … und leicht … und frei“.
Grenzen direktiver Suggestion. Die klassische, direktive Hypnose führte lange ein Schattendasein unter den psychotherapeutischen Verfahren. Direktive Hypnose nutzt vor allem die Kraft der Suggestion selbst und die suggestive Verminderung der Selbstabgrenzung des Klienten. Viele Menschen haben aber bewusste oder unbewusste Widerstände dagegen, ihre Innenwelt und ihr Verhalten dem steuernden Einfluss eines anderen Menschen zu überlassen. Bei direktiver Suggestion fühlen sich manche Klienten in ihrer Freiheit beeinträchtigt und versuchen, sich dem Einfluss des Therapeuten zu entziehen, auch um den Preis der Aufrechterhaltung ihrer Symptome. Es kann z. B. passieren, dass der Therapeut versucht, den Klienten suggestiv zu führen: „… deine Augen werden schwer … sie sind schwer … ganz schwer … sie werden schwerer und schwerer … sie sind jetzt ganz schwer …“ usw. aber der Klient sträubt sich gegen die Suggestion: „Von wegen, meine Augen sind gar nicht schwer!“. Die klassische Hypnose weiß sich in einem solchen Fall keinen anderen Rat, als dem Therapeuten zu empfehlen, seine Suggestionen oft und massiver werdend zu wiederholen, dann werde er den Klienten schon „kriegen“. Ein Machtkampf entsteht, der für beide Beteiligte anstrengend und vor allem therapeutisch unfruchtbar ist. Der Klient verhält sich vielleicht eine Weile gemäß den Suggestionen des Therapeuten, wird sie aber so bald wie möglich abschütteln, und dann ist alles wie zuvor. In der Tat kann man beobachten, dass die Effekte der direktiven Hypnose
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Verfahren und Techniken
meist nicht lange anhalten, weil der Klient sie als von außen eingeflößte Fremdkörper empfindet. Als psychotherapeutische Technik mit der Absicht, nachhaltige und tiefgehende strukturelle Veränderungen zu bewirken, ist diese Form der Hypnose nur begrenzt geeignet. Kooperative Hypnose. In der Humanistischen Hypnotherapie geht man von einem kooperativen Paradigma des therapeutischen Prozesses aus. Grundidee ist, dass die Integrationsimpulse und Veränderungsansätze dem Inneren des Klienten selbst entstammen. Trance und Suggestion werden genutzt, um Abgewehrtes und Ressourcen zu kontaktieren, zu aktivieren und zu integrieren. Der Therapeut versucht, dem Klienten zu erleichtern, eigene, in seinem Unterbewusstsein schlummernde Fähigkeiten zu aktivieren und auf das zu bearbeitende Problem anzuwenden. Therapeut und Klient arbeiten kooperativ als Partner zusammen. Es werden dem Klienten also keine vorgegebenen Suggestionen von außen „übergestülpt“, sondern die therapeutischen Veränderungen werden dialogisch aus seinem inneren Ressourcenspeicher heraus entwickelt. Individualisierung. In der modernen, Erickson’schen Hypnotherapie arbeitet man nicht mit
11.3
standardisierten, immer gleichen Induktionen, wie in der klassischen Hypnose. Vielmehr passt der Therapeut den Stil und die Inhalte der Hypnose den Eigenarten, Vorlieben und Abneigungen, der Psychodynamik und den latenten Fähigkeiten des Klienten an. Die Individualisierung des Tranceprozesses ermöglicht es, dass auch solche Klienten therapeutisch fruchtbare Trance-Prozesse erleben, bei denen standardisierte Techniken keinen Erfolg hätten. Erickson'sche Suggestionen. Erickson'sche Suggestionen haben meistens die Form einer Einladung oder einer Analogie. Wenn der Therapeut den Klienten einlädt: „Wenn du magst, kannst du deinen Schultern jetzt erlauben allmählich etwas mehr Spannung loszulassen …“ – warum sollte sich der Klient dagegen wehren? Der Zielzustand, der ihm angeboten wird, ist angenehm und erstrebenswert. Er wird nicht gedrängt, er wird nicht überfordert, man lässt ihm Zeit, er muss es nicht sofort tun, er muss es überhaupt nicht tun. Er wird eingeladen, eine Bewegung in eine von ihm selbst angestrebte Richtung zuzulassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Klient einer so formulierten Einladung mit innerem Einverständnis folgt, ist wesentlich höher als bei direktiven Suggestionen.
Einleitung einer Trance
Induktionstechniken. Das Hineinführen des Klienten in die Trance wird als Induktion bezeichnet (von lat. inducere: hineinführen). Entsprechend heißt das Herausführen aus dem Trancezustand Exduktion oder Reorientierung. Es gibt eine Vielfalt von hypnotischen Induktionstechniken: • Explizite Trance-Induktionen sind als solche direkt erkennbar und werden vom Therapeuten als solche benannt, d. h. der Therapeut führt sie dem Klienten gegenüber als „Hypnose“ oder als „Trance-Technik“ ein. Der Klient weiß, dass er in einen Trancezustand hineingeführt wird und lässt sich bewusst darauf ein. • Implizite Trance-Induktionen werden vom Klienten in der Regel nicht als solche erkannt. Manchmal ist sich auch der Therapeut nicht darüber bewusst, dass er den Klienten gerade in einen veränderten Bewusstseinszustand führt, oder er beschreibt die ablaufenden Prozesse nicht mit hypnotherapeutischen Be-
•
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griffen, sondern zum Beispiel als Imagination, Tiefentspannung oder Fantasieübung. Implizite Trancen entstehen beiläufig im Laufe psychotherapeutischer Prozesse verschiedener Verfahren. Als beiläufige Trance-Induktion wird ein (manchmal nur kurzes) Hineingehen oder Hineinführen des Klienten in einen Versenkungszustand während eines Gesprächs bezeichnet, ohne dass der Klient dies explizit registrieren muss. Das geschieht manchmal von selbst, indem der Klient sich in sein Inneres hinein vertieft oder gezielt, indem der Therapeut beiläufig Metaphern, eingebettete Suggestionen, Markierungstechniken oder andere hypnosuggestive Sprachformen verwendet. Ein Trancezustand kann durch verbale Suggestionen induziert werden, also durch Sätze, die Aufforderungen an das Unbewusste des Klienten beinhalten.
11 Trance und Suggestion 147
• Trance
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kann aber auch auf nonverbalem Wege eingeleitet werden, zum Beispiel durch meditative Übungen, Körperarbeit, Massage, Tanz, Singen, rhythmische Bewegungen, Trommeln oder durch bestimmte Formen von Kontakt, zum Beispiel intensiven Augenkontakt. Manchmal werden zu diesem Zweck auch Trance-TanzTechniken, monotone Bewegungen, Schaukeln, Atemtechniken, spezielle Berührungen (Holding, Passes) oder tranceinduzierende Klänge (z. B. Gongs) verwendet. Trance-Zustände können spontan entstehen, z. B. bei längerem Autofahren, im Laufe von langweiligen Vorträgen, beim Tanzen, während einer Massage, beim Sex oder beim Dösen am Strand. Veränderte Bewusstseinszustände können als Erscheinungsformen von Leid erzeugenden oder aufrechterhaltenden Mustern auftreten, z. B. in Angstzuständen oder Depressionen (pathologische Trance). Die Einleitung eines hypnotischen Versenkungszustandes muss nicht immer durch Entspannung erfolgen. Es ist ebenso gut möglich, den Klienten in eine Trance zu führen, indem man ihm zum Beispiel Festigkeit, Kraft, Energie, Konzentration, Stabilität, Neugierde, Begeisterung oder Vitalität suggeriert (Kraftinduktionen).
Fokussierung. Oft suggeriert der Therapeut dem Klienten zu Beginn der Induktion die Fokussierung seiner Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Element seines Gewahrseins, wodurch die anderen Wahrnehmungen in den Hintergrund treten oder ausgeblendet werden.
Zur Fokussierung suggeriere ich einem Klienten zu Beginn einer Trance-Induktion: „Deine Aufmerksamkeit kann ganz nah bei meiner Stimme bleiben … alle anderen Geräusche treten mehr und mehr in den Hintergrund …“ Ich fokussiere die Aufmerksamkeit des Klienten also suggesitv auf meine Stimme.
Absorption. Als Nächstes kann der Therapeut dem Klienten suggerieren, dass dieser in einem Element seines Wahrnehmungsfeldes absorbiert wird. Dieses Wahrnehmungselement nimmt die Aufmerksamkeit und das Bewusstsein des Klienten mehr und mehr auf, bis der Klient mit einem Großteil seines Gewahrseins von diesem Element beansprucht (absorbiert) ist.
Zur Absorption suggeriere ich dem obigen Klienten: „Du kannst dir nun eine angenehme Farbe vorstellen … eine Farbe, die für dich Entspannung und tiefes Wohlgefühl symbolisiert … diese Farbe kann mehr und mehr deinen ganzen Körper … und dein ganzes Bewusstsein ausfüllen …“. Ich suggeriere also Absorption in eine Farb-Imagination.
Versenkung und Fraktionierung. Nun suggeriert der Therapeut dem Klienten z.B., dass dieser sich in sein Inneres hineinsinken lässt. Der Therapeut kann den Klienten auch mehrmals hintereinander in Trance hinein- und wieder herausführen. Auf diese Weise kann der Klient den Prozess des Übergangs von einem Bewusstseinszustand zum anderen üben. In einem fraktionierten (unterbrochenen) Trance-Induktionsprozess kann der Therapeut sich nach jeder Induktionsphase ein Feedback vom Klienten darüber holen, was dem Klienten angenehm war und was nicht und sich in der nächsten Induktionsphase an diesem Feedback orientieren. Auf diese Weise wird jeder Klient so in Trance geführt, wie er es braucht (individualisierte Induktion). Aktivierung von Trance-Erfahrungen. Eine einfache und effektive Technik der Trance-Induktion besteht darin, dass der Therapeut den Klienten an vorangegangene Trance-Erfahrungen oder tranceähnliche Erlebnisse erinnert und diese auf suggestive Weise aktiviert.
Zu Beginn einer hypnotherapeutischen Sitzung frage ich eine 26-jährige Klientin, ob sie schon einmal in Trance gewesen sei. Sie antwortet: „Eigentlich nicht.“ Ich frage sie nach tranceähnlichen Erfahrungen, in denen sie nicht wach war, aber auch nicht geschlafen hat, also z. B. Erfahrungen von Entspannung oder Versunkenheit. Sie antwortet, dass sie manchmal beim Joggen in einen Zustand kommt, in dem ihr Geist weitgehend leer ist, in dem sie sich eins mit der Umgebung fühlt, was trotz der körperlichen Anstrengung für sie geistig entspannend und wohltuend ist. Ich lasse mir diesen Zustand genauer beschreiben und bitte die Klientin dann, sich daran zu erinnern, wie sie beim Joggen in den beschriebenen Zustand kommt. Ich benutze also ihre Jogging- Erfahrung als Anker für die Induktion eines Trancezustandes.
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Verfahren und Techniken
Reorientierung. Am Ende der Trance reorientiert der Therapeut den Klienten behutsam aus seinem veränderten Bewusstseinszustand zurück ins Alltagsbewusstsein: „Du kannst dich jetzt langsam darauf vorbereiten, aus der Trance wieder zurückzukehren … und mit jedem Atemzug ein Stück weit aus der Trance zurückzukommen … dich wieder in die äußere Welt zu orientieren … wacher und wacher zu werden … und wenn du in kurzer Zeit die Augen öffnest, bist du erholt, erfrischt und wach aus der Trance zurückgekehrt …“. Dabei kann der Therapeut behutsam seine Stimmlage verändern und ein wenig schneller und frischer sprechen, um auch durch seinen Stimmklang den Klienten aus seinem vertieften Bewusstseinszustand herauszu-
11.4
führen (Stimmführung). Nach der Reorientierung ist es wichtig, dass der Therapeut dem Klienten genug Zeit lässt, um wieder ganz ins Wachbewusstsein zurückzufinden. Gegebenenfalls kann der Therapeut den Klienten dabei durch Suggestionen oder behutsame Aufforderungen unterstützen, z.B.: „Wenn du magst, kannst du dich langsam aufrichten und dich umschauen … langsam aufstehen … und ein paar Schritte im Raum herumgehen … bis du wieder ganz wach bist …“. Nach der Trance hält die erhöhte Suggestibilität des Klienten noch für eine ganze Weile an und klingt erst allmählich ab. Es ist daher wichtig, dass der Therapeut direkt nach der Trance besonders behutsam mit dem Klienten umgeht.
Pacing und Leading
Abholen und einladen. Der Ansatz des Pacing (abholen, mitgehen, begleiten, spiegeln) und Leading (einladen, führen) ist ein Grundprinzip der Erickson'schen Induktions- und Interventionstechnik. Das Prinzip von Pacing und Leading widerspricht dem naiven Alltagsverständnis von einer Hypnose-Induktion, denn zu Beginn ist es nicht der Therapeut, der den Klienten suggestiv lenkt, sondern umgekehrt, der Klient führt, und der Therapeut folgt ihm. Pacing bedeutet, dass der Therapeut das, was der Klient in diesem Moment wahrnimmt oder tut, verbal benennt oder nonverbal begleitet. Der Therapeut kann als Pacing z. B. sagen: „Du schaust dich um … und bewegst deine Füße … nun schließt du die Augen … und siehst hinter deinen geschlossenen Augenlidern vielleicht eine dunkelgraue Fläche … du hörst die Straßengeräusche draußen … du hörst meine Stimme … du spürst, wie du auf dem Stuhl sitzt … du fühlst die Temperatur deiner Füße … du spürst, wie du atmest … du spürst vielleicht Spannungen an einigen Stellen deines Körpers …“ usw. Yes-Set und Rapport. Dadurch, dass der Therapeut nur Wahrnehmungen benennt, die der Klient tatsächlich oder sehr wahrscheinlich hat, entsteht im Klienten eine Art inneres Kopfnicken (Ja-Haltung, Yes-Set): der Klient kann den Worten des Therapeuten innerlich zustimmen, weil sie mit seinem Erleben übereinstimmen. Durch Pacing entstehen auch in ängstlichen, misstrauischen oder überkontrollierten Klienten ein Gefühl des Begleitet- und Getragenwerdens und ein
verstärktes Vertrauensverhältnis zu dem Therapeuten. Der Klient fühlt sich in seinem aktuellen Erleben bestätigt, der Rapport wird gestärkt. Leading. Nun kann der Therapeut vorsichtig beginnen, führende, einladende Suggestionen einzustreuen (Leading), z.B: „… und du kannst deinen Schultern bald erlauben … etwas mehr loszulassen …“ Daraufhin kehrt der Therapeut wieder zum Pacing zurück. Dann baut er wieder Leading-Aussagen ein. (Im Humanistischen Verständnis besteht dieses Führen nicht in einem Einflößen von Suggestionen, sondern im Ansprechen und Aktivieren von Abgewehrtem und von Ressourcen.) Der hypnogene Zirkel. Auf diese Weise kreieren Therapeut und Klient gemeinsam, ausgehend vom aktuellen Erleben des Klienten und im Dialog miteinander, allmählich einen vertieften Bewusstseinszustand beim Klienten, in dem der Klient immer empfänglicher für weitere Suggestionen des Therapeuten wird (hypnogener Zirkel). Je tiefer die Trance des Klienten ist, umso mehr kann der Therapeut das Gewicht vom Mitgehen auf das Führen verlagern. Wenn der Klient in tiefer Trance ist, kann der Therapeut nur noch gelegentlich PacingÄußerungen einflechten und überwiegend führen. Auf diese Weise schafft der Therapeut ein sanftes Kontinuum vom Wachzustand in einen sich immer weiter vertiefenden Trance-Zustand hinein (siehe Abb. 11.6).
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Abb. 11.6 Der hypnogene Zirkel.
Suggestion im Atemrhythmus. Um einen guten Rapport zum Klienten zu etablieren und aufrechtzuerhalten, ist es sinnvoll, wenn der Therapeut sich bemüht, seine Suggestionen im Atemrhythmus des Klienten und jeweils bei dessen Ausatmen zu sprechen. Auf diese Weise kann sich der Therapeut dem inneren, in der Regel verlangsamten Zeitempfinden des Klienten in Trance angleichen und die Suggestionen dem vegetativen Tonus des Klienten anpassen. Die hypnotische Sprechweise. Sprechgeschwindigkeit und Intonation sowie die Formulierungen des Therapeuten sollten den Vorlieben und Abneigungen des Klienten angepasst sein. Es gibt bspw. Klienten, die eine eher langsame Sprechweise mit vielen, langen Pausen als angenehm empfinden. Andere bevorzugen ein schnelleres, andauerndes Sprechen ohne Pausen. Einige Klienten mögen es, wenn der Therapeut leise, sanft und weich spricht. Anderen ist es angenehmer, wenn der Therapeut sachlich und wie in der normalen Alltagssprache intoniert. Da nicht vorherzusagen ist, was der Klient mag und was er nicht mag, ist es am besten, wenn sich der Therapeut nach den ersten Trancen Rückmeldungen vom Klienten einholt und sich bei der nächsten Trance mit demselben Klienten so weit wie es ihm möglich ist an diesen Rückmeldungen orientiert.
11.5
Sinnesmodalitäten. In seinen Pacing- und Leading-Aussagen kann sich der Therapeut an den Haupt-Sinnesmodalitäten des Klienten orientieren. Die Orientierung an den Sinnesmodalitäten wird machmal mit dem Kürzel „vakog“ bezeichnet: • v = visuell – sehen, • a = auditiv – hören, • k = kinästhetisch – spüren/fühlen, • o = olfaktorisch – riechen, • g = gustatorisch – schmecken. Der Therapeut kann z. B. sagen: „… du siehst auf diesen roten Punkt an der Decke … du hörst meine Stimme … du spürst, wie du auf dem Sessel sitzt … und vielleicht kannst du nach einer Weile den Blick nach innen richten … auf den Körper hören … und angenehme Entspannung fühlen …“ Linking. Der Therapeut macht Pacing-Aussagen, in denen er sich an den Sinnesmodalitäten orientiert. Dann macht er Leading-Aussagen, ebenfalls orientiert an den Sinnesmodalitäten, mit denen er den Klienten suggestiv in Entspannung und einen vertieften Bewusstseinszustand führt. Beide Aussagen können grammatikalisch durch ein Bindewort (z. B. und, oder, aber, weil, damit) verknüpft werden. Die Verknüpfung von Pacing- mit Leading-Aussagen wird als Linking bezeichnet. Die Formulierungen des Therapeuten lauten also in allgemeiner Form: • „Du … siehst/hörst/fühlst … A, B, C …“ (Pacing) • „… und/oder/aber/weil …“ (Linking) • „… du X, Y, Z sehen/hören/fühlen kannst.“ (Leading) Es ist unwahrscheinlich, dass der Klient so formulierte Sätze ganz zurückweist, weil die erste Hälfte des Satzes seinem Erleben genau entspricht. Er hat daher die Tendenz, auch die zweite Satzhälfte zu akzeptieren und damit der suggestiven Einladung zu folgen.
Metaphern
Die Sprache des Unbewussten. Metaphern sind die Sprache des Unbewussten; sie sind nicht eindeutig und lösen daher autonome Suchprozesse aus. Die Konstruktion der konkreten Bedeutung der Metapher wird der Kreativität des Unbewussten überlassen. Die metaphorische, bildhafte Ausdrucksweise entspricht dem traumartigen Erleben
in mittlerer Trance und der analogischen Funktionsweise unbewusster Prozesse. Die Arbeit mit Metaphern, also mit Geschichten, Symbolen oder Analogien war die bevorzugte hypnotische Technik von Erickson in seinem letzten Lebensjahrzehnt. Erickson hatte entdeckt, dass sein Gegenüber oft spontan in einen Trancezustand verfiel, wenn er
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Verfahren und Techniken
ihn mit detaillierten Geschichten z. B. über seine acht Kinder und zahlreichen Enkelkinder „in eine Trance hinein langweilte“ (Erickson). Diese Technik der beiläufigen Trance im Gespräch durch suggestive Geschichten (Konversationstrance) trug viel zum Ruf Ericksons als Zauberer der Hypnose bei, weil für Außenstehende zunächst kaum nachzuvollziehen war, wie er durch kunstvolles Einweben suggestiver Elemente in eine Geschichte einen Trancezustand herbeiführte, therapeutisch nutzte und wieder zurücknahm. (Abb. 11.7 zeigt eine Gruppentrance) Symbole. Eine einfache Form einer hypnotischen Metapher ist ein Symbol. Ein Symbol ist ein einzelnes Objekt mit einer inhärenten oder zugeschriebenen Bedeutung. Statt z. B. einem Klienten auf abstrakte Weise Gefühle von Stabilität, Festigkeit und Widerstandskraft zu suggerieren, kann der Therapeut ihn suggestiv anregen, sich mit einem
Abb. 11.7 Gruppentrance.
Baum zu identifizieren und dann die Stabilität, Festigkeit, Widerstandsfähigkeit, Verwurzeltheit und Ruhe des Baumes beschreiben. So können Symbole genutzt werden, um therapeutische Inhalte zu transportieren. Geschichten. Eine hypnotische Geschichte enthält in der Regel mehrere handelnde Personen, einen Handlungsablauf und eine Dramaturgie mit Einleitung, Zuspitzung, Höhepunkt und Auflösung. In eine hypnotische Geschichte lassen sich auf dem Wege der metaphorischen Parallelisierung Pacing- und Leading-Elemente einbinden. Eine bedrohliche Prüfungssituation kann beispielsweise in einen Spaziergang in einem dunklen Wald verwandelt werden. Der Prüfer wird metaphorisch zum dunklen Schatten eines hohen Baumes, der sich bei näherer Betrachtung als harmlos erweist und sogar eine gute Orientierung im Wald ermöglicht. So kann durch indirekt-suggestive Umstruk-
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turierung von Einstellungen im Rahmen einer hypnotischen Geschichte Prüfungsangst aktuell gemindert werden. Mythen. Als besonders wirkungsvolle Metaphern zur Aktivierung latenter Anteile können Legenden, Mythen und Märchen aller Völker genutzt werden. Ein alter Mythos wäre beispielsweise die Schöpfungsgeschichte in der Bibel („Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde …“). Moderne Mythen wären zum Beispiel die Geschichten vom Grafen Dracula, Spiderman oder aus „Die Nebel von Avalon“. Mythen sind in vielen Menschen tief verankert. Teile daraus können v. a. bei Klienten, denen sie vertraut sind, zur Einleitung von Trance-Zuständen und zur Vermittlung therapeutischer Suggestionen angewandt werden.
In einer Gruppentrance zu Beginn eines Therapiegruppenwochenendes verwende ich ein altes buddhistisches Bild, in dem die Seelen der Menschen mit Juwelen verglichen werden, von denen jede ihren eigenen Glanz in allen anderen spiegelt. Dadurch säe ich in der Gruppe das Thema der wertschätzenden gegenseitigen Spiegelung der Befindlichkeiten von Menschen in der Wahrnehmung und den Gefühlen anderer Menschen, was der Schwerpunkt des Gruppenwochenendes sein soll (Seeding).
Anwendung von Metaphern. Metaphern können verwendet werden, um therapeutisch hilfreiche Suggestionen so zu verpacken, dass sie vom Klienten gut aufgenommen und kreativ umgesetzt werden können. Metaphern können in verschiedenen Phasen des Tranceprozesses benutzt werden: • in der Induktionsphase, um den Übergang in die Trance hinein zu erleichtern, zur • Vertiefung der Trance, • um therapeutische Interventionen zu übermitteln oder • um den Klienten wieder in den Wachzustand zu reorientieren. Am häufigsten werden hypnotische Metaphern verwendet, um einem Klienten, der sich bereits in Trance befindet, therapeutisch wirkende Suggestionen nahezubringen. In einer leichten bis mittle-
ren Trance hat der Klient besseren Zugang zu seinem eigenen Fantasiegeschehen und kann suggestive Botschaften leichter umsetzen. In tieferen Trancezuständen kann der Klient die vom Therapeuten erzählten Geschichten in quasi-halluzinatorischer Intensität als hypnotische Träume erleben. Metaphern zur Induktion und zur Reorientierung. Zur Induktion des Trancezustandes kann der Therapeut bildhafte Beschreibungen von Situationen verwenden, die mit Entspannung assoziiert sind, zum Beispiel Liegen am Strand, Dösen auf einer Sommerwiese, Hören von beruhigender Musik, einen Mittagsschlaf machen oder eine entspannende Massage erhalten. Zur Vertiefung der Trance kann der Therapeut Bilder und Szenerien beschreiben, die mit Einsinken oder Tiefergehen assoziiert sind, zum Beispiel das Einsinken eines Tauchers im Meer, ein Fahrstuhl oder eine Rolltreppe, die sich nach unten bewegt, die Versenkung eines Meditierenden in die Meditation, ein Blatt, das von einem Baum nach unten sinkt oder das Fallen von Schneeflocken. Vergleichbare Metaphern kann der Therapeut am Ende der Trance verwenden, um die Rückkehr des Klienten aus der Trance und seine Reorientierung in den Wachzustand zu fördern. Zu diesem Zweck können Bilder und Szenerien beschrieben werden, die mit Auftauchen aus der Tiefe, Rückkehr, Erwachen, Wachheit und Frische assoziiert sind. Analoges Markieren. In eine hypnotische Geschichte können Suggestionen eingebettet werden, die durch subtile Veränderungen der Stimmlage für das Unbewusste des Klienten hervorgehoben werden. Erickson beschrieb die Technik des „analogen Markierens“ durch Stimmveränderungen in einem Bericht über einen krebskranken Floristen, dem er einen langen hypnotischen Sermon über Tomatenpflanzen und Anbaumethoden erzählte. In diesen Sermon streute Erickson die zu vermittelnden Suggestionen (z. B. „ruhen“, „lebendig“, „Wohlgefühl“ usw.) ein. Wann immer in seinem hypnotischen Monolog die zu vermittelnden Suggestionen vorkamen, ließ er seine Stimme etwas tiefer und weicher werden, um die Worte an das Unbewusste des Klienten zu adressieren (Erickson 2007).
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Verfahren und Techniken
11.6
Hypnotherapeutische Sprachformen
Das Milton-Modell der Sprache. Die Begründer des Neurolinguistischen Programmieren (NLP), Richard Bandler und John Grinder (1996), haben die suggestiven Sprachmuster von Erickson analysiert und daraus ein Modell entwickelt, das sie das Milton-Modell der Sprache (nach Milton Erickson) nannten. Mit diesem Modell ist es möglich, hypnotische Suggestionen so zu formulieren, dass sie vom Unbewussten des Klienten optimal aufgenommen und umgesetzt werden können. Suggestiv einsetzbare linguistische Konstruktionen sind z. B.: • erlaubende Suggestion • Tilgung • Komparativ ohne Bezugsgröße • Nominalisierung • Generalisierung • Implikation • suggestive Negation • Refraiming • vage Zeitangaben • Zeitbindung • Abstraktion • Dissoziation • doppelte Negation • Zitat • Einbettung • Metapher • Suggestion in Frageform • pseudokausale Verknüpfung • suggestives Gedankenlesen • analoges Markieren Details zu diesen Sprachmustern und ihren Anwendungen findet man ausführlich in Bandler u. Grinder 1997. Konfusionstechniken. Manchmal ist der Klient in begrenzenden Mustern und Einstellungen
11.7
gefangen, sodass es hilfreich ist, diese zunächst zu destabilisieren, um therapeutisch fruchtbare Prozesse zu erleichtern. Zu diesem Zweck kann der Therapeut mit verwirrenden Aussagen und/oder Interventionen arbeiten (hypnotische Konfusion). Beispielsweise kann er Worte mit Doppelbedeutungen benutzen und zwischen den Bedeutungen der Worte hin und her springen. Gut geeignet dafür sind Worte, die sowohl eine reale als auch eine metaphorische Bedeutung haben (z. B. „Haltung“ = Körperhaltung/Einstellung). Auch realen Objekten (z. B. Haus, Baum) kann eine metaphorische Bedeutung zugeschrieben werden („das Haus der Seele“, „der Baum der Wünsche“), und der Therapeut kann dann zwischen der realen und der metaphorischen Bedeutung hin und her springen. Zu einer besonders intensiven Konfusion führt es, wenn der Therapeut mehrere Polaritäten gleichzeitig anspricht und zwischen diesen wechselt.
Eine 36-jährige Klientin ist kognitiv stark kontrolliert, sodass es ihr mit sanft-gewährenden Induktionstechniken allein schwerfällt, in Trance zu gehen. Ich arbeite daher mit konfusionierenden Polaritätsspielen: „Während die linke Hand eine Kastanie umgreift … ist es sicher nicht leicht … zu begreifen … warum die rechte Hand bald schwerer werden kann … bevor sie begriffen hat … warum die linke Hand … nach leichter Schwere greift … usw.“ Ich benutze die Doppelbedeutung des Wortes begreifen sowie die Polaritäten links/rechts und leicht/schwer zur Konfusion, um das Wachbewusstsein der Klientin zu destabilisieren und um ihr den Übergang in eine Trance hinein zu erleichtern.
