Das neue Abenteuer 321
Kurt Herwarth Ball
Im Orkan vor Kamtschatka
Verlag Neues Leben, Berlin 1973
V 1.0 by Dumme ...
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Das neue Abenteuer 321
Kurt Herwarth Ball
Im Orkan vor Kamtschatka
Verlag Neues Leben, Berlin 1973
V 1.0 by Dumme Pute
Lizenz Nr. 303 (305/61/73) ES 9 A Umschlag und Illustrationen: Klaus-Dieter Kubat Typografie: Walter Leipold Schrift: 8 p Excelsior Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland Bestell-Nr. 641 706 3 EVP 0,25
Das Fernschreiben erreichte Nakano Yuriko in Wakkanai. Er hatte die zweite Reise als Kapitän hinter sich, doch sein Fangschiff mußte zur Überholung auf die Werft. Am dritten Tag erhielt er die Nachricht der NICHIRO GYOGYO LTD: sofort nach abashiri kommen - einsatz als Steuermann auf dreiundzwanzig - kapitän nosaka schiff läuft morgen vormittag aus. Yuriko zog ein ärgerliches Gesicht. Dabei hätte er sich doch freuen müssen. Abashiri war seine Heimat, und vier Jahre war er nicht dort gewesen. Nicht einmal, als seine Eltern kurz hintereinander starben; da schwamm sein Schiff im Ochotskischen Meer - die letzte Reise als Steuermann. Nun war er seit einem guten halben Jahr Kapitän und sollte wieder als Steuermann fahren. Das gefiel ihm gar nicht - als ob die NICHIRO, die Gesellschaft, nicht hier in Wakkanai ein anderes Schiff für ihn hätte! Aber die NICHIRO hatte ihn ausbilden lassen, und sie konnte also bestimmen, wo und als was er auf ihren Fahrzeugen arbeitete. Vom Vertreter der Gesellschaft in Wakkanai erhielt er die Zusicherung, daß man ihn zurückholen würde, sobald sein Schiff die Reparaturwerft verließ - und überhaupt: Er sollte nur für einen Erkrankten einspringen, und nur für eine Reise. Trotzdem . Soviel er wußte, war die DREIUNDZWANZIG eines der modernsten Schiffe der Gesellschaft, und Kapitän Nosaka - nun, der Graukopf hatte einen guten Ruf, aber er galt auch als hart. An Bord seines Schiffes herrschten noch die alten Traditionen. Der Kapitän war immer noch so etwas wie der Sindo, der Aufseher. Für ihn hatten sich in all den Jahren, die er auf Fischfang fuhr, nur die Schiffs- und die Fangtechnik geändert. Als Yuriko in Abashiri ankam, machte er vom Bahnhof
her einen Bogen um jenes Stadtviertel, in dem er geboren und aufgewachsen war. Nicht nötig, daß man ihn in den Häusern der Fischer sah . Trotzdem wurde er bald angerufen: "He, Nakano!" Es war Sen Kokotu - ausgerechnet! -, der Bruder Midoris. "He, wo willst du hin? Nakano, wo kommst du her?" erkundigte sich der Junge. "Man hat mich auf die DREIUNDZWANZIG geschickt, Sen - als Steuermann", sagte er nicht sehr freundlich und wollte schnell weitergehen. Aber Sen begleitete ihn, er freute sich. "Fein, ich fahre auch auf dem ÄLTEREN BRUDER, nach Kamtschatka. Aber du als Steuermann?" Er stutzte. "Na ja, wie das so ist - mein Schiff liegt in der Reparaturwerft" Yuriko betrachtete den Jungen. Er hatte Lust, ihn nach Midori zu fragen - aber wozu. Er würde besser schweigen.
Zur gleichen Zeit etwa erschien Herr Kawamoto von der NICHIRO GYOGYO an Bord der DREIUNDZWANZIG. Kapitän Nosaka verbeugte sich, wie es die Sitte erheischte; Herr Kawamoto war ein maßgebender Mann der Gesellschaft. Auch er neigte den Kopf gemessen vor dem grauhaarigen Kapitän. "Herr Nosaka", begann er in würdevollem Ton, "ich bin gekommen, Ihnen und dem ÄLTEREN BRUDER eine gute Fahrt zu wünschen." In seinem runden Gesicht lag ein Lächeln, eingekerbt durch alte Gewohnheit. "Wenn Herr Kawamoto kommt, mich zu verabschieden, kann es nur eine gute Fahrt werden", antwortete Nosaka eifrig, sich erneut verbeugend. Auch er hatte gelernt, die Freundlichkeit im Gesicht zu behalten, selbst wenn er
erschrak. Und Kapitän Nosaka war erschrocken. Wann schon schickte die NICHIRO Herrn Kawamoto zu einem Kapitän an Bord . Wenn man nahe der Sechzig ist und das graue Haar weiß zu werden beginnt, kann so ein Besuch schlimmer sein als ein fallendes Barometer im Bering-Meer. Der NICHIRO-Mann aber blieb durchaus freundlich: "Sie bekommen einen anderen Steuermann, Herr Nosaka. Kunitani ist gestern ins Krankenhaus gekommen - Sie werden es ja schon wissen." Nein, Nosaka hatte es noch nicht gehört. Er war, wie er es immer hielt, tags zuvor früh an Bord gegangen und hatte auch die Nacht über nicht mehr sein Haus aufgesucht, und seine Mannschaft war auch bereits an Bord. Das Schiff war Nosakas Haus, mehr noch: sein ÄLTERER BRUDER. "Wir geben Ihnen Nakano Yuriko als Steuermann, Herr Nosaka. Er hat die Prüfung als Kapitän, sein Schiff liegt jedoch in Wakkanai auf der Werft. Yuriko ist .", Kawamoto zögerte einen Augenblick, der Kapitän spürte das und hob den Kopf, " .er hat einen guten Leumund, man sagt ihm viel Fachkenntnis nach, im Ochotskischen Meer hat er gute Fänge gemacht." Kawamoto sprach schnell, wie um über etwas hinwegzukommen. "Immerhin, wir meinen, bei einem erfahrenen Kapitän könnte er noch lernen; man lernt ja nie aus. Er ist ein junger Mann, und so ein Junger ist manchmal .", und nun sah sein Lächeln gezwungen aus, als er leise sagte: " .einer von denen ." Er fügte mit leicht öliger Stimme rasch hinzu: "Ich brauche Herrn Nosaka nicht zu sagen, wie sehr wir ihn schätzen. Wir kennen uns - ich sage, ein Leben lang kennen wir uns, und dem Kapitän des ÄLTEREN BRUDER ist
Pflichterfüllung und Genügsamkeit immer erstes Gebot gewesen." Kapitän Nosaka verbeugte sich - wem sagte Herr Kawamoto schon solche Worte. Jedoch sehr wohl war ihm dabei nicht. Er hatte oft erfahren, daß nach solchem Lob Unangenehmes kam. Es stimmte freilich, daß Nosaka die alten Traditionen pflegte und nur gezwungenermaßen davon abwich. Seit dem Pika-dong, der Hiroshima und Nagasaki verbrannte, war vieles anders geworden. Doch vor diesem Neuen verschloß sich Nosaka in seinem Haus, und auf dem Schiff verbeugte er sich vor dem ShintoSpiegel und pflegte sein Bonsai-Gewächs, die mehr als fünfzigjährige, doch kaum zwei Spannen hohe Kiefer, eines der Kunstwerke japanischer Gärtner. Wenn Nosaka Herrn Kawamoto recht verstand, war der neue Steuermann einer von jenen, die nach den Amerikanern schielten oder gar nach den Russen - so einer war noch nicht auf seinem Schiff gefahren. Kunitani, sein erkrankter Steuermann, war mit ihm zusammen alt geworden. Kawamoto unterbrach die Gedanken des Kapitäns, er sagte beiläufig: "Ach so, ja - Ihnen fehlen noch vier Mann, Kapitän, es hat Schwierigkeiten gegeben, aber ich schicke sie zum Verarbeitungsschiff nach." Nosaka begriff sofort. Deshalb also hatte Kawamoto solche schneeweißen Worte gemacht. Mit elf Mann an Bord, und dann mußte der Steuermann noch mitarbeiten, konnte er doch nicht auslaufen. Aber Kawamoto ließ ihn nicht zu Wort kommen: "Wir werden die fehlenden Leute nachschicken oder auf dem Verarbeitungsschiff austauschen, Kapitän, Sie können sich darauf verlassen." Nun gut, wenn Herr Kawamoto es sagte . Nosaka hatte
gehorchen gelernt, sein Leben lang, es war immer einer da, der bestimmte, an dessen Worten nicht zu rütteln war . Herr Kawamoto wünschte Kapitän Nosaka nochmals gute Fahrt und ging von Bord, einigermaßen erleichtert, daß Nosaka das Fehlen der vier Mann so einfach akzeptierte. Nun, er hatte es ihm schmackhaft gemacht, meinte Kawamoto. Die Besatzung wäre übrigens auch mit sechzehn Mann noch knapp bemessen, es würde Ärger mit der Gewerkschaft geben. Nur gut, daß der alte Graukopf nichts von Gewerkschaft und ähnlichem hielt, daß es für ihn nur die NICHIRO GYOGYO LTD gab. Trotzdem so oder so, lange würde man die Alten nicht mehr halten können, dann kamen die Jungen, solche wie dieser Nakano Yuriko - o ja, das Leben wurde nicht leichter .
Noch am Kai begegnete Kawamoto dem Steuermann Yuriko und dem jungen Sen Kokotu. Er schien nicht zu bemerken, daß Yuriko ihm nicht die Ehre einer Verbeugung erwies. Kawamoto ging mit starrem Gesicht weiter - bitte, wie der junge Mann wollte. Den Tisch deckt sich jeder selbst, hieß es, und wenn Yuriko bald an einem leeren Tisch sitzen wollte, er würde ihn nicht daran hindern. Yuriko blieb stehen. "Das ist doch dort die DREIUNDZWANZIG!" "Der ÄLTERE BRUDER des Herrn Nosaka", tat sich Sen wichtig; er war eben achtzehn, und dies würde seine erste Fahrt nach Kamtschatka sein. Er freute sich darauf, wenn auch die Jahreszeit, es war November, diese Freude dämpfte. "Wie geht es zu Hause?" fragte Yuriko, lachte jedoch, ehe Sen antworten konnte. "Das alte Sprichwort", er deu-
tete auf die Schiffe, "wenn drei Häuser zusammenstehen, wohne nicht im mittleren." Sen stieß ihn mit dem Ellbogen an. "Bist du abergläubisch geworden in Hokkaido und Wakkanai? Das sind doch keine Häuser, das sind Schiffe, und in einer Stunde liegen sie nicht mehr beieinander. Wie kannst du so etwas denken." Aber er war froh, daß Yuriko abgelenkt war, sonst hätte er von zu Hause berichten müssen, daß seine Schwester Midori vor einem Jahr geheiratet hatte und daß ihr Mann der Maschinist des ÄLTEREN BRUDER war, Mori Hamai. Auch Yuriko vergaß seine Frage sogleich; auf dem Schiff sah er einen, den er ebenso vergessen hatte wie Sens Schwester: Ishiro Kishi. Das war ein großer, starker Mann von vierzig Jahren, rundum mächtig mit Fleisch bewachsen. Yuriko und Kishi hatten einmal, vor fünf Jahren, einen Ringkampf nach Art der Sumo-Kämpfer ausgetragen. Kishi hatte bei einem Sportfest so lange gedrängt, bis Yuriko nicht mehr ausweichen konnte. Er stellte sich Kishi, der immer gern mit seiner Kraft prahlte, und beförderte ihn mit ein paar schnellen Griffen von der Matte. Später ging das Gerede um, Kishi sei kein SumoKämpfer geworden, weil er diesen Kampf verloren habe, dabei war er schon zu alt für diesen Sport.
Als sie an Bord kamen, rief ihn Kishi gleich an: "He, was seh ich, der große Ringkämpfer! Willst du uns auf dem ÄLTEREN BRUDER mit deiner Kunst erfreuen, Yuriko?" Er hatte also seinen alten Grimm noch nicht verwunden. Yuriko sagte: "Du bist immer noch so laut wie dick, Kishi - was die Wellen alles anschwemmen." Dann wandte
er sich zum Kapitän und stellte sich vor. Nosaka maß die Verbeugung des neuen Steuermanns mit schmalen Augen. Jetzt erst erinnerte er sich: Nakano Yuriko, den hatte die NICHIRO doch ausbilden lassen. Sein Argwohn, daß ihm Kawamoto den Nachfolger an Bord geschickt habe, bekam neue Nahrung. Er sagte: "Ich habe eben erst von Herrn Kawamoto erfahren, daß Sie der neue Steuermann des ÄLTEREN BRUDER sind, Nakano Yuriko." Er blickte zu Kishi, maß Yuriko. "Wir fahren zum Fischfang - ich glaube nicht, daß dabei Zeit für Ringkämpfe bleibt." Er sprach kalt und über die Köpfe der beiden Männer hinweg. Yuriko deutete mit einem Kopfneigen an, daß er verstanden habe, und Nosaka fuhr fort: "Sie haben das Patent, als Kapitän zu fahren, ist mir gesagt worden, Yuriko, da brauche ich Ihnen nicht zu sagen, daß es an Bord des ÄLTEREN BRUDER nur einen Kapitän geben kann." "Es ist nicht immer wichtig, was man in der Tasche trägt, Herr Nosaka", erwiderte Yuriko, "man muß die Arbeit tun, für die man bezahlt wird." Nosaka winkte Kishi. "Zeige dem Steuermann sein Logis." Weiter war nichts zu sagen. Kishi betrachtete Yuriko von oben bis unten. "Da hat die NICHIRO einen Steuermann aus dem Jungen aus Abashiri gemacht - und Kapitän sollst du sogar sein -, da wird sich Herr Nosaka freuen", das klang ziemlich giftig, "den kannst du nicht mit List von der Matte schieben, bevor das Startzeichen gegeben ist." Sen, der in ihrer Nähe stand, bangte, daß Kishi nun auch von Midori und Hamai sprechen würde, doch der Dicke dachte wohl im Augenblick nicht daran.
