Zyklus der Nebelreiche
Band 12
Roman-Reihe von
Renate Steinbach Otto-Stabel-Str.2 67059 Ludwigshafen Alle Rechte vorb...
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Zyklus der Nebelreiche
Band 12
Roman-Reihe von
Renate Steinbach Otto-Stabel-Str.2 67059 Ludwigshafen Alle Rechte vorbehalten © 1986 - 1998
G
errys stand inmitten der gewölbten Halle seines Tempels und sah zu, wie immer mehr Priesterinnen und Priester dem Ruf zum heiligen Ritual des dunklen Gottes folgten. Seit fünfundzwanzig Jahren herrschte er nun über diesen Tempel als Falla. Damals, als er aus Amarra hierher kam, dienten zweiunddreissig Templer hier. Und nun herrschte er über eine Priesterschaft von mehr als fünfhundert Menschen, dazu kamen unzählige Tempelhelfer, Abhängige und Bewohner in den Siedlungen und Dörfern, die dem Tempel gehörten. Er war wahrhaft ein Mann der Macht. Er war jetzt Anfang der fünfzig und durfte sein Leben durchaus als erfüllt bezeichnen. Aber dies war nicht nur sein eigener Verdienst. Mit acht Jahren verlor er die Eltern und erlebte eine schwere, entbehrungsreiche Kindheit. Diese Jahre prägten ihn und vielleicht sah er deshalb auch jetzt noch, so viele Jahre danach, stets aus, als sei er eben von schwerer Krankheit genesen. Sein Körper war schlank, wirkte aber immer schwach, obwohl er durchaus über Ausdauer und auch Kraft verfügte. Sein Antlitz zeigte sich bleich und das helle, fast ins weiße übergehende Haar, in dem sich keine graue Strähne zeigte, unterstrich diesen Eindruck. Er träumte einst davon, seinem König als Gardist zu dienen und mit fünfundzwanzig Jahren erfüllte sich dieser Traum für wenige Wochen, in denen er sogar zum Adlatus des Königs aufstieg. Und dann begleitete er König Ariston auf einer Reise nach Amarra. Dort begegnete er dem Than und diese Begegnung veränderte sein Leben. Der Than Nymardos war ein Jahr jünger als er. Gerrys
mochte ihn sofort und ergab sich ganz der Führung dieses Mannes, der ihn auf sein Inselreich holte, wo er in kurzer Zeit den Kraftebenen der Götter begegnete und zwei Jahre später als Raakis Falla nach Nodher zurück kehrte. Er blieb Nymardos verbunden, wurde sein Pala, sein innigster Freund genannt und trug diese Freundschaft all die Jahre durch, obwohl ihn die Macht des andern oft erschreckte. Der Than galt als der stärkste inkarnierte Geist. Er herrschte nicht nur über Amarra, sondern auch über die sieben Beherrscher der Reiche. Vor drei Jahren wurde ein anderer Than erkannt. Dieser war Gerrys Tempelsohn, in Trance gezeugt und ohne karmische Bindung ins Leben gekommen. Er hieß Seymas, war nun vierundzwanzig Jahr alt. Sein heiteres Wesen gewann ihm überall Freunde. Nymardos, der seine Berufung früh erkannte und auf seinen Weg achtete, war ihm mehr als nur ein väterlichen Freund. Seymas gab ihm den Titel Pala des Than und erhielt ihm so unbegrenzte Macht, ohne sie mit Pflicht zu paaren. Nymardos lebte nun in Raakis Tempel in Nodher. Eben betrat auch er die heilige Halle. Sein dunkler Blick ruhte kurz auf Gerrys, ehe er am Rand der in den Boden eingelassenen Granatsteine, die die Form eines Pentagramms annahmen, sich zwischen den anderen Priestern einreihte. Es war ein inniger Blick voll Liebe. Ihre Freundschaft duldete jede Nähe und Einheit. Gerrys lächelte glücklich. In der prachtvollen schwarzen, von metallischen Fäden durchwobenen Tunika seines Amtes sah der Falla noch zerbrechlicher aus. Aber niemand hier zweifelte an seiner geistigen Kraft. Gerrys besaß alle sechs Weihen, die es gab. Jemand schloß die Tür zur Halle. Er trat nun selbst an den Rand des Pentagrammes. Seine Hand schwang die rituelle kurze Peitsche, deren fünf Riemen einen klatschenden Laut von sich gaben. Die Priesterschaft stimmte sich darin ein. In dieser Stunde vor der
Tageswende, die an jedem zweiten Tag Raaki huldigte, riefen sie die Kraft ihres Gottes in den hohen Bau. Über den Granaten waren in der Decke Flammende Kristalle eingelassen. Dieses seltene Sumpfmineral aus dem Königreich Moras wirkte wie milchiges Glas, bis es geweihte Lichtpriesterinnen auf Amarra erweckten. Dann entströmte den Kristallen Licht in genügendem Maß, um die ganze Halle in der Nacht zu erleuchten. Im Klang der Peitschen intensivierte dieses Licht. Ein Kraftfeld entstand, das alle Anwesenden spüren konnten. Schon fast erreichte das Rituals seinen Höhepunkt, als sich die breite Tür etwas öffnete und ein Priester sich ins Innere der Halle schob. Es war nicht üblich, zu einem schon begonnenen Ritual zu kommen. Wer sich verspätete, blieb draußen und verzichtete auf die Teilnahme. Gerrys hob etwas unwillig den Kopf. Vor der Tür stand ein siebenundzwanzigjähriger Mann, den er gut kannte, den er hier aber gewiß nicht erwartete. Sein Name war Ilkonys. Er war Nodhers Erbe, Aristons Tempelsohn, der seit einem halben Jahr in Nodher an der Seite des Vaters herrschte. Er trug die blaue Tunika des Gottes Tabalke und wies sich damit als eingeführt in die erste Weihe aus. Sein Atem ging heftig. Er mußte den Säulengang, der den Tempel mehrfach umwand, bis in dieses fünfte Stockwerk gelaufen sein. Gerrys nickte dem jungen Freund unmerklich zu. Doch diese Geste bedeutete auch den umstehenden Priestern, daß der Falla sein Verweilen erlaubte. Sie führten das Ritual fort. Auf dem Höhepunkt der Kraft trat Gerrys in die exakte Mitte des Pentagrammes. Die Flammenden Kristalle an der Decke leuchteten nun hell auf; ihr Licht traf auf die machtvoll glühenden Granaten am Boden und dann vereinten sich diese Steine in einem dunkelroten Licht, das wie ein Vorhang den Falla vor allen Blicken verbarg.
Nur wenige vermochten es, dieses Licht in solcher Intensität zu rufen. Es besaß tödliche Kraft für jeden, der es nun durchdringen wollte. Gerrys spürte den Kraftstrom wie eine Stärkung und Erbauung. Er war seinem Gott ganz hingegeben. Nach einiger Zeit erst trat er einen knappen Schritt zurück. Der Lichtvorhang erlosch. "Raaki sei mit euch," endete er das Ritual. "Der dunkle Gott des Todes mahnt euch alle, sterben zu lassen, was von göttlichem Licht zu trennen vermag." Sie spürten, wie das gewobene Kraftfeld langsam verebbte. Wenig später wandten sich die ersten zum Gehen. Doch da trat Ilkonys einen halben Schritt nach vorn. "Erhellt meine Dunkelheit, Falla," bat er mit lauter Stimme. Es war üblich in den Tempeln, daß im Anschluß an die Rituale Glieder der Priesterschaft öffentlich Verfehlungen bekannten und um Buße oder Vergebung baten. Nodhers Erbe bat um diesen Dienst. Gerrys warf ihm einen erstaunten Blick zu. "Erleichtere deine Seele, Ilkonys," antwortete er aber mit den vorgeschriebenen Worten. Der Prinz trat zu ihm in den Fünfstern, von dem nun keine Gefahr mehr ausging. Er kreuzte der Sitte gemäß die Arme vor der Brust, kniete nieder und griff dann, was nicht mehr seine Pflicht war, nach dem Saum von Gerrys' Gewand und küßte ihn. "Ich habe gefehlt, Falla, in mir herrscht Dunkelheit," gestand Ilkonys, dessen Stimme ein wenig zitterte. "Ich befahl meinem Bruder Wege, die er nicht gehen wollte und erhob mich über sein Ahnen von Gefahr, so daß ich ihn in Leiden schickte. Durch meinen egoistischen Hochmut überwirft sich Nodher mit Sion und beschwört großes Unheil herauf. König Ariston..."
Gerrys bleib reglos. Dies war nicht die Stunde für Politik, dies war die Stunde seines Gottes. "Sprich nur von deiner Dunkelheit, Sohn," mahnte er und gab Nodhers Erben damit die Anrede seines Amtes. Ilkonys hielt weiter den Kopf gesenkt, als er fortfuhr: "Es ist mein Versagen, daß mein Bruder Willar leidet und dies ist meine Schuld. Auch war es Unrecht, ein begonnenes Ritual zu stören und mich nicht in Geduld zu üben." "Sein Leiden dauert an?" "Ja, Falla." Gerrys spürte viele Fragen in sich auftauchen, doch diese mußten warten und schweigen. "Raaki ist der gütigste der Götter," sagte er darum, "es bewirkt keine Dunkelheit, sich ihm zu nahen, auch nicht zu einer falschen Zeit. Doch das Leiden deines Bruders mußt du selbst enden, ehe das Licht wieder in dir wirken kann. Erhebe dich zu gehorsamem Tun, Ilkonys, auf daß das Licht in dir sei." Ilkonys schloß für einen Moment die Augen. Er empfing hier keine Vergebung, sondern wurde aufgefordert, die Auswirkung seines Handels zuerst zu ändern. Der Regel entsprechend griff er nach Gerrys' Hand, küßte sie und trat danach rückwärts gehend aus der Hallenmitte. Zwei andere Priester baten den Falla nun um denselben Dienst, danach erst leerte sich die Halle in ruhigem Schweigen. Auch Ilkonys wollte gehen, doch Nymardos trat an seine Seite und hielt ihn mit einer Geste zurück. Kaum, daß sich nur noch sie drei in der Halle befanden, lief Ilkonys auf den Falla zu und warf sich in dessen Arme. Er
klammerte sich förmlich an dem Freund fest. Gerrys spürte seine Verzweiflung. Sacht strich er dem Prinzen über das braune Haar, unmerklich verströmte er von seiner Ruhe auf ihn und wirkte begütigend auf seinen Geist ein. Schließlich griff Nymardos nach den Schultern des Jüngeren und löste die beiden voneinander. Ilkonys sah ihn unglücklich an. "Ich habe alles falsch gemacht, Herr," sagte er leise. Nymardos lächelte sacht. Nodhers Erbe war nach dem Gesetz eigentlich sein Herr, da er ja in dessen Land lebte. Doch als Pala des Than hob ihn Seymas über jeden Machtanspruch hinaus. "Wenn du uns schlug er ruhig vor.
erzählen
willst,
gehen wir hinunter,"
Ilkonys erlaubte ihm diese Anrede, als er aus Amarra nach Nodher kam und er brauchte jetzt gewiß auch keine Verehrung, sondern die Zuwendung von Freunden. Der Prinz nickte ergeben. Unten im Tempel lagen die Privatgemächer des Falla. Hier saßen sie dann beisammen, doch es dauerte lange, ehe Ilkonys das Wort ergriff. Schweigend starrte er solange vor sich hin, bis ihm Nymardos sein Gehen anbot, damit er allein mit Gerrys reden konnte. "Ich schäme mich vor euch, Herr, und auch vor Gerrys," sagte Ilkonys da rasch, "aber ich bin trotzdem froh, daß ich mit euch beiden reden darf. Bitte bleibt hier." Nymardos nickte nur. Er schenkte etwas Wein in Achat-Pokale und reichte einen davon dem Prinzen. Ilkonys trank. Langsam wurde er nun auch ruhiger. Und endlich erzählte er: "Ich war sehr glücklich, als ich nach meiner Heimkehr in die
Burg in Willar einen Freund fand. Mein kleiner Bruder hielt in allem zu mir, aber er tat nicht so, als sei er mein Diener, obwohl das ja eigentlich seine Pflicht wäre. Manchmal stritten wir sogar und dann konnte er richtig stur sein. Das gefiel mir. Diener habe ich ja genug, aber nur einen Bruder." "Er war vor wenigen Wochen einige Zeit mein Gast," erinnerte sich Gerrys, "und er schien dich ebenso zu mögen, wie du ihn wohl magst." "Ich wollte ihm auch nie schaden," versicherte Ilkonys rasch. "Es gab in letzter Zeit einige Grenzzwischenfälle in der Nähe des Tempels des Friedens. Wegelagerer aus Sion haben unsere Siedlungen überfallen und geplündert. Eigentlich war es eine große Ehre für Willar, als ich ihn mit einer Botschaft zu Sions König Thylenon schickte. So etwas vertraut man sonst bestenfalls einem Pecha an. Aber ich dachte, mein Bruder ist mehr als ein Landesfürst. Er wollte nicht gehen. Er hatte keinen Grund zu einer Weigerung, es war mehr ein Ahnen von Gefahr oder so. Da bin ich herrisch geworden und er gehorchte." "Was geschah weiter?" erkundigte sich Gerrys angespannt. "Willar ritt nach Sion und kam nicht zurück. Wir haben Nachforschungen angestellt und erfahren, daß er wegen eines Mordes verurteilt und auf die Insel der Läuterung verschifft wurde." Gerrys erschrak. Nymardos verengte schweigend die Augen, schien sonst aber reglos zu sein. Er mochte Willar, seit er ihm bei einem Besuch auf Burg Nodher vor wenigen Jahren begegnete. Nicht zuletzt sein Wirken war der Ursprung der keimenden Freundschaft zwischen den Brüdern. "Verurteilt von Thylenon?" forschte Gerrys.
"Nein, von einem Pecha in Sion. Sie behaupten, er habe die Tochter des Pecha mißbraucht und getötet." Ilkonys sah Gerrys mit wehem Blick an. "Das würde Willar nie tun. Er ist viel zu sanft, um einer Frau Gewalt anzutun. Vater rief die Armeen zusammen, um sie nach Sion zu führen. Jetzt wurde er aber nach Amarra gerufen und mußte sich auf die Reise begeben. Die Grenzen sind von Soldaten befestigt, aber es wird nichts geschehen, ehe Vater nicht zurück ist. Zumindest solange nicht, wie ich mich von der Grenze fernhalte und keinen entsprechenden Befehl gebe." Nymardos erhob sich nachdenklich, Er trat zu dem großen, muskovit-verglasten Fenster, das in dieser warmen Nacht nicht geschlossen wurde. Sein Blick hing irgendwo in den tief wallenden Nebeln, die das Land einhüllten und alle Feuchtigkeit brachten, die benötigt wurde. Sein Geist aber durcheilte alle Entfernungen. Er suchte Seymas. Der junge Freund, der als mächtigster Mann der Reiche regierte, hörte meist sehr schnell auf seinen geistigen Ruf. Schon nach kurzer Zeit drehte sich Nymardos wieder um. Ein sanftes Lächeln umspielte seinen Mund, als er wieder Platz nahm. "Ich weiß, daß ich an allem Schuld bin, obwohl das niemand sagt," fuhr Ilkonys leise fort. "Ich hatte eben angefangen, über die zweite Weihe nachzudenken und zu überlegen, ob ich mich wieder unter Leitung begeben will. Ich fühle mich so schuldig, daß ich mich den Göttern nicht nahen mag. Und ich dachte, ich muß jetzt in einen Tempel und mich demütigen." Er sah Gerrys an. "Hier wurde ich geleitet, hier habe ich gelernt, die Götter zu lieben. Ich hoffte auf Vergebung. Ich bin im Dunkeln geritten, als ich merkte, daß ich es zum Ritual schaffen kann. Und dann kam ich doch zu spät. Aber es sollte Raakis Stunde sein, in der ich meine Dunkelheit bekenne." Seine Augen schimmerten nun feucht. "Und trotzdem ist kein Licht in mir. Was soll ich nur tun?" "Das Leiden deines Bruders enden," mahnte Gerrys. "Sprich mit Thylenon. Wen Sion verdammt, kann Sion auch
retten." Nymardos schüttelte den Kopf. "Thylenon befindet sich auf dem Weg nach Amarra. Auch er wurde gerufen," erklärte er. Ilkonys hob den Blick. Jetzt lag so etwas wie Hoffnung darin. "Seymas wird keinen Krieg erlauben," murmelte er. "Hoffen wir, daß Amarra ihn verhindern kann," erwiderte Nymardos mit ernster Stimme. Ilkonys umklammerte den leeren Pokal. Es arbeitete sichtlich in ihm. Schließlich sah er den Falla an. "Gerrys, hilfst du mir?" "Wobei?" "Ich habe Willar in diese Lage gebracht. Ich muß ihm jetzt auch helfen. Ich werde zur Insel der Läuterung reisen und ihn befreien." Die Stimme des Prinzen klang nun, da er einen Entschluß faßte, sehr fest und selbstbewußt. Es war ihm anzumerken, daß er nicht bereit war, sich umstimmen zu lassen. "Ein weiter Weg in eine gefährliche Gegend," sagte Gerrys langsam. "Ich muß Amarra um Erlaubnis zu dieser Reise bitten." Ilkonys erhob sich rasch, kniete vor Gerrys nieder und ergriff dessen Hände. Dies war keine demütige, sondern sehr vertrauensvolle Geste. "Wir
haben
manches
Abenteuer zusammen bestanden,"
erinnerte er sich und lächelte jetzt sogar ein wenig. "Ich habe mich stets sicher gefühlt, wenn du in meiner Nähe warst. Aber du hast recht, die Insel ist gefährlich und ich will dich nicht auch noch in Gefahr bringen. Meine Bitte war töricht. Laß mich einen Tag hier ausruhen, Gerrys. Dann reite ich weiter." "Allein?" wollte Nymardos wissen. "Meine Garde ist bei mir," erwiderte Ilkonys, zu ihm aufsehend. "Ein Tempelhelfer war so freundlich, ihr ein Gasthaus zu weisen." Der Pala des Than lächelte auf unergründliche Weise. Es gefiel ihm sehr, daß Nodhers Erbe den Falla nicht gefährden wollte. "Gerrys könnte jetzt ohnehin nicht mit dir kommen," entdeckte er mit sanfter Stimme. "Er erwartet hohen Besuch." Gerrys sah fragend auf. "Seymas wird bald hier sein. Er möchte, daß Ilkonys auf ihn wartet." "Wann kommt er?" wollte Gerrys wissen, der unwillkürlich Ilkonys' Hände etwas fester hielt. Nymardos trank etwas Wein, ehe er antwortete: "Morgen oder übermorgen oder irgendwann. So genau ließ er mich das nicht wissen, Gerrys. Er scheint in Wyla zu sein." "Seit wann?" Nymardos zuckte kurz mit den Schultern. Er wußte es nicht. Er wunderte sich selbst etwas darüber, daß der junge Than auf Reisen ging. Aber er hinterfragte dessen Tun nicht. Er lächelte kurz. Als er als Than regierte, hätte er auch niemals eine Hinterfragung seines Tuns geduldet.
"Ich hoffe, ich muß nicht zu lange warten," murmelte Ilkonys, der genau wußte, daß ein solches Gebot keine Weigerung erlaubte. Er gähnte verhalten. Da hob ihn Gerrys auf, schob ihn in sein eigenes Schlafgemach und gebot ihm Ruhe. Nachdem er die Tür schloß, lächelte er Nymardos an. Der Freund legte den Arm um seine Seite. Da Gerrys' Lager belegt war, wollte er gern das eigene mit ihm teilen und jede Stunde vertrauter Nähe genießen.
W
ylas Wälder glichen einem dichten Dschungel, bevölkert von großen Katzen, gewaltigen Schlangen und mächtigen Scrofa-Schweinen, die hin und wieder das Opfer des Mancomac, eines übergroßen Bären wurden. Aasfresser durchstreiften die dunkelgrüne Welt, in der manche Pflanze wuchs, die es in anderen Reichen nicht gab. In diesem Reich herrschten die Frauen. Der Wert eines Mannes bestand lediglich in seinen künstlerischen Fähigkeiten; seine Aufgabe war es, der Mutter, Schwester oder Gefährtin dienstbar zu sein. Ein autonomes Leben war ihm nicht erlaubt. Der junge Mann, der hier in enger, fest gearbeiteter Kleidung durch das dichte Unterholz streifte, war in diesem Land eine Unmöglichkeit. Keine Frau weilte bei ihm, die die Verantwortung für ihn übernahm. Er pflückte eine große, gelbe Frucht von einem Busch, aß langsam von ihr und lächelte, als mit schrillem Schrei in seiner Nähe ein Vogel aufflog. Das goldblonde, lockige Haar trug er offen, was ihn als Mann der Macht auswies. Er war schon einmal hier gewesen, damals noch ein Knabe, der mit seinem heiteren Charme die Herzen der Frauen leicht gewann. Nun war er vierundzwanzig Jahre alt und besaß noch immer seine Heiterkeit, sein klares Lachen und seinen Sinn für Schelmereien. Aber seltener erlaubte er sich, dies zu zeigen. Sie sagten, er sei der stärkste inkarnierte Geist und legten ihm die Verantwortung auf für die Einheit der Reiche und den Frieden
zwischen den Ländern. Seymas beobachtete voll Interesse das Liebesspiel zweier grüner, fast handgroßer Käfer, die sich auf einem vermodernden Baumstumpf begegneten. Der Than der Reiche begab sich im Allgemeinen nicht auf Reisen, doch Seymas hielt sich nicht in allem an die Sitten. Sein Segler brachte ihn nahe der Burg Wylas in dieses Reich, wo er mit der Herrscherin Santysa sprach. Er mochte diese verbittert wirkende Frau nicht, schon damals als Knabe gewann sie nicht seine Sympathien. Sie versuchte immer wieder, Wylas Sitten auch in den Tempeln des Reiches einzuführen und dort die männliche Priesterschaft zu bedrängen. Es gelang Seymas mühelos, die Frauen in der Burg auf seine Seite zu bringen und so gab Santysa schließlich seinen Forderungen nach. Er verweilte nicht, sondern begab sich erneut an Bord, um dann, einer plötzlichen Eingebung folgend, im Mündungsgebiet des Tiath wiederum an Land zu gehen. Sein Segler erwartete ihn in Nurs, der Hafenstadt nahe des Tylt in Nodher. Nun genoß er seinen einsamen Marsch durch den Dschungel und die faszinierende Wildheit, die er hier fand. Sein Land Amarra verwaltete Caryll, der schon zu Nymardos' Zeiten diesen Dienst versah. Er mußte nicht sorgen, wenn er länger hier verweilte. Auf Caryll war in allen Dingen Verlaß. Und ihm zur Seite stand Thyrian. Seymas lächelte. Der Freund aus Sarai, den man für kurze Zeit zunächst für den neuen Than hielt, war durchaus in der Lage, ihm jede Arbeit abzunehmen. Es gab keinen Grund zur Eile. Das geistige Wirken, das sein Amt in erster Linie bestimmte, konnte er von jedem Ort der Reiche aus vollbringen. Die Nebel sanken langsam. Seymas lagerte sich auf dichtem Moospolster nieder, griff in eine Falte seiner Kleidung und entnahm ihr eine geschnitzte Flöte. Dieses Instrument erhielten Kinder von ihren Eltern, es war nichts für Musikanten oder Künstler. Er hob die Flöte an den Mund und blies eine kleine, heitere Melodie. Dann lachte er
leise auf. Es war gut, daß ihn seine Priesterschaft jetzt nicht sehen konnte. Irgendwo fauchte eine der gefährlichen Großkatzen. Seymas lauschte kurz. Er kannte keine Furcht. Diese Tiere zogen leichtere Beute vor. Doch er verspürte nun auch die feine Ausstrahlung der Angst. Es mußten Menschen in der Nähe sein. Seymas hob die Kinderflöte erneut und entlockte ihr sanfte, fröhliche Melodien. Es dauerte nicht lange, bis zwischen zwei mächtigen Pejuk-Bäumen eine Bewegung sichtbar wurde. Seymas sah kurz auf, aber er spielte weiter. Zwei Kinder traten Hand in Hand aus dem Dickicht. Erst, als die beiden ganz nahe bei ihm standen, ließ er die Flöte sinken und lächelte ihnen ruhig zu. "Ich bin Salina," sagte das Mädchen leise, "und dies ist mein Bruder Lycaron. Wer ist für dich verantwortlich?" In Wyla würde keine Frau einem Mann eine andere Anrede als diese geben. Seymas lächelte noch immer. Die Kinder waren Zwillinge, um die fünf Jahre alt. Das schwarze Haar jeweils hielt ein dünner Wollfaden. Sie trugen knielange Tunikas aus grauem, festen Stoff, die jedoch verschmutzt und an manchen Stellen auch eingerissen waren. Sie schienen verängstigt und hungrig zu sein. "Ich bin für mich selbst verantwortlich," erwiderte Seymas mit ruhiger Stimme. Er nannte seinen Namen, nicht seinen Rang, und fragte nach ihrem Weg. Salina sah ihn mit großen Augen an. Sie war noch ein Kind, trotzdem durfte ein Mann sie nicht so einfach mit Fragen bedrängen. Die große Katze fauchte im Unterholz erneut. Seymas lachte heiter. "Ich müßt euch nicht fürchten," versprach er, während er sich erhob und gewandt den Pejuk hinaufkletterte, wo er die großen, säuerlichen, wohlschmeckenden Früchte brach
und den Kindern zuwarf. Er sprang hinab ins Moos, nahm sich selbst eine Frucht und lagerte sich wieder nieder. Die Kinder standen noch unbeweglich. "Habt ihr keinen Hunger?" erkundigte er sich einladend. Da ließ der Junge die Schwester los, nahm sich eine Frucht und aß gierig. Salina tat es ihm langsam nach. Lycaron warf Seymas einen dankbaren Blick zu, setzte sich dann neben den fremden Mann und hoffte nur, daß die große Katze nicht angreifen würde. Seymas stellte keine Fragen mehr. Er wartete, bis die Kinder gesättigt waren, zeigte Lycaron dann die Flöte und wies ihn in das Spiel ein. Mühelos gewann er das Vertrauen des Jungen, der sich bald sehr sicher an seiner Seite fühlte. Sobald seine Angst verebbte, war es leicht für Seymas, den Geist den Knaben unmerklich zu berühren und viel über sein Leben zu erfahren. Salina hielt sich einige Schritte abseits und beobachtete alles voll Mißtrauen. Die Mutter der Kinder war vor wenigen Tagen gestorben und sie sollten nun ihrer Tante anbefohlen sein. Nach Recht und Sitte in Wyla wartete auf Salina ein angenehmes Leben, doch Lycaron sollte arbeiten und der Tante in allem dienstbar sein. Schon am ersten Tag schlug sie den Knaben und machte dem Mädchen heftige Vorwürfe, weil es den Bruder nicht wie einen Sklaven behandelte. Da liefen die Kinder fort. Sie wollten zum Stillen See. In der Gegend lebten nicht viele Menschen und sie hofften, sich dort allein durchschlagen zu können. Seymas erkannte ihre Hoffnungen und Ängste. Er sah Salina an, als er sagte: "Ihr habt euch verlaufen. Der Stille See liegt weit entfernt."
