Mac Kinsey � Band 14 �
Norman Thackery �
Ich stürmte die � Dämonenburg �
Der beste Freund verpfiff ihn an die Poliz...
8 downloads
602 Views
667KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Mac Kinsey � Band 14 �
Norman Thackery �
Ich stürmte die � Dämonenburg �
Der beste Freund verpfiff ihn an die Polizei. Sein Mädchen sagte vor Gericht gegen ihn aus. Doch Rankin schlug ihnen ein Schnippchen. Statt am Galgen zu enden, starb er im Gerichtssaal am Old Bailey unmittelbar im Anschluß an seine Verhandlung. Sein Leichnam kam in ein namenloses Grab auf dem Friedhof in Finsbury. Zehn Jahre später befreiten ihn die Zauberkräfte des Magiers Cioffi aus dem Grab. Rankin kehrte als Wiedergänger zurück und nahm grausame Rache an denen, die ihn verraten hatten. Er begriff nicht, daß er nur ein Werkzeug war und daß Cioffi ganz andere Pläne hatte – ein Dämonenreich zu errichten nämlich. Guinn Rankin fühlte kein Grauen vor dem, was er getan hatte. Es war die Schuld der anderen. Sie hatten ihn zu diesem Mord getrieben. Er hätte diesen ekelhaften, kalten Leichnam nicht gewollt. Er wollte nur das Geld. Aber der andere trug eine Waffe. Da hatte er ihn erschlagen. Der kleine, etwas gedrungene Mann mit dem blassen Gesicht sah den Toten teilnahmslos an. Er lag in einem Meer bunter Geldscheine. Die Tasche war aufgesprungen, als er sie ihm entreißen wollte. Das Schloß hatte nicht gehalten. »Warum hast du mir den Dreck nicht freiwillig gegeben?« murmelte er. »Nun hat keiner von uns was davon. Dich werden sie in eine Grube schmeißen und mich in ein Loch, das auch nicht gemütlicher ist als ein Grab.« Guinn Rankin richtete sich auf. Er wischte seine Hände an der Cordhose ab. Er tat das automatisch. Er wußte, daß er sich dadurch nicht reinwaschen konnte. Und er wollte es auch gar nicht. Wieso er? Schuld waren die anderen. Sie waren es, die Strafe verdienten. Das war seine Meinung. Guinn Rankin hörte die Polizeiklingel erst, als sie schon gefährlich nahe war. Er riß sich gewaltsam von seinen Gedanken los und sprang auf die Füße. Wild und entschlossen blickte er sich um. Nein! Sie sollten ihn 3
nicht erwischen. Sie sollten sich an ihm die Zähne ausbeißen. Er würde zu Judge gehen. Jugde war sein Freund. Er würde ihm helfen. Schließlich hatte auch er ihm oft unter die Arme gegriffen, wenn er in der Klemme saß. Das schrille Klingeln kam näher. Guinn Rankin griff mit beiden Händen mitten hinein in die Hundertpfundnoten. Er stopfte davon so viel in seine Taschen, wie Platz hatte. Dann schwang er sich aus dem Fenster und sprang auf der anderen Seite in die Tiefe. * Judge Warner starrte ihn wie einen Geist an. »Ermordet?« keuchte er. Guinn Rankin nickte. »Du mußt mir helfen, Judge«, stieß er atemlos hervor. Judge sah den anderen an, als begriffe er ihn nicht. »Du hast einen Mann erschlagen!« »Es war Notwehr.« »Notwehr?« Judge Warner lachte hysterisch auf. »Warum sagst du ihnen nicht, daß es Notwehr war?« »Wer glaubt mir schon? Sogar du zweifelst ja. Dabei sind wir Freunde. Ich will auch deine Hilfe nicht umsonst.« »Was heißt das?« Judge Warners Blick wurde lauernd. Guinn Rankin griff in die Tasche und zog einige zerknitterte Geldscheine heraus. Die Augen des Freundes wurden eng wie Schießscharten. Er konnte sich denken, woher das Geld stammte. Er fragte nicht danach, sondern streckte wortlos die Hand aus. Das Knistern des Papiers war angenehm. »Höchstens für eine Nacht«, sagte er. »Dann mußt du verschwinden. Ich will keinen Ärger. Ich möchte heiraten, verstehst du?« Guinn Rankin verstand. Auch er hatte heiraten wollen. Dorice war das süßeste Mädchen, das er kannte. Ihr einziger Fehler be4
stand darin, daß sie Nelson heiß. Die Nelsons hätten ihre Einwilligung nie gegeben. Auch wenn jetzt diese Geschichte nicht passiert wäre. »Ich verstehe«, sagte Guinn Rankin. »Morgen früh siehst du mich schon nicht mehr.« »Hast du noch mehr?« Judge Warner rieb Daumen und Zeigefinger der rechten Hand aneinander. Guinn Rankin langte erneut in die Tasche. Als er seine Hand hervorzog, war sie voller Geld. »Einen Teil werde ich selbst brauchen«, erklärte er, »damit ich von hier abhauen kann.« Judge Warner griff gierig nach den Scheinen. »Unterm Dach liegt eine alte Matratze. Für eine Nacht wird das gehen, denke ich.« »Danke! Das vergesse ich dir nie, Judge.« Der andere lächelte verlegen und entzog dem Freund nervös die Hand. Er führte ihn die Treppe hinauf und ließ ihn dann allein. Er ging ins Wohnzimmer zurück und zählte das Geld, das auf dem Tisch lag. Genießerisch schnalzte er mit der Zunge. Er holte sich einen Whisky und kippte ihn hinunter. Dann nahm er den größeren Teil des Geldes und trug ihn in einen Nebenraum. Den Rest ließ er liegen. Anschließend hob er den Telefonapparat, der neben dem Sofa stand, vom Boden auf und wählte eine Nummer. Als sich jemand meldete, sagte er mit halblauter Stimme: »Ist dort die Polizei? Geben Sie mir die Mordkommission!« * Er erwartete die Beamten schon an der Tür. »Ich wollte nicht, daß Sie läuten«, erklärte er. Der Größere der beiden stellte sich als Inspektor Stone vor. Sein Assistent war Sergeant Powell, ein spindeldürres Männchen mit Brille und einem übergroßen Adamsapfel. 5
»Er ist also zu Ihnen geflohen, Mr. Warner?« fragte Inspektor Stone. »Er hat mir sogar Geld geboten.« Judge Warner führte die Beamten in das Wohnzimmer und zeigte auf die restlichen Geldscheine, die noch auf dem Tisch lagen. Der Inspektor bedeutete seinem Kollegen, alles vorsichtig einzupacken. »Wir waren schon dabei, den Raubmord zu untersuchen«, sagte er, »hatten aber noch keine Spur. Sie haben uns sehr geholfen, Mr. Warner.« »Das ist doch Ehrensache, Inspektor. Sicher gibt es auch eine Belohnung für Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führen.« Sergeant Powell sah den blonden Mann, der nach Whisky roch, irritiert an. »Eine Belohnung? Das ist nicht gut möglich. Das Verbrechen geschah ja erst vor knapp drei Stunden. Und von dem Besitzer können Sie für die Rückerstattung der Beute kaum etwas erwarten. Er ist ja tot. Vielleicht von den Erben.« Judge Warner biß sich auf die Lippen. Zum Teufel! Er war wieder mal zu schnell gewesen. »Jedenfalls dürfen Sie sicher sein, daß die Polizei Ihnen dankbar ist«, stellte Stone fest. Das war auch schon was! Aber wenigstens hatte er sich einen Teil des Geldes beiseitegeschafft. »Trägt der Kerl eine Waffe?« Judge Warner sah den Polizisten überrascht an. An diese Möglichkeit hatte er noch gar nicht gedacht. Vielleicht hätte Guinn ihn sogar auch noch umgebracht, wenn er ihm seine Hilfe versagt hätte. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Aber dann hätte er den Mann wohl erschossen und nicht erschlagen.« »Wahrscheinlich. Aber es ist doch besser, wenn wir mit allem rechnen. Powell, Sie geben mir Deckung! Sie gehen am besten nach nebenan, Mr. Warner. Diese Brüder sind unberechenbar, wenn sie in die Enge getrieben werden.« 6
Judge Warner war das recht. Er legte keinen Wert darauf, Guinn in die Augen sehen zu müssen, wenn sie ihn abführten. Die Polizisten stiegen die Treppe hoch. Sie hielten ihre Pistolen in den Fäusten. Inspektor Stone stieß mit dem Schuh die Tür auf und ging sofort in Deckung. Es empfing sie kein Feuerwerk. Sie hechteten in den Dachraum und warfen sich zu Boden. Die Kammer war leer. In der Mitte lag eine zerschlissene Matratze, die nach Katzenurin roch. Allerlei Gerümpel bildete das Mobiliar. Staub und Spinnwegen gab es zur Genüge. Sie sahen das offene Fenster und wußten augenblicklich Bescheid. »Unser Freund hat den Braten gerochen«, schimpfte der Inspektor und schob die Pistole zurück. Er lief zum Fenster und sah hinaus. Er sah den Flüchtigen über die benachbarten Dächer hetzen. »Bleiben Sie stehen!« schrie er und zwängte sich selbst durch, die Öffnung. »Laufen Sie hinunter, Powell, versuchen Sie, ihm den Weg abzuschneiden! Fordern Sie vorher Verstärkung an!« Der Sergeant gehorchte. Bevor er die Haustür erreichte, öffnete sich die Tür des Nebenraums, und Judge Warner erkundigte sich mit bleichem Gesicht nach dem Grund der Aufregung. »Der Vogel ist ausgeflogen«, keuchte Powell. »Sie sollten sich in acht nehmen, bis wir ihn erwischt haben.« »In acht nehmen? Ich? Warum das?« Sergeant Powell sah den Blonden undurchdringlich an. »Na, schließlich haben Sie ihn verpfiffen. Und er war Ihr Freund.« Er lief hinaus auf die Straße, verständigte vom Wagen aus die Zentrale und beteiligte sich dann an der Verfolgung des Mörders. * � 7
Guinn Rankin schwitzte. Sie waren hinter ihm her, und sie würden ihn bald gefaßt haben. Er hetzte über das regennasse Pflaster. Der Dreck spritzte bei jedem Schritt an ihm hoch. Von allen Seiten hörte er die Streifenwagen heranheulen. Sie hatten ihn eingekreist. Sie brauchten die Schlinge nur noch zuzuziehen. Er überquerte eine Kreuzung und sah, wie ein Polizeiwagen durch die nächste Parallelstraße jagte. Ob sie ihn entdeckt hatten? Guinn Rankin ballte die Fäuste, doch er wußte, daß er sie nicht gebrauchen würde. Er war innerlich längst tot. Das Urteil vollzog nur offiziell nach, was in Wirklichkeit längst geschehen war. Aber er wollte nicht sterben. Er wollte nicht in einem dieser Rattenlöcher verrecken. Guinn Rankin suchte Zuflucht in einem Hauseingang. Die Tür war verschlossen. Dieser Erker bildete eine tödliche Sackgasse, und es war zu spät, sich ein besseres Versteck zu suchen. Die Wagen waren schon heran. Er hörte das Kreischen von Bremsen, Türenschlagen und erregte Männerstimmen, die Befehle durch die Nacht brüllten. Er preßte sich keuchend in die Nische und schloß die Augen. Er konnte schon den Atem der Häscher spüren. Dann packte ihn eine knochige Faust, und er ließ widerstandslos geschehen, daß sie ihn ein Stück über den Boden schleifte und dann mit einem Ruck gegen die nächste Ecke stieß. Erst jetzt riß er die Augen weit auf. Er sah keinen Polizisten und blickte in keine Pistole. Der Mann, der ihn neugierig musterte, trug einen schmutzigen Kittel, auf den wunderliche Ornamente gestickt waren, und am Kinn einen undurchdringlichen Bart, der ihn an irgendein Wesen aus der Märchenwelt erinnerte. Seine Augen funkelten hinter dicken Brillengläsern. Er stand leicht gebeugt da. Seine für sein Alter noch erstaunlich vollen grauen Haare zierten ihn wie die Mähne eines Löwen. 8
Guinn Rankin war nicht in der Lage zu erfassen, was mit ihm geschehen war. Er wußte nur, daß er die Polizisten zwar immer noch hörte, sie aber nicht sehen konnte, weil er sich plötzlich auf der anderen Seite jener Tür befand, an der er eben noch so verzweifelt gerüttelt hatte. Der Alte wurde ihm unheimlich. Und die Frage, die er ihm nun stellte, brachte ihn fast um den Verstand. »Würde es dir etwas ausmachen zu sterben?« Der Greis kicherte. Guinn sah ihn fassungslos an. »Natürlich würde mir das was ausmachen. Warum, glauben Sie, bin ich getürmt?« »Weil du Rache nehmen willst?« »Rache? An wem sollte ich mich rächen?« »An allen, die schuld sind an deinem Unglück. Wüßtest du da keinen?« Guinn Rankins Gesicht verzog sich zu einer haßerfüllten Grimasse. »Mehr als genug. Nicht nur Judge Warner, der mich verraten hat.« »Das dachte ich mir.« Wieder dieses hohle Kichern. »Du sollst deine Rache bekommen. Aber dazu mußt du zuvor sterben. Und in deiner Todesstunde mußt du voller Haß an alle denken, die deine Rache vernichten soll.« Guinn Rankin schauderte. Draußen hämmerte es gegen die Tür. Er erschrak. »Sie sind schon da«, flüsterte er. »Du mußt dich entscheiden. Niemand zwingt dich. Es muß dein freier Entschluß sein.« Die blassen Augen des Alten hingen lauernd an dem Zögernden. »Was haben Sie mit mir vor?« »Für Erklärungen ist jetzt keine Zeit, mein Freund. Einiges wird geschehen, worüber du dich nicht wundern darfst. Aber du wirst über deine Feinde triumphieren.« Das Pochen an der Tür verstärkte sich. »Machen Sie auf, Mr. Cioffi!« schrie eine Stimme. »Polizei!« Der Alte legte seine Hand auf die Klinke, aber er drückte sie nicht 9
herunter. »Du zögerst, Guinn Rankin«, stellte er ruhig fest. »Also nehme ich an, daß du auf die Rache an deinen Verderbern verzichtest.« Guinn Rankin wunderte sich, daß der Fremde seinen Namen kannte. »Schade!« hörte er ihn sagen. »Deine Dorice tut mir leid. Sie hat einen Feigling geliebt.« Dorice! Auch diesen Namen wußte der Mann, den er nie zuvor gesehen hatte. Ging das mit rechten Dingen zu? War da Zauberei am Werk? Aber nein! So etwas gab es nicht. Wenn einer Erfolg hatte, dann lag das nicht an magischen Fähigkeiten, sondern an seiner Fähigkeit, skrupellos die Ellenbogen einzusetzen. »Ich werde deinem Stiefvater ausrichten, daß du ihm verziehen hast«, sagte Carlando Cioffi leichthin. »Und auch jener zierlichen Kleinen, die dich schamlos betrogen hat. Hieß sie nicht Sylvia? Oder Mister Hunnicut, der dich an die Luft setzte, weil er deinen Job für einen Burschen brauchte, der ein bißchen viel über ihn wußte? Oder…?« »Hören Sie auf, Mr. Cioffi!« Guinn Rankin war leichenblaß. Er wollte nicht seine sämtlichen Niederlagen aufgezählt hören. Dieser Kerl war gespenstisch. Er wußte einfach alles. »Ich bin mit allem einverstanden.« Die Worte waren kaum zu verstehen, aber der Greis zuckte augenblicklich herum. »Du bist bereit zu sterben?« »Machen Sie mit mir, was Sie wollen?« »Und du willst Rache üben?« »Ich wüßte nicht, was ich lieber täte.« Der Alte lachte grausig. Zu seinem Entsetzen sah Guinn Rankin, wie er entschlossen die Haustür öffnete und die Polizisten hereinstürmen ließ. Auch er hatte ihn also nur belogen! Er glaubte, die Stimmen der beiden Beamten wiederzuerkennen. 10
Es handelte sich um die gleichen Männer, an die Judge ihn verraten hatte. »Warum öffnen Sie denn nicht, Mr. Cioffi?« fragte Inspektor Stone vorwurfsvoll. »Sie müssen etwas lauter sprechen, Sir«, bat der Greis und hielt sich eine Hand ans Ohr. »Ich verstehe Sie sehr schlecht.« Der Inspektor nickte. Er erklärte den Grund der Störung und beschrieb das Aussehen des Mörders. »Er heißt Guinn Rankin. Haben Sie so einen Burschen gesehen?« »Nein!« behauptete Cioffi fest, obwohl der Gesuchte knapp hinter ihm stand. »Dürfen wir uns mal bei Ihnen umsehen?« »Sie glauben mir nicht, wie?« »Es ist nur zu Ihrer eigenen Sicherheit, Mr. Cioffi. Diese Halunken schrecken vor nichts zurück.« »Bitte sehr, schauen Sie nur nach. Aber bringen Sie mir nichts durcheinander. Wenn es auch nicht so aussieht, es ist doch alles genau geordnet.« Er ließ sein bekanntes Kichern hören. Guinn Rankin starrte dem Inspektor und seinem Sergeant genau ins Gesicht. Die beiden Polizisten starrten zurück, aber sie nahmen keine Notiz von ihm, sondern gingen an ihm vorbei. Sergeant Powell hätte ihn über den Haufen gerannt, wenn er nicht im letzten Augenblick ausgewichen wäre. Sie durchsuchten sämtliche Räume, kamen aber bald wieder ergebnislos zurück. Sie verabschiedeten sich mürrisch. Auch Guinn Rankin warfen sie noch einen Blick zu, aber der war seltsam starr und durchsichtig. * Die Gefahr war vorüber. Guinn Rankin blieb bei Carlando Cioffi. Er verließ nicht mehr das Haus. Nicht mal des Nachts. Während dieser Stunden beschäftigte 11
sich sein Retter mit ihm. Der Greis hatte im Keller eine Art Laboratorium eingerichtet. Die Ordnung, von der er zu den Polizisten gesprochen hatte, war allerdings schwer zu erkennen, doch Cioffi fand sich auf wunderbare Weise in dem heillosen Durcheinander zurecht. Das allein grenzte schon an Zauberei. Alles andere, was in diesem Keller geschah, verdiente diese Bezeichnung jedoch erst recht. Der Alte braute Getränke, die sein Gast zu ganz bestimmten Zeiten und in genau vorgeschriebenen Zeremonien trinken mußte. Guinn Rankin mußte sich an gespenstisch anmutende Apparaturen anschließen und Stromstöße durch seinen Körper jagen lassen. Er war der passive Partner bei Beschwörungsakten, die imaginären Geistern galten. Guinn Rankin hatte anfangs versucht, sich nach Sinn und Zweck dieser unverständlichen und manchmal sogar schmerzhaften Prozeduren zu erkundigen. Aber Carlando Cioffi schien nicht willens zu sein, ihn über seine Pläne aufzuklären. Also schwieg er fortan und ließ alles über sich ergehen, was der Meister bestimmte. Im Grunde war es ihm gleich, was mit ihm geschah, solange ihn die Polizei nicht aufspürte. Er hatte ein Bett, wenn es auch eher wie eine Richtstätte aussah. Er war nicht hungrig, obwohl Cioffi ihn nur mit Kräutern und abscheulichen Extrakten ernährte. Jegliches Zeitgefühl war ihm abhanden gekommen. In den Räumen, in denen er sich aufhalten durfte, gab es weder eine Uhr noch einen Kalender. Zeitungen hielt der Meister ängstlich von ihm fern, und daß es Rundfunk und Fernsehen gab, hatte er längst vergessen. Er vergaß überhaupt eine Menge. Im Grunde erinnerte er sich nur noch an die Dinge, an die Augenblicke und Menschen, denen er seine größten Demütigungen zu verdanken hatte. Schrittweise wuchs der Haß in ihm. Er nährte seinen Groll, und es 12
fiel ihm nicht mehr auf, daß er in seinem Urteil ungerecht wurde und sich selbst an seinem Schicksal nicht die geringste Schuld gab. Er war ein leidenschaftlicher Menschenhasser geworden, und die einzige Ausnahme darin bildete Carlando Cioffi, sein Meister, dem er Dank schuldete und den er als Mächtigen akzeptierte. Es gab noch einen zweiten Menschen, den zu hassen ihm nicht gelang. Dorice Nelson, die Frau, die er hatte heiraten wollen. »Ich möchte ihr wenigstens ein paar Zeilen schreiben«, bat er eines Abends. Der Alte funkelte ihn zornig an. »Diesem Weibsbild? Sie ist nicht besser als die anderen. Nimm jetzt deinen Trank! Vielleicht siehst du danach klarer.« Er reichte Guinn Rankin einen Becher, in dem eine trübe Flüssigkeit schwamm. Teilnahmslos ergriff der Jüngere das Gefäß und setzte es an die Lippen. Er sah nicht, wie ihn der Alte gespannt beobachtete. Er nahm einen vorsichtigen Schluck. Das Gebräu schmeckte abscheulich, aber das war er inzwischen gewöhnt. Er wunderte sich nicht mehr darüber, daß er immer noch am Leben war, obwohl er sicher schon so viel Gift getrunken hatte, daß es für eine ganze Armee ausgereicht hätte. Er setzte den Becher ab und starrte stumpfsinnig und apathisch hinein. Seine Blicke wurden magisch angezogen. Es war nicht sein eigenes Gesicht, das ihm wie aus einem blankgeputzten Spiegel entgegenlächelte. Es war das Gesicht von Dorice. Guinn Rankin schüttelte heftig den Kopf. Er phantasierte. Er sah ihr Bild, weil er so intensiv an sie dachte. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Er atmete heftig. Leise rief er ihren Namen. Sie antwortete! Tatsächlich, sie antwortete ihm! Sehr zärtlich, sehr verlockend und verführerisch: »Judge!« Verdammt! Er hieß nicht Judge. Er wollte diesen verhaßten Namen nicht hören. Judge hatte ihn wie Judas den Häschern ausgeliefert. 13
Das Bildnis in dem Becher strahlte noch immer. Zum Teufel! Sie meinte gar nicht ihn. Sie meinte den Verräter. Wahrscheinlich hatte sie ihn immer schon gemeint. Wenn sie von ihrer gemeinsamen Zukunft gesprochen hatten, waren ihre Gedanken bei dem anderen gewesen. Zur Hölle mit ihr! Guinn Rankin stürzte den restlichen Inhalt des Bechers hastig hinunter und schleuderte das Gefäß in die Ecke. Er verdrehte die Augen und glitt mit einem Röcheln zu Boden. Carlando Cioffi beugte sich höhnisch lächelnd über ihn. »Bist du endlich reif, du Narr?« flüsterte er triumphierend. »Bricht der Tag endlich an, an dem ich an dir meine Macht erproben kann? Nur noch wenige Tage, dann ist es vollendet. Du wirst als dein eigener Dämon umgehen und die morden, die dir mein Haß nennt. Du bist mein Geschöpf, und du mußt mir, deinem Meister, gehorchen. Ewig! Meine Macht wird unendlich sein. Sie werden mich fürchten lernen und doch nicht wissen, vor wem sie zittern. Ich werde den mißratenen Erdball formen mit deiner Hilfe, mit deiner Rache. Schon bald wirst du deine Blutfährte aufnehmen. Und nur ich allein werde dich stoppen können. Hier, in dieser meiner Burg!« Seine Augen waren jetzt giftgrün. Sie sprühten unheimliche Funken, während er unverständliche Formeln murmelte, seine Hände zu beschwörenden Gesten in die Luft warf und, ohne sich weiter um den am Boden Zusammengekrümmten zu kümmern, hohnlachend das Kellerlaboratorium verließ. * Inspektor Stone hieb wütend mit der Faust auf die Tischplatte, »es ist unmöglich!« schrie er unbeherrscht. »Er ist ein Mörder, aber kein Geist, der spurlos vom Erdboden verschwinden kann. Wir haben ihn schon fast gehabt, und doch ist er uns entkommen.« Sergeant Powell mußte zugeben, daß es wie verhext war. »Wir haben die ganze Gegend durchkämmt, Sir. Wir waren in jedem 14
Haus. Rankin war nicht da.« »Er ist zwar nicht gerade ein Hüne, aber immerhin zu groß, als daß er von zwanzig Polizisten der britischen Krone einfach übersehen werden könnte. Es sei denn, er wäre in der Lage, sich so winzig zu machen, daß wir an ihm vorbeigesehen haben.« Powell grinste sparsam. »Vielleicht hat er uns auch hypnotisiert.« Er bereute sofort seine vorlaute Bemerkung, denn Inspektor Stone sah ihn so seltsam an. als wollte er ihn fressen. »Ich meinte natürlich…« »Menschenskind, Powell! Das ist es.« Der Inspektor schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Nur so kann es gewesen sein. Wir wurden hypnotisiert.« »Von Guinn Rankin?« Stone schüttelte heftig den Kopf. »Das traue ich dem Kerl nicht zu. Nach allem, was wir über ihn gehört haben, ist er nicht mal in der Lage, mit dieser Welt fertigzuwerden, geschweige denn mit einer anderen! Da steckt ein Unbekannter dahinter.« »Aber wer?« »Cioffi. Je länger ich darüber nachdenke, um so verdächtiger wird mir der Bursche.« Dieser harmlose alte Knabe?« »Alt ja, aber harmlos? Denken Sie nur an seinen unheimlichen Keller, in dem es wie in einer Hexenküche aussah. Ich bin davon überzeugt, daß er uns auf ganz gerissene Weise hereingelegt hat.« »Aber weshalb? Was hätte Cioffi davon, einen Mörder zu verstecken?« »Eben das will ich ihn fragen, und diesmal werden wir nicht geduldig vor der Tür warten, sondern uns selbst Einlaß verschaffen. Wir nehmen eine Handvoll Leute mit.« Carlando Cioffi wurde durch das plötzliche Erscheinen so vieler Polizisten förmlich überrumpelt. Zwar versuchte er, mittels seiner hypnotischen Kräfte das Schlimmste abzuwenden, doch die Beamten drangen in seinen Keller ein, und dort fanden sie Guinn Rankin, der aus allen Wolken fiel. 15
»Es ist noch zu früh«, kreischte Cioffi. Er wehrte sich heftig gegen die Hände, die nach ihm griffen, und bemühte sich, Rankin etwas zuzustecken. Inspektor Stone war auf der Hut und verhinderte es. »Was haben Sie denn da Schönes?« wollte er wissen und entwand ihm ein Glasröhrchen mit verschiedenen Pillen. Er sah den Alten prüfend an. »Gift?« Er reichte die Ampulle Sergeant Powell. »Lassen Sie das umgehend im Labor untersuchen!« Carlando Cioffi wurde genauer untersucht, und man fand mehrere Papiertütchen in seinen Taschen. Sie enthielten getrocknete Kräuter, Pulver und Substanzen, die wie Teile von Insekten aussahen. Der Greis verweigerte jede Aussage über Sinn und Zweck dieser Dinge. »Sie dürfen meinem Patienten nicht die Medizin wegnehmen«, lamentierte er. »Er braucht sie dringend, sonst geschieht etwas Entsetzliches.« »Wir werden Rankin durch unsere Ärzte untersuchen lassen«, versprach Inspektor Stone ungerührt, »und er wird das erhalten, was erforderlich ist, aber nichts anderes.« Der Alte verlegte sich aufs Drohen und danach auf weinerliches Bitten, aber Stone ließ sich nicht beeinflussen. Er hütete sich auch, dem Greis in die Augen zu sehen, denn er ließ sich nicht von seiner Überzeugung abbringen, daß der Halunke ihn bei der ersten Begegnung hypnotisiert hatte. Die Tatsache, daß sie den Mörder nun wirklich in seinem Haus gefunden hatten, unterstützte diese Vermutung. Guinn Rankin leistete keinen Widerstand, als man ihn abführte. Er war völlig apathisch, während Carlando Cioffi sämtliche Geister beschwor, ihm beizustehen, um das Fürchterliche zu verhindern. Aber kein Geist erschien. * 16