Nakano Yuriko hatte sich, als er noch in Abashiri arbeitete, in Midori Kokotu verliebt, die Nachbarstochter. Sie kannten sich von klein auf, und wäre Yuriko in der Stadt geblieben, hätten sie wohl längst geheiratet. Doch er wurde, weil er aufgeweckt und begabt war und weil sein Vater Freunde bei der NICHIRO hatte, von der Fischereigesellschaft auf die Steuermannsschule geschickt. Als er fortging, versprach er Midori Kokotu: "Wenn ich Kapitän bin, komme ich und hole dich." Doch dann hatte er Midori vergessen. Die Schule war für den Jungen aus Abashiri nicht eben ein Spaß. Man ließ ihm auch keine Zeit, in den Ferien nach Midori zu sehen, da mußte er an Bord, die NICHIRO bildete ihn nicht umsonst aus. Und außerdem - nun ja, Yuriko konnte es nicht leugnen, es gab auch andere Mädchen. So hatte er, ehrlich gesagt, kein ganz reines Gewissen, als er nach Abashiri gerufen wurde, und machte deshalb vom Bahnhof her den Bogen um die Siedlung der Fischer. Eine Stunde später legten die Schiffe ab. Bei dem klaren Wetter grüßte hinter ihnen der Kegel des Nutapkuuskpe mit seiner Schneekappe. Kapitän Nosaka und die Besatzung standen an der Reling und verneigten sich vor dem Berg - die Götter mögen sie den schneeigen Riesen wiedersehen lassen. Der ÄLTERE BRUDER war wohl das einzige Schiff der kleinen Fangflotte, auf der der alte Brauch noch geübt wurde. Yuriko wollte sich nicht ausschließen, damit hätte er den Kapitän gleich verärgert. Sie fuhren nach Norden durch das Ochotskische Meer, ließen die Kurilen östlich liegen und erreichten erst durch die Passage im Süden der Insel Paramuschir den Pazifik. Genau paßten sie den aus dem Ochotskischen Meer durch
die Enge zwischen den Inseln hinausstürzenden Ebbestrom ab. Es war eine Fahrt wie gewöhnlich . Auf dem ÄLTEREN BRUDER bereiteten sie sich auf den Fischfang vor. Kapitän Nosaka überließ seinem neuen Steuermann das Ruder, blieb aber neben ihm auf der Brücke stehen und beobachtete ihn argwöhnisch. Trotz der freundlichen Worte des Herrn Kawamoto wurde er den Gedanken nicht los, die NICHIRO habe Nakano Yuriko zu seinem Nachfolger bestimmt. Und ausgerechnet er selbst sollte ihn auch noch auf dieser Kamtschatka-Fahrt einweisen. Nosaka wollte noch einige Jahre fahren, ehe er die DREIUNDZWANZIG abgab. So reich war er nicht, mit knapp Sechzig hinter den Fenstern zu sitzen oder an den Kai zu gehen, wenn die Schiffe ausführen, und nichts als einen salzigen Geschmack auf der Zunge zu haben. Wer von diesen jungen Leuten hatte denn noch eine Ahnung davon, wie sie sich hatten quälen müssen. Nosaka grollte heimlich: Die kamen heutzutage von der Schule, zogen sich eine blankknöpfige Uniform an und stellten sich auf die Brücke, als Steuermann, als Kapitän sogar. Sie aber - als halbe Kinder waren sie hinausgefahren, mit Booten, über die man heutzutage lachte. Da hatten sie schuften müssen, um die Schoner mit Fischen zu füllen. Auch da oben vor Kamtschatka, östlich und westlich von der Halbinsel. Und dem Sindo, dem Aufseher auf der Issabuna oder der Kawassaki, war es verdammt gleich, ob sie noch auf der offenen See fischten oder in der sowjetischen Dreimeilenzone. Nosaka war noch keine zwanzig Jahre alt gewesen, da hatten die Küstenschutzboote, in der Lachszeit war es, den Schoner mit voller Ladung geschnappt und die Issabuna dazu, auf der er fuhr. Das war kein Vergnügen gewesen.
Später hatte er gelernt, war als Steuermann gefahren, ohne erst lange auf die Schule zu gehen wie Nakano Yuriko, und er hatte sich abgequält mit der neuen Technik der Navigation und des Fanges. Sollte er nun etwa wieder als einfacher Fischer arbeiten? Indessen kümmerte sich Yuriko wenig um den heimlichen Groll und die Befürchtungen des Kapitäns. Er machte sich unbekümmert mit dem Schiff vertraut. Jedes hat seine Eigenheiten, man muß sich aneinander gewöhnen, und die DREIUNDZWANZIG war eben an Kapitän Nosaka gewöhnt. Sie war sein ÄLTERER BRUDER jedes seiner Schiffe hatte Nosaka so genannt, zum Zeichen, wie vertraut sie miteinander waren. Man achtete selbst in der NICHIRO Nosakas Eigenheiten und sprach vom ÄLTEREN BRUDER, wenn man die DREIUNDZWANZIG meinte. Mit den Männern an Bord versuchte sich Yuriko auf guten Fuß zu stellen. Auch wenn er sich hier Steuermann nennen durfte und sogar Kapitän war, wollte er einer von ihnen sein, mehr nicht. Was er jedoch nicht begriff, war der Umstand, daß sie mit dem Kapitän nur zwölf Mann waren. Für die Reise genügte es, beim Fang auf keinen Fall. Er sprach Nosaka daraufhin an: "Wir werden mit elf Mann keine leichte Arbeit haben, Kapitän - und dann muß ich schon mit am Netz stehen." Nosaka antwortete nicht gleich. Es gefiel ihm nicht, daß der Steuermann sich anmaßte, davon zu sprechen. Bissig sagte er: "Wohl lange her, daß Sie am Netz gestanden haben?" Yuriko sah ihn erstaunt an. "Keine vier Wochen - auf der letzten Fahrt überließ ich einem Mann, den die Winde angeschlagen hatte, das Ruder und nahm seinen Platz ein."
Der Kapitän kniff die Lippen zusammen. So einer war Yuriko - der ÄLTERE BRUDER hatte seinen Kapitän noch nicht am Netz gesehen. Er dachte: Dieser Wichtigtuer, Angeber . Dann stutzte er und fragte argwöhnisch: "Sie überlassen das Schiff einem, der ." Er kam nicht weiter. Das gab es doch nicht, ans Ruder gehörten doch nur Steuerleute! "Er besaß das Steuermannspatent", erläuterte Yuriko, "hatte allerdings eine Havarie verursacht, da war es ihm abgenommen worden - vorläufig." "Und man hat Sie nicht deshalb zur Rechenschaft gezogen?" Nosaka wunderte sich; ihm fiel etwas ein: "Sind Sie etwa deswegen auf dem ÄLTEREN BRUDER?" Das fehlte ihm noch. "Nein", erwiderte der Steuermann. "Ich habe nach den gegebenen Notwendigkeiten gehandelt, Kapitän, und das werde ich immer wieder und überall tun. - Ich - also ich wäre auch nicht mit unvollständiger Besatzung ausgefahren. Es widerspricht der Vorschrift." Kapitän Nosaka drehte sich ab. Der Steuermann hatte recht, gewiß, es gab Bestimmungen. Aber verdammt, vielleicht ließ er sich von dem jungen Menschen noch vorschreiben, was er zu tun hatte und was er lassen mußte. "Auf dem ÄLTEREN BRUDER werden die Gebote der NICHIRO immer eingehalten, Steuermann, und andere wüßte ich nicht", belehrte er Yuriko. Der schwieg. Es hatte keinen Zweck, sich mit Nosaka zu streiten. Widerwillig fügte der Kapitän hinzu: "Herr Kawamoto hat mir gesagt, die fehlenden Leute werden beim Verarbeitungsschiff übernommen." Yuriko lenkte ein: "Wenn Herr Kawamoto es gesagt hat, wird es so sein."
Später, beim Essen, wollte Yuriko mit den anderen darüber sprechen, unterließ es jedoch. Man würde sehen, ob die vier Mann kamen. Und wenn er etwas sagte, würde Kishi ihm ins Wort fallen. Ihm schien, der fleischige Riese wartete nur auf eine Gelegenheit, bei der er zupacken konnte. Deshalb war er ihm in diesen Tagen schon, soweit möglich, aus dem Weg gegangen.
Einmal betrachtete Kishi ihn voll spöttischen Staunens. "Was einer aus Abashiri nicht alles werden kann. Steuermann kann einer werden." Yuriko erwiderte ihm gelassen: "Ja - Steuermann, und Kapitän. Was hast du dagegen, Kishi, solltest froh sein, daß einer aus der Fischersiedlung es geschafft hat." Darauf antwortete Kishi nicht. Ein andermal kam Sen und sagte: "Nakano, Kishi redet immer, du hättest damals unfair gekämpft, er wolle Revanche haben." Yuriko nahm das nicht ernst. "Laß ihn schwatzen, Sen, er ist ein guter Mann, nur daß er eben manchmal prahlen muß. Wir wollen Fische fangen, und da uns vier Mann fehlen, wird das auch ein Ringkampf, da können wir andere Gedanken nicht brauchen." Kishi ließ offenbar nicht nach mit seinem Gerede, denn auch der Kapitän fragte schließlich: "Was haben Sie denn beide gehabt, Sie und Kishi?" "Ich habe nichts mit ihm gehabt, Kapitän", erwiderte Yuriko. "Es ist schon Jahre her, bei einem Sportfest erinnern Sie sich nicht mehr -, ich hatte einige Freunde besiegt, da sprach er mich an nach seiner Art, ich mußte mich ihm stellen - ich war jünger und schneller -, und seitdem redet er wohl so."
Nosaka hörte zu und sagte: "Der ÄLTERE BRUDER mag keine Feindschaften, vertragt euch, sonst muß einer von Bord, wenn wir zum Fabrikschiff kommen." Einer - das glaubte Yuriko zu verstehen. Der eine würde er sein; Kishi wurde beim Fang gebraucht. Den Steuermann konnte Nosaka, wenn es darauf ankam, entbehren. Dann stellte er sich eben vierundzwanzig Stunden auf die Brücke - zuzutrauen war ihm das. Yuriko entging nicht, daß der Kapitän ihn argwöhnisch beobachtete. Sen Kokotu hatte ihm gesagt, wenn er nicht dabei sei, rede man, er solle Nosaka ablösen. Wahrscheinlich dachte der Kapitän ebenso und behandelte ihn deshalb so unfreundlich. Immer wieder mußte er hören: "Auf dem ÄLTEREN BRUDER wird das so gemacht. - Das kennt der ÄLTERE BRUDER nicht." Sollte Nosaka doch sagen: "Ich will das so und so haben - punktum." Er biß die Zähne zusammen; aber auch noch den Kopf einziehen, das wäre zuviel verlangt. Und manchmal, wenn Nosaka bei einer Rüge mit beinahe sanfter Stimme den ÄLTEREN BRUDER vorschob, wünschte er, es käme plötzlich eine so hohe Welle, daß der geliebte "Bruder" die Nase tief wegstecken müßte und dem Kapitän das Wasser aus allen Knopflöchern lief. Einmal nach solch einer knappen Auseinandersetzung sagte Nosaka, als wolle er Yurikos stummer, unwilliger Fügsamkeit noch ein Trittchen geben: "Lassen Sie den ÄLTEREN BRUDER noch zwei Strich Nordost gehen." Yuriko riß das Steuer herum, daß die DREIUNDZWANZIG erschrocken krängte. Da wandte sich Nosaka wieder zur Brücke zurück und wies ihn zurecht: "Auf welcher Schule haben Sie das gelernt, Steuermann - der ÄLTERE BRUDER kennt
solch harten Ruderschlag nicht.
Daran kaute Yuriko noch, als er sich zum Essen setzte. Es würde gut sein, beim Fabrikschiff von Bord zu gehen, vielleicht konnte er mit einem anderen Steuermann tauschen. Er hörte kaum hin, als Kishi sagte: "Manche Leute, wenn sie was geworden sind, vergessen die, mit denen sie vordem schöngetan haben." Yuriko bemerkte auch nicht den angstvollen Blick, den Sen zu seinem Schwager Hamai warf. Noma Kikkawa, ein ruhiger Mann, Vater von vier Kindern, verbat sich das Gerede. "Warum sprichst du immer so, Kishi, es ist vernünftiger und besser, vergangene Dinge ruhen zu lassen." Da erst horchte Yuriko auf und brachte Kishis Worte und das, was Kikkawa gesagt hatte, in Zusammenhang. "Von wem redet ihr?" wollte er wissen. Kikkawa sagte schnell: "Es gibt immer und überall Leute, die ein Versprechen vergessen, das wirst du auch erlebt haben, Yuriko, das ist menschlich. Aber Kishi regt sich eben gern auf und kann dann den Mund nicht halten, obwohl es unnütz ist." Kishi grinste nur. Seine Blicke gingen zwischen Yuriko und Hamai hin und her. Er öffnete den Mund, als wolle er dem Maschinisten etwas sagen, ließ es jedoch sein. Yuriko begriff, daß Kishi und auch Kikkawa darauf anspielten, daß er Midori Kokotu vergessen hatte. Sie waren alle Nachbarn und kannten einander. Er wußte nur nicht, was Hamai damit zu tun hatte. Später kletterte Sen in den Maschinenraum hinab. "Ich sollte Nakano doch sagen, daß du mein Schwager bist, Mori, ehe Kishi Unheil anrichtet."