"Du kennst ihn?" wollte das Mädchen wissen und kam nun bis auf zwei Schritte näher. "Ich war einmal dort," gab Seymas zu, "aber das ist sehr lange her. Damals lebte die Tochter der Göttin am See." Salinas Augen leuchteten auf. Tochter der Göttin, das war in Wyla ein sehr hoher Titel, den eigentlich keine Frau mehr trug. In vergangenen Zeiten bezeichnete er eine weise Frau, deren magisches Wissen als beeindruckend galt. "Dann zeige uns morgen den Weg," bestimmte Salina mit trotziger Stimme. Seymas lachte leise. "Ich bin nicht Wylas Mann," erwiderte er freundlich, "ich gehorche nur meinem Willen. Aber ich kann euch zur Tochter der Göttin bringen." Vor nunmehr fünfzehn Jahren gab der Than Nymardos am Stillen See Erynia diesen Titel. Heute lebte sie nahe des Schwarzen Tempels. Die Liebe zu ihrem Bruder Gerrys, die damals entstand, währte noch immer. Salina warf einen langen und traurigen Blick auf Lycaron, ehe sie den Kopf schüttelte. Es war kein Gewinn, mit dem Bruder zu einer anderen Frau Wylas zu gehen. Niemand sollte ihn mehr schlagen oder auch nur demütigen dürfen. Seymas sah ihren Kummer. Als er nun nach ihrer Hand griff, zuckte sie zwar zusammen, doch sie wehrte ihn nicht ab, als er sie neben sich ins Moos zog. "Seid ohne Furcht," bat er die Kinder, "niemand wird euch bedrohen. Schlaft beruhigt, ich wache über euch." "Ich muß aufpassen," murmelte Salina unruhig.
In Wyla vertrauten Frauen ihr Leben nicht den Männern an. Seymas begriff, daß die Kleine in den Tagen ihrer Flucht wirklich über den Bruder wachte und völlig übermüdet war. Sie wollte auch nun wachen, doch der Schlaf übermannte das Kind. Noch vor Lycaron kamen die Träume zu ihr. Es waren unruhige Träume der Furcht. Seymas wirkte still auf sie ein, bis sie sich beruhigte und endlich mit leisem Seufzer entspannte. Als die Kinder erwachten, hatte er schon Nüsse und Früchte besorgt und ihnen ein Mahl bereitet. Ein schmaler Bach stillte ihren Durst. Hier konnten sie sich auch waschen und ihre Kleidung etwas reinigen. "Hier ist meine Karte," sagte Seymas dann ruhig und reichte Salina eine Schrift, "mit ihrer Hilfe findest du den Stillen See." "Wo geht ihr hin?" wollte Lycaron leise wissen, der sich davor fürchtete, wieder mit der Schwester allein durch das Land zu fliehen. Seymas lächelte ihn an. "Bis zum Abend habe ich Wylas Grenze erreicht und gehe nach Nodher," erwiderte er freundlich. "Ich weiß dort einen Platz, wo ihr beide leben könnt und euch niemand bedrängen wird." "Was für ein Platz?" forschte Salina nun aufmerksam, während sie die Karte unruhig in den Händen drehte. "Ein großer Tempel, der Raaki geweiht ist," erklärte Seymas. "Freunde von mir leben dort, die gern für euch sorgen werden." "Wir sind keine Priesterinnen," murmelte Salina.
"In einem Tempel leben nicht nur Priester," belehrte sie Seymas mit ruhiger Stimme. "Dort ist Raum für viele Menschen, auch für viele Kinder. Sie lernen nach ihrer Neigung und ihr Spielen erfreut jeden, der zusieht. Als Kind war ich einmal dort, es hat mir gut gefallen. Aber in Nodher beherrschen die Frauen die Männer nicht." "Dafür ist es umgekehrt," vermutete Lycaron, dem diese Aussicht nicht gefiel. "Nein, das ist es nicht," widersprach Seymas sanft. "Menschen sollen einander nicht beherrschen, sondern Gefährten und Freunde sein." "Was tun sie dort mit Lycaron?" wollte Salina langsam wissen. Seymas erzählte den Kindern vom Tempel, von seinen Kinderhäusern, von den Lehrgruppen, den Sitten dort und den Spielen. Weder Salina noch Lycaron gefiel seine Beschreibung. Er lachte leise. Dann erzählte er von Rhagan. Dieser wahre Hüne von einem Mann wurde in Thara als Sklave geboren und lebte nun, seit Jahren frei, als Helfer im Schwarzen Tempel. Seine Gemahlin Shuny war Priesterin, klein und zart und sie liebte ihn bedingungslos. Seymas erzählte von den Kindern der beiden, von ihrem Leben. Es war erstaunlich, wieviel er von diesen Menschen wußte, die er doch seit vielen Jahren nicht mehr sah und die er doch nie aus den Augen verlor. "Ich glaube, Rhagan ist nett," stellte Lycaron endlich fest und sah dabei zögernd seine Schwester an. "Shuny scheint eine kluge Frau zu sein," vermutete Salina. "Wenn wir mit dir gehen, müssen wir dann dort bleiben?" Seymas versprach ihnen, daß hieraus keine Verpflichtung für sie erwuchs und da gab Salina ihren Widerstand auf. Sie
war ein kleines Mädchen und im Grunde sehr froh, daß der junge Mann sie nicht allein ließ, sondern mit ihrem Bruder durch Wyla führte und ihren die Aussicht auf einen Platz vermittelte, wo sie bleiben konnten. Als sie am Abend aus dem dichten Wald traten, der Wylas Grenze bildete, kannte Salina keine Vorsicht und keine Vorbehalte mehr. Wie Lycaron, so schloß auch sie sich in aller Offenheit Seymas an und vertraute darauf, daß der heitere Flötenspieler ihnen nichts Übles wollte.
I
lkonys war sehr verlegen, als Gerrys ihn am frühen Morgen weckte, hatte er doch das Gemach des Falla belegt. Doch Gerrys überging dies, kleidete sich gelassen für den Tag um und lud den Prinzen zum gemeinsamen Frühmahl. Nodhers Erbe streifte danach in der einfachen braunen Tunika, die er erhielt, durch den weiten Tempelgarten. In Raakis Tempel war es nicht üblich, daß sich die Menschen ihrem Stand gemäß kleideten. Man trug, was bequem war und gefiel. Im Grunde weilte Ilkonys gern hier, auch wenn ihn nun eine tiefe innere Unruhe auf Reisen rief. Hier erhielt er Leitung auf dem Weg zur Priesterschaft. Eineinhalb Jahre lebte er in diesem Tempel und das lag schon fast ein ganzes Jahr zurück. Doch er kannte die Menschen noch und fühlte sich heimisch. Als der sechs Jahre jüngere Bruder vor einigen Wochen als Gast den Tempel aufsuchte, begleitete er ihn nicht. Er wußte, daß Willar versuchte, sein Priestertum zu verstehen und überdies hoffte, einige Stunden mit Nymardos verbringen zu dürfen. Manchmal war es besser, den Bruder allein gehen zu lassen. Ilkonys schaute mit verkniffenem Gesicht einen breiten, gepflegten Weg entlang. Neben ihm erklang fröhliches Lachen. "Tibra wohnt nicht chen neben ihm.
mehr dort draußen," sagte das Mäd-
Er wandte sich ihr zu. Cyprina schaute ihn ohne jede Scheu an. Er war Nodhers Herr und damit auch ihr Gebieter, doch
sie war Gerrys' Tochter und während der Zeit seines Aufenthaltes hier verbrachten sie manche Stunde zusammen. Cyprina war nun siebzehn Jahre alt und wirklich hübsch. Ihr goldbraunes Haar hielt sie zwar gebunden, doch manche vorwitzige Strähne löste sich und gab ihr ein fast kindliches Aussehen. "Muß ich mich verneigen?" fragte sie, nachdem Ilkonys schwieg. "Nicht hier," wehrte er hastig ab, "im Tempel bin ich nur Priester, kein Herr. Wohin ging Tibra?" "Als er vor einem halben Jahr mit dem Baby hier ankam, gab ihm Vater ein größeres Haus," erwiderte Cyprina und deutete in Richtung des Tylt. "Es steht da drüben, dort, wo die Molbäume wachsen." Ilkonys folgte ihrer Hand mit dem Blick, nickte schweigend und schlug mit ihr eine andere Richtung ein. Tibra war Magier, vermutlich einer der Mächtigsten, die es gab. Als Ariston die Magier verfolgen ließ, stellte sich Ilkonys gegen seinen Vater und beschützte ihn. Sie waren fast Freunde. Gerrys' Schwester Erynia war Tibras Gefährtin. In der Zeit, als Ilkonys als Herrscher nach Nodher kam, fanden die beiden einen Waisenknaben und anerkannten den Säugling als ihr Kind. Nach dem geltenden Recht gehörte der kleine Harkym nun zu ihnen. Bis dahin lebten sowohl Tibra als auch Erynia eine gute Stunde entfernt vom Tempel getrennt in kleinen Häusern. Aber nun bildeten sie eine Familie und das war wohl der Grund, weshalb sie umzogen. Gerrys liebte Tibra und auch Nymardos schätzte die Freundschaft dieses Mannes. Die verhaltene Feindschaft, die es im Allgemeinen zwischen Priesterschaft und Magiertum gab, hatte hier keinen Bestand. Als Ilkonys nach Nodher kam, wurde er von einem halbwüchsigen Knaben überwältigt und verwundet. Tibra entführte
den Attentäter auf kurze Zeit, was Ilkonys ihm sehr verübelte. Zwar verzichtete er aufgrund von Willars Fürsprache auf jegliche Bestrafung, doch sprach er seither nicht mehr mit Tibra. Er wußte wohl, daß Shannar, jener Attentäter, Tibras Sohn war, den der Magier vor über dreizehn Jahren aus den Augen verlor. Shannar verbannte er auf die Insel der Läuterung. Tibra hatte weder für ihn gebeten noch für ihn gesprochen. Es gab keine Verbindung zwischen ihnen. Ilkonys bedauerte jedoch den Zorn, den er damals auf Tibra empfand. Trotzdem wandte er sich jetzt nur Cyprina zu. Das Mädchen gefiel ihm durchaus. Die kameradschaftliche Beziehung, die sie einst verband, würde wohl nicht bestehen bleiben. Cyprina war eine junge Frau geworden und Ilkonys betrachtete sie nun mit neuen Augen. Auch den nächsten Tag verbrachte er fast ausschließlich mit ihr und er merkte nicht einmal, daß Cyprina viel zu viel von seinem Bruder Willar sprach.
S
eymas hatte in einer Siedlung einen leichten Reisewagen gekauft und lenkte ihn nun zielsicher dem Schwarzen Tempel zu. Als der hohe, weiße Bau in der Ferne auftauchte, zügelte er das Tier. "Gefällt euch das?" wollte er von den Kindern wissen.
Beide schauten scheu auf das Bauwerk. In den Nebelreichen gab es keine großen Häuser. Die Burg eines Herrschers war ein Prachtbau und die Tempel mit ihren sechs Stockwerken wirkten wie ein Berg. Ansonsten blieben die Häuser flach. Seymas stieg vom Wagen, half den Kindern herab und gab ihnen dann neue Kleidung, die er mit dem Wagen erwarb. "Zieht euch um," schlug Bettler, sondern als Gäste."
er vor, "ihr kommt nicht als
Mit unmerklichem Seufzer öffnete er sein Bündel. Es wäre ihm lieber, könnte er in bequemer Reisekleidung zum Tempel kommen. Doch das Amt, das sie ihm auflasteten, erlaubte dies nicht. Gerrys und Nymardos würden es wohl verstehen, doch für die anderen Menschen dort erschiene es wie Täuschung, wollte er sich nicht zu erkennen geben. Seymas kleidete sich in die Gewandung seines Amtes. Nur er trug diese weiße, von glitzernden Stickereien verzierte, bodenlange Tunika und darüber einen Umhang, vom selben Stoff gefertigt. Als er den breiten Gürtel befestigte, starrten ihn die Kinder nur noch in stiller Angst an. Seymas ging in die Hocke. "Hey, was erschreckt euch?" wollte er wissen. "Ist ein Gewand wichtiger als der Mensch, der es trägt?" "Wer seid ihr?" wollte Salina scheu wissen, ihn zum ersten Mal nicht duzend. "Seid ihr ein König?" Seymas nickte. "Das kann man so sagen," gab er zu. "Ich bin der König der Priester, aber vor allem bin ich euer Freund." Salina griff nach der Hand des Bruder und drückte sie fest. "Wir haben viel Glück gehabt," meinte sie erfreut. "Wenn uns ein König beschützt, kann dir niemand etwas tun. Du mußt keine Angst mehr haben, Lycaron, die Leute dort werden bestimmt sehr nett zu dir sein." Seymas sah erfreut, daß seine Verwandlung die Kinder nicht ängstigte. Er hob sie wieder auf den Wagen, stieg auf und griff nach dem Zügel. Nahe des Tempel hielt er an. Die Menschen waren schon auf ihn aufmerksam geworden, unterbrachen ihr Tagwerk und strömten herbei, ohne sich jedoch ganz zu nahen.
Unzählige Augen beobachteten ihn. Vereinzelt warfen sich die Leute schon nieder. Seymas ignorierte dies nun, da die beiden Kinder jetzt doch Furcht empfanden. Er hob sie vom Wagen, nahm sie bei den Händen und ging mit ihnen zusammen langsam weiter. Nicht weit entfernt übten Jugendliche den Ringkampf. Auch sie unterbrachen nun ihr Tun. Ihr Lehrer hatte den Than entdeckt und ihnen hastig die Unterwerfung befohlen. Seymas sah kurz zum Tempel. Eigentlich müßte er nun dorthin gehen, wo eben Gerrys mit der Falla Seryna aus dem Tor trat. Dann lachte er leise, hielt die Kinder etwas fester und ging zu der Gruppe der Jugendlichen, die sich alle längs auf dem Boden ausstreckten. Das waren Tempelkinder, Priesterschüler, Priester und Tempelhelfer. Nirgendwo sonst übten die verschiedenen Stände so zusammen; nirgendwo sonst gab es in einem Tempel überhaupt Anleitung in Kampfspielen. Vor dem Lehrer der jungen Leute blieb Seymas dann stehen. "Rhagan." Er sprach leise mahnend den Namen dieses Mannes aus, der vor ihm am Boden lag, mit vorschriftsmäßig ausgebreiteten Armen, das Gesicht dem Erdreich zugewendet. Rhagan fürchtete ihn nicht und empfand die Unterwerfung auch nicht als Demütigung. Seymas spürte die Freude des Hünen mit Erleichterung. Nicht jeder, der ihn von früher kannte, hielt an der alten Kameradschaft fest. Meist wirkte Seymas' Macht sehr trennend. Doch Rhagan kannte auch vor Nymardos niemals die tiefe Scheu, die andere empfanden. Der Hüne erhob sich auf die Knie. "Die Götter sind mit dir," grüßte Seymas lächelnd, als Rhagan aufsah. "Dies sind Salina und Lycaron, die ich einem guten Freund anbefehlen will." Rhagans Augen leuchteten auf. Der Than erhob ihn jetzt
weit über alle anderen, vor allem aber deutete er an, wie wenig er Vergangenes vergaß. Die Kinder musterten den großen Mann, der auch auf den Knien stark und selbstsicher wirkte. Seymas ging in die Hocke, zog die beiden Kleinen näher an sich und erklärte: "Ein König muß sein Volk begrüßen, das versteht ihr doch. Rhagan und seine Gemahlin Shuny werden für euch sorgen. Habt keine Furcht." Lycaron sah Rhagan an. Zaghaft lächelte er und als der Hüne die Hand nach ihm ausstreckte, legte er die Seine hinein. "Ich hab keine Angst," versprach er tapfer. "Ich schon," gab Salina mit leiser Stimme zu. Rhagan griff nach ihrer Hand und löste so die Kinder von Seymas, der sich wieder erheben konnte. "Es ist eine große Ehre für mich, wenn ich für euch beide sorgen darf," versprach er und sah dabei nur Seymas an. "Eine Ehre?" Salina blieb mißtrauisch. "Du wirst uns nicht weh tun?" Rhagan zog sie an sich und schwachen Widerstandes fest.
hielt
sie
trotz
ihres
"Niemand darf euch weh tun, da doch unser aller Herr über euch wacht," versprach er mit fester Stimme und nun widmete er sich nur dem Mädchen. "Ihr seid in Raakis Haus und wenn ihr wollt, findet ihr hier eine schöne Heimat. Shuny wird sich freuen, wenn sie eine so tapfere und aufrechte Tochter bekommt, die mit viel Mut ihren Bruder beschützen will." Er wußte nicht, woher die Kinder kamen und weshalb
Seymas sie brachte. Doch er spürte sehr genau, wie dieses kleine Mädchen voll Sorge an den Bruder dachte und Lycaron nichts Übles wünschte. Salina gab ihren Widerstand auf, duldete nun seine Nähe und erzählte mit leiser Stimme, wie sie mit Lycaron vor der Tante floh und durch Wyla irrte. Rhagan widmete sich ganz ihr und ihrem Bruder. Zwischendurch warf er einen um Entschuldigung heischenden Blick auf Seymas. Doch der Than lächelte ihm dankbar zu. Dann wandte er sich ab, um nun dem Tempel zuzuschreiten, wo unzählige Priesterinnen und Priester auf ihn warteten. Bei seinem Näherkommen trat Nymardos einen Schritt beiseite. Gerrys und Seryna mußten sich nun wie alle anderen unterwerfen. Seymas erlaubte ihm diesen Gruß nicht. "Die Götter sind mit euch, euch allen," grüßte Seymas formell, ehe er einen knappen Schritt auf die Fallas zutrat und ihnen so erlaubte, sich auf die Knie zu erheben. "Willkommen in Raakis Haus," dem vorgeschriebenen Gruß.
erwiderte
Gerrys mit
Seymas hielt ihm die Hände entgegen und so griff der Falla nach ihnen, um sie zu küssen. Doch der Than zog ihn auf die Beine. Mit einer Handbewegung rief er die Menschen aus ihrer Verneigung. Seymas warf Nymardos einen warmen Blick voll Zuneigung zu, doch er begrüßte ihn noch nicht. Seine Worte galten der Priesterschaft, richteten sich dann an Seryna, deren Wirken im Tempel er lobte. Schließlich entließ er die Menschen mit der Aufforderung, ihr Tagwerk wieder aufzunehmen. Seymas betrat den Tempel. Vor sieben Jahren weilte er zuletzt in diesem Bau. Damals leitete ihn Gerrys zur Weihe seines Gottes. Hier lernte er auch Thyrian kennen. Ein verhaltenes Lächeln spielte um seinen weich geschwundenen Mund. Die hellen Augen mit den langen Wimpern strahlten. Diese Zeit in Raakis Tempel gefiel ihm sehr.
