OTTO ZIERER
BILD DER JAHRHUNDERTE EINE WELTGESCHICHTE IN 18 EINZEL- UND 12 DOPPELBSNDEN
DIE GROSSE EMPÖRUNG Unter die...
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OTTO ZIERER
BILD DER JAHRHUNDERTE EINE WELTGESCHICHTE IN 18 EINZEL- UND 12 DOPPELBSNDEN
DIE GROSSE EMPÖRUNG Unter diesem Titel erscheint demnächst der Doppelband 27'28 der neuen Weltgeschichte. Der Doppelbarid behandelt das 16. Jahrhundert n. Chr.
* Die Einheit des Abendlandes und der Christenheit zerbricht. Der Riß verästelt sich über Europa und setzt sich bis in das kleinste Dorl, bis in die Fami ien fort. Die Gedanken der Gewissensfreiheit, der evangelischen Gleichheit der Menschen, dii Losiösung ier Wissenschaften von der Theo ogie. die Abwendung der meisten Fürsten von kirchlichen Einflüssen unl die wachsende Rabellion der Massen gegen die bisherige, schwer erschütterte Ordnung bestimmen das Bild der Übergangszeit. Die „gläserne Kuppel" des Mittelalters ist niedergestürzt.
* Auch dieser Doppelband ist in sich vollkommen abgeschlossen und enthält wieder ausgezeichnete Kunstdrucktafeln und zuverlässige historische Karten, Er kostat in der herrlichenGanzleinenausgabe mitRot- und Goldprägung und farbigem Schutzumschlag DM6.60. Mit dem Bezug des Gesamtwerkes kann in bequemen Monatsliefejrungen jederzeit begonnen werden. Auf Wunsch werden auch die bereits erschienenen Bücher geschlossen oder in einzelnen Bänden nachgeliefert. (Einzelbände 1—18 je DM 3.60.) Prospekt kostenlos vom
VERLAG SEBASTIAN LUX • MURNAU MÜNCHEN
KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
K U L T U R K U N D L I C H E
HEFTE
Heinz S p o n s el
l
IM EWIGEN EIS N a n s e n s Polarfahrt mit d e r „ F r a m "
VERLAG SEBASTIAN LUX * MURNAU MÜNCHEN
Der Konservator In stillen Nächten, wenn die niedrigen Fischerhütten der alten Hansestadt Bergen ihren Schlaf träumen, schimmert im Laboratorium der zoologischen Forschungsstation noch einsam ein Licht. Ein junger Mensch von kaum zweiundzwanzig Jahren sitzt gebeugt über dem Mikroskop und studiert das Zellengefüge von Würmern und Aalen und die Nervenbahnen der riesigen Wale. Sein Auge dringt durch die Linse und schaut Geheimnisse, die noch von keinem zuvor entschleiert worden sind. Auf dem Schreibtisch häufen sich die Notizblätter: Ergebnisse mühsamer Arbeit, Niederschriften über zahllose Versuche, Aufgaben, zu deren Lösung ein Menschenleben gehört. Manchmal geschieht es in diesen wachen Nächten, daß der junge Mensch plötzlich aufspringt, Papiere, Präparate und Mikroskop zur Seite schiebt und ins Freie stürzt. Durch die Schlafstraßen hallt der schnelle Sehritt, bricht sich zwischen Hauswänden und verliert sich dem Meere zu. Wenn ihm überhaupt jemand begegnet zu dieser ungewöhnlichen Stunde, so ist es eine nächtliche Polizeistreife; die Männer blicken dein seltsamen Wanderer nach, und einer sagt: 2
„Der Konservator Fridtjof Nansen!" „Fast jede Nacht treibt er's so!" Wenig später steht Nansen am Meeresstrand und lauscht in das Rauschen, das sein Herz unruhig macht. Klingen nicht die Melodien Griegs wieder im Brausen der Brandung? Trägt nicht der Wind Stimmen von jenseits des Wassers ans Gestade herüber? Das ist die Stunde seiner einsamen Träume. Welchen Wert hätte das Leben ohne sie? Doch aus den Träumen ringen sich Gedanken, verschwommen zuerst. Die unscharfen Umrisse werden langsam zu festeren Formen. Und der nächtliche Wanderer denkt: Die Gebiete der Kleinstwelt im Mikroskop und die Unendlichkeit dieser Meeres- und nächtlichen Himmelswelt — sind sie nicht in gleichem Maße des Forschens wert? In solchen Nachtstunden am Strand trifft den Nachsinnenden die Erkenntnis, daß im Kleinsten wie im Größten das gleiche Gesetz waltet. Noch aber weiß er nicht, wohin das Lebensschicksal ihn ruft. So kehrt er in sein Studienzimmer zurück, um das Begonnene fortzusetzen, Schritt um Schritt tiefer einzudringen, selbst wenn ein Ende nicht abzusehen ist. „Was dem Leben Wert gibt, ist der Kampf um das Ziel, nicht das Erreichen des Zieles selbst. Liegt nicht gerade im Kampf um das Wissen das Glück? Noch weiß ich wenig, deshalb besitze ich die Vorbedingungen für das Glück!" Tage und Wochen gehen in scheinbarer Eintönigkeit dahin. Die Arbeit im Laboratorium und am Mikroskop, die Zurichtung der Präparate, Aufzeichnungen, die Briefe mit Gelehrten in aller Welt bestimmen die Stunden. Die Seiten seiner Manuskripte füllen sich mit Formeln, Hinweisen, Schlüssen. In mancher Notiz wird bisher Unbekanntes beleuchtet, öffnet sich Neuland der biologischen Wissenschaft. Ein abseitiges Leben nimmt seinen Ablauf. In dieser Zeit hoffnungsvollen Forschens taumelt Norwegen im Jubel, nennt man von Kristiania bis Hammerfest nur einen einzigen Namen: „Nordenskjöld!" Die Zeitungen drucken diesen Namen in fetten Lettern. Wildfremde Menschen sprechen sich auf der Straße an und reden von ihm, der Norwegen berühmt gemacht hat. Fahnen hängen aus allen Fenstern, von den Kontorhäusern der Reeder, aus Fischerhütten und den Häusern der Hafenarbeiter. Eine kleine unbedeutende Nation sonnt sich in der Ruhmestat dieses einen Mannes, der Nordenskjöld heißt. Das Wagnis dieses Forschers wühlt Nansen im tiefsten auf. 3
Atemlos liest der Einsame im Laboratorium zu Bergen, daß Nordenskjöld auf der „Vega" Asien umfaihren und von der Stadt Tromsö aus die Nordostpassage durch das Eismeer erzwungen hat, daß er als erster Mensch versuchte, vom Westen her auch den grönländischen Eispanzer zu bewältigen — vergebens zwar, aber bereichert durch viele geographische Erkenntnisse. Nansen weiß nicht, wie ihm geschieht. Er läßt das Blatt sinken, ein plötzlicher Gedanke überkommt ihn: „Nicht mit Schlitten — auf Skiern müßte Grönland bezwungen werden! Und nicht von West nach Ost, wie es Nordenskjöld gedacht hat, sondern von Ost nach West!" In dieser Stunde, da Nordenskjöld gefeiert wird, wie kaum ein Norweger vor ihm, sinnt ein junger Mensch über den Plänen zu einer neuen Gröndlandexpedition. Noch bewahrt er den Gedanken in seinem Herzen. Nicht deswegen schweigt er, weil er sich vor dem entmutigenden Gerede der Menschen fürchtet. Nein, der Plan muß erst reif sein, dann mag die Welt ihn wissen. Dann mögen die Menschen ihn als töricht und tollkühn abtun, es wird ihn nicht kümmern. Die Angst vor dem Gespött der Welt hat niemals das Große, das Außergewöhnliche Wirklichkeit werden lassen. Der Erfolg, das Glück schenkt sich nicht tatenlos. „Die Tatenlust allein ist es, die das Leben tiefer und höher und reicher macht. Unsere Ziele aber werden das, was wir aus ihnen machen. Solange das menschliche Ohr die Brandung des Meeres hört, so lange das menschliche Auge das Nordlicht über dem Schneefeld sieht, solange menschlicher Gedanke Welten im endlosen Baume sucht, solange wird die Sehnsucht nach dem Unbekannten den menschlichen Geist vorwärtstreiben und aufwärtsführen. Wenn es etwas gibt, was schöner ist als die Natur, schöner als die Kunst, schöner als die Wissenschaft, dann ist es der Mensch, der alle Schwierigkeiten überwindet." Nansen rollt die Karte vor sich aus und sieht auf die Striche, die Grönland begrenzen. Weiß und leer starrt die Fläche ihn an. „Unerforschtes Gebiet" steht quer über dem Land. Leben Menschen im Innern Grönlands? Gibt es dort Pflanzen, Bäume, Tiere? Oder dehnt sich ewiges Eis von der Küste im Osten bis zu den Eskimosiedlungen im Westen? Groß und lockend steht die Aufgabe vor dem Zweiundzwanzigjährigen. Er erinnert sich der Wochen, da er an Bord des Robbenfängers „Viking" Grönlands Küsten aus den Fluten steigen sah. Er denkt an das Erlebnis der ersten Eisberge, die, Geisterschlössern gleich, aus der nordischen Nacht auftauchten und lautlos vorüberzogen. I
Grönland ruft ihn! Nordenskjöld hat die Fackel entzündet. Muß nicht die Jugend sie aufnehmen und weitertragen? Noch gibt es für Wagemut und Forschergeist Ziele in der Welt. Noch raunen Geheimnisse überall.