"Dich geht das Gerede nichts an, Sen", erwiderte Hamai, "ich weiß, das Midori einmal mit Nakano befreundet war; das ist lange her. Jetzt ist sie meine Frau und hat ihn vergessen - was geht er Midori und mich an. Soll ich ihm sagen, du brauchst nicht mehr an Midori zu denken, sie wird die Mutter meines Kindes - wozu; er hat jahrelang nicht an Midori gedacht. Das ist vorbei." Trotzdem, als Hamai später Kishi traf, bat er ihn: "Ich mag nicht, daß du bei deinem Gerede meine Frau und Yuriko immer zusammenbringst, Kishi, bitte laß das. Das sind vergangene Dinge." Kishi, groß und stark, wirklich ein richtiger Fleischberg, sah auf den kleineren Hamai hinab. "Du hast nur Furcht, Hamai, hast Furcht vor dem ehrenwerten Herrn Yuriko, er ist doch nun ein Herr, nicht wahr! Dabei arbeitet er bei uns als Steuermann, weil's vielleicht doch nicht zum Kapitän gereicht hat - kann man es wissen? Und wie hat er damals geredet: BLUME EINES SOMMERS hat er Midori genannt. Und du bist gut genug gewesen, sie zu heiraten. Nun hast du wohl Angst, vielleicht wenn er Midori wiedersieht ." Kishi lachte spöttisch auf. Nun war Mori Hamai ein ruhiger Mensch, der seinem Diesel mehr abzulauschen verstand als einem Menschen. Früher war er eifersüchtig auf Nakano Yuriko gewesen und dann beinahe glücklich, als Midori ihm nachtrauerte. Da hatte er sie trösten können, und sie hatte ihn zu lieben begonnen. Die Worte Kishis aber waren mehr als boshaft und rissen Hamai die Hand hoch. Ehe er zuschlagen konnte, tauchte Yuriko neben ihnen auf. "Vorsichtig, Hamai", warnte er lachend, "mit dem Beinahe-Sumo-Mann nimmst du es doch nicht auf, der hängt dich über die Reling, und wer soll dann den
ÄLTEREN BRÜDER des Herrn Nosaka in Schwung halten?" Mori Hamai preßte die Lippen zusammen, und Kishi sagte von oben herab: "Ich werde mich doch nicht an Hamai vergreifen; aber wenn du willst, Yuriko, wir haben immer noch was miteinander abzumachen - du kannst ja für Hamai eintreten ."
Yuriko übersah die auffordernde Gebärde und sagte schnell: "Sei vernünftig, Kishi, ehe dich Kapitän Nosaka von Bord schickt. - Du weißt doch, der ÄLTERE BRUDER ." Er versuchte zu scherzen. Kishi aber rief trotzig: "Herr Nosaka weiß, wer ich bin und was er an mir hat." Er streckte seine mächtigen Hände vor und ließ die Armmuskeln spielen. "Er will einen guten
Fang machen, und dazu braucht er mich, aber dich kaum. Und wenn du denkst, auf dem ÄLTEREN BRUDER der Nachfolger des Herrn Nosaka zu werden, eher versenkt er seinen ÄLTEREN BRUDER mit uns allen." Yuriko wandte sich ab. Er wollte mit dem Geschwätz nichts zu tun haben. Die Situation war wirklich nicht erfreulich, auf der einen Seite Kishi mit seinen unablässigen Sticheleien und auf der anderen der Kapitän mit seinem , ÄLTEREN BRUDER. Abgesehen davon mußte er ehrlich zugeben, schon in der kurzen Zeit dem alten Kapitän den einen und anderen Kniff abgesehen zu haben. Lernen konnte man überall, nur durfte es einem nicht so schwer gemacht werden .
Als Yuriko allein auf der Brücke stand, erschien der Maschinist. Leise, wie es seine Art war - so als lausche er noch immer dem Lauf seines Diesels nach, sagte Hamai: "Ich möchte mit Ihnen sprechen, Nakano Yuriko." "Und worüber?" Der Steuermann horchte auf. "Ist was mit der Maschine?" "Mit der Maschine?" Das klang höchst erstaunt; was sollte mit einem Motor sein, den er betreute. "Nein, es ist wegen Kishi. Er kann den Mund nicht halten. Es ist so, daß Sens Schwester meine Frau ist." "Midori?" Es riß Yuriko herum. Midori war Hamais Frau? "Seit einem Jahr, Nakano, und ich meine, Sie sollten es von mir hören, ehe Kishi etwas darüber sagt. Kann sein, er meint es nicht so, was weiß ich; aber seine Worte tönen nicht immer gut." Yuriko beherrschte sein Gesicht. Midori und Hamai. Er
zwang sich, den Maschinisten anzuschauen. "Ich danke dir, Hamai, es ist gut, daß du es mir gesagt hast." Allein wieder auf der Brücke, spürte Yuriko, daß ihn Hamais Worte mehr getroffen hatten, als er zugeben wollte. Er hatte, nun ja, er hatte sich nicht eben anständig gegenüber Midori benommen. Sie hatte ihn geliebt, er sie wohl auch, damals, ja, und er hatte ihr versprochen, sie zu heiraten, und dann . Er hatte Abashiri vergessen und Midori; die Eltern hatten ihn mahnen müssen, ihnen zu schreiben. Was hatte er nicht alles gelernt, auch neue Freunde gefunden. Daß sie gegen die Amerikaner auf Okinawa demonstrierten und gegen deren Krieg in Vietnam, das waren Selbstverständlichkeiten. Schwerer und mühevoller war es, zu begreifen, daß man gegen die überkommenen Traditionen angehen mußte, schwerer noch, es zu tun. Allmählich hatte er die Lüge durchschaut, alle Japaner seien eine große, gute Familie. Es gab Reiche und Arme, und die Reichen wurden immer reicher mit dieser Lüge. Demonstrationen und Proteste, da hatte er nicht abseits gestanden . Und nun? Wenn er es genau ansah, dann duldete er jetzt, was nur den Reichen nutzte; denn Kapitän Nosaka diente ihnen treu sein Leben lang und spritzte mit seinem Getue um den ÄLTEREN BRUDER der Mannschaft Seewasser in die Augen. Vier Leute fehlten, und er schwieg dazu . Und Midori - gewiß, er hatte sie vergessen, es war nicht gut, aber es war nun einmal geschehen - und jetzt war sie die Frau eines anderen. Aber so einfach, wie das Ruder einen oder zwei Strich nach Südwest oder Nordost zu drehen, so einfach war das alles nicht . Es war gut, daß die DREIUNDZWANZIG das Fangge-
biet erreicht hatte. Die Arbeit begann, und da blieb keine Zeit für Grübeleien und Sticheleien oder gar für böse Worte. Der Einsatzleiter auf dem großen Fabrikschiff teilte die ankommenden Fangschiffe ein; die Fahrzeuge, die bisher hier gefischt hatten, konnten nach Hause fahren. In zwei Tagen würde auch das Fabrikschiff abgelöst werden. Von den vier Mann, die Herr Kawamoto dem Kapitän versprochen hatte, war keine Rede mehr. Und die anderen Schiffe hatten auch nur die nötigste Besatzung an Bord. Die DREIUNDZWANZIG fischte mit einem anderen Schiff zusammen. Es gab an Bord kaum eine Pause - das Netz mußte gefiert, die Fische geschlachtet und im Laderaum verstaut werden, dann wurde das Netz wieder ausgeworfen. Sie arbeiteten rund um die Uhr. Alle, selbst Naka, der Zweite Maschinist, und Tomai, der Koch, standen am Netz; und Yuriko ging an Deck, noch ehe es der ÄLTERE BRUDER verlangte. Er stand neben Kishi, und der fragte ihn hämisch: "Du glaubst auch, daß die vier Mann noch kommen?" Yuriko blickte hoch; sie waren beim Fischeschlachten. Er sagte ruhig: "Kapitän Nosaka - ich nicht." Kishi gab nicht nach: "Aber du duldest es, du sagst doch nichts - du bist Steuermann bei der NICHIRO, ihr Kapitän. Hast du nicht früher große Worte gemacht? Bei meinem Bruder in Wakkanai bist du untergekrochen, als du gesucht wurdest bei dem Streik im Hafen - stimmt's? Wenn sie dich da geschnappt hätten, wärst du nicht NICHIRO-Kapitän geworden, und nicht einmal Steuermann auf dem ÄLTEREN BRUDER." Es tat Kishi gut, Yuriko das vorzuwerfen. Der sollte nicht denken, er wüßte nicht über ihn Bescheid.
Yuriko antwortete: "Ich habe vor Tagen schon Kapitän Nosaka darauf hingewiesen, daß dies gegen die Vorschrift ist. Hat einer von euch, du vielleicht, Kishi, dem Kapitän das auch gesagt?" Kishi schwieg. Als sie nach drei Tagen zum Fabrikschiff zurückkamen, erinnerte Yuriko den Kapitän: "Die vier Mann, Kapitän Nosaka, ohne die vier Mann können wir nicht weiterarbeiten." Nosaka sah ihn höchst erstaunt an. "Wir?" fragte er, als habe er nicht recht gehört, "wer ist wir?" "Kapitän .", es hörte sich an, als bitte Yuriko, "die vier Mann, das wissen Sie doch selbst, werden dringend gebraucht, sechs oder acht sind nötig - ganz abgesehen von den Vorschriften. Sie können den Männern nicht ohne die vier die ganze Reise zumuten." "Auf dem ÄLTEREN BRUDER bestimmt der Kapitän, Steuermann - oder wollen Sie die Leute aufhetzen?" Seine Stimme nahm einen dunklen, drohenden Klang an. "Ich hetze niemanden auf, Kapitän, das wissen Sie - und jeder von der Besatzung weiß selbst, was nötig ist. Aber Sie sind der Kapitän." Er wandte sich ab. Sollte doch Nosaka sehen, wie er zurechtkam. Sich auch noch den Vorwurf machen zu lassen, er wolle die Leute aufhetzen .Nosaka stieg an Bord des Fabrikschiffes und ging zu Sakato, dem Leiter der Fanggruppe. Als alles besprochen war, sagte er zu ihm: "Mir fehlen immer noch die vier Leute, Sakato - mehr noch ." Er wollte hinzufügen: und ein Steuermann, bekam es aber nicht gleich heraus. Er hatte verflucht wenig Lust, weiter mit Yuriko zu fahren. "Herr Kawamoto hat mir die vier Mann zugesagt."
Sakato war offensichtlich verlegen. "Kawamoto ist weit weg, Nasako. Die Leute auf den anderen Schiffen haben harte Wochen hinter sich." "Auf dem ÄLTEREN BRUDER ist immer noch jeder auf sein Geld gekommen." "Ich weiß - jeder weiß das -, stimmt schon, trotzdem." Sakato hob etwas hilflos die Hände. "Es ist gegen die Vorschrift, Sakato", drängte Nosaka, es fiel ihm schwer, das zu sagen, doch es war schon so, und Ordnung mußte auch sein. "Dem ÄLTEREN BRUDER fehlen der Vorschrift nach sechs Mann, wir haben auch schon acht Mann mehr gehabt. Vier ist das mindeste, Sakato." Er bettelte, und zugleich stieg Zorn in ihm auf, daß er betteln mußte. Zorn auf den Steuermann; ohne dessen Drängen brauchte er sich hier nicht kleiner zu machen, ohne Yuriko hätte der ÄLTERE BRUDER die Fahrt durchgestanden. Da wäre einer umgefallen und der andere auch, schön, dann hätten sie Pause gemacht - aber sie hätten durchgehalten. Sakato schob seine Papiere zusammen, stand auf und trat zum Bullauge. "Willst du heimfahren .?" Und da Nosaka nicht antwortete: "Also, dann nimm deine Leute und fische ohne die vier. Richte dich ein, daß dir keiner umfällt! Ich kann dir nicht helfen." Er durfte ihm nicht sagen, daß schon einige Leute bereit gewesen waren umzusteigen, aber ablehnten, als sie hörten, daß es sich um die DREIUNDZWANZIG handele, um Nosakas ÄLTEREN BRUDER. Freundschaftlich klopfte er ihm die Schulter. "Ihr werdet es schon schaffen, ihr seid ja zwei Kapitäne an Bord." Nosaka kniff die Lippen zusammen. Hatte er nicht noch sagen wollen, einen anderen Steuermann brauche er auch
- und nun warf ihm Sakato das hin: zwei Kapitäne an Bord. Er drehte sich um und ging, wortlos. Sakato sah dem Weggehenden nach - kein anderer Kapitän wäre so ausgefahren, aber Denjiro Nosaka . Der Leiter der Fanggruppe kam sich schlecht vor in diesem Augenblick, er hätte die Pflicht gehabt zu sagen: Ich habe keine Leute, fahr nach Hause . Aber dann fehlten die Fänge der DREIUNDZWANZIG, und bei der NICHIRO würde man ihm Vorwürfe machen. Am Ende hätte man immer das andere tun sollen .