Gerrys und Nymardos folgten dem Than, der nicht die Gemächer des Falla aufsuchte, sondern in die Zimmer ging, die Nymardos hier bewohnte. Dies waren die besten Räume hier und damit sein Gastquartier. Nymardos trat hinter ihn, löste den langen Umhang von seinen Schultern, faltete den kostbaren Stoff zusammen und legte ihn auf eine Kommode an der Wand. Gerrys schloß die Tür. Da ihn Seymas nicht wie Seryna entließ, mußte er bleiben. Der Falla kniete mit überkreuzten Armen nieder und wartete. "Man könnte meinen, du hast ein schlechtes Gewissen," quittierte Seymas diese Geste mit einem Grinsen. Dann wandte er sich Nymardos zu. "Muß ich den Falla rausschicken, damit du mich begrüßt?" Nymardos zog den Jüngeren wortlos an seine Brust und umarmte ihn voll Herzlichkeit. Seymas wuchs als sein Schützling auf; die Liebe, die sie verband, war beidseitig und tief. Der junge Than hielt den väterlichen Freund lange Zeit fest. Er genoß die Nähe des anderen. "Nach dieser weiten Reise wirst du hungrig sein," vermutete Nymardos dann. "Oder möchtest du dich ausruhen?" Seymas lachte leise. Der Freund wußte genau, wie wenig Müdigkeit er empfand. Er wollte nur um Gerrys' Willen dieses schweigende Warten beenden. "Teilt ihr beide das Mahl mit mir?" lud er die Freunde ein. Da erst erhob sich Gerrys. Er ließ reichlich auftischen, duldete aber keine weitere Bedienung. Als sie gemeinsam aßen, erkundigte sich Seymas nach den Belangen des Tempels und hörte sich ruhig Gerrys' Bericht an, in dem der Falla die wirtschaftliche Lage ebenso schilderte wie das geistige Wirken des Tempels. Einen solchen Bericht gab ein Falla normalerweise auf Amarra ab, wenn er dorthin
gerufen wurde. Dann konnte er sich darauf vorbereiten und umfassender informieren. Aber Seymas war es zufrieden. Er stellte ein paar wenige Fragen, auf die er erschöpfend Antwort erhielt. Nymardos sah ihn mit leisem Erstaunen an. Er sprach aus, was Gerrys zwar dachte, aber niemals ausformuliert hätte. "Was gefällt dir nicht an diesem Tempel?" Seymas, inzwischen gesättigt, lehnte sich im Sessel zurück, schloß die Augen und blieb die Antwort schuldig. Gerrys warf Nymardos einen leicht beunruhigten Blick zu. Er ließ abräumen, schenkte dann Wein nach und wartete. "Gerrys weiß, daß ich seinen Tempel immer geliebt habe," meinte Seymas dann, ohne die Augen zu öffnen, "und das, obwohl oder vielleicht auch weil er nicht in allem den Regeln entspricht. Seit ich das letzte Mal hier war, hat sich aber viel geändert." "Der Tempel wurde größer, Gebieter," erwiderte Gerrys. "Es kamen viele Menschen und auch viel Land hinzu. Doch ansonsten ist alles so, wie es immer war." "Du bist Falla, nicht Pecha," mahnte Seymas, ohne ihn anzusehen. "Es ist nicht wünschenswert, wenn Tempel so groß werden, daß sie auch eine politische Macht darstellen." "Nodhers Herrscher sehen keine Gefahr in meinem Amt," murmelte Gerrys, nun doch etwas unsicher. "Ariston und Ilkonys sind deine Freunde," gab Seymas zu, der sich nun wieder aufsetzte und nach einem Weinpokal griff. "Aber der Tempel gehört Amarra, nicht dir. Du hast für sein geistiges Wirken zu sorgen." Er lächelte Gerrys an. "Du machst deine Sache gut," lobte er. "Trotzdem will ich nicht, daß der Tempel noch größer wird. Sei wachsamer, was seine Bewohner betrifft. Es gibt schon zu viele hier, die
äußeren wie geistigen Müßiggang pflegen." Sowohl Gerrys wie auch Nymardos fielen spontan eine ganze Reihe von Menschen ein, die hier wirklich wohl nur deshalb lebten, weil Gerrys niemanden in eine Pflicht befahl. Der Falla war der Ansicht, daß ein erwachsener Mensch seine Aufgabe durchaus selbst wählen sollte. Der Falla senkte schuldbewußt den Kopf. Seymas wirkte ernst. Er war nun nicht der heitere Junge, den er kannte und auch liebte, sondern ganz ein Mann der Macht und sein Gebieter. "Wie viele Menschen soll ich aus dem Tempel entlassen?" erkundigte sich der Falla in verbindlichem Ton. Seymas erhob sich. "So nicht, Falla," mahnte er mit ernster Stimme. "Wenn du detaillierte Anweisungen brauchst, mußt du dich an Thyrian wenden, der dir sicherlich gern sagen wird, wie du dein Amt versehen sollst. Ich bin noch der Überzeugung, daß du keine Hilfe brauchst." Er sah zu Nymardos und kurz leuchtete in seinen Augen Freundlichkeit auf. "Zumindest keine, die dir nicht ohnehin nahe ist," fügte er bezeichnend hinzu, ehe er den Raum verließ. Gerrys griff nach einem Pokal und leerte ihn in einem Zug. Nymardos lachte leise, setzte sich auf die Armlehne seines Sessels und legte den Arm um seine Schultern. "Das war nicht nur ein Tadel," versprach er dem Freund, "das war auch ein Lob. Wir beide haben uns schon mehrfach über dieses Thema unterhalten. Nodhers Lichttempel ist kleiner als Raakis Bereich. Das sollte so nicht sein." "Ich will nicht zweihundert Menschen fortschicken," murmelte Gerrys, der im Geiste die Priesterschaft durchging. Nymardos drückte ihn sacht.
"Das wird auch nicht nötig sein," versprach er. "Es sind vermutlich keine fünfzig, von denen Seymas sprach." "An wen denkst du?" Nymardos lächelte sacht. "Darüber unterhalten wir uns, wenn Seymas auf dem Heimweg ist," schlug er vor. "Falls du dann überhaupt noch meinen Rat brauchst und willst." Seit er sein Amt zurück gab, lebte er, frei von jeder Pflicht, in diesem Tempel und er mischte sie nie in Gerrys Amt ein. Selten nur gab er einen Rat, meist hielt er sich aus allen Belangen heraus, die den Falla als Tempelherrn betrafen. "Ich hoffe, er hat nicht dich gemeint, als er von Müßiggang sprach," murrte Gerrys, der Nymardos niemals eine Aufgabe zudachte. Der Pala des Than lachte leise und erheitert. Seymas unterstellte ihm gewiß keinen geistigen Müßiggang und würde niemals erlauben, daß ihn ein Tadel traf.
S
eymas hatte im Hinausgehen nach seinem Umhang gegriffen und sich übergeworfen, noch ehe er den Tempel verließ. Er lenkte den Schritt in gemütlichem Schlendern zu den Molbäumen, in deren Schutz ein festes Holzhaus stand. Das Haus besaß einen kleinen Anbau. Der war Erynias Bereich, in dem sie als Magierin wirkte. Wenige Schritte entfernt befand sich eine kleine Hütte. Seymas wußte, daß Tibra dort wirkte. Doch in dem Haus lebten sie gemeinsam und sorgten für das Baby, das sie als ihr eigenes Kind anerkannten. Seymas blieb stehen. Auf der Wiese vor dem Haus lagerte die kleine Familie auf einer breiten Decke. Sie bemerkten
ihn noch nicht. Es war ein Bild des Friedens, das er hier sah. Erynia lag auf der Seite und streichelte über das Gesicht des Kleinen. Tibra saß dabei und unterhielt sich mit ihr, während er voll Liebe auf Harkym sah, der nun als sein Sohn galt. Erynia lernte Seymas am Stillen See kennen. Sie war jetzt Mitte der Vierzig und sah Gerrys ähnlicher als früher. Tibra war fast zehn Jahre jünger als sie. Der Magier rettete Seymas vor sieben Jahren das Leben, als er in Khyons Tempelberg eingeschlossen war. Doch weit mehr zählte für Seymas etwas anderes. Nachdem man ihn zum Than erkannte, erdrückte ihn fast die Last der Verantwortung. Er verlor seine Heiterkeit und Lebensfreude, nicht zuletzt, weil der ernste Thyrian ihn stets ermahnte, wie ein Than zu leben habe. Vor zwei Jahren verlor Tibra vorübergehend sein Augenlicht und trotz seiner Blindheit durchquerte er Amarra und drang zu ihm vor. Sie verbrachten einige Tage zusammen, Tage, in denen Seymas den Magier vor den geistigen Beeinflussungen durch Amarra abschirmte, in denen er aber auch durch Tibra lernte, seinem Leben eine neue Wendung zu geben. Erynia sah nun die Gestalt in dem schimmernden Weiß. Sie warf Tibra ein paar hastige Worte zu, ehe sie sich auf dem Boden ausbreitete. Der Magier tat es ihr nach. Seymas wußte sich entdeckt und kam näher. Dann stand er vor den beiden liegenden Menschen und sah auf Harkym nieder, der ein paar kindliche Laute murmelte. Mit seinen sechs Monaten war er immer noch ein Säugling. Weicher Flaum verriet, was später Haar sein sollte. Die großen Augen richteten sich neugierig auf den jungen Mann, der sich nun über ihn neigte und ihn auf den Arm nahm. Harkym weinte sonst stets, wenn Fremde nach ihm griffen. Nun aber blieb er still, faßte mit seinen kleinen Händen nach Seymas' Haar und spielte damit. Nymardos und Gerrys kamen eben herbei, die den Than
nicht allein lassen wollten. Erynia spannte sich an und Tibra richtete sich hastig auf die Knie auf. Mit einem fast herrischen Wink befahl Seymas ihnen allen Abstand. Er betrachtete Harkym, während er langsam weiterging. Tibra ballte die Hände zu Fäusten. Er hatte das Gefühl, Seymas wollte ihm den Sohn wegnehmen. Nymardos trat rasch zu ihm, als er sich erhob. "Was tut er?" fragte der Magier gequält. Nymardos ließ keinen Blick von dem jungen Freund, der sich ganz auf Harkym ausrichtete. "Ich weiß es nicht." gab er zu. "Aber sei nicht unbedacht. Seymas ist im Moment nicht sehr nachsichtig." Einige Schritte entfernt setzte sich Seymas ins Gras. Er wandte den Freunden den Rücken zu, so daß sie seinen nachdenklichen Blick nicht zu sehen vermochten. Er hielt Harkym weiter im Arm, legte die freie Hand auf dessen nackte Brust und erlaubte ihm, weiter an seinen Locken zu ziehen. Tibra tastete nach Nymardos' Hand und drückte sie fest. "Hilf mir," bat er drängend. Nymardos schüttelte langsam den Kopf. Es wäre unklug, Seymas jetzt zu reizen. Er hatte ihnen allen Abstand befohlen und war schon lange keinen Ungehorsam mehr gewohnt. "Tibra." Geraume Zeit verging, ehe Seymas leise den Namen des Magiers aussprach und ihn so zu sich rief. Nymardos empfing zugleich einen beruhigenden Gedankenstrom. Da ließ er den Freund los und nickte ihm aufmunternd zu. Tibra
atmete tief durch. Daß sich Nymardos so abwartend verhielt, bewies ihm mehr als alle Worte, wie wenig klug es sein konnte, Seymas zu ärgern. Er trat zu Seymas, umrundete ihn nach kurzem Zögern und kniete vor ihm nieder. Sein Blick fraß sich an Harkym fest, bis er sich dieser Unhöflichkeit bewußt wurde und den Kopf senkte. Seymas schwieg. Sein Blick wirkte sehr tief und verriet kein Erkennen und kein Erinnern an vergangene Tage. Tibra wartete in zunehmender Verwirrung. Damals, auf Amarra, da sagte Seymas ein 'ich mag dich' zu ihm und gab ihm das Gefühl, ein Freund zu sein. Er stellte sich auf die Seite des Magiers und bedrohte sogar König Ariston, als der nach seinem Leben trachtete. Jetzt ging jedoch etwas von ihm aus, das nichts mehr mit dem fröhlichen Jungen zu tun hatte, den Tibra auf Amarra suchte. Er spürte die Macht des anderen und vor allem, er fühlte sich bedroht darin. Tibra fürchtete nicht um sich, dazu gab es keinen Anlaß. Aber er fürchtete um Harkym, der sich im Arm des mächtigsten Mannes der Reiche anscheinend sehr wohl fühlte. "Das ist mein Sohn, Herr," murmelte er endlich, als er das Schweigen nicht mehr länger ertrug. Langsam hob er den Kopf. Seymas sah ihn ernst an. "Harkym ist ein Tempelkind." Tibra zuckte wie unter einem Hieb zusammen und verkrampfte sich. Hin und wieder zeugten eine Priesterin und ein Priester in Trance aus freien Stücken ein Kind, gaben so einem Geist Gelegenheit, sich ohne karmische Bindung zu inkarnieren. Für Tempelkinder galt das Gesetz nicht, daß sie Vater und Mutter haben mußten. Sie wuchsen innerhalb der Tempel auf und bereiteten sich auf ein Leben und eine Aufgabe vor, die sie vor ihrer Inkarnation wählten. So wurden die Erben der Macht ins Leben gerufen, so kam aber auch manch andere Geist.
"Ich habe ihn nicht zum Magier bestimmt," würgte sich Tibra ab. "Ich sagte schon König Ariston, daß Harkym dem Ruf folgen wird, den er später verspürt, egal, ob zum Priestertum oder zur Magie oder zu einem anderen Weg. Wenn er Priester ist, werde ich ihn nicht hindern." Jetzt lächelte Seymas doch ein wenig. "Tempelkinder sind nicht zwangsläufig Priester," erklärte er ruhig. "Sie sind, was sie sein wollen; Ärzte, Gelehrte, was auch immer. Aber sie haben Anspruch auf Schutz und Leitung durch einen Tempel." "Seine Mutter war eine Landfrau," wehrte Tibra schwach ab. "Sie war Priesterin," widersprach Seymas ruhig. "Sie besuchte ihre Familie und begab sich zu spät auf den Rückweg zu ihrem Tempel. Dort, wo du und Erynia sie gefunden habt, wartete sie auf die Niederkunft, weil ihr das Reisen schon zu beschwerlich war. Ihre Freundinnen aus dem Tempel haben nach ihr gesucht und erfahren, wie sie starb. Die Beschreibung der Menschen, die den Knaben mit sich nahmen, drang zu mir und ich habe darin Erynia und dich erkannt, Tibra. Und von Nymardos weiß ich, daß du Harkym als Sohn anerkanntest. Ein Sohn der Tempel kann nicht Sohn eines Magiers sein." Tibra empfand Zorn und Ohnmacht bei diesen Worten. Nymardos war großzügiger als Seymas. Gerrys' Bruder Attor hielt das Mädchen Maike wie eine Tochter. Auch sie war ein Tempelkind, doch Nymardos trennte die beiden nicht, als er ihre Liebe sah. Und im Vergleich zu ihm war Attor alles andere als ein Mann der Ehre. Seymas empfing seine Gedanken, doch er schwieg dazu. Der Than erhob sich. Er hielt Harkym weiter im Arm, als er sich langsam entfernte. Nymardos
beobachtete
die Szene. Da sich Seymas erhob,
trat er nach vorne. Gerrys legte ihm hastig die Hand auf den Unterarm, um ihn zurück zu halten. Doch er ging weiter, folgte Seymas und holte ihn rasch ein. "Bist du böse, wenn ich trotz der vielen Zeugen den Arm um deine Seite lege?" wollte er ganz ruhig wissen. Seymas lachte leise und das klang schon wieder sehr vertraut. "Auf Amarra umarmst du mich vor allen Menschen," erwiderte er fast heiter. "Ich habe schon fast befürchtet, daß du jetzt bei Tibra bleibst." Nymardos legte wirklich den Arm um die Schultern des jungen Freundes und ging neben ihm. "Das würde ich," versprach er, "wenn es ihm helfen könnte. Warum willst du ihm Harkym nehmen?" Niemand besaß das Recht, den Than zu befragen oder seine Entscheidungen zu kritisieren. Nymardos setzte sich in völliger Natürlichkeit darüber hinweg und Seymas gab ihm gelassen Auskunft. "Du weißt, wie sehr ich Tibra liebe," sagte Nymardos da. "Wenn du nun erkennst, daß Harkym eines Tages wichtig sein wird und sein Weg Bedeutung besitzt, so sage ich dir doch, daß der Knabe keine bessere Leitung finden wird als unter diesem Mann. Du darfst sie nicht trennen." "Ich darf nicht?" Seymas lachte leise, weil es für ihn schon lange kein Dürfen mehr gab. "Verliere ich deine Liebe, wenn ich es dennoch tue?" Nymardos verhielt den Schitt und sah ihn ernst an. "Du kannst meine Liebe nicht verlieren," versprach er voll Zuneigung. "Du bist wie ein Sohn für mich. Als du ein
Knabe warst, habe ich stets auf dich geachtet. Aber das wäre nicht nötig gewesen, wenn ein Mann wie Tibra für dich sorgte." Seymas lachte laut auf. Das klang fröhlich, erheitert und wirklich jungenhaft. "Du hättest Tibra den wollte er vergnügt wissen.
künftigen
Than
anvertraut?"
"Du wärest deinen Weg so oder so gegangen," bestätigte Nymardos, den das Lachen ein wenig verwirrte. "Sogar ohne deine Hilfe," gab Seymas zu, "denn dazu kam ich in dieses Leben. Wahrscheinlich hätte ich sogar schneller zu meiner eigenen Kraft gefunden." "Du meinst, ich habe dich aufgehalten?" forschte Nymardos, dem diese Worte wie ein Vorwurf erschienen. Seymas nickte langsam. "Das hast du," versicherte er und in seiner Stimme lag unendlich viel Zuneigung. "Aber nur so hatte ich Gelegenheit, meine Neugier auf das Leben zu stillen und unbeschwert und fröhlich aufzuwachsen. Ich liebe dich, Nymardos. Schon als kleiner Junge habe ich dich geliebt, verehrt, bewundert und mich immer nach deiner Nähe gesehnt." "Und immer gehofft, daß ich bei dir auf Amarra bleibe," wußte der väterliche Freund. "Muß ich dir darin nachgeben, um dich milde zu stimmen?" Seymas sah ihn lange an. Er wünschte sich wirklich nichts mehr, als daß Nymardos bei ihm leben wollte. Jetzt bot ihm der väterliche Freund sein Nachgeben an im Tausch für Harkym. Nachdenklich schaute der Than auf den kleinen Menschen in seinem Arm.
"Ich könnte dir befehlen, nach Amarra zu kommen," meinte er dann leichthin. "Aber es ist zu wichtig für mich, daß du glücklich bist." "So kann ich dich nicht umstimmen?" Das klang traurig. Nymardos fühlte Tibras Schmerz und er gäbe alles, wenn er dem Freund nun helfen könnte. Doch gegen Seymas' Entscheidungen gab es kein Wort und im Grunde war sein Drängen schon zuviel. Seymas griff nach seiner Hand, hob sie an und legte kurz in zärtlicher Geste seine Wange hinein. "Das hast du schon getan," versprach er. "Wenn ich Harkym mit nach Amarra nehme, wird Thyrian ihn mehr bedrängen, als Caryll es je mit mir tat. Und ich glaube, der Kleine würde mich nicht so lieben, wie ich dich geliebt habe." Nymardos musterte ihn bei diesen Worten aufmerksam. Eine Frage drängte sich ihm auf, die er aus einer seltsamen Scheu heraus jedoch nicht zu stellen wagte. Seymas lachte wissend, ließ ihn aber stehen und ging zurück zu Tibra, der unverwandt noch immer an derselben Stelle verharrte. Mit sanfter Geste übergab er ihm den zufriedenen Harkym. "Ich darf ihn behalten?" Tibra zweifelte noch, doch bittend sah er Seymas an. Er hielt Harkym fest, als müsse er ihn beschützen. Der Than lächelte dabei. "Harkym würde es mir übelnehmen, wenn ich ihm einen solchen Vater mißgönne," meinte er fröhlich. "Die Götter meinen es gut mit dem Kleinen, wenn sie ihn schon so früh verwöhnen." Tibra lächelte unsicher. Von Seymas ging nun keine Macht mehr aus. Das war wieder der junge Mann, mit dem er durch
Amarra ging und dem er sich zugetan fühlte. "Sie meinen es auch gut mit dir, Tibra," fügte Seymas hinzu, während er zu Nymardos sah. Vom Tempel her erklang der Ruf zum Ritual der dritten Ebene. Saake, die Gottheit, die kein Geschlecht besaß, rief zur Stunde der Weisheit. Der Than nickte Tibra, der noch immer wortlos bei ihm stand, kurz zu. Dann wandte er sich um und ging zum Tempel, um selbst das Ritual zu leiten.
I
lkonys hörte den Ruf zum Ritual, doch er begab sich nicht zum Tempel. Solange seine Schuld ungesühnt blieb, waren ihm auch ohne Worte die Rituale verboten. Die entstehenden Kraftschwingungen würden ihn ansonsten zu sehr bedrängen. Auch wußte er, daß der Than inzwischen eingetroffen war, denn die Unruhe ringsum konnte keinem entgehen. Aber niemand ging ungerufen zum mächtigsten Mann der Reiche und eine bloße Begrüßung war in seinem Fall zu wenig. Er mußte warten, bis er gerufen wurde. Solange vertrieb er sich die Zeit mit Cyprina. Sie saßen beisammen am Ufer eines malerischen Weihers, auf dessen Wasseroberfläche die herrlichsten Blüten schwammen. Der Schilfgürtel entzog sie allen Blicken und vermittelte ein Gefühl der Vertrautheit. Cyprina erzählte von dem jungen Priester Lorynir, der hier lebte und davon, wie gut er sich mit Willar verstand. Ilkonys hörte ihr nur halb zu. Sie sah wunderschön in seinen Augen aus. Nodhers Erbe wandte ihr den Kopf zu. Ohne die Arme um sie zu legen, näherte er seinen Mund dem ihren. "So stelle ich mir meine Königin vor," flüsterte er ihr zu. Cyprina unterbrach sich. Da küßte er sie. Es war ein sehr verhaltener, tastender Kuß ohne jede Leidenschaft. Ilkonys nahte sich schon mancher Frau, doch Cyprina wollte er in ihrer jugendlichen Unbekümmertheit nicht erschrecken. Sie hielt still. Das Mädchen erwiderte den Kuß nicht, doch sie wehrte ihn auch nicht ab. Ilkonys tastete nach ihrer Hand. Da erst spürte er ihr leichtes Zittern und
ihre fast furchtsame Verkrampfung. Erstaunt löste er sich von ihr. Cyprina sprang auf. Ihre Augen schimmerten feucht, als sie durch das hohe Schilf vor ihm floh. Ihr Puls raste und ihr Herz pochte viel zu schnell. Cyprina war froh, daß er ihr nicht folgte. Sie fürchtete sich. Die Stunden mit Ilkonys waren so angenehm gewesen, fast so schön wie jene, die sie zuvor mit Willar verbrachte. Doch dies war Nodhers Erbe und damit ihr Herr, dem sie gehorchen mußte. Willar sprach immer gut von ihm, aber er ließ auch keinen Zweifel daran, daß er sich Ilkonys zu fügen hatte. Dasselbe galt für sie. Cyprina fürchtete diesen Machtanspruch sehr und sie wußte nicht, wie sie sich wehren konnte. Das Mädchen starrte zum Tempel hinauf. Niemand bewachte den Eingang, doch zur Stunde des Rituals war dort keine Störung erlaubt. Sie sehnte sich nach dem Vater, doch sie nahm an, er würde ihr nun nicht helfen können, war doch Ilkonys auch sein Herr. Dann dachte sie an Nymardos. Der Pala des Than war ihr inzwischen sehr vertraut. Manchmal sprach sie mit ihm über ihre Mutter Masira, die er gut kannte und über die er nur freundliche Worte fand. Sie wußte nicht, daß Masira und Nymardos einst eine tiefe Liebe verband und sie ahnte auch nicht, daß sie das Kind dieser Liebe war. Gerrys anerkannte sie als seine Tochter, da Nymardos als der Than fürchtete, man würde sein Kind in falschen Ansprüchen überfordern. Cyprina schätzte ihn. Als Pala des Than war er Ilkonys' Macht entzogen. Er würde ihr vielleicht helfen können. Das Mädchen betrat den Tempel und begab sich leise in die Räume, die Nymardos bewohnte. Hier wollte sie auf ihn warten. Nodhers Erbe konnte nicht wagen, hier einzudringen. Cyprina fühlte sich mit einem Mal sehr sicher. Als das Ritual endete, schaute sie wartend zur Tür. Doch
Nymardos
kam
noch nicht. Er blieb auf einen Wink
Seymas' hin mit Gerrys in der heiligen Halle zurück. Der Falla wollte vor dem Than niederknien, doch Seymas lachte heiter auf. Jetzt waren sie allein und er mußte sich nicht weiter um Formen kümmern. "Manchmal gibst du dich so vertraut, Gerrys, und dann wieder voller Scheu," meinte er fröhlich. "Habe ich dich so erschreckt, daß du dich fremd fühlst in meiner Nähe?" "Ich fühle mich nicht fremd," wehrte Gerrys in leichter Anspannung ab. Er war nicht ganz sicher, wie er sich verhalten sollte. "Aber ich habe euch wohl enttäuscht und das belastet mich." "Ich bin nicht enttäuscht von dir." Seymas grinste. "Wenn jemand so freundlich zu den Menschen ist wie du, dann kommen immer Schmarotzer. Das ist normal. Aber wenn es zu viele werden, schädigen sie ihren Wirt. Dazu bist du mir zu schade. Ich brauche die Kraft deines Tempels noch." Er erzählte von Salina und Lycaron und bat Gerrys mit freundlichen Worten, Rhagan zu erlauben, die beiden fremden Kinder in seiner Familie aufzunehmen. "Rhagan ist ein Freund, der selbst über sein Leben entscheidet," murmelte Gerrys, etwas verstört, weil Seymas bat und nicht befahl. Seymas lachte. "Ich kleide mich um und komme nachher zu euch," versprach er. "Wir werden wohl noch ein wenig miteinander reden müssen, ehe Gerrys mich wieder mag. Und vorher kann ich kaum mit Ilkonys reden." Leichtfüßig verließ er die Halle. Nymardos legte lächelnd den Arm um die Schulter des Freundes, zog ihn an sich und küßte ihn sacht.
"Gehen wir hinunter," schlug er vor, "und lassen wir ein Mahl für ihn bereiten. Du solltest deinem einstigen Chela etwas mehr Vertrauen entgegen bringen." "Ich darf nicht vergessen, daß er jetzt mein Gebieter ist," erwiderte Gerrys, doch er lächelte dabei.