Nord und Süd Nansens erste wissenschaftliche Veröffentlichung, der Ertrag eigenwilligen Studiums, wird beachtet. Sein Name taucht in Fachzeitschriften auf, Gelehrte werden zum ersten Male auf den jungen Norweger aufmerksam. Eine amerikanische Universität trägt ihm eine Professur an mit Vorlesungen über seine Entdeckungen auf biologischem Gebiet — eine ungewöhnliche Auszeichnung für den unermüdlich Tätigen, der sich noch nicht einmal den Doktorgrad erworben hat. In Bergen ist Nansen eine stadtbekannte Gestalt. Seine seltsame Kleidung — er trägt eng anliegende Sporthosen und eine einfache graue Joppe und geht auch im strengsten Winter immer ohne Mantel —• ist in der kleinen Stadt nicht zu übersehen. „Ein schrulliger Gelehrter, dieser Nansen!" „Ein Stubenhocker und Bücherwurm! Und war doch einst ein Sportler von Format!" Doch die Stimmen, die ihn als merkwürdigen Kauz verulken, verstummen bald. Mehr und mehr sieht man ihn wieder im Gelände, und es erweist sich, daß es auch heute noch im ganzen Lande keinen kühneren Skispringer gibt als ihn. Mitten im Winter wagt er sich auf Schneeschuhen durchs norwegische Gebirge. Die Bauern dort starren ihn an wie eine Sagengestalt, wenn er die gefährlichsten Hänge herabfegt. Nirgendwo in Norwegen findet man einen schnelleren Schlittschuhläufer. Jetzt erinnert man sich wieder, daß Nansen schon mit siebzehn Jahren die norwegische Meisterschaft gewonnen, daß er ein Jahr später den Weltrekord im Eisschnelllauf gebrochen hat. Man spricht davon, daß er zwölfmal norwegischer Langlaufsieger auf Skiern war. In einer Schublade seines Schreibtisches liegen die Medaillen, die er sich errang, bevor er sich in die Bücher vergraben hat. Er sieht sie kaum mehr an. Jetzt treibt er den Sport nicht mehr, um Rekorde zu brechen, um Medaillen und Kränze nach Hause zu tragen. Nichts anderes will er, als den Körper für das Ziel bereitmachen, das er sich gesteckt hat: „Auf Schneeschuhen, ohne Hunde, von Ost nach West quer durch ganz Grönland —• als erster Mensch!" 5
5o härtet er sich ab und verzichtet auf jede Verweichlichung. Wenn er das Leben betrachtet, das er in den letzten Jahren geführt hat, wird er sehr kritisch. „Die Menschen leben in Kisten. Frühmorgens verlassen sie die eine Kiste und begeben sich in eine andere Kiste, in der sie bis zum späten Nachmittag bleiben. Zu ihrer Erholung gehen sie abends in eine dritte Kiste. Aber die freie Luft ist nie um sie!" Nansen liebt den Wald. In den Forsten um Gut Stow Fröen, wo er geboren wurde, verlebte er seine Jugend. Die freie Natur mit ihren heißen Sommern und harten Wintern war von Kind an sein Element. Das harte nordische Klima hatte ihn einst stark und widerstandsfähig gemacht. Fr will es wieder werden, um seiner Aufgabe gewachsen zu sein. Keine andere Landschaft liebt Nansen mehr als Norwegen mit seinen Fjorden und Gebirgen. Im leuchtenden Süden wird ihm diese Liebe erst voll bewußt. Einen kurzen herrlichen Sommer verlebt er in Neapel. Anton Dohrn, ein junger deutscher Biologe, hat den Norweger in seine Aquariumstation gebeten, und Nansen hat die Einladung nicht abgeschlagen. Scharf beobachtend, den Notizblock auf den Knien, sitzt er vor den Glasscheiben der Aquarien, in denen sich das Leben der Seefische in bunter Pracht, seltsam und rätselhaft abspielt. In wenigen Wochen und Monaten dringt er tiefer in die Biologie der Meerestiere ein als in vielen Semestern auf der heimatlichen Universität, als im nächtelangen Studium über Fachbüchern und gelehrten Zeitschriften. Der Zauber der südlichen Landschaft packt ihn. Die internationale Gesellschaft, die er in Neapel trifft, weitet seinen Blick. In den Tavernen, beim süßen öligen Wein und beim Klang der Mandolinen wächst er erneut ins Leben. Gern begehren die dunkelhäutigen Mädchen den blonden, langen Norweger zum Tanz. Auf Booten schaukelt er in lauen Nächten, die man nicht verschlafen darf, an Capri und Sorrent vorüber. Über erkaltete Lava klettert er zum Krater des Vesuvs. Ehrfürchtig durchwandert er die Totengassen von Pompeji, sitzt auf den zerspellten Säulen unter tiefblauem Himmel. Manchmal geschieht es dann, daß er lange nach Norden schaut, wo er das Eismeer weiß. In diesen Traumstunden wird Nansen, sonst immer gesprächig und froh, schweigsam und ernst, und die Gefährten verstehen ihn nicht mehr. Er kennt seinen Auftrag, selbst der Zauber der neapolitanischen Landschaft macht ihn nicht irre. Reicher und sicherer kehrt er in die nordische Heimat zurück. 6
Nansen wird zum Gespött der Welt Nach fünf langen Jahren fühlt sich Nansen bereit. Was über Grönland bekannt ist, weiß er. In sorgsamen Versuchen hat er die kräftigste Verpflegung erprobt, die zugleich den geringsten Platz einnimmt: Pemmikan, ein aus Fleischmehl und Fett hergestellten Dauerkuchen. Er hat leichte und dennoch tragbare Skischlitten konstruiert. Er kennt das beste und widerstandsfähigste Skiholz. Er weiß, daß Schlafsäcke aus Rentierhaut am wärmsten halten. Der Körper ist in unzähligen Skifahrten, durch Übernachtungen im Freien bei grimmigster Kälte gestählt. Nun erst tritt der junge Konservator Fridtjof Nansen mit seinem Plan der Ost-West-Durchquerung Grönlands an die Öffentlichkeit. Er fordert die Kritik aller heraus und ist nicht überrascht, daß die breite Masse, daß erfahrene Polarexperten ihn nicht ernst nehmen. Auch die Presse findet den Plan spaßig. Eine Notiz, die ihn unmöglich machen soll, erscheint im Bergener Tagblatt: „Im kommenden Juni will Konservator Nansen auf dem inneren Grönlandeis eine Skilaufvorstellung mit Weitsprung geben. Numerierte Sitzplätze in den Gletscherspalten sind vorrätig. Rückfahrkarten können gespart werden!" Nansen liest es. Bekannte kommen zu ihm und bringen ihm die Zeitung. Er legt sie beiseite: „Entweder suchen wir die Wahrheit, indem wir die Folgen auf uns nehmen, oder wir suchen sie nicht. Einen Kompromiß darf es nicht geben!" Tausend Einwände versuchen ihn wankelmütig zu machen: „Ein Nordenskjöld wagte den Versuch der Durchquerung Grönlands von Westen her. Er mußte umkehren. Wie soll einem Nansen gelingen, was einem Nordenskjöld versagt blieb! Von Osten aus ist das Wagnis Wahnsinn! Es ist ein Marsch in den sicheren Tod!" Der Fünfundzwanzigjährige aber erwidert den Zweifelnden: „Man muß sich ins Unbekannte wagen, ohne den Rückweg zu sichern. Man muß alle Brücken hinter sich abbrechen, wenn man das Neue, das Unbekannte erobern will!" Man beschwört den Tollkühnen: „Der Plan sei nicht nur verwegen, sondern auch dumm und Unverantwortlich!" Nansen läßt sich nicht wankend machen: „Ich vertraue meinem glücklichen Stern, wenn wir die Brücken hinter uns abbrechen." Nur einige wenige glauben an ihn. Ein dänischer Großkaufmann vertraut ihm für die Durchführung der Expedition fünftausend Kronen an. „Schade um das Geld!", meinen die Leute, die nicht an das Neue glauben wollen. 7
Mit drei Norwegern und zwei Lappen bricht Nansen in das Ungewisse auf. Sie alle treibt die gleiche Abenteuerlust, von der Nansen einmal schreibt: „Sie ist unser ewiger Drang, Schwierigkeiten und Gefahren zu überwinden, Verborgenes zu enthüllen, in Gebiete jenseits des Alltags einzudringen. Sie ist vielleicht der Urquell unserer größten Taten!"