Hypnotischer Ressourcentransfer
Ressourcen aktivieren. Ein relativ einfaches Paradigma zur kurzzeitpsychotherapeutischen Anwendung von Hypnose ist der hypnotische Transfer von Ressourcen. Die Technik wurde von Revenstorf und Peter (2000) und von Bongartz (2006) detailliert beschrieben. Das Grundprinzip dieser Technik besteht darin, eine oder mehrere starke Ressourcen des Klienten zu identifizieren, die ihm helfen können, sein Problem zu bewältigen und diese in
Trance auf das zu bearbeitende Problem anzuwenden. Die Technik kann z. B. in folgenden Schritten erfolgen: 1. Problem fokussieren. Da sich die Technik am besten für eingrenzbare Probleme eignet, hilft der Therapeut dem Klienten zunächst, sich auf ein eingrenzbares Problem bzw. auf einen eingrenzbaren Aspekt eines Problems zu fokussieren, das
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durch den hypnotischen Ressourcentransfer in die angestrebte Richtung bewegt (transformiert) werden kann. Ein 23-jähriger Klient mit multiplen Ängsten und damit zusammenhängenden psychosomatischer Störungen berichtet, dass er in der nächsten Woche eine wichtige Prüfung vor sich hat, bei der er schon zweimal durchgefallen ist. Er habe sich diesmal gründlich vorbereitet, befürchte aber, wegen seiner Prüfungsangst wieder zu versagen. Wir vereinbaren, die Sitzung dazu zu nutzen, hypnotherapeutisch seine innere Stabilität zu fördern, damit er in der Prüfung mehr inneren Rückhalt hat. In dieser Sitzung arbeiten wir also an der Prüfungsangst als fokussiertem Aspekt eines umfassenderen Syndroms.
2. Defizit identifizieren. Der Therapeut arbeitet gemeinsam mit dem Klienten im Wachzustand heraus, welches zentrale Defizit des Klienten das Problem aufrechterhält. Im Gespräch finden wir gemeinsam heraus, dass das Defizit des obigen Klienten in Bezug auf die Prüfungssituation ein Mangel an innerer Sicherheit, an Selbstvertrauen, Stabilität und Standfestigkeit ist.
3. Starke Ressourcen identifizieren. Der Therapeut hilft dem Klienten, innere Ressourcen zu identifizieren, die ihm bei der Bewältigung des Problems helfen können. Das kann noch im Wachzustand oder schon in Trance geschehen. Besonders hilfreich als Ressourcen sind reale Erfahrungen des Klienten, in denen er das Problem oder ein ähnliches Problem erfolgreich bewältigen konnte. Wichtig ist, dass diese Bewältigungserfahrung im Klienten emotional stark positiv besetzt ist, weil daraus Kraft für die Bewältigung des aktuellen Problems entsteht. Weiter im Wachzustand frage ich den Klienten, ob es in seinem Leben einmal eine Prüfungssituation gegeben habe, die er gut bewältigt habe. Der Klient kann sich an keine solche Erfahrung erinnern. Nach-
dem ich ihm einige mögliche Beispiele für ähnliche Erfahrungen genannt habe, erinnert sich der Klient, dass er als Schüler in einer Rockband gespielt hat, die einmal vor einem großen Publikum auftrat. „Die Leute waren begeistert und wollten immer mehr von uns hören.“ Das ist eine für ihn stark emotional positiv aufgeladene Ressource dafür, sich erfolgreich zu präsentieren.
Falls eine geeignete, reale Bewältigungserfahrung nicht verfügbar ist, weil der Klient eine solche nicht hat, oder weil er sich in seinem problemgebundenen Zustand nicht an solche erinnern kann, so können auch imaginierte Ressourcen verwendet werden. Hierbei kann es sich z. B. um Bewältigungsmodelle aus Filmen, Büchern oder Mythen handeln, es können reale andere Personen als Modelle verwendet werden oder der Klient kann seine Zielvorstellung als Bewältigungsressource nutzen (utilisieren).
Da der Klient große Angst vor der Prüfung hat, erscheint es mir sinnvoll, weitere Ressourcen zu sammeln, die anschließend in der Trance „gestapelt“ werden sollen. Ich frage ihn nach seiner Vorstellung, wie er während der Prüfung sein möchte. Er sagt: „Naja, wenn ich die innere Ruhe und den Optimismus des Dalai Lama in mir hätte, die Kraft des Hulk und die Intelligenz von Stephen Hawking, dann würde ich es wohl schaffen.“ Ich lasse mir von ihm diese drei Personen (der Hulk ist eine FantasyFigur) detailliert beschreiben. Es handelt sich um modellhafte bzw. imaginative Ressourcen, die aber für die beabsichtigte Technik gut verwendet werden können.
Als Ressource können auch positive verbale Kognitionen (Kraftsätze) genutzt werden, die die zu aktivierenden Fähigkeiten des Klienten prägnant auf den Punkt bringt. Diese sollten kurz, griffig, grammatikalisch positiv und in der Du-Form formuliert sein, und sie sollen beim Klienten eine unmittelbare, verbale und nonverbale Zustimmungsreaktion hervorrufen.
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Verfahren und Techniken
Ich frage den Klienten nach einer Formulierung, die prägnant zum Ausdruck bringt, wie er in der Prüfungssituation gern wäre. Wir arbeiten den Satz heraus: „Du bist dir deiner selbst sicher.“ Ich sage den Satz probeweise zu dem Klienten. Der Klient atmet kurz auf, seine Augen leuchten, und er nickt. Der Satz passt.
4. Trance induzieren. Der Therapeut führt den Klienten in einen Versenkungszustand, z. B. indem er vergangene Trance-Erfahrungen nutzt und via Pacing und Leading Entspannung und Versenkung suggeriert. Bereits in der Induktionsphase kann der Therapeut Suggestionen einbauen, die den Klienten auf die Aktivierung der Ressourcen vorbereiten (Seeding).
Ich bitte den Klienten, die Augen zu schließen, sich bequem hinzulegen und mit seiner Aufmerksamkeit in sein Inneres zu gehen. Ich beschreibe als Pacing zunächst Wahrnehmungen, die er in diesem Moment tatsächlich hat, zum Beispiel: „Du hörst meine Stimme … du spürst, wie du auf der Matratze aufliegst … du spürst deinen Atem …“ usw. Dann erinnere ich den Klienten an Trance-Erfahrungen, die er schon gemacht hat: „Du hast das schon einige Male erlebt … dieses Einsinken in dein Inneres …“ usw. Parallel suggeriere ich Entspannung und Versenkung: „… und du kannst zulassen, dass die Beine loslassen … sodass der Geist mehr und mehr auf angenehme Weise in das Innere versinkt …“. Dabei streue ich Suggestionen ein, die in Richtung Kraft, Stabilität und innere Sicherheit gehen, die den Klienten also auf die später zu aktivierenden Ressourcen vorbereiten (Seeding).
5. Ressourcen aktivieren. Wenn der Klient eine leichte bis mittlere Trance erreicht hat, hilft der Therapeut dem Klienten, die vorher gemeinsam ausgearbeiteten Ressourcen in seinem TranceErleben zu aktivieren, indem er dem Klienten suggeriert, sich tief in das Erleben der Ressourcen hinein zu versenken.
Der Klient entspannt sich und zeigt Anzeichen einer Trance. Ich suggeriere ihm: „… und da war diese Situation, als du in deiner Rockband spielst … die
Gitarre in deinen Händen … du hörst die Musik … die du spielst … sehr laut … aus den großen Lautsprechern hinter dir … deine Freunde sind um dich herum … die Stimmung ist gut … du wirst durchflutet und getragen von der Musik … du fühlst dich ganz sicher … wie von selbst entsteht aus deinem Inneren etwas, das sich sehr gut und richtig anfühlt … und während du diese Kraft und Sicherheit in dir spürst … kann sich ein anderer Teil deines Gewahrseins erinnern an den Vortrag des Dalai Lama … in dem du diese unerschütterliche Ruhe und Gelassenheit wahrnimmst, die der Dalai Lama ausstrahlt … als ob er mit seinem freundlichen, jugendlichen Lächeln dir etwas schenkt …“ usw. Ich helfe dem Klienten also suggestiv in ein vertieftes Erleben seiner ressourcevollen Erfahrungen und Fantasien hinein.
6. Ressourcen aneignen. Im Alltagsbewusstsein erlebt der Klient die Verfügbarkeit seiner Ressourcen zunächst als an bestimmte äußere Gegebenheiten gekoppelt. Er glaubt, er habe seine Ressourcen nur unter bestimmten äußeren Voraussetzungen zur Verfügung, nicht aber in der Problemsituation. Der Therapeut hilft dem Klienten daher auf hypnosuggestive Weise, seine Ressourcen aus den spezifischen Bedingungen der Ressourcensituation herauszulösen und sie im Hier und Jetzt emotional in seinem Körper zu erfahren. Die Ressourcen werden suggestiv „angeeignet“, also als emotionales Erleben im Körper geankert.
Ich suggeriere dem Klienten, das Gefühl von Stabilität, innerem Halt, Selbstsicherheit und Zuversicht unabhängig von spezifischen Situationen zu erleben: „Du spürst in deinem Körper dieses sichere Gefühl von Vertrauen in dein Wissen … von zuversichtlicher Gelassenheit … in dem Wissen … dass das deine eigene Kraft ist … die du in dir spürst …“ usw.
Unterstützend kann der Therapeut die Verfügbarkeit der Ressourcen suggestiv an einen Auslösereiz (Anker) koppeln und damit die jederzeitige Verfügbarkeit der Ressourcen fördern.
Ich lege dem Klienten eine Kastanie in die Hand und suggeriere: „Du spürst die Kastanie in deiner Hand
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… aus der einmal ein großer und kräftiger Baum werden kann … und diese Kastanie … mit ihrer lebendigen und vitalen Festigkeit … wird deinen Körper erinnern an dieses Gefühl von Sicherheit … von Kraft, Zuversicht und vitaler Gelassenheit …“ (Der Klient soll später die Kastanie als Ressourcenanker in die Prüfungssituation mitnehmen.)
7. Ressourcen aktiv und angeeignet? Der Therapeut suggeriert dem Klienten ein ideomotorisches Signal, das nach außen anzeigt, ob der Klient seine Ressourcen intensiv emotional in seinem Körper erlebt und sie als etwas Eigenes, als verfügbare Fähigkeit empfindet.
Ich suggeriere dem Klienten: „Wenn du diese tiefe Empfindung von Sicherheit, zuversichtlicher Gelassenheit und Vertrauen auf dein Wissen in dir fühlst … und spürst, das ist deine Sicherheit … du kannst dir selbst vertrauen … du hast dich gut vorbereitet … und du hast all dein Wissen sicher zur Verfügung … wird sich dann dein Kopf auf eine Weise bewegen, als ob du nickst … und zeigt mir dadurch, dass du diese Kraft spürst …?“ Nach einigen Sekunden nickt der Kopf des Klienten.
8. Ressourcen auf das Problem anwenden. Wenn der Klient starke, emotional positiv besetzte Ressourcen in Trance intensiv erlebt und angeeignet hat, suggeriert der Therapeut, dass diese Ressourcen auf das Problem angewendet werden. Das kann auf verschiedene Weise geschehen, z. B. metaphorisch. Dabei kann der Therapeut den Auslösereiz und die positiven Kognitionen, die er zuvor entwickelt hat, als Ressourcen-Anker nutzen. Ich suggeriere dem Klienten: „Mit deiner ganzen Sicherheit … dieser heiteren Gelassenheit und Zuversicht … mit all deinem Selbstvertrauen in dein Wissen … kannst du in die Prüfung gehen … und spüren, wie du diese Sicherheit, Kraft, Gelassenheit und dieses Selbstvertrauen in der Prüfung zur Verfügung hast … und die Kastanie in deiner Hand oder in deiner Hosentasche kann dein Inneres erinnern … an diese Sicherheit im Bauch … an die heitere Gelas-
senheit … und das Vertrauen in deine Intelligenz …“ Dazwischen gebe ich ihm einige Male explizit den vereinbarten Kraftsatz als direktive posthypnotische Suggestion: „Du bist dir deiner selbst sicher.“
9. Das Problem als Auslöser für die Ressourcen. Der Therapeut kann im Klienten eine suggestive Koppelung der Ressourcen an das Problem etablieren, sodass das Problem selbst bzw. ein Detail der Problemsituation das Ressource-Gefühl auslöst.
Ich suggeriere: „Wenn du in dem Prüfungsraum sitzt … und die Prüfungsunterlagen siehst … spürst du ein tiefes Vertrauen in all dein Wissen, das erforderlich ist, diese Prüfung mit Sicherheit zu bewältigen … wenn du die Uhr in dem Prüfungsraum siehst, dann ist die ganze Zeit, die der Minutenzeiger überstreicht … in deinem Inneren erfüllt von Kraft, gelassener Zuversicht und Selbstvertrauen …“ Der ressourcenvolle Zustand wird also suggestiv an Aspekte der Problemsituation gekoppelt.
10. Ressourcen in der Zukunft ankern. Um dem Klienten zu helfen, nicht nur die unmittelbar anstehende Problemsituation oder das aktuelle, fokussierte Problem bewältigen zu können, sondern seine Ressourcen in Zukunft überhaupt stärker zur Verfügung zu haben, suggeriert der Therapeut dem Klienten, dass dieser seine Ressourcen in Zukunft immer dann spüren wird, wenn er sie braucht. Ich suggeriere dem Klienten: „Du kannst immer wieder prüfen, ob sich dieses Gefühl von Sicherheit und Selbstvertrauen in allen Situationen, in denen du gefordert bist, dein gut vorbereitetes Wissen zu präsentieren … sich so anfühlen kann … als ob du durchströmt wirst von großer Kraft … durchrieselt von zuversichtlicher Gelassenheit … und Vertrauen in deine Fähigkeiten …“ usw. Der Klient absolviert die Prüfung mit der Kastanie in der Hosentasche mit Erfolg und ohne große Angst: „Ich war nur ein bisschen aufgeregt, aber das war okay. Ich habe dann die Kastanie mit der Hand gedrückt, das hat wirklich geholfen.“
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Verfahren und Techniken
Ernest Lawrence Rossi (*1933) ist ein US-amerikanischer Psychotherapeut und Publizist. Er studierte Pharmazie und Psychologie in Philadelphia, wurde 1958–1962 zum Freud'schen Psychoanalytiker ausgebildet, arbeitete am Mount Sinai Hospital in Los Angeles, kooperierte mit dem Psychosomatiker Franz Alexander und absolvierte eine zweite psychoanalytische Ausbildung nach C. G. Jung. 1972–1980 war er Schüler von Milton Erickson und hat dessen Gesamtwerk in elf Bänden herausgegeben. Rossi studierte Mathematik und erforscht naturalistische Trance-Heilungs-Prozesse auf psychobiologischer und neurowissenschaftlicher Grundlage. Er hat bislang 21 Bücher geschrieben bzw. herausgegeben, 124 Artikel veröffentlicht und weltweit hunderte von Workshops geleitet. Heute lebt und arbeitet Rossi in Los Osos, Kalifornien. Abb. 11.8 Ernest Lawrence Rossi (mit freundlicher Genehmigung von Ernest Lawrence Rossi).
11.8
Trance-Dialog
Ursprung. Als Trance-Dialog wird eine fortgeschrittene, integrative Anwendung hypnosuggestiver Techniken auf Basis eines Humanistischen Paradigmas bezeichnet. Die Grundprinzipien dieser Technik wurden von Ernest Rossi entwickelt, einem der profundesten Vertreter der Erickson'schen Hypnotherapie. Rossi lehrt seine dialogische Technik in Fortbildungsseminaren, hat sie aber meines Wissens nie schriftlich dargestellt. Ich verbinde die Trance-Dialog-Technik von Rossi mit psychodynamischen und körperorientierten Methoden, insbesondere mit Atem- und Körperausdrucksarbeit sowie mit der Technik des Durchfühlens von Abwehrprozessen in Trance. Dialog in Trance. Im Unterschied zu den meisten anderen Formen von Hypnotherapie sind in der Dialogischen Trance-Begleitungs-Arbeit (DTBA) Klient und Therapeut fortgesetzt in wechselseitigem verbalem Kontakt, also im Dialog. Der Trance-Prozess steht dabei weitgehend unter der Kontrolle des Klienten. Der Therapeut begleitet und unterstützt einen autogenen Trance-Bearbeitungs-Prozess des Klienten. Als Einstieg in den Trance-Dialog lädt der Therapeut den Klienten ein, sich in seine aktuellen Gefühle und Gedanken, also in den unablässig sich verändernden Fluss seiner aktuellen Erlebnisinhalte zu versenken (naturalistische Induktion). Diesen Prozess kann der Therapeut mit der simplen Frage beginnen: „Was erlebst du jetzt gerade?“ Die darauf folgenden Äußerungen des Klienten kann der
Therapeut dann wortwörtlich wiederholen und z. B. mit „aha“, „ja“, „gut“, „sehr gut“ bekräftigen, was immer die Aussage gewesen sein mag. Papageien-Pacing. In einem Alltagsgespräch erwartet man, dass ein Gesprächspartner auf eine Aussage etwas Eigenes erwidert oder entgegnet. Ein Mensch in Trance erwartet kein persönliches Gegenüber, denn in Trance verschwindet die Person des Therapeuten tendenziell im Hintergrund, oder sie wird zum Teil der Fantasiewelt des Klienten. Daher erlebt der Klient in Trance ein wörtliches Wiederholen seiner Äußerungen nicht als unpassend, sondern als einen dem Trance-Zustand optimal angemessenen, bekräftigenden Widerhall seines Erlebens. Der Klient fühlt sich in Trance durch ein solches „Papageien-Pacing“ gut gespiegelt und begleitet. Das wörtliche Wiederholen der Klientenäußerungen bremst außerdem den Redefluss des Klienten und führt ihn unaufdringlich immer tiefer in seine inneren Prozesse und damit in einen vertieften Bewusstseinszustand hinein. Freie Assoziation in Trance. Diese naturalistische Technik der Trance-Induktion ist in einigen Aspekten vergleichbar mit bestimmten buddhistischen Methoden der Gewahrseinsmeditation (Vipassanah). Beide nutzen als Aufmerksamkeitsfokus das Einfachste und Nächstliegende, nämlich das, was gerade im Zentrum der Aufmerksamkeit des Klienten steht. Verblüffenderweise bewirkt das Fokus-
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sieren auf das aktuelle Erleben eine Veränderung des Bewusstseinszustandes. Sich über längere Zeit des Flusses der eigenen inneren Prozesse gewahr zu sein, ohne etwas zu „tun“, führt in einen Absorptionsprozess hinein. Wenn sich das Bewusstsein gleichsam auf sich selbst konzentriert, dann erlebt es sich in sich selbst gespiegelt, und der Klient geht in Trance. Daher können beliebige Fragen, Symptome, Fantasien, Träume, Widerstände oder Übertragungen des Klienten als Eingang in den Trance-Bearbeitungs-Prozess benutzt werden. Der Klient geht von einem beliebigen Thema aus, fokussiert seine Aufmerksamkeit auf sein gegenwärtiges Erleben und lässt sich dann von seinem Inneren führen, während der Therapeut ihn begleitet und auf vielfältige Weise unterstützt. Trance-Dialog kann verstanden werden als hypnosuggestiv begleitete und unterstützte freie Assoziation in Trance. Dynamische Induktion. Durch hypnosuggestivdialogische Begleitung entsteht im Klienten eine dynamische Selbsterkundungstrance. Der Klient versenkt sich in seinen aktuellen Erlebensfluss, und der Therapeut begleitet ihn. Beide wandern miteinander in der Traumwelt des Klienten (Eberwein 1990). Die Trance beginnt also nicht, wie in
der klassischen Hypnose mit Suggestionen von Entspannung. Wenn der Klient zum Therapeuten kommt, ist er meist bedrückt oder belastet, hat Angst, fühlt Spannung, Stress oder Schmerz. Psychisches Leid ist durch frühe Beziehungsstörungen und Traumata entstanden, also in Erregungszuständen. Um Kontakt mit den dynamischen Urkonstellationen aufzunehmen, um sie zu verarbeiten, wird zu Beginn der Trance der Erregungszustand des Klienten begleitet. Die Trance-BegleitungsTechnik geht also anfangs mit dem Stress und der Angespanntheit des Klienten und aktiviert dann unbewusste Suchprozesse (siehe Tabelle 11.1). Der Therapeut begleitet und führt den Klienten in einen autogenen Trance-Bewältigungs-Prozess hinein, als dessen natürlicher Abschluss sich Gefühle von Befreiung und Entspannung einstellen, die der Therapeut dann suggestiv verstärkt. Entspannung steht bei der Trance-Begleitungs-Arbeit also eher am Ende des Prozesses als am Anfang. Zustandsspezifisches Gedächtnis. Unser Gedächtnis funktioniert zustandsabhängig. Im entspannten Zustand ist es kaum möglich, emotionalen Kontakt mit der Zerrissenheit einer alten Beziehungsverstrickung aufzunehmen. Solange der Klient entspannt
Tabelle 11.1 Ausschnitt aus einem naturalistischen Trance-Dialog zu Beginn einer Sitzung (vereinfacht): Klient
Therapeut
Kommentar
„Ich habe Magenschmerzen.“
„Du hast Magenschmerzen.“
Papageien-Pacing
„Was soll ich jetzt tun?“
„Genau, was sollst du jetzt tun, das ist die Frage.“
Papageien-Pacing
„Gestern habe ich mich über meinen Sohn geärgert.“ „Er macht einfach, was er will.“
„Aha, du hast dich gestern über deinen Sohn geärgert.“ „Er macht einfach, was er will. … und ich weiß nicht, wann … dieser kleine Junge auftaucht, … der du warst, in diesem Alter, … und wie er sich fühlt jetzt …“
Papageien-Pacing
„Früher war ich auch so.“
„Aha, das ist interessant, … früher warst du auch so.“
Verstärkung und Papageien-Pacing
„Ich werde ganz traurig, wenn ich daran denke.“
„Sehr gut, du wirst ganz traurig, … wenn du daran denkst. Vielleicht kannst du die Traurigkeit noch etwas stärker werden lassen.“
Verstärkung der emotionalen Reaktion
„Es ist, als ob Tränen kommen wollten.“
„ … als ob Tränen kommen wollten.“
Papageien-Pacing
„Ich kann nicht weinen.“
„Ja, du kannst nicht weinen.“
Papageien-Pacing
„Ich wollte, ich könnte es.“
„Du wolltest, du könntest es.“
Papageien-Pacing
Papageien-Pacing ⇒ indirekte Suggestion zur Identifikation mit dem Sohn und zur Altersregression
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Verfahren und Techniken
ist und sich wohl und behaglich fühlt, bleiben die wirren, hoch aufgeladenen und ambivalenten Gefühle, die hinter seinem psychischen Leid stehen, abgespalten, aber von seinem Unbewussten aus aktiv. Ein erhöhtes Erregungsniveau in der therapeutischen Trance hingegen kann, so Rossi, den Klienten zu seiner Primärdynamik hin und in Trance durch eine Heilungskrise hindurch führen. Erregung erleichtert den Einstieg in die innere Dynamik. Entspannung führt davon weg. Entspannung ist in der Trance-Dialog-Arbeit ein Zeichen dafür, dass ein Durcharbeitungszyklus abgeschlossen ist. Entspannung zu Beginn der Sitzung hält die Abwehrdynamik von der Bearbeitung fern. Entspannt fühlt der Klient sich wohl, aber er arbeitet seine Abwehrdynamik nicht durch. Entspannung entsteht von selbst, wenn Konfliktenergie befreit und integriert ist. Die Aufgabe des Therapeuten ist es, den Klienten in einen Bewusstseinszustand zu begleiten, in dem das Durcharbeiten seiner inneren Konflikte möglich wird, damit die Ressourcen und Abspaltungen in seinem Unbewussten zur Bearbeitung und Transformation des Problems genutzt werden können (siehe Abb. 11.9). Der Trance-Bearbeitungsprozess kann dabei direkt oder symbolisch-traumhaft im Bewusstsein erlebt werden oder weitgehend unbewusst (dissoziativ) ablaufen. Den naturalistischen, autogenen Trance-HeilungsZyklus bezeichnet Rossi als Hypnokatharsis. Fokussierung von emotionalen Reaktionen. Um den Klienten durch einen Trance-Bearbeitungs-Pro-
zess hindurchzubegleiten, kann sich der Therapeut von den Gefühlen des Klienten leiten lassen. • Wenn der Klient, unterstützt und gehalten vom Therapeuten, in abgewehrte Gefühle hineingeht, führt ihn das zu seiner Primärdynamik hin. • Wenn er in kraftvolle Gefühle hineingeht, bringt ihn das mit seinen Ressourcen in Kontakt. Manchmal drückt der Klient in Trance Gefühle aus (Lachen, Weinen, Fäuste-Ballen, Sich-Ausdehnen, Zittern o. ä.). Die Gefühle des Klienten in Trance können nach außen hin deutlich sichtbar werden oder sich nur subtil andeuten, zum Beispiel durch ein leichtes Erröten in der Nasengegend oder eine geringfügige Beschleunigung des Atems. Selbstheilungskrise. Die hypnokathartische Technik formt, so Rossi, einen natürlichen Prozess nach, mit dem wir auch im Alltag Probleme bewältigen. Allerdings bleibt dieser Prozess oft unvollständig, weil wir im Wachzustand abgewehrte Gefühle und Zustände sowie abgespaltene Ressourcen nicht integrieren können. Hier hilft der Trance-Zustand sowie die suggestiven Einladungen des Therapeuten zur Aktivierung des emotionalen Erlebens und von latenten Ressourcen. Ggf. kann der Therapeut den Klienten auch zur Einnahme einer schützenden, dissoziativen Position (sicherer Ort) einladen. Der Therapeut fördert und nutzt (utilisiert) das, was von sich aus geschehen möchte. Oft stockt der therapeutische Prozess, wenn der Therapeut zu sehr seiner eigenen Idee folgt, wie der Prozess des Klienten weitergehen müsste und
Abb. 11.9 Fokussierung von emotionalen Reaktionen.
11 Trance und Suggestion 159
dabei den Kontakt zur autogenen Bewältigungsdynamik des Klienten verliert. Diese Stockung kann manchmal schnell aufgelöst werden, wenn der Therapeut aus seinem Kontrollbedürfnis herausfindet und konsequent die autogene Trance-Bearbeitungs-Dynamik des Klienten unterstützt (siehe Abb. 11.10). Autogene Bearbeitung. Es wäre therapeutisch nicht ausreichend, den Assoziationen des Klienten einfach nur in Trance zu folgen, egal wo sie hinführen. Wenn der Therapeut das täte, würde er bald gemeinsam mit dem Klienten in dessen Leid erzeugenden Assoziationskreisläufen und Abwehrprozessen festsitzen. Der Sinn der dialogischen Trance-Begleitungs-Arbeit ist es nicht, den Klienten bloß in unbewältigte Gefühle hineinzuführen, in der Hoffnung, dass diese sich schon von selbst auflösen werden. Das könnte zu Überflutungszuständen und in der Folge zu erneuten Abspaltungen führen. Vielmehr begleitet und fördert der Therapeut aktiv einen Prozess im Klienten, in dessen Verlauf aus dem Unbewussten des Klienten heraus Bewältigungsimpulse generiert werden. In einem autogenen TranceBearbeitungs-Prozess entwickeln sich aus dem Unbewussten des Klienten heraus autogen An-
sätze von latenten Fähigkeiten (Ressourcen), also von therapeutisch wirksamen Metaphern, schützenden Dissoziationen, kraftspendenden Erinnerungen und kreativen Lösungen. Diese autogenen Bewältigungsversuche werden vom Therapeuten auf hypnosuggestivem Wege angeregt, verstärkt und in ihrer Weiterentwicklung gefördert (siehe Abb. 11.11).
Ein 55-jähriger Klient leidet unter dem Gefühl, „nirgendwo zugehörig“ zu sein und der Angst, „von den Menschen, die mir am nächsten stehen, fallen gelassen und verraten zu werden“. In einem dialogischen Tranceprozess erlebt er eine Altersregression in eine Situation hinein, in der er sich als Kind von seinen besten Freunden auf verletzende Weise vorgeführt und verraten fühlte. Er sagt: „Ich möchte mich am liebsten in meine Kuschelhöhle zurückziehen.“ Die Kuschelhöhle ist sein schützender, sicherer Ort, „an dem ich alles habe, was ich brauche“. Ich helfe dem Klienten, sich in eine imaginierte „Kuschelhöhle“ hineinzuorientieren. In der Kuschelhöhle wagt es der Klient, mit Unterstützung seines „erwachsenen Teils“ Gefühle von Demütigung, Schmerz und Wut zuzulassen, auszudrücken und zu „verdauen“. Er erfährt
Abb. 11.10 Der natürliche Krisenzyklus und die Aktivität des Therapeuten.
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Verfahren und Techniken
Abb. 11.11 Unterstützung eines autogenen Bearbeitungsprozesses in Trance.
u. a. durch Trance-Identifizierung mit den Kindern, von denen er sich gedemütigt fühlte, dass diese ihre eigene Unsicherheit kompensierten, indem sie ihn als Prügelknaben benutzen. Die Trance-Szenerie (Kuschelhöhle) sowie viele weitere Ideen und Impulse zur Verarbeitung seiner Demütigungsängste entstammen seinem eigenen Unbewussten und werden von mir in Trance im Dialog aufgegriffen, weiterentwickelt und ausgearbeitet.