C
yprina erschrak furchtbar, als sie sah, wer zu ihr kam. Sie warf sich rasch nieder und zitterte ein wenig furchtsam dabei. Seymas lachte leise, schloß die Tür und warf seinen kostbaren Umhang achtlos über eine Truhe. "Du mußt mich meinte er freundlich.
nicht
fürchten,
Schwesterchen,"
Das Mädchen erwartete diese Anrede nicht. Gerrys zeugte Seymas als Tempelsohn, es gab dadurch nicht wirklich eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen ihnen. Aber immer, wenn er in diesem Tempel weilte, behandelte er sie wirklich wie eine Schwester. Daß er nun, umgeben von Macht, daran festhielt, machte ihr Mut. Cyprina erhob sich und als er grinsend auf einen Sessel deutete, setzte sie sich auch hin. "Du hast Nymardos erwartet," verstand er lächelnd. "Soll ich ihn rufen?" Cyprina überlegte, ob eine Bejahung dieser Frage als Beleidigung verstanden werden konnte. Seymas lachte leise. Er hatte schon ihren Geist berührt und ihre Sorge erkannt. "Ilkonys war schon immer etwas zu sehr von sich eingenommen," meinte er fröhlich. "Aber er ist eigentlich ein feiner Kerl, der dir sicher niemals Gewalt antun wird." Cyprina errötete wieder Willen.
"Er sagte, daß er sich so seine Königin vorstellt," gestand sie beschämt. "Möchtest du denn Nodhers Königin sein?" "Es wäre sicher eine Ehre," gab Cyprina langsam zu. "Aber Ehre allein macht bestimmt nicht glücklich. Ich weiß nur nicht, was ich tun soll. Er ist sehr nett und ich will ihn weder beleidigen noch erzürnen. Ich mag ihn ja. Nur ist Liebe eben etwas anderes." Während sie mit Seymas redete, verlor Cyprina aber jedes ungute Gefühl. Sie fürchtete Ilkonys ja nicht wirklich und seine Macht war, verglichen mit der des Than, auch nicht sonderlich beeindruckend. Als sie ihn eine Stunde später verließ, lachte sie schon wieder und fühlte sich unbeschwert, frei und geborgen im sicheren Wissen, daß ihr Leben sich nicht gegen ihren Willen verändern durfte. Seymas suchte nun die Freunde auf, aß mit ihnen und erzählte in lockerem Plauderton kleine Episoden aus Amarra. Es gefiel ihm sehr, daß Gerrys nach und nach alle Scheu ablegte und dann wie in vergangener Zeit offen mit ihm redete. Erst jetzt sprach er von der Spannung zwischen Nodher und Sion. "Wird es Krieg geben?" wollte Nymardos wissen. "Beide Herrscher sind Priester und erst einmal auf Amarra ihrem Blutdurst entzogen," erwiderte Seymas grinsend. "Es wird ihnen dort nicht gefallen, da sie ja auf mich warten müssen und solange an Thyrians Weisungen gebunden sind." Er lachte heiter. Thyrian liebte er sehr, doch sein Pala war ein ernster und meist etwas reservierter Mensch, der den Gästen bestimmt keine heiteren Stunden bereiten würde. "Sie sind schon dort?" erkundigte sich Gerrys.
"Ariston trifft morgen ein," wußte Seymas. "Und Thylenon ist noch ein paar Tage unterwegs. Aber keine Sorge, ich bleibe nicht hier." "Das wäre eher eine Freude," versprach Gerrys lächelnd. "Für mich schon," gab Seymas grinsend zu. Er schob sich eine Sajik-Beere in den Mund, ehe er kauend forfuhr: "Über Nacht bleibe ich noch, aber dann suche ich in Moras den Tempel des Lichts auf. Das wird sicherlich weniger angenehm." "Probleme?" erkundigte sich Nymardos sofort. Seymas zuckte nur mit den Achseln. "Nicht wirklich," meinte er leichthin. "Die dummen Sitten in Wyla gibt es eben auch in Moras, nur umgekehrt. Dort bilden sich die Männer zuviel ein und ich will ihnen zeigen, wie töricht das alles ist. Es wird mir Spaß machen." Nymardos lächelte still. Für den jungen Freund war Freude am eigenen Tun sehr wichtig und er hatte nicht verlernt, auch seine Pflichten zu mögen. "Ich habe eine Bitte," gestand Gerrys unvermittelt. Seymas lehnte sich zurück. Er räkelte sich im Sessel und fühlte sich sichtlich wohl. "Wegen Ilkonys, ich weiß," entdeckte er. "Du hast ihm einen schweren Weg befohlen." "Ich wußte nicht, wohin er führen wird." "Hätte das etwas geändert, Falla?" Gerrys überlegte ernsthaft, ehe er diese Frage verneinte. Es
konnte keine Schuld vergeben werden, solange ihr Ursprung andauerte, obwohl er zu wenden war. "Wo du hingehst, da wird auch Nymardos hingehen," erkannte Seymas. "Amarras Arm reicht nicht bis auf die Insel der Läuterung. Das ist eine üble Gegend voll Gewalt und Blut. Ihr bringt euch in Gefahr, wenn ihr dorthin reitet. Ich werde Ariston und Thylenon schon aussöhnen können und dann wird Sion diesen Willar freigeben." "Das kostet aber viel Zeit," warnte Nymardos. "Der Gnadenbrief ist auf der Insel oft so lange unterwegs, daß er den Empfänger nicht mehr lebend erreicht." Seymas spürte die Sorge des väterlichen Freundes. Er lächelte ihn bedauernd an. "Du magst Willar," verstand er durchaus. "Du willst nicht Ilkonys, du willst ihm helfen, nicht wahr?" Nymardos nickte nur. "Ich würde gern mit euch kommen." "Nein." Gerrys und Nymardos Seymas lachte vergnügt.
riefen
es
wie aus einem Mund.
"Keine Sorge, ich tue es nicht," versprach er. "Wenn ich dort mein Leben verliere, ist Thyrian der stärkste Geist in den Reichen und ihm will ich Amarra nicht ganz überlassen." Er sah Nymardos heiter an. "Heute weiß ich, daß ich das Amt besser verwalte, bis ein Stärkerer kommt." Es gab eine Zeit, in der er davon nicht ganz überzeugt war. Damals kam Tibra zu ihm nach Amarra. "Darf ich reisen?" bat Gerrys.
"Ich will Ilkonys sehen," wich Seymas einer Entscheidung aus. Gerrys schlug das Triangel und schickte nach dem Prinzen, der wenig später schon zu ihnen kam. Seymas erhob ihn nicht aus der knienden Haltung. Gerrys und Nymardos tauschten einen raschen Blick. Das konnte kein guter Anfang sein. "Als ich dich vor einem halben Jahr aus Amarra entließ," wandte sich der Than mit ernster Stimme an Nodhers Erben, "da habe ich dem Nordreich einen Priester gesandt, von dem ich annahm, er habe sein Handwerk gelernt. Gelernt hast du es, aber du wendest dein Wissen nicht an." "Wessen verklagt aufsehend wissen.
ihr mich?" wollte Ilkonys überrascht
"Der Kriegstreiberei," kam die kurze, harte Antwort. Ilkonys zuckte zusammen. Gerrys zwang sich, wenigstens äußerlich ruhig zu bleiben und Nymardos musterte seinen jungen Freund mit forschendem Blick. Seymas lehnte sich im Sessel gelassen zurück. "Nodhers Erbe ist heute ein Mann," wandte er sich erklärend an die Freunde, "aber im Grunde ist er noch immer der hochmütige, selbstsüchtige Knabe, der in seinem Eigendünkel andere gefährdet. Nur mit dem kleinen Unterschied, daß er nun die Macht besitzt, um die Gefahr auf ganze Völker und nicht mehr nur auf wenige Menschen auszudehnen." "Daß er Willar trotz dessen unguten Gefühls nach Sion sandte, war sicherlich ein Fehler," gab Gerrys zu. "Ein Priester sollte die intuitiven Warnungen des Geistes verstehen können. Aber wenn er hier versagte, so muß der Vorwurf mich als seinen Leiter treffen."
Ilkonys senkte schweigend den Kopf. Da beugte sich Seymas nach vorne und sah ihn eindringlich an. "Siehst du es, Gerrys?" wollte er wissen. "Er ist wieder einmal bereit, zerknirscht zu tun und den unangenehmen Teil anderen zu überlassen. Du willst die Verantwortung dafür übernehmen? Er ist kein Chela mehr! Ich habe ihn geprüft, ehe ich ihn nach Nodher gehen ließ. Er ist durchaus in der Lage, mit geöffnetem Geist das Wesentliche zu erkennen. Er ist nur zu eingebildet, um auf andere zu achten." "Herr, ich..." Ilkonys suchte nun doch nach einem erklärenden Wort, doch Seymas unterbrach ihn sofort: "Deinen Bruder zu senden, war eine Sache. Deine Reaktion auf seine Verurteilung ist eine andere. Da war kein Überlegen, ob das Urteil gerecht ist. Da war auch kein Prüfen, ob eine Bitte um Gnade Sion milde stimmen könnte. Nein, du mußtest sofort fordernde Botschaft nach Sion senden und die Soldaten zur Grenze schicken. Und jetzt, wo es gefährlich wird, soll dein Vater, wieder einmal, alles regeln. Aber ich weiß wohl, daß er besonnener gehandelt hätte." "Willar ist mein Bruder," wehrte sich Ilkonys schwach. "Er ist dein, nicht wahr?" höhnte Seymas ärgerlich. "Sion hat dir etwas weggenommen und das macht dich böse. Du willst haben, halten und behalten und wehe dem, der es wagt, dich zu berauben. Dann vergißt du meine Weisung ebenso wie jede Freundschaft." Nymardos hob fragend den Blick. "War es mit Tibra nicht ähnlich? Dein Freund, nicht wahr? Du wußtest, daß er dir entzogen ist und niemand ihn anrühren darf, weil ich ihn schütze. Aber als er es wagte, deinen Gefangenen zu entführen, galt das alles nicht mehr." "Ich habe ihm nichts getan," murmelte Ilkonys.
"Nein, das hast du nicht," fuhr ihn Seymas nun wirklich böse an. "Du hast ihn deinem Vater unterstellt, damit er ihn für dich bestrafen soll, wohl wissend, wie wenig gut die beiden einander gesonnen waren. Und nun soll dein Vater deinen Zorn auf Sion ausleben." "Ilkonys fürchtet diesen Krieg," warf Gerrys zögernd ein. "Er sollte vorher überlegen, welche Auswirkungen der Zorn eines Mannes mit seiner Macht haben kann," erwiderte Seymas unwirsch. Erneut wandte er sich an Ilkonys: "Du machst es dir sehr einfach, wenn du bittest, deine Dunkelheit zu erhellen und dann noch hoffst, deine Freunde begeben sich in Gefahr, um deinen Fehler auszumerzen." "Ich weiß, daß ich allein zu der Insel der Läuterung muß," würgte sich Ilkonys ab, der langsam anfing, um sein Leben zu fürchten. So zornig und vor allem so lange so streng hatte er Seymas noch nie erlebt. Er wurde hier nicht nur getadelt. Das Gespräch war noch nicht zu Ende und sicherlich würde der Than an seinem Ende ein Urteil sprechen. "Um was zu tun?" fauchte Seymas. "Um in Sions Bereich einzudringen und Sions Recht zu beugen? Woher nimmst du die Anmaßung, die dich das tun läßt?" "Willar ist kein Mörder," stammelte Ilkonys. "Es kann nicht Recht sein, ihn da zu lassen." "Dann wäre es Recht, sich Sion zu unterwerfen und Thylenon um Gnade zu bitten," beharrte Seymas. "Wolltest du wirklich deinem Bruder helfen und nicht deinen eigenen Stolz befriedigen, hättest du anders gehandelt." "Er muß Willars Leiden enden, um die eigene Dunkelheit zu überwinden," mahnte Nymardos nun, der bisher
zu allem schwieg. Seymas sah ihn lange an. Sie alle wußten, daß eine auferlegte Buße nicht abgeändert werden konnte und ohne deren Erfüllung ein vollwertiges Priesterleben nicht mehr möglich war. "Vielleicht macht ihn das dann endlich demütig," entschied Seymas aber mit harter Stimme. "Herr!" Ilkonys rief dieses eine Wort bestürzt aus. Seymas sprang auf. Zorn funkelte in seinen hellen Augen. "Schweig," fuhr er den Prinzen an. "Du wirst niemanden auf die Insel führen und Sions Recht nicht brechen." Unwillig sah er auf, da in diesem Moment die Tür geöffnet wurde. Tibra trat nicht ein. Er blieb unter dem Türrahmen stehen, sah die Szene und begriff sofort, daß er zur falschen Stunde kam. Gerrys spannte sich an. Er fürchtete, Seymas werde diese unliebsame Störung mit harten Worten vergelten. Doch der junge Than ging einfach an Ilkonys vorbei, trat auf Tibra zu und sprach dann mit unglaublich freundlicher Stimme zu dem Magier. "Wolltest du zu Gerrys? Der Falla geht gern mit dir hinaus." Tibra musterte noch den gedemütigten Prinzen, aber dann hob er den Blick und lächelte Seymas etwas unsicher an. "Verzeiht, Herr," sagte er mit fester Stimme, "ich sehe, daß ich störe. Ich habe nur gefürchtet, ihr werdet den Tempel verlassen, ehe ich Gelegenheit hatte, mich mit euch zu unterhalten. Das würde ich sehr bedauern."
Seymas lachte leise. Er griff nach Tibras Hand und hielt sie mit sanftem Druck. "Nicht nur du," versicherte er ehrlich. "Es ist eine schöne, warme Nacht. Komm, wir gehen etwas in den Garten." Seymas griff nach einem Umhang, der Gerrys gehörte, und legte ihn sich im Hinausgehen um die Schultern. Die Feuchtigkeit der Nebel konnte so etwas abgehalten werden. Er warf keinen Blick zurück, sondern richtete sich ganz auf Tibra aus, der ihn voll Freude begleitete.
I
lkonys sah Gerrys mit einem unglücklichen Blick an und als der Falla ihm zunickte, erhob er sich langsam. "Du solltest uns jetzt etwas ausführlicher erzählen, was vorgefallen ist," schlug Gerrys vor.
Mit stockender Stimme kam der Prinz dieser Aufforderung nach. Seymas' Anklage traf in allen Punkten zu. Er fühlte sich schuldig.
D
er Than inzwischen schlenderte mit Tibra durch den Tempelgarten und unterhielt sich in leichtem Plauderton mit ihm. Sie sprachen zunächst von den gemeinsamen Tagen, die sie auf Amarra verbrachten. Die wenigen Menschen, die sich zu dieser späten Stunde noch im Freien aufhielten, wahrten Abstand. Doch die meisten von ihnen wunderten sich sehr darüber, als sie den vertrauten Umgang zwischen Magier und Than sahen und das leise, aber sehr fröhliche Lachen der beiden Männer vernahmen. Tibra erzählte, wie er Harkym fand und Shannar begegnete. Er fühlte sich wohl. Seymas hörte ihm zu und er hatte nie den Eindruck, als müsse er sich rechtfertigen oder sein Handeln erklären. Daß er damals Shannar entführte, um
mit ihm zu reden, das erschien ihm jetzt, im Erzählen, weit natürlicher als Geschehen selbst. Sie erreichten den kleinen Weiher, an dessen Rand sie sich auf eine Holzbank setzten. Das Quaken der Frösche und das leise Plätschern der größeren Wassertiere wirkte sehr beruhigend. Tibra erzählte von den Stunden, die er mit Nymardos verbrachte. Er liebte diesen Mann und er liebte auch Gerrys, von dem er danach sprach. Aber er hielt keinen Monolog. Auch Seymas berichtete aus seinem Leben. Er sprach nicht von den Dingen seines Amtes, wohl aber von den Menschen und Begebenheiten seines Alltages. Sie sprachen miteinander wie vertraute Freunde und vergaßen die Zeit darin. "Weshalb habt ihr eigentlich Ilkonys so hart bedrängt?" Tibra stellte diese Frage in natürlicher Offenheit und erst, als Seymas ihm einen amüsierten Blick zuwarf, wurde ihm bewußt, daß seine Neugier eine Unverschämtheit sein mußte. Er suchte nach einer Entschuldigung, aber da lachte Seymas voll Heiterkeit. Und dann beantwortete er diese Frage sehr ausführlich. Tibra sah nachdenklich über die Nebelschwaden, die den Weiher einhüllten. "Was beschäftigt dich?" erkundigte sich Seymas aufmerksam. "Manches," gab Tibra zu. "Für euch Priester muß es etwas sehr Schreckliches sein, wenn das, was ihr Licht nennt, nicht in euch ist." "Mitleid mit Ilkonys?" "Ja, wenn die Sache so schlimm ist, wie ich sie mir vorstelle," gab Tibra zu. "Der Prinz ist ein feiner Kerl."
"Das ist er," gab Seymas zu. "Aber sein Hochmut muß wohl immer wieder durchbrechen." Tibra lachte leise auf. "Ich dachte an Willar, als ich von einem feinen Kerl sprach," gab er zu. "Er half mir, als Ariston mich töten wollte und er hat sich bei Ilkonys' Rückkehr an meine Seite gestellt und sich wie ein Freund verhalten, obwohl ihm das sehr schaden konnte. Kennt ihr ihn?" "Ich bin ihm nie begegnet," erwiderte Seymas lächelnd. "Aber jedem, der dir hilft, bin ich wohl gesonnen." Verlegen wich Tibra bei diesem Kompliment seinem Blick aus. "Da ist noch etwas," meinte er. "Die Schwester der Königin hatte einen Anspruch auf Harkym angemeldet und da sie dies vor mir tat, sprach König Ariston ihr das Kind zu. Daß ich Harkym doch erhielt, das verdanke ich Willars offenen Worten." Seymas sah ihn aufmerksam an. "Du fühlst dich ihm verpflichtet?" forschte er. Tibra schüttelte als ablehnend.
den Kopf, dies aber mehr nachdenklich
"Das ist das falsche Wort," vermutete er. "Ich verdanke ihm einiges, das ist richtig. Aber ich, nun, ich mag ihn auch. Als er vor einigen Wochen hier war, sind wir ein paar Mal miteinander ausgeritten. Er ist ein guter Kamerad. Ach, bei allen Göttern, Gebieter, ich will einfach nicht, daß er in den Minen auf der Insel jämmerlich krepiert." "Du meinst also, ich sollte Ilkonys herauszufordern und seinen Bruder
erlauben, Sion zu befreien?"
erkundigte sich Seymas heiter. "Es steht mir kaum zu, euch zu raten," brummte Tibra. "Stimmt," grinste Seymas. "Aber ich bedenke deine Worte und finde eine Lösung. Bleibt Erynia bei Harkym, während du unterwegs bist?" "Ich?" "Ja, sicher." Seymas lachte wieder einmal auf kurze, fröhliche Weise. "Ich kann Gerrys und Illonys die Reise verbieten. Aber ich kann Nymardos nicht aufhalten." "Er muß euch gehorchen, Herr." "Man hat keine Macht über Menschen, die man liebt. Er tut, was er will und du läßt ihn sicher nicht allein." "Bestimmt nicht," versicherte Tibra. "Harkym ist hier sicher und wir wären vor den kalten Nebeln zurück. Wer darf uns begleiten?" "Das ist schwierig," gab Seymas unumwunden zu. "Wenn die Sache schief geht, darf Sion einzig Amarra dafür verantwortlich machen. Ist Nodher beteiligt, ist ein großer Krieg unvermeidbar und das muß verhindert werden. Es darf also auch nur Amarra handeln." "Ich bin nicht Amarras Mann." Seymas griff nach seiner Hand und lachte ihm zu. "Wirklich nicht?" "Ich bin jedenfalls kein Priester," murrte Tibra. "Das ist nicht wichtig dabei," versicherte der Than. "Wenn
du es tust, dann tust du es in meinem Auftrag und für mich. Als Träger meines Opalsiegels bist du ohnehin Amarra näher, als es dir vielleicht lieb ist." Tibra grinste. "Es ist mir sehr lieb," versprach er. "Es könnte durchaus noch näher sein. Ob in dieser Sache oder einer anderen, ich werde stets bereit sein, für euch zu handeln." "Es kann jederzeit näher sein," erwiderte Seymas grinsend. "Du mußt nur nach Amarra kommen. Aber ich schirme es nicht mehr ab vor dir." Tibra schmunzelte. Das Inselreich des Than stand nur Priestern und zur Priesterschaft geweihten Menschen offen. Eigentlich war es ein Gesetz, aber im Grunde war dies eine unumgängliche Regel. Amarra veränderte die Menschen und wer sich dort aufhielt und seinen Zauber erfuhr, der konnte sich dem nicht mehr entziehen. Als der Magier Amarra aufsuchte, schirmte wirklich Seymas die ganzen Tage hindurch diesen Zauber vor ihm ab. Tibra konnte nur ahnen, welches Werk er damit vollbrachte. Würde er ohne diesen Schutz kommen, mußte sein Leben als Magier ein Ende finden. "Und wenn ich nur auf die Gastinsel komme?" forschte er aufmerksam. Amarra vorgelagert gab es ein paar kleinere Inseln, die für Gäste bereitet blieben. Der Einfluß des Reiches wirkte dort nicht. Tibra verbrachte manchen Tag dort. "Du bist jederzeit willkommen," versprach der Than. "Und ich finde sicher auch einige Stunden Zeit für uns. Außerdem warten ein paar Freunde auf dich wie Sasaran oder Bakaar." Er lächelte. "Es wäre wirklich schön, wenn du kommen wolltest."
"Jederzeit?" "Jederzeit und ungerufen," bestätigte Seymas und erlaubte ihm damit den ungerufenen Besuch, der ansonsten nur Nymardos offen stand. Es wurde inzwischen sehr spät. Längst war das mitternächtliche Ritual vorüber. Es herrschte tiefe Stille. Sie gingen langsam zurück, sprachen jetzt über Bakaar und Sasaran, jene Priester, die Tibra kannte und mochte. Der Than geleitete den Magier bis zu dessen Haus, in dem schon alles schlief. "Ich reite morgen früh," erklärte er dann. "Es blieb mir nicht viel Zeit für diesen Tempel. Aber ich freue mich, daß du zu mir gekommen bist, Tibra." "Und ich danke für die letzten Stunden," erwiderte der Magier offen. "Ich wünschte nur, dieser Tag wäre auch für Ilkonys nicht nur ein Schrecken." "Er war nicht sehr freundlich zu dir." "Er ist Nodhers Erbe und ein Erbe der Macht sollte Licht in sich haben," brummte Tibra mißmutig. "Verzeiht, ich will euch weder kränken noch kritisieren, Gebieter. Es ist nur... er ist so übel nicht." "Er hat dich seinem Vater überantwortet und seither nicht mehr mit dir gesprochen," erinnerte ihn Seymas. "Willar half dir, nicht er. Trotzdem bewegt dich sein Schicksal?" "Es ist auch Nodhers Schicksal, Herr." Seymas legte den Kopf ein wenig schief und grinste. Jetzt erinnerte er sehr an den fröhlichen Knaben, der er einst war. Unwillkürlich lächelte Tibra und griff vertraut nach der
Hand des Mächtigeren. "Verzeiht mir, Gebieter," bat er aufrichtig. "Wenn es Sinn hat, euch demütig um Milde für Nodhers Erben zu bitten, werde ich es gern tun. Aber ich will euch nicht kränken durch Widerworte oder Zweifel an dem, was ihr entscheidet." Mit einem Mal hielt Seymas seine Hand da sehr fest. "Schirme deinen Geist ab," verlangte er ernst. Irritiert sah Tibra auf. Nymardos lehrte ihn diese priesterliche Übung zu einer Zeit, da er ständig befürchtete, die Priester um ihn könnten seinen Geist für ihn unbemerkt durch Macht belauschen. Niemand schirmte sich vor einem Falla ab. Wer dies aber vor dem Than tat, der beleidigte ihn aufs Gröbste. "Tue es," mahnte Seymas, noch immer sehr ernst, nun aber eher bittend als befehlend oder drängend. Der Magier zögerte noch. Da Seymas aber schon wieder lächelte, fürchtete er keine Hinterlist oder auch nur ein Fehlverhalten. Er schirmte sich ab. Diese Übung wandte er nur sehr selten an und er nahm nicht an, daß er sie wirklich bis ins Kleinste beherrschte. "Das ist gut," lobte Seymas aber, "du kannst wieder damit aufhören. Die Mauer, die du um deinen Geist legst, ist sehr stark." Tibra grinste etwas unbeholfen. "Eine oberflächliche Berührung des Geistes läßt sich für einen Mann wie mich auf andere Art leichter umgehen," versprach er.