Das Geheimnis Grönlands enthüllt Fünfundzwanzig Kilometer breit ist die Eisschollensperre vor Grönlands Ostküste, als Nansen mit seinen fünf Begleitern den Robbenfänger „Jason" verläßt und in zwei selbst konstruierten Booten den Durchstoß durch das Treibeis beginnt. Man schreibt den 17. Juli 1888. Wenige Tage später druckt das „Morgenbladet" zu Kristiania Nansens letzte Botschaft, die vom „Jason" gekommen ist: „Ich hoffe (nach Durchquerung der Insel) bei Kristianshaab die Westküste Grönlands zu erreichen, bevor das letzte Schiff von dort im September abgeht. Dann werden wir im Herbst wieder zu Hause sein. Wenn nicht, kommen wir nächstes Jahr. Ein griechischer Weiser sagte einmal: ,Die Hoffnung ist der Traum der Wachenden'. Auf Wiedersehen!" In schmalen Fahrrinnnen, zwischen riesigen Eischollen, suchen die Boote den Weg zur Küste. Weit drüben im Nebel ragen Grönlands Berge in den Himmel. Dort ist das Ziel. Dort ist der eigentliche Beginn. Die Fahrt gegen die Gestade, durch krachendes Eis, das oft die Boote zusammenzupressen droht, ist nur das Vorspiel. Die Strömung treibt Nansen mit seinen Leuten weit südwärts. Die Sermilikberge, die Landmarke, nach der sie sich richten wollten, verschwimmen unerreichbar in der Ferne. Der spitze Eisschnabel einer Scholle reißt ein Leck in eines der Boote. Regen strömt, Eis klammert sie ein. Die Männer werden Gefangene im treibenden Strom. Alle Gewalten scheinen sich gegen die Fünf zu verschwören. Viele Tage und Nächte hausen sie auf einer Eisscholle von wenigen Metern Geviert. Boote, Skier, die kleinen Gepäckschlitten und das Gepäck sind gerettet. An der Grenze von Tod und Leben treiben sie dahin wie Ausgesetzte, Schiffbrüchige. Stück um Stück bröckelt von der Scholle ab. Gefährlich gluckst das eiskalte Wasser. Schon zwölf Tage, zwölf Nächte werden sie südwärts entführt; immer weiter ab von Grönlands Küste, immer bedrohlicher dem offenen Ozean zu. Die Hoffnung verkriecht sich in den hintersten Winkel der Herzen, aber die Männer geben sie nicht auf. Und die Hoffnung zwingt die Wendung herbei: schon schaukeln sie in der 8
Brandung der See, als ein unsichtbarer Strom sie packt— der Küste Grönlands entgegen! Nansen schreibt in sein Tagebuch: „Hell liegt das Leben vor uns. Kann es denn jemals heller leuchten, als wenn man die Möglichkeit sieht, das Ziel der Sehnsucht doch noch zu erreichen?" Was macht es schon aus, daß er fünfhundert Kilometer südlicher landet? Soweit trieb die Strömung die Boote in kaum vierzehn Tagen. Kaum dreihundert Kilometer tiefer liegen die ersten Menschensiedlungen. Er widersteht der Versuchung, sich dort in Sicherheit zu bringen. Die Männer gehen in die Boote und nehmen ihren Weg mit dem Strom wieder nach Norden, ins neue Wagnis. An einer phantastischen Eislandschaft vorbei führt sie die Trift. Nansen nimmt Farbstift und Skizzenbuch und malt das Geschaute. Aber der Anblick der Eiswelt und der Farblichter ist kaum zu beschreiben: „Unruhig flimmert das Nordlicht. Es brennt, es jagt gleich kämpfenden Heerscharen mit lodernden Lanzen. Der Eskimo hat eine schöne Sage vom Nordlicht: er glaubt, es seien die Seelen verstorbener Kinder, die im Himmel Ball spielen." Die Trift wird schwächer, Meter um Meter ringt Nansen dem Eis ab. Sie steuern einer gespenstischen Landschaft zu. Gletscher stürzen ins tiefblaue Meer, Fjorde schneiden scharf in die Küste, ein Eisgebirge leuchtet glühendfarben in das ewige Schweigen. Nach vierzehn Tagen gehen die fünf Männer an Land: „Während wir uns ans Gestade lotsen, dröhnt ein gewaltiges Krachen. Ein großes Stück eines Eisberges auf der Backbordseite stürzt nieder. Wären wir diesen Weg ein paar Sekunden früher gefahren, wären wir zermalmt worden. Es ist dies nun das dritte Mal, daß so etwas geschieht." Ohne Aufenthalt werden die leichten Schlitten zusammengebaut. Zwei Zentner wiegt die Last jedes Schlittens. Die Männer schnallen die Skier an, spannen sich wie Zughunde in die Seile und beginnen am Abend des 16. August 1888 den Marsch ins Innere. Die Brücken zur Rückkehr sind abgebrochen. Es gibt nur das Ziel an der Westküste oder — — . Nansen denkt es nicht zu Ende. Er ist voller Vertrauen. Gletscherspalten hemmen das Vorwärtskommen, Eisriesen stehen wie Wächter vor dem Geheimnis der größten Insel der Erde. Es ist eine unmenschliche Arbeit, die Schlitten vorwärtszuzerren. Zehn Kilometer Tagesleistung — wenn es gut geht, zwölf Kilometer. Dann versagen die Kräfte. Die Hände bluten, aufgerissen von den Seilen; die Knie werden weich von dem Marsch durchs zerklüftete Eis. Eine warme Mahlzeit am Tag muß genügen. Wenn ein Eisorkan 9
über den Gletscher stürmt, liegen die Männer tagelang im Zelt, untätig, das Schlimmste erwartend. Das Weingeistthermometer zeigt 37 Grad. Die Spiritussaule sinkt tiefer. 40, 45 Grad Kälte mögen es sein. Und doch führt Nansen mit frostklammen Fingern das Tagebuch weiter, freut sich zwischen den Unwettern jeder freundlichen Stunde: „Wenn der Mond aufsteigt und seinen stillen Weg zurücklegt, wenn er auf den Gipfeln der Eiskämme spielt und die ganze tote, erstarrte Welt in seiner Silberflut badet, dann senkt sich Friede in alle. Das Leben wird Schönheit." Ein Mensch am Abgrund zwischen Leben und Untergang schreibt von der Schönheit der Welt! Er zagt nicht, sieht zu den Sternen und zum Nordlichthimmel auf, über den der Geistermond rollt und — ist zufrieden. Weiter! Vorwärts! Tage und Wochen! Es gibt kein Trinkwasser. Schnee, in kleinen Blechflaschen an der Brust getragen und aufgetaut, löscht den Durst. Immer bergauf, näher dem Kamm der Gletscher, über Abgründe und Eisebenen! Oft stürzen die Schlitten in nicht erkannte Klüfte. Drei Schritte vor, zwei rückwärts. Schneestürme schneien die Männer ein. Doch keiner stellt die Frage: warum? Rote Schleier hängen als Sonnenschutz über die Gesichter herab, Schneebrillen mit dünnen Schlitzen, damit die Augen nicht vom übergrellen Weiß der Landschaft erblinden, machen die fünf einsamen Gestalten zu Gespenstern. Weit über tausend Kilometer sind es von Küste zu Küste. Nach langen Wochen erreicht Nansen den höchsten Punkt: 2761 Meter über dem Meer. Langsam, aber stetig senkt sich nun der Eispanzer gegen Westen. Die Temperatur steigt. 16 Grad Kälte mißt die Spiritussäule. „Sommerlich warm!", vermerkt Nansen launig in sein Fahrtenbuch. Wind weht auf, die Schlitten verwandeln sich in Schneesegelschiffe. In halsbrecherischer Fahrt stäuben sie abwärts, eine weiße Wolke dampft steil hinter ihnen auf. Aber immer noch tückische Abgründe! Oft entgehen die Männer nur in allerletzter Sekunde durch eine verwegene Kurve dem Absturz. Nansen erfrieren zwei Finger, grausam sind die Schmerzen. Aber auch dann vergißt er das Tagebuch nicht, mißt Temperatur und Luftdruck, baut das Zelt mit den Gefährten zur Nachtrast. Endlich, an einem Tage im September, erblicken sie weit im Westen das Meer. Und dann zeichnet sich dunkler Boden ab: die eisfreie Küste. Schneesperlinge flattern zum Gruß um die kleine Gruppe. Sie steigen aus dem Eis auf den festen Grund: „Worte können es nicht 10
beschreiben, was wir empfanden, als wir wieder Erde unter den Füßen hatten. Behagen erfüllte unser ganzes Wesen, als wir die Heide betraten und den wundersamen Duft einatmeten." Aber die Freude über die gelungene Durchquerung der Insel wird gedämpft. Als Nansen mit seinen Gefährten das Eskimodorf Godthaab erreicht, hört er, daß vor wenigen Tagen das letzte Schiff dieses Jahres nach Norwegen abgefahren ist. Sie wissen, was diese Mitteilung bedeutet: Überwinterung im Eskimodorf! Aber die Enttäuschung ist bald überwunden, die Freude bleibt stärker. Grönland ist von den ersten Menschen bezwungen! Zwei Kajakfahrer der Eskimos jagen dem Dampfer mit Briefen nach. Es gelingt ihnen, das Schiff an Grönlands südlichstem Punkt zu erreichen. Es trägt den Triumph Nansens in die Heimat. Ein bisher wenig Bekannter taucht in den hellen Glanz des Ruhms. Nansen aber bleibt sich gleich und treu. Sachlich und nüchtern schließt er diesen Teil seines Tagebuchs: „Viele Schwierigkeiten, unerwartete Hindernisse begegneten uns. Wir überwanden sie alle. Wir durchdrangen das Treibeis, fuhren längs der Ostküste, durchquerten das Inlandeis und erreichten die Westküste. Wir hatten viel erlitten. Aber unser Werk war vollendet." Ein Mensch hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen. Er hatte wider die Meinung der ganzen Welt das Unerhörte gewagt. Was Nansens Grönlandexpedition als überraschendste Erkenntnis erbracht hatte, war die Tatsache, daß es im Innern Grönlands kein eisfreies Land gab, daß mehr als zwei Millionen Quadratkilometer der Insel von Schnee und Gletschern bedeckt waren. Ein weißer Fleck war von der Polarkarte der Erde gewischt.
In den Iglus der Eskimos Ein halbes Jahr lebt der berühmt gewordene Forscher das Leben der Eskimos jenseits aller Kultur. Er lernt ihre Sprache und rudert in ihren Kajaks, er sitzt in ihren Schneehütten, den Iglus, und liest im Leben dieser einfachen Menschen wie in einem Spiegel der Weisheit. Manchmal schämt er sich in diesen Monaten, Europäer zu sein, wenn er die Gebräuche dieser „Wilden" im Lande des Eises studiert: „Selten oder nie gibt es bei ihnen Streit. Die erste Gemeinschaftspflicht heißt — anderen helfen! Daß einige im Überfluß schwelgen, während andere Not leiden, ist unter den Eskimos undenkbar. Schimpfworte kennt ihre Sprache nicht. Einen Menschen töten, betrachten sie als Grausamkeit. Krieg ist in ihren Augen deshalb unverständlich. Ihre Sprache besitzt kein Wort für Krieg." 11
Ein halbes Jahr lang ist Nansen Eskimo. Er ißt mit ihnen, er singt ihre Lieder, er riecht nach Tran wie alle in den Iglus, er geht mit ihnen auf Haifischfang. Für die Eskimos ist er längst kein Fremdling mehr. Er zählt zur Gemeinschaft ihres Stammes. Wahrlich, es ist kein verlorenes halbes Jahr! Fast dankbar verzeichnet er nun, daß er das Schiff nicht mehr erreicht hat. Reicher wird er nach Norwegen zurückkehren. Die Begegnung mit diesen Menschen, die wirklich Menschen sind, ist bestimmend für sein zukünftiges soziales Verhalten. Als im April des Jahres 1889 der langgezogene Ruf „Umiarsuit" — ein Schiff. — durchs Eskimodorf Godthaab hallt, als Nansen mit seinen Gefährten in die Heimat aufbricht, ist es die Stunde eines schmerzlichen Abschieds. Und sie sagen zu ihm: „Nun kehrst du zurück in die große Welt, aus der du zu uns gekommen bist. Du erlebst dort viel Neues und wirst uns bald vergessen haben. Wir aber können dich niemals vergessen!" Die Küste Grönlands, des eisgepanzerten Landes, versinkt in den Morgennebeln des Frühlings. Am Gestade des Meeres stehen die einfachen Menschen des Eskimovolkes, Trauer zeichnet ihre Gesichter. Ein Freund ist von ihnen gegangen. Stumm kauern sie dann in ihren Iglus, ihre Gedanken ziehen auf eine große Reise in das ferne Land Norwegen. Die Erinnerung an einen Mann namens Nansen aber bleibt ihnen im Herzen.