Vertrauen auf die Selbstheilungskräfte. Das kreative Unbewusste des Klienten sucht in Trance seine eigenen Wege, die der Therapeut und das Bewusstsein des Klienten weder kontrollieren können noch vollständig verstehen müssen. Ein Teil des TranceTherapieprozesses läuft verdeckt ab. Der Therapeut hilft dem Klienten nicht schnellstmöglich aus seiner Falle heraus. Vielmehr führt er ihn zunächst tiefer in sein Erleben hinein und regt dann das Unbewusste des Klienten an, das Problem durchzuarbeiten. Der Therapeut vertraut darauf, dass es eine tiefere Weisheit im Klienten gibt, die den Klienten führen kann und in der Lage ist, den inneren Konflikt dauerhaft zu bewältigen, z. B. Therapeut: „… wenn du tiefer eintauchst in dein Inneres, kann dein Unbewusstes dir Hinweise geben, was dein Weg ist …“ Nicht-direktive Hypnose. Suggestionen dienen in der Trance-Dialog-Arbeit dazu, die natürlichen Bewältigungsfähigkeiten des Unbewussten des
Klienten anzuregen und zu fördern. Der Therapeut lenkt nicht und drängt nicht, er flößt nicht ein, er holt den Klienten dort ab, wo der Klient ist und folgt und fördert dessen autogene Bewältigungsaktivitäten in Trance. Wenn der Therapeut zunächst sogar Vermeidungs-, Ablenkungs- und Abwehrprozessen, plötzlichen Wendungen, Themen-, Richtungs- und Ebenenwechseln sowie Stockungen und Sackgassen des Klienten folgt, kann auf naturalistische Weise ein autogener Selbsterkundungs- und Problembewältigungsprozess in Trance entstehen. Der Klient nutzt, unterstützt vom Therapeuten, die Möglichkeiten des Trance-Zustandes und die latenten Möglichkeiten seines Unbewussten, um zu wachsen. Die Funktion von Direktiven. Das begleitende Mitgehen des Therapeuten muss in der TranceDialog-Arbeit gelegentlich durch direktive Aktivitäten ergänzt werden. Wie eine Hebamme vertraut der Therapeut darauf, dass sich der Prozess im Wesentlichen aus sich selbst heraus vollzieht, obwohl er an bestimmten Stellen entschieden eingreifen muss. Aber auch das Eingreifen ist nichts anderes, als ein Unterstützen eines natürlichen Bewältigungsprozesses (Eberwein 1990, 1993). Wenn beispielsweise ein Klient gewohnheitsmäßig aus Angst vor Gefühlen „im Kopf bleibt“ und wirkungslos über sich selbst wie über einen Fremden räsoniert (Intellektualisieren), dann kann der Therapeut den Klienten durch Konfusion, Imitation oder Provokation so weit aus seinem Abwehrkonzept bringen, dass er Kontakt mit sei-
11 Trance und Suggestion 161
Abb. 11.12 Der Sog zur Primärdynamik hin.
nem Inneren aufnehmen kann (vgl. Kapitel „Auseinandersetzung und Konfrontation“). Wenn der Klient dann mit sich selbst in erlebtem Kontakt ist und sich in einem autogenen Trance-Bewältigungsprozess bewegt, kann der Therapeut ihm wieder nichtdirektiv folgen. Charakterdynamik. Wenn der Klient tiefer in sein Erleben hineingeht, und er ein ungelöstes Problem in sich trägt, dann wird er früher oder später von seiner inneren Spannung (der Abwehrdynamik) zum Kern seiner Probleme hingeführt. Die Ladung des inneren Konfliktes saugt den Klienten gleichsam zu seiner Primärdynamik hin (siehe Abb. 11.12). Wenn sich der Klient in sein Inneres versenkt und seinem Assoziationsfluss folgt, gelangt er zu emotionalen Blockierungen, also zu Abwehrprozessen. Er nähert sich damit bereits seiner Primärdynamik, die die Basis vieler seiner Probleme ist (seiner Charakterdynamik). Je tiefer er geht, umso intensiver erlebt er auch solche Gefühle, die schwer erträglich sind: Angst, Schmerz, Scham, Ekel, Verwirrung, Demütigung, Hilflosigkeit, Hass (Abwehraffekte). Diese Gefühle will er wegschieben, und dabei aktiviert er Abwehrmuster wie Verdrängung, Spaltung, Projektion, Dissoziation, Somatisierung, projektive Identifizierung, Agieren, Abhängigkeit usw. Hier können dann auch in Trance vielfältige Techniken der psychodynamischen Integration und der Ressourcenaktivierung angewandt werden, um den Klienten bei der Durcharbeitung seiner primären Abwehr zu unterstützen.
Autogene Kontrolle. In einem naturalistischen Trance-Prozess kann sich der Klient jederzeit vor emotionaler Überflutung schützen, denn er behält die Kontrolle über seinen Prozess. Wenn es ihm zu viel wird, kann er zu weniger bedrohlichen Themen oder Empfindungen übergehen, verharren, den Kontakt zu sich selbst oder zum Therapeuten unterbrechen, sich auf dissoziative oder symbolische Ebenen begeben, einschlafen oder aus der Trance herauskommen. Der Therapeut kann ihm auch in seinen Ausweichbewegungen folgen, in dem Vertrauen, dass der Klient früher oder später zu seinem Bearbeitungsprozess zurückkommt, denn die blockierten Energien der Primärdynamik ziehen ihn dort hin. Indem der Therapeut den Assoziationen des Klienten in Trance folgt, respektiert er die Selbstschutzprozesse des Klienten. Er lädt den Klienten auf sanfte, behutsame Weise ein, seine Abwehr durchzuarbeiten und seine Ressourcen zu nutzen, aber er zwingt ihn nicht dazu. Er schlägt eine Richtung vor, aber er drängt nicht. Trance-Erleben. Der Trance-Bearbeitungs-Prozess wird meist auf einer halbbewussten Ebene, traumhaft, symbolisch oder körperenergetisch erlebt.
Eine 36-jährige Klientin hat ein so fragiles Selbstwertgefühl, dass selbst die kleinste Enttäuschung oder Kritik, z. B. ein freundliches Frotzeln eines Kollegen, sie derart destabilisieren kann, dass ihr Selbstgefühl kollabiert und sie Suizidfantasien entwickelt:
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Verfahren und Techniken
„Am besten nehme ich mir einen Strick, dann ist alles vorbei.“ Ihre Suizidfantasien beinhalten nicht nur Verzweiflung, sondern auch indirekte Aggression: „Wenn ich tot bin, werdet ihr schon sehen, wie schlecht es euch dann geht.“ In einer Sitzung berichtet die Klientin, seit ein paar Tagen gehe es ihr sehr gut. Sie könne es sich nicht erklären, aber sie fühle sich „so stabil wie selten zuvor in ihrem Leben“. Ich führe sie in eine Trance und bitte ihr Unbewusstes um ein Symbol dafür, was sich in ihrem Inneren bewegt hat. In Trance sieht sie sich selbst in ihrem fragilen Zustand symbolisch als ein Metallplättchen, das an einer Schnur aufgehängt ist, umgeben von rauen Wänden, gegen die es durch heftige Windböen geschmettert wird. Ich bitte ihr Unbewusstes um ein Symbol für den Prozess, der dazu geführt hat, dass es ihr nun gut geht. Sie sieht symbolisch, wie das Plättchen durch das Schlagen gegen die Wände von den Wänden Substanz aufnimmt. „Das heißt, ich habe aus dem Schmerz gelernt“, sagt sie. Das Plättchen wird abgerundet, und der Faden, mit dem es aufgehängt war, wird allmählich durchgescheuert. Das Plättchen wird zu einer Art Kugel, nicht ganz rund, aber weich, die zu Boden fällt und dort ent-
langrollt. Der Boden wird zu einer Wiese: „Da sind immer noch Wände, aber nun rollt der Ball auf der Wiese um die Wände herum. Ich habe Boden gefunden, und da sind noch andere Bälle, mit denen ich mich zusammen bewegen kann.“ Diese TranceImagination ist ein Symbol für eine aktuelle Stabilisierung ihres Selbstgefühls. Sie hat sich aus einer Hilflosigkeits- und Abhängigkeitsbindung (dem Faden) vorübergehend gelöst, mehr zu sich gefunden (die Abrundung des Balls) und ist mehr „auf den Boden“ gekommen. Sie „hängt nicht mehr in der Luft“. Sie erlebt in Trance bildhaft einen inneren Prozess der Stabilisierung nach, der vermutlich noch nicht dauerhaft ist, aber in eine gute Richtung weist.
Dissoziative Bearbeitung. Der Trance-BegleitungsProzess kann auch weitgehend oder ganz auf der unbewussten Ebene ablaufen, ohne dass der Klient und der Therapeut sich den Verlagerungen im Unbewussten des Klienten im Bewusstsein gewahr sind. Manchmal kann der Prozess sogar entgegen den verbalen Äußerungen des Klienten ablaufen, aber z. B. an ideomotorischen Fingersignalen verfolgt werden, z. B.
Abb. 11.13 Dialogische Trance-Begleitungs-Arbeit (DTBA).
11 Trance und Suggestion 163
Therapeut: „Hat dein Unbewusstes die Lösung für das Problem gefunden?“ Klient verbal: „Ich glaube nicht.“ (Gleichzeitig kommt das Fingersignal für ‚ja‘.) In diesem Fall ist im Inneren des Klienten ein dissoziativer Bearbeitungsprozess abgelaufen, der zu einer produktiven Entwicklung geführt hat, ohne dass der Klient das in seinem Bewusstsein bemerkt hat. Integration. Wenn Abgespaltenes integriert wird, werden auf der kognitiven Ebene Erkenntnisse
11.9
und Einsichten, Verständnis, Zusammenhänge oder Lösungsmöglichkeiten deutlich. Auf der vegetativen Ebene wird latente Energie verfügbar und Entspannung wird spürbar. Oft verändert sich der mimische und körperliche Ausdruck des Klienten, wenn er sich die vitalen Energien aneignet, die vorher abgewehrt und in dem alten Muster gebunden waren, wenn er vorher Abgewehrtes integriert und „in seinen Ressourcen badet“ (Abb. 11.13 zeigt einen Überblick über Ablauf und Techniken der Dialogischen Trance-Begleitungs-Arbeit).
Weitere Trance-Techniken
Selbsthypnose. Selbsthypnoseübungen können z. B. dazu dienen, dem Klienten zu helfen, zwischen den Therapiesitzungen zur Ruhe zu kommen, sich zu entspannen und in seine Tiefe hineinzuspüren. Der Klient kann selbsthypnotisch mit verbalen oder bildhaften Autosuggestionen (Affirmationen) arbeiten, um therapeutische Prozesse in seinem Unbewussten anzuregen und zu verstärken.
Eine 25-jährige Klientin versucht das Abitur nachzuholen. Sie leidet unter sozialen Ängsten, die es ihr schwermachen, sich am Unterricht zu beteiligen oder mündliche Prüfungen zu bestehen. „Ich habe panische Angst zu versagen und mich lächerlich zu machen. Immer wenn ich etwas sagen muss, bin ich so verkrampft, dass ich fast kein Wort herausbringe.“ In einer ressourcenaktivierenden Trance findet die Klientin als „Kraftsatz“ für sich selbst: „Ich ruhe in mir.“ Ich schreibe den Satz für die Klientien auf eine kleine Karteikarte und bitte sie, diese in den nächsten Wochen immer bei sich zu tragen, zum Beispiel in ihrer Geldbörse oder in ihrem Terminkalender. Mehrmals am Tag solle sie die Karte einige Minuten lang anschauen, den Satz in ihrem Inneren bewegen und körperlich fühlen. Die Klientin benutzt also ihre selbst gefundenen Formulierungen als Affirmationen zur Autosuggestion im Wachzustand.
Der Therapeut kann eine hypnotherapeutische Sitzung auf einen Tonträger aufnehmen und diesen dem Klienten zum Hören mitgeben. Eine einfache Form der imaginativen Autosuggestion wurde von Carl Simonton (1996, 2002) zur Arbeit mit Krebskranken entwickelt. Der Klient wird angeleitet, sich den angestrebten Zustand oder einen ersten, rea-
listischen Schritt in Richtung auf diesen Zustand hin mehrmals täglich für einige Minuten intensiv vorzustellen. Auch viele Übungsformen aus östlichen Meditationstraditionen ähneln Selbsthypnosetechniken und können zur Tiefentspannung, Versenkung und Autosuggestion genutzt werden. Hypnodrama. Als Hypnodrama wird eine Technik bezeichnet, in der der Klient hypnosuggestiv angeleitet wird, sich in Trance mit einer anderen Person oder einem Teil seiner selbst zu identifizieren. In Trance wird die Identität gleichsam flüssig und die Identitätswahrnehmung ist flexibler als im Wachzustand. Der Klient kann sich daher in Trance auf lebhafte Weise in Anteile seiner selbst oder in Aspekte anderer Personen oder Objekte hineinversetzen und sich mit ihnen identifizieren, um fixierte Selbstbilder zu lockern, um Abgewehrtes zu integrieren oder um ressourcenvolle Identitätsaspekte zu aktivieren. Hypnotische Altersregression. Das hypnosuggestive Zurückführen des Klienten in frühere Lebensalter (Altersregression) in Trance kann zu intensiven und lebendigen Erfahrungen kindlicher und frühkindlicher Erlebnisweisen führen und abgewehrte Erinnerungen und Gefühle zugänglich machen (Hypermnesie). Die hypnotische Altersregression kann psychodynamisch zur Bearbeitung biografischer Beziehungsdynamiken genutzt werden oder ressourcenorientiert, um Zugang zu latenten, in der Biografie ehemals vorhanden gewesenen Fähigkeiten zu finden. Der Schritt vom Erinnern zum Erleben kann auf sehr einfache und nichtintrusive Weise gefördert werden, indem der Therapeut grammatikalisch vom Imperfekt zum Präsens wechselt, also implizit so spricht, als ob der Klient
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Verfahren und Techniken
hier und jetzt in der erinnerten Situation sei, z. B.: Klient: „Wenn wir beim Mittagessen am Esstisch saßen – das war immer sehr bedrückend.“ (Imperfekt) Therapeut: „Wenn ihr also gemeinsam am Esstisch sitzt, wie fühlt sich das an?“ (Präsens) Klient: „Es ist bedrückend. Ich möchte am liebsten sagen: ‚Warum sagt hier keiner, wie es ihm wirklich geht?‘“ (übernimmt das Präsens). Altersregression kann auch zur Vermittlung korrektiver Erfahrungen in Trance angewandt werden, um eine biografische Beziehungsverstrickung so um- oder auszuarbeiten, dass es im Inneren des Klienten zu Neu-Identifizierungen oder Umlagerungen seiner Beziehungsmuster kommt.
Im Laufe eines Therapiegruppenwochenendes leite ich die Teilnehmer durch eine Übungsstruktur, in der sie zuerst durch körperorientierte Trance-Identifikation eine Situation in ihrer Kindheit wiedererleben, in der sie ihre Eltern als begrenzt bzw. Leid verursachend erlebt hatten (begrenzte Eltern). In einem nächsten Schritt imaginieren die Teilnehmer eine Situation, in der die Eltern so sind und sich so verhalten, wie die Teilnehmer das als Kind gebraucht hätten (ideale Eltern). Das eröffnet in den Teilnehmern einen Zugang zu ressourcenvollen Erlebnisqualitäten. Die meisten Teilnehmer fühlen sich danach vital und in sich ruhend. Die Erinnerungsspur der realen, begrenzten Eltern ist kognitiv noch vorhanden, aber ihre emotionale Relevanz ist vermindert. Die korrektive Erfahrung in altersregressiver Trance führte zu ressourcenaktivierenden Neu-Identifikationen.
Die Affektbrücke. Die Affektbrücke ist eine Technik, in der ein aktuelles Gefühl des Klienten als Anker genutzt wird, um Zugang zu Dynamiken der biografischen Vergangenheit zu finden.
Eine 39-jährige Klientin fühlt sich oft „einsam und verloren in der Welt“. Sie sehnt sich nach intensivem Gehaltenwerden und körperlicher Geborgenheit, kann diese aber in ihrem Leben nicht finden. Ich führe sie in einen Trancezustand und bitte sie, mit dem Gefühl der Einsamkeit und dem Bedürfnis nach Geborgenheit Schritt für Schritt in ihrer Lebenszeit rückwärts zu gehen und sich in jeder Lebensphase gewahr zu sein, wie und mit welcher Person sie die-
ses Gefühl/Bedürfnis erlebt oder erleben möchte. Die Klientin orientiert sich immer weiter zurück bis in ein Alter von etwa 3–4 Jahren. Dort erlebt sie, wie sie im Sommer auf einer Wiese auf dem Bauch ihrer Mutter liegt. „Ich finde das total schön und will am liebsten immer da bleiben.“ Im weiteren Verlauf nutzen wir dieses Bild als Einstieg in die psychodynamische Untersuchung der Beziehung der Klientin zu ihrer Mutter und als imaginative Ressource für die Klientin, um Kontakt zu einem inneren Gefühl von Gehaltenwerden und Geborgensein zu finden.
Zeitlinienarbeit. Zeitlinienarbeit ist eine Technik mit Elementen aus Hypnotherapie und Psychodrama, die v. a. von Bandler und Grinder (1981), den Begründern des NLP, ausgearbeitet wurde. Der Klient baut in seiner Vorstellung oder symbolisch im Raum (z. B. mit einem Seil) eine Repräsentation seiner Lebenszeit (Zeitlinie, Timeline) auf. Dann geht er je nach Richtung der therapeutischen Arbeit in seiner Lebensgeschichte zurück oder nach vorn und erkundet die Vergangenheit bzw. die Zukunft des zu bearbeitenden Themas. Wenn er auf der Zeitlinie in seiner Biografie zurückgeht, sprechen wir von hypnotischer Altersregression. Wenn er sich in eine imaginierte Zukunft hinein versetzt, sprechen wir von Zeitprogression (siehe Abb. 11.14).
In einem Therapiegruppenwochenende lade ich die Teilnehmer zu folgender Übung ein: In Kleingruppen baut der Protagonist mit Hilfe eines etwa drei Meter langen Seils seine Lebenslinie auf, von der Geburt bis zum Tod. Er stellt sich an den „Geburtspunkt“. Links und rechts von ihm stehen zwei andere Gruppenteilnehmer, die die Mutter und den Vater des Protagonisten repräsentieren. Der Protagonist geht sehr langsam, Schritt für Schritt, seine Lebenslinie entlang. Bei jedem Schritt sagen seine „Mutter“ und sein „Vater“ im Chor: „Mit unserer bedingungslosen Liebe begleiten wir dich“, wobei sie ihn sanft an den Händen und den Ellenbogen halten. Diese Übung führt bei vielen Gruppenteilnehmern zu starken emotionalen Reaktionen. Einige sprechen hinterher davon, dass ein tiefer, alter Wunsch berührt und symbolisch erfüllt wurde, weil sie sich diese Art der Halt gebenden, fürsorglichen Begleitung von ihren Eltern immer gewünscht, aber oft nicht erhalten haben.
11 Trance und Suggestion 165
Abb. 11.14 Die Zeitlinie.
Zeitprogression. Zeitprogression bedeutet, dass der Klient sich in einer therapeutischen Trance zeitlich in seine imaginierte Zukunft hinein versetzt. Das kann zum Beispiel dazu dienen, mit ihm eine Zielvorstellung zu etablieren, die anschließend als Ressource genutzt werden kann.
• Eine
Variante dieser Technik ist für Klienten geeignet, die zwar eine Zielvorstellung haben, aber nicht wissen, wie sie dort hinkommen sollen. Der Therapeut kann auf hypnosuggestivem Wege den Weg dorthin zunächst überspringen und den Klienten auf der Zeitlinie direkt in den
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Verfahren und Techniken
Zielzustand hineinorientieren. Dann leitet er den Klienten an, sich umzudrehen und den Weg zu betrachten, auf dem er sein Ziel erreicht hat. Besonders wirkungsvoll ist diese Technik des • „Rückblicks aus der Zukunft“, wenn sich der Klient ans Ende seines Lebens, „auf sein Sterbebett“ versetzt, um aus dieser Perspektive „rückwirkend“ z. B. die Sinnhaftigkeit von Lebensentscheidungen zu reflektieren. • Eine weitere Möglichkeit der Arbeit mit Zeitprogression besteht darin, einem Klienten, der vor einer existenziellen Entscheidung steht, in Trance zu ermöglichen, die Folgen zuerst der einen möglichen Entscheidung, dann der anderen zu erleben, was ihm Entscheidungshilfen geben kann. All das kann in Tiefentspannung, aber auch in hypnodramatischer Form geschehen, wobei der Klient mit offenen Augen und beim Umhergehen im Raum in einen veränderten Bewusstseinszustand (Handlungstrance) geht.
Eine 45-jährige Klientin belastet die Frage, ob sie ihren sicheren, aber unbefriedigenden Arbeitsplatz aufgeben und sich mit einer beratenden Tätigkeit selbständig machen soll oder nicht. Ich bitte sie, sich an das eine Ende des Therapieraums zu stellen und sich vorzustellen, der Weg durch den Therapieraum sei ihr Lebensweg. Es gebe in der nahen Zukunft eine Weggabelung. Der eine Weg repräsentiere die Entscheidung, ihre berufliche Orientierung zu wechseln, der andere stehe für ein Weitermachen in ihrem bisherigen Beruf. Ich bitte die Klientin, langsam zuerst den einen, dann den anderen Weg zu gehen, ihr zukünftiges Leben nach der einen und nach der anderen Entscheidung zu imaginieren und ihre Fantasien und Empfindungen
Abb. 11.15 Möglichkeiten der Zeitlinienarbeit.
dabei zu beschreiben und körperlich auszudrücken. Die Klientin geht zuerst den Weg des Berufswechsels. Sie richtet sich auf, wirkt befreit und erleichtert, aber auch etwas ängstlich und wurzellos. Danach geht sie den Weg des alten Berufes. Hier wirkt sie gedrückt, zögernd, verlangsamt, etwas unwillig und verkniffen. Mit meiner Unterstützung gelingt es ihr, vermittelt über ihren Körperausdruck auf den beiden Wegen, ihre Gefühle für die anstehende Entscheidung zu klären. Es handelt sich um Zeitlinienarbeit in einem körperorientierten Rollenspiel in Trance.
Abb. 11.15 zeigt die Möglichkeiten der Arbeit mit der Zeitlinie. Ankertechniken. Unter einem Anker versteht man in der Hypnotherapie einen Reiz, der einen Zustand auslöst. Man spricht beispielsweise von stimmlichen Ankern, wenn der Therapeut seine Stimmlage moduliert, um verschiedene Anteile des Klienten anzusprechen. Von Körperausdrucksankern spricht man, wenn der Klient den körperlichen Ausdruck eines Gefühls oder einer Beziehungsdynamik benutzt, um innerlich in Kontakt mit der entsprechenden Dynamik zu kommen. Als Anker können Orte im Raum dienen (räumliche Anker oder Bodenanker). Zustände können durch Berührungen geankert werden (beispielsweise kann ein Entspannungs- und Versenkungszustand hypnosuggestiv mit einer Berührung des Therapeuten an der Schulter des Klienten verknüpft werden). Ebenso können Symbole, Gegenstände, Körperteile oder Worte als Anker dienen.
11 Trance und Suggestion 167
Im Laufe einer Gruppentrance zu Beginn einer Fortbildungsreihe suggeriere ich den Teilnehmern posthypnotisch: „Immer dann, wenn du hier in diesem Raum in einer entspannten Position liegst und ich zu dir sage: ‚Jetzt geh tief in Trance‘, dann kannst du tief in Trance gehen, dich entspannen und dich sehr wohlfühlen.“ Der Raum in Verbindung mit der entspannten Position und dem von mir gesprochenen Schlüsselsatz wird posthypnotisch als Anker für spätere Tranceinduktionen etabliert.
Dissoziationstechniken. In der Hypnotherapie werden therapeutische Dissoziationstechniken u. a. genutzt, um die Fähigkeit des Klienten zu fördern, sich vor emotionalen Überflutungen zu schützen, oder um auf vorsichtige Weise Zugang zu abgewehrten Anteilen zu gewinnen. Zu den Dissoziationstechniken zählen: • Die Arbeit mit Ego-States. Die Ego-State-Therapie wurde von John Watkins (2008) begründet. Er geht davon aus, dass dissoziierte und miteinander in Konflikt stehende Ich-Zustände (EgoStates) die Basis vieler Formen von psychischem Leid, insbesondere von dissoziativen Störungen sind. In der Ego-State-Therapie etabliert der Therapeut auf hypnosuggestivem Wege Kommunikationskanäle zu den verschiedenen IchZuständen und „moderiert“ zwischen ihnen, um bessere, harmonisierende Lösungen ihrer Konflikte zu finden und um die dissoziierten Anteile tendenziell miteinander zu integrieren. • Die Meta-Position. Die Meta-Position ist ein imaginativer Ort, an den sich der Klient in Trance begibt, um sich selbst, einen inneren Konflikt oder eine Beziehungsdynamik „von außen“ (dissoziiert) von einem neutralen Standpunkt aus zu betrachten und zu reflektieren, um einen Überblick zu gewinnen oder um Lösungen zu finden. In einer hypnotischen Altersregression erlebt ein 38-jähriger Klient eine Konfrontation mit seinem Vater als Kind, die er als bedrohlich empfindet. Hypnosuggestiv leite ich ihn an, „aus der Situation herauszuschlüpfen, als ob du auf der Gardinenstange sitzt und dich selbst und deinen Vater dort unten siehst und zuschauen und hören kannst, was sie tun“. Die dissoziative Sichtweise ermöglicht es dem Klienten, sich den alten Konflikt anzuschauen, ohne von ihm emotional überflutet zu werden.
• Der
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sichere Ort. Als „sicherer Ort“ wird eine hypnosuggestive Dissoziationstechnik bezeichnet, mit der ein überflutungsbedrohter Klient angeleitet wird, sich innerlich an einen Ort zu orientieren, an dem er sich sicher fühlt und der durch imaginative Schutz- und Sicherungsmaßnahmen (z. B. Wände, Zäune) geschützt wird. Der gute Ort. Der „gute Ort“ ist eine Technik vor allem für bindungsdeprivierte Klienten. Hier wird der Klient in Trance an einen Ort geführt, in dem seine alten oder aktuellen Bedürfnisse imaginativ befriedigt werden (z. B. durch gute/ ideale Eltern, Helferwesen, den Klienten als erwachsene Person, imaginiertes Gehaltenwerden, zuverlässige Bindungen o. ä.). Der innere Heiler. Der Therapeut kann mit dem Klienten in dessen Trancerealität einen „inneren Heiler“ bzw. eine „innere Heilerin“ als symbolische Repräsentation für die Weisheit des Unbewussten des Klienten etablieren, den/die der Klient in Trance um Rat fragen oder um Hilfe bitten kann. Screen-Techniken. Screen-Techniken dienen dazu, sich in Trance eine bedrohliche oder ressourcevolle Szenerie zunächst aus einem imaginierten Abstand anzuschauen, um sie der Bearbeitung zugänglich zu machen und den Klienten dabei vor Überflutungen zu schützen. Der Klient stellt sich eine bedrohliche Situation z. B. auf einer Kinoleinwand oder auf einem Videorekorder vor, wobei er die Szene mit einer Fernbedienung anhalten, an- und ausschalten, vor- oder zurückspulen kann. Der Tresor. In der Tresor-Technik wird der Klient angeleitet, symbolisch die Gefühle oder Impulse, die er als bedrohlich und nicht zu bewältigen empfindet, vorübergehend in einem imaginierten Tresor unterzubringen und die Tresortür zu schließen. Diese Vorstellung impliziert die Möglichkeit, den Inhalt des Tresors imaginativ wieder herausnehmen zu können, wenn es angemessen ist, und wenn der Klient sich sicher fühlt. Mr. Spock. Mr. Spock ist eine Figur aus „Star Trek“, einer Science-Fiction-Serie. Er ist ein Außerirdischer, der (fast) keine Gefühle hat. In überflutungsbedrohten oder bedrohlichen Konfliktsituationen ist es für manche Klienten, denen die Figur vertraut ist, hilfreich, sich in Trance imaginativ mit Mr. Spock zu identifizieren, um überbordenden Gefühle zu dämpfen und Zugang zu rationaleren Möglichkeiten der Konfliktbewältigung zu finden.
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Verfahren und Techniken
• Das innere Kind. Das innere Kind ist ein Konzept,
das besonders von Chopich u. Paul (1996) entwickelt und ausgearbeitet wurde. Kern ist die Idee, regressive Anteile als „inneres Kind“ personalisiert zu imaginieren, mit dem inneren Kind in Dialog zu treten, das innere Kind zu beschützen, ihm Halt, Zuwendung und Struktur zu geben.
Hypnoanalyse. Hypnosuggestive Techniken können mit psychodynamischen Ansätzen verknüpft werden. Dieser Ansatz wird als Hypnoanalyse bezeichnet. Die besonderen Möglichkeiten des Trancezustandes, insbesondere der verstärkte Kontakt zu unbewussten Prozessen, die Fähigkeit zur Hypermnesie und die Möglichkeit der Trance-Dissoziation und -Identifikation, können genutzt werden, um psychodynamische Integrationsprozesse zu vertiefen und zu beschleunigen.