"Zeig es mir," verlangte Seymas und diese Aufforderung klang wie die Einladung zu einem Spiel. Tibra lachte. Er betrachtete dies fast als Herausforderung und nur zu gern wollte er dem jungen Than ein wenig seiner magischen Macht zeigen. "Berührt meinen Geist," lud er Seymas ein. Der Than hielt seine Hand noch immer fest, als ihre Blicke sich trafen. Seymas versuchte nicht, tief einzudringen. Der Magier besaß sein Versprechen, daß er ihn nie durch Macht belauschen würde. Und nun ging es nur um eine Berührung, um ein kurzes Abtasten. Seymas lachte leise, als er sich wieder von Tibra löste. "Du hast an Sinnar gedacht," meinte er ruhig. Tibra schüttelte den Kopf. "Ich habe deine Erinnerung gesehen," bestand der Than. Tibra wehrte vergnügt ab. "Ihr habt gesehen, was ihr sehen solltet," erklärte er grinsend. "Ich war blind, als ich zu euch nach Sinnar kam. Die Szene, die ihr gesehen habt, hat sich so nie zugetragen. Nicht einmal die Landschaft stimmt." "Du warst blind," bestätigte Seymas. "Deshalb erschien dir der Wald dichter, der See größer..." Er lachte heiter. "Du wußtest, wie Sinnar aussieht und du wußtest immer, daß es dort kein Sajik und keinen Pejuk gibt und daß der GalenHirsch dort nicht grast. Du hast mich genarrt." "Ihr Priester könnt nur auf dem Weg über die Augen den Geist berühren," pflichtete Tibra bei, "also weiß ich, wann es geschehen kann. Und als Magier beherrsche ich
meine Gedanken vollkommen, wenn es sein muß." "Wir nennen das Imagination." "Dieses Wort benutzen wir erst, wenn wir die Sache so weit treiben, daß sie fast greifbare Formen annimmt," grinste Tibra. Seymas wirkte sehr nachdenklich und da zog Tibra seine Hand zurück. Er deutete zur Tür. "Ich würde euch gern in mein Haus einladen," sagte er leise. "Aber?" "Aber ich bin diese Nacht schon zu egoistisch gewesen." Tibra lächelte. "Euer Besuch ist für Gerrys eine große Ehre und für Nymardos eine große Freude. Ich stehle den Freunden eure Zeit." "Bist du müde?" "Nein, Herr, gewiß nicht." "Dann komm' mit zum Tempel," schlug Seymas vor. "Solange du nicht offen gegen mich sprichst, wenn ich Ilkonys bedränge, werde ich mich über deine Gesellschaft freuen." "Und wenn ich das vergesse, jagt ihr mich aufs Meer," grinste Tibra. Er dachte dabei an den letzten heiteren Tag, den er mit Seymas auf Amarra verbrachte, als er ein lautes 'nein' rief, nachdem er die Macht des Than verspürte und dessen Urteil nicht verstand. Diese Erinnerung empfand er alles andere als angenehm.
"Ich habe dich immerhin nicht allein gelassen," lachte Seymas fröhlich, der ja damals wirklich bei dem Blinden blieb, der gezwungen war, einen Katamaran zu steuern. "Wenn wir allein sind, hoffe ich auf jede Offenheit von deiner Seite aus. Vor Zeugen bestehe ich auf Respekt. Aber du mußt nicht knien und dich nicht unterwerfen. Mehr gestehe ich dir jetzt noch nicht zu." "Wir sind allein," stellte Tibra fest. "Sagt mir, was aus jener Priesterin wurde." Seymas griff nach seinem Unterarm und zog ihn kurz mit sich, dem Tempel zu. Aber er ließ die Frage nicht unbeantwortet. Damals trennte er in Amarra ein Liebespaar, welches sich über Recht und Sitte hinwegsetzen wollte. "Die Priesterin Olka ist eine beratende Freundin von Wylas Herrscherin geworden. Ihr Liebeskummer war rasch geheilt; in Wyla trauert keine Frau um einen Mann. Und, nun, sie ließ mich wissen, was in den Tempeln dort nicht in Ordnung ist. Das bewog mich, auf Reisen zu gehen." "Ist sie glücklich?" "Sie führt ein erfülltes Leben ändern," versprach Seymas grinsend.
und
möchte es nicht
Tibra atmete erleichtert auf. Diese Frage hatte ihn oft beschäftigt und immer überlegte er, ob die bloße Macht des Than seinen Leuten wirklich keinen Schaden brachte. Das gute Ende dieser Sache hatte er eigentlich nicht erwartet.
I
lkonys war recht froh darüber, daß der Than so lange fort blieb. In Gegenwart seines Freundes Gerrys fühlte er sich sicher und der Pala des Than bedrängte ihn nicht. Allerdings wagte Nodhers Erbe in dessen Gegenwart nicht, all das zu sagen, was ihn wirklich bewegte und in dieser Nacht bewegten ihn durchaus aufbegehrende Gedanken wider die Entscheidung des Than. Leokan, der San des Tempels, war nach dem Ritual kurz gekommen und hatte mit Gerrys über den kommenden Tag gesprochen. Seymas wollte am Morgen abreisen. Bis zu dieser Stunde mußte Gerrys für ihn bereit bleiben. Leokan versicherte sich nur, daß er die Leitung des Tempels in diesen Stunden weiter übernehmen sollte. Auch Seryna war gekommen. Sie hatte das Ritual geleitet und als Falla mußte auch sie für jeden Ruf bereit sein. Erst, als Nymardos ihr versicherte, daß sie sich zur Ruhe begeben dürfe, bereitete sie sich auf den Schlaf vor. Danach saßen sie beisammen und unterhielten sich. Ilkonys erzählte viel aus seinem Alltag, zu dem nun auch Herrscherpflichten gehörten. Gerrys hatte viele Fragen, die Belange der Burg betreffend und erhielt erschöpfend Auskunft. Als sie Schritte hörten, verstummten sie alle. Ilkonys erhob sich und als Seymas, gefolgt von Tibra eintrat, kniete er wieder nieder. Nymardos nahm dem jungen Freund den nebelfeuchten Umhang ab. Ilkonys glaubte sich übersehen. Er warf Tibra einen eindringlichen Blick zu und flüsterte:
"Er mag dich. Hilf mir." Seymas drehte sich ruckartig um und warf Tibra einen warnenden Blick zu. Doch der Magier grinste nur. "Ich mag ihn auch," flüsterte er in derselben Lautstärke zurück, wohl wissend, daß jeder ihn verstehen konnte. "Für einen Freund würde ich ihn bitten." Seymas lachte leise. Er räkelte sich in einem der hohen Sessel, bedeutete Tibra, keine Scheu zu zeigen und nahm den Pokal, den Gerrys ihm reichte. "Du betrachtest Nodhers Erben nicht mehr als Freund?" wollte Gerrys es genau wissen. "Ist es wegen Shannar?" "Nicht wegen dem Urteil, das er über ihn sprach," versicherte Tibra. "Er wußte, daß ich im Gefolge bin und rief nicht nach mir. Und als ich Shannar auf ein Gespräch entführte, überantwortete er mich seinem Vater, der mein Feind war. Von einem Freund hätte ich zumindest ein offenes Wort erwartet." "Am Tag seines Triumphes wollte Nodhers Erbe wohl jede Huldigung auskosten," suchte Gerrys nach einer Entschuldigung. "Da war keine Zeit für vertraute Gespräche." Ilkonys warf dem Falla einen dankbaren Blick zu. Aber Tibra ließ den Einwand nicht gelten. "Das zählt nicht," wehrte er ab. "Er sprach kein Wort zu mir und kein Wort für mich. Das hat Willar getan und sich damit als der treuere Teil von Aristons Söhnen erwiesen." Ilkonys ballte die Hände in ohnmächtigem Zorn zusammen. Er war Tibras Herr, doch solange Seymas anwesend war, durfte er dies nicht zeigen. Der Magier erahnte seine Gedanken. Er vermochte nicht, einen Geist zu berühren und
in ihm zu lesen, doch er verstand es meist, vorhandene Schwingungen intuitiv richtig zu deuten. Er grinste Seymas an. "Es sieht so aus, als wenn ich früher als gedacht nach Amarra kommen müßte, um mich in Sicherheit zu bringen." Seymas lachte. "Mein Land ist kein Zufluchtsort für Flüchtlinge. Als Freund bist du willkommen. Aber wenn dich nur Flucht treibt, so sei unbesorgt. Ich weiß dich durchaus vor dem Prinzen zu schützen." Ilkonys senkte beschämt den Kopf. Der Than nannte den Magier einen Freund und mit diesem Wort ging er nicht unbedingt verschwenderisch um. So sprach er von Caryll und Thyrian, allen voran von Nymardos. Aber ansonsten blieb er bei dieser Bezeichnung sehr zurückhaltend. Nymardos lächelte verhalten. Er wußte, was auf Sinnar geschah und er freute sich sehr gerüber, daß sein geliebter Schützling dem Magier so zugetan war. Seymas entließ Ilkonys mit ein paar knappen Worten. Gerrys sah ihm betrübt nach. "Wenn er seine Buße nicht erfüllen kann, ist sein priesterlicher Weg zu Ende, Gebieter," murmelte er erschüttert. "Er kann immer noch versuchen, Willar auf diplomatischem Weg zu helfen," mahnte Nymardos. Tibra musterte Gerrys überrascht und aufmerksam zugleich. Dann sah er fragend zu Seymas. Er begriff die vorhandene Spannung. Seine Hände hielten den Pokal nun fester und sein Blick verfinsterte sich. Der Than lächelte nur.
"Der Falla ist gekränkt, weil ich ihn ein wenig getadelt habe," erklärte er Tibra in natürlicher Offenheit. Gerrys preßte die Lippen zusammen. Tibra warf ihm einen erstaunten Blick zu. "Getadelt?" wiederholte er. "Wegen der paar Nichtsnutze, die sich hier einquartiert haben?" Seymas lachte schallend auf und auch Nymardos konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen. Da lächelte auch Gerrys. Wenn schon ein Magier sehen konnte, was nicht richtig war hier, dann mußte der Tadel gerechtfertigt sein. "Ich bringe es in Ordnung," versprach er Seymas. Der hatte auch nichts anderes erwartet. Also überging er diese Bemerkung und nahm dem folgenden Gespräch jeden Ernst. Sie plauderten auf recht vertraute Art miteinander und verloren sich irgendwann in Tempelangelegenheiten. Intensive Gespräche über diesen Bereich vermied Gerrys gern, solange Tibra bei ihm weilte. Doch nun befand sich der Than im Tempel und da war es natürlich, auch hierüber zu sprechen. Der Magier hielt sich zunächst zurück, doch Seymas bezog ihn auf unaufdringliche Art immer wieder in das Gespräch mit ein, so daß er bald seine Scheu ablegte und seine Meinung auch zu den Dingen des Tempels offen bekundete. Sie sprachen von einer Priesterschülerin. Die lebensfrohe, junge Frau hatte erhebliche Schwierigkeiten mit den gebotenen Übungen und erreichte einfach nicht den Einstieg zur ersten Weihe. "Wenn man euch so zuhört," grinste Tibra, "dann wundert es doch immer wieder, weshalb die erste Weihe allem Anschein nach die Schwerste sein soll."
"Wenn man ein neues Land betritt, ist das Überschreiten der Grenze der schwierigste Teil," erwiderte Nymardos lächelnd. "Alles danach ist wirklich leichter." "Alle andern Weihen sind leichter zu finden?" "Nicht ganz, Tibra," wehrte Seymas ab. "Die drei großen Weihen haben alle ihr großes Hindernis, das überwunden sein will. Aber bei den drei kleinen Weihen ist wirklich die erste Weihe die größte Hürde. Man sollte dieser Frau einfach mehr Zeit lassen. Es gibt keinen Grund zur Eile." "Vielleicht sollte sie nur lernen, ihr Plappermaul zu halten," lachte Tibra vergnügt. "Die erste Weihe führt doch zu Tabalke, dem Gott des Schweigens." "Es ist nicht das Schweigen der Stimme gemeint," bemerkte Gerrys. "Das Schweigen der Gedanken ist nicht unbedingt etwas, das ihr Priester beherrscht," spöttelte der Magier. "Wirkliche Stille der Gedanken, bewußt und willentlich herbeigeführt, das ist ein magischer Akt." "Den du beherrschst?" erkundigte sich Seymas aufmerksam. Tibra nickte nur, während Nymardos dem jungen Freund einen bestätigenden Blick zuwarf. "Bald heben sich die Nebel," beendete Seymas da das Gespräch. "Ihr solltet alle noch etwas schlafen." Er erhob sich, wünschte den Freunden einen angenehmen Schlaf und verließ mit Tibra den Raum. Im breiten Gang draußen zögerte er dann. Er musterte den Magier eingehend.
"Warte auf mich," bat er dann, ging zurück und bat Nymardos um ein vertrautes Wort. Gerrys ging schon in sein Schlafgemach, Der junge Than trat nahe zu seinem väterlichen Freund. Nymardos schloß ihn fest in die Arme. "Ich wünschte, du könntest länger bleiben," gestand er. "Und ich hoffe, wir reden noch einmal über Willar." "Das tun wir," versprach Seymas, "aber nicht jetzt. Sag mir nur eines: wann ist Tibras Geist so erstarkt?" "Was meinst du?" "In Sinnar war er schwächer," wußte Seymas genau. "Nicht als Magier, das gewiß nicht. Doch die Festigkeit seines Geistes ist seither sehr gewachsen. Was hat ihn verändert?" "Ich denke, das hat der kleine Harkym getan," erwiderte Nymardos lächelnd, während er sich von ihm löste. "Seit Ariston ihm den Knaben überließ, sieht Tibra viele Dinge anders als zuvor. Auch die Nähe zwischen uns wurde viel intensiver. Seit er Vater ist, fühlt er sich wie ein König." "Er könnte mühelos die Weihen erreichen," meinte der Than überlegend. "Hast du nie mit ihm darüber gesprochen?" "Sollte ich je einen solchen Anspruch an ihn stellen, verliere ich seine Liebe," wehrte Nymardos mit leiser Stimme ab. "Er hat seinen Weg bewußt gewählt. Wir haben kein Recht, sein Leben in Frage zu stellen." Seymas strahlte ihn aus seinen wasserhellen Augen an und lachte leise. Ohne weiteres Wort schlüpfte er durch die Tür, griff draußen nach Tibras Hand und zog ihn mit sich. Im Tempel erklang der Ruf zu Tabalkes Ritual.
"Hey, wohin geht es?" rief Tibra aus, als Seymas nicht zum großen Tor strebte. "Weit hinauf," lachte der Than. Er ließ Tibra los, lief aber weiter. Der Magier schaute ihm nach, zuckte dann mit den Achseln und folgte ihm. Der Tempel unten füllte sich schon mit Menschen, doch niemand suchte nun die oberen Stockwerke auf. Völlig außer Atem kamen die beiden Männer auf dem Dach des Tempels an, das zu dieser frühen Stunde noch ganz eingeschlossen im Nebel lag und den weiten Rundblick nicht erlaubte. Sie ließen sich nahe beieinander in der Mitte des Flachdaches nieder und kämpften still, jeder für sich, die Anstrengung des weiten und raschen Laufes nieder. "Müde?" wollte Seymas schließlich wissen. "Etwas," gab Tibra zu. "Es war eine lange Nacht." "Ich habe Möglichkeiten, dir jede Müdigkeit zu vertreiben," bot ihm der Than mit ernster Stimme an. "Ich möchte, daß du noch eine kleine Weile sehr wach bist." Tibra grinste, stieß dann tief den Atem aus. "Das schaffe ich auch allein, wenn ihr mir einen Moment Zeit laßt," versicherte er, legte sich einfach auf den Rücken, schloß die Augen und kontrollierte seinen Atem, seine Gedanken und gleich darauf sein ganzes Sein. Schließlich bettete er in unveränderter Lage den Kopf in seine Armbeuge und sah zu dem neben sich sitzenden Than auf. Seymas legte die Rechte auf seine Schulter. "Ich war noch nie während einem Ritual hier oben," bemerkte Tibra. "Zu der Stunde ist mir der Tempel
eigentlich verboten. Amarras Regeln gelten wohl nicht, wenn Amarras Herr sie bricht. Orte der Kraft haben für mich immer eine besondere Bedeutung und da jeder Tempel auf einem solchen Ort steht, mag ich deren Dächer inzwischen sehr." Er grinste. "Das ist ein bißchen wie auf Silsa." "Erinnerst du dich an unsere Zeit auf Amarra," forschte Seymas ernst. "Ich habe dich aufgefordert, dich mir anzuvertrauen und dann hielt ich deine Hand, während wir im schnellen Lauf die Ebene durchquerten." "Ich werd's nie vergessen," versprach der Magier. "Für einen blinden Mann ist ein schneller Lauf eine echte Bedrohung, eine wirkliche Gefahr." "Aber es gefiel dir," grinste Seymas. "Anfangs nicht, danach schon. Ich kam zu euch, weil ich euch helfen wollte und dann erhielt ich alle Hilfe, die man sich denken kann. Mit eurer Hilfe habe ich auch ohne Augen klarer gesehen." "Vertraust du mir noch?" Die Frage kam sehr ernst und forschend und zugleich in einer Art, die auch eine Ablehnung akzeptierte. Tibra wollte sich aufsetzen, doch Seymas hielt ihn weiter an der Schulter und drückte ihn zurück. "Weshalb bin ich hier?" forschte der Magier angespannt. "Du hast mich in dieser Nacht mehrfach erstaunt," gab Seymas zu. "Dein Geist ist wacher und stärker geworden und du beherrschst seine Bereiche auf eine Art, wie sie Priester in vielen Jahren zu erreichen suchen." Tibra griff rasch hielt sie fest.
nach der Hand auf seiner Schulter und
"Ihr solltet jetzt besser nicht weiterreden," bat er. "Weshalb? Hältst du etwa Nymardos für einen schlechten Priester?" Tibra hielt Seymas' Hand weiter fest, aber nun setzte er sich doch auf. "Es gibt keinen besseren," sagte er nachdrücklich, während er Seymas anstarrte und dabei jedes Wort betonte. Der Than lachte leise. Dieser Magier hob Nymardos über ihn hinaus, aber er verübelte dies nicht. "Du weißt, daß er gewisse magische Werke vollbringen kann." "Das weiß ich," gab Tibra zu. "Aber das ist nur ein Grundwissen; etwas mehr, als Leute der äußeren Zirkel bei uns kennen. Trotzdem behindert es seine Priesterschaft nicht. Er wendet es auch kaum an." "Du mußt ihn nicht verteidigen," grinste Seymas. "Ich weiß schon, was er kann und wer er ist. Er versteht deinen Weg." "Besser, als ich den seinen," gab der Magier zu. "Aber er bejaht meinen Weg auch und versucht nicht, mich davon abzubringen." "Zweifelst du an meiner Bejahung deines Seins?" Tibra schüttelte langsam den Kopf. "Ich weiß, daß du priesterliche Ebenen erreichen kannst," fuhr Seymas da fort. "Du hast Angst, daß sich dein Leben dadurch verändert. Ich verspreche dir, dies kann nicht geschehen." "Warum sollte es dann wichtig sein," murrte Tibra. "Ich will es nicht, Herr."
"Du fürchtest es," stellte Seymas fast erstaunt fest. "Das habe ich nicht gewußt. Es tut mir leid, wenn ich dich bedrängt habe." Er sprang auf die Beine. "Reiten wir ein Stück?" Der Magier erhob sich langsam. In dieser Stunde fühlte sich wirklich nicht wohl. "Reiten? Warum?" "Weil du jetzt scheu bist," lachte Seymas. "Ich trenne mich erst von dir, wenn du das überwinden kannst und dich wie zuvor verhältst." "Die Sache scheint euch zumindest nicht wichtig zu sein," stellte Tibra erleichtert fest. "Sie ist nicht halb so wichtig wie du," versprach der Than. Er wollte gehen, doch Tibra trat zur niederen Brüstung des Daches und starrte in die Nebel. Da kam der Than nahe neben ihn. "Als Raakis Tempel in Khyon geweiht wurde, war ich dabei," murmelte er. "Ich habe diese Kraft gespürt und gesehen, daß sie nicht zu beherrschen ist." "Ich habe nur von Tabalke gesprochen," erwiderte Seymas ruhig. "Minosante, Raaki und Antares sind die Gottheiten der großen Weihen. Die kannst du nicht so leicht erreichen und du müßtest dein Leben sehr ändern, wenn du in ihrem Bereich bestehen wolltest. Die erste Weihe läßt jeden Weg offen; eigentlich tun das sogar die ersten drei. Wie gesagt, es ist nicht wichtig. Ich dachte nur, daß es dich reizen müßte, fremde Bereiche zu erkunden." Tibra lächelte wehmütig. "Priesterschüler schließen Rapport zu ihrem Leiter. Magier
erlauben keine geistige Bindung. Es ist schon fast zu viel, was ich Nymardos da erlaube. Außerdem ist es absolut nicht reizvoll, viel Zeit mit irgendwelchen Übungen zu verbringen, die keinen praktischen Nutzen bergen." "Viel Zeit? Ich reite später weiter, Tibra. Du hast mir schon gezeigt, wie gut du bist, wenn du Visualisieren oder Imaginieren sollst. Gedankenstille kennst du auch. Wo also ist eine Notwendigkeit zur Übung? Es braucht nur etwas Anleitung und Schutz. Beides kann ich dir bieten. Jetzt und hier, Tibra. Es gibt für dich keine Vorbedingung mehr und ob sich hinterher etwas ändert, ist deine alleinige Entscheidung. Mehr Wissen bleibt danach allemal." "Ihr müßtet meinen Geist dabei berühren," wandte der Magier ein. "Ich werde auf ihn achten, das ist alles. Und wenn es gefährlich wird, umhülle ich ihn und bringe dich zurück. Dieses Umhüllen kennst du. Es ist dasselbe wie damals, als ich dich in Amarra umschloß, um dir das Wesen von Miska zu zeigen." "Und wie geschieht es?" "Es gibt verschiedene Wege auf diese Ebene. Einige bedürfen wirklich eingehender Übung, andere kannst du nur allein gehen. Es ist aber wichtig, daß ich dabei bin, um dir notfalls zu helfen. Also nehmen wir den Weg, den man Kinder gehen läßt." Er lachte leise. "Er wird dir leicht fallen. Ich werde versuchen, deinen Geist zu berühren. Und du wirst es verhindern, indem du einen Wirbel visualisierst." "Nymardos erzählte einmal von einem Farbwirbel..." "Deiner nicht würdig," lachte Seymas. "Durch Farb- und Luftwirbel kann ich dir nicht wirklich folgen, wenn ich deinen Geist nicht berühren soll. Also muß der Wirbel stärker sein."