Guinn Rankin wurde untersucht, und man stellte fest, daß ihm organisch nicht das Geringste fehlte und er demzufolge auch keine Medizin benötigte. Auch sein Geisteszustand war intakt, wenn er augenblicklich auch kaum Reaktionen auf die ihm angebotenen Reize zeigte. Das Gutachten bescheinigte ihm volle Verantwortlichkeit für die brutale Tat, und der Schuldspruch würde nur eine Formsache sein. Während des Prozesses wurden eine Menge Zeugen verhört, die zur Person des Täters aussagten. Fast alle wollten schon immer gewalttätige Neigungen bei ihm beobachtet haben. Lediglich Dorice Nelson machte darin eine Ausnahme. Das blonde Mädchen mit den verweinten, blauen Augen war so durcheinander, daß seiner Aussage keine Bedeutung zufiel. Die Beobachter der Verhandlung stellten fest, daß der Angeklagte sämtliche Zeugen mit geradezu tödlichem Haß fixierte. Auch Carlando Cioffi wurde als Zeuge gehört. Gegen ihn würde in einem späteren Prozeß wegen Begünstigung verhandelt werden. Der Alte weigerte sich, die Fragen des Anklägers der Krone zu beantworten, und versuchte statt dessen, ein Plädoyer über die Vergänglichkeit der Menschen und über die Macht des Hasses zu halten. Er wurde schließlich abgeführt und verließ den Gerichtssaal mit einem lästerlichen Fluch. Guinn Rankin wurde nach drei Tagen zu lebenslanger Haft verurteilt, und es gab nicht wenige unter den Zuhörern, die die Todesstrafe für angemessener gehalten hätten. Als der Verurteilte unter den Schmährufen der Anwesenden hinausgeführt wurde, brach er plötzlich zusammen. Alle, die an billiges Theater glaubten, mußten sich wenig später von den Ärzten belehren lassen, daß Guinn Rankin tatsächlich tot war und sich somit seiner Strafe entzogen hatte. Die Mediziner schüttelten noch eine Weile über den Tod des kerngesunden Mannes die Köpfe. Sie stellten verschiedene Theorien auf und konnten sich nicht einigen. 17
Die Zeitungen schlachteten die Einzelheiten des Prozesses und seines unerwarteten Endes weidlich aus. Stanlay Simon verkaufte die Lebensgesichte seines Stiefsohnes Guinn Rankin für eine hohe Summe an eine Zeitung und sie erschien dreizehn Wochen lang und lieferte eine angenehme, prickelnde Gänsehaut in Hunderttausende von Haushalten. Doch nach einem Vierteljahr war kein müder Penny mehr mit der Story von Guinn Rankin zu verdienen, und schon bald erinnerte sich kaum mehr einer seines Namens. * Wer die Unverschämtheit besitzt, mir Faulheit nachzusagen, weiß bestimmt nicht, was ich während der letzten Tage alles um die Ohren hatte. Ich will mich nicht beklagen. Es hat auch schon ruhige Zeiten beim Secret Service gegeben. Aber momentan spielten mal wieder alle verrückt. Barbara Hicks sowieso. Von der war ich das gewöhnt. Sobald sie mich sah, suchte sie förmlich nach einer Möglichkeit, mich zu ärgern. Ihre Behauptung, auf dem kleinen Friedhof in Finsbury eine Gestalt mit einem Schlangenkopf gesehen zu haben, die sich vor ihr versteckt hatte, nahm ich nicht ganz ernst. Damit wollte sie vermutlich nur verhindern, daß ich der Anzeige von Hedi Seiler nachging, die seit mehreren Tagen von geisterhaften Stimmen in ihrem Haus in der Cochrane Street geängstigt wurde. Hedy Seiler war das, was ich eine erfreuliche Erscheinung nennen würde. Barbara Hicks war das nicht. Für mich hätte es keine Frage gegeben, welchem Fall ich zuerst nachgehen sollte. Leider steckte sich Barbara hinter Sir Horatio, unseren gemeinsamen Chef, und der traute sich offenbar nicht, ihr zu widersprechen. Jedenfalls entschied er zu ihren Gunsten. Aber das war noch längst nicht alles. 18
Im Hyde-Park hatten spielende Kinder Teile eines Skeletts gefunden, das unverkennbar von einem Menschen stammte. Bis auf den Schädel. Der gehörte angeblich eher zu einem Hund. Der Beweis konnte nicht angetreten werden, denn als die Polizei den Fund sicherstellen wollte, war er verschwunden. Lediglich eine etwa fünf Fuß tiefe, nach unten sich keglig verjüngende Grube war zurückgeblieben, aber die konnte auch von den Kindern stammen, obwohl sie es bestritten. »Kümmern Sie sich mal drum, Mac«, hatte Sir Horatio gesagt. »Der Yard hat uns drum gebeten.« Natürlich! Wenn die Jungens von Scotland Yard nicht weiterwußten, erinnerten sie sich gnädigerweise unserer Existenz. Besonders wenn ihnen etwas ganz und gar nicht geheuer erschien, erhielt Sir Horatio prompt einen Anruf, und dann mußte ich ran. Schließlich war ich für solche Fälle der Spezialist. Manchmal hatte ich die Burschen ja im Verdacht, daß sie in einen Fall nur etwas hineingeheimnisten, wenn sie ihn abschieben wollten. Aber ich hatte auch schon gute Erfahrungen mit dem Yard gemacht, überwiegend gute. Mit David Stone war ich sogar befreundet. Nun gut, Stone befand sich schon längst im Ruhestand, aber daß er vierzig Jahre Polizist gewesen war, konnte er nicht leugnen. Gerade jetzt hatte er den Wunsch geäußert, mich dringend zu sprechen. Ihn quälten scheußliche Ahnungen, über die er meine Meinung wissen wollte. Doch ich hatte ganz einfach momentan keine Zeit für ihn, so leid es mir auch tat. Ich würde ihn anrufen, wenn ich Barbaras Phantom als einen harmlosen Schatten oder etwas Ähnliches enträtselt hatte. Vielleicht fuhr ich auch bei ihm vorbei. Seine Wohnung lag auf dem Weg zur Cochrane Street. Am meisten ärgerte mich aber, daß ich bei all diesen angeblichen Spukerscheinungen keine Zeit erübrigen konnte, um an Dinas Geburtstagsparty teilzunehmen, obwohl sie mich eingeladen hatte. Dina gehörte erst kurze Zeit zu unserem Verein. Sie wurde vorläufig nur bei den weniger riskanten Fällen eingesetzt. Ihre ganz 19
speziellen Qualitäten wußte man jedenfalls beim Service zu schätzen. Besonders wenn es darum ging, sie auf einen Mann anzusetzen, der ihr seine ängstlich gehüteten Geheimnisse anvertrauen sollte. Dina war kein Kind von Traurigkeit. Das kam ihr bei diesem Job zustatten. Zweifellos mißgönnte Barbara Hicks mir einen Flirt mit der Kleinen. Ich tat also, was ich tun mußte, setzte mich in meinen MG und kurvte zum Friedhof in Finsbury, ohne recht zu wissen, wonach ich suchen sollte. Es war schon Mitternacht, Ich hatte mit voller Absicht diesen Zeitpunkt gewählt, denn wenn sich leider auch bei weitem nicht alle Geister an die für sie reservierte Stunde für ihr Treiben hielten, so war die Chance, zwischen zwölf und eins ein Wesen des Schattenreiches zu treffen, größer als während des übrigen Tages. Während ich zwischen den Gräbern entlangschritt, spürte ich die seltsame Atmosphäre, die mich warnte. Schon oft hatte mich dieses Gefühl im entscheidenden Augenblick vor Schlimmem bewahrt. Sollte Barbara wider Erwarten Recht behalten? Ich konnte es kaum glauben. Ich war allein auf dem Gottesacker. Vor jedem einzelnen Grab blieb ich stehen. Ich studierte die Inschriften, wo ich welche fand, und suchte nach Verbindungen zur Vergangenheit. Ich fand nichts. Die kleine Kapelle stand schweigend am Eingang des Friedhofs. Auch sie gab keine Antwort auf meine Frage, die da lautete: Mac, hält dich die Hicks zum Narren, oder ist ihr wirklich etwas Grausiges erschienen, was du ihr durchaus gönnen würdest? Man möge mich nicht für frivol halten, aber ich habe mich schon manchmal gefragt, was einfacher sei – gegen die Ungeister dieser Welt zu kämpfen oder sich gegen Sir Horatios Vorzimmerdrachen zu behaupten. Ich vertrödelte eine geschlagene Stunde. Ich verbarg mich hinter einer Tuja-Hecke, nachdem ich so getan hatte, als wäre ich wieder 20
fortgefahren. Und da passierte es. Zuerst glaubte ich an eine Sinnestäuschung. Doch dann erkannte ich die Bewegung ganz deutlich. Dort hinten bei der düsteren Steinmauer kauerte jemand. Er mußte erst gekommen sein, sonst hätte ich ihn schon bei meinem Rundgang entdecken müssen. Wer war es, und was trieb er um diese Zeit hier? Auf die Antwort war ich schon mächtig gespannt. Ich schlich mich behutsam näher und versuchte zu ertasten, ob es sich um ein dämonisches Wesen handelte. Ich kam zu keinem Erfolg. Ich mußte näher heran. Während ich mich vorwärts bewegte, überlegte ich mir, wie ich mich im Falle eines Angriffs verhalten sollte. Den Krif untersuchten immer noch die Kollegen vom Labor. Ich trug lediglich ein silbernes Kreuz bei mir. Eine etwas dürftige Ausrüstung, falls es hart auf hart ging. Aber warum sollte es das? Das Unbekannte konnte mich kaum als Gegner einstufen. Nur zehn Schritte trennten mich noch von ihm. Da sprang der Schatten plötzlich auf und jagte davon. Er mußte mich entdeckt haben. Ich war verblüfft. Zwar hatte ich den Eindruck, daß das Wesen einen ausgesprochen kleinen Kopf besaß, doch ob es sich um einen Schlangenkopf handelte, wagte ich nicht zu behaupten. Ich flitzte hinterher. Das Versteckspielen konnte ich unbesorgt aufgeben. Der andere wußte genau, wo ich mich befand. Er sprang über die Mauer. Sie war immerhin acht Fuß hoch, und er brauchte fast keinen Anlauf. Mein sportlicher Ehrgeiz war angestachelt. Vor allem aber konnte ich mir keinen Umweg leisten. Sonst war der Halunke auf und davon. Ich jagte auf die Friedhofsmauer zu und stieß mich ab. Ich muß 21
gestehen, daß ich sie nicht mit so elegantem Schwung bezwang. Immerhin fiel es mir nicht schwer, mich mit einem Klimmzug hochzuziehen und einen Fuß auf das morsche Gestein zu stellen. Es krachte in allen Fugen. Ich sah ihn. Er flitzte genau auf meinen MG zu. Das war ja wohl die größte Unverschämtheit. Zum Glück hatte ich das Faltdeck geschlossen. Ich sprang auf der anderen Seite herunter, prallte auf einen Stein, der durch Grasbüschel verborgen gewesen war, und knickte mit dem Fuß um. Zur Hölle! Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ich malte mir Barbaras süffisantes Lächeln aus, wenn ich morgen mit einer Bandage zum Dienst erschien. Den Triumph gönnte ich ihr nicht. Ich biß die Zähne aufeinander, daß es nur so knackte und humpelte los. Es tat gemein weh, doch nach einigen Schritten ging es schon merklich besser. Ich holte auf. Der Halunke hantierte tatsächlich an meinem Wagen herum. Er wandte mir den Rücken zu und schien mit dem Türschloß nicht klarzukommen. Ich rief ihn an und riet ihm, keine Dummheiten zu machen, weil ich Spaß nur mittwochs verstünde. Tatsächlich rannte er weiter, wobei Ich den Eindruck hatte, als würde er sich auf Kugeln bewegen. Jedenfalls war er enorm schnell. Diese Faxen konnte er mit mir nicht machen. Ich war jetzt fest entschlossen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Ich hetzte hinter ihm her – und kriegte einen Mordsschreck. Die Scheinwerfer meines MG blendeten plötzlich auf und strahlten mir genau in die Augen. Dabei wußte ich genau, daß der Kerl nicht eingestiegen war. Der Motor brummte auf, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Immer schneller. Und er kam direkt auf mich zu. Ich hatte die Handbremse angezogen, und die Straße war so hori22
zontal wie ein Billardtisch. Wenn der Wagen sich selbständig machte, mußte das einen anderen Grund haben. Und der Grund lief gerade um die Ecke. Ich befand mich in einer fatalen Zwickmühle. Einerseits wollte ich den Typ nicht aus den Augen verlieren, andererseits mußte ich mich mit einem seitlichen Sprung vor meinem eigenen Auto in Sicherheit bringen, sonst hätte es mich überrollt. Ich landete im Dreck, war aber sehr schnell wieder auf den Beinen. Zum Glück, denn der MG kurvte einen engen Bogen und kam zurück. Jetzt stand fest, daß er mir ans Leder wollte. Daß es sich bei dem Kerl um keinen normalen Menschen handelte, stand nun endgültig fest. Er hatte meinen Wagen dämonisch manipuliert und mich als Opfer für sein Spielchen ausgewählt. Das ging mir gegen den Strich. Vorläufig konnte ich aber nichts anderes tun als laufen, denn der Wagen blieb mir auf den Fersen und ließ sich auch nicht abschütteln, als ich mich zwischen die vor dem Friedhof aufgestellten Bänke zu retten suchte. Unterdessen suchte der Halunke das Weite. Das allein war wohl der Grund, warum er mich mit meinem Wagen beschäftigte. Er wollte mich an einer Verfolgung hindern. Ein Königreich für ein Taxi! Natürlich befand sich keins in der Nähe. Wie hätte es auch anders sein können. Ich schlug kurz vor einer Reihe von Alleebäumen einen riskanten Haken und erwartete, hinter mir ein ohrenbetäubendes Krachen zu hören, was den Abschied von meinem MG bedeutet hätte. Aber ich täuschte mich. Das Fahrzeug bremste scharf ab, stand nun aber so, daß es erst zurückstoßen mußte, wollte er mich weiter verfolgen. Ich nutzte die kleine Atempause, um mich erneut an die Fersen meines unbekannten Wunderlings zu heften. Er huschte gerade über die Margery Street und blickte sich höhnisch nach mir um. Jetzt blieb er sogar stehen und verneigte sich. 23
Das Licht einer Laterne fiel auf sein Gesicht. Nein, ein Schlangenkopf war das nicht. Es handelte sich um einen uralten Mann, dessen Wangenknochen weit hervorstanden und nur von einer ledrigen Haut überzogen waren. Die Augen lagen tief und schwarz in den Höhlen. Das eisgraue Haar hing ihm wirr ins Gesicht. Er trug keinen Anzug, sondern ein mantelartiges Kleidungsstück, das mit Erde und Mörtel von der Friedhofsmauer beschmutzt war. Er sah nicht gefährlich aus, aber dieser Eindruck täuschte. Ich blickte mich um und stellte fest, daß mein Wagen das Interesse an mir verloren hatte. Er stand still und brav vor den Bäumen. Sogar die Scheinwerfer waren wieder erloschen, und der Motor schwieg. Der Alte lachte. Es gellte über die Straßen zu mir herüber und zog mir die Haut zusammen. Es klang wie der Ruf aus einem Grab. Noch zögerte ich. Sollte ich zu Fuß hinter ihm herjagen, oder konnte ich mich wieder dem MG anvertrauen? Vielleicht wollte mich der Erzgauner nur in das Fahrzeug locken, um mich dann ganz in der Gewalt zu haben. Ich entschied mich für meine Beine und legte einen Sprint ein. Wenn ich in diesem Tempo weiterlief, würde ich ihn bald haben. * Über dem Friedhof von Finsbury lag wieder friedliche Stille. Die beiden Störenfriede waren verschwunden, und das war mit voller Absicht geschehen, denn hier sollten Dinge geschehen, die nicht für die Augen eines Geisterjägers bestimmt waren. Noch ließ nichts darauf schließen. Alles war wie sonst. Auf den Gräbern türmte sich feuchtes Laub. Ab und zu segelte ein weiteres Blatt herab. Im Geäst kauerte verborgen ein Kauz und ließ von Zeit zu Zeit einen klagenden Ruf hören. Er war der Wächter der Toten, die nicht gestört werden wollten. Gleich beim Eingang des Gottesackers befanden sich die prunkvollen Grabdenkmäler. Hier lagen die Angehörigen von Geschäfts24
leuten und solchen Mitbürgern, die mit einem hastig ausgefüllten Scheck über tausend Pfund das nachholten, was sie zu Lebzeiten des Verstorbenen versäumt hatten. Die Gräber mit den einfachen Steinen oder Kreuzen schlossen sich an. Und ganz hinten, in der äußersten Ecke, lagen jene Toten, an die sich kein Hinterbliebener erinnerte – oder erinnern wollte. Es gab einige dieser verwahrlosten Grabstätten, die das Gesamtbild des Friedhofs negativ beeinflußten. Wenn dieser Teil auch durch eine hohe Hecke abgegrenzt wurde, so blieb er doch ein Ärgernis. Daß sich sogar die Toten in diesem Bezirk nicht standesgemäß benahmen, war kein Wunder. Es waren zu Lebzeiten Lumpen gewesen, und das blieben sie anscheinend auch im Tode. Es lag etwas in der Luft, was nur schwer zu erklären war. Vielleicht lag es an der frisch ausgehobenen Grube unter der gewaltigen Buche, vielleicht war auch nur ein Gewitter im Anzug. Jedenfalls konnte man die Spannung förmlich greifen. Der freche Kauz war inzwischen völlig verstummt. Er hatte seinen Kopf unter einen Flügel geschoben und lugte nur ganz vorsichtig hervor, als hätte er vor etwas Unheimlichem Angst. Es fielen auch keine welken Blätter mehr von den Bäumen. Es war, als hätte jemand den Befehl zur absoluten Stille gegeben. Zur völligen Konzentration. Doch dann waren Geräusche zu vernehmen. Es klang wie Ächzen und Stöhnen. Es kam von jenseits der Hecke. Die Umgebung schwieg. Nur an einem Grab begann ein Aufruhr. Es handelte sich um die letzte Ruhestätte eines Unbekannten. Kein Stein, kein Kreuz, keine Tafel trug einen Namen. Es war nicht mal sicher, ob hier eine Frau oder ein Mann begraben lag. Jedenfalls schien es dem Toten nicht mehr in seinem Sarg zu behagen, denn er revoltierte unter der Erde. Schließlich brach die obere Schicht auf, die dicht mit Moos und Unkraut bewachsen war, und das Ächzen und Stöhnen wurde noch lauter. Doch dabei blieb es nicht. 25
Eine bleiche Hand kroch aus der Scholle hervor. Sie tastete um sich und ballte sich zur Faust. Die dürren Knochen krachten, aber sie brachen nicht. Es war nur die lange Bewegungslosigkeit, die sich anfänglich bemerkbar machte. Das würde sich wieder geben. Eine zweite Hand folgte. Genauso bleich, genauso dürr. Aber sie war nicht verwest. Wenn man aufmerksam hinsah, konnte man den Eindruck gewinnen, als sei der Tote erst am Vortag zu Grabe getragen worden. Doch es war niemand da, der das hätte beurteilen können. Vermutlich wäre er auch in Ohnmacht gefallen, denn daß sich ein Leichnam aus seinem verschraubten Sarg befreite und sich anschickte, dem Grab zu entsteigen, war nur etwas für starke Nerven. Und natürlich auch nur im Film, nicht etwa in Wirklichkeit. Hier aber spulte kein Film ab. Hier befand sich kein Lichtspieltheater mit bequem gepolsterten Sesseln. Auf diesem Friedhof gab es nichts als Gräber, und jedes war unter der Erde gleich ungemütlich. Die augenfälligen Unterschiede waren nur oberflächlich. Die Hände halfen sich nun gegenseitig. Sie stemmten sich gegen den Riß in der Erde und verbreiterten ihn. Ein modriger Geruch entwich. Dann erschien der Kopf. Er sah grausig aus. Die Augen darin blickten zwar starr, aber die Höhlen waren keineswegs leer, wie man es bei einem Gerippe hätte erwarten dürfen. War es denkbar, daß es hier einem Scheintoten gelungen war, sich rechtzeitig zu befreien? Nein, es war ausgeschlossen. Entkräftet und ohne Werkzeug oder fremde Hilfe von außen ließ sich ein verschlossener Sarg nicht öffnen. Hier mußten andere, entsetzliche Dinge im Spiel sein. Das Käuzchen wagte noch immer nicht, sich bemerkbar zu machen. Die gespenstische Stille blieb. Und wenn dieser zum Leben erwachte Leichnam nicht gewesen wäre, hätte es nichts Ungewöhnliches auf dem Friedhof von Finsbury gegeben. Aber der Leichnam war eine schaurige Tatsache. Er stellte sich 26
nicht als Spuk oder Einbildung heraus. Er schien sich jetzt leidlich orientiert zu haben, denn er seufzte hohl und fuhr mit seiner Befreiungsaktion fort. Seine Hände packten erstaunlich kräftig zu, warfen die trockenen Erdbrocken beiseite und zogen seinen Körper vollends aus der Tiefe herauf. Ächzend richtete er sich auf und klopfte mechanisch den Schmutz von seinen Sachen. Er trug nicht etwa ein Leichenhemd oder war gar unbekleidet. Die Fäulnis hatte weder ihm noch seinem Gewand etwas anhaben können. Die Cordhose und der Rollkragenpullover waren zwar nicht gerade neu, doch er schien beides noch nicht lange getragen zu haben. Es war einfaches, aber solides Material. Der Tote blickte auf sein verwüstetes Grab herab. Sein Gesicht war voller Haß. Der Mund war geschlossen. Trotzdem formte er hörbar Worte: »Der Totentanz kann beginnen. So schnell hättet ihr mich wohl nicht zurückerwartet? Der Meister hatte recht. Es ist tatsächlich gelungen.« Dann setzte er sich in Bewegung, schritt durch die Reihen der Gräber und strebte dem Ausgang zu. Erst lange, nachdem er verschwunden war, ertönte der nächste Ruf des Kauzes. * Der Bursche spielte mit mir Katz und Maus. Je länger ich ihm folgte, um so klarer wurde mir das. Er war zu schnell für mich, und wenn er es darauf angelegt hätte, wäre er längst verschwunden. Warum hat er es nicht? Warum lockte er mich durch halb London? Hatte er irgendwo eine Falle für mich vorbereitet? Keuchend blieb ich stehen. Es war sinnlos, länger hinterherzurennen. Ich überlegte mir, ob der Kerl mich hätte töten können. Ob er mich absichtlich verschont hatte. Einen Sinn fand ich nicht darin. 27
Der Halunke wollte mir die Entscheidung offenbar erleichtern. Plötzlich entstand dort, wo er sich befand, ein Flimmern in der Luft. Er wurde durchsichtig und löste sich schließlich auf. Vor meinen Augen. Ich konnte es nicht verhindern. Schleunigst setzte ich mich in Bewegung. Ich wollte die Stelle genauer untersuchen. Ich wurde abermals enttäuscht. Zwar gelang es mir, feindselige Strahlen zu empfangen, sie waren aber ausgesprochen schwach. Offenbar sah der dämonische Schelm keinen ernstzunehmenden Gegner in mir. Dem konnte man abhelfen. Ich nahm das Silberkreuz vom Hals und beschrieb damit auf dem Boden einige weißmagische Symbole. Ich ordnete sie kreisförmig an und hoffte, daß der Bursche nicht inzwischen den Platz verlassen hatte. Die Zeichen würden ihn in erhebliche Schwierigkeiten bringen, falls er die Absicht hatte, wieder aufzutauchen. Ich war überzeugt, daß er es gewesen war, der Barbara Hicks erschreckt hatte. Bei seinen Fähigkeiten war er bestimmt auch in der Lage, sich einen Schlangenkopf oder andere scheußliche Attribute zuzulegen. Allerdings zweifelte ich daran, daß er so harmlos war, sich mit dem Erschrecken von Menschen zufriedenzugeben. Viel eher hielt ich für wahrscheinlich, daß er mich vom Friedhof hatte weglocken wollen. Ich hätte mich ohrfeigen können. War ich wirklich auf einen billigen Trick hereingefallen? Aber was konnte inzwischen auf dem Gottesacker geschehen sein? Das ließ sich ja immer noch feststellen. Ich mußte ohnehin zurück, um meinen Wagen zu holen. Ich hoffte, daß ihm seine Flausen vergangen waren. Es ist kein angenehmes Gefühl, in einem Fahrzeug zu sitzen, das sich als schwer erziehbar entpuppt. Unzufrieden machte ich mich auf den Rückweg. Erst jetzt merkte ich, wie weit ich gelaufen war. Nach zehn Minuten stoppte ich ein Taxi und nannte mein Ziel. 28
Der Fahrer zog den Kopf ein und vergewisserte sich zweimal, ob er sich nicht verhört hatte. Ich sah ihm an, daß er die Fuhre am liebsten abgelehnt hätte. Ein Trinkgeld, das ich ihm im voraus gab, zerstreute seine Bedenken. Er brachte mich zum Friedhof und sah mich durch das Tor verschwinden. Ich hörte, daß er wie ein Verrückter anfuhr und davonraste, als fürchtete er, ich würde mit einer Horde Gespenster zurückkommen. Ich war selbst gespannt, was ich finden würde, und machte mich auf allerhand gefaßt. Umsonst! Ich entdeckte nicht die kleinste Veränderung. Alles war, wie ich es bereits kennengelernt hatte. Trotz intensiver Suche konnte ich keinen Erfolg buchen. War also mein Verdacht unbegründet gewesen? Ganz glauben wollte ich es zwar nicht, aber ich konnte auch nicht das Gegenteil beweisen. Jedenfalls fand ich nicht die geringste Spur eines Höllenwesens oder eines Opfers. Nichts war zerstört worden, nichts war hinzugekommen. Ich brach die Suche ab und hoffte, daß ich mit den magischen Symbolen dem Spuk ein Ende bereitet hatte. Mit gemischten Gefühlen verließ ich den Friedhof und näherte mich meinem MG. Er stand nach wie vor bei den Bäumen. Hinter einem Scheibenwischer klemmte ein Zettel. Es handelte sich um die Mitteilung, daß ich um fünf Pfund ärmer geworden sei, sobald ich das Geld wegen verbotenen Parkens beim näher bezeichneten Polizeirevier abgeliefert hätte. Mein aufwallender Zorn wurde von dem angenehmen Gefühl übertrumpft, daß unsere wackere Polizei auch des Nachts nicht schlief. Außerdem sagte ich mir, daß dem Bobby bestimmt etwas aufgefallen wäre, wenn sich während meiner Abwesenheit auf dem Friedhof etwas getan hätte. Ich schob den Strafzettel in die Jackentasche und nahm mir vor, die Angelegenheit durch Barbara Hicks auf dem Dienstweg berei29
nigen zu lassen. Schließlich handelte es sich ja um ihren Schlangenköpfigen. Es war halb vier. Was sollte ich mit der angebrochenen Nacht beginnen? Hedy Seiler würde ich durch mein Läuten allenfalls zu Tode erschrecken. Die Ärmste war ohnehin das reinste Nervenbündel, seit die Geisterstimmen sie plagten. Zu ihr mußte ich bei Tage gehen. David Stone, der alte Knabe, hätte mich zwar zu jeder Tages- und Nachtzeit empfangen, aber so ganz war mir das gute Benehmen beim Service nun doch nicht abhanden gekommen. Noch bei Dina aufkreuzen, war sinnlos. Die Party war gelaufen. Auch ohne mich. Kathleen war darüber bestimmt nicht traurig. Ich glaube, manchmal traute sie mir nicht über den Weg. Blieb eigentlich nur noch das Skelett im Hyde-Park. Ich hatte zwar keine großen Hoffnungen, dort etwas Sensationelles aufzuspüren, aber es bedeutete keinen Umweg für mich, wenn ich nach Hause fuhr, um doch noch zwei oder drei Stunden zu schlafen. Sir Horatio würde sich freuen, wenn ich ihm vergewissern konnte, daß die trichterförmige Grube zweifelsfrei ein Gebilde von Menschenhand war. Der MG hatte noch kein einziges Mal aufgemuckt oder mit der Motorhaube nach mir geschnappt. Fast war ich versucht, ihn besänftigend zu streicheln. Dann entschloß ich mich lieber, ihm zu zeigen, Wer hier der Herr war, und schloß die Tür auf. Er blieb brav und zeigte keine Mucken. Auch als ich den Zündschlüssel herumdrehte und zumindest mit einer mittleren Explosion oder etwas in dieser Preislage rechnete, wurde ich angenehm enttäuscht. Der Wagen hatte offenbar alles vergessen, was ihm der Unheimliche an Ungezogenheiten beigebracht hatte. Und dabei blieb es während der ganzen Fahrt zum Hyde-Park. * 30