Eine 23-jährige Klientin beschreibt sich als „liebessüchtig“. In ihren häufig wechselnden Beziehungen wird sie schnell emotional abhängig von ihrem jeweiligen Partner, zu dem sie sich dann sehr häufig
bei kleinen belastenden Alltagsereignissen hinflüchtet, damit er sie durch Zuwendung tröstet und stabilisiert. Bald wird das dem jeweiligen Partner zu viel, und er löst die Beziehung auf. Die Klientin kann dieses wiederkehrende Muster erkennen, aber nicht verstehen, und sie kommt nicht davon los. Ich führe sie in einer altersregressiven Trance Schritt für Schritt rückwärts in ihre frühe Kindheit hinein. Ihre Primärfamilie war von diversen Abhängigkeits- und Suchtstrukturen geprägt. Sie erlebt in der altersregressiven Trance mit großer Lebhaftigkeit bestimmte biografische Schlüsselsituationen, die für sie verstehbar machen, warum sie als Erwachsene unter einem Mangel an Stabilität ihrer Selbststruktur leidet, und warum diese immer wieder durch einen Partner stabilisiert bzw. „repariert“ werden muss. Die emotionale Integration dieser alten Beziehungsdynamiken erleichtert es der Klientin in einem längeren Therapieprozess (in dem wir immer wieder mit psychodynamischen Trance-Techniken arbeiten), sich allmählich von ihrem defizitären Selbstbild zu lösen und sich mehr als selbständige, erwachsene Frau zu fühlen.
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12
Rollenspiele und Identifikationstechniken
Abb. 12.1 Jakob Levy Moreno (mit freundlicher Genehmigung von Moreno-Institut, Überlingen).
12.1
Jakob Levy Moreno (1889–1974) war Arzt, Psychiater und Begründer der Gruppenpsychotherapie, der Soziometrie und des Psychodramas. Er war beeinflusst von religiösen und marxistischen Ideen, vom Chassidismus, vom Expressionismus und vom antiken Theater. Moreno studierte bis 1918 in Wien Medizin, arbeitete als Arzt und gab expressionistische Literatur heraus. 1925 übersiedelte er in die USA und gründete 1929 in New York ein Improvisationstheater. Er führte soziometrische Untersuchungen u. a. in Gefängnissen und Erziehungsheimen durch und gab die Zeitschriften Sociometry und Group Psychotherapy and Psychodrama heraus. Er entwickelte das Psychodrama als experimentelle Form der Gruppenpsychotherapie und wandte es ab 1936 in einer von ihm geleiteten psychiatrischen Privatklinik an. Er lehrte seine Methode an der New York University und machte sie nach dem 2. Weltkrieg in Europa und Südamerika bekannt. 1942 gründete er die American Society of Group Psychotherapy and Psychodrama, 1973 zusammen mit Kollegen die International Association of Group Psychotherapy.
Psychotherapeutisches Stegreiftheater
Identifizierung. Das Psychodrama ist ein Verfahren, in dem es darum geht, durch Rollenspieltechniken innere Dynamiken im Außen darzustellen, um sie im Dienste der psychotherapeutischen Bearbeitung sichtbar und veränderbar zu machen. Das Ziel der psychodramatischen Identifikationsübungen ist es, auf der Erlebnisebene einen vertieften Kontakt mit Aspekten der eigenen Person zu finden und zu lernen, sich in andere Personen hineinzuversetzen. In der psychodramatischen Identifizierung kann der Klient bzw. die Gruppe gemeinsam alte Beziehungsknoten aufarbeiten oder neue Verhaltensmöglichkeiten experimentell erproben und ihre Auswirkungen erfahren.
„Ziel des Psychodramas ist die Aktivierung und Integration von Spontaneität und Kreativität. Konstruktives spontanes Handeln ist zustande gekommen, wenn der Protagonist für eine neue oder bereits bekannte Situation eine neue und angemessene Reaktion findet“ (Moreno 1959, S. 34). Quellen. In die Techniken des psychodramatischen Verfahrens gingen Einflüsse von verschiedenen Theaterregisseuren und Schauspiellehrern ein. • Moreno war von Max Reinhardt (1873–1943) beeinflusst. Reinhardt war der bedeutendste Theaterregisseur, Intendant und Theatergründer seiner Zeit. Von 1905–1930 leitete er das Deut-
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Verfahren und Techniken
sche Theater in Berlin, 1915–1918 zusätzlich die Berliner Volksbühne. Er inszenierte bedeutende Stücke am Großen Schauspielhaus in Berlin, gründete die Komödie am Kurfürstendamm, die Schauspielschule Berlin und die Salzburger Festspiele. Ab 1932 verlagerte er seine Arbeit zunächst nach Österreich, später in die USA, wo er bedeutende Filme drehte. In das psychodramatische Verfahren gingen außerdem Einflüsse aus dem StanislawskiSystem der Schauspielausbildung ein. Konstantin Sergejewitsch Stanislawski (1863–1938) war ein russischer Schauspieler, Regisseur und Theaterreformer. Er vertrat die Position, dass ein Schauspieler sich aufgrund eigener Erfahrungen und Gefühle mit seiner Rolle identifizieren solle. Die physischen Handlungen des Schauspielers sollten mit seinem inneren Erleben koordiniert sein. Der Schauspieler solle parallele Ereignisse seines Lebens erinnern oder erfinden, um die Rolle glaubwürdig verkörpern zu können. Israel Lee Strasberg (1901–1982) war ein von Stanislawski beeinflusster Schauspieler und Schauspiellehrer. 1931 gründete er das Group Theatre in New York, mit dem er 1933 den Pulitzerpreis erhielt. Er produzierte Antikriegsstücke und übernahm 1948 die künstlerische Leitung des New Yorker Actors Studios. Strasberg entwickelte das „Method Acting“, eine Methode, mit der durch emotionale Identifikation des Schauspielers mit der Rolle die Intensität der schauspielerischen Darstellung gesteigert wird. Moreno und Strasberg kannten einander und beeinflussten sich gegenseitig.
Psychotherapeutische Rollenspiele. Im Psychodrama werden im Konflikt stehende Anteile des eigenen Selbst in improvisierte Interaktion gebracht. Das geschieht durch Stellvertreter auf einer Stegreiftheater-Bühne. Während die Kunst eines Schauspielers darin besteht, vorgegebene Rollen publikumswirksam auszufüllen, geht es im Psychodrama um Aspekte des Lebens oder der Lebensgeschichte des Klienten selbst. Der Klient improvisiert szenisch Aspekte seiner eigenen Identität. Als Bühne dient ein improvisierter Ort im Raum, der ggf. durch einfache Utensilien (z. B. Kissen, Decken, Matratzen, Stühle, Plüschtiere, Bilder, Ringe) ausgestaltet wird (siehe Abb. 12.2). Für die agierende Person im Psychodrama wird der Begriff Protagonist verwendet (von gr. protos: erster; agon: Spiel). Der Protagonist kann psycho-
dramatisch tatsächlich erlebte Ereignisse seiner Lebensgeschichte, zukünftige oder hypothetische Ereignisse, innere Dynamiken oder abstrakte Kategorien darstellen. Psychodrama wird meistens in Gruppen praktiziert, kann aber auch im Einzelsetting angewandt werden, wobei der Klient nacheinander verschiedene Rollen übernimmt. In diesem Fall spricht man von einem „Monodrama“.
Ein 42-jähriger Klient sagt: „Ich habe Angst vor meiner Wut.“ Ich schlage ihm vor, sich nacheinander in „seine Wut“ und in „seine Angst“ hineinzuversetzen. Die beiden Gefühle sind durch Stühle repräsentiert. Der Klient setzt sich abwechselnd auf die beiden Stühle und improvisiert verbal und mit Gesten einen Dialog zwischen seinem wütenden und seinem ängstlichen Anteil (Monodrama).
Eine 32-jährige Gruppenteilnehmerin mit multiplen Ängsten berichtet in einer Therapiegruppe über ihre Flugangst. Die Vorstellung, „in einem Kasten aus Metall tausende von Metern hoch in der Luft zu schweben“, ist ihr unerträglich. Gleichzeitig möchte sie unbedingt ihre Schwester besuchen, die auf einem anderen Kontinent lebt, und die gerade Mutter geworden ist. Ich schlage ihr vor, die FlugzeugSituation im Therapieraum aufzubauen und sich in den symbolischen „Flugzeugsessel“ zu setzen, um Kontakt mit ihrer Flugangst aufzunehmen. Anschließend bitte ich sie, Stellvertreter aus der Gruppe für das Flugzeug, ihre Angst, ihre Schwester und eine Person, die sich beim Fliegen sicher fühlt, zu bestimmen und im Raum zu positionieren. Ich bitte die Stellvertreter in ihren Rollen, verbal und körperlich auszudrücken, was sie fühlen und wahrnehmen. Auf diese Weise kann die Klientin im weiteren Verlauf psychodramatisch an ihrer Angst arbeiten.
Nicht nur im Psychodrama wird psychotherapeutisch mit Rollenspielen gearbeitet. Ähnliche Techniken werden zum Beispiel in der Gestalttherapie, der Körperpsychotherapie, der Familientherapie, der Verhaltenstherapie, im NLP und im Familienstellen angewandt. Erlebnisaktivierung. Psychodrama ist ein erlebnisaktivierendes Verfahren, das den Klienten vom intellektuellen „Darüberreden“ zum unmittelbaren
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Abb. 12.2 Psychotherapeutisches Rollenspiel.
Erleben führt. Während die Teilnehmer des Psychodramas sich in ihrer Rolle befinden, identifizieren sie sich mit der Rolle und drücken die Empfindungen und Gedanken der Rolle mit Worten und mit ihrem Körperausdruck aus. Das verbale und nonverbale Sich-Ausdrücken innerhalb der Rolle und die Interaktion mit den anderen am Psychodrama Beteiligten in ihren Rollen werden für die Teilnehmer zur Brücke zum Erleben dessen, was mit dem Psychodrama thematisiert werden soll.
Ein 37-jähriger Therapiegruppenteilnehmer ist seit einem Jahr verheiratet mit einer Frau, die einen 8-jäh-
rigen Sohn mit ihrem Ex-Mann hat. Der Gruppenteilnehmer sieht den Ex-Mann „als eine Heiligenfigur, die für meine Frau und meinen Stiefsohn ständig und überall präsent ist“. In einer psychodramatischen Inszenierung bestimmt er Stellvertreter für den ExMann, die Frau und den Stiefsohn. Im Lauf des Rollenspiels drückt der „Ex-Mann“ aus, dass die Situation für ihn auch schwierig sei, weil er emotional weiterhin an seiner Ex-Frau hänge, obwohl ihm verstandesmäßig klar sei, dass eine Beziehung zu ihr nicht mehr möglich sei. Der Protagonist sagt in der Nachbesprechung: „Das hat mich sehr nachdenklich gemacht. Vielleicht muss ich ihn gar nicht so sehr als Bedrohung sehen.“
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Verfahren und Techniken
Einstieg. Der Einstieg in ein Psychodrama kann in folgenden Schritten erfolgen: 1. Der Protagonist beschreibt mit Hilfe des Therapeuten, welches Problem/Thema er bearbeiten möchte, und welche Aspekte daran beteiligt sind. 2. Er benennt Rollenstellvertreter für die verschiedenen Personen und/oder Aspekte der zu bearbeitenden Dynamik. 3. Er weist den Rollen Orte im Raum zu und beschreibt die Rollen und die Szenerie. 4. Er begibt sich an den Ort, an dem die Rolle geankert ist, die er selbst zuerst übernehmen möchte, und nimmt eine Körperhaltung ein, die der Rolle entspricht. 5. Der Protagonist und ggf. die Stellvertreter beschreiben sich selbst als ihre Rolle, z. B.: „Mein Name ist …, ich bin … Jahre alt, von Beruf …, ich habe … Kinder, bin mit … verheiratet und lebe in …“ 6. Dann beschreibt der Protagonist in seiner Rolle die Problemdynamik aus der Perspektive der Rolle, z. B. ein Klient als seine Frau: „Mein Mann heißt XY (= der Klient), wir streiten uns oft, weil …“ 7. Dann spricht der Protagonist in seiner Rolle zu den anderen Stellvertretern in ihren Rollen und interagiert körperlich mit ihnen in seiner Rolle. 8. Die Stellvertreter beginnen, in ihren Rollen mit dem Protagonisten und den anderen Stellvertretern improvisiert zu interagieren. 9. Der Protagonist kann in andere beteiligte Rollen hineinschlüpfen und mit den anderen Rollen interagieren. Ankertechniken. Die psychodramatische Inszenierung kann durch räumliche oder körperliche Anker unterstützt werden. • Bei räumlichen Ankern handelt es sich um improvisierte Markierungen im Raum, z. B. Decken, Stühle, Kissen, Seile, Plüschtiere oder Ähnliches. Die räumlichen Anker stellen eine symbolische Landkarte dar, auf der die verschiedenen Rollen und Rollenbezüge verteilt sind. Der Wechsel von einem Bodenanker zum nächsten erleichtert es den Beteiligten, sich in die Rolle hineinzuversetzen und wieder aus ihr herauszukommen. • Die Identifikation mit einer Rolle wird erleichtert und intensiviert, wenn der Klient und die Stellvertreter typische Körperhaltungen einnehmen, die zu der darzustellenden Rolle gehören oder passen, sogenannte Körperhaltungsanker. • Auch szenische Arrangements können helfen.
Wenn z. B. ein Mensch in einer Machtposition wahrgenommen wird, kann das verdeutlicht werden, indem sich sein Stellvertreter auf einen Stuhl oder einen Tisch stellt. Eine kindliche Figur kann dargestellt werden, indem der Stellvertreter sich niederkauert oder auf den Boden setzt. Emotionale Nähe oder Entfernung können durch unterschiedliche räumliche Abstände zwischen den Stellvertretern sowie durch unterschiedliche Blickrichtungen verdeutlicht werden (Hellinger 1996).
Eine 27-jährige Klientin berichtet über einen Konflikt mit ihrem Vater. Sie fühlt sich von ihm emotional und finanziell abhängig. „Wenn er so groß und massiv vor mir steht, möchte ich mich am liebsten in ein Mauseloch verkriechen.“ Ich stelle einen Hocker vor die Klientin, stelle mich auf den Hocker, mache mich breit und schaue „anmaßend“ über den Kopf der Klientin hinweg. Sie kauert sich auf den Fußboden zusammen: „Ich kann ihm einfach nichts entgegensetzen.“ Ich bitte die Klientin, ihre Position mit der meinen zu tauschen. Nun ist sie der kraftvolle, überlegene Vater und ich bin das „Häufchen Elend“ zu „seinen“ Füßen. Mit Hilfe der beiden Körperhaltungsanker findet die Klientin Zugang zunächst zu ihrem Inkompetenz-Empfinden und dann zu einem Gefühl von Kraft und Überlegenheit, das sie zuvor in ihren Vater deponiert hatte.
Anwendung. Für psychodramatische Techniken gibt es eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten. Psychodrama kann analytisch, übend, vergangenheitsorientiert, zukunftsorientiert, ausdrucksfördernd, kathartisch oder ressourcenorientiert angewandt werden. Der Therapeut kann dem Klienten z. B. vorschlagen: • sich in eine andere Person zu versetzen, um zu lernen, sich in ihre Erlebnisweise und ihre Perspektive, in ihre Wünsche und Ängste einzufühlen, • sich in eine hypothetische Situation hineinzuversetzen, in der er einer anderen Person alles an den Kopf wirft, was er ihr im realen Leben und in ihrer Anwesenheit niemals sagen könnte, um zu erleben, was hinter seinen Ausdrucks- und Empfindungsfiltern an tieferem Erleben verborgen ist, • sich nacheinander in Anteile seiner Person, z. B. zuerst in seinen bedürftigen und dann in seinen verschlossenen Teil hineinversetzen, um diese
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beiden Persönlichkeitsanteile tiefer zu erleben und miteinander in einen Dialog zu bringen, eine regressive Szene zu durchleben, in der er z. B. als Kind einem Elternteil gegenübersteht, das böse mit ihm ist oder auf das er als Kind böse ist, Ressourcen-Rollen aufzubauen, d. h. reale oder fantasierte Personen, die nach seinem Empfinden mit dem betreffenden Problem besser umgehen können als er selbst.
Eine 50-jährige Therapeutin bringt in eine Supervisionsgruppe als Thema ein, dass sie sich mit einem Klienten emotional verwickelt hat, und die Gefahr besteht, dass sie ihre Distanz verliert. Ich schlage ihr vor, Stellvertreter als Ressource-Rollen aufzubauen, die mit einer solchen Situation gut abgegrenzt umgehen können. Sie baut eine ehemalige Grundschullehrerin, ihre ehemalige Psychotherapeutin, Otto Kernberg und ihre ältere Schwester auf. Die Stellvertreter beschreiben in der Identifikation mit ihrer Rolle, durch welche inneren Operationen sie sich auf eine gute, konstruktive Weise abgrenzen können.
• Der Klient kann vergangene oder zukünftige Situ•
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ationen im Rollenspiel wiedererleben bzw. vorwegnehmen, traumatische Situationen aus seiner Kindheit darstellen, um Zugang zu abgewehrten Emotionen zu finden oder um eine bessere Lösung zu entwickeln, als es ihm damals möglich war, zukünftige Situationen im Rollenspiel übend vorbereiten, dabei verschiedene Einstellungen und Verhaltensweisen ausprobieren und ihre Folgen erfahren, ambivalente oder gespaltene Persönlichkeitsanteile (Emotionen, Beziehungskonstellationen oder Einstellungen) im Rollenspiel erleben und diese Anteile miteinander in Dialog bringen.
Ein 33-jähriger, narzisstischer Klient versetzt sich nacheinander in seinen entwerteten Persönlichkeitsanteil („die Kröte“) und in sein Größenselbst („der Held“) hinein und spielt einen Dialog zwischen ihnen. Das hilft ihm, die beiden Anteile als Aspekte seines Selbst anzuerkennen.
Ich lade die Teilnehmer einer Therapiegruppe zu einem psychodramatischen „Markt der Wünsche“ ein, in dem alle immateriellen Wünsche erfüllt werden können. Der Kunde muss dafür einen immateriellen Preis bezahlen, den er selbst bestimmt. Es handelt sich um ein gespieltes Tauschgeschäft, in dem die Teilnehmer erfahren können, was sie sich wünschen und was die Erfüllung dieses Wunsches möglicherweise kostet. Eine Teilnehmerin kauft beispielsweise Glück und bezahlt dafür mit Lebenszeit. Ein anderer Teilnehmer erwirbt Geduld und gibt dafür Erfolg.
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und reflexartig ablaufende Vorgänge können durch Nachspielen in Zeitlupe bewusst gemacht werden. Durch Einfrieren kann aus einem Prozess ein Standbild gemacht werden, das die Gruppenteilnehmer mit Hilfe des Therapeuten untersuchen und reflektieren können. Der Klient kann Lebenspläne oder Lebensmythen psychodramatisch ausarbeiten. Er kann körperliche oder psychische Symptome darstellen. Er kann sein inneres Kind oder seine innere Familie aufbauen oder ein Heilungsritual für das innere Kind inszenieren, z. B. indem er zuerst „begrenzte Eltern“ und dann „gute/ideale Eltern“ aufbaut (siehe Abb. 12.3). Er kann sich mit gefundenen Objekten (z. B. Steinen, Blättern, Ästen, alten Kleidungsstücken, Tarotkarten) identifizieren und seine inneren Dynamiken in diese projizieren, Selbst-Varianten aufbauen (z. B. seine starke und seine schwache Seite), sich in erstrebte Situationen hineinversetzen (z. B. ein Single stellt psychodramatisch dar, wie sie/er eine/n Partner/in kennen lernt), eine Abgrenzungsübung darstellen (z. B. wie grenze ich mich gegen einen übergriffigen Chef ab?), Systeme aufstellen (z. B. Arbeitsgruppen, Verbände, Parteien, Betriebe, Institutionen), anstehende Aufgaben psychodramatisch üben (z. B. schwierige Gespräche, Prüfungssituationen, Diskussionen, Präsentationen).
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Verfahren und Techniken
Abb. 12.3 Therapeutisches Ritual für das innere Kind.
12.2
Stellvertreter-Techniken
Stellvertreter. Wenn psychodramatische Techniken in Gruppen angewandt werden, können von anderen Gruppenteilnehmern und vom Gruppenleiter Rollen stellvertretend eingenommen werden. Die Art und Weise, wie diese „Stellvertreter“ die von ihnen übernommenen Rollen ausfüllen, wie sie sich in der Rolle bewegen, wie sie sprechen und was sie sagen, improvisieren sie aus ihrer empathischen Identifikation mit der Rolle heraus. Falls ihre Inszenierung vom Erlebnis des Protagonisten auf unproduktive Weise abweicht, kann dieser das korrigieren. Der Protagonist kann jederzeit die Regie des Psychodramas übernehmen und die gespielte Szenerie und die Rollen verändern. Dabei können Rollen mehrfach gewechselt werden. Szenische Empathie. Durch die rituelle Inszenierung im Rollenspiel entsteht ein kommunikatives Feld, das den Stellvertretern ermöglicht, sich durch empathische Resonanz mit ihrer Rolle zu identifizieren. Aspekte des Unbewussten des
Protagonisten und des Stellvertreters projizieren sich in die Dynamik der Inszenierung hinein, sodass die Stellvertreter Aspekte der emotionalen Befindlichkeit, der Beziehungsdynamiken oder psychosomatischen Reaktionen ihrer Rolle in ihrem Inneren spüren können. Lorenzer (1970) bezeichnete solche unterschwellig-kommunikativen Phänomene als szenische Empathie, in der Körperpsychotherapie spricht man von psychosomatischer Resonanz, Hellinger (1996) spricht von dem wissenden Feld.
In einer Therapiegruppe inszeniert eine 43-jährige Teilnehmerin eine Situation aus ihrem 18. Lebensjahr, in der sie die Avancen eines gleichaltrigen Jungen aus Verlegenheit auf verächtliche und herabsetzende Weise zurückgewiesen hatte, obwohl sie diesen Jungen damals eigentlich heimlich begehrt hatte. Der Teilnehmer, der den Jungen spielt, sagt, er fühle sich „wie mit Eiswasser übergossen, als ob
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mir das Herz im Leib gefriert“. Die Protagonistin ist sehr betroffen. Sie sagt, dass der Junge von damals ihr Jahre später in einem Brief seine Reaktion mit ähnlichen Worten geschildert habe.
Szenische Spiegelung. Wenn die Stellvertreter ihr Erleben verbal und nonverbal ausdrücken, so ermöglicht das dem Protagonisten, Anteile seines Unbewussten in die Inszenierung hinein gespiegelt zu erleben, dadurch Anteile seiner selbst wahrzunehmen, die ihm vorher nicht bewusst waren und mit immateriellen psychischen Anteilen in greifbarer, materieller Form umzugehen. Anwendung. Auch für die Stellvertretertechnik gibt es eine Fülle von Anwendungsmöglichkeiten: • Die Stellvertreter-Rollen können verschiedene Handlungsmöglichkeiten des Protagonisten repräsentieren. • Ein Stellvertreter kann einen konfrontativen Umgang mit einem Konflikt repräsentieren, ein anderer Stellvertreter kann eine vermittelnde Position darstellen, ein Dritter die Möglichkeit, passiv auszuharren, ein Vierter die Option, sich schweigend zurückzuziehen. Auf diese Weise kann der Protagonist die Auswirkungen verschiedener Handlungsalternativen erkunden.
12.3
Ein Stellvertreter kann: • die Rolle einer anderen Person aus der Gegenwart (Ehepartner, Familienangehöriger, Freund, Kollege) übernehmen, • Personen oder Anteile aus der Vergangenheit oder der Zukunft spielen, generalisierten Interaktionspart• einen ner darstellen (z. B. „der Vorgesetzte“, „die Geliebte“), • eine fantasierte Figur spielen (z. B. die ideale Mutter, den Teufel), ein unbelebtes Objekt darstellen, das im Leben • des Protagonisten relevant ist (ein Haus, ein Ring, eine Droge), • einen Körperteil spielen (ein erkranktes Organ, das Herz, das Genital), • einen Persönlichkeitsanteil spielen („meine Sexualität“, „die Depression“), • ein abstraktes Konzept spielen („Erfolg“, „Freiheit“), • den Protagonisten auf verstärkende Weise spiegeln, • die Position des Protagonisten übernehmen (Stand-In), • die Rolle eines Konfliktgegners übernehmen (Antagonist), • eine Szene anders oder gegenteilig zum gewohnten Verhalten des Klienten spielen (NotMe-Technik).
Doppeln
Hilfs-Ich. Manchmal fällt es dem Protagonisten schwer, Zugang zu seinen Empfindungen oder Ausdrucksmöglichkeiten zu finden. Dann kann ein anderes Gruppenmitglied den Protagonisten doppeln. Ein Doppel (Hilfs-Ich) ist ein ergänzender Repräsentant des Protagonisten selbst. Ein Doppel stellt sich neben oder hinter den Protagonisten, übernimmt dessen Körperhaltung und spricht in der Ich-Form oder drückt Gedanken, Empfindungen oder Impulse körperlich aus, von denen es glaubt, dass der Protagonist sie hat, aber nicht oder nicht angemessen ausdrücken kann. Der Protagonist entscheidet, ob er das Gesagte aufgreifen und fortführen oder korrigieren will (Lammers in Fürst et al. 2004). Auch der Therapeut kann den Klienten doppeln.
In einem Rollenspiel sucht ein 54-jähriger Klient nach einer Form, um seiner Ehefrau mitzuteilen, dass er sich von ihr trennen will, weil er „sie erotisch nie begehrt hat“. Ich biete ihm als Doppel den Satz zu seiner Frau an: „Ich möchte mich von dir trennen, weil ich dich nicht mehr liebe.“ Der Klient korrigiert den Satz in: „Ich möchte mich von dir trennen, weil ich mir von Anfang an immer nur vorgemacht habe, dich zu lieben.“ Er findet diesen Satz zutreffend und ehrlich. Im weiteren Verlauf sucht er nach einer Form, um sich von seiner Frau in der Realität respektvoll und aufrichtig zu lösen, ohne sie mehr als nötig zu verletzen.
Anwendung. Auch für das Doppeln gibt es eine Vielfalt von Anwendungsmöglichkeiten.
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Verfahren und Techniken
Doppeln kann unterstützend angewandt werden, um den Protagonisten in der Wahrnehmung und dem Ausdruck seiner Gefühle zu bestärken. Das Doppeln kann stellvertretend eingesetzt werden, wenn der Protagonist nicht in der Lage ist, sein Befinden auszudrücken. Es kann aktivierend eingesetzt werden, indem vom Doppel probeweise Emotionen ausgedrückt werden, die dem Protagonisten nicht oder noch nicht bewusst sind. Es können emotionale Ambivalenzen von zwei Doppeln dargestellt werden (z. B. Wut und Angst). Das Doppeln kann konfrontativ angewandt werden, z. B. indem das Doppel Sätze sagt, die der Protagonist nonverbal ausdrückt, aber nicht auszusprechen wagt. Das Doppeln kann provokativ angewandt werden, indem das Doppel etwas anderes oder das Gegenteil dessen ausdrückt, was der Protagonist vermutlich empfindet, um ihn herauszufordern, sich klar und deutlich auszudrücken.
• Es kann verstärkend gedoppelt werden, indem
das Doppel einen subtilen nonverbalen Ausdruck oder eine vage Befindlichkeit verstärkt, vergrößert oder übersteigert ausdrückt, damit sie in den Vordergrund des Gewahrseins gerückt wird.
„Entrollen“. Nach einer Identifikationsübung ist es wichtig, dass der Klient, der Therapeut und ggf. andere beteiligte Gruppenteilnehmer sich wieder „entrollen“, das heißt aus der Rollenidentifikation heraustreten und von der Rolle befreit werden, die sie verkörpert haben. Wenn das nicht oder unvollständig geschieht, kann es passieren, dass der Beteiligte noch längere Zeit halb bewusst in der Identifikation verbleibt, besonders wenn die Rolle, die er eingenommen hat, mit eigenen inneren Anteilen in Resonanz steht. Das kann zu Irritationen und Gefühlen von Desorientiertheit führen und muss im weiteren Prozess thematisiert und aufgearbeitet werden.