Tibra grinste. "Er wird gewaltig sein," versprach er. "Haltet euch fest, Gebieter. Denkt an das aufgewühlte Meer vor Amarras Klippen. Ich werde ein Loch in den Meeresgrund bohren, durch den das Wasser entschwindet und uns beide mit sich in unendliche Tiefen reißt." "Hört sich gut an," erwiderte Seymas in einer Tonlage, als sprächen sie über ein Spiel. "Zeig es mir." Der Magier musterte ihn kurz. Er hielt sich an der Brüstung fest, doch nicht krampfhaft, sondern sehr entspannt. Seymas legte eine Hand auf die seine. "Berührt meinen Geist," sagte Tibra langsam. Seymas sah, was er sehen sollte. Die Gischt durchnäßte zwei nackte Menschen auf einem schwankenden Katamaran. Tibra spielte mit Erinnerungen. Das Meer ging hoch. Dann gerieten die wilden Wellen in kreisförmige Bewegung; zuerst sehr langsam, dann immer schneller und in der Mitte öffnete sich ein saugender Schlund. Tibra machte die trockene Feststellung, daß wahre Gedankenstille auf magischem Weg leichter zu erreichen war und verspürte in selben Augenblick einen Zug zurück in seinen Körper. Fast widerwillig ließ er da jeden Gedanken verstummen. Wenn Seymas ihn schon hier wissen wollte, dann schien es richtiger, etwas zu verweilen. Er kannte diesen Zustand ja wirklich, wenngleich er jetzt mehr Ruhe beinhaltete und auf eine für den Magier neue Art stärkte. Irgendwann war es wohl genug, denn die Ruhe wich und nun tauchten unzählige Gedanken um Tibra herum auf. Es waren nicht seine Gedanken; sie entsprange nicht ihm. Doch sie stellten seinen Weg und sein Sein in Frage. Er empfand so etwas wie Zorn dabei, sollte dieses Experiment und als
solches betrachtete er die Sache, seinen Weg ja nicht beirren können. Es gab genug Argumente gegen diese Gedanken, die ja eigentlich nur von Seymas stammen konnten. Aber er wollte nicht diskutieren. Wenn er erst einmal damit anfing, seine Überzeugung zu verteidigen, dann duldete er damit auch, daß man sie immer wieder in Frage stellte. Jeder Sieg in diesem gedanklichen Wettstreit trug in sich den Keim des Verlustes. Bei diesem Gedanken, den er selbst empfand und der ihn völlig der Stille entriß, fühlte er sich ungemein wohl. Die Sache amüsierte ihn nun fast, doch ehe er sie auskosten konnte, verstummte jeder Angriff und jede Frage. Es herrschte wieder Stille, doch diese war nun äußerer Natur. In ihm wehte Ruhe, die ihn fast aufforderte, erneut die Stille der Gedanken zu rufen. Da verspürte er einen feinen Zug, schwach nur und ohne Zwang. Dies rief ihn nicht zurück, öffnete jedoch sein Sinnen und entdeckte ihm eine Umgebung, die sich aus Form, Farbe und Ton gestaltete, ohne aber den Nebelreichen ähnlich zu sein. Tibra stimmte sich auf die melodischen Töne ein. In diesem Tun erkannte er deren Verwandtschaft zu den entsprechenden Formen und Farben; bald darauf wußte er mit letzter Klarheit, daß dies alles nur verschiedene Arten der Manifestation derselben Sache waren. Er betrachtete es weiterhin als Spiel. Schon vor dem Erkennen versuchte er, die drei Arten der Manifestation einander zuzuordnen. Er begriff eine Farbe und schaute deren Form und Ton zugleich. Es kostete keine Kraft, geschah auf mühelose Art. Langsam zogen sich die Farben zurück, boten Raum einem klaren, deutlichen Rot, das immer mehr anschwoll. Tibra näherte sich ihm, doch da wußte er sich umfaßt. Es gab weder Sein noch Nicht-Sein, weder Sehen noch Nicht-Sehen. Für einen kurzen Moment befand er sich außerhalb jeder ihm bekannten Realität. Der
Magier
sog
den
Atem
ein. Langsam öffnete er die
Augen. Sein Blick fiel auf den tief unten liegenden Tempelgarten. Die Nebel hingen schon über dem Dach. Seymas wartete etwas, ehe er die Hand des Mannes an seiner Seite drückte. Tibra grinste. "Ich hoffe, ihr seid zufrieden, Herr," meinte er leichthin. "Aber ähnliche Halluzinationen kann jede zweitklassige Hexensalbe bewirken. Das hier war nur etwas bewußter. Wieviel davon ist euch bekannt?" "Alles," versprach Seymas. "Du warst nie allein." "Das habe ich erwartet. Allerdings war es nicht fair, meinen Weg ausgerechnet auf Tabalkes Ebene in Frage zu stellen." Seymas lachte. "Zu diesem Zeitpunkt habe ich nicht gehandelt," versprach der Than. "Es ist völlig normal, wenn beim Eintritt in Liaras Bereich die eigenen Fragen, Befürchtungen und Ängste sehr lebendig werden." Tibra fuhr herum. "Liara? Die Göttin des Friedens beherrscht die zweite Ebene." "Wenn sich Tabalke so leicht ertragen läßt, geschieht es manchmal, daß die zweite Ebene sich auftut. Ein kluger Lehrer holt den Schüler aber rechtzeitig zurück." "Ich halte euch für klug," erwiderte Tibra langsam. "In deinem Fall bin ich eher tollkühn," grinste Seymas. "Immerhin wollte ich dich holen. Aber ich habe deine Intuition immer bewundert und als Saake deren Gehalt prüfte, ließ ich dich doch dort."
"Die Gottheit der Weisheit? Wollt ihr andeuten, ich habe drei Ebenen gesehen?" forschte Tibra mißtrauisch. "Das würde bedeuten, daß im Anwachsen des Rot der Übergang zur vierten Ebene offen lag." "So ist es." "Es war zu einfach," brummte Tibra. "Ich hätte wohl auch Minosante ertragen." "Vermutlich," gab Seymas lächelnd zu. "Aber das hätte dein Leben verändert. Wenn du es willst, dann bringe ich dich hin. Nicht sofort und nicht hier. Aber du könntest es schaffen. Nur, Tibra, dann bist du nur noch Priester, nicht mehr Magier." "Und was bin ich jetzt?" "Was du immer gewesen bist," versprach der Than. "Wenn dieses Erleben in deinem Leben Wirklichkeit werden soll, mußt du es immer wieder üben, es verfestigen und dich auf diesen Ebenen häufig bewegen." "Das habe ich nicht vor. Ich befand mich in einem fremden Land, in dem es nicht erlaubt ist, handelnd zu bleiben." Er lachte. "Fast vergleichbar einem Besuch auf Amarra. Nein, Gebieter, das ist nicht mein Leben. Ich hoffe, ihr seid nicht enttäuscht." Seymas lachte fröhlich. "Ich habe nichts anderes erwartet," versicherte er. "Also war es, wie vermutet, eine völlig überflüssige Sache," stellte Tibra fest, während er seltsamerweise so etwas wie Erleichterung empfand. "Es hat keinerlei Folgen." "Nun
ja," bemerkte Seymas schelmisch, "wenn du jetzt
nach Amarra kommst, darfst du immerhin an Land gehen. Amarras Zauber lockt nur zu Tabalke und dieses Reich ist dir jetzt bekannt." "Das ist allerdings den Aufwand wert," grinste Tibra. "Und wenn du zur Insel der Läuterung gehst, tust es ganz in meinem Auftrag. In dieser Sache bist du nicht Nodhers Mann; wenn du willst, bist du es überhaupt nicht mehr. Soll Gerrys dir heute die feierliche Bestätigung deiner Weihen bereiten und ein Fest ausrichten?" Tibra zuckte förmlich zusammen. "Bloß nicht," entfuhr es ihm, was Seymas ein fröhliches Lachen entlockte. "Ich lege keinen Wert darauf, daß jedermann weiß, was hier oben geschehen ist. Nymardos wird es wissen, aber das reicht dann auch." "Wenn du willst, bleibt es unser Geheimnis." "Es ist nicht wichtig genug, um ein Aufheben davon zu machen," stellte Tibra gelassen fest. "Also ist es auch nicht wichtig genug, um es wie ein Geheimnis zu hüten." "So redet kein Priester," stellte der Than fröhlich fest. "Das kann wirklich nur ein Magier sagen." Sie blieben auf dem Dach des Tempels und sprachen über das Geschehen auf eine so lockere Weise, als hätten sie zusammen gespielt oder ein vergnügtes Abenteuer erlebt.
N
odhers Erbe verbrachte eine sehr unruhige Nacht, in der der Schlaf nur oberflächlich blieb und häufig unterbrochen wurde. Er dachte über vieles nach. Da war Willar, dem er nicht helfen durfte und der auf der Insel der Läuterung zum Tod durch Arbeit verurteilt war. Er dachte auch an Cyprina, die vor ihm floh. Und immer wieder zogen seine Gedanken zu Tibra und dessen harten Vorwürfen. Daß er hier fehlte, wußte er seit langem. Er fand nur nie den Mut, zu Tibra zu gehen, um sich zu entschuldigen. Und nun nannte der Than diesen Magier seinen Freund. Nymardos sprach sicher nicht für ihn und Gerrys durfte es nicht wagen. Tibra hätte es getan, gäbe es einen Grund für ihn dazu. Ilkonys wußte es. Der Magier setzte sich leicht über Regeln hinweg und vertrat seine Meinung auch zu unpassender Stunde. Aber er hatte ihn verraten und durfte nicht auf dessen Hilfe hoffen. Ilkonys hörte den Ruf zu Tabalkes Ritual. Es fiel ihm unglaublich schwer, zu akzeptieren, daß er dem Tempel ausgeschlossen blieb. Er mußte Willar helfen, doch er durfte nicht zu ihm gehen. Er begann nun, über andere Wege der Hilfe nachzudenken. Als er zum Tempel ging, endete eben das Ritual. Ilkonys wartete vor der Tür zu Gerrys' Gemächern. Er wagte es nicht, einzutreten, hoffte aber, daß er früher oder später jemandem begegnen würde. Dann sah er den Than und den Magier kommen. Er kniete nieder, sich etwas wundernd, daß er Eifersucht empfand, als die beiden Männer fröhlich miteinander lachten. Seymas ging einfach an Ilkonys vorbei, aber Tibra blieb stehen und
sah auf ihn nieder. "Besorgt ein Frühmahl für vier," verlangte er dann, als sei Nodhers Erbe noch Chela. Ilkonys sah zornig auf, doch da war der Magier schon beim Than und die Vertrautheit zwischen den Beiden mahnte den Prinzen zur Besonnenheit. Er ging, um das Mahl zu holen. "Würdest du dich immer noch demütigen, um ihm zu helfen?" wollte Seymas leicht erstaunt wissen. "Jederzeit, Gebieter." "Und weshalb demütigst du dann ihn?" "Weil ich wütend bin auf den Prinzen," grinste Tibra. "Ich nehme es ihm übel, wie er mich behandelt hat. Aber zwischen eurem Zorn und meinem besteht ein großer Unterschied, zumindest in der Auswirkung." Seymas lachte leise. Er öffnete die Tür zu Gerrys' Schlafgemach. Tibra wollte ihn zurück halten, aber der Than warf ihm einen fröhlichen und zugleich wissenden Blick zu. Er trat ein, setzte sich an den Rand des breiten, bequemen Lagers und weckte die Freunde mit fröhlichem Gruß. Dort blieb er, bis sie sich ankleideten. Während sie sich für den Tag vorbereiteten, erzählte er mit knappen Worten, was Tibra erlebte. "Kein Wort darüber," mahnte er aber dann. "Es interessiert ihn überhaupt nicht und man sollte es wohl auch nicht überbewerten." Als sie den Wohnraum betraten, wußte Tibra, daß sie es wußten. Er grinste nur und war froh, als Nymardos, falls er
sie empfand, seine Freude nun nicht zeigte. Ilkonys brachte das Frühmhal. Seymas gab ihm ein Zeichen, das befahl, zu bleiben und sie zu bedienen. "Herr," bat Nodhers Erbe, während er die Becher füllte, "darf ich nach Amarra kommen, um Sions Herrscher um Gnade für meinen Bruder zu bitten?" "Das wäre unklug," behauptete Tibra ungefragt. "Lehnt Thylenon ab, gibt es keine Chance mehr auf Frieden." "Ich habe dich nicht gefragt," murrte Ilkonys. "Und ich habe dir keine Rede erlaubt," grinste Seymas. "Tibras Rat ist gut. Überdies erwarte ich, daß du meine Freunde mit etwas mehr Respekt ansprichst. Du sagst doch stets, daß man nur Freunde oder Untergebene duzt. Auf Tibra trifft beides nicht zu, denn er ist deiner Macht entzogen." Nodhers Erbe versuchte, Tibra nun zu ignorieren, doch er konnte nicht verhindern, daß er ihn immer wieder fragend ansah. "Gebieter," ergriff er noch einmal unerlaubt das Wort, "ich muß das Leiden meines Bruders enden. Wenn ich ihn nicht befreien darf und auch nicht mit Thylenon sprechen, so erlaubt mir, daß ich mich gegen ihn austausche. Das geschieht manches Mal auf der Insel und beugt kein Recht, da ich es freiwillig tue." Nymardos griff rasch nach Gerrys Arm, ihn so an einer abwehrenden Bemerkung hindernd. "Ich komme vielleicht Erwägung. "Nun geh'."
darauf
zurück," zog Seymas in
Sobald Nodhers Erbe die Tür von außen schloß, hielt sich der Falla nicht weiter zurück. "Das dürft ihr nicht dulden," drängte er den Than. "Nodhers Erbe kann nicht Sions Gefangener sein." "Wenn er nur in der Dunkelheit der Kupferminen das Licht finden kann, ist das immer noch besser als ein verlorenes Leben in Macht," behauptete Seymas. "Wir hatten aber auch noch über eine andere Möglichkeit für Willar gesprochen," mischte sich Tibra ein. "Die könnte schiefgehen," warnte Seymas. "Dann ist Ilkonys' Opfer die sicherste Chance für Willar. Wenn es Krieg gibt, ist er damit allerdings verloren. Kann ich ihn verhindern, wird er eben einige Zeit schuften. Aber das schadet dem verwöhnten Burschen nicht." "Welche andere Möglichkeit?" drängte Gerrys. "Hast du Karten der Insel?" wich der Than einer Antwort aus. "Das schon, aber sie sind vermutlich sehr ungenau. Es gibt keine Reisenden dort und das Land ist nicht genau verzeichnet." "Kann ich sie sehen?" wollte Tibra wissen. Gerrys warf ihm einen langen Blick zu. Er ahnte die Antwort auf seine Frage, aber er war sich nicht sicher, ob sie ihm gefiel. Der Falla verließ den Raum, kam aber wenig später schon mit drei gefalteten Papieren zurück. Tibra schob den Teller beiseite. "Das ist nichts als Mist," knurrte er wütend, als er die Karten einige Zeit betrachtet hatte.
Die großen Umrisse der Insel stimmten sicher, aber die Einteilung des Landes unterschied sich von Karte zu Karte und sogar die Kennzeichnung der Reiche, welche die einzelnen Minen besaßen, wich voneinander ab. "Es ist chancenlos, hier einen einzelnen Mann finden zu wollen," fürchtete Gerrys, der mit dem Freund die Karte studierte. "Das ist jedenfalls eine Sache für Magier und nicht für Priester," murmelte Tibra. "Eine geringe Chance gibt es schon. Aber dazu brauche ich etwas, das Willar gehört. Ich werde über Burg Nodher reiten. Der Pala des Königs ist dort geblieben. Orales wird mich wohl nicht behindern." "Das kostet Zeit," begriff der Falla. "Es kommt auf die paar Tage nicht an, hoffe ich." "Willar half mir ohne Zögern," erinnerte ihn Tibra. "Ich habe durchaus die Absicht, mich zu beeilen." "Ilkonys wird dir sicher seine Garde unterstellen," warf Nymardos ein. "Du wirst Schutz brauchen auf der Insel." "Nodher hat dort nichts zu suchen," wehrte Tibra sofort ab. "Das ist Amarras Sache und ich reite nur für den Than." Seymas lachte leise, während er sich erhob. Diese Antwort gefiel ihm sehr. "Wartet hier auf mich," verlangte er, ehe er die Freunde allein ließ. Gerrys drängte den Magier sofort, ihm zu berichten, was er plante und wie Seymas dazu kam, ihn mit dieser Aufgabe zu bedenken.
C
yprina bewohnte mit zwei Freundinnen zusammen eines der kleinen Häuser nahe am Tempel. Als der Than bei den Mädchen eintrat, flohen die Freundinnen sofort. "Bitte, seid ihnen nicht böse," sagte Cyprina im Niederknien etwas zu rasch. "Sie fürchten nur eure Macht, nicht euch." Seymas hob sie lächelnd auf. "Ich hätte euch nicht überraschen sollen," wehrte er heiter ab. "Aber ich brauche etwas von dir." "Von mir?" Das Mädchen wunderte sich sehr. Seymas hielt ihre Hand, als er sie eindringlich, aber sehr sanft bat, ihm das Andenken zu überlassen, das Willar ihr zum Abschied reichte. Sie erschrak sichtlich. Trotzdem streifte sie eine dünne Kette über ihr Haupt und zeigte ihm den goldenen Ring, den sie daran trug. Er war zu groß, um an ihre schmalen Finger zu passen. "Ich danke dir, Schwesterchen," lachte Seymas, während er den Ring einsteckte. "Mach dir keine Gedanken wegen deiner Gefühle. Willar verdient deine Zuneigung bestimmt." Sie errötete. Und sie war froh, daß er nun sehr rasch wieder ging und keine weiteren Fragen stellte.
D
ie Freunde berieten noch über den Karten, als Seymas wieder zu ihnen kam. Gerrys hatte eine dünne Schrift gefunden, welche spärlich über die Insel berichtete. Sie nahmen jeden Hinweis in sich auf. Das Mahl stand vergessen auf dem Tisch.
"Hilft dir das?" wollte Seymas wissen, als er Tibra den Ring in die Hand drückte. "Könnte mir eine gute Woche des Reitens ersparen," nickte der. "Ich werde es versuchen." "Zeig's mir." "Keine Magie auf Amarra," erinnerte ihn Tibra grinsend, "also auch keine Magie im Tempel." "Gut, dann gehen wir zu dir," entschied Seymas amüsiert. Gerrys und Nymardos folgten ihnen voll Verwirrung zu Tibras Haus, wo der Magier sie in die abseits stehende Hütte führen wollte. Sie hörten Harkyms leises Weinen. Da zuckte der Magier leicht mit den Schultern. "Ohne Konzentration geht gar nichts," meinte er fröhlich. "Bitte erlaubt, daß ich mich zuerst um meinen Sohn kümmere." Schon verschwand er im Haus. "Er ist nicht gerade sehr höflich," murmelte Gerrys, etwas besorgt, wie der Than solche Behandlung aufnehmen würde. "Aber sehr ehrlich," stellte Nymardos erheitert fest. "Und er weiß, was wichtig ist," lachte Seymas. "Harkym muß ihm wichtig sein, alles andere wäre nicht gut." Sie mußten nicht lange warten. Das Weinen ließ rasch nach und wenig später war Tibra schon wieder bei ihnen. Seine Hütte sah aus wie ein einfacher Wohnraum. Hier fand sich ein großer Tisch, eine Bank und zwei hölzerne Stühle; an den Wänden kleine Regale mit Schriften übersät. Eine große
Truhe stand unter dem Fenster. "Ich bin bei solchen Dingen im Allgemeinen lieber allein," erklärte Tibra freimütig. "Stellt euch dort an die Wand und seid still, egal, was geschieht. Wahrscheinlich geschieht gar nichts." Er entnahm der Truhe eine Honigkerze, die er entzündete. Den Tisch bedeckte er mit einem schwarzen Tuch, stellte die Kerze an das obere Ende und breitete eine der Karten davor aus. Er wirkte nun wirklich sehr konzentriert. Eine flache Schale aus reinem Silber füllte er mit einer trüben Flüssigkeit, die er einem kunstvoll gefertigten Krügchen entnahm. Nachdem er die Schale am unteren Ende plazierte, legte er eine sehr dünne Korkscheibe hinein und gab den Ring darauf. Seine Hände führten beschwörende Bewegungen aus. Tibra intonierte eine unaussprechliche Formel. Die Luft zwischen den Fingerspitzen und der Korkscheibe schien zu vibrieren, die Flüssigkeit in der Schale schäumte etwas. Gerrys spannte sich an. Neben ihm stand Nymardos mit verschränkten Armen und neben diesem Seymas, alles voll Neugier beobachtend. Es sah aus, als würde der Ring zu Glühen beginnen. Doch beim genaueren Hinsehen bemerkten die Freunde, daß sich dieses Glühen mit wenig Abstand über dem Ring ausbreitete. Gleich einem Lichtfinger breitete es sich der Kerze zu aus. Und als das magische Licht auf das Licht der Kerze traf, kräuselte über der Karte etwas Rauch. Tibra sprang vor. Mit der flachen Hand schlug er auf die Karte, mit der anderen verlöschte er rasch die Kerze. Seymas wollte zu ihm treten, doch mit einer herrischen Handbewegung hielt er ihn zurück. Dann steckte er den Ring ein, legte den Kork beiseite und füllte die Flüssigkeit in den Krug zurück. Mit ruhigen Bewegungen räumte er alles
beiseite. Danach griff er die Karte und ging hinaus. Die Freunde folgten ihm. "Verzeiht," wandte er sich an Seymas, "doch so ein magischer Raum verlangt einiges an Vorarbeit. Er ist nicht für Plaudereien geeignet und noch weniger ist er ein Aufenthaltsort für Priester." Er grinste und reichte Seymas die Karte. Staunend sahen sie dann alle die versengte Stelle genau dort, wo sich der Rauch kräuselte. "Du denkst, er ist dort?" forschte Seymas. "Wenn der Ring Willar gehört, ist Willar genau hier," versprach Tibra mit ernster Stimme. "Dann schlafe jetzt etwas, ehe du die Reise beginnst," erwiderte der Than und reichte ihm die Karte zurück. "Hey, davor sollten wir noch ein paar Kleinigkeiten ansprechen." "Ich kümmere mich nie um Details," lachte Seymas, "die überlasse ich dir. Du hast in allen Dingen freie Hand." Tibra warf Gerrys einen mißmutigen Blick zu. "In allen?" "Ohne Einschränkung," versprach der Than. Er griff nach Tibras Händen und drückte sie kurz. "Ich weiß, du machst es richtig. Ruhe ein wenig aus. Wir sehen uns sicher wieder." Tibra war wirklich müde, hatte er doch in dieser Nacht noch kein Auge zugetan. Als Nymardos ihm beruhigend zunickte, ging er wirklich in sein Heim und legte sich nieder. Er schlief schon, noch ehe ihm Erynia den Sohn in den Arm
bettete.
S
eymas suchte den Tempel auf und ging dort in Nymardos' Räume. Die Freunde folgten ihm. Der Than kleidete sich in die einfache Reisekleidung, die er schon in Wyla trug. "Es wird so keiner bemerken, wenn ich den Tempel verlasse," meinte er heiter. "Es wird Zeit für mich. Gerrys, bekomme ich ein Pferd? Ich lasse es in Nurs zurück." "Selbstverständlich, Gebieter. Ihr erlaubt sicher, daß ich euch auch eine Gefolgschaft mitgebe." Seymas lehnte ab. Nymardos lächelte nur dabei. Auch er war stets entweder mit seinen eigenen Getreuen oder allein unterwegs gewesen. "Du weißt, daß ich Tibra nicht allein lasse," wandte er sich an den Than, während er ihm half, sein Bündel zu schnüren. "Und du weißt, daß ich dir nichts befehle," erwiderte Seymas fröhlich. "Alles andere entscheidet Tibra selbst. Hilf ihm und achte auf ihn, aber überlasse ihm die Führung. Er ist der beste Mann für diese Sache, Pala. Aber mir ist sein Leben und seine Freiheit wichtiger als Willar. Verstehst du das?" Nymardos legte den Arm um ihn, zog ihn an sich und hielt ihn fest. "Ich hoffe, du kannst Ariston und Thylenon miteinander aussöhnen. Und ich hoffe, daß ich bald zu dir kommen kann." "Ich warte darauf," lächelte Seymas. Dann trat er zu Gerrys, hinderte ihn am Kniefall und grüßte: "Die Götter sind mit dir, Falla, und mit deinem Tempel."
Seymas warf sich einen kurzen Umhang um, schob die Kapuze über sein Haar, griff das Bündel und schulterte es. Als er den Tempel verließ und zu den Stallungen ging, fiel er nicht weiter auf. Hier gab es oft Reisende. Er grüßte den Priester im Stall, suchte sich ein Pferd aus und ritt davon. Niemand hielt ihn auf und niemand sah ihm nach.
E
rynias Augen leuchteten auf, als Nymardos ihr Haus betrat. Sie hatte nie aufgehört, diesen Mann zu begehren und sie beide wußten dies. Sie stammte aus Wyla und dort wählte eine Frau nach freiem Willen. Rein körperliche Treue galt ihr nicht viel, doch Tibra sah sich außerstande, einem Mann die Freundschaft zu halten, der seiner Gefährtin nahte. So erlaubte Nymardos ihr kein Nahen und inzwischen konnte sie damit umgehen. "Er schläft noch," sagte sie leise, während sie ihm einen Becher mit heißem Tee reichte. "Er wird bis morgen schlafen, wenn ich ihn nicht wecke," erwiderte Nymardos lächelnd, der die Gewohnheiten des Freundes genau kannte. Doch zunächst sah er nicht nach Tibra, sondern nahm Platz und erzählte Gerrys' Schwester von Seymas' Besuch und von Willars Schicksal. Erynia verstand. "Eine weite und gefährliche Reise," meinte sie, obgleich Nymardos noch nicht davon sprach. "Bringt ihn mir heil zurück, Herr. Ich brauche ihn und Harkym braucht ihn. Bitte geht nun. Ich schicke ihn euch gleich in den Tempel. In einer Stunde habe ich sein Bündel gepackt." "Du weißt, was er brauchen wird," vermutete Nymardos, war doch auch sie eine Magierin. "Ich danke dir, daß du ihn nicht halten willst."