Im Jubel der Welt Der Ruhm der Welt hüllt Nansen in seinen strahlenden Mantel. Ein Mann mit Mut enthüllte das Unbekannte. Mut ließ ihn das Leben wagen und es reicher zurückgewinnen. Doch während die Welt den Achtundzwanzigjährigen noch in Reden, Auszeichnungen und Berichten feiert, beschäftigt sich Nansens wacher Geist schon mit neuen und kühneren Plänen. „Immer jage ich etwas Unbestimmbarem nach, das ich nie erreiche!" Nichts kann die Unruhe seines Innern heller beleuchten als dieses Wort. Nie fühlt er sich am Ziel. Immer glaubt er sich noch auf dem Wege. So findet der Stolz, der unfruchtbare Erbe des Ruhms, in seine Bescheidenheit keinen Zugang. Ehrungen empfindet er als notwendiges Übel und läßt sie über sich ergehen. Die Königliche Geographische Gesellschaft zu London, die erlauchteste wissenschaftliche Vereinigung der Welt, verleiht ihm die seltene ViktoriaMedaille. In der Ehrenurkunde heißt es: „Nansen hat unter Einsatz seines Lebens eine der kühnsten Expeditionen geleitet. Er hat 12
während der Fahrt hervorragende Führer- und Forschereigenschaften bewiesen und allen mächtigen Hindernissen zum Trotz entscheidende Entdeckungen gemacht." Als Nansen das Wort des erfahrenen Polarforschers Clemens Markham vernimmt: „Tch halte die Durchquerung Grönlands für eine der größten Heldentaten unserer Zeit!" — lehnt er es ab, als Held zu gelten. Er will nur Mensch sein, der alle Kraft einem Ziele verschreibt, der neue Wege geht, der neue Gedanken wagt. Das aber ist in seinen Augen nicht Heldentum, sondern die Fülle echten Menschentums. Fast alle Länder Europas bitten den jungen Gelehrten zu Vorträgen über seine Grönlandfahrt. Nansen verweigert sich dem Rufe nicht. Er spricht in allen bedeutenden Städten Englands, Frankreichs und Deutschlands. Wo sein Name an Plakatwänden prangt und die Zeitungen sein Kommen anzeigen, können die größten Säle die Massen nicht fassen, die ihn hören wollen. Durch eine Mauer des Beifalls muß er sich seinen Weg zum Rednerpult bahnen. Wenn dann seine Stimme erklingt, diese angenehme, volle und doch bescheidene Stimme, sind die Menschen gebannt von seiner Persönlichkeit. Unbefangen steht Nansen vor König Oskar II. in Stockholm, um die höchste schwedische Ehrung, die Vega-Medaille, zu empfangen. Er schüttelt mißmutig den Kopf, als wolle er das Übermaß der Auszeichnungen verweigern, als Professor Retzius, der berühmteste schwedische Biologe, seinen Ruhm verkündet: „Nansens Tat ist nicht nur eine Ehre für ihn selbst, sondern auch für sein Vaterland. Nicht auf dem Felde des Krieges können die Nationen ihren Rang behaupten und ihre Freiheit gewinnen. Auf dem Felde der Kunst und der Kultur, das allen offensteht, können sie allein an der Spitze sein, können sie sich auszeichnen und die Achtung aller gewinnen. Dies ist Nansens Tat!" Der Gefeierte winkt mit der Hand ab. Er denkt an die fünf Männer, die seine Gefährten waren. Er kann sie in dieser glanzvollen Stunde nicht vergessen. „Mißlingt eine Expedition, so wollen die Menschen gerne alle Schuld auf den Leiter abwälzen. Glückt sie, so wollen sie ihm allein die Ehre geben. Das ist besonders ungerecht bei einer Expedition wie dieser, bei der der Erfolg davon abhing, daß keiner versagte, daß jeder Mann an jedem Platz seine Aufgabe erfüllte." So trägt er die Ehre und die Auszeichnungen nicht für sich allein, sondern für alle jene, die bei ihm waren in schwersten Stunden. 13
Der Plan zur Nordpol-Fahrt Nanäen geht nach der Heimkehr von Grönland nicht mehr /nach Bergen zurück. Die norwegische Regierung beruft ihn zum Leiter des neugegründeten meereskundlichen Instituts in Kristiania. Es gilt, die reichen Ergebnisse der Grönlandfahrt für die wissenschaftliche Erdforschung auszuwerten. Aber die Gedanken an neue Polarforschungen sind nicht aufgegeben. Und wieder wahrt Nansen das Schweigen, bis er die Stunde gekommen glaubt. Er will nicht der „Wagehals" Norwegens sein, als den ihn viele bezeichnen. „Tollkühn kann auch das Tier sein!" Nansen verheiratet sich, und seine Frau Eva erfährt als erste von dem neuen Expeditionsplan ihres Mannes, mit einem Schiff sich im Eisstrom dem Pol entgegentreiben zu lassen. Alles in der Jungvermählten wehrt sich gegen das Vorhaben; es wird für sie langes Alleinsein und sorgenvolle Monate bedeuten. Und dennoch tritt sie Nansen nicht in den Weg. Im Gegenteil: sie kauert mit ihm hoch im Gebirge in frostigen Winternächten in einem neu konstruierten Zelt, das Nansen auf seine Sturmfestigkeit erproben will. Sie gleitet mit ihm auf einsamen, gefährlichen Skifahrten über Berge und Gletscher. Während man in Kristiania trinkend und singend das neue Jahr 1890 beginnt, bezwingen Fridtjof und Eva in der Neujahrsnacht den steilen Gipfel des Noriefjeld. Die Freunde machen Nansen Vorwürfe, als er ihnen von der gefahrvollen Silvesternacht erzählt. Er lächelt nur und meint: „Man muß es ab und zu etwas schlimm haben, damit man nachher das Gute desto tiefer genießen kann. Wer die Kälte nicht verspürt hat, weiß nicht, was Wärme ist!" Eva Sars sitzt in der ersten Reihe im Saal der norwegischen geographischen Gesellschaft, als Nansen am 18. Februar 1890 zum ersten Male mit seinem Plan an die Öffentlichkeit tritt. Der Atem stockt den Gelehrten, als sie erfahren, was der „Wagehals Norwegens" vorbereitet. Nansen sieht ihre stummen abweisenden Gesichter und er liest in ihnen das Nein. Er sucht die Augen der Frau und findet das Ja. Und seine Stimme wird fester und eindringlicher: „Ich glaube, wenn wir auf die Kräfte der Natur achten, wenn wir versuchen, mit ihnen und nicht gegen sie zu arbeiten, werden wir den sichersten Weg zum Pol finden. Es nützt nichts, gegen den Strom zu arbeiten, wie es die bisherigen Expeditionen gemacht haben. Wir müssen sehen, ob sich ein Strom findet, mit dem wir arbeiten können. Die Expedition der „Jeanette" ist meiner Meinung nach die einzige, die auf dem richtigen Weg gewesen ist. Zwei Jahre trieb sie im Eis von der Wrangelinsel bis zu den Neusibirischen Inseln. 14
Drei Jahre nach dem dort erfolgten Untergang des Schiffes wurden jenseits des Pols an der Südwestküste Grönlands einige Gegenstände gefunden, die von dem gesunkenen Fahrzeug stammen und im Eise eingefroren gewesen sein müssen. Es muß also irgendwo zwischen dem Pol und dem Franz-Josefs-Land einen Strom vom Sibirischen Eismeer nach Grönland geben. Mein Plan ist kurz der: ich will ein Schiff bauen lassen, so klein und so stark als möglich. Es soll gerade groß genug sein, um Kohlen und Proviant für zwölf Mann für fünf Jahre fassen zu können. Es muß so schräge Seiten erhalten, daß das Eis bei seinen Pressungen keinen festen Halt gewinnen kann. Mit diesem Fahrzeug versuchen wir, nach den Neusibirischen Inseln vorzudringen. Ist die rechte Zeit gekommen, so durchqueren wir das Eis nordwärts, soweit wir kommen. Wir lassen uns dann im Eis einfrieren. Von nun an besorgt der Strom des Eises die Beförderung. Auf diese Weise wird die Expedition wahrscheinlich über den Pol und weiter ins Meer zwischen Grönland und Spitzbergen treiben. Hier werden wir das Schiff wieder frei bekommen und nach Hause segeln können." Der überzeugende Vortrag Nansens bringt alle Einwände zum Verstummen. Durch ganz Norwegen geht eine Welle der Begeisterung. Alle Bedenken schwinden vor der Zauberkraft des Namens Nansen. Alle vertrauen ihm, alle glauben an ihn, auch wenn sich der nüchterne Verstand gegen die kühnen Gedanken wehrt. Norwegens Reichstag bewilligt eine Viertelmillion Kronen zur Vorbereitung der Expedition, die das kleine Land der Wikinger in die großen Entdeckernationen einreihen soll.