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13
13.1
Auseinandersetzung und Konfrontation
Konfrontation mit Kontaktvermeidungen
Auseinandersetzung. Der Humanistische Therapieprozess bewegt sich in einer Dialektik zwischen Tiefenakzeptanz und Herausforderung. Einerseits ist es für den Klienten wichtig, dass sein subjektives Erleben und Verhalten, auch wenn es Leid aufrechterhält oder sogar selbstschädigend sein mag, vom Therapeuten als nachvollziehbar verstanden und respektiert wird, während der Therapeut ihn auf der anderen Seite unterstützt, ermutigt und manchmal herausfordert, seine Einstellungen und Verhaltensweisen zu reflektieren und ggf. zu verändern, um seine Wahlfreiheit zu erweitern (siehe Abb. 13.1). In der Humanistischen Psychotherapie werden manchmal konfrontative Techniken angewandt, um dem Klienten zu helfen, aus chronisch verhärteten, eingeschliffenen Mustern herauszufinden und sich Aspekten seiner selbst gewahr zu werden, die er auf andere Weise beharrlich vermeiden würde. Psychotherapeutische Konfrontation wird stets eingebunden in Halt gebende, empathische, stützende und ressourcenaktivierende Beziehungsangebote. Voraussetzungen. Der Sinn von Beziehungskonfrontationen ist es, die begrenzenden Muster des Klienten im Ringen um Authentizität und Wahrhaftigkeit herauszufordern. Die Anwendung konfrontativer Techniken setzt eine ausreichende Stabilität der IchStruktur des Klienten und der Beziehung des Klienten zum Therapeuten voraus. Beim Therapeuten setzt sie viel Erfahrung, eine gründliche Ausbildung und eine gut entwickelte Fähigkeit zur empathischen Resonanz und zur professionellen Abgrenzung voraus. Konfrontative psychotherapeutische Arbeit erfordert, dass der Therapeut keine Angst
vor der Wut des Klienten hat, in dem Wissen, dass es heilsam ist, durch schwer zu ertragende Gefühle hindurchzugehen, statt sie vorschnell „beseitigen“ zu wollen. Konfrontationstechniken dürfen niemals benutzt werden, um Gegenübertragungsaggressionen des Psychotherapeuten zu agieren. Ebenso dürfen sie nicht eingesetzt werden, wenn der Klient sich in einem offenen oder destabilisierten Zustand befindet. Ein Therapeut, der mit Konfrontationstechniken arbeitet, muss sich der Risiken und Indikationsbeschränkungen dieser Techniken bewusst sein, und er muss in der Lage sein, mit starken emotionalen Reaktionen, besonders mit Hassimpulsen und Verzweiflungsgefühlen umgehen zu können. Grenzen des empathischen Begleitens. Im Humanistischen Verständnis ist Tiefenakzeptanz der eine Pol der therapeutischen Beziehung, der andere Pol ist die konstruktive Auseinandersetzung des Therapeuten mit den Mustern des Klienten und des Klienten mit sich selbst. Wenn der Therapeut sich immer nur bedingungslos akzeptierend in den Klienten einfühlt, ihn nur empathisch begleitet, ohne sich mit ihm zu reiben, also ohne sich mit den Leid aufrechterhaltenden Mustern des Klienten aktiv und manchmal konfrontativ auseinanderzusetzen, so besteht die Gefahr einer Grenzverwischung (Konfluenz) zwischen Therapeut und Klient und in der Folge eines spannungsarmen, oberflächlich harmonischen, aber letztlich fruchtlos bleibenden Therapieprozesses. Wenn sich auf der anderen Seite der Klient vom Therapeuten unter Druck gesetzt, kritisiert, verkannt, ignoriert, manipuliert oder abgelehnt fühlt, kann er seinen Selbstschutz nicht öffnen, und die Therapie wird zu einem Kampf, den
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Verfahren und Techniken
Abb. 13.1 Ebenen der Beziehung zwischen Therapeut und Klient.
Klient und Therapeut nur verlieren können, weil der Tiefenselbsterkundungsprozess des Klienten aus Angst vor einem überkonfrontativen Therapeuten stagniert. Ein annehmendes therapeutisches Ambiente faltet einen Selbsterkundungsraum für den Klienten auf, der aber keineswegs voraussetzt, dass der Therapeut jede noch so absurde Aussage oder destruktive Einstellung des Klienten zustimmend abnicken müsste. Vielmehr braucht es der Klient, dass sich der Therapeut aktiv und auch kritisch mit ihm und seinen Problemen auseinandersetzt, dabei eine professionelle Distanz beibehält und bereit ist, intensive Übertragungsambivalenzen zu ertragen und dass der Therapeut dem Klienten auf Basis einer tragfähigen Beziehung gelegentlich Konfrontationen zumutet. Ein Therapeut, der den Klienten immer nur freundlich zustimmend und scheinbar fachmännisch distanziert endlos in einem Kreisverkehr um seine habituelle Abwehr herumlaufen lässt, lässt den Klienten in seinem Leid allein.
Ein 37-jähriger Klient beschreibt sich als „chronisch polygam“. Seit seiner ersten Beziehung in seiner Jugend hatte er stets (und meistens ohne Wissen seiner jeweiligen Partnerin) mehrfache Seitenbeziehungen, die manchmal jahrelang dauerten. Er
sehnt sich danach, sich auf seine jetzige Frau ganz einlassen zu können und andere Beziehungen nicht mehr zu brauchen, sieht sich dazu aber nicht in der Lage. Ich schlage ihm vor, in einem Rollenspiel seine derzeitigen Beziehungen symbolisch mit Kissen im Therapieraum aufzubauen und sowohl seiner Partnerin als auch seinen beiden derzeitigen Geliebten die Wahrheit über die anderen Beteiligten zu sagen. Er sagt: „Das wäre für mich die Hölle.“ Ich sage: „Wie wäre es, wenn du hier in der Sitzung in diese Hölle hinein und hindurch gehen würdest, damit du erleben kannst, worin diese Hölle eigentlich besteht?“ Er zögert eine Weile, ist dann aber dazu bereit. In dem folgenden Rollenspiel, das sich über mehrere Sitzungen erstreckt, wird ihm unter anderem deutlich, dass er nicht wagt, mit seiner Frau über bestimmte sexuelle Wünsche zu sprechen, weil er befürchtet, von ihr missachtet und abgelehnt zu werden. Im weiteren Therapieverlauf wagt er es, seine erotischen Wünsche und polygamen Neigungen seiner Frau in der Realität vorsichtig mitzuteilen, die zu seiner Überraschung nicht schockiert ist, sondern ebenfalls entsprechende Fantasien, Wünsche und auch Erfahrungen äußert, woraufhin seine Schuldgefühle und sein zwanghafter Drang, fremd zu gehen, deutlich abnehmen.
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Therapeutisches Ambiente. Die Tiefenakzeptanz und der Kommunikationsfreiraum, den der Klient in der Therapie erlebt, gehen in der Regel weit über die Beziehungsmöglichkeiten hinaus, die der Klient in seinem Alltag erlebt. Dieser Freiraum ist selbst schon eine Einladung und Herausforderung an den Klienten, sich tiefer zu erkunden und zu erleben. Ein produktiver psychotherapeutischer Prozess erfordert aber auch die Bereitschaft des Therapeuten, den Klienten gelegentlich konfrontativ herauszufordern (und sich damit beim Klienten unbeliebt zu machen), wenn der Klient in seinen Mustern so stark gefangen ist, dass er sie von selbst nicht verlassen kann. Zu diesem Zweck werden in der Humanistischen Psychotherapie eine Reihe von Konfrontationstechniken angewandt. Rückmeldungen der Gefühle des Therapeuten. Unmittelbare Rückmeldungen der Gefühle des Therapeuten als Reaktionen auf Äußerungen des Klienten gelten in einigen psychotherapeutischen Richtungen als verpönt oder sogar als technischer Fehler. Manche Humanistische Psychotherapeuten stellen dem Klienten jedoch ihre eigenen Empfindungen auf kontrollierte Weise als emotionale Spiegelung zur Verfügung. Dies kann auf dezente und behutsame, stärkende Weise geschehen, aber auch konfrontativ und herausfordernd. Zentral für diese Technik ist es, dass der Therapeut, obwohl er seine eigenen Empfindungen äußert, sich nicht emotional mit dem Klienten verwickelt, sondern seine professionelle Distanz beibehält. Das Einbringen der eigenen Empfindungen durch den Therapeuten kann auch nonverbal geschehen. Das ist häufig effektiver, kann aber ziemlich konfrontativ wirken.
In einer Fortbildungsgruppe zum Thema „Kooperative Konfliktlösung“ entsteht eine gehemmte, vermeidende Atmosphäre. Mehrere Teilnehmer ziehen sich aus dem Gruppenprozess zurück und vergraben sich in sich selbst. Die Stimmung wird zäh, gedrückt und gehemmt. Ich stehe ohne ein Wort zu sagen aus der Runde auf, nehme mir eine Decke, setze mich abseits in eine Ecke des Therapieraums, rolle mich auf dem Teppich zusammen und ziehe mir die Decke über den Kopf. (Ich spiegele also nonverbal und überzeichnet den emotionalen Rückzug der Teilnehmer.) Nach kurzer Zeit wird die Atmosphäre in der Gruppe lebendiger. Die Teilnehmer beginnen, sich zu äußern und
sprechen über ihre Angst vor der Thematisierung bestimmter Konflikte. Ich lege die Decke wieder zur Seite und komme in die Runde zurück. Das nonverbale, konfrontative Spiegeln einer Gruppenabwehr hat diese aufgelöst, in diesem Fall ohne dass sie direkt thematisiert wurde.
Widersprüche. Der Therapeut kann den Klienten mit Widersprüchen in seinen Mitteilungen konfrontieren. Dabei kann es sich bspw. um Widersprüche zwischen verbalen und nonverbalen Botschaften, zwischen dem Selbstbild des Klienten und einem Feedback von anderen Gruppenteilnehmern handeln, um Diskrepanzen zwischen einer Einsicht des Klienten und seinem Verhalten, um logische Widersprüche in seinen Mitteilungen oder um einander widersprechende Äußerungsformen verschiedener Persönlichkeitsanteile.
Eine 32-jährige Klientin betont mit großem Ernst, dass sie entschieden habe, sich von ihrem langjährigen Partner zu trennen. Sie sei dabei, sich eine eigene Wohnung zu suchen, werde in den nächsten Wochen ausziehen und die Betreuung des gemeinsamen Kindes mit ihrem Partner regeln. In der nächsten Sitzung spricht sie wie selbstverständlich vom gemeinsamen Leben mit ihrem Partner in der gemeinsamen Wohnung. In der darauf folgenden Sitzung betont sie wiederum ihre klare Entscheidung, sich zu trennen und die gemeinsame Wohnung zu verlassen, weil das Zusammenleben mit ihrem Partner für sie unerträglich sei. In der folgenden Sitzung spricht die Klientin darüber, dass sie ein schönes Wochenende mit ihrem Partner verbracht habe und guter Hoffnung sei, dass ihr angenehmes Verhältnis miteinander anhalten werde. Ich weise die Klientin auf die abrupten Wechsel ihrer Einstellung zu ihrem Partner hin. Im darauf folgenden Gespräch wird deutlich, dass sich die Klientin verwirrt fühlt, weil sie innerlich zwischen der Position, eine tragfähige, wenn auch nicht unproblematische Beziehung mit ihrem Partner führen zu wollen und der Position einer konkret beabsichtigten Trennung hin und her schwankt. Die entsprechenden Persönlichkeitsanteile der Klientin stehen unvermittelt nebeneinander und können von ihr nicht integriert werden. Im weiteren Verlauf der Therapie wird deutlich, dass die Klientin kaum in der Lage ist, Konflikte mit ihrem Partner auszutragen,
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Verfahren und Techniken
sodass ihr manchmal eine radikale Trennung als einzig mögliche Lösung erscheint, die sie aber wieder verwirft, sobald der Konflikt im Alltag in den Hintergrund tritt. Wir arbeiten an der Fähigkeit der Klientin, ihre Bedürfnisse klarer wahrzunehmen und zu vermitteln und Konflikte konstruktiv auszutragen.
Frustrieren. Unweigerlich werden in der Therapie einige der vom Klienten an den Therapeuten gerichteten Wünsche frustriert. Manche Klienten wünschen sich von ihrem Therapeuten z. B., dass dieser ihre Lebensprobleme löst, ohne dass sie selbst aktiv werden müssten. Andere wünschen sich, dass der Therapeut ihnen sagt, was sie tun sollen, dass er ihnen genau zeigt, wie es geht und es dann auch noch für sie tut. Wenn der Therapeut bemerkt, dass der Klient dazu neigt, Verantwortung für die Gestaltung seines Lebens oder des therapeutischen Prozesses an den Therapeuten zu delegieren, so kann er diese Wünsche explizit oder de facto frustrieren, den Rettungsfantasien des Klienten also nicht nachkommen, um diesem zu helfen, sich selbst helfen zu lernen. Allerdings: wenn der Therapeut einen Klienten, der über wichtige Bewältigungsfähigkeiten nicht verfügt oder sie zurzeit nicht zur Verfügung hat, zu stark frustriert und ihn zu wenig unterstützt, so lässt er den Klienten in seiner Hilflosigkeit allein. Stützt er ihn dagegen zu stark, so macht er ihn von seiner Hilfe abhängig, mit der Folge, dass der Klient nicht lernen kann, seinen eigenen „Kartoffeln aus dem Feuer zu holen“. Therapeutische Konfusion. Die psychotherapeutische Arbeit mit Konfusionstechniken wurde v. a. von Milton Erickson entwickelt. Erickson (1980) beschrieb viele kommunikative Techniken, um das Wachbewusstsein überkontrollierter Klienten durch komplexe, verwirrende Aussagen, Instruktionen oder Interventionen aus dem Gleichgewicht zu bringen, um dem Klienten therapeutische Transformationen in Trance zu ermöglichen. Ich verwende Konfusionstechniken manchmal auch im Wachzustand, um Klienten, die durch eingefahrene, ich-syntone Muster in ihrem Leid festgehalten sind, innerlich in Bewegung zu bringen und therapeutische Veränderungen zu fördern. Bei Klienten mit einer rigiden Abwehrstruktur besteht sonst die Gefahr, dass der therapeutische Prozess an der Oberfläche bleibt, ohne dass es zu relevanten Veränderungen kommt. Auch Konfu-
sionstechniken dürfen nur auf Basis eines stabilen, akzeptierenden und grundsätzlich wohlgesonnenen therapeutischen Kontakts angewandt werden. Ein 46-jähriger Teilnehmer einer Therapiegruppe, den ich hier Thomas nennen möchte, erscheint seit Monaten nur unregelmäßig zu den Sitzungen. Wenn er kommt, ist er sehr zurückhaltend. Die anderen Teilnehmer der Gruppe versuchen, mit ihm in Kontakt zu kommen, indem sie ihn fragen, wie es ihm geht. Sie laden ihn geduldig ein, über sich zu sprechen und konfrontieren ihn schließlich mit seiner Tendenz, allen Kontaktangeboten auszuweichen. Thomas reagiert auf all diese Angebote und Herausforderungen ausweichend und vage, sodass ihm gegenüber in der Gruppe ein Gefühl der Hilflosigkeit entsteht. In einer Sitzung berichtet Thomas, dass er nicht verstehen könne, dass sich seine Exfrau von ihm getrennt habe. „Sie hat gesagt, dass sie emotional nicht an mich herangekommen ist. Ich weiß nicht, wie sie darauf kommt. Ich fühle mich nicht so.“ Ich beginne, Thomas auf übertriebene Weise gegen die „Angriffe“ seiner Frau in Schutz zu nehmen. Dann unterstütze ich übergangslos die Position eines Gruppenteilnehmers, der beklagt, dass er mit Thomas trotz intensiver Versuche nicht in Kontakt kommt. Dann bitte ich den (wie immer schweigenden) Thomas, „sich etwas zurückzuhalten“, damit ich mich mit einer anderen Gruppenteilnehmerin über ihn austauschen könne. Dann zitiere ich verständnisvoll, wie Thomas' Exfrau beklagt, dass sie an Thomas nicht herangekommen ist. Dann springe ich übergangslos zur Verteidigung der Position von Thomas und nehme ihn vor den „unberechtigten Anklagen“ seiner Exfrau in Schutz. Ich wechsle die Positionen schnell, nach fast jedem Satz, sodass Thomas Schwierigkeiten hat, zu verfolgen, ob ich gerade „auf seiner Seite“ oder „auf der Gegenseite“ bin. Er gerät in einen konfusen Zustand, der ihn herausfordert, seine fest eingeschliffene, gewohnheitsmäßige Tendenz zum Rückzug und zur Vermeidung aller Konflikte (damit auch zur Vermeidung von Kontakt) zu lockern. Er beginnt zu lachen, schüttelt etwas verwirrt den Kopf und sagt: „Oha, ich verstehe schon. Ich glaube, ich bin an dieser Kontaktlosigkeit auch beteiligt.“
Imitieren. Das Imitieren von Ausdrucksverhalten oder Beziehungsmustern des Klienten hat bereits Wilhelm Reich praktiziert. Imitation zählt zu dem virtuosen Repertoire von Frank Farrelly, dem Be-
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gründer der Provokativen Therapie (Farrelly 1986). Das Imitieren des Klienten kann sehr konfrontativ wirken und ist vor allem für Klienten geeignet, die den therapeutischen Prozess durch reflexionsresistente und starr wiederholte Kontaktvermeidungsmuster lahm zu legen drohen. Eine 23-jährige Klientin mit generalisierten sozialen Ängsten und Panikattacken antwortet auf nahezu alle Fragen meinerseits mit: „Ich weiß nicht“. Auch wenn ich sie nicht frage, und sie von sich aus über sich spricht, sagt sie sehr häufig z. B.: „Ich weiß auch nicht, wie/warum/was …“ Ich spreche das direkt an, und die Klientin antwortet erwartungsgemäß: „Ich weiß auch nicht, warum ich das mache.“ Es erscheint mir so, als ob sie sich vor allen Gedanken und Einsichten, die sie als bedrohlich erlebt, mit einer Art vorbeugender Gedanken- und Ausdrucksblockade schützt. Auch auf meine Versuche, dieses Verhalten als Selbstschutz gegen intrusive Fragen oder bedrohliche Gedanken zu deuten, antwortet sie mit: „Vielleicht … ich weiß nicht.“ In der nächsten Sitzung beginne ich vorsichtig damit, „ich weiß nicht“ – ähnliche Formulierungen in meine eigenen Sätze einzuflechten, zum Beispiel: „Ich habe nicht mehr ganz präsent, worüber wir in der letzten Sitzung gesprochen haben.“ Nach einer Weile spreche ich das „ich weiß nicht“ immer direkter aus und flechte es immer häufiger in meine Aussagen ein. Die Klientin ist verwirrt. Es entsteht ein absurder Wettlauf zwischen uns, wer von uns in welcher Frage ahnungsloser und hilfloser ist. Schließlich sagt die Klientin: „Du machst mich nach.“ Ich antworte: „Hm … kann schon sein … ich weiß nicht recht …“ Auf diese Weise wird es für die Klientin praktisch unmöglich, ihre Ich-weiß-nicht-Barriere aufrechtzuerhalten.
Paradoxe Intervention. Die Technik der paradoxen Intervention wurde unter der Bezeichnung Paradoxe Intention erstmals von Viktor Frankl im Jahr 1929 beschrieben (Frankl 1994) und v. a. von Erickson und in der Systemischen Familientherapie ausgearbeitet (Selvini-Palazzoli 2003). Die Technik beruht auf dem Sei-Spontan-Paradoxon (Watzlawick 2007). Sie besteht im Kern darin, dass der Therapeut 1. ein Leid aufrechterhaltendes Verhalten des Klienten positiv konnotiert und 2. den Klienten auffordert, dieses Verhalten bewusst durchzuführen bzw. absichtlich damit fortzufahren.
Da symptomatische Muster normalerweise als unbewusst gesteuert und bewusst nicht kontrollierbar empfunden werden, kommt der Klient durch die Aufforderung, das Muster absichtlich auszuführen, in Verwirrung. Wenn die Intervention kunstvoll angewandt und behutsam eingebunden wird, kann es sein, dass der Klient das Leid aufrechterhaltende Verhalten vorübergehend oder dauerhaft nicht mehr ausführt oder nicht mehr ausführen kann. Im Rahmen der Humanistischen Psychotherapie würde man hier allerdings nur von einer vorübergehenden Aushebelung des Symptoms ausgehen, was aber die Möglichkeit eröffnen kann, die von dem Symptom kompensierten Gefühle und Dynamiken zu erkunden und zu bearbeiten. Encounter. Der Begriff Encounter (von engl.: Begegnung) wurde ursprünglich ebenfalls von Viktor Frankl geprägt. Man versteht darunter eine Form der Gruppenpsychotherapie und Selbsterfahrung mit einer nichtdirektiven Gruppenleitung. Der Inhalt und das Thema von Encountergruppen sind die Prozesse innerhalb der Gruppe selbst, die Befindlichkeiten ihrer Teilnehmer und ihre Beziehungen untereinander, wobei der Leiter der Gruppe weder den Inhalt noch den Prozess der Gruppe lenkt, sondern ihn lediglich reflektierend begleitet. Das Konzept der Encountergruppen wurde von Carl Rogers (1974) und von Will Schutz (1977) in ihren gleichnamigen Büchern beschrieben. Encountergruppen entwickelten sich in den 1970er-Jahren zu einer weltweiten Bewegung mit Zentrum in den USA und in der RajneeshCommunity in Poona/Indien. In einer Encountergruppe werden die Gruppenteilnehmer ermutigt, ihre Gefühle direkt und authentisch zum Ausdruck zu bringen. Ziel einer Encountergruppe ist es, die Fähigkeit der Teilnehmer zu fördern, ihren Umgang mit sozialen Beziehungen und die kommunikativen Spiegelungsprozesse innerhalb einer Gruppe tiefer wahrnehmen zu lernen, ihre Gefühle klarer und direkter auszudrücken und auf andere Menschen einfühlsamer einzugehen. Encountergruppen oder encounterorientierte Phasen in Therapiegruppen können die Teilnehmer auf intensive Weise mit ihren eigenen Strukturen und mit gruppendynamischen Prozessen konfrontieren. Kritik des Encounter-Konzepts. Hinter dem ursprünglichen Encountergruppenkonzept steht die naiv-optimistische Einstellung, dass sich das Gute und Wahre im Menschen von selbst entfalten werde, wenn man ihm genügend Freiraum zur Verfügung
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stellt. Durch den Strukturmangel, die Abwesenheit einer Orientierung, Halt und Schutz gebenden Leitung sowie ohne anschließende psychotherapeutische Aufarbeitung der unweigerlich entstehenden Konflikte innerhalb der Gruppe kam es in Original-Encountergruppen regelmäßig zu psychischen (manchmal auch körperlichen) Verletzungen (Elten 2000). Der Encounter-Stil der Gruppenarbeit wird daher in seiner radikalen Form kaum noch praktiziert. Ich verwende Encounter-Elemente phasenweise im Rahmen von längerfristigen Gruppenprozessen, übernehme jedoch wieder die strukturierende Leiterfunktion, wenn der Gruppenprozess über längere Zeit stagniert, oder wenn Konflikte innerhalb der Gruppe über die Bewältigungsfähigkeiten der Teilnehmer hinauszugehen drohen.
In einem Therapiegruppenwochenende arbeiten wir am ersten Tag mit strukturierten Körper- und Identifikationsübungen. Am zweiten Tag führen wir auf Wunsch der Gruppenteilnehmer eine MarathonEncountersitzung von zehn Stunden Dauer durch, die am frühen Nachmittag beginnt und bis in die Nacht hinein dauert. In dieser langen Sitzung gebe ich nur wenige Vorgaben und greife wenig ein. Der Prozess entwickelt sich weitgehend aus der Dynamik der Gruppe heraus. Es werden vor allem die Themen ausgearbeitet, die durch die Übungen am Vortag aktiviert wurden. Es entstehen aus der Dynamik der
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Gruppe heraus von selbst Strukturen im Gruppenprozess (z. B. Gesprächsrunden, meditatives Schweigen, ausgelassenes Tanzen zu Musik usw.). Ich begleite den Prozess mit minimalen Unterstützungen und interveniere nur dann, wenn ich den Eindruck habe, dass Gruppenteilnehmer emotional überfordert sind, oder wenn sich die Gruppe längere Zeit in diffuse Verwirrung verheddert. Ich arbeite an dem Wochenende also abwechselnd mit strukturierender Anleitung und Encounter-Phasen. Im weiteren Verlauf der Gruppe übernehme ich wieder eindeutig die Leitung.
Der heiße Stuhl. Der Begriff heißer Stuhl (hot seat) stammt von Fritz Perls, dem Begründer der Gestalttherapie. Perls arbeitete in seinen späteren Jahren in Esalen fast ausschließlich in Gruppen und führte in der Gruppe Einzelsitzungen durch, in deren Verlauf es dem jeweiligen Protagonisten bisweilen recht „heiß“ werden konnte. Der Kern der Technik besteht darin, dass der Therapeut den Protagonisten direkt und fortgesetzt auf seine Vermeidungen und Abwehrprozesse hinweist. Als „heißer Stuhl“ wird auch eine gruppendynamische Technik bezeichnet, in der sich ein Teilnehmer in die Mitte setzt und sich Feedback von den anderen Gruppenteilnehmern und vom Therapeuten holt. Das kann eine intensive Erfahrung sein, weil der Klient auf eine mitunter sehr direkte Weise bestärkend, aber auch kritisch von der Gruppe gespiegelt wird.
Humorvolle Provokation Frank Farrelly (*1931) ist ein US-amerikanischer Sozialarbeiter und Psychotherapeut und der Begründer der Provokativen Therapie. Farrelly studierte Sozialarbeit und Philosophie, war klinischer Sozialarbeiter in Carl Rogers Forschungsgruppe am Mendota State Hospital und arbeitete am Mental Health Hospital in Madison/USA zunächst nach Rogers’ klientenzentriertem Ansatz. Er lehrte als Professor für Psychologie an der Universität von Wisconsin Psychotherapie und vermittelt seine Provokative Methode in vielen Ländern der Welt.
Abb. 13.2 Frank Farrelly (mit freundlicher Genehmigung von Eleonore Höfner).
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Provokative Therapie. Als Provokative Therapie wird ein Konzept bezeichnet, das von Frank Farrelly (1986) entwickelt wurde. Ursprünglich war seine Technik v. a. darauf gerichtet, den sekundären Krankheitsgewinn von Langzeit-Psychiatriepatienten zu destabilisieren. Mit seinem paradox-konfrontativen Vorgehen will er Menschen innerlich in Bewegung bringen, die sich unproduktiv in ihrem Leid eingerichtet haben. Das Grundprinzip der Provokativen Therapie nach Farrelly besteht darin, dass der Therapeut, während er dem Klienten als Person warmherzig zugewandt ist, die Leid aufrechterhaltenden Muster des Klienten auf humorvolle, bisweilen comedy-artige Weise scheinbar zustimmend bestätigt, imitiert, karikiert, übertreibt und immer weiter übersteigert, sodass sie dem Klienten in ihrer Absurdität deutlich werden.
» In jeder ernsten Aussage lauert bereits das Absurde. Charly Chaplin « Ziel. Humorvolle Verzerrung und Übertreibung sowie paradoxe, absurde Lösungsvorschläge sollen den konstruktiven Oppositionsgeist sowie die Eigenständigkeit und Selbstverantwortung des Klienten herausfordern, sodass der Klient beginnt, gegen seine eigenen, Leid erzeugenden Muster zu opponieren. Der optimale Zustand, in den der Klient durch provokative Interventionen kommt, ist nach Farrelly der, dass er nicht weiß, ob er sich ausschütten soll vor Lachen über sich selbst, oder ob er vor Scham im Boden versinken soll. In diesem Zustand sind die Leid aufrechterhaltenden Abwehrmuster des Klienten vorübergehend destabilisiert, und der Klient ist herausgefordert, neue Einstellungen und Verhaltensweisen zu entwickeln. Provokative Techniken. Farrelly entwickelte seine Provokative Technik in der Arbeit mit Menschen, die als hoffnungslos galten, z. B. mit chronisch Schizophrenen, schwer erziehbaren Jugendlichen und Kriminellen. Er geht davon aus, dass selbst Menschen mit schweren Störungen keineswegs nur als arme, unglückliche Wesen oder ohnmächtige, hilflose Opfer anzusehen sind. Provokative Arbeit setzt, so Farrelly, die Fähigkeit voraus, im Leben sowohl das Tragische als auch das Absurde und das Lustige zu sehen – und zu schätzen. Die Provokative Therapie stellt einige scheinbar selbstverständliche Regeln des Therapeutenverhaltens auf den Kopf. Der Provokative Therapeut
macht vieles, von dem man landläufig glaubt, dass ein Therapeut das auf keinen Fall tun sollte: • Er „diagnostiziert“ den Klienten detailliert, ohne irgend etwas von ihm zu wissen („Cold Reading“). • Er unterbricht den Klienten, fällt ihm ins Wort, lässt ihn kein Wort sagen („Reden auf der Überholspur“). • Er ahmt den Klienten auf skurrile Weise nach („Provokative Imitation“). • Er zieht Grimassen, gestikuliert und singt. • Er folgt seinen eigenen Assoziationen und spontanen Einfällen. • Er macht die idiotischsten Vorschläge. • Er drückt sich sehr deftig umgangssprachlich aus. Auf eulenspiegelhafte Art wechselt der Therapeut pausenlos seinen Standpunkt – und amüsiert sich auch noch dabei. Der Provokative Therapeut schlägt sich auf die Seite des abgelehnten Symptoms, betont sämtliche Vorteile desselben, erfindet noch einige hinzu und findet daran überhaupt nichts auszusetzen. Auf die Art eines Advocatus Diaboli beschreibt er bilderreich, wie wunderbar dieses Symptom, diese Einstellung oder dieses Verhalten ist.