Dina Barrie trippelte heimwärts. Sie ärgerte sich, daß Sven sie nicht mit dem Wagen nach Hause brachte. Aber daran war sie wohl selbst schuld. Sie hätte nicht so oft mit Mark tanzen dürfen. Aber schließlich war sie frei und nicht Svens Eigentum, und außerdem konnte sie auf ihrer Party tanzen, mit wem und wie oft sie wollte. Mark konnte gut tanzen, und sie tanzte für ihr Leben gern. Das hatte sie wahrscheinlich von ihrer Mutter geerbt, die ihr oft erzählte, wie sie die Nächte durchgetanzt hatte, als sie noch in ihrem Alter war. Ihre Mutter mußte früher ein bildhübsches Mädchen gewesen sein. Das freute Dina Barrie um so mehr, weil viele Leute behaupteten, sie sei ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Das Mädchen verspürte noch Lust auf einen Drink. Es war einerseits beschwingt, andererseits taten ihm die Füße weh. Vielleicht traf es noch einen Bekannten, der es heimfuhr. Vor der Haustür würde es ihn dann verabschieden. Pech für den Jungen. ›Tonys‹ Bar hatte noch geöffnet. Aus einer Musicbox lärmte der neueste Hit. Es zuckte in ihren Beinen. Nach diesem Song hatte sie heute mindestens dreimal getanzt. Ohne zu zögern stieß sie die Tür auf und betrat den stickigen Raum. Es war nicht mehr viel los. Einige Pärchen drückten sich in den Nischen, ein paar Männer hingen an der Theke. Der Keeper blickte verstohlen auf die Uhr. Dina Barries Erscheinen machte müde Männer wieder munter. Ein schwarzhaariger Bursche rückte ein Stück zur Seite und winkte ihr zu. »Hallo, Baby!« rief er. »Diesen Platz habe ich für dich reserviert.« Sie kannte den Jungen nicht, aber er gefiel ihr, wenn er auch ein bißchen unheimlich aussah. Seine Wangen waren bleich und hohl. Seine dunklen Augen blickten fast durch sie hindurch, und obwohl er lächelte, ging etwas Beängstigendes von ihm aus. Sicher hatte er Liebeskummer. Sie würde sich seine Klagen anhören müssen. Aber das machte ihr nichts aus, wenn sie nur nicht zu Fuß nach Hause gehen mußte. Irgendwie sah er ja interessant aus. 31
Fast wie ein Geistlicher. Oder wie ein Forscher. Oder aber wie ein Gehenkter. Dina Barrie lachte bei diesem Gedanken glockenhell. »Lachst du über mich, Baby?« Der Fremde sah sie wütend an. »Unsinn, Fremder! Würde ich mich sonst zu dir setzen?« Fremder? Ja, sie waren sich fremd geworden, aber das war nicht seine Schuld. Jetzt tat sie so, als würde sie ihn nicht kennen. Hatte er sich so verändert? Guinn Rankin blickte in den großen Spiegel hinter dem Tresen. Es standen ganze Batterien von Flaschen davor, aber er konnte trotzdem noch gut erkennen, daß er der Alte geblieben war. Die Untersuchungshaft, der Prozeß und der kurze Aufenthalt im Sarg hatten keinen anderen aus ihm gemacht. Sie hatte ihn also tatsächlich schon vergessen. Sie hatte ihn abgelegt wie ein paar unmoderne Schuhe. Sie erinnerte sich nicht mal mehr, was sie ihm angetan hatte. Aber sein Gedächtnis funktionierte ausgezeichnet. Daß ihm der Zufall ausgerechnet dieses Girl gleich in der ersten Stunde über den Weg führte, nahm er als einen nicht zu übersehenden Wink. Er sollte beginnen. Es gab viel zu tun. »Was trinkst du?« fragte er. »Immer noch Gin Tonic?« Dina Barrie sah ihn überrascht an. »Woher weißt du das?« »Wichtige Dinge vergesse ich nicht.« »Und was ich trinke, ist wichtig für dich? Du bist süß. Wie heißt du? Haben wir uns schon mal getroffen? Ich heiße…?« »Ich weiß, wie du heißt!« unterbrach er sie. »Aber ich habe dich, immer Baby genannt, weil mir dein Name nicht gefiel. Und du sagtest Boy zu mir. Du hast es also tatsächlich vergessen.« Dina Barrie rutschte unruhig auf ihrem Barhocker hin und her. Mein Gott! Baby wurde sie von vielen genannt, aber sie konnte sich beim besten Willen an keinen erinnern, zu dem sie Boy gesagt hatte. Der Bursche wurde ihr langsam unheimlich. Wie er sie ansah! Es durchrieselte sie eiskalt. Wenn er sprach, bewegte er seine Lippen 32
nicht. Es war wie bei einem Bauchredner, nur nicht so lustig. Seit sie für den Geheimdienst arbeitete, hatte sie mit den merkwürdigsten Typen zu tun. Einen Mann wie diesen hatte sie aber noch nicht kennengelernt. Sie erhob sich. »Willst du schon gehen?« »Es ist spät… Boy.« »Darf ich dich begleiten?« Das Mädchen lächelte vielsagend. »Wenn du brav bist?« Er sah sie fragend an, als wüßte er nicht, was sie meinte. Er rutschte vom Hocker, nachdem er gezahlt hatte, und ging voraus. Himmel! Er war ein regelrechter Tolpatsch. Wenn er nicht aufgepaßt hätte, wäre er glatt gegen die geschlossene Tür gerannt. Bestimmt war er auch ein schlechter Tänzer. Deshalb erinnerte sie sich nicht an ihn. »Wo hast du denn deinen Wagen geparkt?« fragte sie, als sie auf der Straße standen. »Meinen Wagen? Ich habe keinen Wagen. Ich erreiche jedes Ziel zu Fuß.« Dina Barrie verdrehte die Augen. Das hatte ihr noch gefehlt. Dann hätte sie gleich allein weitergehen können. Am liebsten hätte sie den faden Burschen einfach stehenlassen. Aber das wagte sie nicht. Der Schwarzhaarige sah sie auf einmal so merkwürdig an, daß sie fast sicher war, daß er nicht die Absicht hatte, brav zu bleiben. Nun, sie hatte eine solide Ausbildung beim Secret Service hinter sich und trainierte auch jetzt noch dreimal in der Woche asiatische Kampftechniken. Er würde sich noch wundern. Sie reichte ihm die Hand. Er sah sie aus gläsernen Augen an. »Was soll das?« »Vielleicht sehen wir uns mal wieder, Boy?« »Bestimmt sogar, Baby. Bei deiner Beerdigung werde ich nicht fehlen.« »Bei meiner – Beerdigung?« Sie starrte ihn fassungslos an. Ein 33
Verrückter! Anders war es nicht möglich. Sie wich einen halben Schritt zurück, um die günstigste Verteidigungshaltung einzunehmen, aber er hielt sie blitzschnell am Handgelenk fest. Sie war außerstande, sich von ihm zu lösen. Das war ihr noch nie passiert. Seine eiskalten Blicke durchbohrten sie. »Au!« klagte sie irritiert. »Du tust mir weh!« »Du hast mir auch weh getan und nicht danach gefragt.« Dina Barrie rechnete mit dem Schlimmsten. Sie mußte fort von hier, aber es gelang ihr nicht, sich loszureißen. Wie eine stählerne Fessel umkrallte sie seine Faust, die sich entsetzlich kalt anfühlte. Durfte sie es wagen zu schreien? Würde er dann nicht erst recht durchdrehen? »Sei lieb!« flüsterte sie und kämpfte ihre Erregung nieder. Sie reckte sich auf die Zehenspitzen und drückte dem Mann einen flüchtigen Kuß auf die Lippen. Aber Guinn Rankin war damit nicht zufrieden. Er ließ sein Opfer nicht mehr los. Während er Dina Barrie küßte, suchten seine eisigen Hände ihren schlanken Hals. Sein Gesicht veränderte sich auf grauenvolle Weise. Die Wangen platzten auf. Bleiche Knochen sprangen daraus hervor. Die Lippen zerfielen. Das Mädchen fühlte seine fauligen Zähne auf ihrem Mund. Mit schreckgeweiteten Augen erwartete es den Tod. * Die Stelle, an der die Kinder das Skelett gefunden hatten, war mir von Sir Horatio exakt beschrieben worden. Ich hatte keine Schwierigkeiten, sie zu finden. Schwieriger war es schon, das Gerippe aufzuspüren. In der Grube lag es jedenfalls nicht. Trotz aller Bemühungen empfing ich keine fremdartigen Schwingungen. Das mochte daran liegen, daß zuviel Zeit verstrichen war. Vielleicht stammte das Skelett aber auch von einem lange zurückliegenden normalen Mord. Aber der Hundekopf? Das paßte nicht 34
zusammen. Ich untersuchte die Grube genauer und war nicht wenig überrascht, tatsächlich auf einen Knochen zu stoßen. Das wunderte mich, denn die Polizei hatte angeblich alles gründlich durchforscht und eingepackt, was mitnehmenswert war. Viel war's nicht gewesen. Jedenfalls kein Skelett. Das hatte sich offenbar aufgelöst. Es fiel nicht schwer, den Fund als einen Vogelknochen zu identifizieren. Die Geschichte wurde immer rätselhafter. Mensch, Hund und nun auch noch Vogel! Das mußte schon ein seltsames Wesen sein. Außerdem besaß es anscheinend Flügel, denn es mußte davongeflogen sein. Ich blickte mich suchend um und entdeckte einen weiteren Knochen. Auf seine Herkunft wollte ich mich nicht festlegen. Er konnte von einer Maus stammen. Ganz sicher war ich nicht. Gewissenhaft ließ ich ihn in einer Plastiktüte verschwinden, in der bereits der Vogelknochen lag. Die Jungens vom Labor sollten auch ihre Freude haben. Ich ging bis zum nächsten Parkweg, fand aber nichts mehr. Nachdenklich kehrte ich zurück und starrte in die Grube. Ich dachte, ich werde nicht mehr! Da grinste mich doch tatsächlich ein blanker Totenschädel an! Da seine leeren Augenhöhlen auch noch leuchteten, wurde mir ein bißchen zweierlei zumute. Ich hatte der Grube kaum zehn Minuten den Rücken gekehrt. Das Dämonische mußte sich ganz in meiner Nähe befinden und mich belauern. Merkwürdig, daß ich noch immer nichts spürte! Dafür begriff ich etwas. Mit aller gebotenen Vorsicht bückte ich mich und stieß mit der Faust gegen den Schädel. Eine brennende Taschenlampe fiel heraus. Das mußte ein sehr moderner Geist sein. Es dauerte nicht lange, bis ich mich davon überzeugt hatte, daß es sich bei dem Totenkopf lediglich um eine preiswerte Nachbildung aus Plastik handelte. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß die Schattenwesen neuerdings mit Requisiten made in Hong Kong operier35
ten. Ein bißchen Traditionsbewußtsein durfte ich wohl voraussetzen. Irgendwo aus einem Gebüsch erklang hohles Gelächter. Eine Grabesstimme ertönte und verfluchte mich: »Unseliger Frevler! Du mußt deine Missetat büßen. Eile fort, damit dich meine Rache nicht vernichtet.« Um den Drohungen mehr Nachdruck zu verleihen, flammte ein greller Blitz auf, der mich sekundenlang blendete. Erschrecken konnte er mich nicht. Ich wußte jetzt genug. Ich schoß in die Höhe und rannte genau auf das fragliche Gebüsch zu. Davon konnte mich auch ein weiterer Blitz nicht abschrecken. Damit hatte der Geist nicht gerechnet. Er bekam plötzlich ebenfalls Füße, und leider ziemlich schnelle. Trotzdem hatte er keine Chance. Nach zwei Minuten hatte ich ihn eingeholt und gestoppt. Es war sein Pech, daß er sich mit einer abenteuerlichen Maskerade selbst behinderte. Er trug einen monströsen Kopf und Hände mit fürchterlichen Krallen. Aber alles aus Latex. Im Versandhandel hatte das Zeug bestimmt zwanzig Pfund gekostet. Unter dem Kopf kam ein Junge von höchstens sechzehn Jahren zum Vorschein. Seine Courage war bis auf einen unbedeutenden Rest zusammengeschrumpft. »Sie werden wohl Spaß verstehen, oder?« maulte er und wollte sich von mir losreißen. Ich grinste ihn an. »Heute bin ich besonders lustig aufgelegt. Du glaubst gar nicht, was man für eine gute Laune hat, wenn man seit über zwanzig Stunden auf den Beinen ist und sich die Nacht eigentlich anders vorgestellt hat. Wie lange treibst du den Unfug schon?« »Hier im Park erst seit ein paar Tagen. Es war ein Mordsspaß, wie die Polizisten ankamen und nach dem Skelett mit dem Hundekopf suchten. Das hatte ich natürlich längst in Sicherheit gebracht.« »Und seitdem liegst du jede Nacht hier und freust dich, wenn du 36
einen nächtlichen Spaziergänger erschrecken kannst, wie?« Der Junge nickte unbekümmert. »Was soll man denn sonst anfangen, Mister? Die Leute sind ja selbst schuld, wenn sie drauf reinfallen. Sie glauben gar nicht, was man denen alles vormachen kann. Die halten es glatt für möglich, daß ihnen ein Dämon oder etwas ähnlich Unsinniges erscheint. Bei Kindern kann ich das ja noch verstehen. Aber bei Erwachsenen?« »Ich wünsche dir, daß du nie gezwungen wirst, deine Meinung zu korrigieren«, sagte ich ernst. »Es kann nämlich sehr leicht passieren, daß dich selbst ein Monster am Kragen packt, und das wird dann weniger Spaß verstehen als ich.« Er sah mich unsicher an. »Meinen Sie die Bullen?« fragte er. »Sie werden mich doch nicht anzeigen.« Ich war der Meinung, daß sich schon genügend Beamte mit diesem makabren Ulk beschäftigt hatten. Es war nicht nötig, daß er noch mehr Steuergelder verschlang. »Gib mir das Skelett!« forderte ich. Eine Trophäe brauchte ich schließlich als Beweis, daß wenigstens dieser Fall abgeschlossen war. »Das habe ich zu Hause«, behauptete er. Ich ließ nicht locker und ging mit ihm mit. Er wohnte in unmittelbarer Nähe des Parks in der Albion Street. Von dort holte er das Skelett, auf das er den Hundeschädel gesteckt hatte. Beides bestand ebenfalls aus Plastik. Die Kinder hatten das nicht näher untersucht. Ich verfrachtete meine Beute in den Wagen und fuhr nun endgültig nach Hause. Ich duschte und legte mich ins Bett. Wenn ich an den vermeintlichen Spuk im Hyde Park dachte, mußte ich trotz allem lachen. Das Lachen verging mir, als mich schon nach einer Stunde das Telefon weckte. Wenn das wieder ein Dummerjungenstreich war, wurde ich wild! Ich wollte schlafen. Wenigstens ein paar Stunden. Ich war sogar entschlossen, ein wenig später meinen Dienst anzutreten. 37
Der dumme Junge war Sir Horatio. Seine Stimme hörte sich nicht so an, als wollte er sich mit meinen Plänen einverstanden erklären. »Sie müssen heute etwas früher kommen, Mac«, sagte er auch prompt. Er mußte etwas geahnt haben. »Hat die gute Barbara wieder einen Schlangenkopf gesehen?« erkundigte ich mich ungnädig. »Es geht um Dina.« »Und deswegen wecken Sie mich, Sir? Ich werde ihr schon noch erklären, warum ich nicht zu ihrer Party gekommen bin. Es ist übrigens nur Ihre Schuld.« »Gar nichts werden Sie ihr erklären, Mac. Dina wurde ermordet. Man hat ihren Leichnam vor ›Tonys‹ Bar gefunden.« »Verdammt!« Mehr fiel mir dazu nicht ein. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Vielleicht hätte ich das Verbrechen verhindern können, wenn ich zur Party gegangen wäre. Aber das war natürlich ein absurder Gedanke. »Es gibt einige Zeugen, die den Mann beschreiben können, mit dem sie die Bar verließ. Mir gefällt da Verschiedenes nicht. Deshalb will ich, daß Sie sich der Sache annehmen.« Dina war eine von uns gewesen. Und wenn ich zwanzig andere Fälle am Hals gehabt hätte, die Aufklärung ihres Todes hätte Vorrang gehabt. Das war ganz klar. Ich knallte den Hörer auf die Gabel, sprang aus dem Bett und langte nach meiner Wäsche. Sir Horatio sollte sich wundern, wie schnell ich sein konnte. * Guinn Rankin irrte ruhelos durch die Stadt. Manches erschien ihm verändert. Das verwirrte ihn. An einige Häuser konnte er sich gar nicht erinnern, andere hatte er anders in Erinnerung. Er hatte getötet, aber seine Rachegefühle waren durch diesen Mord noch längst nicht befriedigt. Nein, er wollte sich an allen rächen. So, wie er es dem Meister 38
versprochen hatte. Ob sie Cioffi verurteilt hatten? Ob sie den Greis ins Gefängnis gesteckt hatten? Er würde sich erkundigen. Vielleicht konnte er ihm helfen, vielleicht ihn sogar befreien. Guinn Rankin war sich noch nicht im klaren, was mit ihm selbst geschehen war. War er nun tot, oder hatte er nur für kurze Zeit in einem todesähnlichen Zustand verharrt? Der Meister hatte gesagt, er würde sterben, aber nicht tot sein. Immerhin war er in der Lage, Menschen zu töten. Das hatte er bewiesen. Aber er wußte nicht, ob er sich verbergen mußte, ob sie ihn wieder jagen würden. Vielleicht würde wieder dieser Inspektor Stone den Fall bearbeiten. Wie würde er wohl reagieren, wenn er die Beschreibung des mutmaßlichen Täters erhielt, wenn er Gewißheit erlangte, daß als Mörder kein anderer in Frage kam als Guinn Rankin, der im Gerichtssaal tot zusammengebrochen war? Würden sie ihn wieder fangen können? Oder war das nun nicht mehr möglich? War er vielleicht sogar unverwundbar? Konnte er nicht mehr getötet werden, weil er schon tot war? Er mußte diese Frage klären. Sie regten ihn nicht auf. Er war überhaupt überraschend kühl. Sogar als er das Girl gesehen hatte, waren die Nerven nicht mit ihm durchgegangen. Er hatte es eiskalt bestraft. Ohne mit der Wimper zu zucken. Und so würde es den anderen auch ergehen. Er durfte seine Rache nicht gefährden. Erst wenn er sicher war, daß man ihm nichts anhaben konnte, wollte er riskieren, sich auch bei Tage in aller Öffentlichkeit zu zeigen. Aber wie wollte er Gewißheit erlangen? Er würde zu Judge gehen. Judge Warner hatte ihn verraten. Seine Strafe war ihm gewiß. Aber zuvor mußte er ihm helfen, die Wahrheit herauszufinden. Guinn Rankin hastete durch die Straßen. Sein Gesicht hatte sich wieder normalisiert. Nichts erinnerte mehr an das dämonische Scheusal, das er im Augenblick der Bluttat gewesen war. 39
Der Morgen graute bereits. Er mußte sich beeilen, bevor es auf den Straßen lebendig wurde. Er bog in die Heartstreet ein. Er kannte den Weg im Schlaf. Trotzdem wurde er unsicher, als er vor dem Haus des ehemaligen Freundes stand. Hatte er sich doch geirrt? Das Gebäude war nicht das Haus von Judge. Das sah ganz anders aus. Nur die Hausnummer stimmte, aber sonst hatte dieser prächtige Bau nichts mit dem bescheidenen Häuschen zu tun, durch dessen Dachfenster er erst kürzlich vor der Polizei geflohen war. Es mußte die falsche Straße sein, wenn er auch von hier aus das Denkmal König Georges sehen konnte. Eine Zeitlang wußte er nicht, was er tun sollte. Zum Glück verließ schon kurze Zeit später ein Mann das Gebäude. Er war etwas beleibt. Guinn Rankin kannte ihn nicht. Um so besser! Ihn konnte er fragen. Er trat an den Fremden heran, verneigte sich kaum merklich und fragte: »Entschuldigen Sie, bitte, wohnt hier nicht ein Mister Warner?« Der Mann sah lächelnd auf. Er hatte ein ausgeprägtes Doppelkinn und ein verlebtes Gesicht. »Mister Warner?« wiederholte er. Dann erstarb das Lächeln auf seinen Lippen. Er starrte Guinn Rankin wie ein Phantom an. Seine Augen wurden kreisrund. Sein Unterkiefer begann zu zittern, und schon bald flatterte der ganze Mann. Es gab kaum einen Zweifel, der Fremde mußte ihn erkannt haben. Sein Bild hatte ja in allen Zeitungen gestanden. Das Gesicht des Dicken verzerrte sich angstvoll. Dann hob er abwehrend die Hände und stieß Guinn Rankin von sich fort. Aber der Tote taumelte nicht. Der Stoß ging durch ihn hindurch. Die Hände des Mannes schienen ihn überhaupt nicht berührt zu haben. Das steigerte dessen panisches Entsetzen noch mehr. Er schrie gellend auf und rannte davon. Guinn Rankin machte sich nicht die Mühe, ihm zu folgen. 40
Nun wußte er immer noch nicht, ob Judge hier wohnte. Er hatte nur den Beweis, daß man ihn erkannt hatte. Auf der Straße wurde es lebendig. Die Leute machten sich auf den Weg zur Arbeit. Die meisten sahen ihn nur flüchtig an und hasteten weiter. Kein einziger nahm Notiz von ihm. Er fragte einen jungen Burschen nach der Heartstreet. Dieser sah ihn aufmerksam an, tippte sich dann gegen die Stirn und bestätigte, daß er sich mitten in dieser Straße befand. Keine Spur von Erschrecken oder Erkennen, kein Hauch des Entsetzens. Jetzt wollte er es genau wissen. Er steuerte einen Zeitungskiosk an, vor dem gerade die neuesten Zeitungen und Zeitschriften abgeladen wurden. Er verlangte sein Lieblingsblatt und vertiefte sich darin. Auf der ersten Seite stand nur etwas über Politik. Dafür hatte er sich noch nie interessiert. Aber auch bei den Lokalnachrichten fand er keinen Artikel über sich und den Mord an Ben Rudos. Sie hatten ihn also offenbar schon zu den Akten gelegt. Er wandte sich an die Zeitungsverkäuferin und erkundigte sich: »Was halten Sie denn von dem Mörder Rankin?« Die beleibte Frau stützte ihr schwabbeliges Kinn auf ihre Hand und sah ihn nachdenklich an. »Wie soll der Kerl heißen?« Er wunderte sich. »Na, Rankin. Guinn Rankin.« »Kenne ich nicht. Wo soll der denn einen umgebracht haben?« War das zu fassen? Das Weib hockte mitten in einem Meer von Zeitungen und hatte anscheinend keine einzige davon gelesen. »Na, hier in London. Wo denn sonst?« Die Frau schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Davon weiß ich nichts. Man kann sich ja auch nicht alles merken. Hier passiert tagtäglich so viel. Wer kann da noch jeden Namen behalten?« Es hatte keinen Zweck. Mit dem Weib hatte er eine Niete gezogen. Er vertiefte sich erneut in die Zeitung und mußte plötzlich grinsen. Da hatte den Jüngern der schwarzen Kunst der Druckfehlerteufel aber einen gehörigen Streich gespielt. Er lachte so laut, daß sich die Zeitungsverkäuferin erschrocken in ihren Kiosk zurück41
zog. Guinn Rankin änderte jetzt seinen Plan. Er wollte zunächst Carlando Cioffi befreien. * »Carlando Cioffi?« Der knurrige Mann am Tor schüttelte den Kopf. »Den können Sie nicht besuchen.« »Auch nicht, wenn ich eine Genehmigung bringe?« »Auch dann nicht. Bei uns sitzt keiner ein, der so heißt.« Guinn Rankin biß sich auf die Lippen. »Tatsächlich nicht? Ist es möglich, daß sein Prozeß überhaupt noch nicht stattgefunden hat? Ich war nämlich kurz – äh, verreist, müssen Sie wissen.« »Woher soll ich das wissen, Mann?« Der Gefängniswärter gehörte nicht zu den umgänglichen Typen. Sein Dienst hatte ihn so unfreundlich werden lassen. »Da müssen Sie schon bei Gericht nachfragen.« Ein Kollege kam näher. »Was will der denn?« fragte er genauso mürrisch. »Einen Carlando Cioffi besuchen. Dabei gibt es den bei uns gar nicht.« »Cioffi? Der Name kommt mir bekannt vor.« Der Alte schien doch nicht ganz so blöd zu sein wie sein jüngerer Kollege. »Ich werde mal nachsehen.« »Da brauchst du gar nicht nachzusehen«, schrie der erste hinter ihm her. »Ich weiß doch genau, wer bei uns wohnt. Die Halunken kenne ich alle einzeln.« »Darf ich trotzdem warten, bis Ihr Kollege zurückkommt?« bat Guinn Rankin mit erzwungener Höflichkeit. »Von mir aus! Aber draußen. Ohne Genehmigung darf ich niemand hereinlassen.« Er schlug dem Schwarzhaarigen die schwere Tür vor der Nase zu. Guinn Rankin lachte böse. »Wenn du wüßtest, daß ich sogar die Genehmigung habe, lebenslänglich hier zu wohnen«, dachte er. 42
Er mußte nicht lange warten. Der Alte mit der Uniform kehrte schon bald zurück, schloß die Tür auf und winkte ihn heran. »Ich wußte es doch«, sagte er triumphierend. »Ein Carlando Cioffi ist tatsächlich bei uns registriert.« »Also doch!« Guinn Rankin warf dem anderen, der ungläubig den Kopf schüttelte, einen gehässigen Blick zu. »An wen muß ich mich wegen einer Besuchserlaubnis wenden?« »An niemand.« »An niemand? Heißt das…?« »… daß Sie ihn jederzeit auch ohne besondere Genehmigung besuchen können.« »Das ist fabelhaft, Mister. Würden Sie mich dann bitte zu ihm bringen?« Jetzt guckte ihn der Ältere verdutzt an. »Ich? Nein, ich darf während meiner Dienstzeit das Gefängnis nicht verlassen. Aber Sie finden auch ganz leicht allein hin. Der Friedhof befindet sich in Finsbury. Am besten nehmen Sie ein Taxi.« »Der Friedhof?« »Allerdings. Dieser Cioffi ist nämlich gleich nach seiner Einlieferung bei uns gestorben. Mein Kollege kann das nicht wissen. Er ist noch zu jung und war damals noch nicht bei uns.« »Was heißt das? Was verstehen Sie unter damals?« »Na, so ungefähr zehn Jahre. Solange ist das jetzt her.« Guinn Rankin lachte auf. »Entschuldigen Sie. Dann reden wir doch von zwei verschiedenen Männern.« »Das wundert mich aber. Der Name ist eigentlich nicht gerade häufig anzutreffen.« »Das sollte man meinen. Weswegen wurde denn Ihr Cioffi damals eingesperrt?« »Soviel ich weiß, hatte er einen Mann bei sich versteckt, den man bald darauf wegen Mordes verurteilte. Ein gewisser Guinn Rankin, Der Fall erregte seinerzeit ziemlich die Gemüter. Aber da lagen Sie ja fast noch in den Windeln. Was haben Sie? Ist Ihnen nicht gut? Wollen Sie ein Glas Wasser?« 43