„Fram" — Vorwärts Zwei Jahre verstrsichen in rastloser Tätigkeit. Im Laboratorium, auf Vortragsreisen, auf der Schiffswerft, überall begegnet man der hohen blonden Gestalt Nansens. Ende Oktober 1892 tauft Eva das fertiggestellte Schiff auf den Namen „Fram" — Vorwärts! Die Taue werden durchschlagen, das Schiff taucht in die Wellen, eine Weile schaukelt es gefährlich hin und her, dann liegt es ruhig in der Flut. Nun aber werden Bedenken laut, nun erheben sich warnende Stimmen. Man bedauert, daß ein Mann vom Rufe eines Nansen sich in dieses Abenteuer stürzt. Stöße von Briefen bedecken den Schreibtisch Nansens. Man beschwört ihn, von seinem Plan abzulassen. Sein Leben sei zu wertvoll, um es so leichtsinnig zu vertun. Ob er den Ehrgeiz habe, die Liste der für ewig im Eis Verschollenen mit seinem Namen, mit dem seiner zwölf Gefährten zu verlängern! 16
Nansen liest jeden Brief. Von neuem überlegt er. Von neuem geht er die Einzelheiten seines Unternehmens durch. Er kann keine brüchige Stelle finden. Er wagt es und stellt sich noch einmal seinen zahlreichen Gegnern. In der Königlichen Geographischen Gesellschaft zu London, die ihm vor einem Jahr die ehrenvolle VictoriaMedaille verliehen hat, verteidigt er sein Beginnen vor aller Welt. An diesem trüben Novembertag sind die bedeutendsten Arktisforscher im prunkvollen Saal der Gesellschaft versammelt. Nansen spürt die eisige Mauer der Ablehnung, die sich vor ihm aufbaut. Noch einmal entwickelt er seinen Plan, scharf widerlegen seine Beweise alle Einwände. „Fram!" —• Vorwärts! —• lautet sein Abschlußwort, die Parole für sich selbst und für seine Expedition. Langsam nur löst sich der Bann. Dann aber gehen die Angriffe auf Nansen nieder. Admiral Sir Leopold M'Clintock, der Präsident der Geographischen Gesellschaft ist seiner Stimme kaum mächtig: „Ich glaube sagen zu dürfen, daß dies der kühnste Plan ist, von dem die Geographische Gesellschaft jemals Kenntnis erhalten hat. Aber ich glaube nicht an das unzerbrechliche Schiff ,Fram'!" Admiral Sir George Nares springt auf und eilt auf Nansen zu: „Als anerkannter Grundsatz für eine glückliche Fahrt in den Regionen des Eises gilt, sich dicht an eine Küstenlinie zu halten. Je weiter man sich von ihr entfernt, desto notwendiger ist es, sich eine vernünftige und sichere Rückzugslinie zu sichern!" Nansen schweigt. Er kennt die Parole, die ihn durch Grönland geführt hat: „Sich ins Unbekannte wagen, ohne den Rückzug zu sichern!" Die Reihe der Männer, die Nansens Vorhaben scharf und entschieden ablehnen, ist groß. Er steht allein. Verschattet scheinen die Sterne des Glücks. Überall beschwörende Hände, überall das harte Nein, überall Widerstand! Doch Nansen ist mit sich selber im reinen und läßt sich nicht beirren. Die Einsamkeit macht ihn nur stärker und gläubiger, wenn seine Zuversicht überhaupt noch einer Steigerung bedürfte. Als Nansen am Ende der Versammlung nochmals ans Pult tritt, als alle erwarten, daß er sich endlich geschlagen gebe, blicken sie in ein entschlossenes Gesicht, in merkwürdig helle Augen: „Es wurde gesagt, arktische Expeditionen bedürften einer sicheren Rückzugslinie. Nun, ich bin der entgegengesetzten Meinung. Mit der Grönlandfahrt habe ich bewiesen, daß man auch ohne Rückzugslinie sein Ziel erreichen kann. Ich hoffe auch diesmal auf das Glück, wenn wir alle Brücken hinter uns abbrechen werden." Eine Weile steht Nansen noch am Pult, neue Einwände erwartend. Als alles stumm bleibt, hat er nur noch diesen einen Satz zu sagen: 17
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„Ein Mann soll und muH Mut haben! Er muß seinen Weg gehen, sich in unerschütterlicher Gewißheit der Leitung höherer Mächte anvertrauen und nichts und niemand fürchten."
Im Eisstrom Am Johannistag, am 24. Juni 1893, verläßt die „Fram" mit Nansen und seinen zwölf Männern den sicheren Hafen von Kristiania. Schulkinder singen am Kai das alte Volkslied aus Telemarken: „So fahre ich gen Norden in das finstere Reich hinein, wo keine Sonne scheint. Dort ist kein Tag." Auf der waldigen Höhe über der Stadt schimmert das helle Haus zwischen grünem Gebüsch. Dort weiß Nansen seine Frau Eva, und das Kind Liv — Leben! „Hinter mir lag alles, was ich liebte. Was lag vor mir?" Die Ausfahrt erfolgt längs der norwegischen Nordküste ins Nördliche Eismeer. Stürme und Untiefen, Nebel und das gefürchtete Totwasser werden bezwungen. Bei Charabowa, an der Einfahrt zum Karibischen Meer, taucht das nachfahrende Kohlenschiff auf, gibt seine Fracht ab und nimmt die letzten Briefe der dreizehn Männer in die Heimat zurück. Das Schiff folgt der nordsibirischen Küste, bis zur Ostseite der Taimyr-Halbinsel, nimmt dann Kurs auf die Neusibirischen Inseln und erreicht Ende September die unendliche Eisbarre des inneren Polarbereiches. Die „Fram" friert ein, genau so, wie es Nansen vorausgesehen hat. Die große Nacht senkt sichiiber Schiff und Mensch. Der Eisstrom treibt seine Bürde mit sich fort. Wohin? Zum Pol? Nach Grönland? Bärenjagd bildet die einzige Abwechslung im gleichförmigen Tagesablauf. „Hier in der großen Nacht stehst du in all deiner nackten Einfalt von Angesicht zu Angesicht vor der Natur. Du sitzest andächtig zu Füßen der Ewigkeit und lauschst. Und du lernst Gott kennen, den Allwaltenden, den Mittelpunkt des Alls." Oft knistert und kracht es in allen Fugen des Schiffsrumpfes. Die Eisschollen drohen die „Fram" zu zerdrücken. Doch Nansen und sein Schiffsbaumeister, Collin Archer, haben ein Meisterstück geschaffen; zwar drängen die Schollen gegen die Planken, türmen sich hoch und zwängen das Schiff zwischen sich wie zwischen weißen gläsernen Mauern, doch zuletzt gleiten sie an der Rundung des Rumpfes ab und stürzen krachend in sich zusammen. Nansen hat richtig gerechnet: Die „Fram" wird dem Druck des Eises standhalten. Er ist fest davon überzeugt, daß der Eisstrom die „Fram" über den Nordpol nach Grönland treiben wird. 18
Doch gibt es schon in den ersten Tagen eine schwere Enttäuschung. Die Messungen scheinen alle seine Berechnungen Lügen zu strafen. Die Zahlen im Logbuch sind wenig ermutigend. Nansen kann es nicht fassen, daß die „Fram" südlicher als zu Beginn der Eistrift treibt. Dies ist die Stunde, da erste Zweifel ihn überkommen. „Nun sitze ich hier auf der treibenden Eisscholle, nur die Sterne über mir. Ein Gedanke folgt dem andern, über allem die eine Frage: Weshalb hast du diese Reise unternommen? Konnte ich anders? Kann der Strom seinen Lauf hemmen und bergauf fließen? Hinter allen Vernunftgründen lauert der Zweifel. Aber nein, über die Tatsache des sibirischen Treibholzes läßt sich nicht hinwegkommen! Aber wenn wir uns dennoch auf falscher Fährte befinden, was dann? Nur enttäuschte menschliche Hoffnungen, weiter nichts! Und selbst wenn wir umkommen, was liegt daran in den unendlichen Kreisen der Ewigkeit?" In quälender Ungewißheit vergehen die Tage, die Wochen. Die Natur treibt ihr unheimliches Spiel mit dem Schiff. Heute nördlicher, morgen südlicher denn je. Am 27. November auf 79° 11', am 28. November auf 78° 36' nördlicher Breite. „Meine Stimmung gleicht einem Pendel. Ich kann nicht leugnen, daß die Frage, ob wir mit Erfolg oder ohne Erfolg zurückkehren werden, mich tief berührt. Ich konnte nichts anderes tun, als diese Fahrt unternehmen; denn mein Plan war derart, daß ich fühlte, er müsse gelingen. Deshalb war es meine Pflicht, den Versuch zu machen. Ich babe meine Pflicht erfüllt, ich habe alles getan, was sich tun ließ. Nein, wir müssen und werden Erfolg haben!" Still feiern die Männer der „Fram" Weihnachten, die Gedanken wandern einen weiten, weiten Weg. Dann sinkt das Jahr des Aufbruchs zur Neige. Das Knirschen der Eisschollen ist wie das Geläute der Silvesterglocken im Reich des ewigen Schnees. Nansen malt mit sorgfältigem Federzug zum ersten Male die neue Jahreszahl ins Tagebuch: „1894! Es ist immer ein seltsames Gefühl, wenn man zum ersten Male die Zahl des neuen Jahres schreibt. Ja, führe uns, neues Jahr. wenn nicht an unser Ziel, so doch wenigstens in Richtung des Ziels! Diese meine wackeren Jungen verdienen, Erfolg zu haben. Ich glaube an meinen guten Stern. Trotz der Tatsache, daß wir wieder nach Süden treiben, bin ich in guter Laune. Und vielleicht ist der Wunsch, den Nordpol zu erreichen, nur eine Versuchung der Eitelkeit." Langsam, unerträglich schleppend kriechen wieder die Tage dahin. Kaum merkbar treibt die „ F r a m " im Eis einige Grad nordwärts. 19