Könemann (1999) beschreibt beispielhaft seine provokative Konfusion eines Rauchers: „Aber wieso wollen Sie denn aufhören zu rauchen? Ich meine, jeder stirbt mal irgendwann an irgendwas, das sollte Sie nicht abhalten. Und ich finde, Sie haben da doch eine wichtige Vorbildfunktion für viele lasche Jugendliche, die ja keine Idee haben, wie ein echter, cooler Typ so auszusehen hat. Und dieses bisschen Teer in der Lunge, mein Gott, schwarz ist doch ‚in‘ oder? Nein, ich muss Ihnen sagen: Weiter so! Lassen Sie sich nicht kleinkriegen von diesen Gesundheitsaposteln. Und Ihre Witwe, die kann dann zumindest später an Ihrem Grab sagen: Er war wirklich ein konsequenter Mann und so verlässlich – jeden Tag zwei Packungen!“.
Der Provokative Therapeut erfindet detaillierte und farbig ausgeschmückte sowie geschauspielerte, absurd übersteigerte Zukunftsszenarien. Er persifliert die Leid erzeugenden Muster des Klienten auf humorvolle Weise und wagt es, Erlebnisweisen und Selbstbewertungen des Klienten auszusprechen, die dieser vielleicht insgeheim denkt, aber für sich behält. Durch haarsträubende, unlogische (manchmal zwerchfellerschütternde) Erklärungen, Ratschläge und Theorien wird der Klient in alle
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denkbaren geistigen Sackgassen geführt, bis er sich losreißt, um seinen eigenständigen Weg zu gehen. Der Provokative Therapeut. Ein provokativ arbeitender Therapeut muss auch selbst etwas „einstecken“ können, wenn der Klient dann einmal „austeilt“, sich also gegen die Provokation des Therapeuten zur Wehr setzt, was bei provokativer Arbeit ganz im Sinne der Therapie ist und wertgeschätzt wird. Provokative Arbeit setzt eine hohe persönliche Integrität und eine ausgeglichene Stimmungslage des Therapeuten voraus. Indem der Therapeut unvorhersagbar agiert, kann der Klient den Therapeuten nicht in seine Leid aufrechterhaltenden Beziehungsmuster einbinden, wodurch diese Muster destabilisiert werden. Provokative Therapie darf aber nie sarkastisch, zynisch oder verletzend sein. Nonverbal zeigt der Therapeut durchgängig durch warmherzige Fürsorglichkeit und humorvolle Akzeptanz, dass der Klient und seine Probleme ihm am Herzen liegen. Provokative Empathie. Nach Farrelly ist es gerade das Übertreiben bis ins Absurde, das dem Klienten das Gefühl gibt, zutiefst verstanden zu werden. Gefangen in seinen alten Mustern erlebt der Klient sein Leid subjektiv oft in einer Form und Intensität, die von außen kaum nachzuvollziehen sind.
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Wenn der Therapeut dem Klienten dessen Muster scheinbar ins Absurde übersteigert spiegelt, fühlt sich der Klient paradoxerweise gerade dadurch in seinem Erleben verstanden. Anwendung. Provokative Interventionen nach Farrelly sind meines Erachtens nicht dafür geeignet, sie auf Dauer durchzuhalten. Wenn der Therapeut den Klienten immerfort weiter provoziert, so fühlt sich der Klient nicht ernst genommen. Er hat das Gefühl, dass die tieferen Schichten seines Erlebens und Leidens den Therapeuten nicht interessieren und spricht nicht weiter darüber, kann sie auf diese Weise aber nicht bearbeiten. Psychotherapeutische Provokationen sind vor allem dann geeignet, wenn ein Klient in eingefahrenen Einstellungsschienen derart feststeckt, dass diese durch sanfte, kooperative Strategien allein nicht in Frage zu stellen sind. Provokation ist auch geeignet für Klienten, die dazu neigen, alle Aktivität an den Therapeuten zu delegieren. Bei solchen passiven Klienten, die Psychotherapie irrtümlich als eine Art Kommunikationsmedikament verstehen, das ihnen verabreicht wird, ohne dass sie selbst etwas tun müssten, müht sich ein Therapeut, der nur sanft begleitend arbeitet, oft vergeblich ab. Hier kann der provokative Stil hilfreich sein.
Durchfühlen der Abwehr
» Es gibt nichts, das besser heilt und Krankheiten verhütet, als das Fühlen. Arthur Janov « Leidensfähigkeit. Humanistische Psychotherapie kann u. a. verstanden werden als Erlernen von Leidensfähigkeit und Leidensbereitschaft. Das mag paradox klingen, kommt doch der Klient zum Therapeuten, weil er leidet und Linderung seines Leidens erhofft. Diese Linderung ist aber oft nur möglich, wenn der Klient bereit ist, sich durch seine Abwehr hindurchzufühlen. Im Laufe seiner Biografie hat der Klient eine Vielzahl von Mustern entwickelt, um akutes Leiden (z. B. emotionale Ambivalenz, Schmerz, Demütigung, Frustration, Angst, Scham) zu vermeiden. Der Preis ist chronisches psychisches oder psychosomatisches Leid. Richter (2005) spricht in diesem Zusammenhang von der „Krankheit, nicht leiden zu können“. Wenn in der Therapie nicht nur begrenzte aktuelle Reaktionen (fokussierte Störungen, Symptome) bearbeitet werden sollen, sondern generalisierte, Leid
aufrechterhaltende Muster, dann führt der Weg vom chronischen psychischen Leid zur Integration oft durch Phasen bewussten Leidens hindurch, bevor es transformiert werden kann. Dieser Schritt fällt schwer, und er ist dem Klienten schwer zu vermitteln. Er ist aber oft unvermeidbar, um aus eingefahrenen Mustern nachhaltig herauszukommen. Durchfühlen. In der Humanistischen Psychotherapie lädt der Therapeut den Klienten manchmal ein, unterdrückte Gefühle im Erleben zuzulassen, also zu durchfühlen. Durchfühlen bedeutet nicht, im Schmerz zu ertrinken und auch nicht, sich so laut wie möglich auszuagieren, sondern sich dem Abgewehrten zu stellen, zu fühlen, was man vorher nicht zu fühlen gewagt hat, zu denken und zu erinnern, was man nicht zu denken und zu erinnern gewagt hat, und zu tun, was man nicht zu tun gewagt hat – begleitet durch den Therapeuten mit einladendem Ermutigen, stützender Empathie, haltgebendem Strukturieren und dem Aktivieren von Ressourcen.
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Die heilende Kraft des Fühlens. Symptome entstehen durch Abwehr von Fragmentierungsangst. Fragmentierungsangst ist das Resultat einer strukturellen Instabilität des Selbst aufgrund von Beziehungsstörungen oder von Traumata. Wenn der Klient es in Begleitung des haltgebenden Therapeuten wagt, in ungewohnte, vermiedene oder abgewehrte Gefühle oder Zustände hineinzugehen und die Fragmentierungsangst anzunehmen und zu durchfühlen, so kommt er mit seiner primären Vitalität in Kontakt, die vorher in der Abwehr gebunden war. Wenn sich der Klient abgewehrten Gefühlen und Zuständen stellt und sie durchfühlt, so befreit er sich von den Zwängen und Vermeidungen, die zu ihrer Kompensation erforderlich waren und die sein Leid aufrechterhalten haben. Er geht durch eine Phase des akuten psychischen Leids bis hin zum Erleben und Durchfühlen von Fragmentierungsängsten hindurch und befreit sich dadurch mehr und mehr von der Notwendigkeit der Abwehr und damit von seinem chronischen psychischen Leid. Durch das Durchfühlen wird Abgewehrtes im emotionalen Erleben und nicht bloß intellektuell integriert. Dadurch werden die Leid aufrechterhaltenden Abwehrprozesse überflüssig. Der Klient verliert seine Angst vor intensiven Gefühlen und starken körperenergetischen Ladungen. Er spürt, dass es sich dabei um Gefühle und Zustände handelt, nicht um äußere Gefahren, und dass er von ihnen weder zerstört noch beschädigt, sondern gekräftigt und vitalisiert wird.
Eine 46-jährige Klientin leidet unter Schlafstörungen. Sie erwacht am frühen Morgen nach kurzem Schlaf in einem Zustand, „als ob ich taub und bewegungsunfähig bin, wie aus dem Leben gefallen“. Die Schlafstörungen begannen vor drei Wochen, als ihr Mann mit einer anderen Frau an einen Urlaubsort verreiste. Die Klientin sagt: „Wenn ich ihn loslassen würde, habe ich Angst, in eine endlose, unerträgliche Einsamkeit zu fallen. Die Situation auszuhalten, macht mich krank, aber ihn loszulassen – das kann ich mir noch nicht einmal vorstellen.“ Ich lade die Klientin ein, sich „nur hypothetisch“ vorzustellen, sie würde sich von ihrem Mann trennen. Die Klientin fühlt sich in diese Vorstellung hinein und durchlebt Auflösungsängste, die sie intensiv körperlich ausdrückt, während ich sie dabei halte und begleite. Danach sagt sie: „Jetzt bin ich wieder lebendig. Ich fühle mich wieder. Vorher habe ich überhaupt nichts mehr gefühlt.“
»
Zu sterben und wiedergeboren zu werden, ist nicht einfach. Fritz Perls
«
Kathartische Techniken. Die psychotherapeutische Arbeit mit kathartischen Prozessen (von gr. katharsis: Reinigung) ist in den Humanistischen Verfahren umstritten. Die Technik hat in der Geschichte der Psychotherapie einige Wandlungen erfahren. Die Grundidee wurde etwa gleichzeitig von dem französischen Psychiater Pierre Janet und dem jungen Sigmund Freud in der Arbeit vor allem mit hysterischen Klientinnen entwickelt (Ellenberger 1973). Sie basiert auf den jahrtausendealten schamanischen Traditionen der Konfrontation mit dem Schatten durch Erleben abgewehrter Anteile der eigenen Person. Freud fand heraus, dass es seinen Klienten besser ging, wenn sie die hinter ihren Symptomen liegenden, abgewehrten Gefühle und Erinnerungen in voller Intensität durchlebten und aussprachen. Freud stellte sich das als einen Selbstreinigungsprozess der Seele vor, bei dem die Psyche durch emotionalen Ausdruck von den Resten traumatischer Erfahrungen befreit wird. Er nannte diese Technik „Kaminfegen“ (engl. Chimney-Sweeping). Später verwarf Freud die kathartische Technik zugunsten einer interpretativen Aufarbeitung der Verdrängungsprozesse und der Reflexion der Übertragung. Die kathartische Technik wurde später u. a. von Wilhelm Reich und von Arthur Janov wieder aufgegriffen. Meditatives Durchfühlen. Es ist nicht immer erforderlich, abgewehrte Emotionen und Zustände lautstark körperlich auszudrücken. Der Klient kann sich durch sie auch innerlich hindurchfühlen, was nach außen manchmal nur an subtilen Körpersignalen wie einem leichten Zittern, einer Träne, einer Veränderung der Gesichtsfarbe oder der Mimik sichtbar wird. Psychotherapeutisches Durchfühlen kann sehr dezent oder sogar in Trance stattfinden. Wenn bei einem Klienten der körperliche Ausdruck von Gefühlen gehemmt ist, was zu energetischen Stauungszuständen führt, dann ist die Befreiung des expressiven emotionalen Ausdrucks therapeutisch hilfreich. Wenn aber weniger der Ausdruck, sondern vielmehr das Fühlen, also die Tiefenwahrnehmung der eigenen Emotionalität blockiert ist, dann sollte der Fokus der therapeutischen Arbeit auf dem Fühlen liegen (siehe Abb. 13.3).
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Abb. 13.3 Zweierlei Katharsis.
Ein 37-jähriger Klient ist schwer enttäuscht von seinem Schwager, mit dem er gemeinsam seit Jahrzehnten eine kleine Firma leitet: „Er hat mich ausgebootet. Er hat für sich selbst den größten Auftrag geschnappt, den wir jemals bekommen haben und mich dabei einfach zur Seite gedrängt.“ Der Klient ist sichtlich erschüttert, er wirkt grau und eingefallen und starrt lange bewegungslos vor sich hin. Ich bitte ihn, die Augen zu schließen, in sein Inneres hineinzuspüren, seinen Atem fließen zu lassen und Kontakt zu den Gefühlen aufzunehmen, die er spürt, wenn er an seinen Schwager denkt. Nach einigen Minuten sehe ich ein leichtes Zittern eines Mundwinkels des Klienten. Einige Minuten später rinnt eine kleine Träne aus seinem Augenwinkel. Er sieht sehr traurig aus. Er weint auf eine stille Weise. Nach ca. zehn Minuten öffnet er die Augen. Er wirkt erleichtert und sagt: „Ich wusste gar nicht, dass ich das noch kann. Ich habe so viele Jahre lang nicht mehr geweint. Es fühlt sich ganz weich an.“
Primäre Energien. Unter den Abwehrprozessen kommt der Klient in Kontakt mit den in der Abwehr gefangenen primären Energien, die ihn mit Kraft und Vitalität durchströmen, während er vorher durch Angst, Schwäche und Taubheit paralysiert war. Der Klient lernt, intensive körperenergetische Ladungen durch sich hindurch strömen zu lassen und ggf. ritualisiert zu entladen, was ihn von chronischen Spannungen und Blockierungen befreien kann. Wenn der Klient mit Hilfe seiner Ressourcen die Wandlung seiner Identität im Feuer der Desintegrationsängste zulassen kann, kommt es zu einer Transformation seiner Emotionen. Das Erleben primärer Energien nimmt dem Klienten die Angst vor seinen Gefühlen. Der Klient lernt, seine authentischen Gefühle zuzulassen, in geschützter Umgebung unmittelbar auszudrücken und im alltäglichen Sozialkontext angemessen mitzuteilen, statt sie
immerfort abwehren oder ausagieren zu müssen (siehe Abb. 13.4). Durchfühlen in vivo. Das Durchfühlen abgewehrter Emotionen kann in vitro geschehen, also in der Vorstellung, unterstützt durch erlebnisaktivierende Verfahren, aber auch in vivo, d. h. durch Konfrontation mit einer beängstigenden oder vermiedenen Erfahrung, entweder im Gruppensetting oder in der Alltagsrealität.
Ein 38-jähriger Klient, Leiter eines Handwerksbetriebes, reagiert mit panischen Ängsten, sobald er das Stadtgebiet von Berlin verlässt. Ich fahre mit ihm an den Stadtrand zu einem Ortsausgangsschild. Einige Meter vor dem Schild bleiben wir stehen. Der Klient zeigt Anzeichen massiver Angst. Ich bestärke ihn, die Angst zu ertragen, so lange, bis sie von selbst abklingt. Am nächsten Tag fahren wir an derselben Stelle etwa zwanzigmal an dem Ortsausgangsschild vorbei, einige Meter aus dem Stadtgebiet heraus und dann wieder zurück. Wieder zeigt der Klient starke Angstreaktionen, die nach kurzer Zeit abklingen. Am folgenden Tag fahren wir einige Kilometer aus dem Stadtgebiet heraus ins Umland, was der Klient bereits tolerieren kann. Nach einer Woche fahren wir einige Kilometer aus dem Stadtgebiet heraus. Ich bitte den Klienten, mir sein Handy zu geben und auszusteigen. Ich verabrede mit dem Klienten, dass er „auf irgendeine Weise“ eine Stunde später wieder in der Praxis eintreffen soll und fahre mit dem Auto zurück. Bei jedem dieser Schritte reagiert der Klient zunächst mit massiven Angstgefühlen, die aber nach kurzer Zeit abklingen, sodass wir den nächsten Schritt gehen können. Nach einem halben Jahr erhalte ich eine E-Mail von dem Klienten, in der er mir mitteilt, dass er inzwischen mit seiner Familie mit dem Auto über 3000 Kilometer durch Europa gefahren sei. Verhaltenstherapeutisch gesprochen handelte es sich um eine Reizüberflutungstherapie
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Abb. 13.4 Primäre Energien unter der Abwehr.
(Flooding). Aus der Humanistischen Perspektive ist es eine Aufforderung an den Klienten, sich seiner Angst zu stellen, sie zu durchfühlen, dadurch die Angst vor der Angst zu verlieren, um Wahlfreiheit zu gewinnen.
Primärtherapie. Die Theorie und Methodik der Primärtherapie ist unter Humanistischen Psychotherapeuten umstritten. Sie wurde von dem amerikanischen Psychologen und Psychotherapeuten Arthur Janov (*1924) begründet und erstmals in seinem 1970 erschienenen Buch „Der Urschrei“ beschrieben. Janov untersuchte die Folgen von Bindungstraumata in der frühen Kindheit und entwickelte das Konzept des Urschmerzes (engl. primal pain), der nach seiner Auffassung die Basis aller psychischen Störungen ist. Nach Janov entstehen psychische Störungen durch Verdrängung eines prall gefüllten „Urschmerzbehälters“, der sich aufgrund von Frustration von Primärbedürfnissen in der frühen Kindheit herausbildet. Er entwickelte eine Technik, um den Urschmerz zu aktivieren, zu durchfühlen und zu entladen, wodurch nach seiner Meinung die Abwehr desselben und damit alle psychischen Störungen aufgelöst würden. In den 70erJahren legte Janov den Schwerpunkt seiner Arbeit auf das körperlich-stimmliche Ausagieren der „Urschmerzen“, daher der spektakuläre Name
„Urschrei-Therapie“. Die Technik entwickelte sich vorübergehend zu einem Modeverfahren, dem sich viele Prominente (z. B. John Lennon) unterzogen. Sie wurde zu einem Kernbestandteil des HoffmannQuadrinity-Prozesses (Hoffmann 1994) und wird unter verschiedenen Bezeichnungen heute vor allem von den Anhängern der Rajneesh-Sekte praktiziert. Kritik. In den 1960er- und 70er-Jahren legte Janov den Schwerpunkt seiner Arbeit auf das Ausagieren unterdrückter Emotionen, was für psychisch stabile Klienten mit unterdrückten Gefühlen eine befreiende Erfahrung war, bei Klienten mit fragiler Selbststruktur jedoch zu einer verstärkten Destabilisierung führte, weil ihr Bedürfnis, in der Therapie Struktur, Halt und Grenzen zu finden, vernachlässigt wurde. Janov korrigierte später (1993) teilweise seine Position und legte den Fokus mehr auf das Fühlen als auf den Ausdruck. Kritisiert wird darüber hinaus Janovs naives Konzept des „postprimären Menschen“, also seine Idee, dass nach einer einmaligen, relativ kurzfristigen Primärtherapie von einigen Monaten Dauer sämtliche psychischen und psychosomatischen Störungen ein für alle Mal aufgelöst seien – was nicht den tatsächlichen Erfahrungen entspricht. Kritisiert werden auch seine vereinfachten Konzepte und Techniken, das Fehlen einer angemessen kognitiven Aufarbeitung der „Primärerlebnisse“, das
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unkritische Übernehmen der in der Katharsis erlebten Fantasien als reale biografische Erinnerungen, die Arbeit mit invasiven und restriktiven Techniken (z. B. Isolation), die mangelnde Absicherungen des
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Therapieprozesses gegen Retraumatisierung und gegen mögliche psychotische oder suizidale Entgleisungen sowie die Arbeit mit gewaltsamen körperlichen Interventionen (Goldner 2000).
Psychodynamische Konfrontation
Die „Negative“ Übertragung. Von Wilhelm Reich stammt die Idee, aktiv die „negative Übertragung“ des Klienten auf den Therapeuten zu erkunden, weil unter oberflächlich „positiven“ Gefühlen des Klienten dem Therapeuten gegenüber oft aversive Emotionen wie Angst, Wut, Verachtung, Abscheu oder Frustration verborgen sind, die u. a. als Ausdruck der Primärdynamik des Klienten verstanden werden können. Diese Gefühle werden gern von Klient und Therapeut gemeinsam vermieden oder ausgeblendet, weil sie die Stabilität der therapeutischen Beziehung in Frage zu stellen scheinen. Reich jedoch forderte oft zu Beginn der Sitzung seine Klienten aktiv auf, ihn, Reich, zu beschreiben und besonders alle „negativen“ Gefühle und Gedanken auszudrücken, die dem Klienten zu seiner Person einfielen. Konfrontation mit der Abwehr. Auf Basis einer stabilen therapeutischen Kooperationsbeziehung und unter der Voraussetzung, dass der Klient genügend Ich-Stärke zur Verfügung hat, kann der Therapeut ihn direkt mit seinen Abwehrprozessen konfrontieren. Der Therapeut kann den Klienten z. B. unmittelbar darauf hinweisen, wie der Klient Kontakt (und angemessene Abgrenzung) zu seinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen, zum Therapeuten oder zu anderen Menschen vermeidet oder verzerrt. Er kann den Klienten mit dessen Neigungen zu Intellektualisieren, zu Smalltalk, zu Projektionen oder zu emotionalem Sich-Betäuben konfrontieren, um diese Abwehrprozesse ins Gewahrsein des Klienten zu bringen. Das erschwert es dem Klienten, sich weiterhin in den Grenzen seiner Kontaktverzerrungen zu bewegen. Er wird sich seiner Abwehrprozesse und damit auch des Abgewehrten und seiner Angst davor bewusst und spürt die Auseinandersetzung zwischen Bewusstwerdung und Abwehr in seinem Inneren unmittelbar, was bisweilen heftige Abwehraffekte (z. B. Angst, Scham oder Wut) auslösen kann. Konfrontative psychodynamische Kurzzeittherapie. Die intensive psychodynamische Kurzthera-
pie wurde von dem in Teheran/Iran geborenen, US-amerikanischen Psychiatrieprofessor Habib Davanloo aus der Psychoanalyse heraus entwickelt (Davanloo 1978, 2006). Aufgrund von Videoanalysen von psychodynamischen TherapeutKlient-Interaktionen entwickelte Davanloo ein präzise strukturiertes Vorgehen, um verdrängte Gefühle wie Wut, Schuld, Trauer oder Schmerz Schicht für Schicht freizulegen und der weiteren therapeutischen Arbeit zugänglich zu machen (siehe Abb. 13.5). Der Kern der Technik besteht darin, dass der Klient auf fokussierte Weise mit seinen Widerständen gegen das unmittelbare Fühlen im Übertragungskontakt mit dem Therapeuten konfrontiert wird sowie mit dem Widerspruch zwischen dem, was er eigentlich möchte und dem, was er tatsächlich tut. Wenn der Klient, motiviert durch den haltgebenden Therapeuten, emotionale Nähe in der Übertragung zulässt, kommt die alte Dynamik unmittelbar im Erleben ins Bewusstsein, verwandelt sich in Bilder und kann verstanden, verarbeitet und integriert werden. Es handelt sich bei der Davanloo-Technik um eine psychodynamische Arbeitsweise, aber weder um klassische Psychoanalyse, weil sich der Therapeut sehr aktiv, fokussiert und konfrontativ verhält, noch um klassische Tiefenpsychologie, weil der Therapeut das unmittelbare Spüren der Übertragungsgefühle aktiv herausfordert und intensiviert.
Eine 49-jährige Klientin berichtet über ihre Tendenz, im Kontakt mit anderen Menschen „zu verschwinden“ und „sich unsichtbar zu machen“. Sie sagt: „Ich möchte gerne Kontakt mit anderen Menschen haben, aber ich schaffe es einfach nicht.“ Während sie darüber spricht, vermeidet sie es, mich direkt anzuschauen und schaut stets mindestens einen Meter an mir vorbei. Ich sage zu ihr: „Du möchtest Kontakt zu anderen Menschen haben, aber du schaust mich nicht an.“ Sie sagt: „Ja, ich weiß, ich kann das nicht.“ Ich konfrontiere sie mit dem Widerspruch zwischen
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Abb. 13.5 Intensive psychodynamische Kurzzeittherapie.
dem, was sie will und dem, was sie tut: „Wenn du Kontakt möchtest, wie soll das gehen, wenn du Blickkontakt praktisch vollkommen vermeidest?“ Die Klientin versucht nun, Blickkontakt zu mir herzustellen und sagt: „Ich habe Angst“. Ich frage sie: „Wenn du mich anschaust, was fühlst du … und welche Impulse spürst du?“ Nach einer Weile spricht die Klientin von überwältigenden Schamgefühlen, dann von massiven Hassgefühlen, schließlich von beängstigenden Verschmelzungsfantasien. Durch direkte Konfrontation mit ihrer Vermeidung von Blickkontakt war es relativ schnell möglich, äußere Abwehrschichten zu durchdringen und Zugang zu tieferen Ebenen zu finden. Diese werden in der weiteren Therapie bearbeitet.
Übertragungsgefühle spüren. In der Intensiven psychodynamischen Kurztherapie weist der Therapeut den Klienten auf alle Verhaltensweisen hin, die dazu dienen, das unmittelbare Fühlen im Kontakt mit dem Therapeuten zu vermeiden, zum Beispiel Kontakt vermeiden, Darüberweg-Reden,
Schönreden, Verschwommenheit, Ausweichen, Intellektualisieren, Verschweigen, Projizieren, Dissoziieren, Trotzen, Erstarren, Überemotionalisieren, Erotisieren, Agieren oder Provozieren. Wenn der Klient nonverbal Emotionen zeigt, aber nicht ausspricht, verbalisiert der Therapeut den nonverbalen Ausdruck des Klienten. Die fokussierte und konsequent beibehaltende Aufforderung, die Übertragungsgefühle im Kontakt zum Therapeuten zu spüren und in Worte zu fassen, intensiviert zunächst die Abwehr. Der Klient mobilisiert verstärkt die Abwehrformen, die er auch im Alltag benutzt, um seine Ängste unter Kontrolle zu bringen. Der Therapeut fordert die Abwehrformen heraus, indem er sie präzise und detailliert beschreibt.
Eine 23-jährige Klientin sagt: „Ich fühle mich nicht besonders gut.“ Ich antworte: „Du sagst, du fühlst dich nicht besonders gut. Das ist sehr vage. Dabei presst du die Lippen zusammen und ziehst die Schultern hoch. Du vermeidest, deine Gefühle zu
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Verfahren und Techniken
zeigen.“ Klientin: „Das kann schon sein.“ Ich: „Ist es so oder ist es nicht so?“ Ich konfrontiere die Klientin mit ihren Ausweichversuchen, in diesem Fall mit körperlicher Anspannung und einer vagen Art, sich auszudrücken. Später in derselben Sitzung sagt die Klientin: „Ich möchte frei sein.“ Wieder konfrontiere ich sie mit einer Inkongruenz zwischen ihrem verbalen und ihrem nonverbalen Ausdruck: „Du sagst, du möchtest frei sein, aber du ziehst den Kopf ein und verkrampfst deine Arme.“ Sie sieht sehr traurig aus. Ich frage: „Bist du den Tränen nahe?“ Ich fordere sie konsequent auf, im Kontakt mit mir ihre Gefühle zuzulassen.
Durchbruch zum Unbewussten. Davanloo betont, dass es wichtig sei, dass der Therapeut nicht biografisch deutet, bevor die abgewehrten Emotionen für den Klienten spürbar werden, weil sonst der therapeutische Prozess leicht zu einer intellektuellen Gedankenspielerei würde. Die Herausforderung der Abwehr geschieht in der Intensiven psychodynamischen Kurztherapie dadurch, dass der Therapeut unter Appell an das Arbeitsbündnis den Klienten auffordert, das Fühlen seiner Emotionen in der Übertragung zum Therapeuten in vollem Umfang zuzulassen und seine Abwehr dagegen aufzugeben. Wenn der Klient Nähe in der Übertragung zulässt, bricht die Abwehr vorübergehend
zusammen, die primären Gefühle werden spürbar und sichtbar, und verdrängte Erinnerungen werden zugänglich („Durchbruch zum Unbewussten“) und die primären Beziehungsstörungen und Traumata können durchgearbeitet werden. „Frontalzusammenstoß“ mit der Abwehr. Das Kernstück der Davanloo-Technik besteht darin, dass der Therapeut einen „Frontalzusammenstoß mit der Abwehr“ (Davanloo) hervorruft, also eine direkte Konfrontation zwischen dem Wunsch des Klienten nach therapeutischem Fortschritt und seinen Abwehrprozessen. Dadurch entsteht meist zuerst Ärger, dann Angst dem Therapeuten gegenüber, dann werden die abgewehrten Gefühle unmittelbar dem Therapeuten gegenüber spürbar. Voraussetzungen. Die Anwendung der DavanlooTechnik setzt voraus, dass der Therapeut seine entschlossene Anteilnahme und Bereitschaft zu helfen, deutlich signalisiert, damit der Klient nicht sich selbst als Person angegriffen fühlt, sondern spürt, dass es seine Leid aufrechterhaltenden Abwehrprozesse sind, die herausgefordert und in Frage gestellt werden. Dafür muss der Therapeut mit intensiven, ambivalenten, archaischen und destruktiven Emotionen des Klienten (und seiner entsprechenden Gegenübertragung) umgehen können, ohne sie ausagieren und ohne sie abwehren zu müssen.