Guinn Rankin fühlte förmlich, wie er grau im Gesicht wurde. Zehn Jahre! Jetzt begriff er, warum sich so vieles verändert hatte und warum die Menschen ihn nicht erkannten. Er hatte zehn Jahre im Grab gelegen. Niemand entsann sich mehr seines Falles. Irgend etwas mußte schiefgelaufen sein mit Cioffis Experiment. Wahrscheinlich, weil die Polizei zu früh aufgetaucht war und die Behandlung nicht mehr abgeschlossen werden konnte. Er war programmgemäß gestorben, aber viel zu spät wieder aufgewacht. Die Zeit war ihm davongelaufen. Nicht nur die Häuser hatten sich verändert, auch die Menschen waren älter geworden oder gar in der Zwischenzeit gestorben. Die Menschen, an denen er sich rächen wollte, waren nicht mehr die gleichen. Sie würden kaum noch wissen, weswegen sie starben. Guinn Rankin ergriff das Glas, das ihm der hilfsbereite Aufseher geholt hatte, und stürzte den erfrischenden Inhalt hinunter. Doch bevor er das Glas zurückgeben konnte, zersplitterte es in seiner Faust. »Tut mir leid«, murmelte er und hastete davon. Der Wärter blickte ihm fassungslos nach. Er stieß mit dem Stiefel die Scherben beiseite und kehrte in die Wachstube zurück. Aus einem Regal nahm er ein neues Glas. Es glich dem anderen aufs Haar. Es war dickwandig und nahezu unzerbrechlich. Er spannte seine Finger darum und preßte sie zusammen. Nichts geschah. Er nahm die zweite Hand zu Hilfe, aber auch jetzt gelang es ihm nicht, das Glas zu zertrümmern. Schließlich schleuderte er es mit aller Gewalt auf den Steinboden. Es antwortete mit einem harmlosen Klirren, blieb jedoch ansonsten heil und unversehrt. Der Aufseher wurde blaß. »Bei meiner Seele«, flüsterte er, »dem möchte ich nicht zwischen die Finger geraten!« * 44
Guinn Rankin versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Zunächst begriff er, daß sein Wunsch nach Rache während der langen Zeit nicht geringer geworden war. Er brannte immer noch lichterloh in ihm, und er wußte, daß er nicht ruhen würde, bevor er den letzten Menschen, der ihm zu Lebzeiten Unrecht getan hatte, zur Strecke gebracht hatte. Er kannte die Namen auswendig, er mußte die Träger nur aufspüren. Alles weitere ergab sich dann mit logischer Konsequenz. Zehn Jahre existierten für ihn nicht. Er konnte also nicht einfach nur geschlafen haben. Was hatte Cioffi mit ihm angestellt, daß er diesen langen Zeitraum schadlos überbrücken konnte? Und würde er nun nie mehr sterben können? Der Meister war ja tot. Er hatte sein Geheimnis mit ins Grab genommen. An ihn konnte er sich nicht mehr um Hilfe wenden. Vielleicht erwies sich schon bald seine Wiedergeburt als furchtbare Qual für ihn selbst. Vielleicht würde er den Augenblick verfluchen, an dem er Carlando Cioffi seine Zusage gegeben hatte. Es war zwar freiwillig geschehen, im Grunde aber doch nur weil die Häscher drohend vor der Tür lauerten. Würde er diesen Fluch nie los? Hatten die anderen schon wieder sein Schicksal bestimmt? Er mußte sich rächen! Er mußte sie vernichten. Sie, die ihn vernichtet hatten. Richter Thornton war damals schon ein alter Mann gewesen. Er lebte wahrscheinlich nicht mehr. Aber der Staatsanwalt, der ihn angeklagt hatte, der Inspektor, der ihn ergriffen hatte, und die vielen anderen. Und nicht zuletzt Judge Warner. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Niemand hatte ihn auf der Straße erkannt. Aber jener feiste Kerl, den er nach Judge gefragt hatte, wäre vor Schreck bei seinem Anblick fast umgefallen. Kein Zweifel! Er hatte ihn erkannt. Er war Judge Warner selbst. »Du bist alt geworden Judge«, murmelte Guinn Rankin verächtlich, »Alt und fett. Stimmt es, daß du Dorice den Kopf verdreht hast? Du wirst es mir verraten müssen, bevor ihr beide sterben 45
werdet.« Und dann kam ihm ein bestürzender Gedanke. Wen hatte er in der vergangenen Nacht erwürgt? Er hatte das Mädchen für Sylvia gehalten. Es hatte ganz genauso ausgesehen. Aber auch Sylvia mußte inzwischen zehn Jahre älter geworden sein. Dieses Mädchen hatte ihn wirklich nicht gekannt. Es hatte unschuldig sterben müssen. Mit seiner Rache hatte es nicht das Geringste zu tun. Ihn packte erneut der Zorn auf alle, die ihn zu diesem zweiten Mord getrieben hatten. Sie sollten es ihm büßen. Er würde fürchterlich unter ihnen wüten. Er würde kein Mitleid kennen. Nur erbarmungslosen Haß. Gedankenverloren überquerte Guinn Rankin die Straße. Neben ihm kreischten Reifen. Er hörte entsetzte Schreie. Etwas Dunkles jagte durch ihn hindurch. Er war ein wenig benommen, als er dem Lastwagen nachsah, der davonbrauste. Normalerweise hätte er jetzt tot sein müssen. Er hatte keine Chance gehabt, dem Zusammenprall auszuweichen. Aber ihm war nichts geschehen. Er sah, wie die Umstehenden ihn fassungslos anstarrten. Da ging er eilig davon. Er wußte nun, daß er unverwundbar war. Er konnte Inspektor Stone entgegentreten, und dessen Kugeln würden ihm nichts anhaben können. * Als ich an Barbara Hicks und Sheila Green vorbeihastete, hinterließ ich den Wunsch nach einem riesigen Topf Tee. Ich brauchte ihn unbedingt als Muntermacher und hoffte, daß sich Sheila dieser Bitte annahm. Bei ihr war ich sicher, daß sie kein neues Rezept an mir erprobte. Sir Horatio stand am Fenster, als ich die Tür zu seinem Büro aufriß. Sein Bürstenbart wirkte noch grauer als sonst. Der Tod einer 46
Mitarbeiterin hatte ihn ziemlich mitgenommen. Ich knallte ihm das Plastikskelett auf den Schreibtisch, was ihn zu einem nervösen Augenzwinkern veranlaßte. Er verlangte einen kurzen Bericht von mir, und ich informierte ihn über meine Erlebnisse der letzten Nacht. Die Geschichte im Hyde Park war damit für uns gestorben. Sir Horatio schloß sich meiner Hoffnung an, daß ich den Unheimlichen vom Friedhof gebannt hatte. Blieb also nur noch Hedy Seiler mit ihren Geisterstimmen. Mein Boß entschloß sich, zunächst einen Kollegen in die Cochrane Street zu schicken, der uns sofort verständigen sollte, sobald er etwas Unerklärbares registrierte. Damit war ich für den Fall Dina Barrie frei. Sir Horatio erzählte mir alles, was er inzwischen darüber wußte, während ich den heißen Tee schlürfte, den mir Sheila gebracht hatte. Das ganze Drama konnte man in drei mageren Sätzen zusammenfassen. Dina war nach ihrer Party offenbar noch in ›Tonys‹ Bar gelandet. Diese hatte sie mit einem Fremden schon kurze Zeit später wieder verlassen. Mit größter Wahrscheinlichkeit hatte sie der Kerl nach einem kurzen Handgemenge erwürgt. Die Zeugenaussagen von verschiedenen Barbesuchern lagen in schriftlicher Form vor. Ich studierte sie aufmerksam und begriff, warum Sir Horatio einiges seltsam erschien. Übereinstimmend wurde der Verdächtige als ausgesprochen altmodisch gekleidet geschildert. Vor allem aber hatte sein Sehvermögen zu wünschen übriggelassen, denn er wäre fast durch die geschlossene Tür gerannt. Sein Blick wurde als unheimlich, ja, gespenstisch bezeichnet. Angeblich hatte er beim Sprechen nicht die Lippen bewegt. Natürlich waren die Computer längst mit den zur Verfügung stehenden Daten gefüttert und die von ihnen ausgespuckten Verdächtigen verhört worden. Ohne Erfolg! Keiner von ihnen kam in Betracht. Der Verdacht lag nahe, daß Dina ein Opfer ihres gefährlichen Jobs 47
geworden war, aber auch in dieser Richtung liefen die Ermittlungen bisher ohne Ergebnis. Raub- oder Lustmord konnten ausgeschlossen werden. Besonders aber irritierte uns, daß Dina offenbar überhaupt keine Chance gehabt hatte. Dabei waren ihre asiatischen Verteidigungskünste im ganzen Service berüchtigt gewesen. Wir konnten uns einfach nicht vorstellen, wie ein Waffenloser es fertiggebracht haben sollte, sie zu erwürgen, und dazu auch noch von vorne. Das Gesicht der Toten, von der verschiedene Fotos in der Akte lagen, war vor Grauen verzerrt. Das war nicht bloße Angst vor dem Tod. Dina mußte etwas Schreckliches gesehen haben. Ich kannte solche Gesichter. Ich hatte sie bei Opfern gefunden, die einen Blick in das dämonische Inferno geworfen hatten. Trotz allem war ich nicht überzeugt, ob ich der richtige Mann für diesen Fall war. Aber ich zog gehorsam los, begierig, Dinas Mörder zu stellen. Zunächst nahm ich den Tatort in Augenschein, wo ich aber nichts Ungewöhnliches entdeckte. Die nächsten Stunden verbrachte ich damit, sämtliche Zeugen erneut aufzusuchen und meinerseits zu befragen, aber auch dabei kam nichts heraus. Ich verfolgte Dinas Weg zurück. Während der Party war nichts Ungewöhnliches vorgefallen. Daß niemand sich gefunden hatte, das Mädchen nach Hause zu bringen, hatte auf einem Mißverständnis beruht. Unter den Gästen, von denen ein großer Teil zum Service gehörte, befand sich keiner, der ein erkennbares Tatmotiv gehabt oder auf den auch nur annähernd die Beschreibung des Fremden gepaßt hätte. Auf diese nutzlose Weise kam ich nicht weiter. Mir fehlte der entscheidende Hinweis. Ich mußte den Fehler finden, den jeder Verbrecher begeht. Inzwischen öffnete ›Tonys‹ Bar, und ich nahm mir den Keeper und die übrigen Angestellten vor. Nichts! Es wurmte mich, weil etwas in meinem Hirnkasten rumorte und 48
herauswollte. Da war etwas, was ich übersah. Eine ganz nahe Lösung. Aber ich kam nicht drauf. Immer wieder stellte ich die gleichen Fragen. Immer wieder erhielt ich gleichlautende Antworten. Ich glaubte, den Beschuldigten schon so gut zu kennen als hätte ich ihn selbst gesehen. Diesen Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren mit dem blassen Gesicht, der unmodernen Frisur und den flackernden Augen. Wo hatte ich in letzter Zeit von einem solchen Burschen gehört? Von selbst kam ich nicht drauf. Erst ein Anruf, der mich in der Bar erreichte, ließ bei mir den Penny fällen. Himmel! Das war doch fast nicht möglich! Der Anrufer war David Stone. Er hatte sich bei Sir Horatio informiert, wo er mich erreichen konnte. Er wollte mich unbedingt sprechen. Er könne unmöglich länger warten, bis ich mal Zeit für ihn hätte. Seine düsteren Ahnungen brächten ihn bald um. Sein Anruf erschien mir wie ein Fingerzeig des Himmels. Er hatte mir auf die Sprünge geholfen. Stone war genau der Mann, der mir jetzt weiterhelfen konnte. Ich klemmte mich hinters Steuer meines MG, der so tat, als wäre er nie hinter mir hergewesen, und fuhr zu David Stone, der in Mayfair wohnte. Der Pensionär begrüßte mich mit allen Zeichen höchster Aufregung und bat mich in sein Wohnzimmer. Er war alleinstehend. Als er noch seinen Beruf mit Leib und Seele ausübte, hatte ihn seine Frau verlassen. Jetzt konnte er mit seinem Ruhestand nicht viel anfangen. Kein Wunder, daß er sich noch immer für alle Verbrechen interessierte, die früher in sein Ressort fielen. Er konnte den Inspektor nicht einfach ausziehen wie einen zu eng gewordenen Mantel. David Stone würde immer Polizist bleiben. Er zog mich über seine Ängste, die ihn quälten, ins Vertrauen. »Schon seit Wochen«, verriet er, »werde ich von Träumen gepeinigt, Die alten Zeiten stehen wieder auf. Mörder, die ich vor Jahren vor Gericht brachte, schließen einen Bund und verwüsten die Gräber ihrer einstigen Opfer. Sie quälen sie und lassen ihnen keine 49
Ruhe. Ich fürchte, daß diese Träume etwas Schreckliches zu bedeuten haben. Sie kennen sich doch mit übersinnlichen Dingen aus, Mac. Was halten Sie davon? Von Nacht zu Nacht wird es schlimmer. Gestern bin ich sogar schweißgebadet aufgewacht. Ich spürte eisige Finger an meinem Hals, Schauen Sie her!« Er schob seinen Kragen etwas zurück, und ich sah dünne, rote Striemen, als hätte man ihn gewürgt. »Aber es war in Wirklichkeit niemand bei mir«, fuhr er fort. »Seit einiger Zeit schlafe ich im verschlossenen Zimmer, und auch das Fenster war unversehrt.« Würgemale! Wie bei Dina Barrie. Aber Dina war tot, und Stone lebte. Gab es wirklich den Zusammenhang, an den ich dachte? »Sie sprachen von verschiedenen Mördern, die sich zusammengeschlossen haben«, hakte ich ein. »Ist auch Rankin dabei?« Er stutzte. »Guinn Rankin?« »Sie erzählten mir vor einiger Zeit seine Geschichte. Die rätselhaften Umstände seines Todes. Ich fürchte, daß Rankin nicht wirklich tot ist. Er hat in der vergangenen Nacht möglicherweise eine junge Frau umgebracht.« »Dina Barrie?« David Stone war tatsächlich bestens im Bilde. »So ist es«, bestätigte ich. »Auf den mutmaßlichen Mörder paßt die Beschreibung Rankins. Ich bin nicht gleich darauf gekommen. Erst als Sie mich anriefen, klickte es bei mir.« »Aber Rankin ist tot«, widersprach Stone. »Er kann allenfalls unter den Toten Schrecken verbreiten. Nicht aber unter den Lebenden. Ich will Ihnen gern glauben, daß er sein damaliges Opfer Ben Rudos drangsaliert. Zu Dina Barrie hatte er überhaupt keine Beziehung.« Ich ließ mich von meiner Idee nicht abbringen. Ich war auch überzeugt, daß es sehr wohl eine Beziehung gab. Man mußte sie nur finden. Stone mußte mir noch einmal erzählen, unter welchen Umständen Rankin vor zehn Jahren ums Leben gekommen war. Er erinnerte an Cioffi, der den Mörder bei sich versteckt und damit zwei Jah50
re Bau riskiert hatte. »Cioffi war ein alter Spinner«, meinte er rückblickend. »Ein Phantast. Dem traue ich zu, daß er Rankin als eine Art Versuchskaninchen für seine undurchschaubaren Experimente benutzen wollte, und er war sehr ängstlich, als wir ihm sein Spielzeug wegnahmen, daß er offenbar selbst kaputt gemacht hat. Es konnte nie geklärt werden, auf welche Weise Rankin ums Leben kam. Es wurden keine Giftspuren in seinem Körper gefunden.« »Deshalb liegt doch der Gedanke nahe, daß er gar nicht tot ist.« »Er wurde beerdigt, Mac. Ich war selbst dabei. Auf dem Friedhof in Finsbury.« »Finsbury?« hakte ich ein und ließ mir das Grab beschreiben. Ich konnte mich sogar an den unansehnlichen Erdhügel erinnern. Zweimal hatte ich ihn in der letzten Nacht wie alle anderen Gräber kontrolliert, aber nichts Befremdliches daran entdecken können, Ich jagte wohl doch nur einem Phantom nach. Unser Gespräch dauerte noch einige Zeit. Ich riet Stone, in Zukunft sehr vorsichtig zu sein und sich sicherheitshalber mit einem geweihten Kreuz zu schützen. Wir wollten von nun an in ständigem Kontakt bleiben und unsere Beobachtungen austauschen. Es war schon spät, als ich mich verabschiedete. Mit dem Ergebnis des Tages war ich bei weitem nicht zufrieden. Wie ich es häufig tat, wenn ich neugewonnene Eindrücke und Informationen verarbeiten wollte, drehte ich noch eine Runde um den Häuserblock. Unter einer Straßenlaterne blieb ich stehen und versuchte, eine Zigarette anzuzünden. Aber wie ich mich auch drehte, ich schaffte es einfach nicht. Der Wind, den ich ansonsten überhaupt nicht spürte, blies die Flamme immer wieder aus. Es war eigenartig. Als ob mich etwas Unbekanntes foppen wollte. Ich gab auf und verschob den Nikotinkonsum auf später. Im Wagen würde ich das Kunststück wohl fertigbringen. Als ich meinen Wagen fortsetzen wollte, hatte ich plötzlich das 51
unbestimmte Gefühl, beobachtet zu werden. Dieses Gefühl hatte mich noch selten getrogen. Auch diesmal war höchste Aufmerksamkeit geboten. Ich dachte an den Kerl vom Friedhof, der sich vor meinen Augen aufgelöst hatte und von dem ich hoffte, ihn gebannt zu haben. Einen anderen konnte ich mir nicht denken, der ein Interesse daran haben konnte, mich zu belauern. Aber vielleicht trieb sich hier ein Ganove herum, der in der vornehmen Wohngegend einen Einbruch plante und dem ich ahnungslos in die Quere gekommen war. Vielleicht handelte es sich aber auch nur um ein Liebespaar, das sich gestört fühlte und hoffte, daß ich endlich verschwinden würde. Ich sah mich also nur flüchtig um und schlenderte betont langsam weiter. Ich bog um die Ecke – und hörte hinter mir hastige Schritte. Abrupt blieb ich stehen. Was sollte das? Anscheinend fühlte sich der geheimnisvolle Unbekannte von mir nicht gestört, sondern zeigte im Gegenteil ein anhängliches Interesse. Dort drüben stand mein Wagen. Ich hätte nur einzusteigen und davonzufahren brauchen. Es war nicht meine Sache, mich um Einbrecher zu kümmern. Der andere bog hinter mir um die Ecke. Das Licht der Laterne fiel voll auf sein Gesicht. Mich traf fast der Schlag. Das war kein Liebespaar und auch kein windiger Ganove. Hinter mir stand Guinn Rankin! Genauso hatte ich ihn auf Fotos, die mir David Stone in alten Zeitungen gezeigt hatte, gesehen. Der Typ lebte! Die Frage war nur noch, ob er sich damals durch einen Taschenspielertrick der Justiz entzogen hatte oder ob ich es mit einem Wiedergänger zu tun hatte. Die Antwort gab ich mir selbst. Es waren zehn Jahre vergangen. Rankin müßte sich verändert haben, wenn er noch lebte. Diese Erscheinung dort unter der Laterne war ein Untoter. Der Mörder Dina Barries. Was wollte er hier? Ich konnte mir nicht vorstellen, daß er es auf mich abgesehen hatte. Ich war für ihn unbekannt. 52
Aber war das Dina nicht auch gewesen? Der Untote setzte nun seinen Weg fort. Er ging so knapp an mir vorbei, daß er mich nicht übersehen konnte. Trotzdem schenkte er mir nur einen flüchtigen Blick aus seltsam starren Augen. In diesem Blick lag tödlicher Haß, der aber nicht mir zu gelten schien. Das Gesicht des Killers leuchtete grausam. Seine Lippen waren höhnisch nach unten gebogen. Eisige Kälte umwehte ihn. Ich kramte in meinen Taschen, fand aber nur mein kleines Klappmesser. Das war keine Waffe für ein Schattenwesen. Das Silberkreuz an meinem Hals! Ich nestelte es hervor und streckte es gegen Guinn Rankin aus. Das Kreuz wurde zwischen meinen Fingern höllisch heiß, so daß ich es kaum festhalten konnte. Ich nahm die zweite Hand zu Hilfe, aber inzwischen war der Untote um die Ecke gebogen. Ich hetzte hinterher und sah ihn gerade noch durch die Haustür verschwinden. Er hatte sie nicht geöffnet, sondern war einfach durch das Holz gedrungen! Das aber war es nicht, was mich maßlos erschreckte. Diese Tür hatte ich erst vor kurzem hinter mir ins Schloß geschlagen. Oben im achten Stockwerk wohnte David Stone, der ehemalige Inspektor, der Guinn Rankin zur Strecke gebracht hatte. Es war klar, daß der Mörder an ihm Rache üben wollte. Warum hatte ich jetzt nicht den Krif zur Hand? Mit dieser Waffe hätte ich den Gnadenlosen in die Flucht schlagen können. Stone war in Gefahr. Ich mußte ihm helfen. Die Haustür war verschlossen und ließ sich von außen nicht öffnen. Ich suchte Stones Namen auf dem Klingelbord und drückte den Knopf. Es dauerte unendlich lange, bis ich seine Stimme durch die Sprechanlage quaken hörte. Ich nannte meinen Namen und sprudelte viele Dinge gleichzeitig hervor. Vor allem warnte ich ihn, die Wohnungstür zu öffnen. Und er sollte mich ins Haus lassen. Voller Panik wartete ich auf das Summen des elektrischen Türöff53
ners. Statt dessen vernahm ich durch die Sprechanlage Lärm. Es hörte sich wie das Bersten von Holz an. Danach folgte ein Entsetzensruf. »Mister Holford, ich komme!« brüllte ich in das Sprechgitter. Mir war eine Idee gekommen. Vielleicht ließ sich Rankin täuschen. Stone hatte sich in den zehn Jahren äußerlich verändert. Wenn ich ihm auch noch einen fremden Namen verpaßte, glaubte der Killer vielleicht, sich an der falschen Stelle zu befinden. Ein naiver Plan. Aber es war ein Versuch. Stone betätigte den Türöffner nicht. Ich mußte Gewalt anwenden. Es ging nicht anders. Ich nahm einen Anlauf von sechs Schritten und rannte mit vorgereckter Schulter gegen die Tür. Der Schlosser brauchte sich auf seine fachmännische Arbeit nichts einzubilden, aber ich war dem Mann dankbar für seinen Pfusch. Das Schloß sprang mit einem unwilligen Laut auf, und ich flog wie ein Stein auf die Treppe. Von oben hörte ich Stones fassungslose Stimme: »Guinn Rankin? Ich kann es nicht glauben, daß du nicht tot bist. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie dich eingegraben haben!« Dieser Unglücksknabe! Damit hatte er meinen Bluff zunichte gemacht. Jetzt konnte nur noch ein Wunder helfen. Oder meine Schnelligkeit. * Als ich die achte Etage erreichte, sah , ich, daß ich zu spät kam. David Stone lag im Flur und rührte sich nicht. Seine Augen hielt er geschlossen. Ein beißender Schmerz durchzuckte mich. Stone war so etwas wie ein väterlicher Freund für mich gewesen. Von ihm hatte ich manchen Trick gelernt. Daß er nun tot sein sollte, wollte mir nicht in den Kopf. Am meisten aber bestürzte mich die Erkenntnis, daß ich ihm nicht 54
hatte helfen können. Im entscheidenden Augenblick war ich nicht bei ihm gewesen. Genau wie bei Dina. Aber wo war Rankin? Das Haus besaß nur einen Aufgang. Ich hatte absichtlich die Treppe und nicht den Lift benutzt. Mir war niemand begegnet. Ich durchsuchte die Räume des Appartements, fand aber niemand. Als einzige Möglichkeit blieb, daß sich der Mörder in die oberen Stockwerke zurückgezogen hatte. Wichtiger, als ihm zu folgen, erschien mir, daß ich mich um Stone kümmerte. Vielleicht war ihm doch noch zu helfen. Ich beugte mich über den Reglosen und hätte vor Freude jubeln können, als ich seinen Puls ganz schwach wahrnahm. Ein Arzt mußte schleunigst her. Wo war das Telefon? Ich entsann mich, einen Apparat im Wohnzimmer gesehen zu haben. Ich ließ den Bewußtlosen liegen und ging ins Wohnzimmer. Als ich den Hörer von der Gabel nahm, war mir, als bohrte sich ein Eiszapfen in meinen Rücken. Ich fuhr herum. Da stand er wieder! Ich erkannte ihn nur an der Kleidung, denn sein Gesicht hatte sich grauenvoll verändert. Die Wangen waren aufgerissen, Knochen stachen heraus. Seine Augen glühten, und die Lippen waren gänzlich verschwunden. Ein halber Totenschädel war das, und diesmal zweifellos ein echter. Der Kerl versperrte die Tür. Das war der einzige Fluchtweg. Ich mußte mich ihm stellen. Vorsichtshalber wich ich zurück. Ich wollte Zeit gewinnen. Und vor allem mußte ich Rankins Schwäche herausfinden. Jeder besaß eine schwache Stelle. Auch ein Untoter. Sogar die fürchterlichsten Dämonen waren auf irgendeine Weise zu besiegen. Man mußte nur wissen, wie. Bei Guinn Rankin wußte ich es nicht. Ich sah nur, daß er unerbittlich vorrückte. Er ließ mich nicht aus seinen entsetzlich flammen55
den Augen. »Sie haben ihn umgebracht, Rankin.« Bei lebenden Gangstern half es manchmal, ein Gespräch mit ihnen zu beginnen und sie in Sicherheit zu wiegen. Vielleicht führte das auch hier zum Erfolg. Das Phantom lächelte böse. »Und Sie beschäftigt nur der eine Gedanke, wie Sie mich unschädlich machen können, Kinsey. Das wird Ihnen nicht gelingen.« Er kannte mich. Er wußte über mich Bescheid. Dadurch befand er sich mir gegenüber im Vorteil. Und durch seine Fähigkeit, durch verschlossene Türen gehen zu können. »Ich weiß nicht, Rankin, wieso Sie keinen Frieden finden«, fuhr ich fort. »Ich möchte Ihnen gern dazu verhelfen. Sagen Sie mir, was ich tun kann.« »Sie können Ihr Maul halten, Kinsey.« Das war deutlich. Ich hatte es mit keinem besonders vornehmen Wiedergänger zu tun, aber seinen Umgang konnte man sich ja auch in anderen Fällen nicht aussuchen. Man mußte es nehmen, wie es kam. »Seien Sie vernünftig, Rankin!« drängte ich. Kaum merklich näherte ich mich der Tischlampe mit dem gußbronzenen Fuß. Eine handliche Waffe, mit der man die schönsten Beulen zaubern konnte. Das Schönste aber waren die eingearbeiteten Figuren. Alte Gottheiten stellten sie dar. Genau das richtige, um einem Schattenwesen Ungemach zu bereiten. »Wollen Sie, daß man Sie wieder jagt?« fuhr ich fort. Meine Hand tastete hinter meinem Rücken nach der Lampe. »Wollen Sie alles noch mal miterleben?« Guinn Rankin lachte hohl. »Versuchen Sie doch, mich zu jagen, Kinsey. Ich wäre neugierig, wie Sie das anstellen wollen. Heute hatte ich das Pech, von einem Lastwagen förmlich überrollt zu werden. Sehen Sie mich an! Sind Sie der Meinung, daß ich dabei zu Schaden gekommen bin?« Er drehte sich um seine eigene Achse, und ich konnte mich von seiner Unversehrtheit überzeugen. 56