Die Polarnacht wird eintönig. Jeder kennt sie schon in allen Schattierungen. Soweit das Auge schaut, Eis, nichts als diese Wüste aus Eis. Viele Gedanken werden in Nansen wach. Einer von ihnen läßt ihn nicht mehr zur Ruhe kommen: „Wir liegen ohne Bewegung. Die Sonne steigt empor und taucht die Eisebene in ihren Glanz. Der Frühling kommt, doch er bringt keine Freuden mit. Hier ist es so einsam und kalt wie je. Alles ist st'll und tot, steif und starr. Noch immer muß ich warten und die T" ift beobachten. Aber wenn sie die verkehrte Richtung einschlagen sollte, dann werde ich alle Brücken hinter mir abbrechen und auf einem Marsch nach Norden über das Eis das letzte wagen. Es wird eine gefährliche Reise sein, eine Frage um Leben oder Tod. Aber habe ich eine andere Wahl? Es ist des Mannes unwürdig, eine Aufgabe zu übernehmen und sie dann aufzugeben, wenn der Höhepunkt der Auseinandersetzung bevorsteht. Es gibt nur einen Weg, und der heißt ,Fram' — Vorwärts!" Ostern kommt und geht vorüber. Die „Fram" scheint wie festgewurzelt. Die Position ist seit Wochen die gleiche: etwa 80 Grad. Nansen wagt es, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen. Irrtum bleibt Irrtum. Es kann kaum einen Zweifel mehr geben, daß die Trift des Eises den Pol nie erreichen wird. Die Erkenntnis ist enttäuschend. Alle Vorausberechnungen sind fehlgeschlagen. Man muß das Steuer kühn und entschieden herumwerfen. Der schon vor Monaten erwogene Plan eines Fußmarsches zum Pol muß Wirklichkeit werden. Wohl könnte Nansen sich mit den bisherigen Erkenntnissen und Erfolgen zufrieden geben. Denn man hat sich nicht nur treiben lassen. Zahlreiche wissenschaftliche Beobachtungen wurden verzeichnet; so weiß man jetzt, daß das Meer unter den Schollen kein flaches seichtes Becken ist, wie bisher allgemein angenommen wurde. Die Messungen der Lotleine haben Tiefen bis zu viertausend Meter ergeben. Andere Überraschungen kommen hinzu. Man findet mitten im Eis Süßwassertümpel. Kaum einen Grad Kälte mißt man in diesen Teichen. Nansen zieht seine Schlüsse: „Es ist kein Zweifel, daß der Golfstrom in diese nördlichen Breiten fließt." So vergeht der Polarsommer. Die Sonne steigt immer flacher über den Horizont. Ein zweiter Polarwinter steht bevor. Die „Fram" treibt all die vielen Wochen in Höhe des 81. Grades. Die zwölf Männer feiern am 10. Oktober den 33. Geburtstag des Mannes, dem sie bedingungslos vertrauen. Aber in der Nacht lastet die Einsamkeit drückender als je zuvor auf allen. „Hat man sich Gute Nacht gesagt und sitzt hier allein, dann stellt 20
die Traurigkeit sich ein. Und geht man an Deck, so stehen die Sterne hoch oben am klaren Himmel. Über dem düsteren Gewölbe funkelt das Nordlicht." Manchmal packt Nansen der Zweifel, ob er den kühnen Plan verwirklichen darf, ob er die „Fram" allein lassen kann. Doch er kennt seine Männer und weiß, daß Kapitän Sverdrup die Aufgaben auf dem Schiff in gleicher Weise lösen wird wie er selber. Aber kann er seinen Angehörigen, kann er Frau und Kind gegenüber das, was er vorhat, verantworten? Immer wieder zwingt er die Unruhe in sich nieder. „Ich werde wiederkehren, ich weiß es. Ich fühle es in mir. Ohne Entbehrung gibt es keinen Kampf, ohne Kampf kein Leben. Aber nun soll der Kampf beginnen. Dort im Norden wird er anheben. Jetzt ist der letzte Schritt über die Brücke des Entschlusses getan." Nansen wählt unter den zwölf Männern einen Gefährten für den Marsch zum Pol. Es ist Leutnant Johansen, der keinen Augenblick zögert, mit ihm zu gehen. Sie treffen die Vorbereitungen. Zur neuen Jahreswende treibt die „Fram" auf 83° 34'. Nansen studiert erneut die Karte an der Wand seiner Kajüte, sein Finger streicht über den großen weißen Fleck, über das unerforschte Gebiet um den Pol. Er hat keine Angst, daß ihm keine Rückkehr beschieden sein könnte, obwohl er sich der Größe der Gefahr bewußt ist. Vertrauen erfüllt sein Herz. „Der Tod kann sich, glaube ich, niemals nähern, ehe man seine Mission erfüllt hat." Wieder verstreichen Tage und Wochen. Oft hat es den Anschein, als ob die „Fram" auf die Dauer dem stetigen Druck des Eises nicht gewachsen sein werde. Haushoch türmen sich oft die Eisberge zu beiden Seiten. Oft sind die Männer mit Schlitten und Hunden bereit, das Schiff zu verlassen. Doch immer rührt sie das Unheil nur an, nie stürzt es sie völlig in seinen unermeßlichen Abgrund. Nansens Zuversicht gibt den Männern immer wieder Vertrauen. Als der erste Schimmer der Sonnenkugel, die den neuen Frühling bringt, über das Eis tastet, bricht Nansen mit Johansen auf zum Abenteuer in das Unbekannte. Sverdrup, der Kapitän der „Fram", zwingt die Trauer mit einem Scherzwort nieder: „Glaubst du, daß du noch nach dem Südpol fahren wirst, Nansen, wenn du heimgekehrt bist? Dann mußt du aber warten, bis ich mit der ,Fram' zurückkomme!" Nansen schreibt die letzte Seite in das Tagebuch an Bord des guten Schiffes: „Daß es eine weite Reise wird, kann ich nicht leugnen. Nie hat 21
jemand die Brücken hinter sich so entschieden abgebrochen. Wenn wir umkehren wollten, wir hätten nichts, wohin wir uns wenden könnten, nicht einmal eine öde Küste. Es wird unmöglich sein, das Schiff wiederzufinden. Vor uns liegt das große Unbekannte. Und dort gibt es nur eine einzige Straße. Sie führt geradeaus, immer geradedurch, sei es über Land oder Wasser hinweg, flach oder uneben, nur über Eis, nur über Eis. Ich bin fest überzeugt, wir kommen durch, selbst wenn wir das Schlimmste antreffen sollten!" Am 4. März 1895 donnern die Kanonen der „Fram" den Abschiedssalut auf dem 83. Grad nördlicher Breite.
Fußmarsch zum Pol Drei Schlitten, achtundzwanzig Hunde und zwei verlorene Menschen brechen auf. In der Heimat blühen die Wiesen im ersten beginnenden Frühling, weht der laue Wind den letzten Schnee von Feldern und Bergen. Hier im Niemandsland aber herrscht noch eisiger Winter. Zerklüftet, messerscharf, heimtückisch, drohend, dehnt sich das Eis, einem Panzer gleich. Acht Kilometer, zehn Kilometer ist die Leistung eines ganzen Tages. Dann sind die Kräfte für lange Zeit aufgebraucht. „Wie müde wir sind, wenn wir endlich im steifgefrorenen Schlafsack liegen und darauf warten, daß das Abendessen kocht! Oft sind wir auch so müde, daß uns die Augen zufallen und wir mit dem Löffel auf dem Wege zum Mund einschlafen. Die Hand fällt leblos zurück, die Suppe fließt auf die Decken. Wir drücken uns im Schlafsack eng aneinander und liegen dann eine oder zwei Stunden mit klappernden Zähnen, ehe wir im Körper etwas Wärme verspüren, deren wir so dringend bedürfen." Die Haut hängt in Fetzen an den Händen. Bei 40 Grad Kälte und mehr müssen die Hunde an die Schlitten gespannt, müssen die Leinen, wenn sie in Unordnung geraten, mit unsäglicher Geduld entwirrt werden. Oft versagen auch die Hunde, wenn sie die Lasten über das aufgespaltene Gelände hinwegbringen sollen. Nach vierzehn mühseligen Tagen mißt Nansen einen Standort: 85° 30' auf Nor-dbreite. Er kann es nicht fassen. Narrt ihn wieder der Eisstrom? Erwehrt sich die Natur des verwegenen Angriffs auf den Pol, den zwei Männer unternehmen? Offenes Gewässer bildet oft das schlimmste Hindernis. Die Männer tauchen in das eiskalte Wasser, schieben Eisschollen zusammen, zerren die Hunde und die Schlitten über die schwankende Brücke und erzwingen den Weg weiter. Die steifgefrorenen Kleider scheuern auf der brennenden 22
Haut, die Wunden schmerzen wie Feuer. Schneeschuhe sind nicht zu verwenden, da das Gelände von unzähligen winzigen Eiskratern übersät liegt. Nansen erkennt, daß das Ziel, der Pol, auch zu Fuß nicht zu erreichen ist. „Ich habe eingesehen, daß es unmöglich ist, den Pol selbst oder seine nähere Umgebung auf diesem Eise und mit diesen Hunden zu erobern. Wir müssen umkehren, früher oder später! Es wurde mir von Tag zu Tag rätselhafter, weshalb wir nicht mehr Fortschritte nach Norden machten. Wir müßten, den Tagesmärschen nachgerechnet, längst über den 86. Grad hinaus sein. Es wird mir immer klarer, daß sich das Eis nach Süden bewegt. In seiner eigensinnigen Trift haben wir unseren schlimmsten Feind!" Noch einige Tage versucht Nansen nach Norden voranzukommen. Er will die letzten Möglichkeiten ausschöpfen, aber ein Hund nach dem andern bleibt tot in der Eiswüste liegen. Einer der bösartigsten, der sie selber anfiel, wird von einem Eisbären zerrissen. Nansen fragt seinen Gefährten Johansen, ob er sich nicht freue, daß sein Feind nun tot sei. „Nein, im Gegenteil!", antwortet Johansen. „Warum?", fragt Nansen erstaunt. „Weil wir nicht Freunde werden konnten, bevor er starb!" Einige Tage später fällt Nansens Entscheidung: „Wir können hier nichts mehr ausrichten, Johansen! Wir müssen zurück!" Nie war er mutiger als in dieser Stunde, da er ein Wort ausspricht, das sonst nie in seinem Leben Geltung hatte. Er hat die Grenzen erkannt, die jedem Menschen im Leben gesetzt sind. „Es ist ein wahres Chaos von Eisblöcken, das sich bis zum Horizont ausdehnt. Es hat keinen Sinn, noch weiter vorzudringen. Wir opfern die kostbare Zeit und erreichen nichts." Der 7. April 1895 ist der denkwürdige Tag. In 86° 15' nördlicher Breite, nördlicher als je zuvor ein Mensch in die Eiswüste am Pol vordringen konnte, spricht Nansen, dessen Parole immer „Fram! — Vorwärts!" lautete, das „Zurück!" Er wendet die Schlitten nach Süden. Er ist vernünftig genug, zu entsagen wo andere vielleicht das Tollkühne noch gewagt hätten. Er hat den Mut, zur gegebenen Stunde das Nein ebenso zu sprechen wie das Ja.
* In der fernen Heimat aber wartet Nansens Frau Eva in Geduld und Zuversicht. Gerüchte erreichen das einsame Haus auf den Hügeln bei Kristiania, in dem Eva wohnt. Nie mehr werde Nansen 23
den Heimweg finden, sagen die Menschen. Eva sucht Halt und Zuflucht in der Kunst. In allen großen Städten Skandinaviens gibt sie Konzerte und singt die alten nordischen Volkslieder: „Ich will ja nicht trauern, aber ich trauere doch. Er kehrt ja in wenigen Jahren zurück, — wenn die Rosen wieder blühen."