Der Kapitän war wieder auf dem ÄLTEREN BRUDER und hatte sich zur Brücke gewandt. Als er die Tür hinter sich schließen wollte, hörte er zwei miteinander sprechen - da war die helle Stimme von Tomai, dem Koch, der andere mußte ein Mann vom Fabrikschiff sein. Der sagte eben: "Unsinn, Tomai, wieso denn vier Mann mehr, für die brauchst du keine Lebensmittel, die kommen nicht." Tomai wunderte sich: "Herr Nosaka hat es fest versprochen." Und der andere: "Zuerst wollten welche, aber als sie erfuhren, auf die DREIUNDZWANZIG, da haben sie nein gesagt, auf den ÄLTEREN BRUDER nicht - sie seien anderes gewöhnt; euer Kapitän ist ihnen wohl zu altmodisch." Langsam zog Nosaka die Tür hinter sich zu. So also war das, zu ihm wollten sie nicht, der ÄLTERE BRUDER war ihnen zu altmodisch. Er starrte vor sich hin - das begriff er nicht, war er denn anders als die übrigen Kapitäne? Verdiente man denn nicht auf dem ÄLTEREN BRUDER das meiste Geld? Er gab sich einen Ruck. Womöglich zweifelte er noch an sich selbst! Seit zwanzig Jahren fuhr er als Kapitän, immer hatte alles seine Ordnung gehabt,
keinen Tadel hatte die NICHIRO gewußt. Nein, die so sprachen, die waren wie der Steuermann, und hatte ihn nicht Herr Kawamoto gewarnt? "Ein junger Mann", hatte er gesagt, "und so einer ist manchmal ." Auf den Kopf wollen die Jungen alles stellen, aber nicht bei ihm, er, Denjiro Nosaka, er blieb sich selbst treu. Was sollte Herr Kawamoto, sagen und die NICHIRO, wenn er - nein, nun erst recht wollte er es ihnen zeigen . Als Yuriko auf die Brücke kam, sagte der Kapitän: "Es gibt keine vier Mann, wir fahren ohne sie weiter auf Fang, Steuermann." Yuriko zögerte einen Augenblick, dann sagte er: "Sie sind der Kapitän des ÄLTEREN BRUDER, Herr Nosaka, doch wenn Sie meine Meinung hören wollen, die zwei Tage haben wir durchgehalten, aber weiter auf Fang mit der geringen Besatzung, das bleibt Ihre und Herrn Sakatos Verantwortung, und es ist gegen die Vorschrift." "Ach was ." Nosaka fuhr unwillig herum. "Wir sind nun einmal hier oben, und da machen wir unsere Arbeit, Steuermann. Die Männer ." Er sah Kishi und Naka draußen stehen, schlug die Tür zu. " .die Männer vertrauen mir, wir fahren. - Hier ist das Fanggebiet - legen Sie den Kurs an!" Nosaka und Yuriko standen lange schon schweigend auf der Brücke. Sie waren nun bereits wieder Stunden unterwegs. Die See kam mächtig rauh und warf sich mitunter hart auf den ÄLTEREN BRUDER. Aber sie hatten beide gelernt, diese Unendlichkeit Meer zu beherrschen, und wußten, daß sie bei jeder Fahrt erneut bezwungen werden mußte. Davor Furcht zu haben, war ihnen fremd. Der ÄLTERE BRUDER stampfte die Wellen unter sich,
schwang sich hoch auf einen der weißschäumenden Kämme, sank hinab ins Wellental, in dem er fast verschwand. Das Barometer fiel Strich um Strich. Es war Dezember geworden und Fischfang um diese Zeit kein Zuckerlecken, weder vor Kamtschatka noch anderswo. Gegen Morgen würden sie ihr Fanggebiet erreichen. Die Fischgründe vor Kamtschatka waren genau eingeteilt, es gab dafür Verträge zwischen Japan und der Sowjetunion. Wenn der Kabeljau gut kam, konnten sie den Tag über genug an Bord holen und würden am anderen Morgen das Fabrikschiff wieder längsseits haben. Nosaka brach schließlich das Schweigen: "Das Barometer ist wieder zwei Strich gefallen." Yuriko sagte nur: "Ja", und der Kapitän erläuterte: "Es gibt Sturm von Nordost, die halten gewöhnlich lange durch." Ohne den Blick von der schwer wogenden grauen Weite zu nehmen, ließ Yuriko ein kleines Lächeln um den Mund spielen. "Es wird nicht der erste Sturm sein, den Kapitän Nosaka mit seinem ÄLTEREN BRUDER hier oben hinter sich bringt." "Ich habe sie nicht gezählt", stimmte Nosaka zu, und nach einem Atemholen meinte er: "Aber das erstemal mit einem Steuermann, der Kapitän sein darf .", und abgehackt fügte er hinzu: "Aber nicht auf dem ÄLTEREN BRUDER!" Das hatte er sagen müssen und diese Worte lange mit sich herumgetragen. Langsam wandte er den Kopf zu Yuriko. Der, immer noch den Blick geradeaus, erwiderte: "Ich habe zwei Reisen im Ochotskischen Meer als Kapitän gefahren, Herr Nosaka - hier bin ich Steuermann. Ich habe nichts anderes getan in dieser Zeit und nichts anderes gesagt. Bedenken zu äußern, meine ich, ist auch einem
Steuermann gestattet. Sie sind ein erfahrener Kapitän, Herr Nosaka", er verbeugte sich leicht gegen ihn, "und es ist eine Ehre für mich, von Ihnen zu lernen, von einem ÄLTEREN BRUDER." Es hatte wirklich keinen Sinn, fand Yuriko, den Alten durch Gegenworte zu verärgern. Sie mußten miteinander auskommen.
Später ließ Nosaka Kishi in seine Kajüte kommen. Als er mit einer Verbeugung eintrat, stand Nosaka vor seinem Shinto-Spiegel. Den hatte ihm vor Jahren seine Frau mit an Bord gegeben, er hing nun schon auf dem dritten ÄLTEREN BRUDER und sollte ein glückbringendes Heiligtum sein. Nosaka neigte den Kopf davor, strich danach mit leichter Hand über das Bonsai-Gewächs. Herr Kawamoto hatte die winzige Kiefer dem verdienstvollen Kapitän zu dessen fünfzigsten Geburtstag gebracht, und so alt war sie auch. Seitdem war die Bonsai-Pflanze kaum einen Zentimeter gewachsen. Immer stand sie unter dem Shinto-Spiegel. Nosaka wandte sich um. "Du fährst nun das siebente Jahr auf einem ÄLTEREN BRUDER, Kishi." Der stellte sich breitbeinig hin. "Es ist so, Herr Nosaka", bestätigte er. "Und immer hast du deiner Familie gutes Geld gebracht, Kishi." "Es ist so, Herr Nosaka", sagte Kishi zum zweitenmal. Wohinaus wollte der Kapitän? Nosaka wandte sich dem Spiegel und dem winzigen Kiefernbaum zu. Er sagte mit fester Stimme: "Es sind auf dem ÄLTEREN BRUDER immer die alten Sitten und Bräuche eingehalten worden, es soll nicht anders sein - solange ich zu bestimmen habe." Er drehte sich wieder zu Kishi
um: "Ich bin euch immer ein guter Sindo gewesen ." Er ließ die Worte halb als Frage in der Luft hängen. "Ja, Herr." Mehr konnte Kishi nicht sagen. Der Kapitän wurde ihm unheimlich; was wollte er nur? Nosaka sprach nun, wie er meinte, leichthin, doch Kishi glaubte ein Zähneknirschen herauszuhören. "Man hat mir die vier Mann nicht gegeben, sie waren mir versprochen. Aber wir werden es auch so schaffen, Kishi." Es war das erstemal, daß Nosaka auf diese Art mit einem seiner Männer redete. "Wir haben mehr hinter uns gebracht. Wir gehören zusammen, wir ." Er kam nicht darüber hinweg; Herr Kawamoto hielt sein Versprechen nicht - konnte es nicht halten. Keiner wollte auf den ÄLTEREN BRUDER umsteigen - er hatte es mit eigenen Ohren hören müssen. Und der Steuermann - mit einemmal tat er, als könne er von ihm lernen. Und er selbst, er hatte den dicken Kishi fast mit Bettelworten beschworen, daß sie doch zusammengehörten und daß er immer gutes Geld nach Hause gebracht habe - daß er, Nosaka, immer ein guter Sindo gewesen sei . Wir gehören zusammen - wir . Er wurde sich des Zwiespalts bewußt, in den er geraten - in den er von Yuriko gestoßen worden war . Nosaka spürte plötzlich den Wellenschlag. Der ÄLTERE BRUDER neigte sich nach backbord. Der Sturm war da er gehörte auf die Brücke. In der Nacht sahen sie zuerst noch die Positionslichter anderer Fangschiffe oder das Blitzen ihrer Scheinwerfer. Der Seegang nahm zu, das Barometer stürzte fast nach unten. Der ÄLTERE BRUDER steckte die Nase tief ins Wasser und krängte schwer.
Bis zum Nachmittag des folgenden Tages holten sie dreimal das Schleppnetz an Bord, eine harte Arbeit seit dem ersten Morgengrauen. Immer wieder kamen Brecher über, gischtend, kalt, nadelscharf. Der Fang aber war gut. Über ihnen heulte ein scharfer Nordost in Masten und Antennen. Mit dem schweren Netz im Schlepp die bald breite, bald spitze Dünung abzureiten, erforderte die ganze Steuerkunst Nosakas. Yuriko arbeitete wie die Tage vorher am Hol mit. Es war kaum zu begreifen, daß die wenigen Männer es immer wieder schafften. Mitunter konnte der Kapitän noch da und dort mit dem Glas die Aufbauten anderer Schiffe ausmachen. Ob es japanische oder sowjetische waren, ließ sich freilich nicht erkennen, möglich, daß auch ein paar Amerikaner hier fischten. Das Schleppnetz war eben wieder draußen, da meldete sich das Fabrikschiff. Sakato gab Sturmwarnung, es sei mit Windstärke elf und zwölf zu rechnen. Nosaka erhielt den Auftrag, den Fang abzubrechen und unter Land zu gehen und dort besseres Wetter abzuwarten. Er solle Petropawlowsk anlaufen oder Sarannyl oder Rukaricka, je nach seiner Position. Dann kam noch ein Nachsatz: Abashiri habe durchgegeben, der Maschinist Hamai auf der DREIUNDZWANZIG sei Vater geworden, herzlichen Glückwunsch! Nosaka knurrte vor sich hin. Von der Geburt seiner Kinder hatte er immer erst erfahren, wenn er von wochenlanger Fahrt nach Abashiri zurückkam. Heutzutage funkte man so etwas über Tausende Seemeilen . Unter Land sollte er gehen, den Fang abbrechen. Mitten in einem guten vierten Hol. Zwar war der Sturm die letzte halbe Stunde stärker geworden . Wie eisige Glassplitter fegten die Brecher über Deck. Die Männer mußten alle Kraft
aufwenden, sich zu halten. So ein Wasserschlag knallte hart wie eine Stahlstange herab. Verbissen starrte Kapitän Nosaka in das Grau, kaute, schmeckte - das bekam er nicht herunter: unter Land gehen, gerade hier . Er witterte in den Sturm hinaus. Eine Stunde konnte er noch zugeben; dann hatten sie den Hol an Bord. An die Abrechnung mußte doch auch gedacht werden. Danach würde er abdrehen und mit dem Sturm schneller vorankommen - nein, nicht nach Petropawlowsk. Die Kaimauern dort . Das war auf seinem ersten ÄLTEREN BRUDER gewesen. Nosaka hatte mit der SECHZEHN gefischt, mit Neanaku. Der hatte die Ortung vorgenommen, und Nosaka hatte sich darauf verlassen, sie kannten sich lange genug. Mit einemmal waren sowjetische Fischerei-Schutzboote da, und es stellte sich heraus, daß sie sich in einem Gebiet befanden, das für japanische Fangboote verboten war. Und sie hatten nicht eben nur so die Grenzlinie passiert, sondern schwammen mitten in der gesperrten Zone. Nosaka und Neanaku mußten Kurs auf Petropawlowsk nehmen. Nosakas Aussage, daß er sich auf die Ortung des anderen Kapitäns verlassen habe, nahm ihm niemand ab. Seine Instrumente waren doch in Ordnung, also hätte er den anderen Kapitän kontrollieren müssen. Es hatte damals viel Ärger gegeben, und er hatte geglaubt, eine solche Schande nicht überleben zu können, doch als er nach Abashiri zurückkam, tat die NICHIRO GYOGYO, als sei nichts gewesen. Seit jenen Tagen konnte ihn niemand und nichts bewegen, einen Hafen von Kamtschatka anzulaufen. Er wollte mit denen dort auch nichts im Guten zu tun haben. Und sie nun wegen eines Sturmes um Schutz bitten, nein. Da ritt er ihn eben auf See ab; wer war früher vor einem Sturm
gewarnt worden, da mußte jeder für sich einstehen, kämpfen, stärker sein - oder . Nosaka beschloß, Kurs auf Kap Lopatka zu nehmen und dort durch die Kurilenstraße ins Ochotskische Meer zu fahren. Hinter der Insel Paramuschir würde ruhige See sein. Und die Ladung - vier gute Hol? Die würde er bis Soja bringen, dem ersten Hafen von Hokkaido, und wenn nicht anders, zu Futter würden die Fische sich noch verarbeiten lassen .