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Weitere Techniken
Gruppendynamik
Gruppentherapie. Eine Humanistische Psychotherapiegruppe kann dem Gruppenteilnehmer als Spiegel und Resonanzboden für seine inneren Dynamiken dienen. Unweigerlich entstehen in einer Gruppe Übertragungen auf die anderen Gruppenteilnehmer, auf die Gruppe als Ganzes und auf den Leiter. Für den einzelnen Gruppenteilnehmer kann jedes Gruppenmitglied einen anderen Aspekt seines Innenlebens repräsentieren. Die Gruppenhierarchien, die Dominanzverteilung, die Rangfolgen bezüglich Präsenz und Attraktivität sowie die inneren und äußeren Konflikte der Teilnehmer sind unerschöpfliche Quellen für die therapeutische Arbeit in einer Therapiegruppe. Die Teilnehmer können abgewehrte Anteile ihres Unbewussten in andere Teilnehmer oder den Gruppenprozess projizieren. Es kristallisieren sich Rollen und Funktionen heraus, wie zum Beispiel „der Anführer“, „der Rebell“, „die Lieblingstochter“, „der Königsmacher“, „das schwarze Schaf“, „der Schweiger“, „der Sündenbock“, „der Kronprinz“ oder „das Gruppenbaby“. Innerhalb der Gruppe entstehen Freundschaften, Liebschaften, Feindschaften, Komplotte, Distanzierungen und Fraktionierungen. Der Gruppenprozess selbst kann Themen, neue Betrachtungsweisen, Arbeitsmethoden oder organisatorische Strukturen hervorbringen, die vom Leiter unterstützt, herausgearbeitet, reflektiert, stabilisiert oder in Frage gestellt werden können. Gruppensoziogramme. In Therapiegruppen ist die Reflexion und Nutzung der Gruppendynamik ein wesentlicher Aspekt der psychotherapeutischen Arbeit. Der Gruppenleiter kann die Beziehungsdynamik innerhalb der Gruppe in den Fokus der
Aufmerksamkeit der Teilnehmer rücken, wenn innerhalb der Gruppe Beziehungsverstrickungen entstanden sind, oder weil er die Fähigkeit der Gruppenteilnehmer fördern möchte, sich selbst in einer Gruppe oder die Dynamik der Gruppe zu erkennen und zu reflektieren. Zu diesem Zweck können die von Moreno (1959) entwickelten Gruppensoziogramme verwendet werden.
Eine Gemeinschaftspraxis von drei Fachärzten mit insgesamt zehn Helferinnen vereinbart mit mir ein gemeinsames Coaching-Wochenende, um latente Konflikte innerhalb der Teams zu bearbeiten und die Beziehungen zueinander zu verbessern. Zu Beginn bitte ich alle Teilnehmer/innen, auf einem Blatt Papier für jedes Mitglied des Praxisteams einen Kreis zu malen und die wichtigsten Bindungen und Divergenzen zwischen den einzelnen Mitgliedern durch verschiedenfarbige Linien und Pfeile einzutragen. Die Einzelbilder werden in Kleingruppen ausgewertet und auf ein großes Schaubild an der Wand übertragen. Auf diese Weise werden offensichtliche und unterschwellige Bündnisse, Divergenzen und Konflikte innerhalb des Teams schnell deutlich und können thematisiert werden.
Nutzen. Eine Therapiegruppe kann Teilnehmern mit fragilen Ich-Grenzen Halt geben. Manche Teilnehmer machen in der Therapiegruppe zum ersten Mal in ihrem Leben eine positive Gruppenerfahrung. Für manche Gruppenteilnehmer ist die Therapiegruppe eine Art Nest, in dem sie stärkende Erfahrungen von emotionaler Geborgenheit und Eingebundensein machen können. Gruppenteilnehmer, in deren
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Verfahren und Techniken
Herkunftsfamilie eine Atmosphäre von emotionaler Kälte, Unzugänglichkeit, Konfliktvermeidung oder Beziehungschaos geherrscht hat, können in einer Therapiegruppe erleben, wie sich Menschen respektvoll aufeinander beziehen, und wie Konflikte konstruktiv gelöst werden können, oder wie eine Gruppe auf kooperative Weise und mit klaren Strukturen und Grenzen geleitet wird, sodass sich emotionale Offenheit herstellt. Die Therapiegruppe ist für die Teilnehmer ein geschützter Experimentierraum, in dem sie neue Verhaltensweisen erproben oder emotionale Freiräume erleben können, die sie im alltäglichen Leben in der Regel nicht vorfinden. Wenn ein Therapiegruppenteilnehmer ein Thema in die Gruppe einbringt und bearbeitet, so fungiert die Gruppe als Resonanzboden für die Emotionen des Protagonisten. Der Protagonist erlebt die Gruppenresonanz wie einen Vergrößerungsspiegel, der ihm seine eigene Befindlichkeit, seine Abwehrprozesse und seine abgewehrten Anteile spiegelt. Die Herausfordernde Gruppe. Eine Therapiegruppe kann die Beziehungs-Vermeidungs-Muster eines Teilnehmers auf bisweilen recht konfrontative Weise benennen und herausfordern. Die Gruppenkonfrontation muss vom Leiter gesteuert, manchmal gedämpft oder gar unterbunden, manchmal eingeladen und angeregt werden. In ungeleiteten Gruppen kann es leicht passieren, dass Teilnehmer, die sich nicht angemessen schützen können und dazu neigen, andere gegen sich aufzubringen, destruktive Attacken der anderen Gruppenteilnehmer erleben. Eine andere, ebenso wenig produktive Variante in ungeleiteten Gruppen ist die Vermeidung aller Konflikte, wodurch eine scheinbare Harmonie entsteht, die aber eher eine Friedhofsruhe ist. Eine wichtige Aufgabe des Gruppenleiters ist es daher, die Teilnehmer zu ermutigen und anzuleiten, sich auf konstruktive Weise mit sich selbst und miteinander auseinanderzusetzen. Eine 31-jährige Teilnehmerin eines Selbsterfahrungsworkshops spricht über ihre ambivalente Beziehung zu einem anwesenden anderen Gruppenteilnehmer. Sie spricht dabei in den leeren Raum hinein und spricht den betreffenden Teilnehmer nicht direkt an. Ich sage zu ihr: „Kannst du das noch mal zu XY (dem anderen Gruppenteilnehmer) direkt sagen und ihn dabei anschauen.“ Ich fordere sie also auf, sich mit ihrem Gegenüber direkt auseinanderzusetzen, also mit ihm statt über ihn zu sprechen.
Wenn ein Teilnehmer seine Selbstgrenzen öffnet oder sich in einem wehrlosen Zustand befindet, muss der Leiter ihn vor Angriffen oder Übergriffen anderer Gruppenteilnehmer schützen. Die bestärkende Gruppe. Positive, bestärkende Feedbacks von Gruppenteilnehmern können die Ich-Stabilität und das Kompetenzgefühl der Teilnehmer kräftigen.
Ein 56-jähriger Therapiegruppenteilnehmer berichtet, dass er sich schämt, weil es ihm nicht gelingt, sich seiner Frau gegenüber im Konflikt zu behaupten. Nachdem er dieses Thema in der Gruppe angesprochen hat, teilen ihm mehrere Gruppenteilnehmer mit, dass sie es mutig von ihm finden, sich in seiner Konfliktscheu und seiner Scham zu zeigen. Dieses Feedback bestärkt sein Selbstwertgefühl und kräftigt ihn auch in seiner emotionalen Auseinandersetzung mit seiner Frau.
Strukturierte Runden. Der Gruppenleiter kann die Teilnehmer zu strukturierten Runden einladen. Beispielsweise kann er die Teilnehmer bitten, reihum etwas zu ihrer Befindlichkeit, zu einer bestimmten Frage oder einem bestimmten Thema zu sagen.
Zu Beginn einer abendlichen Gruppensitzung nach einem Gruppenwochenende führe ich die Teilnehmer in eine leichte Trance und aktiviere darin ihre Erinnerungen an das Gruppenwochenende. Danach bitte ich sie, in Worte zu fassen, was sie an dem Gruppenwochenende erlebt und gelernt haben, das sie für ihr weiteres Leben nützlich finden und weiter entwickeln möchten. Das hilft den Gruppenteilnehmern, die am Wochenende entwickelten Ressourcen in ihr Alltagsleben zu integrieren.
Blitzlicht. Ein Blitzlicht ist eine in Gruppen häufig angewandte Technik, um die Gruppenteilnehmer zu ermutigen, ihre aktuelle Befindlichkeit wahrzunehmen, auszudrücken und sich gefühlsmäßig in den Gruppenprozess einzubringen. Das Blitzlicht besteht darin, dass jeder Gruppenteilnehmer kurz einige Worte dazu sagt, wie es ihm gerade geht.
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Zu Beginn einer Gruppensupervisionssitzung bitte ich die anwesenden Kollegen, mit zwei Worten auszudrücken, wie es ihnen gerade geht. Ein Teilnehmer sagt zum Beispiel: „Angespannt – neugierig“. Eine andere Teilnehmerin sagt: „Erschöpft – nervös“.
Kleingruppenarbeit. In der Arbeit mit Gruppen können auf unterschiedliche Weise Unter- oder Kleingruppenarbeiten durchgeführt werden. So kann es zum Beispiel in gewissen Phasen des Gruppenprozesses hilfreich sein, wenn die Frauen und die Männer der Gruppe sich getrennt (z. B. in zwei Ecken des Therapieraums oder in verschiedenen Räumen) in Untergruppen zusammenfinden und spezielle Themen besprechen oder Übungen miteinander durchführen.
Eine 48-jährige Therapiegruppenteilnehmerin berichtet voller Scham erstmals von einem langjährigen sexuellen Missbrauch durch ihren Vater. Bevor sie beginnt, über Einzelheiten der damaligen Vorgänge zu sprechen, bittet sie die männlichen Gruppenteilnehmer, vorübergehend den Raum zu verlassen: „Seid mir bitte nicht böse, aber ich traue mich sonst nicht, das zu erzählen. Es ist mir einfach zu peinlich.“ Die Männer der Gruppe reagieren verständnisvoll und verlassen den Gruppenraum. Die Teilnehmerin erzählt unter vielen Tränen, gehalten von den weiblichen Teilnehmern, was damals passiert ist. Die männlichen Gruppenteilnehmer sitzen inzwischen in einem anderen Raum des Tagungshauses zusam-
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men und besprechen ihre emotionale Resonanz auf das Thema und auf das Hinausgeschickt-Werden. Nach etwa einer halben Stunde sagt die Teilnehmerin: „Ich glaube, jetzt können die Männer wieder hereinkommen.“ Ich hole die Männer herein, und sie äußern ihr Verständnis für den Begrenzungswunsch der Teilnehmerin.
Kleingruppenübungen. In Kleingruppen unterschiedlicher Größe können auch Übungen oder Rituale durchgeführt werden.
In einem Fortbildungswochenende zum Thema „Konflikte klären“ lade ich die Teilnehmer ein, sich in Dreiergruppen aufzuteilen. Die Kleingruppen verteilen sich auf unterschiedliche Räume des Seminarhauses. Nacheinander solle sich einer der drei Mitglieder der Kleingruppe in die Mitte setzen, vor sich ein Kissen und sich auf diesem Kissen eine Person vorstellen, mit der er einen ungelösten Konflikt hat. Nachdem er diese Person und den Konflikt beschrieben hat, solle sich das zweite Mitglied der Kleingruppe auf das Kissen setzen und sich in diese Person hineinspüren. Das dritte Mitglied der Kleingruppe solle sich hinter den Protagonisten positionieren und ihm helfen, sich (anhand einer vorher vermittelten, konstruktiven Kommunikationsstruktur) mit seinem Kontrahenten auseinanderzusetzen. Die Übung dauert pro Person etwa eine Stunde. Ich gehe von Raum zu Raum und unterstütze die Kleingruppen in der Durchführung des strukturierten Konfliktrituals.
Musik und Tanz
Musikinstrumente. In der Humanistischen Psychotherapie werden manchmal einfache Musikinstrumente benutzt, mit denen sich die Klienten nonverbal ausdrücken können. Ich benutze zu diesem Zweck große Ölfässer aus Metall und aus Plastik, Rundhölzer, Gongs in verschiedenen Größen, Rasseln, Trommeln, einfache Schlag- und Rhythmusinstrumente, das Schlagen von Rhythmen mit dem Körper (Body-Percussion) oder mit und auf Alltagsgegenstände (Tisch, Boden, Löffel, Töpfe etc.). Der Ausdruck mit Musikinstrumenten bringt ein kreatives, vitales Element in den Therapieprozess ein. Die Technik ist besonders
dann hilfreich, wenn ein Klient seine Empfindungen durch Worte zunächst nicht ausdrücken kann, weil er das nicht gewohnt ist oder weil die Empfindungen aus der frühen, präverbalen Zeit stammen. Eine Möglichkeit der Arbeit mit Instrumenten in Gruppen besteht darin, dass die Teilnehmer der Gruppe den Protagonisten in der Mitte durch Rhythmusinstrumente verstärkend unterstützen.
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Verfahren und Techniken
Eine 25-jährige Gruppenteilnehmerin steht in der Mitte der Therapiegruppe, ihr gegenüber steht ein anderer Gruppenteilnehmer, der ihren Freund spielt, mit dem sie gerade eine Beziehungskrise hat. Sie wirkt gehemmt, zurückhaltend und vermeidend. Die anderen Gruppenteilnehmer haben diverse Rhythmusinstrumente in der Hand und drücken ihre Wahrnehmung von der Zögerlichkeit der Protagonistin mit den Instrumenten aus. Es entstehen leise, zurückhaltende, diffuse, unrhythmische Klänge. Nach einer Weile traut sich die Protagonistin, ihre Gefühle und Standpunkte deutlicher und präziser zum Ausdruck zu bringen. Die Gruppenteilnehmer unterstützen sie mit kräftigen und rhythmischen Klängen. Durch das akustische Feedback wird die Teilnehmerin darin bestärkt, sich in dem Konflikt angemessen zu behaupten.
Tanztherapie. Die Tanztherapie verwendet tänzerischen Ausdruck und rhythmische Bewegung im psychotherapeutischen Prozess als Medium zur psychophysischen Integration. Ziel der Tanztherapie ist die Förderung der Fähigkeit, inneres Erleben in Bewegungen umzuwandeln, um den Kontakt zu sich selbst und zu anderen zu intensivieren, Kommunikation differenzierter zu gestalten, sich authentisch durch Bewegung auszudrücken und sich und andere besser leiblich wahrzunehmen. Tanztherapie wird angewendet, um die Körperselbsterfahrung zu stärken, Energie zu mobilisieren, Ausdrucksbewegungen zu ermutigen, Aggression zu ritualisieren, den körperenergetischen Fluss zu harmonisieren oder Integrationsprozesse zu fördern (Trautmann-Voigt 2006, Siegel et al. 1999). Ursprung. Der Ursprung der Tanztherapie liegt in den tänzerischen Traditionen und Ritualen der Völker und ist so alt wie die menschliche Kultur. Die psychotherapeutische Anwendung von Tanztechniken geht insbesondere zurück auf Rudolf von Laban (1879– 1958), Isadora Duncan (1877–1927) und Mary Wigman (1886–1973). TaKeTiNa. TaKeTiNa ist eine stark strukturierte Form von Rhythmusarbeit, die von Rainer Flatischler (*1950) entwickelt wurde. TaKeTiNa ist ein Kunstwort; es bezeichnet einen Viererrhythmus, der mit den Füßen, mit den Händen, mit der Stimme oder mit Instrumenten ausgedrückt und
auf vielerlei Weise variiert werden kann. Daneben gibt es weitere Grundrhythmen, die kombiniert, überlagert, abgewechselt und variiert werden können. Aus einfachen Grundformen entsteht ein komplexes Rhythmussystem, das sich psychotherapeutisch sowohl zur Körperselbsterfahrung als auch zur Erzeugung von rhythmischen Trancezuständen eignet (Flatischler 1984). Bewegungsmeditationen. Eine spezielle Form der Bewegungs- und Ausdrucksarbeit zu Musik, vor allem in Gruppen, sind die dynamischen Bewegungsmeditationen, die von dem umstrittenen Guru Mahondas Rajneesh (1931–1990, genannt Bhagwan, später Osho) entwickelt wurden. Sie werden auch von Humanistischen Psychotherapeuten verwendet, die mit der Philosophie, dem Personenkult sowie den problematischen psychotherapeutischen, ökonomischen, politischen und pädagogischen Methoden der Rajneesh-Organisation nichts zu tun haben. Prinzip. Dynamische Bewegungsmeditat ionen haben das Ziel, die Teilnehmer auf rituelle Weise durch einen Ausdrucks-, Entladungs- und Selbstreinigungsprozess zu führen, damit sie im Anschluss in meditative Stille eintauchen können. Grundidee ist, dass westliche Menschen so sehr involviert sind in alltäglichen Stress, in abgehobene Gedankenwelten und dauernden sensorischen Input, dass sie zu Meditation in Stille nur schwer direkt Zugang finden. Daher werden die Teilnehmer angeleitet, körperliche Verkrampfungen, festgehaltene Emotionen und zurückgehaltene Bewegungen, unterstützt durch rhythmische Musik intensiv auszudrücken, damit sie sich danach leichter und tiefer in innere Stille und Meditation versenken können (Rajneesh 2003). Kundalini-Meditation. Die bekannteste der von Rajneesh entwickelten Bewegungstechniken wird als Kundalini-Meditation bezeichnet. KundaliniMeditation wird angewandt, um Stress zu lösen, das psychosomatische System von Spannungen zu befreien und einen angenehmen Fluss der Lebensenergie zu fördern. Sie besteht aus vier Phasen, die jeweils 15 Minuten dauern: 1. In der ersten Phase schütteln die Teilnehmer, begleitet von rhythmischer Musik, ihren ganzen Körper kräftig, wodurch Muskelspannungen gelöst werden, ähnlich wie durch eine mobilisierende Muskelmassage.
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2. In der zweiten Phase bewegen sich die Teilnehmer im Rhythmus der Musik nach ihren spontanen Impulsen in tänzerischen Bewegungsimprovisationen. 3. In der dritten Phase sitzen oder liegen die Teilnehmer und hören einer ruhiger werdenden Musik zu. 4. In der vierten Phase herrscht Stille, und die Teilnehmer können sich sitzend oder liegend in ihr Inneres versenken. Chakra-Atmen. Eine weitere von Rajneesh entwickelte Form der Bewegungsmeditation wird als Chakra-Atmen bezeichnet. Auch sie besteht aus vier Phasen, wobei die ersten drei Phasen gleich sind. Begleitet von schneller, rhythmischer Musik bewegen die Teilnehmer nacheinander sieben sogenannte Chakren im Körper. Mit dem Begriff Chakra (von Sanskrit cakra: Rad) werden im tantrischen Hinduismus, im tibetischen Buddhismus, im Yoga, in der Traditionellen Chinesischen Medizin und in einigen esoterischen Lehren postulierte Energiezentren im Körper bezeichnet. Die Chakren befinden sich in der senkrechten Mittelachse des Körpers (siehe Abb. 14.1). Die verschiedenen Lehren variieren bezüglich der Anzahl und der genauen Lokalisation der Chakren. Beim ChakraAtmen werden schnelle und kräftige Bewegungen der Chakren begleitet von tiefem und schnellem Atmen. Die aufkommenden Empfindungen werden körperlich und stimmlich ausgedrückt. Die Übung wird als energetisches Durchspültwerden und innere Reinigung erlebt, was den Teilnehmern in der letzten 15-minütigen Phase („stille Meditation“) ermöglicht, in wohlige Empfindungen des Strömens und Getragenseins einzutauchen. Das Chakra-Atmen ist in seiner Wirkung der Kundalini-Meditation vergleichbar, wirkt aber kräftiger und emotional provozierender. Dynamische Meditation. Die Dynamische Meditation (Rajneesh 2003) besteht aus einer Abfolge von fünf zehnminütigen Phasen, in denen die Teilnehmer ihre Körperdynamik heftig aufrütteln und sich ausagieren, um anschließend in Stille zu verharren. 1. In der ersten Phase atmen die Teilnehmer tief und schnell durch die Nase ein und aus und lassen dabei beliebige Körperbewegungen zu, um sich körperenergetisch aufzuladen. 2. In der zweiten Phase drücken die Teilnehmer aufgestaute und aufgeladene Gefühle aus. Sie
schreien, rufen, weinen, springen, schütteln sich, tanzen, singen, lachen oder werfen sich hin und her. 3. In der dritten Phase heben die Teilnehmer beide Arme hoch, springen auf der Stelle und rufen laut „Hu! Hu! Hu!“ 4. In der vierten Phase erstarren die Teilnehmer auf der Stelle, in der Position, in der sie sich gerade befinden und beobachten alles, was passiert. 5. In der fünften Phase „feiern“ die Teilnehmer und drücken tanzend aus, was immer da ist. Bodyflow. Von dem ebenfalls umstrittenen Rajneesh-Adepten Michael Barnett (*1930) wurde, angelehnt an eine alte Sufiübung, genannt „Latihan“, unter der Bezeichnung Bodyflow eine weitere Technik der Bewegungsmeditation entwickelt. Es handelt sich um eine Bewegungstrance ohne Musik, bei der die Teilnehmer 45 Minuten lang ihren spontanen Bewegungsimpulsen folgen, wobei vielfältige Bewegungsimprovisationen entstehen (Barnett 1987).
Abb. 14.1 Die Lage der sieben Haupt-Energiezentren im Körper – abgeleitet aus der Yoga-Tradition.
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Verfahren und Techniken
Sufi-Tanz-Körperübung. Sufi-Tanz oder DerwischTanz ist eine Körperübung, die aus den meditativen Praktiken der Sufis (einer mystisch orientierten Strömung innerhalb des Islam) abgeleitet, aber nicht mit diesen identisch ist. Die Sufi-TanzÜbung wird in Gruppen durchgeführt. Zu Beginn erarbeitet jeder Gruppenteilnehmer für sich eine individualisierte Suggestion, die er später in der Übung erhalten will. Die Suggestion könnte z. B. lauten: „Du ruhst in dir“, „Du bist stark wie ein Baum“, „Du kannst dich beruhigen“ o. ä. Dann stellt sich ein Gruppenteilnehmer in die Mitte, die anderen Teilnehmer sitzen im Kreis um ihn herum. Der Teilnehmer in der Mitte dreht sich mit ausgestreckten Armen im Kreis, zuerst langsam, dann allmählich schneller werdend. Nach kurzer Zeit geht der Tanzende in einen Trance-Zustand, der in der Regel als ekstatisches Loslassen von Kontrolle erlebt wird. Nach einer Weile werden die Bewegungen des Tanzenden unsicher, er beginnt zu tor-
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keln und schließlich zu Boden zu sinken. Der Tanzende wird von den anderen Gruppenteilnehmern aufgefangen, behutsam zu Boden geführt und behütend gehalten. Der Protagonist erlebt ein wohliges, angenehmes Treiben des Geistes bei geöffneten Ich-Grenzen. Er befindet sich in Trance und ist empfänglich für Suggestionen. Der Teilnehmer, der vorher den Auftrag erhalten hat, gibt nun dem Protagonisten die vereinbarte Suggestion. Danach wird der Protagonist für längere Zeit von der Gruppe gehalten. In der Regel berichten die Teilnehmer nachher von ressourcevollen Erfahrungen, von tiefem In-sich-Sein und von wohligem Eingehülltsein in liebevolle Zuwendung. Die Sufi-Tanzübung kann u. a. dazu verwendet werden, ressourcenvolle Suggestionen in einem körperorientierten Trancezustand im Unbewussten zu verankern oder kraftvolle Autosuggestionen aus der Tranceerfahrung heraus zu entwickeln, die dann selbsthypnotisch genutzt werden können.
Kreative Medien
Dem Inneren Form geben. In der Humanistischen Psychotherapie wird mit kreativen Techniken gearbeitet, um den Klienten zu unterstützen, seine inneren Prozesse zu „materialisieren“, das heißt, ihnen kreativ gestalterisch eine Form zu geben. Die kreative Umsetzung innerer Prozesse ermöglicht es dem Klienten, immaterielle Erlebnisweisen in materielle Form zu bringen, um sie „handhabbar“ zu machen. Das fördert die Integration der bearbeiteten Inhalte und das Bewusstsein des Klienten für die Kontinuität des Therapieprozesses.
Eine 36-jährige Klientin fühlt sich von ihrer Mutter bedrängt, weil diese die Klientin seit frühester Jugend mit ihrem eigenen Leiden, insbesondere ihrer Einsamkeit, belaste. „Wenn ich ihr das aber sage, bricht sie mit Sicherheit zusammen.“ Ich bitte die Klientin, einen Brief an ihre Mutter zu schreiben, diesen aber nicht abzuschicken, sondern zur nächsten Sitzung mitzubringen. Die Klientin schreibt vier Briefe an ihre Mutter und bringt sie zur nächsten Sitzung mit. Ich schlage ihr vor, die Briefe zunächst in einen Schrank im Büro meiner Praxis zu deponieren. Sie stimmt erfreut zu: „Das entlastet mich. Ich habe das Gefühl, wenn die Briefe hier sind, sind sie heraus aus meinem Kopf.“ Das Deponieren der Briefe
hilft der Klientin, sich emotional von ihrer Mutter zu differenzieren. Erst am Ende der Therapie, nach einer Reihe von langen, in der Therapie vorbereiteten Gesprächen mit ihrer Mutter, nimmt die Klientin die Briefe wieder mit.
Therapie-Tagebuch. Manche Klienten neigen dazu, das in den Therapiesitzungen Erarbeitete hinterher weitgehend zu vergessen, sodass sie zur nächsten Sitzung so erscheinen, als ob die letzte Sitzung nicht stattgefunden hätte. Dafür sind Abspaltungsprozesse verantwortlich, die verhindern, dass die therapeutischen Erfahrungen dauerhaft ins Bewusstsein integriert werden. Ich bitte den Klienten dann, ein Therapietagebuch zu führen. Er soll sich ein spezielles Heft zulegen, in dem er nach jeder Therapiesitzung aufschreibt, was er in der Sitzung erlebt hat und dabei das Erlebte noch mal reflektiert. Vor der nächsten Sitzung soll er das Aufgeschriebene durchlesen und das Therapietagebuch immer zu den Sitzungen mitbringen, sodass wir am Anfang einen Blick hineinwerfen können, um den Anschluss an die letzte Sitzung aufzunehmen. Biografie. Zu Beginn der Therapie bitte ich jeden Klienten aufzuschreiben, was er glaubt, das ich
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über ihn wissen sollte. Zur Konkretisierung gebe ich ihm einige individuelle Fragen mit der Bitte, zu seiner eigenen Vorbereitung auf den Therapieprozess dazu so viel zu schreiben, wie er passend findet. Manche Klienten schreiben dann nur eine halbe Seite Stichworte, andere schreiben sich auf 20 oder 50 Seiten ihre Lebensgeschichte von der Seele, was für sie und für mich eine gute Vorbereitung für die therapeutische Arbeit ist. Manchmal gebe ich dem Klienten auch einen speziellen Fragebogen, in dem die wichtigsten anamnestischen und biografischen Details abgefragt werden. Andere Medien. Manchen Klienten liegt es nicht zu schreiben, aber sie können sich durch andere Medien ausdrücken. Manchmal bringen Klienten von selbst Kinderfotos, selbstgemalte Bilder, Mindmaps, Patchworks, selbst gestaltete Skulpturen, Fotografien, Lieder, CDs, Videos oder Ähnliches mit in die Sitzung, was im Therapieprozess genutzt werden kann. Den Möglichkeiten für kreative Gestaltungen sind kaum Grenzen gesetzt.
– Am Ende eines Therapiegruppenwochenendes lade ich die Teilnehmer ein, das, was sie an dem Wochenende erlebt und gelernt haben, gemeinsam mit Kreide auf eine gepflasterte Fläche hinter dem Tagungshaus zu malen. – In einem Fortbildungswochenende zum Thema „Überlebte Bindungen lösen“ benutzten wir Sisalschnüre, um Bindungen, von denen die Teilnehmer sich lösen wollen, zu symbolisieren. In einem Ritual werden die Schnüre feierlich durchschnitten.
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Am Ende des Seminars „beerdigen“ wir die Schnüre in einem Wäldchen hinter dem Tagungshaus. – Zu Beginn eines Therapiegruppenwochenendes hat ein Teilnehmer in der Mitte des Therapieraumes ein Arrangement aus Naturgegenständen aufgebaut, die er auf dem Weg zu dem Seminarhaus gesammelt hat. Es besteht aus Moosstückchen, Tannenzapfen, trockenen Zweigen, Laub, kleinen und großen Steinen, einem morschen Stück Holz und einer alten Wurzel. Um das Natur-Arrangement herum hat er ca. 50 Teelichter aufgestellt. Das Arrangement symbolisiert u. a. den Wunsch des Gruppenteilnehmers nach Verbundenheit mit der Natur. – Zu einem Therapiegruppenwochenende bringe ich eine digitale Videokamera mit, mit dem Angebot an die Teilnehmer, diese zum Filmen zu benutzen. Es entsteht ein Film voller kreativer Einfälle als Gemeinschaftsprodukt der ganzen Gruppe, in dem die Teilnehmer einander und die Natur um das Tagungshaus herum in diversen seltsamen Situationen und aus teilweise kuriosen Perspektiven filmen. – Ein Therapiegruppenteilnehmer steht in der Mitte der Gruppe und möchte seinen Wunsch ausdrücken, sich nach langen Jahren der Einsamkeit auf eine partnerschaftliche Beziehung einzulassen. Es gelingt ihm aber nicht, dies durch Worte auszudrücken. Ich lade ihn ein, diesen Wunsch zu singen und zu tanzen. Er tut dies, und es entsteht eine berührende Spontanimprovisation, die von den anderen Gruppenteilnehmern durch Mitsingen, Klatschen und Mittanzen begleitet wird.