Rettendes Land Vier Monate schon mühen sich die beiden einsamen Menschen nach Süden. Ihre Augen starren über das Eis und suchen irgendwo in der Ferne den dunklen Streifen am Horizont, der ihnen endlich, endlich festes Land verspricht. Und weiter hasten sie sich durch die Wüste. Sie spannen sich selbst in die Seile und ziehen die Schlitten. Sie brechen durch tückische Schollen und schleppen sich triefendnaß weiter. „Wir wissen weder, wo wir sind, noch wissen wir, wie alles enden soll. Inzwischen schwinden unsere Vorräte von Tag zu Tag. Werden wir Land erreichen, solange wir noch zu essen haben? Werden wir es überhaupt erreichen? Es ist schwer, die Hoffnung aufrechtzuhalten, aber trotzdem bewahren wir sie. Laßt die Sonne nur einen Augenblick durch die Wolkenbank brechen, laßt die Sonnenstrahlen auf dem Wasser spielen, und das Leben erscheint trotz allem schön und des Kampfes wert." Wind und Strömung treiben noch immer ihr launisches Spiel. Die Tage gehen langsam dahin. Ein Hund nach dem andern stirbt vor Erschöpfung. Nansen und Johansen trinken das warme Blut, um sich zu stärken. Ab und zu kommt ihnen ein Seehund oder ein Eisbär vor das Gewehr. Manchmal flattert eine Möwe durch den grau verhangenen Himmel. Erschreckend ist der Verfall der Kräfte und das Verzagen der Herzen. Als die Hoffnung fast ganz geschwunden ist, geschieht das Unfaßbare: „Mittwoch, den 24. Juli. Land! Land! Land!, nachdem wir den Glauben schon fast aufgegeben haben. Nach fast zwei Jahren sehen wir wieder über der nie endenden, weißen Linie dort am Horizont Land aufsteigen. Wie lange hat sie unsere Träume heimgesucht, diese Küste, und nun kommt sie wie eine Vision, wie ein Feenland." Doch sind es noch zwei lange Wochen mühsamen Marsches durch das Eis. Dann liegt offenes Wasser vor ihnen und weit hinten ein Eiland. „Endlieh stehen wir am Rande des Eises. Vor uns breitet sich die dunkle Meeresfläche mit weißen treibenden Schollen. Hinter 24
Fridtjof Nansen
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uns liegen nun alie unsere Sorgen. Vor uns der Wasserweg in die Heimat." Die Männer gehen in die leichten Kajaks und rudern der Küste zu. Am Abend des 14. August springen sie, besessen vor Freude, ans trockene Land. „Zum erstenmal seit zwei Jahren haben wir eisfreies Land unter den Füßen. Es ist ein unbeschreiblich herrliches Gefühl, von einem Granitblock zum andern springen zu können. In einem kleinen versteckten Winkel zwischen den Steinen finden wir Moos und Heidekraut und großen schönen Mohn. Doch wo wir sind, wird uns immer unbegreiflicher." Die erste Freude wird schon bald getrübt. Es ist für dieses Jahr zu 6pät, die Fahrt über das offene Meer zu beginnen. Schon friert das Wasser wieder ein. Sie werden ein drittes Mal überwintern müssen. Auf einer der vielen Inseln brechen sie Steine aus Geröllhalden, mauern sie aufeinander und bauen sich die Höhle, in der sie die dritte Polarnacht überstehen wollen. Sie gehen auf Walroßfang und gewinnen Vorrat an Talg und Fett und Fleisch für viele Monate. Dann fällt Schnee in weißen, dichten Hocken. Ringsum ist nichts als Öde und der Frost und die lange dunkle Nacht. „Da liegt die Hütte im Schatten des Berges und das Mondlicht schwebt über Eis und Fjord. Alles ist still, so beängstigend still. Während wir zitternd vor Kälte auf und ab schreiten, blicken wir hinauf zum endlosen Sternenzelt, und alle unsere Entbehrungen, alle unsere Sorgen schwinden ins leere Nichts." Weihnachten feiern die beiden Männer still und in ihr Schicksal ergeben. Das Nordlicht mit seinem bunten Spiel der Farben, die alles verzaubern, ist ihr Weihnachtsbaum. „Man könnte krank werden vor Sehnsucht nach der Heimat. Aber warte, warte, wenn der Sommer kommt! 0, der Weg zu den Sternen ist lang und beschwerlich!" Ein eisiger Wind, der über Gletscher und Schneefelder pfeift, läutet den Männern auf dem 81. Grad das neue Jahr ein.
Die ersten Menschen! Acht Monate Einsamkeit werden der Frühlingssonne das Eis trifft, haft vorbereitet. Am 19. Mai 1896 die Hütte, Heimat und Zuflucht am Pol. 26
bezwungen. Als die erste Spur wird der neue Aufbruch fieberverlassen Nansen und Johansen in der grausam langen Nacht
„Es ist ein wundersam glückliches Gefühl, zu wissen, daß wir endlich unterwegs sind und daß es nun wirklich heimwärts geht!" Der Tod lauert in vielfältiger Gestalt. Tausend Abgründe der Gefahr tun sich auf: Schneestürme, Eisbären, unüberbrückbar scheinende Wasser, hungrige, angriffsbereite Walrosse, „Wir liegen hier in einer Vertiefung im Schnee und werden immer nasser. Wir denken daran, daß es schon Juni ist und zu Hause alles herrlich blüht. 0, es ist schlimm, daran zu denken! Wenn ich nur über die „Fram" Gewißheit hätte. Wenn sie vor uns eintrifft, was werden die Armen tun, .die auf uns warten?" Am 17. Juni begegnet ihnen das Wunder. Die Welt nimmt sie wieder auf. Es ist irgendwo im Norden vor Franz-Josephs-Land. Die beiden Forscher trotteten wie alle Tage vorher ergeben ihres Weges. „Plötzlich auf dem Marsche durchs Eis", so berichtet Nansen über diese denkwürdige Stunde, „glaubte ich eine menschliche Stimme zu hören, eine fremde Stimme, die erste in drei Jahren. Wie mir das Herz klopfte, wie mir das Blut zu Kopfe schoß, als ich auf einen Hügel rannte und mit der ganzen Kraft meiner Lunge schrie! Hinter dieser einen menschlichen Stimme inmitten der Eiswüste, dieser einzigen Botschaft vom Leben, standen Heimat und sie, Eva, die zu Hause auf mich wartete. Bald hörte ich wieder rufen und sah eine dunkle Gestalt. Es war ein Hund. Aber weiter entfernt kam noch eine Gestalt — ein Mensch! Ich hörte ihn mit dem Hunde sprechen und lauschte. Es war englisch, und als ich näher kam, glaubte ich Jackson zu erkennen, den ich meiner Erinnerung nach einmal gesehen hatte. Über uns ein Nebeldach, das die Welt ringsumher abschloß, zu unseren Füßen das holperige Packeis, im Hintergrund ein Schimmer von Land. Alles übrige Eis, Gletscher, Nebel! Auf der einen Seite der zivilisierte Europäer, in einem karierten englischen Anzug, ordentlich rasiert, den Duft parfümierter Seife verbreitend. Auf der anderen Seite der Wilde, bekleidet mit schmierigen Lumpen. schmutzig von öl und Ruß, mit langem, ungekämmtem Haar und zottigem Bart, schwarz von Rauch, mit einem Gesicht, in dem die natürliche blonde Farbe unmöglich zu erkennen war. „Freue mich riesig, Sie zu sehen!", begann Jackson das Gespräch. „Danke, ich gleichfalls." „Haben Sie ein Schiff hier?" „Nein." „Wieviele sind Sie?" „Ich habe nur einen Gefährten draußen am Eisrand." Nach einer Weile, während wir weiter dem Land zugehen, blieb 27
Jackson plötzlich stehen, blickte mir voll ins Gesicht und sagte: „Sind Sie nicht Nansen?" „Ja, das bin ich!" „Bei Gott, es freut mich närrisch, Sie zu sehen. Woher sind Sie jetzt gekommen?" „Ich verließ die „Fram" auf 84 Grad nördlicher Breite, nachdem wir zwei Jahre lang im Eis getrieben waren, und habe dann im Fußmarsch den Breitengrad von 86° 15' Minuten erreicht. Dort mußten wir umkehren. Wir waren dann gezwungen, den Winter irgendwo im Norden von hier zuzubringen." „Ich gratuliere Ihnen von ganzem Herzen. Sie haben eine kühne Reise vollbracht. Es freut mich ungemein, daß ich der erste bin, der Ihnen zu Ihrer Rückkehr gratulieren kann, Nansen!" Das Lager Jacksons wird zum ersten Rastplatz, zur ersten Begegnung mit der Kultur, die Nansen und Johansen drei lange Jahre hindurch entbehrt haben. Dann halten die beiden aus dem Eis Zurückgekehrten die Briefe aus der Heimat in den Händen, zwei Jahre alte Briefe, gute Nachrichten. Doch zwei Jahre sind eine lange Zeit. Nansen kann es noch immer nicht fassen, daß er dem Verhängnis des ewigen Eises entronnen ist.