Es begann zu dunkeln. Die Wolken schleppten dicht über dem Meer. Regenböen fegten in harten Strähnen herab. Nosaka hatte den Scheinwerfer eingeschaltet, um das Deck zu erhellen. Das Netz war immer noch draußen und die Stunde, die er noch warten wollte, bald um. Yuriko kam auf die Brücke. "Die Männer schaffen es nicht mehr, Kapitän, es ist zuviel." Er schwankte selbst. Nosaka blickte zurück. "Das Netz ist draußen, also holen wir es ein. Dann steuern wir Kurs auf Kap Lopatka." Vor dem erstaunten Blick des Steuermanns fügte er hinzu: "Wir sollen den Fang abbrechen, unter Land gehen ." Das stieß er widerwillig und ablehnend hervor. "Wir passieren die Kurilenstraße, so werden wir dem Sturm davonlaufen." Yuriko warf einen Blick auf die Karte, maß die eingetragene Position und die Entfernung zur Küste. "Laufen wir nicht besser Rukaricka an, Kapitän? Wenn Sie schon Auftrag haben, unter Land ." Nosaka unterbrach ihn barsch: "Ich habe Kap Lopatka vorgesehen - ein ÄLTERER BRUDER hat einmal in einem russischen Hafen festmachen müssen - ein zweites Mal nicht."
Der Leiter der Fangschiffe meldete sich wieder. "DREIUNDZWANZIG - haben Sie den Fang abgebrochen - gehen Sie unter Land - laufen Sie Rukaricka an - DREIUNDZWANZIG - geben Sie Antwort -" Yuriko sah den Kapitän an. Wollte Nosaka sich wirklich nicht melden? Er griff zum Sprechgerät. Nosaka fauchte: "Lassen Sie das, Steuermann!" Und die Stimme drang weiter aus dem Gerät, über sechzig, siebzig Seemeilen hinweg, leiser nun, als bereite es ihr Mühe, durch den Sturm zu kommen: "Gehen Sie unter Land, DREIUNDZWANZIG - von Nordost Zentrum eines Orkans - das ist ein Befehl - geben Sie Antwort, DREIUNDZWANZIG -" Da drückte Yuriko den Kapitän mit der Schulter zur Seite und rief in das Gerät: "Verstanden - DREIUNDZWANZIG geht unter Land." Nosaka mußte wahnsinnig sein. Kap Lopatka - das erreichten sie nicht mehr, im Orkan schon gar nicht. Nosaka aber hatte ganz harte Augen, und zwischen knirschenden Zähnen preßte er heraus: "Wir gehen nicht unter Land; auf dem ÄLTEREN BRUDER befiehlt der Kapitän!" "Achtung!" schrie Yuriko. Vor ihnen hob sich ein Wasserberg, ein grauweißer Schaumfirst stand hoch über ihnen. Der Sog riß dem ÄLTEREN BRUDER die Nase tief in die mächtige Wölbung des sich auftürmenden Wassers. Und dann schlug es donnernd nieder. Das Schiff zitterte, stöhnte. Ein, zwei Sekunden raste die Schraube jaulend in der Luft. Sie wurden hochgehoben, als sollte der ÄLTERE BRUDER in den Sturmhimmel geworfen werden. "Das Netz einholen!" Yuriko war schon von der Brücke,
schrie es in den Sturm. Hinter dem Wasserberg breitete sich das Meer in langer Dünung. Das war - eine letzte Warnung war das, der Pazifik holte nur noch einmal Atem, von nun an würde er unerbittlich sein. Die Winden keuchten. Neue Brecher hieben hunderttatzig nach den Männern. Sie krallten sich fest und schüttelten sich hinterher, fluchten. Das Schleppnetz kam hoch.
Yuriko hielt die Winden an. Er sah, keiner der Männer - nicht einer konnte noch stehen. Sie klammerten sich an, einer am anderen. Sie waren am Ende. Und wenn der nächste Wasserberg auf das volle Netz schlug, wenn die DREIUNDZWANZIG . Das weitere geschah in Sekunden. Das Schiff krängte vor dem nächsten Wasserberg, Yuriko schrie: "Kishi, die
Trossen kappen!" Der Riese hatte schon ein Beil in den Händen, als habe er den Befehl erwartet - seine Augen blitzten Yuriko an, dann schlug er zu. "Alle anderen unter Deck!" brüllte Yuriko. Aus dem Lautsprecher schrie Nosaka: "Halt!" Pfeifend fuhren die gekappten Trossen durch den Sturm, das volle Netz sackte von der Bordwand. Der ÄLTERE BRUDER, von der tonnenschweren Last befreit, richtete sich auf, und in der gleichen Sekunde stürzte erneut ein Berg Wasser auf das Schiff . Yuriko und Kishi lagen zusammengeklammert an Deck, beider Hände krampften sich um das Eisen der Winde. Dann stolperten sie zur Brücke. Kishi kroch zu den anderen unter Deck.
Als Yuriko auf die Brücke kam, brüllte Nosaka ihn an: "Das werden Sie verantworten, Yuriko! Das Netz kappen ohne meinen Befehl, gegen meinen Befehl. Sie waren mal Kapitän ." Yuriko schrie zurück: "Das Schiff und die Männer oder das Netz, eines gab es nur. Sie waren nicht draußen, Kapitän, Sie haben die Männer nicht gesehen. Wir haben fünfzehn, sechzehn Stunden zu elft die Arbeit von sechzehn Mann gemacht, Nosakij - bei Seegang acht, neun, elf, zwölf. Die DREIUNDZWANZIG, Ihr ÄLTERER BRUDER, hat Schlagseite gehabt, Kapitän, mehr als genug, wenn Sie es nicht gemerkt haben sollten. Ein Orkanschlag auf das volle Netz, wir hätten es nicht mehr an Bord bekommen - wissen Sie, wo wir jetzt wären ." Er sprach mit dem gleichen harten Zorn wie Nosaka. Bei seinen letzten Worten deutete er mit gestrecktem Zeigefinger nach unten. Der Kapitän beachtete ihn nicht mehr. Yuriko fand das
unsinnig. "Kapitän, ich bin noch da!" schrie er. "Wir müssen zusammenarbeiten; vielleicht schaffen wir es gemeinsam noch." Er rüttelte Nosaka an den Schultern. "Sie können sich selbst kaum noch halten - lassen Sie mir das Ruder!" Mit schnellem Blick verglich Yuriko Karte und Kompaß. Nosaka hatte mit rotem Stift die Position des Schiffes eingetragen und den Kurs. "Das ist - Lopatka, Kapitän, das ist doch ." Er wagte nicht "Wahnsinn" zu sagen. "Rukaricka ist keine vierzig Seemeilen entfernt - wir könnten vor Mitternacht das Leuchtfeuer sehen." "Oder vorher in den Riffen hängen", höhnte Nosaka. "Ich kenne sie, Sie fahren das erstemal hier." Er wußte längst, die Stunde, die er für den vierten Hol zugegeben hatte, fehlte ihnen jetzt . Die Riffe. In der Nacht und bei dem Sturm, der kaum Kurs halten ließ, keine Kompaßgenauigkeit sicherte, bestand wirklich die Gefahr des Auflaufens. Yuriko begriff, und trotzdem: "Wir müssen es versuchen, das Leuchtfeuer ." Der Kapitän ließ in einer ruhigen Minute Sen Kokotu auf die Brücke kommen. "Hamai ist dein Schwager, sage ihm: Abashiri hat durchgegeben, Hamai ist Vater geworden." Sen, der sich kaum halten konnte, und er hatte bis jetzt tapfer durchgestanden, schrie: "Midori - Midori hat ein Kind!" Yuriko trafen die Worte wie Schläge. Midori . Sen war schon hinaus. Ein Brecher riß ihn von der Brükke weg. Kikkawa, der in deren Schutz stand, fing den Jungen auf. Yuriko vergaß für Sekunden Kap Lopatka und Rukaricka
und den Wahnsinn Nosakas, keinen sowjetischen Hafen anzulaufen. Der wildschaukelnde ÄLTERE BRUDER warf seinen Steuermann in eine Ecke. Der Sturm höhnte heulend: Midori - Midori . Sen hatte sich in den Maschinenraum fallen lassen, schrie Hamai die Nachricht zu, und der hörte kaum hin gerade, daß ein dünnes Lächeln durch sein Gesicht rann. Der Diesel war wichtiger, anderes gab es nicht - der Diesel war ihrer aller Leben. Der Junge schrie wieder: "Nakano hat zugehört, Mori." Hamai bewegte kaum den Kopf. "Ich habe es ihm gesagt, er weiß es." Sen brachte den anderen die Nachricht. Sie saßen unter Deck und klammerten sich an der Back fest. Hamai war Vater geworden - verdammt, es kam erst mal darauf an, daß sie diesem verfluchten Sturm entrannen.
Yuriko versuchte noch einmal, den Kapitän von seinem Plan abzubringen. Er wiederholte: "Das Leuchtfeuer von Rukaricka ist stark genug, um uns den Weg an den Klippen vorbei zu weisen, Kapitän. Wir können uns auch anpeilen lassen. Mit voller Kraft sind wir vor Mitternacht im Hafen." Nosaka knurrte nur verbissen, preßte die Lippen zusammen - kaum ein Strich blieb in seinem Gesicht. Dann stieß er hervor: "Ich bin Kapitän, kein Wort mehr!" Und nach einer Pause: "Ich bin da zweimal hingebracht worden." "Es ist lange her, Kapitän, das mit der Verletzung der Fischereizone. Und das letztemal war's auch nicht Ihre Schuld." Er hatte davon gehört; auf seinem Schiff war einer gewesen, der die Fahrt mitgemacht hatte. "Jetzt geht es um die Männer und das Schiff .", er begehrte auf: "Es
ist Ihr ÄLTERER BRUDER!" Nosaka antwortete nicht mehr. Da entschloß sich Yuriko, mit der Mannschaft zu sprechen. Nosaka durfte es nicht erfahren; das wäre Meuterei gewesen. Er würde ihn nicht mehr von der Brücke lassen. Yuriko aber meinte, die Männer müßten wissen, wohin die Fahrt ging. Und wenn das Aufsässigkeit sein sollte - nun gut, er dachte eben anders als der Graukopf. Sie mußten von der Gefahr wissen, in die sie der Kapitän in seiner kaum begreifbaren Verbissenheit brachte. Sie durften um ihres eigenen Lebens willen Nosakas Handeln nicht blind hinnehmen. Ein Kapitän mußte an Bord bestimmen, ja, aber es ging um ihrer aller Leben. Als er die Tür öffnete, stürzte ein Schwall Wasser mit ihm herein. Kishi fing den Hereintaumelnden auf. "He, Steuermann, laß das Meer oben." Yuriko machte sich frei, hielt sich ebenfalls an der Back fest. "Kapitän Nosaka hat den Auftrag, unter Land zu gehen - er will aber Kap Lopatka ansteuern - wir stekken in einem Orkan - ich allein vermag ihm das nicht auszureden - wir könnten vor Mitternacht Rukaricka erreichen." Die Männer blickten den Steuermann an, als verständen sie ihn nicht. Hatte er nicht genug daran, daß er das Netz kappen ließ . Jetzt sollten sie zum Kapitän gehen und ihn nötigen, einen anderen Kurs zu nehmen - das gab es doch nicht. Kikkawa sagte: "Auf dem ÄLTEREN BRUDER bestimmt der Kapitän, und er weiß auch ." Yuriko unterbrach ihn: "Aber das ist doch Irrsinn, bei diesem Wetter geht ein Schiff unter Land. Und Nosaka, nur weil er ."
Jetzt war es Kishi, der ihn nicht weitersprechen ließ. Er legte seine Pranke dem Steuermann auf die Schulter. "Kapitän Nosaka gibt den Kurs an", er bekräftigte Kikkawas Worte, "und er hat schon Stürme hinter sich gebracht, da hast du noch in die Hosen gemacht, Nakano, hast sie jetzt wohl auch voll? Und von uns, für keinen von uns ist das der erste Sturm. Du hast das Netz kappen lassen, das - das verantworte ich mit dir, und du hast recht gehabt, als du den Kapitän warntest, ohne die fehlenden Leute auf Fang zu fahren. Naka und ich haben es gehört; aber jetzt willst du uns ." Der alte Zorn überkam ihn wieder, und er war nach diesem Tag so am Ende seiner Kraft, daß ihm alles gleich war. Da war auch noch das Gespräch mit dem Kapitän gewesen - da hatte der ihn gegen Yuriko einnehmen wollen. Sie gehörten alle zusammen, hatte Nosaka gesagt - und jetzt kam Yuriko mit dem gleichen Gerede. Sie sollten ihn doch in Ruhe lassen, einer war wie der andere. Wenn sie auf der Brücke standen, waren sie immer noch der Sindo, der Aufseher, dann galt nur ihr Wort. Kishi sah sich um, die anderen blickten auf ihn. Und da war Yuriko - verdammt, er hatte ihn nicht leiden können, und ein Kerl war er doch . In diesem Zwiespalt platzte Kishi heraus: "Jetzt willst du uns aufstacheln, und hinterher, da läßt du uns sitzen ." Und dann war er mit einemmal der Familienvater Kishi, der gute Nachbar der Familien Hamai und Kokotu, und er schrie: " . wie du Midori hast sitzenlassen." Er höhnte: "Die BLUME EINES SOMMERS hast du damals gesagt, ja, stimmt doch - und jetzt sollen wir für dich die MÄNNER EINES STURMES sein, und dann auch nur gut genug für einen Sturm." Auflachend fügte er
hinzu: "Den Kapitän bekommst du nicht unter Land, Steuermann. Wir sind einst beide nach Petropawlowsk gebracht worden - da kriegt ihn keiner wieder hin." Yuriko sah die Gesichter der Männer, sie waren alle erschöpft. Wenn Nosaka es wollte, gingen sie mit dem ÄLTEREN BRUDER unter. Und was Midori betraf hatte Kishi da nicht recht? Er wandte sich ab, schwankte hinaus: Kishi wollte ihm folgen, sprang auf. Da hielt ihn Kikkawa zurück: "Laß ihn - er ist schon richtig."