Selbsthilfe
Co-Counselling. Co-Counselling (von engl. counselling: Beratung, speziell psychologische, co: miteinander) ist eine Technik der gegenseitigen psychotherapeutischen Selbsthilfe, die von dem US-Amerikaner Harvey Jackins (1970) begründet und von dem britischen Psychologen John Heron (1977) weiterentwickelt wurde. Co-Counselling war in den 70er-Jahren vor allem in den USA und in England eine große Bewegung mit zehntausenden von Anhängern. In Deutschland wird Co-Counselling beispielsweise von der FORT/ MRT-Organisation angeboten („Frauen/Männer
Organisieren Radikale Therapie“) und im Rahmen von Humanistischen Therapie- und Ausbildungsgruppen praktiziert. Die Struktur wird auch von Paaren angewandt, um auf ritualisierte Weise auszutauschen, was jedem auf der Seele liegt und dadurch Paarkonflikten vorzubeugen oder sie zu klären. Grundgedanke. Co-Counselling ist eine strukturierte Selbsthilfetechnik, um mit Problemen und Konflikten eigenverantwortlich besser umgehen zu lernen. Grundidee des Co-Counselling ist, dass
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Verfahren und Techniken
in jedem Menschen die Fähigkeit angelegt ist, seine Probleme zu bewältigen und anderen dabei zu helfen. Die Co-Counselling-Struktur stellt einen geschützten Raum zur Verfügung, in dem die Counsel-Partner zu sich selbst finden und sich mit ihren Problemen und Mustern auseinandersetzen können. Co-Counselling ist eine ritualisierte Form, einander zuzuhören und füreinander da zu sein, sich selbst und dem anderen Raum zu geben, damit man sich fühlen und ausdrücken kann.
oder Fantasien zu gehen. Dann wartet der Begleiter, ob der Protagonist spricht oder schweigt, etwas tut oder nichts tut, einen Wunsch äußert oder nicht, ohne etwas Bestimmtes zu erwarten oder bewirken zu wollen. Co-Counselling muss nicht nur aus Reden bestehen. Der Protagonist könnte den Begleiter z. B. bitten, ihm den Nacken zu massieren oder die Füße zu halten, oder der Protagonist könnte dem Begleiter erzählen, was ihn gerade beschäftigt, während er Rücken an Rücken mit ihm sitzt.
Aufbau. Die Paare oder Kleingruppen, in denen Co-Counselling praktiziert wird, werden in der Regel im Rahmen einer größeren Gruppe gebildet. Die Co-Counselling-Paare/-Kleingruppen treffen sich regelmäßig (z. B. einmal wöchentlich) zu zeitlich klar begrenzten (z. B. zweistündigen) CoCounselling-Sitzungen. Die Paare/Kleingruppen bleiben über einen vereinbarten Zeitraum (z. B. ein halbes Jahr) zusammen und sollten in dieser Zeit nur in Ausnahmefällen (z. B. bei unüberwindlicher Verstrickung) verändert werden. Nach Ablauf dieser Zeit können die Paar-/Kleingruppen-Konstellationen gewechselt werden.
Aktive Techniken. Wenn die Partner einige Erfahrung mit der Co-Counselling-Struktur haben, dann kann der Begleiter auch aktiver werden und Vorschläge oder Rückmeldungen einbringen. Er kann dem Protagonisten beispielsweise vorschlagen, sich hinzulegen, aufzustehen, einen Satz zu wiederholen, zu einem angeschnittenen Thema mehr zu sagen, sich eine Person, über die er gerade spricht, bildhaft vorzustellen oder sich in sie hineinzuversetzen. Aber auch dann behält der Protagonist immer die volle Kontrolle über den Prozess. Der Begleiter unterstützt ihn und regt ihn an, richtet sich aber immer nach dem Willen des Protagonisten.
Ablauf. Die Co-Counselling-Einheit wird in zwei Teilsitzungen von je z. B. 45 Minuten aufgeteilt, mit einer Pause von z. B. zehn Minuten nach jeder Sitzung. Die Partner einigen sich, wer anfängt. Der Partner, der arbeitet, wird „Protagonist“ genannt, der andere ist der „Begleiter“. Die wichtigste Funktion des Begleiters ist es, so gut er kann, mit offenem Herzen aufmerksam da zu sein. Um in die Co-Counselling-Haltung hineinzukommen, ist es das Beste, wenn der Begleiter zunächst nur das tut, worum der Protagonist ihn direkt bittet. Ansonsten ist er vor allem emotional präsent und aufmerksam. Auf diese Weise kann sich der Protagonist seinen Raum selbst so strukturieren, dass er sich sicher fühlt und sich öffnen kann.
Die Stopp-Regel. Beide Co-Counselling-Partner müssen auf ihre Grenzen achten und deutlich machen, wenn sie etwas nicht wollen, oder wenn ihnen etwas zu viel wird. Wenn einer von beiden an seine Grenzen kommt, oder wenn ihm etwas zu viel wird, sagt er „stopp“. Dann hört der Counsel-Partner sofort auf, und die Sitzung wird unterbrochen oder beendet. Auch der Begleiter muss sich klar abgrenzen, wenn er sich überfordert fühlt, oder wenn ein Wunsch des Protagonisten über seine Grenzen zu gehen droht. Klare Abgrenzung, respektvoll vorgebracht, ist zum Schutz des Teilnehmer und der Ritualstruktur unabdingbar.
Setting. Eine Sitzung könnte so beginnen, dass der Begleiter den Protagonisten fragt, ob er lieber liegen, sitzen, stehen oder umhergehen möchte. Dann kann er ihn fragen, wo im Raum er (der Begleiter) sein soll und ob der Protagonist etwas braucht (z. B. ein Kissen, eine Decke, dass der Begleiter seine Hand hält o. ä.). Es ist oft hilfreich, wenn der Protagonist bequem und zugedeckt liegt und mit dem Begleiter auf irgendeine Weise Körperkontakt hält. Dieses Setting gibt dem Protagonisten ein Gefühl von Sicherheit und erleichtert ihm, in seine Gefühle
Körperliche Selbsthilfetechniken. In der ganzheitlichen Sichtweise der Humanistischen Psychotherapie geht man davon aus, dass eine ökologische Lebensweise die Basis für psychisches Wohlbefinden darstellt und dass ein unökologisches Leben psychisches (und körperliches) Leid hervorbringt. Die Begleiterscheinungen unseres modernen Wohlstandslebens wie Fastfood, Dauerberieselung durch Medien, körperliche Trägheit und sozial mehr oder weniger akzeptierte chemische Drogen belasten das Körper-Seele-System. Daher kann der Therapeut den Klienten ermutigen, sich
14 Weitere Techniken 199
gesund zu ernähren, sich regelmäßig sportlich zu betätigen oder Süchte zu überwinden. Der Therapeut kann den Klienten z. B. unterstützen, regelmäßig zu joggen, vermehrt Frisch- oder Rohkost zu essen, auf kontrollierte Weise zu fasten, sich regelmäßig massieren zu lassen, sich das Rauchen abzugewöhnen oder zwanghaftes Computerspielen aufzugeben. Hausaufgaben. Die Arbeit mit psychotherapeutischen Hausaufgaben ist eine Technik, die in der Verhaltenstherapie gebräuchlich ist und auch in der Humanistischen Psychotherapie angewendet wird. Manchmal hat ein Klient von sich aus den Wunsch, Ergebnisse oder Erkenntnisse aus der Therapie vorausgeplant praktisch in seinem Alltag
umzusetzen. In anderen Fällen kann der Therapeut ihn bitten, bestimmte Aktivitäten in der Zeit zwischen den Therapiesitzungen auszuführen.
Eine 21-jährige Klientin ist in einer Patchwork-Familie mit diversen Halbgeschwistern und Kindern ihres Vaters mit mehreren anderen Frauen aufgewachsen. „Es war manchmal nicht leicht, den Überblick zu behalten, mit wem ich wie verwandt oder nicht verwandt war.“ Ich gebe ihr die Hausaufgabe, auf einem großen Bogen Karton ein Familiengenogramm zu zeichnen und Kopien von Fotos aus der Kinderzeit darauf zu kleben. Sie bringt es zur nächsten Sitzung mit und wir benutzen es, um ihre verwirrende Familienstruktur zu bearbeiten.
Anhang 15 Literatur 16 Sachverzeichnis
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16
Sachverzeichnis
A Abgewehrtes 42, 49, 141 Abgrenzung 16, 41, 53, 129 Abstinenz, therapeutische 52 Abwehr 32 ff, 92, 183 – dissoziative 48, 59 – Durchfühlen 184 ff – Konfrontation 188 Abwehraffekt 39, 188 Abwehrmechanismus 130 Abwehrschicht 40 Abwehrspannung, Übernehmen 120 f Achtung 26 Affektbrücke 164 Affektregulation 38 Aggression 82, 126, 129 Aggressionsübung 109 f Aktivität 92 f Aktualisierungstendenz 70 Altersregression 64 ff, 111 – hypnotische 163 f, 168 Ambivalenz, emotionale 32 f Amnesie, dissoziative 41 Amygdala 31 Angenommenwerden 71 f Angst 9, 38, 43 – Regression, spontane 64 – vor Selbst-Desintegration 33 Ankertechnik 154 f, 166 f, 172 Annihilation 39 Antriebsarmut 94 Assimilation 126, 129 Association for Humanistic Psychology (AHP) 3 Assoziation, freie 107, 156 f Atemdiagnostik 101 f Atemmuster, Veränderung 103 ff Atem-Trance 104 Atmen, Holotropes 103 f Aufladung, energetische 92, 113 Aufladungsblockade 94 Aufmerksamkeit 17, 20, 71 Augenausdruck 96 Ausdruck 74, 106
– kongruenter 135 – nonverbaler 189 Ausdrucksarbeit 105 ff Ausdrucksblockade 94 f Ausdrucksgeste, Umwandeln 120 Auseinandersetzung 16, 177 ff Aussage 136 f Autosuggestion 143, 163 Awareness 126
B Bauchgeräusche 118 Bedeutung, emotionale 77 f Bedrohung 35 Bedürfnis 26 f, 37 – Nichterfüllung 82, 84, 130 Bedürfnishierarchie 25 f Begegnung 15 f Beratung, nichtdirektive 70 Berührung, symbolische 115 f Bewältigungsfähigkeit 35, 37, 160 Bewegung 96 Bewegungsmeditation 194 f Bewusstsein 19 f Bewusstseinszustand 141 Beziehung 15 – haltgebende 38 – psychotherapeutische 17, 51 ff – – Asymmetrie 54 – – Ebenen 178 – – als Ressource 57 f Beziehungsanspielung 76 Beziehungsansprache 76 Beziehungsdynamik 122 Beziehungsmuster 34 ff, 54 f – biografisches Einordnen 65 Beziehungsstörung 35, 42 Bezugsperson 38 Bezugssystem 75 Bindung, instabile 38 Bindungsstörung, frühe 38 f Biodrama 122 Biofeedback 118 Biografie 65 f, 76, 196 f
Blitzlicht 192 Body Shift 80 f Bodyflow 195 Bodyreading 97 f Bonding 116 Borderline-Dynamik 38 Borderline-Zustand 60 Boyesen, Gerda 117 Buber, Martin 15 Buddhismus 18 ff, 195
C Casriel-Bonding 116 Chacra-Atmen 195 Charakteranalyse 92 Charakterpanzerung 91, 105 Charaktertypen 98 f Cliffhanger-Effekt 130 Co-Counselling 197 f Cortex, präfrontaler 29, 31
D Daoismus 17 f, 20 Davanloo-Technik 188 ff Deep Draining 117 f De-Eskalation 81, 83 Deflektion 133 Demütigung 37 Depersonalisation 41 Depression 43, 50, 94 Deprivation 37 Derealisation 41 Desintegration 33 Desorientiertheit, kognitive 36 Deuten 13, 87 – dialogisches 11 – psychodynamisches 86 ff Dialektik 127 Dialog 15 ff – in Trance 156 ff Diffusion 45 f, 127 Dilthey, Wilhelm 11 Dysharmonie 93 ff, 117
Sachverzeichnis 215
Dissoziation 36, 40 f Dissoziationstechnik 167 f Distanz, professionelle 16 f, 52 ff Doppelbewusstsein 55 f Doppelbotschaft 37 Doppeln 175 f Durchfühlen 184 ff Dynamisierung 63 Dystonie, vegetative 93 f
E Echtheit 26, 70 Ego-States 48, 167 Eigenverantwortung 10 Einfühlung 75 Einstellung, verkörperte 97 Eltern 164 Emotion 29 f, 185 f – abgewehrte 188 ff – Aktivierung 63 – Entladung, körperliche 107 f Emotionale Dichte 63 Empathie 12, 71 ff, 83 – provokative 184 – szenische 174 – verbale, Grenzen 62 Empathieblockierung 73 f Encounter 181 f Energie, primäre 184 Energiemangel 92 Energiezentrum 195 Engpass 127 Entladung 92 Entscheidung 9 f, 29 f Entscheidungshilfe 166 Entspannung 80, 92 f Entspannungsblockade 95 Entspannungstrance 142, 158 Erdung 111 Erfahrung, korrektive 111 Erickson, Milton 139 Erickson’sche – Hypnotherapie 146 – Suggestion 146 Erinnerung 34, 65 f Erleben 11, 77 Erlebnisaktivierung 62 f, 90, 170 f Erregung, psychosomatische 92 Erstarrung 35, 45 Existenz 50 Existenzialismus 8 ff Expansion 128 Explizitation 120 Extrojektion 122
F Familienkonferenz 85 Fantasiegespräch 134 Farrelly, Frank 182 Feedback, inneres 78 Feldenkrais 90 f
Feldtheorie 13 f Felt Sense 77 ff Fettleibigkeit 97 Figur-Grund-Prozess 128 Fixierung 42 Flashbacks 36, 47 Flow 20 Focusing 77 ff Forderung 84 f Fragen 136 Fragmentierung, latente 33 Fragmentierungsangst 32 ff, 57 – Abwehr 39 ff, 43 – Bindungsstörung, frühe 38 f – Durchfühlen 185 – Symptom 43 – Syndrom 44 Frankfurter Schule 4, 7 Freezing 35 f Freiheit 9 f Freiraum 37 Fromm, Erich 7 Frustrieren 180 Fühlen 184 ff
G Gadamer, Hans-Georg 12 Ganzheitlichkeit 13 Ganzheitswahrnehmung 78, 80 Gedächtnis 157 f Gefühle 29 ff, 75 f – Körperprozess 90, 101 f, 105 – selbstreflexive 76 – Wahrnehmen 103 – zurückhalten 97 Gefühlsreaktion 45 Gegenübertragung 54 f, 74 Gelassenheit 19 Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA) 4 f Gendlin, Eugene 77 Geschichte, hypnotische 150 f Gesprächspsychotherapie, personzentrierte 5, 12, 69 ff Gestalt 126, 128, 130 Gestaltpsychologie 3, 126 Gestalttherapie 14, 124 ff – Haltung 136 – Sprachform 136 ff – Therapiephasen 127 f – Therapietechnik 133 ff – Traumarbeit 136 Gestaltwelle 128 f Gewahrsein 20, 126, 128 Gewahrseinskontinuum 133 Gewahrseinsmeditation 156 Gewalt 82 Gewaltfreiheit 81 ff Grenzüberschreitung 52 f Grenzverwischung 177 Griff, Focusing-Technik 80 Grof, Stanislav 104
Gruppendynamik 191 ff Gruppenkonfrontation 192 Gruppenleitung 181, 191 Gruppenpsychotherapie 169, 181, 191 Gruppensoziogramm 191 Gruppentrance 150 f Guter Ort 167 Gymnastik 90
H Harmonisierung 95 Hass 19, 33, 39, 64 Hausaufgabe 199 Heidegger, Martin 12 Heißer Stuhl 182 Hermeneutik 11 ff Hilfs-Ich 175 Holding 111 f Holismus 13 f Humanismus 6 f Humanistische Psychotherapie 9 f, 14, 19 ff – Anliegen 26 – gesellschaftlicher Hintergrund 3 ff – Hermeneutik 12 Hyperarrousal 35 f Hypermnesie 168 Hypnoanalyse 168 Hypnodrama 143, 163, 166 Hypnogener Zirkel 148 f Hypnokatharsis 158 Hypnose – Definition 143 – klassische 145 f – kooperative 146 – nicht-direktive 160 Hypnotherapie 5, 139 ff – Ankertechnik 166 f – Definition 143 – Dissoziationstechnik 167 f – Grenzen 145 f – Ressourcentransfer 152 ff – Sprachform 152
I Ich-Botschaft 84 f Ich-Du-Beziehung 15 f Ich-Du-Sprache 137 Ich-Es-Beziehung 15 Ich-Gefühl 20, 84, 167 Ich-Stabilität 192 Ich-Zerfall 43 Identifikation, partielle 75 Identifikationstechnik 169 ff Identität 9, 163 Ideomotorik 144 Imagination 62, 153 Imitieren 180 f, 183 Impasse 127 Impulsivität 107 Impulsressource 108
216
Anhang
Index-Symptom 42, 44 Indifferenz, schöpferische 127 Individualität 51 Inkongruenz 70, 135 Innerer Heiler 167 Inneres Kind 168, 173 f Integration 57, 59 – durch Fühlen 106 f – psychophysische 194 – strukturelle 117 – Trance-Dialog 163 Integrität 53 Intervention, paradoxe 181 Introjektion 130 f Intrusion 36 Intuition 29 f Invasion 37
Körperhaltungsanker 172 Körperpsychotherapie 5, 14, 89 ff – Resonanz, psychosomatische 174 Körperpsychotherapietechnik 120 ff Körperselbsterfahrung 194 Körperstruktur 95 f, 98 Körpersymbolik 113 Körper-Trance 108, 111 Körperübung 61 f Körperwahrnehmung 101 f, 142 Körperzustand 29 f Krise – existenzielle 50 – narzisstische 47 Kundalini-Meditation 194 f Kurzzeittherapie, psychodynamische, konfrontative 188 f
K
L
Katalepsie 144 Katharsis 185 f Kleingruppenarbeit 193 Klient 10 ff, 51, 69 f – Öffnung 72 – passiver 184 Klientenperspektive 75 Kognition, verbale, positive 153 Kommunikation, gewaltfreie 81 ff Konflikt 84 Konfliktbewältigung 81 Konfliktlösung, gewaltfreie 85 Konfliktvermeidung 180 f Konfluenz 132 f, 177 Konfrontation 177 ff – psychodynamische 188 ff Konfusion 37 f – therapeutische 180, 183 Konfusionstechnik, hypnotische 152 Kongruenz 135 Kontakt 70, 126, 128 ff Kontaktgrenze 129 Kontaktstörung 130 ff Kontaktvermeidung 133, 189 Kontaktverzerrung 128 Kontaktzyklus 128, 130 Kontraktion 127 Körperarbeit 89 ff – Gruppenübung 100 – haltgebende 111 ff – Motivation 100 – Setting 99 f – Therapieraum 99 – Unterscheidung zu Körperpsychotherapie 91 Körperausdruck 97, 105 Körperausdrucksanker 166 Körperdiagnostik 96 f Körperempfindung 77 f Körperenergie 92, 117 Körperenergie-Diagnostik 95 ff Körper-Erinnerung 34, 65 Körperhaltung 113 f
Leading 148 f Lebensenergie 117 Lebensgeschichte 86 Lebensplan 9 Leere 20, 38 – Kompensation 97 Leerer Stuhl 134 Leid, psychisches 32 ff, 50 – Gestalttherapie 128 Leiden 18, 27 Leidensfähigkeit 184 Levitation 144 Limbisches System 31 Linking 149 Lowen, Alexander 91
M Maslow, Abraham 25 Maslow’sche Bedürfnishierarchie 25 f Massage, psychotherapeutische 90, 117 ff Meditation 18 f – dynamische 195 Meta-Gefühl 74 Metapher, hypnotische 149 ff Meta-Position 167 Milton-Modell 152 Misshandlung 37 Mitgefühl 19 Monodrama 170 Moreno, Jakob Levy 169 Motivation 25 f, 92 Mr.-Spock-Figur 167 Musik 193 ff Muskelpanzerung 89, 92, 117 f Muskeltonus 96 Muskelverspannung 105 Mythen 151
N Nähe 116 Negation 137 Nervensystem, vegetatives 92 New Identity Process (NIP) 116 Nihilismus 19
O Orientierungsverlust 38
P Pacing 144, 148 f, 156 f Panikattacke 36, 47 Paradoxe Theorie der Veränderung 49 Parasympathikotonus 92 ff, 118, 122 Perls, Fritz 124 Perls, Laura 125 Persönlichkeit, multiple 41 Persönlichkeitsanteil, Erleben 173 Persönlichkeitsstörung 40, 45 ff Persönlichkeitswachstum 26 Philosophie 6 ff – östliche 17 ff Pierrakos, John 91 Polarität 127 Präsenz 49 f Primärtherapie 187 Projektion 131, 134 Provokation, humorvolle 182 ff Provokative Therapie 181 ff Pseudobedürfnis 27 f Pseudo-Erinnerung 66 Pseudogefühl, projektives 29 Psychodrama 134, 169 ff – Stellvertreter-Technik 174 f Psychodynamik 86 ff Psychologie 7 – transpersonale 104 Psychoperistaltik 118 Psychose 34 Psychosomatische Störung 43 Psychotherapeutengesetz 4 Psychotherapie – biodynamische 117 – humanistische 10, 14, 19 ff – – Anliegen 26 – – gesellschaftlicher Hintergrund 3 ff – – Hermeneutik 12 – – konzeptuelle Basis 9 – – Quellen 21 – Intention – – dynamisierende 46 – – stabilisierende 46 – personzentrierte 69 ff – Strukturierung 61 f Psychovegetativer Zyklus 92 ff, 122
Q Qigong 28
Sachverzeichnis 217
R Raum, innerer 78 Rebirthing 104 Regression 47 – akute 59, 64 – präverbale 65 – therapeutische 64 ff Reich, Wilhelm 89 Re-Inszenierung 42 Reizüberflutungstherapie 186 Resonanz 51 f, 174 Resonating 80 Ressourcenanker 154 f Ressourcen-Rolle 173 Ressourcenspeicher, latenter 141 Ressourcentransfer, hypnotischer 152 ff Restriktion 37 Restspannungsstau 94 f Retroflexion 131 f Reviktimisierung 42 Rigidität 45 f Rogers, Carl 69 Rolfing 90 f, 117 Rollenspiel 62, 115, 169 ff – Gestalttherapie 135 – Heraustreten 176 – körperorientiertes 122 Rollenübernahme 174 Rosenberg, Marshall 81 Rossi, Ernest Lawrence 156 Rückzug 82, 94
S Scham 33, 100, 190 Schizoide Struktur 46, 98 Schlafzustand 141 Schleiermacher, Friedrich 11 Schlüsselsituation, biografische 65 f Schuldgefühle 97, 190 Schweigen 57 Screen-Technik 167 Seeding 151, 154 Selbstakzeptanz 71, 126 Selbstausdruck 16, 83 ff Selbstbefriedigung 132 Selbstbild 44, 70 Selbstempathie 16, 74, 83 Selbstentwertung 73 Selbstentwurf 9 Selbsterfahrung 54 f, 63 Selbsterkenntnis 18 Selbstexploration 70, 178 Selbstgespräch-Technik 134 f Selbstgrenze, instabile 45 Selbstheilungskräfte 160 Selbstheilungskrise 158 f Selbsthilfe 197 ff Selbsthypnose 163 Selbstkontrolle 56 Selbstöffnung 76
Selbstpsychologie 12 Selbstreflexion 101 Selbstregulation 44, 59 ff – Gestalttherapie 126, 128 Selbststruktur, fragile 38 – Stabilisierung 56 ff, 72, 113 Selbsttäuschung 10 Selbstverantwortung 61 f Selbstverwirklichung 8, 25 f Selbstwahrnehmung 78 Selbstwertgefühl 44 Sensory Awareness 90 Sexualität 89 Showhypnose 143 Sicherer Ort 61, 167 Sicherheitsbedürfnis 26, 37 Signal, ideomotorisches 144 f Sinn 8 f, 27 f, 50 Sinnbedürfnis, frustriertes 28 Sinnesmodalität 149 Sonde – nonverbale 120 – verbale 120 Spaltung 40, 88 Spiegeln 16 f, 74 – konfrontatives, nonverbales 179 – szenisches 175 Sprachmuster, suggestives 152 Stabilisierung 56 ff Stagnation 127 Stethoskop-Massage 118 f Stille 21 Stopp-Regel 198 Strategie 84 Struktur, psychische 44, 95 f Strukturstörung 34, 45, 55 Subjektivität 9 Sucht 27 Sufi-Tanz-Körperübung 196 Suggestion 139 ff – im Atemrhythmus 149 – Definition 142 – direktive 145 – Empfänglichkeit 196 – nach Erickson 146 – posthypnotische 145 – Seeding 154 – Sprachform 152 – Stimmlage 151 Supervision 55, 74 Symbolisierung 80, 87, 150 Sympathikotonus 92 ff, 118, 122 Symptom 43, 47 Syndrom 44
T TaKeTiNa 194 Tanztherapie 194 ff Therapeut 10 ff, 51 – Aufmerksamkeit, wohlwollende 58 – Äußerung 74 – Eigenschaft 16 f
– Frustrieren 180 – Haltung 52 ff, 70 ff – kassenzugelassener 4 – Resonanz 51 f – Rückmeldung 179 – Selbsterfahrung 73 – Übernahme der Klientenperspektive 75 Therapeut-Klient-Beziehung s. Beziehung, psychotherapeutische Therapieabbruch 56 Therapieprozess 49 ff Therapiesituation, unstrukturierte 61 f Therapie-Tagebuch 196 Therapietechnik 69 ff – kreative 196 f Therapiewiderstand 92 Tiefenakzeptanz 177 ff Tiefenempathie 72 Tiefenhermeneutik 12 Tonus – parasympathischer 92 f, 118, 122 – sympathischer 92 f, 118, 122 Topdog 135 Trance 139 ff, 163 ff – Absorption 147 – autogene 143 – Fokussierung 147 – heterogene 143 – Individualisierung 146 – Kommunikation, ideomotorische 145 – kooperativ-dialogische 140 – Papageien-Pacing 156 f – pathologische 147 – Rapport 143 f, 148 f – Re-Orientierung 148, 151 – spontane 147 – Sprechweise 149 – Vertiefung 151 Trance-Begleitungs-Arbeit, dialogische (DTBA) 156 ff, 162 Trance-Dialog 156 ff – Abwehrdynamik 161 – Bearbeitung, dissoziative 162 f – Bearbeitungsprozess, autogener 159 f – Integration 163 – Selbstschutzprozess 161 Trance-Erleben 161 f Trance-Identifikation 164 Tranceinduktion 146 f, 151 – dynamische 157 – Fraktionierung 147 – naturalistische 156 Trance-Realität, therapeutische 63 Trance-Tiefe 142 Trauma 35, 43 Traumarbeit, gestalttherapeutische 136 Traumatherapie 58 f Tresor-Technik 167 Trieb 25
218
Anhang
U Übererregung 35, 61, 94 Überflutung, emotionale 33, 36, 43 – Bewältigungstechnik 59 ff – Dissoziationstechnik 57 – Massage 118 f – Schutz 167 Überforderung 61 Übertragung 54 f, 88, 188 f Überzeugung, eingeprägte 36 Übung, bioenergetische 110, 113 f Umprägung 111 Unbewusste 140 f, 149 – Durchbruch 190 – kreatives 160 Underdog 135 Urschmerz 187
V Vasodilatation 93 Vasokonstriktion 93 Vegetotherapie 105 Veränderung 49 – körperlich spürbare 80 – therapeutisch wirksame 77 Verantwortung 10 Verbalisierung 74
Verblendung 19 Verdrängung 40, 89 Verlassenheitsangst 66 Verlassenheitsdepression 38 Vermeidung 33, 40 Vernachlässigung 37 Vernunft 7 Verschmelzung 132 Versenkung 147 Verstehen 12 – biografisches 12 – einfühlendes 11, 58, 71 f – – Stufen 75 f – konkretisierendes 76 – psychodynamisches 86 Verwirklichung 7 Verwirrung 61
W Wachheit 92, 141 Wachstum 70 f Wachstumsbedürfnis 26 Wahlfreiheit 4, 8 f – Förderung 11, 140 Wahrnehmung 29, 126, 142 Wahrnehmungsförderung 115 Werte 6, 26 f Wertschätzung 71, 74
Widerspruch 179 Widerstand 91 f, 190 Wiederholen, umakzentuierendes 75 Wiederholungszwang 42 Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie (WBP) 4 Wut 33, 82, 109 f
Y Yoga 195
Z Zeitlinienarbeit 164 f Zeitprogression 164 ff Zejgarnik-Effekt 130 Zen 20 f Zirkel, hermeneutischer 13 Zugehörigkeitsbedürfnis 26 Zuwendung 17, 37, 71 Zwang 40, 43 Zwangscharakter 98 Zwei-Personen-Psychologie 54 Zyklus – affektiver 93 f – vasomotorischer 93