"Dann würde ich ihn verlieren," lächelte Erynia. "Ich ginge mit auf die Insel, aber Harkym ist noch zu klein, um ihn allein zu lassen. Wenn ich bei dem Kleinen bin, wird er sich nicht um ihn sorgen und seine Sinne frei haben für die Aufgabe, die er leisten muß. Geht Gerrys mit? Das würde mich beruhigen." "Mich auch," versicherte Nymardos, der sich nun erhob und das Haus verließ. Erynia seufzte leise, ehe sie das Schlafgemach betrat. Der Geliebte lag auf dem Rücken, seinen Träumen hingegeben. In seinem Arm ruhte Harkym. Der Kleine schlief nicht. Er spielte zufrieden mit seinen Händen und war, wie stets, wenn Tibra ihn hielt, sehr zufrieden. Sie lächelte. Als sie die Mutter des Knaben in den Wehen fanden und danach die kleine Waise mit sich führten, war sie es gewesen, die sich sofort in den Säugling verliebte und ihn behalten wollte. Tibra wehrte sich etwas gegen dieses Gefühl, bis er ihm selbst erlag. Und nun bedeutete dieser kleine Mensch dem Gefährten alles. Er hatte sich sehr verändert, seit Harkym zu ihnen gehörte. Fremden mochte dies nicht auffallen, doch sie bemerkte all die Kleinigkeiten, die Tibra nun anders beachtete. Erynia beugte sich über den Geliebten. Sie küßte ihn zärtlich. Es dauerte einige Zeit, bis er den freien Arm hob und über sie legte. Der Kuß gewann an Leidenschaft, während er sie immer fester hielt. "Nymardos hat also schon mit dir gesprochen," stellte Tibra zwischen zwei Küssen fest. "Ich werde einige Zeit fort sein." Erynia setzte sich zu ihm. "Aber du reitest nicht für unseren König, sondern für den Than," murmelte sie etwas unsicher. "Was hast du nur mit
Amarra zu tun?" Tibra lachte leise, während er sich aufsetzte. "Meine besten Freunde sind Priester," meinte er leichthin. "Da wird ihr Reich eben auch für mich wichtig." Er küßte sie flüchtig. "Außerdem ist der junge Than ein feiner Bursche." "Er wollte uns Harkym nehmen," murrte sie düster. "Aber er hat es nicht getan, Liebes." Er hob den Kleinen auf und drückte ihn Erynia in die Arme. "Unser Sohn hat einen Freund in dem mächtigsten Mann der Reiche." "Du wohl auch," murmelte sie nachdenklich. "Und das gefällt dir nicht?" forschte er aufmerksam. "Ich bin besorgt wegen dem, was du für ihn tun willst," gab Erynia zu. "Er gefährdet dein Leben und dazu hat er kein Recht. Ich könnte es eher verstehen, wenn du nur reiten wolltest, um Nymardos zu helfen oder um den drohenden Krieg abzuwenden." "Nun, dann habe ich also drei gute Gründe, es zu tun," stellte Tibra erheitert fest. "Und überdies verdient Willar auch jede Hilfe. Du siehst, es muß ganz einfach sein." Erynia lächelte wehmütig. "Ich weiß, daß es sein muß," gab sie zu. "Nymardos wartet im Tempel auf dich. Ich bereite dein Bündel vor." Tibra küßte sie zärtlich. Ihre Sorge war verständlich und er freute sich darüber, daß sie ihn nicht halten wollte.
N
ymardos trug schon feste Reitkleidung, als Tibra zu ihm kam. Er packte zusammen, was er in den kommenden Wochen benötigte, unterbrach sich aber beim Eintritt des Freundes sofort. "Wir können noch einige Stunden reiten," meinte er wie nebenbei. "Ich hoffe, du hast ausgeschlafen." "Wo ist Gerrys?" "Er arbeitet. Warum fragst du?" "Seymas hat ihm die Reise nicht erlaubt, wie?" Tibra schenkte sich einen Becher voll. "Wie fühlt er sich?" "Er ist betrübt," gab Nymardos zu, forschend den Blick auf Tibra gerichtet. "Andererseits ist es seine Pflicht, zum Fest der Lichtgleiche im Tempel zu sein." "Es wäre nicht das erste Mal, daß der Tempel ohne seinen Falla feiert," grinste Tibra. "Ich habe in allem freie Hand und wähle unsere Begleitung nach Gutdünken. Du denkst doch nicht, daß ich ohne Gerrys reiten werde?" Nymardos Augen leuchteten auf. Er ergriff den Freund bei den Schultern, hielt ihn nahe bei sich. "Wenn du Nähe nicht immer so entsetzlich stur abwehren wolltest, würde ich dich jetzt küssen," drohte er, im Geist bereits den vertrauten Freund rufend. "Solange du keine Gewohnheit daraus machst, habe ich nichts dagegen," versprach der Magier vergnügt. Nymardos lachte leise und zog ihn in einer freudigen Umarmung an sich. Wie erwartet, so löste sich Tibra sehr schnell wieder von ihm, ohne ihn dabei jedoch wirklich abzuwehren.
Gerrys sah erstaunt ihre Heiterkeit. Sie freuten sich auf die Reise und das Abenteuer und gaben dem Denken an mögliche Gefahren keinen Raum. "Hey, Falla," grinste ihn Tibra frech an, "du hast eine Stunde Zeit, die Dinge deines Amtes zu regeln und dein Bündel zu packen. Also steh nicht so untätig da." "Das würde Seymas nicht gefallen," warnte Gerrys. "Er hat dir die Reise nicht verboten," mahnte Nymardos. "Willst du denn bleiben?" "Ob ich will?" Gerrys lachte leise. "Wie kannst du das fragen? Ich bin in weniger als einer Stunde fertig." Er eilte hinaus. Tibra besah neugierig Nymardos' Bündel, entnahm ihm eine der Karten und studierte sie. Die Schrift zeigte Sion. Der Magier überlegte bereits, welchen Weg sie nehmen wollten. "Ilkonys Garde ist auf dem Weg zur Burg," erzählte Nymardos nebenbei. "Es wäre unsinnig, die Männer hier warten zu lassen." "Und der Prinz?" "Er ist noch hier. Orales wird sicher keinen Angriffsbefehl geben und auf Aristons Weisung warten. Bei Nodhers Erben bin ich mir da nicht so sicher. Es ist besser, wenn er der Burg fern bleibt." "Ein Tempel ist kein Gefängnis," grinste Tibra. "Er ist Priester und als solcher fügt er sich priesterlicher Anweisung." "Fragt sich nur, wie lange," wandte Tibra ein. "Wenn wir
weg sind, ist das Risiko groß, daß er den Tempel verläßt. Noch belauern sich die Soldaten an der Grenze, aber irgendwann wird es zu Übergriffen kommen und dann ist es nicht mehr weit bis zu einer blutigen Schlacht. Ilkonys ist nicht bedacht genug, um deffensiv zu bleiben. Ich denke, ich rede besser mit ihm." Nymardos nickte nur. Ähnliche Überlegungen bewegten auch ihn. Er ließ Nodhers Erben rufen. Ilkonys kam rasch. Er wußte, daß der Than den Tempel verließ und nun fühlte er sich wieder sicherer und damit auch stärker. Er war Nodhers Erbe und auch im Tempel der weltliche Herr. Nur Seymas hatte er sich zu beugen. So neigte er beim Eintritt auch nur grüßend den Kopf vor Nymardos. Tibra nickte er fast flüchtig zu. Der Magier lachte leise. "Ich bin euch amüsiert fest.
noch
immer kein Wort wert," stellte er
"Ihr hättet in Surs mit mir reden sollen, anstatt Shannar einfach zu entführen," hielt ihm Ilkonys vor. "Dazu hatte ich keine Gelegenheit. Euer Vater, der all die Jahre hindurch nach meinem Blut gierte, verhielt sich freundlicher als ihr, den ich für einen Freund hielt. Er hörte mich immerhin an." "Ich wußte nicht, daß Shannar euer Sohn ist," murrte Nodhers Erbe widerwillig. "Das wußte auch euer Vater nicht," blieb Tibra stur. "Aber ich ließ euch nicht rufen, um mich mit euch auszusöhnen." "Sondern?" forschte der Prinz in angespannter Aufmerksamkeit. "Ihr
habt angeboten, euch gegen Willar auszutauschen,"
erinnerte ihn Tibra. "Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, daß Willars Freiheit die eure an Wert deutlich übersteigt." Ilkonys sog tief den Atem ein. "Ich reise zur Insel der Läuterung und hole Willar da raus, egal wie." "Ihr? Warum wollt ihr das tun?" "Was geht's euch an?" wies ihn Tibra frech zurecht. "Aber wenn ich versage, ist euer Angebot die letzte Chance für euren Bruder. Wie ernst ist euch damit?" Ilkonys schloß kurz die Augen. Er kannte die Insel der Läuterung nicht, aber er wußte um die vielen Berichte, die von dort auf der Burg eintrafen. Die Gefangenen erwartete dort kein Leben, nur ein sehr langsames Sterben. Diesen Tod gönnte er Shannar, der versuchte, ihn zu ermorden. Aber er gönnte ihn seinem jüngeren Bruder nicht. "Ich reite mit euch," versprach er mit ernster Stimme. "Es gibt nichts, das ich nicht tun werde, um Willar zu helfen." "Das genügt mir nicht," wehrte der Magier ab. "Hier handelt nur Amarra und Nodhers Erbe hat damit nichts zu tun. Ich suche keinen Gefährten für die Reise, Prinz. Es ist eure Buße, Willar zu helfen und wenn ihr sie leisten wollt, dann reitet ihr als mein Vasall." Nymardos hob erstaunt den Kopf. Tibra verlangte viel, da er Ilkonys' Unterordnung forderte. Nodhers Erbe war Herr, nicht Diener. Er wuchs im Bewußtsein seiner Macht auf und lernte nie, wirklich dienstbar zu sein. Gerrys war eingetreten und hatte diesen Anspruch gehört. Tibra warf ihm einen kurzen Blick zu und wartete fast gespannt auf die Reaktion des Falla. Gerrys liebte Aristons Sohn seit der Zeit, da er ein Knabe war. Trotzdem stand er dem Prinzen jetzt nicht bei. Er lächelte Tibra ruhig an
und bedeutete ihm so, daß er sich nicht einmischen wollte. "Ich soll mich Ilkonys ungläubig.
euch
unterordnen?"
vergewisserte sich
"Bedingungslos und in allen Dingen," bestätigte Tibra gelassen. "Ihr müßtet euch um die Pferde, das Lager, die Mahlzeiten kümmern und darüber hinaus ohne Frage und ohne Zögern jede Weisung befolgen, die ich euch gebe. Die Buße verlangt gehorsames Tun. Ich werde es euch nicht leicht machen." "Ihr wollt Rache," vermutete Ilkonys. "Entscheidet euch," verlangte Tibra mit kalter Stimme. "Wenn ihr ablehnt, werde ich Rhagan mitnehmen, der mich mit Freuden begleiten wird." "Ich kenne einige Männer, die sich dir sofort anschließen würden," versprach Gerrys mit ruhiger Stimme. "Es ist für dich sicher weniger anstrengend, wenn Parcylen, Lorynir oder Rhagan dienstbar sind." "Du stellst dich gegen mich, Gerrys?" begriff Ilkonys mit trauriger Stimme. "Nein," wehrte der Falla ab, "aber du hast eine Buße zu leisten und ich sehe, wie du zögerst, dies zu tun. Als du zu mir kamst, hast du wohl gehofft, ich werde dir leicht das Licht zusprechen. Zu Raakis Stunde richtet Raaki. Der dunkle Gott des Todes fordert das Sterben von Stolz und Eigendünkel, von Überheblichkeit und Zorn. In deinem Fall vielleicht auch das Sterben des Leibes. Solange du meinem Gott widerstehst, kann ich nicht auf deiner Seite sein." Ilkonys überlegte nur kurz. Dann trat er auf Tibra zu und sah ihn lange an, ehe er versprach:
"Ich werde mich euch unterordnen. Amarra hat euch meiner Macht entzogen, so daß dies auch später keine Auswirkungen haben wird. Doch sobald Willars Leiden endet, auf die eine oder andere Art, ist meine Buße geleistet und ich nicht weiter euer Untertan. Ich hoffe, daß ich dann nicht euer Feind bin, Tibra." "Das ist mir immer noch zu wenig," grinste der Magier. "Denn was bis dahin geschieht, das ist Teil eurer Buße. Und wenn ihr jetzt schon daran denkt, euch für eventuelle Demütigungen rächen zu wollen, spielt ihr nur den Einsichtigen. Ich habe jetzt keine Zeit für Spiele, Prinz." Er sah die Freunde an. "Wir reiten zu dritt," entschied er dann. "Solange wir einander beistehen, brauchen wir keine Dienerschaft. Bist du fertig, Gerrys?" Der Falla nickte, sah jedoch betrübt zu Ilkonys, der zum Fenster trat und mit sich selbst kämpfte. Tibra griff nach Nymardos' Bündel. "Gehen wir," schlug er vor. Da drehte sich Ilkonys langsam um. "Wartet," bat er mit leiser Stimme. Es fiel ihm schwer, doch er überwand sich und kniete vor Tibra nieder. "Erlaubt, daß ich euch diene, Herr." Der Magier nickte zufrieden. "Beeilt euch mit Packen. Wir erwarten euch bei den Ställen." Nodhers Erbe eilte hinaus. Tibra dankte Gerrys für dessen Beistand. "Ich weiß, daß du den Prinzen liebst," meinte er leichthin. "Laß es mich wissen, wenn es dich quält, daß er dienen muß.
Ich versuche dann, weniger streng zu sein." Gerrys schüttelte den Kopf. "Es schadet ihm nicht, wenn er sich einem Mann unterordnen muß, dessen Freundschaft ihm jede Demütigung erspart hätte," versicherte er. "Mich würde es nicht belasten, wenn ich dir dienen sollte." Der Magier lachte fröhlich. Dienst an Freunden war Freundesdienst und in seinen Augen ein natürlicher Ausdruck der Zuneigung. Die kommende Reise traten sie als Gefährten an, die keinen Sinn für Konventionen besaßen. Ihr Ziel barg Gefahr und ihr Motiv war Sorge. Doch auf dem Weg sollten sie nicht nur ungute Gefühle begleiten, dafür würde er schon sorgen.
S
hannar war noch nicht einmal sechzehn Jahre alt. Er besaß weiche Züge, lange Wimpern, einen vollen Mund, aber zugleich ein etwas ausgemergeltes Gesicht. Sein schlacksiger Körper wirkte dünn und zerbrechlich und seine tiefliegenden Augen blieben meist leer und ausdruckslos. Shannar hegte keine Träume, Wünsche oder Hoffnungen mehr. Er wollte nur noch eines: so lange als möglich überleben.
Die Insel der Läuterung, er kannte sie seit der vergangenen Lichtgleiche. Hier würde er seine letzten Tage verbringen. Es gab keine Chance auf Gnade. Er hatte versucht, Nodhers Erben zu ermorden und dies war seine Strafe. Inzwischen wußte er, daß der Tod gnädiger sein mußte. Dies war kein kleines Eiland, sondern ein gewaltiger Kupferberg, fast von der halben Größe des Reiches Khyon. Aber es gab hier keine Städte, keine Tempel, keine fruchtbaren Ebenen und fröhlichen Familien. Seit vielen Jahren wurden nicht einmal mehr Frauen auf die Insel verbannt. Hier lebten nur Männer und es gab nur zwei Arten von ihnen. Die einen trugen lange Peitschen und beherrschten die anderen, die weit unten im Berg das Kupfer abzubauen hatten, bis der Tod sie aus dieser Schinderei erlöste. Shannar fürchtete den Tag, an dem sie ihn einen der engen Schächte hinabließen. Noch lebte er oben auf dem Berg. Hier gab es ein paar armselige Hütten, in denen die Aufsehen lebten. Einige auserwählte Gefangene mußten nicht in die Minen. Sie blieben oben, um den Aufsehern zu dienen und
um Wasser und Nahrung für die Gefangenen zu bereiten. Eine andere Gruppe litt hier unter den Peitschen. Sie hatte das Kupfererz zur Küste zu schleppen. Manches Mal sah Shannar für kurze Zeit dem elenden Zug dieser Gefangenen zu, die unter der Last und unter den Peitschen stöhnten. Die Sklaven der Reiche führten ein besseres Leben als diese verurteilten Verbrecher. Shannar trug ein Tablett zum Kustos dieser Mine. Der Mann beherrschte hier jeden; er war der Vorgesetzte der Wächter und Herr über Leben und Tod. Der Jüngling verspürte Hunger und Durst, doch er wagte es nicht, etwas von den Speisen für sich zu nehmen. Er konnte nur hoffen, sein Herr werde nicht alles zu sich nehmen, denn die Reste gehörten dann ihm. Sakserr, der Kustos dieser Mine, versah den Dienst seit fast drei Jahren und wartete jetzt nur noch auf seine Ablösung. Die Arbeit war mehr als nur gut bezahlt, doch sie höhlte einen Menschen auch aus und raubte ihm jedes Gefühl für Menschlichkeit. Er übernahm sie um der Solare Willen. Hier verdiente man gut und hatte fast keine Möglichkeit, den Verdienst auch wieder auszugeben. Wenn er zurück nach Nodher ging, war er relativ vermögend und konnte sich seinen Wunsch nach einem eigenen Stück Land erfüllen. Als Shannar in seiner Hütte eintrat, schob er den Bericht beiseite, an dem er eben arbeitete. Den Jungen betrachtete er als sein persönliches Eigentum, der ihm vollkommen mit Leib, Geist und Seele ausgeliefert war. Sakserr betrachtete stets die neuen Gefangenen der Mine, ehe er sie in die ewige Dunkelheit des Berges sandte. Und wenn ihm einer der Gefangenen gefiel, so hielt er ihn auch einige Zeit bei sich, um sich an ihm zu befriedigen. Nach ein paar Tagen ekelte ihn die eigene Gewalt dann an und er schickte sein gedemütigtes Opfer in die Mine. Der junge Shannar fiel ihm damals auch auf. Aber der Jüngling ertrug ihn nicht nur, er
biederte sich ihm förmlich an und prostituierte sich freiwillig um eines kleinen Vorzuges Willen. Sakserr schickte ihn nicht in den Berg. Wenn er für kurze Zeit ein anderes Opfer wählte, blieb Shannar den Wächtern überlassen. Der Jüngling schien sie alle freiwillig zu ertragen, auch wenn ihn nur die Furcht vor der Mine trieb. Der Kustos vergnügte sich mit Shannar. Es gefiel ihm, wie sich der Junge bemühte, ihn zu erfreuen und keinen Tadel zu erwecken. Er litt unter jeder Grobheit, aber dankbar nahm er jede sanfte Berührung an. Sakserr wußte, daß sich Shannar auf diese Weise jedem freien Mann hier ergab, doch das störte ihn nicht. Der Jüngling galt ihm nicht als Mensch, nur als Spielzeug und wenn auch andere mit ihm spielten, so gab es daran nichts auszusetzen. Er stieß Shannar grob beiseite, als draußen Lärmen hörbar wurde. Hastig zog sich der Kustos an, ehe er das Haus verließ. Auf dem schmalen, steinigen Weg sah er Reiter kommen. Ihre Satteldecken wiesen Sions Farben auf. Man mußte hier vorbei, um dann über eine Mine Tharas auf Sions Land zu gelangen. Es gab auf der Insel keine Grenzen. Die Minen gehörten den verschiedenen Reichen, doch das Land gehörte allen. Es herrschte keine Feindschaft, keine Abtrennung. Den Reitern folgte ein Zug von knapp zwanzig Männern. Sie alle trugen einen engen Kupfer-Halsreif, in den Sions Siegel geschlagen war. Alle Gefangenen der Insel sahen so aus. Nur das Siegel unterschied sie und bewies, welchem Reich sie gehörten. Diese Männer besaßen nichts mehr. Ein Tuch als Lendenschutz war alles, was ihnen zustand. Ihr Leben hatten sie durch eine üble Tat verloren und das Recht befahl sie in die Minen. Die Wärter auf den Pferden benutzen die Peitschen, um die Gefangenen auf dem freien Platz zusammen zu treiben,
wo sie sich erschöpft fallen ließen. Sakserr gab Befehl, die Wächter zu bewirten. Um ihre Opfer kümmerte er sich nicht, doch als einer der Reiter für sie um Wasser bat, nickte er zustimmend. Der Reiter saß ab und trat zu ihm. "Ich bin Ulander," stellte er sich vor, "als Ablösung in Sions Mine Slak befohlen." Das Land besaß hier keine Namen, doch die Minen erhielten von ihren Wächtern solche Bezeichnungen. Slak lag weit entfernt. Die Leute würden noch einige Tage unterwegs sein. Sakserr stellte sich ebenfalls vor. Ulander war Kustos wie er, sie hatten also einiges gemeinsam und das versprach ein paar angenehme Stunden guter Unterhaltung. Er bat Sions Mann in sein Haus, wo er ihn reich bewirten ließ. In den kommenden Stunden sprachen sie über ihre Heimat, bald aber auch über ihre Arbeit. Sakserr stellte rasch fest, daß Ulander seine Zukunft nicht einschätzen konnte. Dieser junge Soldat schien wirklich noch anzunehmen, seine Arbeit sei erfreulicher Natur. Der Mann mochte dreiundzwanzig Jahre alt sein, besaß durchaus edle Züge, einen lebensfrohen Sinn und wache Augen, die alles wahrzunehmen schienen. Das goldbraune Haar hielt er fest gebunden, was ihn schmaler erscheinen ließ, als er eigentlich war. "Ihr seid recht jung für diese Aufgabe," stellte Sakserr fest, der inzwischen mehr als doppelt so viele Jahre sah. "Das Leben auf der Insel ist recht düster. Die Tage in Sion sind sicher angenehmer." "Ich bin jung, aber nicht unerfahren," gab Ulander zu. "In Sion war ich Festungs-Teju. Aber drei Jahre auf dieser Insel, das bringt mehr ein als zehn Jahre Dienst in Sion." "Dieselben
Überlegungen
brachten
mich
hierher,"
erwiderte Sakserr. "Ich wollte etwas Land kaufen zu können."
genug verdienen, um mir
"Eigenes Land ist jedes Opfer wert," lächelte Ulander. "Ich habe einen kleinen Sohn, dessen Ausbildung ich mir hier verdienen werde. Ylmir wird später nichts vermissen." "Dafür vermißt er jetzt seinen Vater." Ulander schwieg dazu. Es ging diesen Mann Nodhers nichts an, was ihn wirklich bewegte. Er wollte ihm nicht erzählen, daß die Mutter des Kindes ihm ohnehin kein Recht an dem Knaben einräumte und es vorzog, mit dem Kind im Haus ihres Vaters zu bleiben. Er hatte sich in der Tiefe ihrer Liebe geirrt. Ein Soldat genügte ihr nicht als Gemahl. Vermutlich würde sie sich irgendwann mit einem reichen Mann vereinen, der dann auch für Ylmir sorgen konnte. Trotzdem wollte er später vor seinen Sohn treten können und dann nicht nur leere Hände besitzen. Sakserr unterbrach seine Gedanken, als er von seinen Geschwistern sprach und seiner Herkunft. Die Nebel senkten sich. Shannar brachte das Abendmahl, bediente die Männer. Ulander ignorierte ihn und er zeigte auch keine Reaktion, als Sakserr lüstern die Innenseite der Schenkel des Jüngling streichelte. Später gab Nodhers Kustos Befehl, Ulander eine der Hütten als Gästehaus zu bereiten und dienstbei bei ihm zu bleiben. Shannar entfernte sich gehorsam. Er wußte, was diese Worte bedeuteten. Während er das Lager für den Gast bereitete, überlegte er, wie er den Gefallen des fremden Mannes erwecken konnte. Sollte Ulander sich am andern Morgen über ihn beklagen, mußte er gewiß in die Mine hinunter. Es gab nichts, das er mehr fürchtete. Stunden später war er allein mit Ulander. Er bereitete dem Gast ein Bad, bediente ihn und als er dann seinen Körper
trocken rieb, waren seine Berührungen nicht mehr nur diensteifrig. Ulander gab ihm eine schallende Ohrfeige, deren Gewalt den Jüngling zu Boden warf. "Du kannst gehen," entließ ihn Sions Kustos. Shannar warf sich auf die Knie. "Ich werde euch in allem dienen, Herr," versprach er bettelnd. "Schickt mich nicht fort, bitte. Ich tue alles, was ihr wollt. Es wird euch gefallen, Herr. Bitte, seid gnädig." Angewidert packte ihn Ulander am dünnen Oberarm, riß ihn hoch und stieß ihn wortlos zur Tür hinaus. Er würde drei Jahre lang keine Frau zu Gesicht bekommen, aber es erschien ihm unwahrscheinlich, daß er einen der Gefangenen als Ersatz mißbrauchen könnte.