Der ÄLTERE BRUDER nahm die Nase immer wieder hoch, schüttelte sich, lief hinter der abziehenden Woge her, ließ sich von der nächsten in den Sturm heben. Manchmal, zwischen diesen ungeheuerlichen Wasserbergen, zog lange schwere Dünung dahin, als sei der Pazifik selbst erschöpft von seinen Gewaltanstrengungen. Verbissen arbeiteten Nosaka und Yuriko am Ruder. Der Kapitän hatte vor einer Stunde den Anker ausfieren lassen. Mit dem schweren Eisen an der sechzig, siebzig Meter langen Kette sollte der ÄLTERE BRUDER widerstandsfähiger sein. Sie zermalmten Flüche zwischen den Zähnen und riefen sich gegenseitig an. Sie waren ein Mensch, der doppelt sah, doppelt dachte, doppelt Zugriff. Einer hielt den anderen. Sie starrten vieräugig in die Nacht, maßen die Wellenberge, suchten zwischen ihnen nach Schluchten, um den Wasserlawinen zu entkommen. Irgendwann in diesen Stunden hatte Nosaka den Kurs geändert auf Rukaricka - wortlos. Und Yuriko hatte nichts dazu gesagt. Die Sekunde Triumph in ihm fraß der Sturm weg - und es konnte auch sein, sie waren zu lange schon in Richtung Kap Lopatka gefahren. Sie hätten diesen Kurs nehmen müssen, als der Befehl vom Fabrikschiff
gekommen war, sie hatten Stunden verloren. Die Uhr schien stillzustehen in dieser Nacht. Mitternacht war endlich vorbei, als einer der stahlhart niederbrechenden Wasserberge den ÄLTEREN BRUDER zehn, zwanzig Meter in die Tiefe riß und mit brachialer Gewalt zu drehen begann. Der Sog wirbelte, als wolle er ihn vollends in den Pazifik ziehen. Nosaka, der sich festklammerte, durchfuhr es wie ein Schlag: der Anker! Das zweiarmige Eisen schleppte sechzig, siebzig Meter unter dem Schiff; aber war unter ihnen wirklich noch soviel Wasser? Eiskalt durchstieß es Nosaka. Wo waren sie hingetrieben in den acht, neun Stunden Nacht? Wie dicht unter Land waren sie gekommen? Und wo? Konnte es hier nicht schon Riffe geben? Was nutzten die besten Karten, was der Kompaß, wenn man von so einem Sturm hin und her geworfen wurde. Noch gehorchte der ÄLTERE BRUDER dem Ruder; aber wenn der Anker sich an einem Riff festbiß, vierzig, dreißig Meter unter dem Kiel - dann würden sie hilflos dem Orkan preisgegeben sein. "Der Anker muß hoch!" schrie er Yuriko zu. "Wenn hier schon Riffe sind . Nehmen Sie zwei, drei Mann, und anbinden." Yuriko rief Kishi und Takashiri heraus. Sen wollte mitgehen, auch Kikkawa, doch er wies sie zurück. Der eine war ihm zu jung, der andere hatte vier Kinder - als wenn man danach gehen könnte. Yuriko ging danach. Kishi sagte: "Steuermann, soll Hiroshi nicht ." Er hielt Yuriko an der Schulter zurück. In seinen Augen war nichts mehr von Feindschaft. Mit einemmal gehörten sie zusammen. Alle vier schlangen sie Stricke um ihre Leiber und banden sich fest. Die Brecher fegten über sie hin. Eine Woge
schlug Hiroshi gegen das Ankerspill, daß er stöhnend liegen blieb. Kishi schleppte ihn zurück, kam wieder. Sie krallten sich fest und warteten eine der langen Dünungen zwischen den Wasserbergen ab. Nosaka hatte den Scheinwerfer eingeschaltet. Die Nacht um den ÄLTEREN BRUDER wurde noch finsterer, noch bedrohlicher, gewaltiger. Und aus diesem schwarzen Nichts hinter dem grellen Licht brachen schäumend und brüllend die Wasser nieder. Die Winde arbeitete. Es gab Sekunden in Yuriko, in denen er nur staunen konnte - alle Maschinen und Geräte arbeiteten, als ginge sie die wütend aufbegehrende Natur nichts an. Und es war ihm, ohne daß er es vollends begriff, irgendwie tröstlich: Das Menschenwerk hielt stand. Niemand zählte die Zeit, die sie brauchten, niemand die Brecher, die Wogen, die Wände, die auf sie niederstürzten. Zweimal rasselte die mächtige Kette wieder ins Meer, ehe sie sie festlegen konnten. Daß sie den Anker schließlich doch in Luk hatten, war nur Kishis Kräften zu verdanken. Yuriko schlug die Hand auf den Rücken des Riesen, preßte die Finger in dessen Wetterzeug. Kishi drehte ihm den Kopf zu, nickte, schrie: "Rukaricka wäre richtiger ." Yuriko brüllte zurück: "Nosaka hat Kurs auf Rukaricka genommen." Kapitän Nosaka dankte den Männern. Niemand wußte, was ihn diese Nacht kostete. Eine Stunde später. Der Sturm schien nachzulassen, doch das Meer mäßigte sich nicht, drehte den ÄLTEREN BRUDER mitunter wie ein Stück Holz. Und immer wieder neue Brecher, und wieder das Aufheulen des Sturmes - und dann dieses donnernde Brausen, ein ganz anderer Klang .
Nosaka hatte mehrmals versucht, mit dem Scheinwerfer die Finsternis aufzuhellen. Vergeblich. Regensträhnen, vermischt mit Schnee, warfen das Licht zurück. Nicht einmal bis zum Bug reichten seine Strahlen. Jetzt, als er das bedrohliche Donnern vernahm, das so klang, als polterten gewaltige Lawinen zu Tal, als schütteten ganze Züge zugleich Felsbrocken einen Hang hinunter - jetzt griff Nosaka wieder nach dem Scheinwerfer; da schrie Yuriko: "Brandung - die Klippen!" Nosaka, das Ruder herumreißend, brüllte zu Hamai hinab: "Volle Kraft zurück!" Es war sinnlos und zu spät. Es krachte. Der ÄLTERE BRUDER schien bersten zu wollen. Und Sturzsee über Sturzsee. Das Ruder ohne Widerstand. Und noch ein Stoß, und wieder das Krachen. Sie saßen auf einem Riff, daraufgestoßen, hinaufgeworfen. Der Pazifik, gegen den Nosaka und Yuriko seit mehr als zwölf Stunden erbittert kämpften, hatte sein Ziel erreicht. Die letzte Fahrt des ÄLTEREN BRUDER war beendet .
Seit dem Abend hatten alle Küstenstationen von Kap Oljutorski bis Kap Lopatka Sturmalarm. Die Männer des Seenotdienstes lagen in Bereitschaft. Der Orkan fegte die Ostküste der Halbinsel entlang, vom Bering-Meer bis zur Kurilen-Straße. Gegen Morgen war in der Seenot-Rettungszentrale in Petropawlowsk bekannt, daß alle sowjetischen Fangschiffe Häfen aufgesucht hatten. Vierzehn japanische Schiffe und zwei amerikanische waren ebenfalls gemeldet. Die japanischen Fischer vermißten, wie Rückfragen ergaben, ein Schiff, die DREIUNDZWANZIG, genannt der ÄLTERE
BRUDER, unter Kapitän Denjiro Nosaka. Der Diensthabende in Petropawlowsk rief die Funkzentrale an: "Gebt Obacht, es soll noch ein japanisches Fangschiff draußen sein, die DREIUNDZWANZIG." Er hörte, daß bisher keine Funksprüche aufgefangen worden waren, obwohl alle in Frage kommenden Wellenlängen kontrolliert wurden. Nun gut, dann würde die DREIUNDZWANZIG den Orkan durchgestanden haben; die Japaner nannten ihren Kollegen einen erfahrenen Schiffsführer.
Als der Tag mit grauem Licht die furchtbare Nacht abzulösen begann, saß der ÄLTERE BRUDER hoffnungslos zwischen den Klippen fest. Die Brandung raste schäumend
und donnernd zwischen großen und kleineren Felsen und warf sich unablässig auf das Schiff. Der erste Anprall hatte den ÄLTEREN BRUDER mit dem Heck gegen ein Riff geworfen, durch das Leck schäumte Wasser. Ein zweiter mächtiger Wellenschlag keilte das Schiff dann vollends fest. Noch arbeitete der Diesel. Hamai ließ immer wieder die Pumpen an, obwohl es keinen Zweck hatte. Es ging nur noch darum, wie lange der ÄLTERE BRUDER der Brandung und den nagenden Felsen widerstand. Der Orkan ließ die Brandung in den Riffen zu einem Hexenkessel werden, in dem sich auch so ein stählener Schiffsleib auseinanderbog. Aber es war nun Tag, und sie konnten wenigstens ihre Umgebung sehen - und auch sehen, was sie erwartete . In dieser Situation blieb es sinnlos, darüber rechten zu wollen, ob sie am Abend zuvor Rukaricka noch hätten erreichen können. Jetzt zerbrach das Schiff allmählich zwischen den Riffen, vor denen Nosaka seinen Steuermann gewarnt hatte. Die Frage war nur, ob der ÄLTERE BRUDER solange standhielt, bis der Sturm und Wellengang nachließen und sie mit den Rettungsbooten das Wrack verlassen konnten. Als es hell wurde, versuchte Yuriko ihren Standort zu bestimmen. Nosaka stand schweigend dabei. Er schwieg, seit das Schiff aufgelaufen war. Als gebe er sich geschlagen nach dem erbitterten Kampf die Nacht hindurch nach dem Kampf gegen den Sturm und gegen Yuriko. Dabei hatte er recht behalten, die Klippen . Er spürte mit einemmal seine sechzig Jahre; mehr als vierzig davon fuhr er auf See. Zusammengerechnet war er vier, höchstens fünf Jahre an Land gewesen. Er begriff, was er nie hatte hören wollen: Auch ihn hatte die NICHIRO GYOGYO
ausgelaugt . Dennoch, er fragte sich immer wieder, ob er seine Pflichten als Kapitän verletzt hatte. Er hatte nicht in einem Hafen Kamtschatkas festmachen wollen und dann doch Kurs auf Rukaricka genommen, freilich zu spät. Yuriko, so hatte er einmal gemeint, habe das Schleppnetz unnötigerweise gekappt; er aber hatte nun in Eigensinn und Trotz das Schiff vernichtet. Seinen ÄLTEREN BRUDER. Yuriko sagte: "Wenn ich richtig gerechnet habe, sind das die Räuberklippen - zwischen Rukaricka und Sarannyl -, wir liegen keine sieben Seemeilen vor Land." Keinen der beiden Namen hatte Nosaka hören wollen. "Wir müssen SOS geben, Kapitän", mahnte Yuriko, "den sowjetischen Seenotdienst rufen." "Und wie, denken Sie, sollen die Russen uns vom ÄLTEREN BRUDER holen?" fragte der Kapitän zweifelnd, mit einem Rest von Hohn. "Aus den Riffen hier?" "Der Küstendienst kennt die Riffe - sie haben auch Hubschrauber." Nosaka konnte nur grimmig auflachen. Er blickte in den schäumenden Brandungskessel und danach auf die Wolkenbäuche, die der Sturm dicht über dem Meer hintrieb und immer wieder aufriß. Nein, ehe er die Russen rief, versuchte er das letzte: die Rettungsboote. Der alte Trotz kehrte zurück. Yuriko warnte. Jetzt noch nicht, sie mußten warten, die Gummiboote als letzte Möglichkeit aufsparen. Der ÄLTERE BRUDER hielt wohl noch zwei, drei Stunden. Er maß die Wolkendecke - hellte der Horizont sich nicht auf? Das harte, verbissene Gesicht des Kapitäns ließ ihn schweigen. Nosaka mußte doch Vernunft annehmen! Aber der war schon von der Brücke. Er wollte selbst da-
bei sein, wenn die Boote von Bord gebracht wurden. Die Männer, übernächtig, steifgefroren, durchnäßt, warteten. Sie starrten auf Yuriko. Wollte der das zulassen? Nosaka, festgeklammert wie jeder andere, mußte sehen, wie Kishi an ihm vorbei nach dem Steuermann blickte. Er begriff der wartete auf Yurikos Befehl. Da brüllte er los: "Zu Wasser damit!" Sen Kokotu, dessen erste Kamtschatkafahrt in den Räuberklippen endete, der sich gut gehalten hatte, sprang nach dem Rettungsboot. Kapitän Nosaka hatte es befohlen. Ein strudelnder Sog riß ihm die Füße weg. Kikkawa konnte eben noch zupacken, taumelte selbst. Sen war so schwer hingeschlagen, daß er ohnmächtig lag. "Bringt ihn auf die Brücke", bestimmte Yuriko. Nosaka wandte sich ab. Kishi und Yuriko standen sich gegenüber. Der Steuermann bemerkte, wie ausgewaschen das Gesicht des anderen war; seines mochte ebenso aussehen. Kishi wollte etwas sagen, öffnete den Mund, ein neuer Brandungsbrecher warf sich über sie. Kishi stand breitbeinig mitten im Wasser und packte Yuriko an der Brust. "Wann willst du das Kommando übernehmen, Steuermann - wird Zeit für den zweiten Kapitän!" Und dann stemmte er mit Takashiri und Kikkawa das Rettungsboot über Bord. Kapitän Nosaka sah, wie sich das Gummiboot aufblähte, und dann warf der aufschäumende Strudel es gegen einen Felsen, und der riß es auf. Nosaka wandte sich ab. Für eine Sekunde ließ er das Halteseil los, und eine Sturmtatze, die eine Brandungswoge vor sich hertrieb, schleuderte ihn gegen die Brückenaufbauten. Der ÄLTERE BRUDER verkeilte sich ächzend fester. Hiroshi, dessen Brust unsäglich schmerzte, bekam den Kapitän zu fassen, Kikkawa griff zu. Sie wurden zu dritt
weggeschwemmt. Kikkawa klammerte sich mit einer Hand fest, hielt mit der anderen Nosaka, an dem hing Hiroshi - dann warf Kishi sich zu ihnen, wehrte mit seinem schweren Leib die hochspülenden Brecher ab. Nosaka wurde besinnungslos neben dem schwer atmenden Sen auf die Brücke gelegt. Hiroshi hockte sich daneben. Die anderen Rettungsgeräte blieben an Bord. Aus dem Maschinenraum schrie Hamai: "Das Wasser kommt!" "Laß den Diesel laufen, Hamai!" brüllte Yuriko hinunter, "ich brauche Strom für das Funkgerät!" Der Diesel sprang wirklich noch einmal an, das Aggregat arbeitete. Yuriko betätigte die Funktaste: "SOS - SOS - hier dreiundzwanzig - sind im räuberriff festgelaufen - sinken - SOS - SOS - SOS ." Er rief in den Maschinenraum hinunter: "Halt aus, Hamai!" Die Männer umstanden die Brücke; mit entzündeten Augen, die Wangen eingefallen, starrten sie zu Yuriko hinauf. Petropawlowsk - Sarannyl - Rukaricka - irgendwo mußte der Ruf doch ankommen . Da - im Kopfhörer leises Ticken. Yuriko schrie: "Ich kann nichts verstehen." Die Brandung donnerte zu gewaltig. Der Funkspruch war zu Ende. Yuriko hämmerte sein SOS noch einmal hinaus. Lauschte, preßte die Zähne aufeinander. Das Blut rauschte in den Ohren. Dann: "hier Station sarannyl - wir haben gehört kommen - haltet aus ." Yuriko funkte zurück: "verstanden ." Sarannyl fragte: "wie lange könnt ihr noch aushalten ." Yuriko morste: "wissen nicht - heck zerschlagen - bis mittelschiff unter wasser ."