Natürlich! Was sollte einen Mann verletzten, der schon zehn Jahre tot war? Aber war er wirklich tot? Hatte dieser Mann vielleicht nur einen langen hypnotischen Schlaf hinter sich? David Stone hatte mir gegenüber immer wieder behauptet, von Cioffi damals hypnotisiert worden zu sein. Ich dachte an die Pillen, die der wunderliche Alte Guinn Rankin bei seiner Verhaftung zustecken wollte. Pillen, die im Labor nicht analysiert werden konnten. Stone hatte auch von Kräutern und Pulver berichtet, die bei dem Greis gefunden worden waren, und von dem Kellerraum mit seinen undefinierbaren Apparaturen, Reagenzien und unverständlichen Schriften. Ich mußte mich darum kümmern, ob davon noch etwas auffindbar war. Vorläufig aber mußte ich mich dieses Mannes erwehren, der verwundbar sein mußte, wenn er nicht wirklich gestorben war. Die Geschichte mit dem Lastwagen war möglicherweise nur eine Schutzbehauptung. Niemand sollte erst auf den Gedanken kommen, ihn anzugreifen. Und gerade deshalb tat ich es. Ich ließ Guinn Rankin dicht an mich herankommen und schlug dann ohne vorherige Warnung und mit äußerster Kraft mit der Tischlampe zu, deren Stecker ich dabei aus dem Anschluß riß. Rankin zuckte nicht einmal zusammen. Aber ich zuckte, und zwar ziemlich. Es war, als hätte mich mein eigener Hieb außer Gefecht gesetzt. Die Abbildungen der Gottheiten hatten bei meinem Gegner nichts bewirkt. Leider! Dafür erhielt ich einen Stromschlag, der mich fast aus den Schuhen hob. Dabei war die Lampe gar nicht mehr angeschlossen. Aus der Lampenfassung schossen Blitze in allen Farben. Guinn Rankin stand dabei und tat nichts weiter, als meine Waffe anzustarren. Er funktionierte sie gegen mich um, und ich spürte, daß mich der nächste Stromschlag umbringen würde. Eilig ließ ich los und schlenkerte meine Hand. Zum Teufel! Jetzt 57
war es mit meiner Ruhe vorbei. Wie sollte ich ohne Waffe gegen diesen Spuk ankämpfen? Die Chancen waren zu ungleich verteilt. Ich hatte nicht mit der – Begegnung mit einem Untoten gerechnet, als ich in der Frühe meine Wohnung verlassen hatte. Im Grunde war ich nichts als ein gewöhnlicher Sterblicher, während der andere mir den Tod schon voraus hatte. Voller Wut dachte ich daran, daß David Stone schleunigst in ärztliche Behandlung gehörte, und ich konnte keine Hilfe herbeirufen. Der lebende Leichnam hinderte mich daran. Ich wich so weit zurück, bis ich mit dem Rücken gegen eine Tür stieß. Ein rettender Gedanke durchzuckte mich. Die Tür führte ins Bad. Ich würde sie von der anderen Seite verbarrikadieren und vom Fenster aus Hilfe für Stone herbeirufen. Danach konnte ich versuchen, auf halsbrecherischem Weg die Wohnung zu verlassen und über die Treppe zurückzukehren, um den alten Mann in Sicherheit zu bringen. Rankin hielt ihn zweifellos für tot. Guinn Rankins Fratze mit den grauenvollen Zügen versprach mir den Tod. In seinen Augen glitzerte der Haß. Er war in zehn Jahren gewachsen und ließ sich durch beschwichtigende Worte nicht aus der Welt schaffen. Ich spannte meine Muskeln an, trat einen raschen Schritt zur Seite, riß die Tür auf, schlüpfte durch den Spalt und verriegelte sie schwer keuchend hinter mir. Ich eilte zum Fenster und öffnete es, ohne mir eine Verschnaufpause zu gönnen. Ein Geräusch hinter mir ließ mich herumfahren. Ich sah gerade noch, wie Guinn Rankin ins Bad trat. Nein, er trat nicht ein, er quoll hinein. Sein Körper drang ungehindert durch die verschlossene Tür, als bestünde sie aus einem hauchdünnen Gewebe. Mauern und Sperren bildeten für dieses grauenvolle Phantom kein Hindernis. Ich saß endgültig in der Falle. Flucht war ausgeschlossen. In meiner Panik zertrümmerte ich den Spiegel und bewaffnete 58
mich mit den größten Scherben. Doch außer, daß ich mir damit in den Handballen schnitt, erreichte ich gar nichts. Voller Entsetzen sah ich den Toten auf mich zuschreiten. Hastig murmelte ich sämtliche Bannformeln, die mir in den Sinn kamen. Vergebens! Guinn Rankin ließ sich nicht aufhalten. Mir blieb nur noch das Fenster. Ich schwang mich aufs Brett und bemühte mich, die acht Stockwerke unter mir zu vergessen. Das brachte ich zwar irgendwie fertig, doch nützen tat es mir nichts. Ich empfing einen gewaltigen Stoß ins Kreuz. Eine Hand löste sich vom Fensterrahmen. Auch die Füße wurden mir weggeschlagen. An der linken Hand pendelte ich zwischen Leben und Tod. Über mir erschien die Zombiefratze. Sie war noch ekelhafter geworden. Viel ekelhafter aber war, daß das Mauerwerk zwischen meinen Fingern bröckelte. Es gelang mir nicht mehr, den Körper ins Bad zurückzuziehen. Ich mußte wohl aufgeschrien haben, denn tief unten reckte ein Passant den Kopf nach oben und erschrak. Als ich mich von der Wand löste, sah ich gerade noch, wie sich der Mann mit einem beherzten Sprung zur Seite in Sicherheit brachte. Dann raste ich dem Pflaster entgegen. * Judge Warner saß der Schreck noch immer in allen Knochen. Er wußte nicht, was er davon halten sollte. Er hatte Guinn gekannt wie keiner sonst. Höchstens Dorice durfte das gleiche von sich behaupten. Es war Guinn gewesen, der ihn vor seinem Haus angesprochen hatte! Eine Verwechslung war ausgeschlossen. Ganz genauso hatte er damals ausgesehen, als er zu ihm kam und um Hilfe bat. Sogar die Cordhose und den Pullover mit dem Roll59
kragen hatte er getragen. Judge Warner erinnerte sich, als wären nicht inzwischen zehn Jahre vergangen. Wie konnte so etwas möglich sein? Wer erinnerte sich noch an die damalige Geschichte? Wer hatte ein perverses Interesse, ihm einen solchen Streich zu spielen? Nun, Feinde besaß er genügend, Er war nicht immer rücksichtsvoll vorgegangen, wenn er seinen Vorteil im Auge behalten hatte. Dafür hatte er es auch zu etwas gebracht. Guinn hatte damals von ihm verlangt, ihn, einen Mörder, zu verstecken. Niemand konnte ihm seinen Verrat zum Vorwurf machen. Und daß er den größten Teil des Geldes behalten hatte? Lieber Himmel, Ben Rudos, dem es Guinn geraubt hatte, war schließlich tot gewesen. Und für ihn hatte es den Grundstock für seine Existenz bedeutet. Er wäre ein Narr gewesen, wenn er anders gehandelt hätte. Aber nun tauchte dieser Kerl auf, der ein Doppelgänger von Guinn war. Und er hatte sich nach ihm erkundigt. Weshalb? Was wollte der Bursche von ihm? Mit wem konnte er darüber sprechen? Wer würde ihm die Geschichte überhaupt glauben? Ob er zu Dorice ging? Sie hatten sich schon lange nicht mehr gesehen, aber damals war sie die einzige gewesen, die ihren Freund verteidigt hatte. Schade, daß es ihm nicht gelungen war, sie für sich zu gewinnen. Sie hatte ihm leider keine große Sympathie entgegengebracht, nachdem Guinn gestorben war. Dabei wäre sie keine schlechte Partie gewesen. Nein, Dorice war wohl nicht der geeignete Gesprächspartner. Und sonst wußte er niemand. Er mußte allein mit der Situation fertigwerden. Worüber machte er sich eigentlich Sorgen? Der echte Guinn Rankin konnte es schließlich nicht gewesen sein. Der war längst verfault und von den Würmern gefressen. Einen Sohn, der ihm ähnlich sah, hatte er nie gehabt. Also war es vielleicht doch nur ein Zufall. Jemand hatte ihn aus geschäftlichen Gründen gesucht. Jemand, der 60
eine zufällige Ähnlichkeit mit dem Toten aufwies. Er hatte sich ziemlich blöd benommen. Hoffentlich begegnete ihm der Mann kein zweites Mal. Es wäre doch recht peinlich für ihn. Judge Warner strich sich mit der Hand über die Stirn. Ärgerlich stellte er fest, daß sie feucht war. Er schwitzte, obwohl es beileibe nicht warm war. War es Angst? Wovor sollte er Angst haben? Etwa vor dem geheimnisvollen Unbekannten, der mit Sicherheit nichts von seinen wirren Gedanken ahnte? Vielleicht sollte er sich wieder mal massieren lassen! Eine Massage würde ihm guttun, und nicht nur seinen Körper, sondern auch seinen Geist wieder in Ordnung bringen. Er griff zum Telefon und meldete sich im Massagesalon an, obwohl es schon sehr spät war. Wenige Minuten später fuhr er mit dem Wagen vor. Er war hier bekannt, wenn er sich auch schon längere Zeit nicht mehr hatte sehen lassen. »Sie haben sich ziemlich rar gemacht, Mr. Warner«, tadelte ihn der Mann, der ihn am Eingang begrüßte. »Sie sind völlig verkrampft. Wir werden ein schönes Stück Arbeit mit Ihnen haben, bis wir wieder einen Menschen aus Ihnen gemacht haben.« Judge Warner lächelte süßsauer und ging in die Kabine, um sich zu entkleiden. Als er, nur mit einem Handtuch um den Hüften, die Kabine verließ, wurde er bereits von seinem Masseur erwartet. Es war ein bulliger Typ mit ungewöhnlich kleinem Kopf und ungewöhnlich riesigen Händen. Man sah ihm seinen Beruf an. Er strahlte über das ganze Gesicht, als freute er sich auf einen besonderen Genuß. Er zeigte auf eine lederbezogene Pritsche und sagte: »Sie wissen ja Bescheid, Sir. Ich hoffe, Sie haben viel Zeit mitgebracht. Wir müssen wieder ganz von vorn anfangen.« Judge Warner legte sich nicht auf die Pritsche. Er starrte geradeaus, wo ein Mann unbeweglich stand und ihn ansah. Er war von kleiner Statur, hatte einen entblößten Oberkörper und hielt ein 61
Handtuch wie ein zusammengedrehtes Tau zwischen den Händen. Judges Augen weiteten sich entsetzt. Er schluckte krampfhaft und mußte sich an der Pritsche festhalten, um nicht zu fallen. »Ist was?« fragte der Masseur ratlos. Judge Warner schnappte nach Luft. »Dieser Mann!« stieß er hervor und deutete zaghaft mit dem Finger in die Richtung, wo der Kerl stand, der wie Guinn Rankin aussah. »Ist er jetzt bei euch angestellt?« Die Augen des Masseurs folgten dem ausgestreckten Finger. Sie zogen sich ganz eng zusammen. Dann hechelte er wie ein Hund, was wohl ein Lachen sein sollte. »Sie sind ein Spaßvogel, Sir«, sagte er gutmütig. Judge Warner sah erneut hin. Der Kerl war verschwunden. Aber gerade hatte er doch dagestanden und ihm das zusammengerollte Handtuch so drohend entgegengehalten, als wollte er ihn damit erdrosseln. »Ich muß fort«, stieß er hervor. »A-aber, warum sind Sie dann erst hergekommen?« »Was weiß ich? Ich habe es mir eben anders überlegt. Sowas soll es ja geben. Schließlich bezahle ich ja dafür, daß Sie an mir rumkneten.« Er hetzte in die Kabine zurück und verließ sie schon Augenblicke später auf der anderen Seite, obwohl er sich noch in einem Zustand befand, in dem ein korrekter Mann besser nicht auf die Straße ging. Aber er ging. Er kümmerte sich nicht um die Leute, die amüsiert beobachteten, wie er sein Hemd hastig in die Hose stopfte. Er stieg in seinen Wagen, während er sich angstvoll nach allen Seiten umdrehte, und gab so unbeherrscht Gas, daß ein Dobermann, der in der Nähe stand, vor Schreck den nächsten Passanten ansprang und ihn fast auf den Boden warf. Er fuhr zu einem Haus am Stadtrand, das inmitten eines gepflegten, parkähnlichen Gartens stand. Er verließ den Wagen und läutete an einem hohen, schmiedeeisernen Tor. Nachdem er in die Sprechanlage ein paar Worte gesagt hatte, 62
mußte er warten. Dann erschien eine attraktive Blondine, die in seinem Alter sein mochte. Sie ging ihm entgegen, begrüßte ihn und führte ihn ins Haus. Hinter den Bäumen, die die Straße flankierten, stand eine Gestalt, die alles aufmerksam beobachtete. Sie wurde von der abendlichen Dunkelheit fast verschluckt. Keiner sah, wie sie die Fäuste ballte und haßerfüllte Blicke zu der Tür schickte, die sich hinter den beiden geschlossen hatte. »Der Meister hatte also auch darin recht«, zischte die Erscheinung. »Du hast mich also ebenfalls betrogen, Dorice.« * Leute, als mir Harvey in Balmoral ans Leder wollte, habe ich die Nähe des Todes gerochen. Und auch als sich Tina Spencer, die Wächterin der toten Seelen, meiner eigenen Seele annehmen wollte, war mir zweierlei geworden. Doch das war alles ein Honigschlecken gegen das gewesen, was ich im Augenblick meines Sturzes aus. dem achten Stock fühlte. Nichts hielt mich auf. Erst die Straße unten würde das Ende meines Tiefenflugs bedeuten. Ein trauriges Ende für mich. Wie auf einen Knopfdruck traten meine Reflexe in Aktion. Meine Fäuste stießen vor, zertrümmerten etwas und spürten ekelhafte Schmerzen. Das war, als hätte ich mir beide Arme der Länge nach aufgeschlitzt. Blut rann mir bis zu den Schultern. Von dort aus zum Hals und anschließend die Brust herunter. Nur gut, daß ich nicht kitzlig war. Ein mörderischer Ruck ging durch mein Gefüge. Der alles beendende Aufprall blieb aus. Hoch über mir sah ich das offene Badfenster. Der Untote war nicht mehr zu sehen. Zweifellos hatte er mich bereits abgehakt. Für ihn existierte ich nicht mehr. Dieser Fehler wäre auch anderen unterlaufen. Man konnte Guinn Rankin wirklich keinen Vorwurf machen. 63
Außerdem sprach vieles dafür, daß er doch noch recht behielt. Wie ich nämlich feststellte, hatte ich meine Fäuste durch das Badezimmerfenster gedonnert, das zwei Stockwerke unter David Stones Appartement lag. Instinktiv klammerte ich mich an den mit Scherben gespickten Rahmen. Was ich dabei empfand, kann nur jemand nachfühlen, der schon mal mit bloßen Fingern einen Piranha auf Karies untersucht hat. Wie lange konnte ich das aushalten? Ich, rechnete nicht mit Hilfe aus irgendeiner Richtung. Die Fenster dieser Wohnung waren dunkel. Es war wohl niemand zu Hause. Ich war auf mich selbst angewiesen. Ich pumpte alle Energien in meine Arme, obwohl sie schon anfingen, lahm zu werden, und zog mich in die Höhe. Mit zusammengebissenen Zähnen brachte ich es nach dem neunten Versuch fertig, auch einen Fuß durch das Fenster zu wuchten. Ein neuer Splitterregen war die Folge. Jetzt kam der kritische Moment. Mit einem Bein war ich im Bad, mit dem anderen im Freien. Was sich dazwischen befand, schwebte über einer Art Säge aus Glaszacken, die mich recht gerne halbiert hätte. Mit entschlossenem Schwung warf ich mich in den Raum. Meine Hose ging dabei zwar flöten, doch alles andere blieb heil. Ich krachte auf die Fliesen und konnte es erst jetzt glauben, daß ich noch lebte. Mühsam und mit Pudding-Knien erhob ich mich und suchte den Lichtschalter. Bei Licht sah ich, daß ich das solide Bad in eine Schlachtbank verwandelt hatte. Überall Blut. Mit spitzen Fingern zog ich mir noch diverse Splitter aus den Fäusten und spülte sie unter fließendem Wasser ab. Ganz kalt. Das tat schön weh, schreckte aber ab und stoppte den Blutfluß einigermaßen. Es waren keine gefährlichen Verletzungen. Sechs Etagen tiefer 64
wären sie bestimmt unangenehmer geworden. Mein Gesicht hatte auch etwas abbekommen. Überhaupt sah ich reichlich gerupft aus. Ich ging davon aus, daß die Lage der Zimmer jener in David Stones Wohnung entsprach. Ich umwickelte meine noch immer blutenden Hände mit einem Handtuch, das ich vom Haken nahm, und öffnete die Tür. Ich schätze, wir stießen beide gleichzeitig einen Überraschungsruf aus. Jener der schwarzhaarigen Schönen, die mir unerwartet gegenüberstand, fiel um einiges entsetzter aus als der meine. Ich hatte dazu keinen Grund, denn abgesehen von den aufregend dunklen Augen, die die Wohnungsinhaberin besaß, war sie auch noch splitternackt. Einen freundlicheren Empfang konnte ich mir als ungebetener Eindringling wirklich nicht wünschen. Ihre Augen wurden immer größer. So richtig schien ich ihr in meinem Aufzug nicht zu gefallen. Bevor sie schreien konnte, entsann ich mich meiner guten Erziehung, die ich allerdings nicht beim Secret Service genossen hatte, und hielt ihr das Handtuch hin, damit sie wenigstens die strategisch wichtigsten Punkte ihres Körpers bedecken konnte. Vielleicht hätte sie unter anderen Bedingungen erfreulicher reagiert. So aber sah sie nur das Blut, mit dem ich ihre flauschigen Vorleger beschmutzt hatte. Sie holte kurz aus und knallte mir ein sattes Ding ins Gesicht, daß sich mein Kopf schief stellte. Daß sie bei dieser Attacke das Handtuch wieder losließ, verstand sich von selbst. Der Fall war klar. Aus irgendeinem Grund hatte sie meinen Lärm nicht gehört. Jetzt wollte sie jedenfalls ein Bad nehmen und fand sich mit meiner Gegenwart nicht ab. Ich glaubte nicht, daß ich ihr seelisches Gleichgewicht wieder zurechtrückte, indem ich ihr von einem Mord zwei Etagen über ihr berichtete. Auch die Sache mit dem lebenden Toten war kaum ge65
eignet, sie aufzuheitern. Na, und den glücklich überstandenen Fenstersturz hätte sie mir auch nicht abgenommen. Es war wohl am klügsten, ihrem Vollbad nicht länger im Wege zu stehen. Hoffentlich erkältete sie sich bei dem offenen Fenster nicht. Um an ihr vorbeizukommen, mußte ich sie anfassen und etwas zur Seite schieben. Sie fühlte sich angenehm an. Sie war allenfalls Mitte zwanzig. Leider deutete sie die Berührung als Zudringlichkeit. Sie öffnete ihren Kirschenmund und ließ einen Sirenenton entweichen, der auch noch die letzten Scherben aus dem Fensterrahmen sprengte. Gleich würde hier der Teufel los sein. Ich kannte das. Das ganze Haus lief zusammen, und keiner war bereit, sich eine Erklärung anzuhören oder gar einen Doc für einen Mann zu rufen, der überhaupt nicht zu sehen war. Ich murmelte eine Entschuldigung und schoß an dem hübschen Kind vorbei, stürmte durchs Wohnzimmer, durchquerte den Flur und befand mich im nächsten Augenblick im Treppenhaus. Hinter mir verklang der Sirenenton in einem hysterischen Aufschluchzen; Die Ärmste tat mir leid. Sie würde jetzt wohl ihre Freundin anrufen und ihr atemlos vom Besuch eines dreigehörnten Monsters erzählen. Ich jagte die beiden Treppen hoch. Ich glaubte nicht, daß sich Rankin noch in Stones Wohnung befand. Ich konnte also von dort aus anrufen. Mich erwartete aber ein neuer Schreck. Auch David Stone war verschwunden. * Judge Warner bereute es schon bald, hergekommen zu sein. Dorice zeigte ihm ziemlich deutlich ihre Abneigung. Und was sie von dem hielt, was er ihr erzählte, war leicht von ihrem Gesicht abzulesen. Er verabschiedete sich schon nach kurzer Zeit. Wenigstens hatte sie ihm einen brauchbaren Tip gegeben, auf den er selbst nicht ge66
kommen war. Es gab noch einen dritten Menschen in der Stadt, der Guinn ebenfalls sehr gut gekannt hatte. Zu dem würde er gehen. Vielleicht hatte er dort mehr Erfolg. Er durchquerte fast die ganze Stadt und landete schließlich in einem Viertel, in dem er sich für gewöhnlich nicht aufhielt. Der Schmutz sprang ihn förmlich an. Elendsquartiere reihten sich aneinander. Vor den Baracken lungerten fragwürdige Gestalten, die ihn argwöhnisch begafften. Unwillkürlich tastete Judge Warner nach seiner Brieftasche. Diese Typen brachten es fertig und überfielen ihn. Die einzige Laterne in dieser Gegend strahlte nicht bis zu ihm herüber. Hier mußte er mit allem rechnen. Die Mülltonnen quollen über. Es stank bestialisch. Die Baracken trugen keine Hausnummern. Judge Warner war gezwungen, sich nach seinem Mann zu erkundigen. Die lauernden Blicke, die ihn streiften, ließen ihn wachsam sein. Eine Rothaarige mit wogendem Busen, den sie unter ihrer verschlissenen Bluse kaum zähmen konnte, drückte sich an ihn heran und schenkte ihm ein Lächeln. Es sollte wohl verführerisch sein, aber es mahnte ihn eher an das tückische Grinsen einer Hexe. Sie roch penetrant nach Zwiebeln, und der Mann ahnte, daß er sich gleich nach seiner Heimkehr eine Stunde lang in kochendes Wasser würde setzen müssen, falls dieses Weibsbild ihn auch nur ein einziges Mal berührte. Ein Halbwüchsiger beschrieb ihm gestenreich den Weg, den er gehen mußte. Judge Warner übersah geflissentlich seine offene Hand. Es kam ihm nicht auf ein halbes Pfund an, aber er wagte es nicht, seine gefüllte Brieftasche vor den gierigen Augen hervorzuziehen. Der Anblick mußte diese Gestalten förmlich zu einem Verbrechen zwingen. Er ging auf die angegebene Baracke zu und war froh, als er sie unangefochten erreichte. Er war betroffen, den Mann, den er sprechen wollte, in diesem Milieu wiederzufinden. 67
Stanley Simon war mindestens so betroffen und überrascht, als er den unerwarteten Besucher erkannte. »Ja, so ändern sich die Zeiten, Judge«, sagte er verlegen. »Ich darf dich doch noch Judge nennen, oder?« »Selbstverständlich, Mr. Simon. Es geht Ihnen offenbar nicht besonders.« Der Mann im Morgenmantel, der kein einziges Haar mehr auf dem Kopf besaß und dessen Gesicht aufgeschwemmt war, zuckte mit den Schultern. »Finanziell könnte es besser gehen. Aber so ist das nun mal. Der eine fällt die Treppe hinauf und der andere hinunter. Du siehst blendend aus. Es überrascht mich, daß du trotzdem Sorgen hast.« »Sorgen?« fragte Judge Warner gehetzt. »Wie kommen Sie darauf?« Stanley Simon führte seinen Besucher in das Innere seiner Behausung, und Judge Warner fühlte sich wie in einem der Müllcontainer, die er draußen gesehen und gerochen hatte. »Das ist nicht schwer zu erraten«, sagte der Glatzköpfige lächelnd. »Hättest du sonst den Weg zu mir gefunden? Hierher verirrt sich nicht mal die Fürsorge. Höchstens die Polizei oder ein paar Ganoven, die glauben, noch ärmer zu sein als wir.« Judge Warner sah sich nach einem Sitzplatz um, entschied sich dann aber doch lieber, stehenzubleiben. »Ich begreife das nicht ganz, Mr. Simon. Sie hatten doch irgendeiner Illustrierten die alleinigen Veröffentlichungsrechte für Guinns Lebensgeschichte verkauft. Das muß Ihnen doch eine Menge Kies eingebracht haben.« »Hat es auch. Ein paar Jahre konnte ich davon leben wie die Made im Speck. Und trotzdem fing mein Elend an, als der Bengel starb. Es war, als wollte er mir noch im Tode eins auswischen. Wir haben uns nie leiden können.« »Vielleicht wäre es klüger gewesen, sich vorher mit ihm auszusöhnen. Wenn es eine Macht gäbe, die ihn wieder zu uns zurückbrächte, könnte das unangenehm für Sie werden.« »Quatsch! Guinn ist tot, und ich weine ihm keine Träne nach.« 68
»Er ist nicht tot«, widersprach Judge Warner. »Ich habe ihn gesehen und sogar mit ihm gesprochen. Hier in London. Er hat etwas vor. Etwas Furchtbares. Etwas, vor dem man Angst haben muß. Sie auch, Mr. Simon.« Stanley Simon sagte nichts. Er schlurfte zu einem wackligen Tisch, auf dem eine Flasche mit billigem Fusel stand. Er packte sie, setzte sie an die Lippen und schluckte alles, was darin war. Dann warf er die leere Flasche achtlos in eine Ecke, wo sie zersplitterte, und rülpste ungeniert. Seine Augen glänzten jetzt wie seine Glatze. »W-was hattest du gesagt?« Judge begriff. Das Aufnahmevermögen des Alten war durch die feuchte Behandlung kaum gestiegen. Der Trottel wollte gar nicht kapieren. Er wehrte sich dagegen mit aller Macht und floh in den Rausch. Aber dieser verkommene Säufer befand sich in der gleichen Lage wie er selbst. Er mußte ihm glauben. Gemeinsam fanden sie eher einen Weg, wie sie sich schützen konnten. »Es klingt phantastisch«, versuchte er es wieder, »aber es ist tatsächlich so. Guinn lebt. Er sieht genauso aus wie früher. Kein bißchen älter geworden. Aber er ist mächtig wütend auf uns. Auf mich, weil ich ihn damals an die Polizei verpfiffen habe. Und auf Sie, weil Sie selbst zugegeben haben, daß Sie ihn nie leiden konnten. Er wird sich an uns rächen. Das ist unser gemeinsames Problem. Deswegen bin ich hier.« Stanley Simon sah den Jüngeren nachdenklich an. Über sein wässriges Gesicht huschten alle Schattierungen einer erstaunlichen Ausdruckskraft. »Wenn du nur gekommen bist, um mir das zu erzählen«, sagte er leise, »hättest du dir den Weg sparen können. Auf den Arm nehmen kann ich mich alleine. Wenn du mir keinen bunten Lappen mitgebracht hast, kannst du dich wieder verdrücken.« »Aber es ist wahr.« Panik zeigte sich auf Judge Warners Gesicht. »Dein Gequatsche geht mir auf die Nerven. Guinn ist krepiert, und das ist gut so. Wenn du noch mal das Gegenteil behauptest, 69
schlage ich dir deine falschen Zähne in den Hals. Denke nur nicht, daß ich dafür zu besoffen bin.« Er schickte sich an, seinen Worten die Tat folgen zu lassen. Judge Warner traute sich bedenkenlos zu, mit dem Säufer fertigzuwerden, aber er zog sich trotzdem angeekelt zurück. Aus seiner Brieftasche fingerte er einen Geldschein und warf ihn dem Alten vor die Füße. Dann ließ er ihn stehen und eilte davon. Es hatte keinen Sinn. Er mußte versuchen, alleine mit dem Problem zurechtzukommen. Wie er das anstellen sollte, war ihm allerdings noch schleierhaft. Stanley Simon blieb zurück. Versonnen hob er die Zwanzigpfundnote auf. Donnerwetter! Der Kerl mußte sich vergriffen haben. Er grinste und zog seinen Mund so breit, daß die beiden Zahnlücken zu sehen waren. Dann begann er zu rechnen, wie viele Flaschen Schnaps er sich von dem Geld würde kaufen können. Als es an der Tür der Baracke klopfte, zuckte er zusammen. Hastig ließ er die Banknote in der Tasche seines Morgenrocks verschwinden. Kam der Bengel etwa zurück, um sich den Schein wiederzuholen? Aber da kam er bei Stanley Simon an die falsche Adresse. Was er einmal besaß, das behielt er auch. Und wenn er ihm den Schädel einschlagen mußte. Das Klopfen wiederholte sich. »Komm doch rein, verdammt noch mal!« polterte er. »Deinetwegen engagiere ich keinen Portier.« Nichts geschah. Nur das Pochen hörte nicht auf. »Ich schlage dir das Kreuz ab«, versprach der Glatzkopf und stürzte zur Tür. Er riß sie auf – und prallte entsetzt zurück. Er hätte mit dem Saufen nicht anfangen dürfen. Es mußte ja mal so kommen. Bei diesem Zeug hatte man zwei Möglichkeiten: Entweder man wurde blind oder verrückt. Seine Augen waren noch leidlich in Ordnung, aber in seinem Kopf schien es nicht mehr zu stimmen. 70