Heimkehr ins Glück Ende Juli löst sich aus dem Nebel des Meeres ein Schatten und treibt immer näher der Küste des Franz-Josephs-Landes zu. „Ein Schiff!", murmelt Nansen und schaut unverwandt auf das Wasser. Wie sonderbar es ist, wieder ein Schiff zu sehen! Doch schon schweifen Nansens Gedanken ab, in ein Ungewisses hinein, einem anderen Schiffe zu, das den Namen „Fram" am Bug trägt. Ihr Schicksal liegt noch völlig im Dunkel. Die „Windward" bringt reiche Botschaft aus der Heimat. Nansen überfällt den Kapitän des Schiffes mit Fragen! „Was geschah in der Welt in diesen drei Jahren?" „Röntgen kann Bilder machen, die das Innere des Menschen zeigen!" „Die Japaner haben die Chinesen geschlagen!" „Andre wartet auf Spitzbergen, um im Ballon den Pol zu überfliegen!" Der Neuigkeiten sind allzuviele. Nansen hört sie mit weit geöffneten Augen, mit offenem Mund, wie ein Kind, das zum ersten Male dem Wunder des Lebens begegnet. 28
Wenige Tage später dampft die „Windward" südlichen Kurs. Die Regionen des Eises bleiben zurück, tiefblaues Wasser dehnt sich unter dem Sommerhimmel. Dann dämmert ein Strich über dem Meer, Berge breiten sich in der Sonne, die Heimat, Norwegen leuchtet den Heimkehrern entgegen! Die Heimat, das Land, dessen Fahne von zwei kühnen Männern in bisher unbetretbare Erdräume getragen wurde! Am 13. August legt die „Windward" am Kai des Hafens von Vardö an. Minuten später steht Nansen mit einem Stoß von Telegrammen am Schalter des kleinen Postamts. Dann tickt der Telegraph die Botschaft der Freude in alle Welt und in ein stilles Haus auf den Bergen bei Kristiania. Einer einsamen Frau steht das Herz einen Schlag lang still vor Jubel und Glück. Dann macht sie sich auf die weite Reise. Es ist, als sollte sich in diesem Monat August des Jahres 1896 die Freude von drei Jahren sammeln und sich verschwenden. Nach dem Glück des Wiedersehens trifft das Telegramm ein, das alle ertragbaren Grenzen des Glücks fast zu sprengen droht: Skjaervö, 20. 8. 1896. Doktor Nansen! Fram heute in gutem Zustand angekommen. Alles wohl an Bord. Gehe sofort nach Tromsö. Willkommen in der Heimat. Otto Sverdrup. Nansen ist wie benommen. Immer wieder spricht er die wenigen Zeilen vor sich hin, um sicher zu sein, daß alles Wirklichkeit ist. Am nächsten Tag betritt Nansen mit seinem treuen Gefährten sein tapferes Schiff „Fram". „Das Wiedersehen, das jetzt folgte, wage ich nicht zu beschreiben. Ich möchte wissen, ob einer von uns mehr fühlte, als dies eine: nun sind wir wieder alle beisammen. Nun sind wir wieder in Norwegen. Die Expedition hat ihre Aufgabe erfüllt!" Die Reise von Hammerfest bis Kristiania ist eine Triumphfahrt. Ein ganzes Volk sonnt sich im Glanz von Nansens Namen und dem seiner zwölf unerschrockenen Kameraden. In Kristiania steigert sich die Begeisterung der Norweger ins Unbeschreibliche. Fahnen wehen, Kanonen schießen Salut, die Geschäfte sind geschlossen. Die Häuser stehen leer und verlassen. Am Hafen aber drängt sich Kopf an Kopf. Am späten Abend, als der Lärm der Menge still geworden ist, steht Nansen am Strand des Fjords und lauscht in die Brandung: „Mehr als drei Jahre sind vorübergegangen. Wir haben ge29
kämpft, wir haben gesät, aber jetzt ist die Erntezeit gekommen. Das Eis und die langen Mondnächte mit all ihrer Qual erscheinen mir wie ein ferner Traum aus einer anderen Welt. Aber welchen Wert hätte das Leben ohne seine Träume?" Nachdenklich kehrt er an der Seite der Frau in sein Haus auf Lysacken zurück. Er wendet sich an die Gefährtin: „Ich werde ein Buch schreiben und will es ,In Nacht und Eis' nennen. Ich schreibe es für Dich, Eva. Auf der ersten Seite soll mein Dank an dich stehen: an dich, die das Schiff getauft und die den Mut hatte zu warten!" Auf den Felsen am Meer raucht noch das letzte glimmende Holz der Freudenfeuer. Als Nansen die Tür seines Hauses öffnet, hört er die Gattin sagen: „Jetzt bist du wieder daheim, Fridtjof! Wie glücklich bin ich!"
Held des Friedens Die wissenschaftlichen Gesellschaften der Erde rechnen es sich zur Ehre an, Nansen die Mitgliedschaft anzutragen. Orden und Ehrendiplome aus allen Ländern erreichen ihn. Die Zeitungen in aller Welt sprechen von ihm als von jenem Mann, der die größte Tat des versinkenden 19. Jahrhunderts vollbracht hat. Was Nansen an wissenschaftlichen Ergebnissen aus dem Norden mitgebracht hat, erregt Aufsehen. Eine neue Epoche in der Polarforschung bricht an. Ein einziger Mann hat Licht in das Dunkel der nördlichen Polarzone gebracht. Nansen hat nachgewiesen, daß das Gebiet rings um den Pol kein flaches Wasserbecken mit einer Tiefe von höchstens dreihundert Meter ist, sondern ein Ozean wie die übrigen Ozeane der Erde. Der Grund dieses Polarmeeres liegt zwischen dreitausend und viertausend Meter. Man weiß nun von einer langsamen Strömung im Wasser unter dem Eis. Kein Polarforscher, der in den kommenden Jahren den Pol zu bezwingen versucht, bricht auf, ohne sich vorher bei Nansen Rat zu holen. Man findet ihn in dieser Zeit wieder in seiner stillen Gelehrtenstube. Er ist müde des Trubels und der Ehrungen. Schon steht ein neues Ziel vor ihm. Er will die geheimnisvollen Strömungen des Meeres vom Äquator bis nach Spitzbergen erforschen. Wieder wird der „Wagehals Norwegens" zum Bahnbrecher in Unbekanntes. Norwegen hat den Bau eines Kriegsschiffes beschlossen. Der Bau wird nicht ausgeführt. Statt dessen wird zu den gleichen Kosten ein Schiff für die Meeresforschung nach Nansens Angaben konstruiert. Der Gelehrte erfindet neue Instrumente und Meßverfahren, 30
er läßt ein Tauchgerät bauen, mit dem aus allen Tiefen des Meeres Wasserproben an die Oberfläche heraufgeholt werden können. Von den Azoren bis nach Spitzbergen befährt Nansen auf der -Michael Sars" — so wird sein Schiff getauft — die Meere und mißt und berechnet. Er dient weiterhin dem Fortschritt. In diesem Geist verrichtet Nansen sein Werk. Immer aufgeschlossen, immer bereit zu neuer Ausfahrt, immer tätig. Die Welt lockt wie einst mit viel tausend Abenteuern. Es ist ein Glück, Mensch zu sein!
1897 Nansen wird Professor für Zoologie an der Universität Oslo. 1900 Fahrt mit der „Michael Sars" in die nördlichen Gewässer zur Erforschung der Meerestiefen. 1905 F r i e d e n s v e r m i t t l e r im Konflikt z w i s c h e n N o r w e g e n u n d S c h w e d e n , der z u m K r i e g z u w e r d e n d r o h t e . 1906 als n o r w e g i s c h e r G e s a n d t e r b e i d e r b r i t i s c h e n R e g i e r u n g zu L o n d o n . 1912 F o r s c h u n g s f a h r t z u r E r k u n d u n g der M e e r e s s t r ö m u n g e n n a c h S p i t z bergen. 1913 Reise n a c h S i b i r i e n u n d b i s z u m Stillen Ozean. 1917 als n o r w e g i s c h e r B e v o l l m ä c h t i g t e r in W a s h i n g t o n . N a n s e n v e r hindert den Eintritt Norwegens in den ersten Weltkrieg. 1920 L e i t e r d e s g r o ß e n H i l f s w e r k s für d i e in R u ß l a n d z u r ü c k g e h a l t e n e n K r i e g s g e f a n g e n e n , d i e e r i m L a u f e v o n zwei J a h r e n i n i h r e H e i m a t zurückführen kann. 1921 L e i t e r d e s H i l f s w e r k s z u r L i n d e r u n g d e r H u n g e r s n o t i n R u ß l a n d . 1922 L e i t e r d e s H i l f s w e r k s f ü r d i e griechischen F l ü c h t l i n g e , d i e n a c h d e m Krieg gegen die Türkei aus der Türkei ausgewiesen w u r d e n . Nansen erhält im Dezember den Friedensnobelpreis. 1925 R e i s e n a c h A r m e n i e n u n d H i l f s w e r k für d i e a r m e n i s c h e n F l ü c h t linge. 1929 V o r b e r e i t u n g e i n e r N o r d p o l - E x p e d i t i o n m i t d e m Luftschiff. 1930 N a n s e n s t i r b t am 13. M a i d i e s e s J a h r e s .
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L u x - L e s e b o g e n 149 ( E r d k u n d e ) - H e f t p r e i s 2 5 P f g . Natur- und kulturkundlidie Hefte. — Bestellung (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt. — Verlag Sebastian Lux, MurnauMttndien. — Druck; Buchdruäterei Mühlberger, Augsburg.
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In 4. Aullage erscheint soeben neu:
DAS KLUGE BUCH Wissen in Wort und Zahl — ergänz! bis 1953 W a s nicht im Lexikon steht, das steht im „Klugen Buch": das Interessanteste aus Leben und W e l t . Der Herausgeber hat Universitätsprofessoren» Fachgelehrte, Fachschriftleiter, Statistische Ämter im In- und A u s l a n d , Astronomen, Mediziner, Techniker, Kulturforscher, Mathematiker, Lebenspraktiker bemüht, um das Wissenswerteste und Merkwürdigste aus ihren Fachgebieten auf den Seiten dieses Buches zusammenzutragen. So ist e i n Nachschlagewerk entstanden, in dem sich das ganze Universum w i d e r spiegelt - nicht trocken und statistisch, sondern l e b e n d i g , menschbezogen, zum Nachdenken z w i n g e n d . Doch auch das Praktische ist mit einbezogen: Handel und W a n d e l , das tägliche Leben, die Regeln des bequemen Rechnens, das Recht des A l l t a g s , kaufmännisches Wissen, bürgerliches und soziales Leben, Sportregeln und S p o r t b e g r i f f e , kurz a l l e s , was den Einzelnen im gesellschaftlichen und privaten Dasein berührt. Das „Kluge Buch" enthält auf 488 Seiten einige zehntausend Zahlen und Daten. Sie sind in Kapitel geordnet und durch Kreuz- und Querverweise in den '33 Spalten des N a m e n - und Sachregisters schnell und bequem in Beziehung zueinander zu b r i n g e n . Wo es das Begreifen vereinfacht, erläutern Textabbildungen und T a b e l l e n d i e A n g a b e n . W e r das „ K l u g e Buch" zur Hand hat, w i r d um eine Auskunft nie verlegen sein, es bewährt sich in allen Lebenslagen.
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