Und Sarannyl noch einmal: "haltet aus - wir kommen ." Yuriko stieß die Tür auf. "Sarannyl hat sich gemeldet. Sie kommen." Die Männer antworteten nicht. Sie waren von zwölf und mehr Stunden Orkan zerschlagen, und jeder von ihnen hatte davor einen Tag hindurch die Arbeit von zwei Männern gemacht. Sie fragten sich nur wortlos, ob es jemand wagen würde, in diesen sturmdurchwühlten Kessel zu kommen. Aber Sarannyl hatte sich gemeldet. Und wieder das Ticken: "wir kommen - sews und isylmetjew ausgelaufen ." Ein neuer Schlag des Orkans, und eine sich zwischen die Klippen wälzende haushohe Woge, die sich mit der Brandung zu furchtbarer Gewalt mischte, schlug in das offene Heck des ÄLTEREN BRUDER. Die Schiffswand bog sich backbords, als sei sie aus Pappe. Mori Hamai stieg aus dem Maschinenraum, triefend, ölverschmiert, ein Gespenst. "Es ist ." aus, wollte er sagen, verstummte jedoch vor dem, was er erblickte: die Brandung, der Gischt, die Brecher, die Wogen draußen und darüber der heulende Sturm. Da unten, hin und her geworfen, am ganzen Körper blau und wund gestoßen, hatte er keine Zeit gehabt, sich vorzustellen, wie es an Deck aussah. Als Nosaka erwachte, flüsterte er: "Rettet euch ." Er sah die Männer, hörte das Ächzen des ÄLTEREN BRUDER. Seine Lippen bewegten sich kaum: "Geht von Bord - rettet euch. - Ich und der ÄLTERE BRU ." Er konnte nicht mehr, schloß die Augen. Yuriko, neben ihm hockend, sagte: "Sarannyl schickt Rettungsboote ." Es war nicht auszumachen, ob der
Kapitän seinen Steuermann noch verstand.
Kusma Sapin, der Leiter der Seenotstelle Sarannyl, hatte die SEWS und die ISYLMETJEW zu den Räuberklippen auslaufen lassen. Die kleinen, doch festen und schweren Boote jagten mit schäumenden Bugwellen zum Hafen hinaus. Sie hatten den Wellenbrecher noch nicht hinter sich, da prallten die Sturmwogen gegen sie, überschütteten sie, wollten sie wegheben. Zwischen den Wellenbergen schien es sie nicht mehr zu geben. Sie versuchten die freie See zu gewinnen und von dort aus die Riffe anzugehen. Erbittert kämpften die starken Motoren gegen das Meer. Eine Stunde brauchten sie, ehe sie die Räuberklippen vor sich hatten. Tuguschew auf der SEWS machte den ÄLTEREN BRUDER mit dem Glas aus. Jelaga von der ISYLMETJEW bestätigte es ihm. Die beiden Kommandanten kannten die Riffe. Sie waren öfter als einmal hingefahren, bei normalem Wetter. Es gab zwei, drei Stellen, an denen man sogar durch die Klippen schlüpfen konnte - bei gutem Wetter und bei Flut. Und selbst dann blieb es in der Brandung noch ein gefährliches Unterfangen. Einmal hatte Tuguschew seine SEWS nur mit verbeultem Heck herausgebracht. Jetzt wollte er solch eine Einfahrt versuchen, Jelaga warnte ihn jedoch: "Sie sind zu weit hineingeschleudert worden. Bei Flut vielleicht, so aber kommen wir nicht heran." Tuguschew rief durch Sprechfunk zurück: "Sie sehen nicht aus, als ob sie sich noch lange hielten, wir müssen es versuchen." Er nahm Kurs auf den Räuberhauptmann, den stärksten Felsen, der grau aus dem grauen Wasser ragte, an dem die Wellen hochschäumten, den sie benagten, umtosten.
Dreimal lief die SEWS gegen die Brandung an. Beim zweiten Versuch kam Tuguschew eben noch mit dem Heck an der scharfen Nase des Räuberhauptmanns vorbei - er glaubte schon das Krachen zu hören. Das Wrack lag wirklich zu weit in den Riffen, es gab keine Möglichkeit, zu ihm zu gelangen. Dabei hatte der Sturm etwas nachgelassen, die Wolken trieben höher. Aber unermüdlich ritt das Meer Attacken gegen die Räuberriffe und den ÄLTEREN BRUDER darin. Hundert Meter lang, länger noch, kamen die Wogen heran, meterhoch, graugrüngläsern. Sieben, acht, neun solcher ungeheuren Wände stürzten in die Felsen, verschmolzen mit der Brandung zu kochenden Wirbeln. Und dann Sekunden oder auch Minuten scheinbarer Ruhe, nur der Sturm und das Donnern der Brandung - nur . In einer solchen Atempause versuchten die beiden Boote noch einmal einen Durchbruch - aber da, stürmten schon die nächsten Wellenberge heran. Tuguschew rief zu Jelaga hinüber: "Es ist unmöglich; Sapin muß Hubschrauber schicken." Sie drehten ab.
Die Männer auf dem ÄLTEREN BRUDER verfolgten den aufopferungsvollen Kampf der SEWS und der ISYLMETJEW. Sen, der wieder auf den Beinen war, hatte sie zuerst entdeckt. "Da - sie kommen!" schrie er Kikkawa zu, und dann rief er es Yuriko hinauf. Stumm warteten sie, für laute Rufe besaßen sie kaum noch Kraft. Die Kälte zerbiß sie, obwohl sie gewöhnt waren, bei Minusgraden ihre schwere Arbeit zu verrichten. Jetzt aber waren sie ausgelaugt, das Seewasser brannte in ihren Augen. Und die Boote verschwanden immer wieder in sich überschlagenden Wellen - vielleicht waren es gar
keine Boote, vielleicht nur neue Riffe weiter draußen .? Nein, es waren Boote! Kishi verzog das Gesicht. "Die kommen doch hier nicht herein - was wollen sie denn." Yuriko preßte zwischen den Zähnen hervor: "Sei still sie sind da ." Aber auch Kikkawa sagte: "Kishi hat recht, sie ." Da schrie Hiroshi auf: "Sie sollen mich retten, mich ." Er verstummte wieder vor Schmerzen. Nosaka wollte sich aufrichten. Yuriko und Tomai schoben ihn hoch.
"Da - dort!" Aber der Kapitän sah nichts, er sackte wortlos zurück. Yuriko wurde klar, daß die beiden Boote nicht in die Riffe gelangen konnten. Es gab nur die Möglichkeit: Hubschrauber! Wenn welche in Sarannyl standen - und wenn sie bei dem Sturm starteten - und wenn der ÄLTERE BRUDER aushielt . Er horchte in sich hinein: Er dachte also auch schon: ÄLTERER BRUDER . Sen stieß einen Jubelschrei aus. "Sie kommen herein!" rief er. Das war, als die SEWS versuchte, am Räuberhauptmann vorbeizukommen. Mit krächzender Stimme sagte Kikkawa: "Das schaffen sie nicht - sie werden nicht .", da fuhr ihn Kishi an: "Sei still!" Ihre Hoffnung wurde über Bord gespült, in die Räuberklippen gelangte kein Boot. Sie starrten mit schmerzenden Augen hinüber, einer krampfte die Hände in das Wetterzeug des anderen. Nosaka erwachte wieder und tastete nach Yuriko, lallte: "Steuermann - übernimm den ÄLTEREN ." Er sank wieder in Bewußtlosigkeit. Die SEWS und die ISYLMETJEW drehten ab. Das war das Ende. Kishi lachte zornig auf. "Sie lassen uns ersaufen." In jäher Verzweiflung stieß er Hamai die Faust in die Seite: "Wirst deinen Jungen nicht zu sehen bekommen." Und dann schlang er beide Arme um den Maschinisten, schämte sich. Er hatte nicht grob sein und höhnen wollen, aber Mitleid konnte er schon gar nicht herausbringen. Yuriko schrie in den Sturm: "Sie werden uns nicht im Stich lassen - sie kommen wieder." Und verbissen: "Sie müssen wiederkommen."
Hiroshi sagte zweifelnd: "Nur - ob der ÄLTERE BRUDER solange aushält ." Der lag schon schräg, so daß sie sich nur schwer halten konnten. Unerbittlich zerrte ihn die Brandung tiefer und tiefer. "Ihr dürft den Mut nicht verlieren", beschwor sie Yuriko, rüttelte Kishi an den Schultern: "Begreif doch, sie kommen wieder, bestimmt - und so viel Kraft hat der ÄLTERE BRUDER immer noch." Seine Gewißheit, daß die sowjetischen Seenotstationen nicht aufgegeben hatten, hätte ihm das Funkgerät bestätigen können. Kusma Sapin versuchte, mit der DREIUNDZWANZIG Verbindung aufzunehmen. Yuriko aber hatte in der Aufregung vergessen, das Gerät auf Batterieempfang umzuschalten. Erst als die SEWS und die ISYLMETJEW längst außer Sicht waren und Yuriko das schweigende Funkgerät anstarrte, fiel ihm die Unterlassung ein. Aber nun hatte Sarannyl den Funkverkehr erst einmal aufgegeben. Mit einemmal begann Sen zu weinen. "Muß ich auch .", flüsterte er und drückte sich an den Schwager, preßte die steifen Hände an die Ohren, schrie: "Ich kann das nicht mehr hören!" Kishi riß ihn grob aus den Armen Hamais. "Ist nicht das letztemal, Junge. Es gibt noch mehr Stürme, wir sind bisher nicht ersoffen und werden es auch diesmal nicht tun. Wir sind alle zu jung dafür." Und er schrie Yuriko an: "Unternimm du etwas; du bist der Kapitän!" Als wenn Yuriko anderes tun konnte, als immer wieder zu beteuern: "Sie werden kommen ." Kikkawa stieß hervor: "Gestern, als du uns sagtest, der Kapitän wolle nach Kap Lopatka, da hätten wir ." Kishi knurrte: "Gestern - gestern gibt's nicht mehr."
Sobald Hauptmann Kusma Sapin Tuguschews Nachricht erhalten hatte, rief er nach Nikolai Domarow. Als der Hubschrauberpilot eintrat, deutete Sapin auf die Wettermeldungen, die auf seinem Tisch lagen. "Das sind die neuesten Daten; am Abend, spätestens in der Nacht, ist wieder mit Windstärke elf, zwölf zu rechnen - kannst du es wagen?" Domarow strich mit Daumen und Zeigefinger über sein dünnes Bärtchen, es waren nur schwarze Borsten. "Die Boote haben aufgeben müssen - warum hast du sie erst hinausgeschickt?" Sapin überhörte den freundschaftlichen Vorwurf. "Wir haben jetzt neun, acht bis neun. Über den Klippen wird es Wirbel geben. Du kannst zwei, vielleicht drei Mann holen, mußt zweimal fliegen, vielleicht dreimal." Er überlegte gewissenhaft. Nikolai Domarow richtete sich auf. "Wir müssen versuchen, Kusma, ob wir fliegen können, und wenn wir irgendwie fliegen können, werden wir sie auch holen." "Na denn ." Sapin streckte Domarow die Hand hin. "Und Juri Jeremin soll sich auch bereithalten." Er legte die Hand auf Domarows Schulter. "Und bleib in ständiger Verbindung mit mir." Domarow ging hinaus. Kondrat Schelistow, sein Monteur und Begleiter, und die Kollegen vom Hangar hatten den Hubschrauber schon startklar. Domarow unterrichtete Jeremin. "Sobald ich weiß, was ist, rufe ich dich ab. Das Barometer fällt schon wieder, viel Zeit haben wir nicht; in vier Stunden ist es Nacht."