»Guinn!« Stanley Simon lachte irr. »Wir – wir haben uns aber lange nicht gesehen.« »So lange war es auch gar nicht geplant, Stanley. Ein kleiner Kunstfehler. Aber wie ich sehe, ist mir die Überraschung auch heute noch gelungen.« Der Alte wich zurück. Er hatte keine Ahnung, wie man mit einer Halluzination umging. Bot man ihr einen Platz an, oder ignorierte man sie einfach? Der Besucher nahm ihm die Entscheidung ab. Er drängte ihn beiseite und schloß hinter sich die Tür. »Du wohnst verdammt schäbig«, stellte er fest. »Hast du deine Lügen über mich so schlecht verkauft?« »Lügen? Über dich?« Stanleys Unterkiefer vibrierte. Seine übriggebliebenen Zähne schlugen aufeinander. Um ihn drehte sich alles. Er mußte sich festhalten. »Du bist tot, Guinn. Du kannst mir nicht einreden, daß du hier vor mir stehst.« »Ich bin auch nicht gekommen, um zu reden, Stanley. Reden werden die Polizisten, wenn sie dich finden. Und doch werden sie nicht ahnen, wer dich tatsächlich getötet hat.« »Getötet?« »Vielleicht verdächtigen sie Judge. Er war bei dir. Vor den Baracken stehen eine Menge Zeugen.« »Judge hat behauptet, daß er dich gesehen hat. Aber ich habe es ihm nicht geglaubt.« »Das nehme ich dir auch nicht übel. Ich nehme dir nur übel, daß du mich Über fünfzehn Jahre lang schlecht behandelt hast und daß du dir nach meinem Tod mit deinen Lügengeschichten über deinen Stiefsohn eine goldene Nase verdient hast. Von der goldenen Nase ist nicht mehr viel zu sehen. Sie ist jetzt verdammt blaß. Aber sie wird noch blasser werden. Schade, daß ich dir mit deinem Tod schon fast einen Gefallen tue.« In Stanley Simons Augen trat ein irres Funkeln. Er hatte die zerbrochene Fuselflasche neben sich entdeckt. Nun war schon alles egal. Dieses Phantom wollte ihn umbringen. Das mußte er verhin71
dern. Er brauchte nur schneller zu sein. Er wollte nicht sterben, bevor er die zwanzig Pfund durch die Gurgel gejagt hatte. Man würde ihn dafür nicht mal bestrafen können, denn einen Toten konnte man ja nicht umbringen. Das war kein Mord. Dafür hatte das Gesetz keinen Paragraphen. Er sackte blitzartig zusammen, packte den Flaschenhals, der in ein paar messerscharfen Scherben endete, schoß wieder in die Höhe und rammte die fürchterliche Waffe seinem Gegenüber mit voller Wucht in den Leib. Der Mann mit der Glatze sauste quer durch den ganzen Raum. Der Schwung katapultierte ihn fast bis zur Tür. Er war auf keinerlei Widerstand gestoßen. Sein Arm mit dem Scherben war glatt durch den gespenstischen Körper gedrungen, ohne ihn auch nur im geringsten anzukratzen. Er stürzte zu Boden und richtete sich ächzend auf. Also doch nur eine hinterhältige Täuschung! Der Suff spielte ihm ein makabres Theater vor. Er wollte erleichtert auflachen, doch was er sah, brachte ihn an den Rand des Wahnsinns. Vor ihm stand nicht mehr Guinn Rankin, sondern ein abscheuliches Ungeheuer mit einem faulenden Schädel und glimmenden Augen. Es verströmte modrigen Geruch. Grabesduft. Die Hände des Kerls wurden knöchern, als sie nach ihm griffen. Stanley Simon kam nicht mal mehr zu einem Todesschrei, als der Spuk zuschlug. * Ich war geschockt. Offenbar hatte der Untote gemerkt, daß David Stone noch nicht tot war. Er mußte sein Opfer verschleppt haben. Eine andere Erklärung fand ich nicht. Ich läutete an verschiedenen Türen auf dieser Etage, um mich 72
nach Beobachtungen der Mieter zu erkundigen. Niemand konnte mir einen brauchbaren Hinweis geben. Dafür wurden mir einige Türen vor der Nase zugeschlagen. Dahinter wütete man, daß man die Polizei rufen würde. Kein Wunder bei meinem Anblick! Der Gedanke mit der Polizei war gar nicht so schlecht. Aber was sollte ich denen erzählen? Daß ein Toter einen Lebenden entführt hatte? Da verlangte man Beweise von mir, und die konnte ich vorläufig nicht liefern. Ich konnte höchstens den Nachweis führen, daß sich Guinn Rankin nicht mehr dort befand, wo ihn jeder vermutete: in seinem Grab. Oder doch? Hatte er sich mit seinem Opfer dorthin zurückgezogen? Konnte ich Stone vielleicht doch noch retten? Der Gedanke ließ mich nicht mehr los. Ich mußte nach Finsbury, um das fragliche Grab zu öffnen. Mir war klar, daß ich dazu eine Genehmigung brauchte, doch inzwischen war es Nacht. Ich konnte nicht warten, bis die Behörden geruhten, ihre Dienststunden einzuläuten. Jetzt mußte etwas geschehen. Auf der Stelle. Ich fuhr mit dem Lift nach unten. Die Maid im sechsten Stock hatte sich beruhigt. Auch der Passant auf der Straße, der mich hatte fallen sehen, hatte es vorgezogen, zu verschwinden und damit jedem Ärger aus dem Weg zu gehen. Nach dem luftigen Ausflug erschien mir mein MG wie ein Stück Heimat. Hoffentlich trieb er nicht wieder seine Späße mit mir. Dazu fühlte ich mich noch nicht wieder frisch genug. Der Wagen blieb so brav wie ein Lausejunge drei Tage vor Weihnachten. Er brachte mich nach Finsbury, dem Stadtteil, mit dem mich nicht gerade die angenehmsten Erinnerungen verbanden. Hier hatte ich es zum ersten Mal mit Dracula, dem Fürsten aller Vampire zu tun bekommen. Und auch der angebissene Inspektor Woods hatte dort einen erstaunlichen Appetit auf mich entwickelt. Zum Glück besaß Rankin anscheinend keine vampirischen Eigenschaften. Es stand also nicht zu befürchten, daß er auch David Sto73
ne zu einem Angehörigen des Schattenreiches machte. Er wollte lediglich seine Rache. Das war aber auch schon mehr, als ich ihm zugestehen durfte. Auf diesem Friedhof fühlte ich mich schon fast wie zu Hause. Guinn Rankins Grab, dessen genaue Lage mir Stone beschrieben hatte, war schnell gefunden. Es war verrottet und trug keinerlei Inschrift. Hier hatte nie eine pflegende Hand eine Blume gepflanzt. Der Mörder war vergessen worden, sobald die Sensationspresse es für richtig gehalten hatte. Aber Rankin hatte sich wieder in Erinnerung gebracht. Darauf hätten wir verzichten können. Ich begann mit der Arbeit. Ich führte im Wagen einen zusammenklappbaren Spaten mit. Das Werkzeug war zwar lächerlich klein, aber ich kompensierte diesen Mangel durch ungeheuren Arbeitseifer. Die zerschnittenen Hände schmerzten nicht zu knapp. Das merkte ich besonders bei der obersten Schicht, die mir den meisten Widerstand entgegensetzte. Hier bildeten Wurzeln des Unkrauts und das Moosgeflecht ein nahezu undurchdringliches Wirrwarr. Aber nachdem ich mich hindurchgequält hatte, ging die Graberei flotter voran. Die Tatsache, daß die Erde unberührt zu sein schien, weckte erste Zweifel in mir. Trotzdem! Ich wollte Gewißheit haben. Ich grub weiter. Schaufel um Schaufel lehmiger Erde flog aus der nun schon drei Fuß tiefen Grube. Meine Spannung wuchs und wurde fast unerträglich. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann mußte ich auf die ersten Gebeine stoßen – oder auf ein Nichts. Wie besessen trieb ich das stählerne Blatt der Schaufel in den Lehm. Nur ganz selten richtete ich mich ächzend auf und wischte mir mit der schmutzigen Hand, die ich notdürftig verbunden hatte, den Schweiß von der Stirn. Plötzlich legte sich mir von hinten eine grobe Faust auf die Schulter. 74
Wie erstarrt hielt ich in der Bewegung inne. Ich hatte mich zu sicher gefühlt. Das mußte ich jetzt büßen. Ich packte den Spaten fester und wirbelte herum. Dabei ließ ich mich gleichzeitig zurückfallen und landete mit dem Rücken im Dreck. Es war nicht der Untote, der breitbeinig über mir stand. Ich traute meinen Augen nicht. »Stone, Sie?« Tatsächlich war es der pensionierte Yard-Inspektor, der mir nun die Hand reichte, um mir aus der Grube zu helfen. Ich blieb skeptisch. Auch Woods hatte oft genug den Harmlosen gespielt, bis er dann im wahrsten Sinne des Wortes seine Zähne zeigte. David Stone beruhigte mich. »Ich bin einigermaßen in Ordnung, Mac«, versicherte er. »Ich war wohl ein bißchen benommen, als mich Rankin in die Ecke schleuderte. Das dürfte mir das Leben gerettet haben. Ich habe mich dann schleunigst verdrückt und nach Ihnen gesucht, Sie aber nicht gefunden. Nicht mal Sir Horatio wußte, wo Sie stecken.« Er hatte also meinen Chef aus dem Bett geklingelt! Das fand ich nett. Jedenfalls war ich heilfroh, daß ihm nichts Ernsthaftes passiert war. Demnach konnte ich mir wohl die Graberei hier sparen. Aber wo ich nun schon mal dabei war, wollte ich es auch zu Ende bringen. David Stone konnte gleich mein Zeuge sein, daß sich Rankin nicht mehr im Grab befand. Aber Stone hatte ganz andere Sorgen. Das konnte ich mir fast denken. Sonst hätte er nicht so verbissen nach mir gesucht und sogar den Friedhof in seine Überlegungen einbezogen. »Der Friedhof war meine letzte Hoffnung, Mac«, gestand er. Er wirkte stark beunruhigt. Ich tröstete ihn. »Unkraut vergeht nicht. Wie Sie sehen, bin auch ich leidlich heil geblieben.« Er winkte ab. »Daß Sie sich durchwurschteln, war mir sowieso klar. Ich habe Sie gesucht, weil Sie einen Mord verhindern 75
müssen.« Ich schluckte. »Sie scheinen mehr zu wissen als ich«, vermutete ich. David Stone nickte und zerrte mich mit sich fort. »Stanley Simon ist erschlagen worden. Er war Rankins Stiefvater. Ich sehe jetzt ein, daß mich meine Ahnungen getrogen haben. Der Tote scheint sich nicht mit anderen verstorbenen Verbrechern verbündet zu haben. Und er quält auch nicht sein damaliges Opfer. Er ist allein und nimmt Rache an den Überlebenden.« »Bei Simon mag das zutreffen«, meinte ich. »Bei Dina Barrie nicht. Irgend etwas stimmt in Ihrer Theorie nicht.« »Alles stimmt«, beharrte Stone. »Sylvia Barrie, Dinas Mutter, war in ihrer Jugend mit Rankin befreundet. Das Verhältnis ging allerdings in die Brüche, weil sich das Mädchen nicht mit einem einzigen Mann begnügen konnte.« »Und Sie meinen, daß sich ein Mann nach zehn Jahren für das Verhalten einer Frau an deren Tochter rächt?« Dieses Motiv schien mir ein bißchen weit hergeholt zu sein. »Ja, wenn es die Mutter selbst gewesen wäre.« »Sylvia, die damals noch Hasting hieß, ähnelte als Twen ihrer Tochter, wie es sonst nur zwei Kalenderblätter mit dem gleichen Datum tun.« Jetzt verstand ich. Alles wurde klar. Guinn Rankin hatte zum Zeitpunkt des Mordes an Dina Barrie noch nicht gewußt, daß inzwischen zehn Jahre vergangen waren. Der Mord hatte der Mutter gegolten, und er würde ihn auf jeden Fall nachholen. David Stone war zu dem gleichen Ergebnis gekommen. »Auch mich hat er nicht gleich erkannt«, erklärte er. »Ich beging den Fehler, ihn auf die richtige Spur zu führen. Er wird Sylvia Barrie umbringen. Davon bin ich überzeugt.« Er gab mir die Adresse der Frau. Ich hoffte, daß ich nicht wieder zu spät kam. * 76
Sylvia Barrie wohnte in einem Dreizimmer-Appartement in Lewisham. Sie war geschieden. Damals hatte sie Dinas Vater geheiratet, aber der Hang zur Abwechslung war ihr geblieben. Ich betätigte den Klingelknopf an der Haustür und mußte gar nicht lange warten, bis der Summer anzeigte, daß ich die Tür nun öffnen konnte. Kein Wunder, daß die Frau nicht geschlafen hatte. Der Nachricht vom gewaltsamen Tod ihrer Tochter mußte sie schwer erschüttert haben. Ich stieg vier Treppen hinauf. Sylvia Barrie wohnte ausgerechnet unterm Dach. Sie erwartete mich bereits, denn sie hatte die Wohnungstür geöffnet, daß ich eintreten konnte. Sie selbst zog sich wahrscheinlich gerade ein Kleid über, denn ich hörte aus dem Schlafzimmer ein leises Geräusch. Ich schloß die Tür hinter mir. Ich mußte der Frau einschärfen, in Zukunft mißtrauischer zu sein. Wie leicht hätte sie jetzt statt mich ihren Mörder hereinlassen können! Ich wartete im Wohnzimmer. Sylvia Barrie brauchte doch länger, bevor sie ihren unangemeldeten Besuch empfangen konnte. Ich trat ans Fenster und sah hinaus. Unten war noch alles ruhig. Nur im Supermarkt gegenüber wurden Kartons gestapelt. Ein Zeitungsjunge fuhr mit dem Fahrrad durch die Straße und pfiff vergnügt vor sich hin. Sylvia Barrie ließ sich viel Zeit. Es war wirklich nicht nötig, daß sie sich meinetwegen in Schale warf. Ein Morgenmantel hätte genügt. Oder auch nur ein Handtuch. Ich hatte keine schlechten Absichten. Ich verließ das Zimmer und trat auf den Flur. Hatte Mrs. Barrie mich vergessen? Ich klopfte gegen die Türen des Bads und des Schlafzimmers, aus dem ich noch vor kurzem Geräusche gehört hatte, die jetzt allerdings verstummt waren. »Mrs. Barrie! Hören Sie mich? Wenn Sie ein paar Minuten Zeit für 77
mich hätten? Es ist außerordentlich wichtig.« Keine Antwort. Die Frau reagierte nicht. Ich vergaß, daß ich ein Gentleman bin, und drückte die Klinke zum Schlafzimmer herunter. Vorsichtig öffnete ich die Tür. Erst als die Tür schon fast offen war, stieß ich auf Widerstand. Es war die Tote, die auf dem Fußboden lag und so den Weg versperrte. Sie hatte die Augen entsetzt aufgerissen. Ihr Sterben war nicht friedlich gewesen. Eine grausige Wunde verriet, daß hier eine wahre Bestie zugeschlagen hatte. Zu spät! Ich war wieder zu spät gekommen. Guinn Rankin hatte zugeschlagen, bevor ich die Frau hatte warnen können. Ich mußte die Polizei informieren. Aber bevor ich zum Hörer griff, durchzuckte mich ein Gedanke. Die Erkenntnis traf mich wie ein Keulenhieb. Wer hatte auf mein Läuten den elektrischen Türöffner betätigt? War die Frau erst ermordet worden, als ich mich schon in ihrer Wohnung aufhielt? Oder hatte der Mörder selbst mich eingelassen. Was immer auch zutraf, jedenfalls hatte der Killer das Appartement nicht verlassen, solange ich hier war. Vierter Stock! schoß es mir durch den Kopf. Und vor dem Haus wächst ein dichter Rasen. Trotzdem würde ich einen solchen Fenstersturz nicht überleben. Es war klüger, wenn ich mich dezent zurückzog. Ich stürzte zur Wohnungstür und riß sie auf. Da stand er vor mir – Guinn Rankin. Er sah mich mit seltsam starren, fast gläsernen Augen an. Aus seinem bleichen Gesicht sprang mich blanker Haß an. Ich hatte den Eindruck, als würde auch er erschrecken. Daß ich noch lebte, schien ihn zu beunruhigen. Wenn ich Glück hatte, hielt er mich für unverwundbar. Dann würde er machen, daß er sich schleunigst verdrückte. »Schon wieder Sie, Kinsey!« fauchte er giftig. »Ich hielt Sie für tot.« 78
»Auch Geister können irren«, entgegnete ich möglichst gelassen. In Wirklichkeit tobte ein Aufruhr in meiner Brust. Wenn ich an Sylvia Barries Wunde dachte, konnte ich mir ausmalen, was Guinn Rankin mit mir anstellen konnte, wenn er zuschlug. Dann blieb kein Auge trocken. Ich verbarg meine Hände hinter dem Rücken. Mir lag weniger daran, ihm zu zeigen, daß ich keine Waffe besaß. Vor allem sollte er meine Schnittwunden nicht sehen. Die hätten ihm klargemacht, daß es mit meiner Unverwundbarkeit nicht weit her war. »Ich hatte ursprünglich nichts gegen Sie, Kinsey. Aber Sie stellen sich mir immer wieder in den Weg. Das muß aufhören.« Ich grinste dieses wandelnde Monstrum frech an. Woher nahm ich nur die Kaltblütigkeit? »Na, dann lassen Sie sich mal etwas Hübsches einfallen«, riet ich ihm. »Vielleicht versuchen Sie es mit einer schwarzmagischen Bombe. Davon kriege ich immer fürchterliches Sodbrennen. Ekelhaftes Zeug ist das. Ihr verwendet offenbar nicht das beste Material.« Es juckte mir in den Fäusten. Liebend gerne hätte ich ihm seine haßverzerrte Fratze verschoben. Doch dann hätte er sofort gemerkt, daß ich überhaupt nichts gegen ihn ausrichten konnte, und das würde meinen Tod bedeuten. Er wußte nicht, woran er mit mir war. Mit den Menschen von damals kannte er sich aus. Mit denen hatte er keine Schwierigkeiten. Aber der Haß gegen mich war noch zu neu. Fast schien mir, als käme der Mordwille nicht aus ihm selbst, sondern von einem anderen. Vielleicht von diesem Cioffi, von dem Stone so wunderliche Dinge erzählt hatte. Obwohl mir insgeheim die Zähne klapperten, trieb ich meine Unverfrorenheit auf die Spitze. »Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf«, sagte ich gelangweilt, »dann ziehen Sie sich schleunigst wieder in Ihr Grab zurück. In spätestens einer Stunde wird es draußen hell. Da möchte ich nicht in Ihrer Haut stecken. Vielleicht fällt Ihnen auch in Ihrem Sarg ein, wie Sie mich loswerden können.« 79
Bange Sekunden verstrichen. Sekunden, in denen ich meinem Grab näher war als er dem seinen. Guinn Rankin wich um keinen Zoll. Sein Blick brannte sich in meinem fest. Er bemühte sich, mich zu durchschauen. Ich errichtete eine gedankliche Barriere. Keinesfalls durfte ich meine Ohnmacht zeigen. Ich dachte intensiv an meine zurückliegenden Erfolge. Falls es ihm gelang, in meine Gedanken einzudringen, sollte er wenigstens den richtigen Eindruck von mir erhalten. Ich konzentrierte mich auf meine Auseinandersetzung mit dem Grünen Tod, den ich mit Hilfe des König-Salomon-Spiegels in die Flucht geschlagen hatte. Ich dachte an William Hatfield, den Commodore des 19. SpitfireGeschwaders, der ähnlich wie Guinn Rankin als Rächer zurückgekommen war und dem ich mit Schwefelbomben und Flammenwerfern den Garaus gemacht hatte. Und ich vergaß auch nicht den kräftezehrenden Kampf im Kerker der Zombies, in dem ich es vor ein paar Tagen erst mit einer ganzen untoten Killer-Crew zu tun gehabt hatte. Alles Erfolge, die sich sehen lassen konnten. Wenn die ihn nicht beeindruckten, dann war er ein bornierter Ignorant. Letztlich war es nur fair, auch seinen Gegnern Anerkennung zu zollen. Ob es Anerkennung war, möchte ich bezweifeln. Ich glaube eher, daß er sich seiner grauenvollen Kraft gar nicht richtig bewußt war. Jedenfalls schleuderte er mir einen Fluch entgegen, der schon alleine ausreichte, um die schrecklichsten Befürchtungen in mir zu nähren. »Ich werde Sie töten, Kinsey«, versprach er. »Es gibt einen, dem auch Sie nicht gewachsen sind. Freuen Sie sich nur nicht zu früh. Der Tod wird Sie unerwartet treffen.« Er wandte sich ab und hastete die Treppen hinunter. Das Letzte, was ich von ihm sah, waren seine glühenden Augen, in denen unversöhnlicher Haß glimmte. Mein Bluff war geglückt. Darüber konnte ich mich freuen. Doch nebenan lag eine grausig zugerichtete Leiche, und die war 80
weiß Gott kein Grund zum Jubeln. * Ich rief die Polizei an und überließ den Beamten die tote Sylvia Barrie. Außerdem nahm ich mit Sir Horatio telefonischen Kontakt auf, der mir berichtete, daß das Geheimnis um die Geisterstimmen bei Hedy Seiler gelüftet werden konnte. Die Seiler hatte sich lediglich ein bißchen einsam gefühlt. Mein Kollege war der grünen Witwe gerade recht gekommen. Jetzt sah sie einer Anklage wegen groben Unfugs, Irreführung der Polizei und versuchter Nötigung entgegen. Sorgen hatten manche Leute! Das mannstolle Weib sollte froh sein, daß es nicht tatsächlich Besuch aus dem Jenseits erhalten hatte. Soviel Glück hatte Sylvia Barrie nicht gehabt. Sir Horatio schnappte hörbar nach Luft, als ich ihn über meine nächtlichen Erlebnisse in Kenntnis setzte. »Was haben Sie jetzt vor, Mac?« wollte er wissen. »Ich will das Eisen schmieden, solange es heiß ist«, gab ich zur Antwort. Er brauchte nicht zu wissen, wie flau mir in der Magengegend war. Das schmälerte nur meinen Stellenwert und wirkte sich womöglich negativ auf die nächste Gehaltsabrechnung aus. »Sieht so aus, als scheute der Bursche wirklich das Tageslicht. Wenn ich Glück habe, hole ich ihn aus seinem Sarg heraus und lasse ihn von der Morgensonne grillen. Ich melde mich wieder, Sir. Vielleicht können Sie veranlassen, daß David Stone Personenschutz erhält. Er ist nach wie vor gefährdet.« Ich legte auf und wartete nicht auf das Eintreffen der Mordkommission. Ich mußte mich beeilen. Sonst fiel Guinn Rankin womöglich in der Zwischenzeit ein, daß ich ihn hereingelegt hatte. Der Friedhof in Finsbury war mein Ziel. Als ich das Grab erreichte, stellte ich verblüfft fest, daß es wieder zugeschaufelt war. Hatte David Stone das getan? Darin sah ich keinen Sinn. Viel 81
wahrscheinlicher kam mir vor, daß Guinn Rankin sich in seine Grube zurückgezogen hatte. Vermutlich tat er das jeden Morgen, um nicht vom Tageslicht überrascht zu werden. Na warte! Da hatte ich auch noch ein paar Spatenstiche mitzureden. Ich fing also an zu graben. Anfangs ging es ganz leicht. Die Erde war noch locker, und ich kam schnell voran. Aber nach drei Fuß stieß ich auf die noch festen Schichten. Jetzt begann die Knochenarbeit. Ich wollte es wissen und ackerte wie der Teufel. Ein unpassender Vergleich, denn der Gehörnte hätte bestimmt alles daran gesetzt, mein Vorhaben zu vereiteln. Ich grub verbissen, bis ich meine Arme kaum noch heben konnte und der Dreck in meinen aufgeschnittenen Händen wie Feuer brannte. Endlich stieß ich auf die spärlichen Reste eines verfaulten Sarges. Von da an wühlte ich mit den bloßen Händen weiter. Ich scharrte in der Erde und nahm jedes Stückchen Holz in Augenschein in der Erwartung, es könnte sich um einen Knochen handeln. Irgendwo mußte der Halunke ja schließlich stecken. Doch ich fand nichts, was auf das Vorhandensein eines Toten hätte schließen lassen. Ich hatte mich gründlich verkalkuliert. Im Grab konnte ich mich nicht geirrt haben. Gerade das Fehlen des Skeletts bewies mir, daß der Leichnam seine angebliche letzte Ruhestatt verlassen hatte, um seiner fürchterlichen Rache nachzugehen. Ich richtete mich erschöpft auf. Wie sollte ich weiter vorgehen? Ich hatte zwei Nächte mit so gut wie keinem Schlaf hinter mir. Und sehr kräftesparend hatte ich die Zeit auch nicht unbedingt verbracht. Wie sollte ich mich in meiner Verfassung einem solchen Dämon entgegenstellen? Aber wo war er? Hatte er einen anderen Zufluchtsort gefunden? Wieso war trotzdem sein Grab zugeschüttet gewesen? 82
Ich wurde einer Antwort enthoben, denn auf einmal hatte ich das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Es war etwas Beklemmendes, das mich warnte. Ich sah mich um, konnte aber nichts entdecken. Ich lauschte angestrengt. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Jeden Augenblick erwartete ich einen dämonischen Angriff. Von irgendwoher. Er konnte aus der Luft erfolgen oder aus der aufgebrochenen Erde heraus. Was wußte ich? Ich nahm Laute wahr. Es klang, als ächzte ein Mensch unter großer Anstrengung. Und jetzt schlug Metall gegen Metall. Meine Haare begannen sich zu sträuben. Das hörte sich mächtig kriegerisch an. Ich bildete mir ein, die Richtung erkannt zu haben. Geduckt schlich ich zu der Hecke hinüber und spähte hindurch. Es war inzwischen leidlich hell geworden. Deshalb konnte ich recht gut erkennen, was dort drüben bei den anderen Gräbern geschah. Nur mit Mühe konnte ich einen Überraschungsruf unterdrücken. Nicht weit von mir entfernt schaufelte ein Mann. Im ersten Augenblick dachte ich an David Stone, der vielleicht ebenfalls den Leichnam des Untoten suchte. Der Mann stand schon ziemlich tief in der Grube. Deshalb war ich mir nicht ganz sicher. Der andere richtete sich auf. Ich zuckte zusammen. Narrte mich ein Spuk? Das war Guinn Rankin und niemand sonst. Was trieb er hier? Wollte er mich hereinlegen? War er dabei, sich in einem fremden Grab zu verstecken, damit ich ihn nicht aufspürte? Aber das war doch sinnlos? Das Tageslicht traf ihn bereits. Zwar noch nicht mit voller Intensität, aber immerhin. Er hätte Schaden nehmen müssen, wenn ihm das etwas ausmachen würde. Er mußte aus einem anderen Grund vor mir geflohen sein. Den Grund erfuhr ich in den nächsten Minuten. Das schaurige 83
Schauspiel ließ fast mein Blut stillstehen. Guinn Rankin hatte sein Werk noch nicht vollendet, als es im Innern der Erde zu rumoren begann. Lehmbrocken flogen durch die Luft. Es rumpelte und krachte, wodurch sich der gespenstische Gräber aber nicht beeindrucken ließ. Aus der Tiefe des halboffenen Grabes quollen gelbliche Dämpfe. Sie breiteten sich schnell aus und erreichten auch die Hecke, hinter der ich kauerte. Sie rochen in eigenartiger Kombination schweflig ekelhaft und süßlich betäubend. Blitzartig erkannte ich die Gefahr. Ich riß ein Taschentuch hervor und preßte es gegen Mund und Nase. Dadurch hoffte ich, der einschläfernden Kraft der Dämpfe entgegenzuwirken. Meinen Platz wollte ich auf keinen Fall verlassen. Ich vermutete, daß ich etwas erleben würde, das mir beim Kampf gegen den Untoten half. Den Dämpfen folgten stoßartige Ausbrüche einer dunklen Flüssigkeit. Sie sprang wie ein Geysir in die Höhe, und nach der Farbe zu urteilen, konnte es sich nur um Blut handeln. Ich schauderte. Blut aus einem längst verrotteten Grab! Und davor ein Kerl, der seit einem Jahrzehnt nicht mehr zu den Lebenden gehörte. Nun sprudelte eine regelrechte Fontäne. Und aus diesem Brunnen bildete sich allmählich eine körperliche Gestalt. Das schäumende Blut perlte an ihr ab und versickerte schließlich. Es fraß auch die giftigen Dämpfe, aber ich verzichtete trotzdem nicht auf das schützende Tuch. Die Gestalt, die dem Grab entstiegen war, kam mir verteufelt bekannt vor. Ich hätte schwören können, daß es sich um den Burschen handelte, den ich mit den weißmagischen Symbolen an eine. völlig andere Stelle gebannt zu haben glaubte. Daß dies ein Irrtum gewesen war. sah ich nun deutlich vor mir. Mir wurde Verschiedenes klar. Die beiden gehörten zusammen. Der eine war schon früher ein paarmal aus dem Grab gestiegen, um Guinn Rankins Wiederkehr 84
vorzubereiten. Einmal war er von Barbara Hicks dabei gestört worden. Dann wieder von mir. Er hatte mich auf raffinierte Weise vom Friedhof fortgelockt, und Rankin war es endlich gelungen, die Erdhürde abzuschütteln. Seitdem ging er als mordender Toter um. War der Unbekannte das Wesen, von dem Rankin seine grauenhafte Kraft bezog? War er selbst ein dämonisches Ungeheuer?? Zwei blutrünstige Phantome! Es war wohl klüger, sich zurückzuziehen, bevor sie mich entdeckten und mit logischer Konsequenz ausschalteten. Nein, ich konnte jetzt nicht fortgehen. Ich erwartete Informationen, die ich auf anderem Wege nie erhalten würde. Daß ich sie möglicherweise mit meinem Leben bezahlen mußte, verdrängte ich aus meinem Bewußtsein. Mich durchzuckte es wie ein Blitz. Cioffi! Das mußte der seltsame Alte sein, von dem David Stone mir berichtet hatte. Carlando Cioffi – jener Halunke, der seinerzeit den Mörder Rankin bei sich versteckt und vermutlich alle möglichen Experimente mit ihm angestellt hatte! Der geheimnisvolle Kauz war damals zu ein paar Jahren Gefängnis verurteilt worden, aber schon bald darauf auf rätselhafte Weise aus dem Leben geschieden. Offenbar war er auf demselben Friedhof beigesetzt worden wie Guinn Rankin, und jetzt waren sie wieder zusammen. Carlando Cioffi sah schaurig aus. Ein alter Mann mit langem, weißem Haar und wallendem Bart. Er strahlte ein gespenstisches Licht aus, das seinen ganzen Körper durchglühte. Das Schrecklichste waren seine Augen. Zwei unnatürliche große Kugeln von dämonischer Schwärze. Tot und doch grauenvoll lebendig. »Warum hast du mich in meiner Ruhe gestört, Guinn Rankin?« tadelte die Erscheinung. »Du hast deine Aufgabe noch längst nicht gelöst. Du stehst erst am Anfang. Nur um deine Rache zu stillen, konntest du dein Grab verlassen.« »Ich weiß, Meister«, begann Guinn Rankin verhalten. »Und ich 85
halte auch blutige Ernte unter den zu Unrecht Lebenden.« »Und wirst du jeden töten, den ich dich zu hassen gelehrt habe?« »Jeden! Nur…« »Was für eine Einschränkung?« Cioffi reckte sich zu fürchterlicher Größe. Er überragte Rankin jetzt um Kopfeslänge. »Ich bringe es nicht fertig, einen bestimmten Menschen zu töten. Ich möchte, daß Sie den Zwang von mir nehmen, auch ihn hassen zu müssen.« Der Geist Cioffis lachte hohl. »Wer ist es?« »Dorice!« Es klang wie ein Klagen. »Ich kann es einfach nicht glauben, daß sie mich betrogen hat. Schon ein paarmal stand ich vor ihrem Haus in der Gelsing Road, aber ich brachte es nicht fertig, zu ihr zu gehen und sie umzubringen. Ich habe sie geliebt.« Cioffi glühte grell auf. Er strahlte jetzt so weit, daß ich befürchtete, der Lichtschein würde mich erreichen und den Dämonen meine Anwesenheit verraten. »Du bist ein Narr!« schalt der Greis. »Du mußt sie töten! Ich verlange es. Sonst war alles umsonst. Wenn du bei ihr schwach wirst, wirst du deine ganze Kraft verlieren, und mein Plan kann sich nicht erfüllen.« »Ein Plan, Meister?« Nicht nur Guinn Rankin war begierig, diesen Plan zu erfahren. Auch ich konnte meinen Wissensdurst kaum noch bezähmen. Ich mußte mich zur völligen Bewegungslosigkeit zwingen. »Ich wurde von den Menschen einst genauso schlecht behandelt wie du, Guinn Rankin. Sie haben mich verspottet. Sie nahmen mich nicht für voll. Sie glaubten nicht an meine Ideen. Ich, der große Magier Carlando Cioffi, lasse mich nicht ungestraft verhöhnen. Aber um mich an ihnen rächen zu können, war einer nötig, der meine Rache ausführte. Meine Wahl fiel auf dich, weil Narren am einfachsten zu formen und zu beeinflussen sind. Du hast dich frei zur Rache entschieden. Jetzt aber kannst du dich von deinen Verpflichtungen nicht mehr lösen. Mit deiner Hilfe werde ich mir die verhaßte Menschheit unterwerfen. Ich zahle es ihnen heim, was sie mir 86
angetan haben. Leider mußte ich sehr lange auf die Erfüllung meines Planes warten, denn ich konnte die Vorbereitung deines Körpers auf die große Aufgabe nicht ganz vollenden, weil wir zu früh entdeckt wurden. Deshalb dauerte es auch zehn Jahre, ehe die Kraft in dir groß genug war, dich aus deinem Grab zu befreien. Aber das Wichtigste geschah rechtzeitig. Dein Geist ist so geformt, daß er dir das Töten befiehlt. Auch wenn deine lächerlichen Gefühle sich dagegen sträuben, Dorice Nelson umzubringen, so wirst du es doch tun. Du kannst dich nicht dagegen wehren.« Er kicherte vergnügt. Ich hatte schauerliche Dinge gehört. Aber ich wußte nicht, wie ich sie verhindern sollte. Selbst wenn Guinn Rankin seinen Willen durchsetzte und seine ehemalige Braut nicht tötete, so blieben noch genügend andere Opfer. »Ich will alles tun, was Sie mir befehlen, Meister«, hörte ich den Toten versprechen. »Nur erlaßt mir diesen einen Mord!« »Niemals!« »Kann mich denn nichts davor bewahren?« Der Alte lachte gehässig. »Nichts! Du weißt, daß du unverwundbar bist. Du kannst dich auch nicht selbst töten, um dich deiner Aufgabe auf diese Weise zu entziehen. Du bist mein Geschöpf. In dir lebt mein Haß auf alles, was lebt. Niemand kann dich erlösen. Tote können nur durch Tote ihre Ruhe finden. Auch dieser jämmerliche Bursche, der dort hinter der Hecke kauert und sich einbildet, uns belauscht zu haben, kann daran nichts ändern.« Peng! Da hatte ich meine Ohrfeige. Ich war mir so geschickt vorgekommen, aber es gibt immer einen noch Gerisseneren. Auch wenn man lange danach suchen muß. Daß Cioffi die ganze Zeit von meiner Anwesenheit gewußt und trotzdem in aller Ruhe seine grausigen Geheimnisse preisgegeben hatte, zeigte mir, daß er mich nicht fürchtete. Für ihn war ich schon erledigt. Ich hatte genug gehört. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich sprang auf. Rankin hatte ich täuschen können. Bei Cioffi gelang mir das keinesfalls. 87
»Es ist Mac Kinsey«, hörte ich Guinn Rankin keifen. »Er ist unbesiegbar.« »Du Narr!« Das war der Magier. »Er hat dich hereingelegt. Du kannst ihn mit dem kleinen Finger erschlagen. Er ist ohne Waffe. Töte ihn! Und danach bringst du Dorice um. Tue deine Pflicht!« Er lachte höhnisch auf. Sein Leuchten wurde schwächer und erlosch schließlich ganz. Sein Körper fiel in sich zusammen. Die Dämpfe stiegen wieder auf und krochen in das Grab zurück. Unter lautem Gepolter schloß sich die Grube. Carlando Cioffi war verschwunden. Er dachte nicht daran, selbst zu töten. Er besaß sein Werkzeug, und dieses Werkzeug wußte jetzt leider, daß es sich vor mir nicht zu fürchten brauchte. Jetzt war jede Sekunde wertvoll. Mein schöner Plan war über den Haufen geworfen worden. Wenn mir nicht etwas Kluges einfiel, war ich verloren. Das Klügste war wohl in diesem Fall die Flucht. Ich brauchte eine Verschnaufpause, damit ich mir etwas Neues ausdenken konnte. Ich wählte irgendeine Richtung. Zeit zum Überlegen blieb mir nicht, denn schon jagte Guinn Rankin heran. Er durchbrach die Hecke und flog auf mich zu. Ich wich seitwärts aus und rannte los. Immer im Zickzack. Wie ein Hase. Und genauso fühlte ich mich auch. Vor mir erhob sich ein riesiges Kreuz. Es stand am Kopfende eines Grabes. Ich rüttelte daran, aber es gab nicht nach. Ich mußte mir ein kleines suchen. Damit konnte ich den Rasenden eventuell abwehren. Mein Blick fiel auf die kleinen Weihwassergefäße zu Füßen der Gräber. Viele waren leer. Nur eines war zur Hälfte gefüllt. Es ließ sich abnehmen, und ich erwartete das Ungeheuer mit dieser Waffe, von der ich mir einiges versprach. Bevor Guinn Rankin auf Reichweite heran war, schüttete ich ihm den ganzen Inhalt der Schale ins verzerrte Gesicht und hoffte, damit sein Ende einzuleiten. 88
Leider hatte ich mich geirrt. Das Gefäß mußte wohl ganz gewöhnliches Regenwasser enthalten haben. Jedenfalls zeigte es als einzige Wirkung, daß Guinn Rankin etwas naß wurde, und das störte ihn nicht weiter. Die Verfolgungsjagd ging weiter. Auf raffinierte Weise schnitt mir der Halunke immer wieder den Weg zum Ausgang ab. Er war fest entschlossen, mich zu vernichten. Ich jagte zwischen den Gräbern hindurch, während ich hinter mir meinen erbarmungslosen Verfolger hörte. Es war kaum zu erwarten, daß menschliche Schnelligkeit der dämonischen überlegen war. Gehetzt blickte ich mich um. War denn kein handliches Grabkreuz in der Nähe? Das hätte ich besser nicht getan, denn ich übersah die Grube, die ich selbst vor einigen Minuten geschaufelt hatte, und stürzte kopfüber in das verlassene Grab des Killers Guinn Rankin. * Ich erwartete den Todeshieb. Jeden Augenblick mußte sich das Scheusal über mich beugen. Aus dieser Falle gab es kein Entrinnen mehr. Aber es geschah nichts. Es war undenkbar, daß Guinn Rankin meine Spur verloren hatte. Er war ja knapp hinter mir gewesen. Ich hob den Kopf zögernd über den Rand der Grube. Guinn Rankin befand sich noch immer in der Nähe und starrte wütend zu mir herüber. Doch seltsamerweise lief er einen großen Bogen um mich, obwohl er nun wußte, daß ich ihm unterlegen war. Es schien, als fürchtete er die Nähe seines eigenen Grabes. Ich kombinierte rasch, während ich mit Schaudern zur Kenntnis nahm, wie der Killer drohend die erhobene Faust gegen mich reckte. Vielleicht war Guinn Rankins Befürchtung unbegründet, aber solange er der Meinung war, sich seinem Grab nicht nähern zu dür89
fen, gab es einen Zufluchtsort, wenn auch keinen angenehmen. Ich war noch einmal mit dem Schrecken davongekommen und sah nun, wie der Untote sich hastig entfernte. Ich war Zeuge eines üblen Gesprächs geworden. Carlando Cioffi war anscheinend ein gefährlicher Magier, der, in seiner Eitelkeit gekränkt, den Plan gefaßt hatte, sich an den Menschen zu rächen. Hierzu bediente er sich eines willfährigen Werkzeugs, das er mit Medikamenten, Beschwörungen und anderen dämonischen Maßnahmen solange bearbeitet hatte, bis es einen Tod starb, den es selbst beherrschte. Guinn Rankin, dieses Werkzeug, war angefüllt mit tödlichem Haß und entschlossen, dem Willen seines Meisters zu folgen. Er würde sogar die Frau, die er liebte, töten, weil der Magier es so befahl. Wahrscheinlich begab er sich jetzt zu ihr. Zornig kletterte ich aus der Grube. Ich achtete nicht darauf, daß ich über und über voller Schmutz war. Ich hatte nur noch einen einzigen Gedanken! Ich wollte vor Guinn Rankin bei Dorice Nelson in der Gelsing Road sein. * Judge Winter war vom Wahnsinn nicht mehr weit entfernt. Die Nachricht von Stanley Simons Ermordung hatte ihn an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht. Nicht einen Moment zog er die Möglichkeit in Erwägung, der verwahrloste Säufer könnte wegen der zwanzig Pfund umgebracht worden sein. Für ihn stand fest, daß nur der Mann, der aussah wie Guinn Rankin, für den Mord in Betracht kam. Als dann auch noch die Meldung von der grausigen Bluttat an Sylvia Barrie durchsickerte, war es mit Judge Warners Fassung endgültig vorbei. Er hatte Sylvia gekannt. Sie war kurze Zeit mit Guinn befreundet gewesen. Dieses mörderische Phantom gab sich nicht mit Halbheiten zufrieden. Er räumte auf. Und bald würde es bei ihm sein und 90
ihm die Quittung präsentieren. Was sollte er nur tun? Gab es keine Möglichkeit, das Unausweichliche abzuwenden? Nun gut, er würde nicht mehr nach Hause gehen, sondern in Hotels übernachten, die er laufend wechselte. Er würde sich in der nächsten Zeit auch nicht in seinem Büro blicken lassen. Aber wie lange konnte er sich verborgen halten? Und ließ sich der Tote damit überhaupt täuschen? Stammte er nicht aus einer Welt, für die es keine Geheimnisse gab? Lagen nicht seine Gedanken und Absichten vor Guinn ausgebreitet wie ein offenes Buch? Judge Warner wollte nicht sterben. Jetzt noch nicht und vor allem nicht auf diese grauenvolle Weise. Nach zehn Jahren mußte alles vergessen sein, was einmal war. Darüber durfte sich auch ein Guinn Rankin nicht hinwegsetzen. Gab es in dem Reich der Geister nicht den Begriff der Verjährung? Judge Warner war Geschäftsmann. Er verstand es, kühl und sachlich zu rechnen und Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen. Warum sollte ihm das diesmal nicht gelingen? Was waren denn das schon für Menschen, die bisher hatten sterben müssen? Zwei Frauen, denen er nicht sehr viel Intelligenz zutraute, und ein abgewirtschafteter Säufer. Wollte er sich etwa mit denen vergleichen? Hatte er nicht mehr Gehirnschmalz als sie alle zusammen? Es wäre doch gelacht, wenn er sich durch ein Gespenst ins Bockshorn jagen ließ. Langsam wuchs die Vorstellung in ihm, daß es etwas geben mußte, womit er Guinn ködern konnte. Er mußte nur darauf kommen. Und dann hatte er es. Es war Dorice. Guinn war damals ganz vernarrt in das blonde Mädchen gewesen. Um vor seinem erhofften Schwiegervater endlich mit den geforderten Mitteln aufwarten zu können, hatte er sogar den Raubmord auf sich geladen. Für Dorice hatte er alles getan. Warum sollte sich daran etwas geändert haben? Es gab für Guinn keinen Grund, die noch immer attraktive Frau zu hassen. Er würde ihr auch jetzt noch jeden Wunsch von den 91
schönen Augen ablesen. Wenn sie ihn bat, seinen ehemaligen Freund zu schonen, würde Guinn das tun. Hoffentlich! Und wenn nicht? Judge Warner grinste teuflisch. Nun, dann wollte er den Spieß einfach umdrehen und Guinn unter Druck setzen. Der Bursche sollte sich noch wundern. Was lag an der Kanaille, die ihn verschmäht hatte und nach Guinns Tod lieber ledig geblieben war, statt ihn, den damals schon angesehenen und noch blendend aussehenden Judge Warner, zu heiraten oder wenigstens ein paar aufregende Nächte mit ihm zu verleben? Er sah gar nicht ein, warum er sterben sollte, wenn sie am Leben blieb. »Warte nur, mein lieber, geisterhafter Guinn!« flüsterte der Mann mit dem aufgeschwemmten Gesicht tückisch. »Töten kann ich dich sicher nicht. Dazu bist du schon viel zu tot. Aber du sollst noch bereuen, daß du deinen gemütlichen Sarg verlassen hast.« Jetzt war ihm schon viel wohler. Zwar wußte er noch nicht genau, wie er den Geist von Guinn Rankin in die Zange nehmen sollte, aber der Plan allein verlieh ihm schon viel Kraft. Er beschaffte sich eine Pistole und fuhr erneut zu dem Haus in dem parkähnlichen Garten. Dorice Nelson war ziemlich überrascht, den unsympathischen Mann so schnell wiederzusehen. Hatte sie ihm nicht deutlich genug die Meinung gesagt? »Du weißt wahrscheinlich, warum ich hier bin«, meinte er betont unbekümmert. Die schöne Frau, die ein Kleid aus anschmiegsamem Material trug, das ihre Körperrundungen vorteilhaft zur Geltung brachte, schüttelte unmutig den Kopf. »Falls du mir nicht wieder diesen lächerlichen Unsinn erzählen willst, habe ich nicht die geringste Ahnung.« »Es ist kein Unsinn, Dorice.« Seine Stimme sollte betörend klingen, aber die Frau fand sie lediglich fettig. »Guinn ist mitten unter uns, und er wütet wie ein Berserker. Er hat schon drei Morde auf 92
sein Gewissen geladen, und ein Ende dieser blutigen Serie ist nicht abzusehen. Es wundert mich, daß er dich noch nicht besucht hat.« »Mich?« »Natürlich. Du hast ihn damals im Stich gelassen wie wir alle. Und das aus gutem Grund, denn er war ein brutaler Mörder. So einen Kerl konntest du nicht lieben.« »Aber ich habe ihn geliebt, Judge. Ich wollte, ich hätte die Kraft gehabt, auch nach seinem Tod noch zu ihm zu stehen.« »Judge Warner lachte hämisch. »Das hört sich jetzt sehr rührend an, Dorice. Nur leider wirst du ihn nicht überzeugen können, wenn er mit gierig geöffneten Klauen vor dir steht.« »Ich glaube dir kein Wort.« »Stanley Simon hat mir auch nicht geglaubt.« »Guinns Stiefvater? Was ist mit ihm?« »Tot«, sagte Judge Warner kalt. »Erschlagen. Guinn hat ihn verurteilt und das Urteil gleich selbst vollstreckt.« Dorice Nelson schwieg betroffen. Die Nachricht überraschte sie, aber sie machte ihr Judge Warner nicht sympathischer. Sie dachte an Guinn Rankin. Und an ihren Vater, der ihr verboten hatte, sich um das Grab zu kümmern. Und nun sollte Guinn angeblich zurückgekommen sein, um sich an allen zu rächen, die ihn im Stich gelassen hatten? Also auch an ihr. Nein! Das war nicht zu glauben. Sicher bezweckte Judge Warner mit seinen Lügen eine Schurkerei. Sie traute ihm ohne weiteres zu, daß er sich in finanziellen Schwierigkeiten befand und sie tüchtig rupfen wollte, indem er ihr seinen Schutz anbot. Es reizte Dorice Nelson, die Wahrheit zu erfahren. Und das würde sie wohl nur, wenn sie auf seine Tour einging. Zum Schein natürlich nur. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, meinte sie vorsichtig. Judge Warner jubelte innerlich. Er spürte, daß sie schwankend wurde. »Ich weiß auch noch nicht genau, wie wir uns am besten schützen können«, gab er wahrheitsgemäß zu. »Aber soviel steht fest, daß 93
wir gemeinsam mehr erreichen als allein. Ich schlage deshalb vor, daß ich für die nächsten Tage bei dir bleibe. Platz genug hast du ja.« Der Vorschlag gefiel Dorice Nelson überhaupt nicht, aber er entsprach genau dem, was sie erwartet hatte. Und da sie sich nun einmal entschlossen hatte, die Wahrheit herauszufinden, willigte sie widerstrebend ein. »Aber mache dir keine falschen Hoffnungen, Judge«, sagte sie vorsichtshalber. »Wir bilden nur eine Schutzgemeinschaft. Weiter spielt sich nichts ab.« Er lachte gezwungen. »Na, hör mal«, sagte er entrüstet, »aus dem Alter sind wir doch wohl beide inzwischen heraus.« Im Stillen dachte er, was sich hier abspielt, mußt du schon mir überlassen. Die Frau stellte ihm ein Zimmer zur Verfügung und wartete im übrigen seine weiteren Schritte ab. Doch bevor Judge Warner solche Schritte in die Wege leiten konnte, tauchte ein anderer auf, der das weitere Geschehen bestimmte. * Guinn Rankin kochte vor Wut. Judge war schon wieder bei ihr, und er schien dort zu bleiben. Der Meister hatte recht. Dorice war es nicht wert, daß er sie verschonte. Der Tote lachte innerlich. Das Entsetzen, das er bisher verbreitet hatte, amüsierte ihn. Er brach als etwas Unfaßbares über seine Opfer herein. Sie unternahmen kaum den Versuch, sich zu wehren. Dieser Mac Kinsey bildete eine Ausnahme. Aber auch der mußte sterben. Er war nicht unbesiegbar, wie er für kurze Zeit angenommen hatte. Cioffi hatte ihm die Augen geöffnet, und er hatte ihn auch den Haß gelehrt. Er hatte an seine Rache gedacht, während er starb, und mit den gleichen Gedanken war er seinem Grab entstiegen, in dem er zehn Jahre Kraft gesammelt hatte. Es gab für ihn nichts anderes, und er 94
stand erst am Anfang seiner Arbeit. Zwei Menschen hatten erst ihre gerechte Strafe gefunden. Das Mädchen war ja versehentlich gestorben. Die nächsten sollten Dorice und Judge sein. Diese beiden Menschen hatten ihn am meisten enttäuscht. Selbst wenn die ganze Polizei von London ihn jagen würde, könnte sie doch nichts gegen seine Kräfte ausrichten. Er war unbesiegbar. Und diese Macht würde er ihnen zu kosten geben. Wenn seine persönliche Rache beendet war, würde er nicht aufhören zu töten. Er mußte weiter morden. Er mußte! Guinn Rankins Gedanken bewegten sich längst nicht mehr auf logischen Bahnen. Carlando Cioffi, der geheimnisvolle Magier, hatte vor seinem Tod sein Bewußtsein verändert. Er bildete sich ein, gerechte Rache zu üben, doch ihn leitete längst die Lust am Töten. Die starren Augen des Toten blickten zu dem Haus hinüber. Er überquerte die Straße und stand nun vor dem hohen, schmiedeeisernen Gitter. Er läutete nicht. Er wollte die beiden überraschen. Lautlos drang er durch das Gitter. Es sah gespenstisch aus, wie sein Körper durch die Strukturen der Eisenstäbe quoll, wie er sich in bizarre Muster teilte, die sich jenseits des Zaunes wieder verbanden. Auf die gleiche Weise drang er in das Haus ein. Die Mauern waren stabil, aber sie bildeten für den Toten keine Schranke. Nun befand er sich in dem Gebäude, das vor zehn Jahren noch nicht existiert hatte. Es war nicht erforderlich, daß er sich in dem Haus auskannte. Er brauchte nur seinen Haßinstinkten zu folgen. Guinn Rankin stieg die breite Treppe empor. Hinter der Tür, vor der er stehenblieb, hörte er halblaute Stimmen. Was er vernahm, überraschte ihn ein wenig. Es klang so, als wehrte sich Dorice gegen die Zudringlichkeiten des Mannes. Aber sicher täuschte er sich. Er trat durch die Wand, obwohl die Tür nicht verschlossen gewesen wäre. 95
Dorice Nelson entdeckte ihn zuerst. Sie schrie auf. Bis zu diesem Augenblick hatte sie nicht geglaubt, was Judge Warner behauptet hatte. Aber nun sah sie es mit eigenen Augen. Der Mann, der plötzlich im Zimmer stand und sie mit brennenden, haßdurchglühten Augen anstarrte, war Guinn. Die Frau taumelte. Judge Warner benutzte die Gelegenheit, sie aufzufangen und seine fetten Lippen auf ihren Hals zu drücken. Guinn Rankins Haß loderte auf. Dorice Nelson war ohnmächtig geworden. Als Judge Warner das merkte, ließ er von ihr ab. Er hob den Kopf, und nun sah auch er den Geist. Seiner Kehle entrang sich ein Gurgeln. Er verfärbte sich und ließ die Frau fallen. Sie glitt unsanft zu Boden. »Wa – was willst du, Guinn?« stotterte er nicht sehr einfallsreich. »Das weißt du genau, Judge«, sagte der Tote gefährlich leise. »Als erfolgreicher Geschäftsmann weißt du, daß man jede Rechnung bezahlen muß. Dein Kredit ist abgelaufen.« Judge Warner hatte sich alles genau überlegt. Sein Plan stand. Er wußte auch die Worte, die er nun sagen mußte, doch sie wollten ihm nicht über die Lippen. Die Gedanken rasten durch seinen Kopf. Nur keinen Fehler begehen! Er besaß einen Trumpf. Den hatten die anderen, die vor ihm sterben mußten, nicht gehabt. »Du hast recht, Guinn«, begann er zaghaft tastend, »alles hat seinen Preis. Nur die Höhe ist unterschiedlich. Wie hoch ist dein Preis? Ich kann dir eine Menge bieten.« Und nach einer kurzen Pause fügte er lockend hinzu: »Zum Beispiel Dorice.« Die Augen des Toten wurden noch starrer. Ein unheimlicher, ein höllischer Schimmer lag in ihnen. »Dorice«, sagte er, »gehört mir ohnehin. Sie wird von meiner Hand sterben, sobald sie aus ihrer Bewußtlosigkeit erwacht. Sie soll den Grund ihres Todes erfahren. Und zuvor rechne ich mit dir ab. Mit meinem besten Freund, der für seinen Verrat« sogar noch das 96
Geld nahm, das aus dem Raub stammte.« »Du wirst mir nichts tun«, stieß Judge Warner hervor. »Du wirst von hier verschwinden und mich in Ruhe lassen.« Der Tote lachte grausam. »Warum sollte ich das tun?« »Deshalb!« Der Blonde mit dem fetten Gesicht hielt eine Pistole in der Hand und richtete sie auf Guinn Rankin. »Glaube nur nicht, daß ich nicht abdrücken werde. Ich tue es. Dazu solltest du mich nicht zwingen.« Guinn Rankin schüttelte amüsiert den Kopf. »Ich weiß inzwischen, daß du ein mieser Hund bist. Aber du bist außerdem auch noch ein Narr. Schieß doch! Drück doch ab!« Er streckte die Hände nach dem ehemaligen Freund aus. Sie waren totenbleich und knochig. Die Fingernägel hatten eine bläuliche Färbung. Judge Warner holte tief Luft. Dann schoß er. Die Kugel fetzte ein Loch in die Tür, vor der Guinn Rankin noch immer stand. Er selbst blieb unversehrt. »Ein Narr! Tatsächlich! Du versuchst, einen Toten zu töten. Du überschätzt dich noch immer.« Judge Warner war jetzt so blaß wie der Leichnam vor ihm. Die Kugel war durch den Geist wie durch einen Berg Seifenschaum gegangen. Sie hatte ihn nicht außer Gefecht gesetzt. Es würde also auch keine andere Waffe geben, die diesem Dämon etwas anhaben konnte. »Du kriegst mich nicht«, kreischte der Blonde trotzdem. Bevor Guinn Rankin etwas unternehmen konnte, hatte er sich gebückt, die ohnmächtige Dorice Nelson an sich gerissen und ihr die Pistole an die Schläfe gesetzt. Die blonde Frau erwachte durch diese unsanfte Behandlung aus ihrer Ohnmacht. Sie wußte nicht, was sich in der Zwischenzeit abgespielt hatte, aber sie begriff sofort, daß sie dem Tod geweiht war. Judge Warner benutzte sie als Geisel. Er würde sie umbringen. Und wenn er es nicht tat, dann erledigte Guinn das. Dorice Nelson starb fast vor Angst, und es graute ihr vor Judge 97