Nikolai Domarow startete. Zuerst, als der Motor noch nicht voll arbeitete, drohte die Maschine abgetrieben zu werden. Domarow mußte schräg auffliegen, schräger als üblich. Senkrecht würde er gar nicht hochkommen. Dann, in zwanzig, dreißig Meter Höhe, schaukelte der Hubschrauber sich ein. Vorsichtig lavierte Domarow, veränderte die Anstellwinkel der Rotorblätter - steiler, flacher, steiler -, balancierte mit dem Heck die Sturmböen aus. Er drehte über dem Startplatz eine Runde, meldete Sapin: "Alles in Ordnung - ich gehe auf Kurs." Der Kommandant gab ihm die Erlaubnis. Domarow dachte an einen Lieblingssatz seines Fluglehrers: "Ein Hubschrauber gestattet alles, aber er entschuldigt keine Unterlassung." Er beherzigte diesen Satz, beobachtete den Motor, gab Gas, manövrierte, fing die Böen ab, hielt die Höhe, regulierte die Anstellwinkel der Rotorblätter, nahm Gas weg, steuerte mit dem Heck . Als er die SEWS und die ISYLMETJEW entdeckte, bat er Sapin: "Laß eines der Boote bei den Klippen, der Teufel weiß, was da geschieht." So bekam die SEWS wieder Befehl, Kurs auf das Räuberriff zu nehmen. Domarow hatte nun das Meer unter sich, die langen Reihen der Wogen mit ihren weißen Kämmen. Gleichmäßig, wie von einer Maschine ausgestoßen, kamen sie heran, eine wie die andere. Kusma Sapin wartete; eine Ewigkeit schien vergangen, als Domarow endlich sprach: "Ein ganz verdammter Mist, Kusma - ich versuche eben mal stillzustehen - in Ordnung ." Dann sagte er: "Die SEWS ist auch da ." Sapin wartete wieder, den Blick auf der Uhr. Jetzt mußte Domarow doch - ja, er kam: "Ich flieg die Klippen an. Der Japaner hängt da noch - der Rest davon ." Dann hörte
Sapin: "Geht nicht - verdammt!" Domarow knurrte nur, endlich meldete er: "Ja, ja, es geht doch, du mußt nur wollen, Heuschreckchen ." Und nach neuen Ewigkeiten hörte Sapin mit: "Jetzt die Leiter raus, Kondrat!" Das Rettungswerk hatte begonnen.
Die Männer auf dem ÄLTEREN BRUDER schrien es sich zu. Ein Hubschrauber! Lautlos glitt er heran. Die Brandung überdeckte sein Schnattern, der Sturm fraß es weg. Sie standen zusammengedrängt vor der Brücke, einigermaßen geschützt vor den Brechern. Und sie meinten, so dicht beisammen könnten sie sich gegenseitig wärmen; sie blieben jedoch kalt und steif bis ins Innere. Der ÄLTERE BRUDER schwankte unablässig. Es war, als wollte die Räuberbande ihn jetzt endgültig herabziehen. Beim vierten Versuch gelang es Domarow, die Maschine an der richtigen Stelle zum Stillstand zu bringen. Kondrat, sein Begreiter, ließ die Strickleiter hinaus. Eine feine Sache so eine Strickleiter - bei Windstille, dann sackt sie hinunter, den Leuten unten in die Hände, man braucht nur in den Sitz zu klettern. Bei Windstille - jetzt war Windstärke neun, fast zehn. Die Böen fegten jaulend vorbei, ließen die Leiter flattern, drehten sie zu einem Strick, hoben sie, wollten sie abreißen. Sapin hörte Domarow schimpfen: "Schweinerei - die Leiter liegt quer. Ich kann mich doch nicht aufs Deck setzen ." Und dann: "Jetzt schleppen sie noch einen aus der Brücke - scheint der Kapitän zu sein -, ich zähle elf Mann, zwölf . Schick Juri los, Kusma!" Als Kishi und Hamai endlich die Strickleiter zu fassen bekamen, fürchtete Yuriko einen Augenblick, Kishi würde sie nicht wieder loslassen. Er bestimmte: "Zuerst der
Kapitän!" Nosaka, der wohl wieder zu sich gekommen war, doch apathisch den Untergang seines ÄLTEREN BRUDER erlebte, war mit einemmal hellwach. "Ich - ich bleibe ." Er wehrte Yuriko und Kikkawa ab. "Ich nicht zuerst ihr ." Er schrie Yuriko an: "Ich bleibe an Bord!" Yuriko antwortete nicht. Sie trugen Nosaka hinaus. Der wollte wieder schreien, ein Brecher schüttete ihm den offenen Mund voll, er konnte nur noch gurgeln und hörte weit entfernt Kishis Stimme: "Wir bestimmen, wer zuerst rankommt!" Nosaka sackte zusammen. Widerstandslos ließ er sich im Sitz anbinden. Yuriko gab dem Piloten ein Zeichen. Die Leiter schwebte mit Nosaka hoch; sofort riß der Sturm sie an sich. Die fünfundsechzig Kilo Mensch - da konnte der Sturm nur jaulend auflachen: Weg damit, tanzen lassen, wirbeln, noch einen Schwall Schaum hinauf . Es fehlte nicht viel, und Nosaka wäre gegen die Aufbauten geschleudert worden; dann aber gewann der Hubschrauber Höhe, zog ihn vom Schiff weg. Domarow sagte zu Sapin: "Ich bekomme ihn nicht in die Maschine; er ist krank oder verletzt. Schick einen Sanitätswagen, Kusma! Wir müssen sie einzeln an Land holen - elf Mann noch." In Luftlinie waren es knapp sieben Seemeilen. Domarow versuchte mehrmals, Nosaka in die Maschine zu ziehen. Es war nicht möglich; der Sturm hätte ihn gegen den Hubschrauber geschleudert. So hing er vier, fünf Meter darunter und wurde geschaukelt und gedreht, wie er an Bord seines ÄLTEREN BRUDER noch nie geschaukelt und gedreht worden war. Da hatte er sich breitbeinig hinstellen und sich festklammern können - hier aber war
er hilflos. Von dem Schlag gegen die Brücke hatte er eine Gehirnerschütterung, die Schulter schmerzte furchtbar, der Arm war wie gelähmt. Land unter sich, ging Domarow langsam nieder. Der Sanitätswagen war noch nicht da. Kondrat Schelistow mußte aus der Maschine klettern, hangelte sich vorsichtig hinunter, löste Nosaka aus dem Sitz und legte ihn behutsam auf die Erde. Dann jagte aber auch schon der Sanitätswagen heran, dahinter kam Sapin mit einem Funkwagen. Minuten später wurde der Kapitän nach Sarannyl ins Krankenhaus gebracht.
Die Flüge mit den beiden Hubschraubern wurden immer schwieriger; der Sturm nahm wieder zu. Domarow und Jeremin mußten all ihre Flugkunst anwenden. Der Anflug war schon Schwerstarbeit, der Stillstand über dem ÄLTEREN BRUDER und die Aufnahme eines Mannes blieben jedesmal ein tollkühnes Unterfangen. Sie mußten so tief hinunter wie nur möglich, der Sturm hätte sonst die Leiter nicht an Bord sinken lassen. Immer wieder griffen die Männer vorbei, vom Sturm gestoßen, von Brechern und Wogen überwaschen. Als zweiter wurde Hamai in den Sitz gehoben. Kishi sagte: "Soll der wenigstens sein erstes Kind noch sehen wir kennen unsere ." Er wollte seine Gefühle nicht zeigen. Yuriko hätte lieber Hiroshi an Land geschickt; dessen Rippenprellung hatte sich verschlimmert, er keuchte nur noch. An Land hatte Sapin inzwischen von Hamai erfahren, daß es die DREIUNDZWANZIG war, mit Kapitän Nosaka, daß sie der NICHIRO GYOGYO LTD gehörte und in Abashiri beheimatet war. Kusma Sapin gab das nach Sarannyl durch. Petropawlowsk sollte verständigt werden
und Verbindung mit Abashiri aufnehmen. Als Takashi vom Hubschrauber Jeremins aufgenommen war und Domarow Kikkawa an Land brachte, blieben nur noch Yuriko und Kishi auf dem Wrack. Yuriko hatte das Schiffstagebuch und andere Papiere gebündelt. Kishi wollte noch Nosakas Shinto-Spiegel und das BonsaiGewächs aus der Kajüte holen. "Muß das sein?" fragte Yuriko, doch Kishi, vom Sturm geschüttelt, deutete über den Rest der DREIUNDZWANZIG. "Es wird keinen ÄLTEREN BRUDER mehr geben, Nakano." Yuriko mahnte: "Sieh dich vor!" Als Kishi dann wirklich Spiegel und Kiefer zusammengepackt hatte und an Deck kam, sackte der Hubschrauber eben herab. Kishi sagte: "Was ist los - die Leiter hast du allein festgehalten - und nun - wer bleibt - losen wir!" "Unsinn - du bist dran", bestimmte Yuriko. "Und du wie willst du ." Vor Yurikos Gesicht schwieg Kishi, griff nach der Leiter, und während er sich in den Sitz schob und Yuriko ihm das Kapitänsgepäck reichte, sagte er: "Schade ist's doch um den ÄLTEREN BRUDER, Nakano. Wenn du einen JÜNGEREN BRUDER fährst, komme ich zu dir." Da schwebte er schon, und ihn konnte der Sturm nun doch nicht so ungestüm schaukeln. Yuriko lehnte sich gegen die Brückenwand. Jetzt spürte er die Müdigkeit. Und die Kälte, die Nässe. Das Heulen des Sturmes schmerzte in den Ohren. Yuriko drückte den Packen Schiffsutensilien an die Brust. Die Brandungsbrecher spülten um seine Füße. Der Gischt stäubte Schleier aus Eisnadeln über sein Gesicht. Wenn der Hubschrauber nicht bald kam, konnte es sein, daß er einschlief . Er rannte den Kopf gegen die Brückenwand, daß der Schmerz ihn wachhalte.
Boris Domarow brachte den Hubschrauber das siebente Mal über dem Wrack zum Stehen, wortlos. Am Horizont begann es zu dunkeln. Die Strickleiter sank herab. Yuriko legte seinen Packen nieder. So lange hatten vier oder sechs Hände nach der Leiter greifen können, nun stand er hier unten allein. Der Hubschrauber stieg hoch, sackte wieder herunter. Yuriko faßte ins Leere, jetzt - ein Wasserschwall hieb ihm die Leiter von den ausgestreckten Fingerspitzen. Der Packen wurde über Bord geschwemmt. Yuriko wollte danach greifen - der ÄLTERE BRUDER bäumte sich auf - Yuriko warf es an die Reling - gerade noch, daß er sich festklammern konnte. Da blieb er liegen, steif. Wellen wuschen über ihn hin. Domarow sackte tiefer. Noch einen Meter. Die Leiter schleppte über Deck. Yuriko zwang sich hoch, riß die Arme vor, warf sich auf die Strickleiter. Ließ sie nicht wieder los. Mühsam zerrte er sich von Sprosse zu Sprosse, schob und wand sich in den Sitz. Der Strick zum Festbinden glitt aus seinen steifen Fingern. Er reckte sich, drehte und krümmte die Arme um die nächste Sprosse. Noch hatte er keinen richtigen Halt, da schwebte er schon davon. Domarow mußte eine jähe Fallböe ausgleichen und schnell aufsteigen. Nakano Yuriko schloß die Augen. Das unter sich, dieses Brodeln und Kochen und Schäumen vermochte er nicht mehr zu sehen. Wehrlos war er dem peitschenden, ihn wie einen Ball hin und her schleudernden Sturm preisgegeben, fror, zitterte. Die Zähne schlugen aufeinander. Er drohte aus dem Sitz zu gleiten - das war nackte, schreiende Angst ums Leben . Er zwang die willenlos werdenden Arme, sich wieder fest um die Stricke zu winden, die
schmerzend ins Fleisch schnitten. Und dann, nach ein oder zwei Minuten - irgendwann jedenfalls -, entdeckte er den tobenden Pazifik unter sich. So hatte er das Meer noch nicht gesehen, diese graue Weite, diese unentwegt immer von neuem hochgestemmten Wasserwände, diese weißwehenden Schaumfahnen und der nun verschwindende, kochende Hexenkessel der Räuberklippen . -
Als ein neuer stürmischer Morgen anbrach, gab es keinen ÄLTEREN BRUDER mehr zwischen den Klippen. Die Brandung hatte ihn auseinandergerissen. Die Männer der DREIUNDZWANZIG schliefen im Krankenhaus von Sarannyl. Als sie erwachten, hörten sie, daß ihre Familien in Abashiri schon benachrichtigt seien. Yuriko und Kishi, Hamai und Sen gingen, um den Hubschrauberpiloten zu danken.
Heft 322
Jack London Indianer in Not
Tagelange Märsche trennen Kid und Shorty von ihrem Lager Mucluc am Yukon, als sie auf einen Stamm halbverhungerter Indianer stoßen. Dutzende von ihnen Frauen, Kinder und Alte - sind schon tot, weil im Sommer der Lachs die Flüsse nicht heraufzog und im Winter die Rentiere aus dem Norden ausblieben. Während Shorty die Hungernden mit dem wenigen, was sie bei sich haben, am Leben hält, versucht Kid mit seinem Hundeschlitten in einer dramatischen Fahrt Hilfe herbeizuholen.