Warners Schlechtigkeit fast mehr als vor der Tatsache, daß ein Toter erschienen war, um sich an ihr zu rächen. »Ich warne dich, Judge!« sagte Guinn Rankin. »Wenn du versuchst, Dorice zu töten, wenn du dir anmaßt, was mir allein zusteht, wirst du eines grausigen Todes sterben.« »Und wenn ich sie schone, verschonst du auch mich?« fragte Judge Warner schnell. Er schöpfte Hoffnung. Anscheinend klappte die Erpressung ganz gut. Ihm war es egal, ob der Spuk den Tod von Dorice verhindern oder ob er den Mord lediglich selbst ausführen wollte. Die Hauptsache war, daß er sich freikaufen konnte. Aber Guinn Rankin schüttelte unnachsichtig den Kopf. »Nein«, sagte er wütend, »dein Leben kannst du nicht retten. Du hast es durch deine Gemeinheit verwirkt. Du kannst nur die Art des Todes beeinflussen.« »Das werden wir ja sehen!« brüllte der Bedrohte. »Keinen Schritt näher, Guinn! Sonst jage ich Dorice ein paar Kugeln durch ihren hübschen Schädel.« Guinn Rankins Gesicht veränderte sich. Wie schon vor den früheren Morden ging er urplötzlich in Verwesung über. Seine Wangen platzten auf, ohne daß Blut aus den gräßlichen Wunden floß. Seine Zähne schoben sich vor. Er wirkte wie ein Raubtier. Unaufhaltsam rückte er vor. Die blonde Frau schloß entsetzt die Augen. Jeden Augenblick erwartete sie den auslöschenden Schmerz. Auch Judge Warner wurde von Grauen und Panik gepackt. »Zurück!« schrie er schrill. Er wich seinerseits so weit nach hinten, wie es nur ging. Dabei schleifte er Dorice Nelson mit sich, die Pistole fest gegen ihre Schläfe gepreßt. Guinn Rankin hörte nicht auf ihn. Sein dämonischer Blick versuchte, Judge Warner von dem feigen, sinnlosen Mord abzuhalten, aber dieser begriff schon längst nicht mehr, daß durch nichts sein Tod abzuwenden war. Er drückte eiskalt ab. Die Detonation füllte den Raum. 98
Dorice schrie auf, aber sie wankte nicht. Judge Warner starrte fassungslos auf seine Hand. Er hielt ein skurriles Metallgebilde darin. Es hatte keine Ähnlichkeit mehr mit einer Schußwaffe. Es war völlig deformiert. »Das – das gibt es nicht«, jammerte der Blonde. Er sah, daß die Frau unverletzt war. War denn auch sie schon ein Geist, daß er ihr nichts mehr anhaben konnte? Panisches Entsetzen übermahnte ihn. Er schleuderte die Frau von sich weg. Sie prallte gegen den lebenden Leichnam. Sollte er sie doch umbringen! In der Zwischenzeit gelang ihm vielleicht doch noch die Flucht. Aber Guinn Rankin hatte sich für eine andere Reihenfolge entschieden. Er wollte erst den Mann. Die schwache, wehrlose Frau war ihm sicher. Er sprang Judge Warner an. Doch dieser hatte den kurzen Moment, in dem der Tote sich der Frau entledigte, dazu benutzt, die Tür des Zimmers zu erreichen. Er stürzte hinaus, jagte die Treppe hinunter, durchquerte die Halle und verließ keuchend das Haus. Er rannte zum Zaun und rüttelte an dem schweren Tor. Es war verschlossen. Hastig drehte er sich um. Er sah, daß der Tote hinter ihm war. Er durfte keine Zeit verlieren. Er mußte den hohen Zaun überklettern. Diese ungewohnte sportliche Betätigung brachte ihn in Verlegenheit. Wäre die panische Todesangst nicht gewesen, so hätte er es mit Sicherheit nicht geschafft. So aber erreichte er die trutzig emporragenden Zacken des schmiedeeisernen Geflechts, bevor der Dämon über ihn herfallen konnte. Er schwang ein Bein über das Gitter. Da packte ihn eine erbarmungslose Faust und preßte ihn mit aller Gewalt auf die spitzen Zacken. Sie durchrammten seinen Körper. Während er wimmernd verblutete, schenkte ihm der tote Rächer 99
keinen Blick mehr. Er kehrte ins Haus zurück, um sein grausames Werk zu vollenden. * Ich fuhr wie der Henker. Zu wissen, daß eine wehrlose Frau umgebracht werden soll, und ihr nicht beistehen zu können, ist etwas Entsetzliches! Zum Glück war es noch früh am Tag, daß der richtige Verkehr noch nicht begonnen hatte. Ich kam also sehr gut voran. Aber der Untote würde wesentlich schneller sein als ich. Für ihn gab es keine Entfernungen. Und keine Ampeln. Ich spielte mit dem Gedanken, Dorice Nelson von einer Telefonzelle aus anzurufen und zu warnen. Doch was würde das helfen? Guinn Rankin konnte durch Wände gehen. Er ließ sich nicht aufhalten. Ich knüppelte den MG vorwärts. Er gehorchte mir. Sein Glück! Die Minuten quälten sich voran. Mir wurde bewußt, daß ich noch immer keine wirksame Waffe gegen den Unseligen bei mir hatte. Wie sollte das enden? Ich würde tief in meine Trickkiste greifen müssen, bezweifelte aber, daß ich ihn ein zweites Mal zum Narren würde halten können. In der Gelsing Road befanden sich nicht sehr viele Häuser. Es waren durchweg eindrucksvolle Anwesen mit riesigen Gärten. Die Hausnummer wußte ich nicht. Die hatte der Zombie bei seinem Gespräch mit Cioffi nicht verraten. Aber das war auch nicht nötig. Ich erkannte auch so, wo ich an der richtigen Adresse war. Auf einem der kunstvollen Zäune entdeckte ich einen schlaffen Körper. Drei Eisenstäbe ragten ihm aus dem Rücken heraus. Daß der Mann tot war, stand außer Frage. Das war Rankins Handschrift. Den Untoten selbst sah ich nicht, und ich wußte auch nicht, wer der Tote war. Ich fürchtete lediglich, im Haus eine zweite Leiche zu 100
finden. Die Dorice Nelsons. War es diesmal mein Schicksal, immer zu spät zu kommen? In der Eile würgte ich den Motor ab und sprang aus dem Wagen. Das Tor widerstand meiner Rüttelei. Ich mußte über den Zaun. Mir wurde etwas mulmig, als ich daran dachte, daß ich vielleicht auch gleich aufgespießt wurde. Was wußte denn ich, wie schnell der Untote zuschlagen konnte? Ich kam glücklich über die Barriere und hetzte weiter. Die Haustür war offen. Von irgendwoher vernahm ich Stimmen. Es war wohl Dorice Nelson, die gerade sagte: »Es ist leicht, immer andere für sein eigenes Versagen verantwortlich zu machen, Guinn. Ich habe trotz allem an dich geglaubt, aber du hast es mir nie sehr leicht gemacht. Du hast von anderen stets das erwartet, was zu geben du selbst nie in der Lage warst. Du hast dich immer wieder belogen und selbst bedauert. Und trotzdem habe ich dich geliebt.« Ich stürmte die Treppe hinauf. Noch war nicht alles verloren. Die Frau lebte noch. Das konnte sich in der nächsten Sekunde ändern. »Das hört sich rührend an«, hörte ich Guinn Rankin sagen. »Aber damit rettest du dich nicht, Dorice. Dein Tod ist beschlossen. Stirb!« Ich warf mich gegen die Tür und flog ins Zimmer. Der Untote streckte gerade seine Arme vor. Er sah fürchterlich aus. Nichts für schwache Nerven. Ich sprang den Killer von der Seite an. Mir war klar, daß ich ihn damit höchstens für einen kurzen Moment von seinem Opfer ablenken konnte, aber diese Sekunden mußten Miß Nelson genügen, die Flucht zu ergreifen. Ich flog durch den Toten hindurch. Der Leichnam schien masselos zu sein. Aber ich spürte ein höllisches Brennen. Außerdem stank der Bursche bestialisch. Ich prallte gegen Dorice Nelson, die mich wie einen zweiten Spuk anstarrte. Was sollte sie auch sonst von mir halten? Trotz allem klammerte sie sich instinktiv an mich, statt davonzulaufen. Damit behinderte sie mich und verschaffte dem Untoten, 101
der zum Sprung ansetzte, einen zusätzlichen Vorteil. Soweit ich mit einem umfassenden Blick feststellte, enthielt das Zimmer keine Gegenstände, die zur Dämonenabwehr geeignet erschienen. Ich mußte einen anderen Weg gehen. Vor allem mußte ich die Frau schnellstens in Sicherheit bringen, bevor ich mich auf einen Kampf einließ. Ich wußte jetzt einen Ort, der mir sicher erschien. Guinn Rankins Grab. Der Leichnam flog durch die Luft. Aber Sekundenbruchteile vorher stieß ich mich vom Boden ab und flog wie ein Geschoß durch ein geschlossenes Fenster. Dorice Nelson hatte ich im Klammergriff. Vielleicht war es auch umgekehrt. Inmitten eines Regens aus Glassplittern landeten wir draußen in einem Blumenrondell. Der Sturz wurde dadurch so gemindert, daß wenigstens unsere Knochen heilblieben. Ich gönnte weder der Frau noch mir eine Verschnaufpause. Der mordende Dämon würde sich sein Opfer nicht entreißen lassen. Wir mußten das Letzte aus uns herausholen, und selbst dann konnten wir es kaum schaffen. »Er wird uns umbringen«, keuchte Dorice Nelson, während ich sie mit mir fortriß. »Genau das will ich verhindern«, schrie ich zurück. »Das schaffen Sie nicht. Er findet uns überall.« Ich kletterte in Windeseile auf den Zaun, packte sie am Handgelenk und zog sie hinüber. Dorice Nelson schrie auf, als sie den Leichnam auf den Zacken stecken sah. »Judge!« hauchte sie bestürzt. »Er war schlecht, aber dieses Ende ist furchtbar.« Hinter uns raste der Untote heran. Wir mußten schneller sein als er. Wir mußten den Friedhof vor ihm erreichen. Noch bevor Dorice Nelson richtig saß, ließ ich den MG schon einen Satz vollführen. 102
Die Frau stellte keine Fragen. Sie war restlos erschöpft. Ihr war gleichgültig, wohin ich sie brachte. In die Hölle vielleicht. Oder ins Irrenhaus. Reif war sie für beides. Im Rückspiegel konnte ich unseren Verfolger nicht mehr sehen. Würde mein Plan aufgehen? Und wenn, wie sollte ich mich weiter verhalten? Ich zweifelte, daß Dorice Nelson so lange in dem ausgehobenen Grab ausharrte, bis ich mit einer wirkungsvollen Waffe zurück war. Außerdem war sie nicht der einzige Mensch, dessen Leben ich schützen mußte. Wer sagte mir, daß Rankin nicht seine Pläne änderte und erst einmal ein paar andere Morde beging? Nicht auszudenken! Dorice Nelson wurde bleich und begann zu zittern, als sie die düstere Friedhofsmauer gewahrte. Rettung hatte sie sich anders vorgestellt. Ich mußte sie stutzen, als sie den Wagen verließ. Ich nahm sie kurzerhand auf meine Arme und trug sie das letzte Stück. Nun war es gleich geschafft. Da sah ich zu meinem Entsetzen, daß das Grab des Mörders wieder geschlossen war. Unerklärliche Kräfte hatten die tiefe Grube zugeschüttet. Vielleicht hatte Cioffi seine magischen Hände dabei im Spiel gehabt. Jedenfalls war unser einziger Zufluchtsort nicht mehr vorhanden. Ich stellte die Frau auf die Füße und rief ihr zu: »Wir müssen graben.« Gleichzeitig packte ich den Spaten, den ich in der Eile hiergelassen hatte, und schaufelte wie ein Verrückter. Sie verstand zwar offensichtlich nicht, was sie tat, aber sie rutschte auf die Knie und wühlte mit den bloßen Händen die Erde weg. Um ihr Mut zuzusprechen, erklärte ich ihr in aller Eile, wer ich war und was ich mir von der Graberei versprach. Dorice Nelson hatte in der letzten Stunde soviel Unglaubliches erlebt, daß sie meine Behauptungen widerspruchslos schluckte. Immer wieder sah ich mich nach allen Seiten um. Irgendwie spürte ich die Gefahr, die sich uns näherte. 103
Dieser Friedhof war wie eine verwunschene Dämonenburg. Mit einer richtigen Mauer drumherum. Aber die Gefahr war innerhalb, nicht draußen. Schließlich traf sie uns doch unerwartet. Wir hatten kaum die oberste Erdschicht abgetragen, da stand er plötzlich hinter uns und lachte gellend. Wir fuhren beide herum. Den Spaten hielt ich fest in der Hand, doch ich wußte, daß ich ihn vergessen konnte. Guinn Rankin war zwar mühelos zu durchdringen, aber nicht zu verwunden. Nicht mit herkömmlichen Waffen. Wir standen mitten auf dem flachen Grabhügel. Dorice Nelson preßte sich voller Angst eng an mich. Ich konnte ihre Wärme spüren. Sie brachte mich aber in dieser Situation nicht auf erfreulichere Gedanken. Konnte das Grab uns schützen? Widerstrebte es dem Toten tatsächlich, seine Ruhestatt zu betreten? Wir erhielten die Antwort unmittelbar. Ja, es widerstrebte Guinn Rankin. Aber es war auch nicht nötig. Er sprang auf uns zu und riß uns mit sich fort, obwohl ich mit aller Kraft auf ihn einschlug. Jenseits des Grabes landete er, und nun hatte er Dorice Nelson und mich unseres Schutzes beraubt. Er stieß ein dämonisches Gelächter aus. »Habt ihr euch eingebildet, mich Überlisten zu können?« Er führte einen fürchterlichen Hieb aus. Ich ließ mich auf die Erde fallen und versetzte gleichzeitig der Frau einen kraftvollen Stoß, daß sie einige Schritte weit stolperte. Guinn Rankin zögerte kurz. Er überlegte, über wen er zuerst herfallen sollte. Er entschied sich für mich. Darüber war ich erleichtert. Ich rief Dorice Nelson zu, sie solle sich ganz flach auf das Grab legen und sich zusätzlich mit Erde bedecken. Ich hoffte, daß der Dämon sie dadurch kein zweites Mal von dem sicheren Platz reißen konnte. 104
Im nächsten Augenblick flog ich über die Grabhügel und entfernte mich immer weiter von der ursprünglichen Stelle. Den mordenden Toten zog ich hinter mir her. Guinn Rankin schnaubte vor Wut. »Sie kann nicht ewig so liegenbleiben«, triumphierte er. »Außerdem wird der Meister sie in die Luft schleudern.« Cioffi! Den unheilvollen Magier hatte ich ganz vergessen. Falls er wirklich seinem Knecht zu Hilfe eilte, war es vorbei mit der Gemütlichkeit, die ohnehin schon zu wünschen übrigließ. Der Untote zeigte zum ersten Mal, daß er es an Schnelligkeit ohne weiteres mit mir aufnehmen konnte. Er walzte heran, und allein sein scheußliches Aussehen ließ mich meine Vergänglichkeit ahnen. Ich brauchte ein Kreuz. Unbedingt! Es waren genügend vorhanden, aber keines ließ sich so rasch aus seiner Verankerung reißen. Den Grabfrevel hätte ich verantwortet. Jetzt hatte mich Rankin eingeholt. Seine knochige Faust zuckte vor und krachte gegen meinen Kopf, obwohl ich ihn blitzschnell zurückriß. Hätte ich das nicht getan, wäre mein Schädel vermutlich in zwei Hälften zerplatzt. So aber stürzte ich nur benommen zu Boden und versuchte angestrengt, wieder in die Höhe zu kommen. Ich schaffte es. Ich sprang auf – und ging gleich erneut in die Knie. Ich war gegen etwas furchtbar Hartes geknallt. Schnell merkte ich, daß es sich um ein schmiedeeisernes Grabkreuz handelte, das meinem Ansturm nicht gewachsen war. Es knackte, als es brach. Zweifellos hatte der Rost schon gute Vorarbeit geleistet, denn so hart ist mein Schädel nun auch wieder nicht. Ich reagierte wie ein Uhrwerk, als ich das Kreuz an mich riß, mich auf den Rücken wälzte und das Grabdenkmal zur Abwehr über mich hielt. Guinn Rankin bremste seinen Lauf. Er war irritiert. Ein mächtiges Kreuz! Womöglich noch geweiht. Das konnte ihm gefährlich werden. Er wollte es nicht unbedingt auf einen Versuch ankommen las105
sen. Schon schöpfte ich Hoffnung, als sich der Spielverderber meldete. Cioffis krächzende Stimme tönte aus dem Grab: »Schlag zu, Guinn Rankin. Der Regen hat die Weihe längst in die Erde gespült. Du hast nichts zu befürchten.« Vorsagen ist unfair. Leider machte sich der Zombie nichts aus diesen Anstandsregeln. Er fetzte mir das Kreuz aus den Fäusten. Es kurvte in weitem Bogen davon und prallte gegen einen grauen Grabstein. Es gab einen dumpfen Laut. Ein drohendes Murren war die Antwort. Es kam aus dem Grab, das zu diesem Stein gehörte. Anscheinend wurden nun alle Toten rebellisch. David Stones Ahnungen schienen sich doch noch zu erfüllen. Ich fürchtete, daß gleich ein Heer von Skeletten aufstand, um Guinn Rankin zu unterstützen. Das konnte ja heiter werden. Gehetzt blickte ich zu Dorice Nelson herüber. Wie ich schon befürchtet hatte, hielt sie sich nicht mehr an meine Anweisung. Zwar befand sie sich noch auf dem Grabhügel, aber Guinn Rankin konnte sie jederzeit herunterreißen. Sie bot eine zu große Angriffsfläche. Und fremde Tote hatten vermutlich ohnehin keinen Horror vor dem fremden Grab. Mir kam ein Gedanke. Wenn Carlando Cioffi der Urheber dieses Grauens war, konnte ich den Spuk vielleicht beenden, indem ich sein Grab zerstörte. Er selbst kam nicht hervor. Dafür hatte er sicher einen Grund. Einen Grund, der ihn zur Vorsicht mahnte. So schnell ich konnte, rannte ich hinter dem davongeflogenen Kreuz her. Voller Unbehagen sah ich, daß die Erdschollen auf dem Grab bereits aufbrachen. Ich mußte schnell handeln, sonst bekam ich es mit einem zweiten Gegner zu tun. Ich packte das Kreuz und schleppte es mit mir fort. Ich mußte eine ziemliche Strecke laufen. So weit hatte ich mich schon von dem Grab des Magiers entfernt. Als ich es erreichte, holte ich mit dem Kreuz aus und wollte es in die Erde rammen. 106
Doch es wurde mir aus der Hand geprellt. Guinn Rankin stand hinter mir. Er lachte, und seine zerfleischte Fratze zeigte mir, daß ich endgültig verspielt hatte. Ich trat dem Untoten dorthin, wo es lebende Männer gar nicht gern hatten. Dem Zombie machte es nichts aus. Trotzdem hatte ich eine Wirkung erzielt, denn ich war wieder einmal durch den Burschen hindurchgestiegen. Er mußte sich erst nach mir umdrehen, wenn er mich fassen wollte. Er tat es und hob die Rechte zum vernichtenden Schlag. Seltsamerweise donnerte die Faust nicht herab. Guinn Rankin wich mit allen Anzeichen des Entsetzens vor mir zurück. Teufel! Wenn ich wenigstens wüßte, womit ich ihn so erschreckt hatte. Das konnte er gerne noch mal haben. Als ich mich noch in meinem unerwarteten Erfolg sonnte, wurde ich brutal zur Seite gefegt. Erst da kapierte ich, daß Rankins Angst gar nicht mir gegolten hätte. Ein grauer Typ drängte sich an mir vorbei. Er trug armselige Lumpen, und von der Seite sah ich, daß sein Kopf ein Totenschädel war. Ein Leichnam wie Guinn Rankin. Ich hatte es befürchtet. Rankin heulte auf. »Hilf mir, Meister! Was soll ich tun?« In Cioffis Grab regte sich etwas, doch der Magier blieb im Verborgenen. Er seufzte nur so schaurig, daß mein Mund trocken wurde. Der Graue griff Guinn Rankin an und schleuderte ihn zu Boden. Die beiden gespenstischen Leiber verkeilten sich ineinander. Sie keuchten und schlugen aufeinander ein. Schließlich legten sich die Knochenfinger um den Hals des anderen. Ich rannte zu Dorice Nelson hinüber, die vor Grauen fast durchdrehte. Sie barg ihr Gesicht an meiner Brust, damit sie das Schreckliche nicht zu sehen brauchte. Ein langgezogener Schrei löste sich aus einer Kehle. Wer hatte ihn ausgestoßen? Guinn Rankin bäumte sich auf. Er versuchte, den Grauen abzuschütteln, doch dessen Finger ließen ihn nicht los. Röchelnd streck107
te er sich schließlich und war stumm. Der Graue erhob sich. Suchend blickte er zu uns herüber. Ich war auf das Schlimmste gefaßt. Er war noch stärker als Guinn Rankin, denn es war ihm gelungen, diesen zu besiegen. Er sah aus, als hätte er schon Jahrhunderte im Grab gelegen und doch nicht verwesen können. Sein Gesicht war von Leid gezeichnet. Hinter ihm schoß eine Stichflamme in die Höhe. Grellrot und giftig. Ihr folgte dicker, schwarzer Qualm, der von einem plötzlichen Windstoß davongetragen wurde. Danach war von Guinn Rankin nichts mehr zu sehen. Der Graue taumelte ein paar Schritte auf uns zu. Seine knochigen Finger hatte er vorgestreckt. Es sah aber nicht so aus, als wollte er uns an den Kragen gehen. Eher wirkte es wie eine hilflose Geste. Drei Schritte vor uns brach er zusammen. Sein verwüstetes Gesicht entspannte sich. Es wurde seltsam friedlich. Keineswegs so, als machte sich der Unheimliche Gedanken über seine vernichtende Tat. Dorice schrie auf, als er sich in ein bleiches Gerippe verwandelte und der Länge nach niederschlug. Er breitete beide Arme aus. Sie schlugen zurück, und seine Hände vereinten sich über der Brust. Es sah aus, als würde er beten. Dann rührte er sich nicht mehr. Schon wollten wir aufatmen, als uns ein ohrenbetäubendes Getöse herumfahren ließ. Das Grab Carlando Cioffis stürzte in sich zusammen. Gelbliche Dämpfe stiegen auf und verflüchtigten sich. Einige Zeit stank es bestialisch, aber auch das verging. Der machthungrige Magier hatte alles beherrschen wollen und nun doch alles verloren. Stille trat ein. Dorice Nelson wagte kaum zu atmen, und auch mir war noch immer nicht ganz geheuer zumute. Ich sah in der unerwarteten Rettung keine Logik. Ich wollte wissen, wem ich diesen Freundschaftsdienst zu verdanken hatte. 108
Ich ging mit Dorice zu dem aufgebrochenen Grab, Aus dem war der graue Tote gestiegen, nachdem er anscheinend durch den Schlag des Kreuzes aufgewacht war. Die Schrift auf dem Grabstein war zwar schon ziemlich verwittert, aber mit einiger Mühe gelang es mir, sie zu entziffern. Über den Jahreszahlen stand der Name Ben Rudos. Das war der Mann, den Guinn Rankin vor zehn Jahren ermordet hatte. Ich hatte keine Ahnung gehabt, daß er ebenfalls hier lag. Eine späte Revanche, aber für uns gerade zur rechten Zeit. Wie hatte Carlando Cioffi zu Guinn Rankin gesagt? Tote können nur durch Tote ihre Ruhe wiederfinden. Das war nun geschehen, und auch für Ben Rudos würde es endlich Frieden geben. Ich führte Dorice Nelson vom Friedhof und brachte sie zu einer Freundin, deren Adresse sie mir nannte. Ich verstand, daß sie in den nächsten Tagen nicht allein sein wollte. Während ich nach Whitehall fuhr, um meinem Boß Bericht zu erstatten, baute ich um ein Haar einen Unfall. Nicht etwa wegen eines dämonischen Angriffs, sondern schlichtweg aus Übermüdung. Barbara Hicks schüttelte mißbilligend den Kopf, als sie mich sah. Kein Wunder. Mein Anzug war zerfetzt. Ich war über und über dreckig. »Haben Sie auf einem Kartoffelacker übernachtet?« fragte sie spitz. Ich schenkte ihr ein müdes Lächeln. »So ungefähr! Aber der Kartoffelacker war ein Friedhof, und die Früchte, die dort aus dem Boden kamen, haben sich als ziemlich ungenießbar erwiesen. Kommen Sie doch mal mit, ich bin inzwischen der emsigste Friedhofsbesucher von ganz London.« Sie erschauerte vom Scheitel bis zur Sohle. »Mit Ihnen würde ich nicht mal in die Kantine gehen!« ENDE �
109
In vierzehn Tagen erhalten Sie den packenden Mac KinseyGrusel-Thriller Nr. 15. W.A. Hary hat ihn geschrieben. Er heißt:
Die Straße ins Totenland � Hier eine kleine Kostprobe: »Verfahren!« ächzte Fred Stillman. Angst flog ihn an. Seine schweißnassen Hände klammerten sich um das Lenkrad, daß die Knöchel weiß hervortraten. Gehetzt schaute er umher. Verdammt, ja, er hatte Angst. Das Grauen schüttelte ihn. Wo war er plötzlich? Er war doch eben noch auf der Hauptstraße gefahren und dann… Alles war anders, auf erschreckende, unerklärliche Weise. Stillman fuhr mit hämmerndem Herzen weiter. »Ich – ich muß umkehren!« redete er sich ein: aber das ging nicht: Er konnte sich nur am Lenkrad festklammern und geradeaus fahren. Da, ein Dorf! Auf dem Ortseingangsschild stand das Wort ›HELL‹! »Das bedeutet HÖLLE!« murmelte Fred Stillman. Er bäumte sich gegen den Zwang auf, weiterzufahren. Er hatte furchtbare Angst vor diesem Dorf mit Namen Hölle – ein Dorf, das auf seinem Weg überhaupt nichts zu suchen hatte. Er hatte London im Norden verlassen – und jetzt dies. »Nein!« brüllte er. Im Licht der Straßenlaternen sah er die Dörfler. Alles fröhliche Menschen, wie es schien. Stillman schaffte es, langsamer zu fahren. Aber er schaffte es nicht, seinen Wagen anzuhalten. So rollte er in das Dorf hinein. 110
Die Dörfler gaben sich gut gelaunt. Drüben war eine Gruppe von Leuten. Sie lachten und scherzten. Eine Szenerie, die Stillman keineswegs beruhigte. Das Ganze kam ihm vor wie eine – Falle! Ein Hupen ließ Fred Stillman zusammenzucken: Ein Auto überholte ihn. Der Fahrer drohte wütend mit der Faust, anscheinend weil Stillman so langsam fuhr. Fred Stillman flüchtete sich in Zorn. Er wollte seine Angst überwinden und einfach daran glauben, daß er keinen Grund dafür hatte. Deshalb drohte er zurück. Das war seine Art, sich gegen das Grauen zu wehren. Doch dann schaute ihn der Mann an: Seine Augen waren wie Glas. Seine Stirn war bis zu den Augenbrauen gespalten. Die weit auseinanderklaffenden Ränder waren blutverschmiert. Der Kopf hatte überhaupt eine seltsame Haltung, als hätte der Mann das Genick gebrochen. Fred Stillman schrie. Soweit die Leseprobe aus dem neuen Mac Kinsey-GruselThriller den Sie in vierzehn Tagen erhalten. Gruseln Sie sich schön. Dann ist wieder Kinsey-Time.
111