A
ls er am andern Morgen die Hütte verließ, sah er Sakserr bei seinen Gefangenen. Diese Männer lagen auf den Knien. Man hatte ihnen allen das Haar so weit abgeschnitten, daß der Hals frei lag, um den sich der Kupferreif legte. Sie waren durch Ketten miteinander verbunden, erhielten Wasser und Nüsse. Ulander trat langsam hinzu. Sakserr hatte seine Hand in das braune Haar eines jungen Gefangenen gekrallt und zwang ihn so, das Gesicht zu heben. Der Bursche besaß einen wohl geformten Körper und weiche, fast zarte Haut. Auch seine Hände zeigten sich glatt. Er hatte wohl nie wirklich gearbeitet in den gut zwanzig Jahren, die er lebte. Sakserr löste den lüsternen Blick von ihm und sah Ulander an. "Drei für ihn," bot er Sions Mann ein gewinnbringendes Geschäft. Der Gefangene spannte sich an. Er preßte die Lippen zusammen und ballte sogar eine Hand zur Faust.
"Laßt ihn los," erwiderte Ulander ruhig. "Er sollte essen und trinken, wie die anderen auch." Sakserr stieß den Burschen zu Boden. Vor Zeugen wollte er nicht deutlicher mit Ulander sprechen. Er bat ihn in sein Haus, um dort das Frühmahl mit ihm einzunehmen. Während er ging, musterte Ulander den Gefangenen. "Eine geballte Faust verlangt nach der Peitsche," drohte er gutmütig. "Im Berg gibt es keinen Unterschied zwischen Nodher und Sion." "Ich fürchte nicht den Berg, Herr," murmelte der junge Mann. "Ziehst du ihn vor?" Der Bursche nickte langsam. Einer von Nodhers Gefangenen reichte ihm eine Schale mit Wasser und eine reife Molnuß. Er wagte es nicht, vor seinem Herrn zu essen. Ulander wandte sich ab, um Sakserr zu folgen. Der Gefangene erbrach die Nuß. Die harte Schale der faustgroßen Frucht trennte sich in zwei Teile, anstatt, wie üblich, in mehrere kleine Stücke zu zerspringen. Der Bursche trank gierig das Wasser, doch sein dunkler Blick musterte das harte Fruchtholz. Dann sah er Shannar, der dem Haus zustrebte. Einer der Wächter Nodhers hielt ihn auf und trieb einen üblen Scherz mit ihm. Shannar ließ sich die lüsternen Berührungen reglos gefallen. Der Gefangene Sions ahnte, welches Schicksal auf ihn wartete, wenn Ulander auf den Tausch einging. Ein bestialischer Schmerz durchfuhr ihn, als er mit hartem Ruck die Nußschale über sein Handgelenk riß und die Schlagader durchtrennte. Das Blut schoß förmlich aus der Wunde. Einer der anderen Gefangen stieß einen leises Schreckensschrei aus. Das erweckte die Aufmerksamkeit
der Wächter. Rufe wurden laut. Ein Peitschenknall ertönte. Das dünne Leder riß den Rücken des Gefangenen auf, der zugleich von einem der Wächter auf die Beine gezogen wurde. Ulander und Sakserr kamen, vom Lärm gerufen. Sions Kustos packte den Unterarm des Gefangenen. Das Blut tropfte unaufhörlich aus der Wunde zu Boden. Er nickte einem seiner Begleiter zu, der sich sofort der Wunde annahm und den Blutfluß mit einer Salbe stillte. Der Mann legte einen festen Verband an. "Jetzt ist er mir fünf wert," grinste Sakserr. Es mußte ein besonderes Vergnügen sein, einen Mann zu unterjochen, der den Tod seiner Nähe vorzog. "Nehmt ihm die Ketten ab," bestimmte Ulander. Sakserr ging zufrieden zu seinem Haus zurück. Da Sions Kustos den Gefangenen von den anderen isolierte, nahm er an, das Geschäft sei abgeschlossen. Ulander sollte es nicht bereuen, sondern fünf kräftige Arbeiter für ihn erhalten. Der Gefangene empfand große Furcht, als die Wächter ihm die Ketten abnahmen und sein Herr ihm bedeutete, ihm zu folgen. Ulander entfernte sich nicht weit. Nach wenigen Schritten setzte er sich auf einen der großen Gesteinsbrocken, die es hier überall gab. "Bleib stehen," verlangte er, als der Bursche niederknien wollte. Er musterte ihn eingehend. "Hast du einen Namen?" "Man nennt mich Willar, Herr." "Du bist dazu verurteilt, den Rest deines Lebens das Kupfer zu bergen. Hier draußen gehört dein Leben mir. Du hast kein Recht, es selbst zu enden."
"Aber ich habe auch nicht die sexuellen Spielzeug zu degradieren."
Pflicht,
mich
zum
Ulander lachte leise. "Du hast die Pflicht, alles zu tun, was ich will," stellte er belustigt fest. "Sakserr bietet dir immerhin ein Leben im Licht." "Die Dunkelheit der Minen ist heller als alles, was er bieten kann," murmelte Willar furchtsam. "Ich bitte euch, seid gnädig und verlangt das nicht von mir." Ulanders Lächeln erstarb bei diesen Worten. Auch Shannar bat ihn, gnädig zu sein, aber er wollte genau das Gegenteil von dem, was dieser Willar wünschte. "Was bietest du dafür?" wollte er wissen. Willar senkte ergeben den Kopf. "Ich kann euch nichts bieten, Herr. Mein Leben gehört euch schon. Ich bin ganz in eurer Hand." "Du sagst es," bestätigte Ulander. "Und dein Leben ist nichts mehr wert. Wozu also der Aufwand? Fünf zu eins ist ein gutes Geschäft für Sion, dessen Recht du mißachtet hast. Nach einiger Zeit schickt dich Sakserr ohnehin in die Mine. Es liegt an dir, wie lange das dauert. Es wird wohl erträglich sein, denn Shannar hat sogar Gefallen daran." Willar ging bestürzt auf die Knie. "Shannar hat sich schon als freier Mann prostituiert," entdeckte er voll Furcht. "Ich werde das keinen Tag lang ertragen." Ulander musterte ihn aufmerksam und fragte sich, woher dieser Bursche Nodhers Gefangenen kannte. Willar sah ihn flehend an. "Mein Leben gehört euch, Herr.
Aber mein Geist ist ungebunden. Ich werde euch, solange ich lebe, mit guten Gedanken umgeben und die Götter anflehen, euch zu schirmen. Zwingt mich nicht in diese Schande." "Gute Gedanken?" Ulander schien belustigt. "Gib mir mehr," verlangte er. "Der Weg nach Slak ist weit. Gib mir bis dorthin freiwilligen Gehorsam, der die Kette und die Peitsche überflüssig macht. Und gib dir Mühe, denn sobald ich unzufrieden mit dir bin, schenke ich dich diesem Sakserr." Er erhob sich. Willar suchte nach einem Wort des Dankes, doch Ulander ging schon an ihm vorbei in das Haus seines Gastgebers. Sakserr nahm die Entscheidung von Sions Kustos mit sichtlichem Unwillen hin. Er zeigte sich nun weniger höflich und zuvorkommend. Er fühlte sich beleidigt, da Ulander ihm einen unwerten Gefangenen entzog. Als Sions Mann das Haus verließ, um die Gegend zu verlassen, prügelte er zornig auf Shannar ein. Wäre der Bursche gefälliger gewesen, hätte sich Ulander ihm verpflichtet gefühlt. Aber schließlich ließ er von dem Jüngling ab. Er hatte die Pflicht, Sions Männer zu verabschieden. Die Gefangenen standen schon in einer Reihe, Willar ihnen voran. Sakserr sah, daß er keine Ketten trug. Er grinste und glaubte, zu verstehen. Ulander hatte wohl selbst Gefallen gefunden an dem Burschen und das war etwas, das Sakserr durchaus verstehen konnte. "Ich sehe jetzt, daß eure Ablehnung mich nicht kränken sollte," gab er vor Ulander zu. "Ein gutes Geschäft für Sion muß nicht zwangsläufig ein gutes Geschäft für euch sein. Schickt den Burschen zu mir, wenn ihr seiner überdrüssig seid. Ich nehme auch gebrauchte Ware."
"Aber sicher nicht zu diesem Preis," lächelte Ulander, der Sakserr jetzt gern die Faust ins Gesicht schlagen wollte. "Damit wäre der Bursche dann auch überbezahlt," bestätigte Sakserr. Er wandte sich um, rief einen seiner Leute und befahl: "Kette Shannar an Sions Leute." Dann sah er Ulander an. "Betrachtet ihn als Anzahlung. Zu gegebener Zeit erhaltet ihr einen weiteren Mann für den Burschen." "Wenn ich seiner überdrüssig bin," nickte Ulander. "Das kann eventuell dauern." "Ihr irrt euch," widersprach Sakserr selbstsicher. "Sobald euch euer Amt vertraut ist, werdet ihr sehen, daß das sehr schnell geht. Es ist genug Ware da und einer ist so gut wie der andere. Der Reiz verfliegt schnell." Ulander bestieg sein Pferd. Er winkte Willar an seine Seite und fuhr ihm mit einer wie zärtlichen, aber zugleich besitzergreifenden Geste durchs volle Haar. Willar erschauderte. Doch Ulander lachte leise, während er Sakserr nicht aus den Augen ließ. Der sah seine Vermutung jetzt bestätigt. Zufrieden trat er zurück. Sions Leute zogen weiter. Sakserr war sicher, daß er schon in wenigen Tagen diesen Burschen erhalten würde und er malte sich die Stunden mit ihm bereits in allen Einzelheiten aus.
D
er Weg über die Insel der Läuterung war steinig und hart. Von Nodhers Mine aus ging es über ein weites Geröllfeld. Die Gefangenen trugen keine Schuhe. Ihre Füße bluteten bald. Willar lief neben Ulanders Pferd und versuchte, den Schmerz zu ignorieren. Er stürzte mehrmals, rappelte sich auf und lief dann weiter. Hinter sich hörte er die Peitschen. Er wandte sich nicht um, aber er wußte, daß seine Schicksalsgefährten auf blutige Weise angetrieben
wurden. Stille Tränen des Mitleids und der Verzweiflung rannen über seine Wangen. Als Sions Urteil sein Schicksal besiegelte, wußte er, daß nur noch Leid auf ihn wartete. Als sie ihn durch das Land schleppten, hielt er alles noch für erträglich und als die Galeere ihn auf die Insel brachte, ahnte er bereits die Wahrheit. Seit er aber im Zug der Gefangenen mitging, litt er nur noch. Er litt für die anderen Männer und er litt um seinetwillen. Schmerzen, Hunger, Durst, Blut und Leid war alles, das er noch erwarten durfte. Er wußte nicht, wie das zu ertragen war und hoffte, abzustumpfen. Ein spitzer Stein schnitt ihm die Fußsohle auf. Mit leisem Schmerzensschrei stürzte er nieder. Ulander zügelte sein Tier. Hastig erhob sich Willar. Er fürchtete wirklich, seinen Herrn zu erzürnen und dann an Sakserr übergeben zu werden. Er wollte fest auftreten, doch der Schmerz verhinderte dies. Ulander sah zurück. Die fünf Wächter, die ihn begleiteten, schwangen die Peitschen und trieben die erschöpften Männer vorwärts. Sie hatten noch nicht einmal die Mitte des Geröllfeldes erreicht. Da ihr Führer nicht wieder anritt, war ihnen allen eine kleine Pause vergönnt. Stöhnend sanken die Gefangenen nieder. Ulander löste den Wasserschlauch von seinem Sattel und hielt ihn Willar entgegen. Zögernd nur griff dieser danach, aber dann trank er gierig. "Genug." Ulander sagte es sehr leise, fast freundlich. Willar gab ihm den Schlauch zurück. Die Wärter sahen, was geschah, und gaben nun ihrerseits den Gefangenen etwas Wasser. Ulander lächelte verhalten. Es waren keine Befehle nötig. Was immer er Willar tat, das würden seine Leute den anderen tun. Er stieg vom Pferd. Willar kniete rasch nieder, hielt den Blick gesenkt und wartete angstvoll auf eine Weisung.
Ulander zog ein Tuch aus seinem Bündel, warf es Willar zu und verlangte: "Reiße den Stoff in Streifen und binde ihn um deine Füße." Der junge Mann gehorchte eilig. Aus den Augenwinkeln sah er, wie seinen Schicksalsgefährten dieselbe Möglichkeit geboten wurde. Die Tränen des Schmerzes versiegten langsam. "Ich danke euch, Herr," flüsterte Willar, der nicht wußte, ob ihm die Rede erlaubt war. Ulander schwang sich wieder in den Sattel. Der Bursche war stärker, als er vermutete. Er hatte eigentlich damit gerechnet, daß er früher zusammen brechen würde. Nun trieb er sein Pferd zu etwas schnellerer Gangart an. Während des Ritts ließ er Willar nicht aus den Augen. Der junge Mann stürzte mehrmals, doch er erhob sich stets rasch und versuchte, nahe des Reiters zu bleiben. Am Ende des Geröllfeldes befand sich ein ansteigender Hang. Hier wuchs spärlich etwas Gras zwischen großen, flachen Steinen. Ein paar dürre Bäume standen wie Todesboten; ausgetrocknete Büsche suchten zwischen den Steinen Deckung. Ulander trieb sein Pferd ein Stück bergan, bis er eine Fläche fand, die nacktes Erdreich und damit etwas Bequemlichkeit bot. Dort sprang er aus dem Sattel. Willar lief zu ihm. Er hatte nicht Schritt halten können und brauchte einige Zeit, bis er ihn erreichte. Völlig ausgepumpt ließ sich der junge Mann zu Boden fallen. Er rang nach Atem, während der Schmerz seiner Füße wieder in sein Bewußtsein drang. "Wasser," entrang sich die Bitte endlich seiner Kehle. Ulander setzte sich nieder. Er hielt den Wasserschlauch in der
Hand, trank nun selbst, erfüllte aber die Bitte seines Gefangenen nicht. "Sattle das Pferd ab," befahl er. "Wir übernachten hier." Willar erhob sich mühsam. Er fühlte sich elend, schwach und ausgeliefert. Seine Finger zitterten. Es kostete ihn das letzte bißchen an Kraft, den Sattelgurt zu lösen. Für einen Moment erwog er, sich auf den Rücken des Pferdes zu schwingen. Doch Flucht war sinnlos auf dieser Insel. Der Kupferhalsreif verriet ihn ebenso wie das kurze Haar. Jeder konnte ihn als Flüchtling erkennen. Es gab nur einen einzigen Hafen auf der Insel, schwer bewacht von Soldaten aller Reiche. Willar wußte um die Unmöglichkeit, von hier zu entkommen. Er ließ den Sattel fallen, da er dieses Gewicht nicht zu halten vermochte. Das Pferd begann, die spärlichen Gräser zu rupfen. "Bring mir den Sattel." Willar gehorchte. Er schleppte die Last mühsam. Sein Atem ging langsam regelmäßiger. Nur der Schmerz und der Durst quälten weiter. Ulander benutzte den Sattel als Lehne, lagerte sich bequem hin und winkte Willar zu sich. Der junge Mann kniete still bei ihm. Der Zug der Gefangenen erreichte sie endlich. Die erschöpften Männer ließen sich einfach fallen. Sie flehten ihre Wächter um Wasser an. Der Knall der Peitschen ließ sie verstummen. "Kümmere dich um die Pferde meiner Leute," befahl Ulander. Während Willar gehorchte, kamen die Wärter zu ihrem Herrn und sprachen mit ihm. Man hatte ihnen den Dienst auf der Insel befohlen. Jeder von ihnen würde drei Jahre hier leben müssen. Sie waren nicht freiwillig hier und sie
mochten diesen Dienst auch nicht. Ulander behandelte sie freundlich, seit sie ihm im Hafen der Insel begegneten. Die Geschichten, die sie in Sion über die Insel hörten, ließen sie befürchten, einem strengen und bösartigen Herrn unterstellt zu werden. Daß sich diese Befürchtungen nicht bewahrheiteten, erleichterte diese Männer sehr. "Herr, erlaubt ihr, die Gefangenen zu tränken?" erkundigte sich Thorin besorgt. Ulander lächelte ihm zu. Der Mann, keine zehn Jahre älter als er, erwies sich von Anfang an als sehr umsichtig in allen Dingen. Er benutze die Peitsche wie seine Kameraden, doch er fand keinen Gefallen an sinnloser Qual. Der Kustos nickte. Erleichtert nahm Thorin Wasserschläuche vom Packpferd, das Willar noch nicht absattelte. Thorin hielt dem jungen Mann eine flache Holzschale entgegen. "Tränke deine Kameraden," verlangte er. Willar hielt die Schale, die Thorin füllte und setzte sie dann einem der Gefangenen an den Mund. Dies wiederholte sich so lange, bis sie alle getrunken hatten. Es war nicht viel Wasser, das die Leute erhielten, doch es stillte immerhin den schlimmsten Durst. Thorin füllte die Schale erneut. "Trink," lud er Willar freundlich ein. Der junge Mann preßte die Lippen zusammen und senkte den Kopf. Alles in ihm schrie nach Wasser, doch als er Ulander darum bat, ignorierte dieser seinen Durst. Willar fürchtete, den Unwillen seines Herrn zu erregen, wenn er die Gabe nun annahm. Und er war nur eine Tagesreise von Sakserr entfernt, dem ausgeliefert zu werden ihm schlimmer als jeder Durst erschien. Er kniete nieder und hoffte, Thorin werde ihm die Ablehnung vergeben. Irritiert sah der Mann zu seinem Herrn. Ulander lachte leise,
als er ihn zu sich winkte. Thorin schüttete das Wasser aus. Er trank nicht aus der Schale, die so viele Gefangene am Mund hielten. Willar sah das Wasser vor sich versickern. Seine Augen wurden feucht. Seine Eingeweide krampften sich zusammen. Er warf sich nieder und leckte gierig die letzten Wassertropfen auf, die eben in der trockenen Erde versickern wollten. Die anderen Wächter hatten inzwischen dürres Holz gesammelt, ein Feuer entzündet und brieten nun Fleisch aus ihren Vorräten. Für die Freien gab es ein schmackhaftes Mahl, die Gefangenen mußten hungern. In der Dunkelheit hielten die Wärter abwechselnd Wache. Zwanzig aneinander gekettete Männer konnten zwar nicht fliehen, doch waren sie durchaus imstande, ihre Peiniger zu überwältigen. Ulander schlief noch nicht, als schon alles ruhte. Seine Gedanken weilten bei Willar, der entfernt am Boden lag. Irgend etwas an diesem jungen Mann faszinierte ihn. Er fürchtete die Pein sexuellen Mißbrauchs, aber diese Angst teilte er wohl mit vielen der Gefangenen. Die Art aber, wie er redete und wie er versuchte, sein Wort des Gehorsams zu erfüllen, die erschien Ulander außergewöhnlich zu sein. Der Bursche schien zuvor ein Leben in Luxus geführt zu haben, das verrieten seine glatten Hände. Aber er war nicht verweichlicht, wie Ulander es von den Söhnen der Herrschaften kannte. Den Schmerz der nackten Füße auf rauhem Stein ertrug er jedenfalls. Und die Art, wie er die Gefangenen tränkte, bewies ohne Worte, daß der junge Mann Mitleid und Güte empfand. Ulander mahnte den Wachposten mit einer knappen Handbewegung zur Ruhe, als er sich erhob. Er ging zu Willar. Der junge Mann schlief zusammengerollt auf der nackten Erde, wenige Schritte vom Feuer entfernt. Seine Träume konnten nicht gut sein. Er stöhnte leise, verkrampfte sich. Den Mund hielt er halb geöffnet. Die trockenen Lippen waren aufgesprungen.
Ulander ging in die Hocke. Sacht berührte er Willar an der Schulter und er erschrak fast mehr als der Schläfer, da dieser nun wie unter einem Hieb zusammen zuckte und fluchtartig eine kurze Entfernung wegkroch. Willar begriff, wer bei ihm war, warf sich längs nieder und preßte verzweifelt das Gesicht gegen die Erde. Er konnte nicht verhindern, daß leises Weinen seinen Körper erbeben ließ und er schämte sich für seine verzweifelte Schwäche. "Verzeiht, wenn ich wachen sollte," stammelte Willar. "Ich wollte nicht säumen, Herr." Der Kustos schwieg. Er sah wohl, was mit Willar geschah und begriff, daß hier ein Mensch zerbrach. Er verstand erst nun, welche Macht ihm auf dieser Insel gegeben war. Wenn er Slak erreichte, waren ihm hunderte von Menschen ausgeliefert, die er nach Belieben behandeln durfte. Auf der Insel gab es kein Recht, das für alle galt. Er allein entschied, was richtig war und er konnte jeden Einzelnen der Gefangenen quälen, martern und zerbrechen. Solange genug Kupfer abgebaut wurde, durfte er tun, was immer er wollte. Er dachte an die Festung, in der er lebte. Auch dort galt sein Wort als Befehl und seine Jugend erforderte es, daß er sich manches Mal durch Strenge die Achtung seiner Leute erkämpfte. Aber im Grunde war dies kein Vergleich. Die Menschen dort waren seine Kameraden. Die Gefangenen verloren durch ein Verbrechen jedes Recht auf eine menschenwürdige Behandlung. Ihr Leiden war Teil der Gerechtigkeit. Ulander mußte sich an diesen Gedanken erst gewöhnen. "Komm mit mir," verlangte er schließlich. Er lagerte bei seinem Sattel nieder, wartete, bis Willar bei ihm kniete und stellte erstaunt fest, daß der junge Mann immer noch furchtsam zitterte. Mitleidig gab er ihm den Wasserschlauch. Willar trank gierig, bis ihm der Schlauch
genommen wurde. Ulander reichte ihm ein Stück erkaltetes Fleisch, das sein Gefangener heißhungrig verschlang. Schließlich schob der Kustos Willar einen kleinen Behälter mit Wundsalbe zu und forderte ihn auf, seine zerrissenen Füße zu salben. In dieser Stunde wachte Thorin. Stumm sah er, was geschah. Im Gegensatz zu seinen Kameraden hatte er sich ausführlich über die Insel informiert, nachdem er erfuhr, daß er hier zu dienen hatte. In einer Welt ohne Frauen nahmen die Herrschenden die schönen Jünglinge zu sich. Thorin wußte es. Er hatte Ulander auf dem Weg hierher genau beobachtet. Sein Herr gehörte nicht zu denen, die bloße Gewalt als erfreulich betrachteten. Er schien jetzt um Willar zu werben. Thorin preßte die Lippen zusammen. Ein neuer Kustos verhielt sich oft so sanft. Aber nachdem er das erste Mal einen Gefangenen vergewaltigte, war Gewalt Teil seines Lebens. Thorin fürchtete nicht um Willar, wohl aber um Ulander. Drei Jahre war eine lange Zeit. Ulander würde die Insel anders verlassen, als er sie betrat. Der Kustos zog die Decke über sich und suchte den Schlaf. Willar lag keinen Schritt von ihm entfernt. Er empfand Dankbarkeit für den Mann, der ihn quälte und dann doch von Durst und Schmerz erlöste. Seine Gedanken suchten die Heimat, die Familie, das Mädchen, dem er zugetan war. Er weinte wieder, doch dieses Mal in stiller Sehnsucht nach einem verlorenen Leben. In wenigen Tagen war Slak erreicht. Dann blieb ihm nur noch die düstere Enge eines Minenstollens und das Warten auf einen Tod, der nur langsam kommen wollte. Er dachte an die Dunkelheit dort und fast gleichzeitig an Raaki, den Gott der Dunkelheit und dessen Tempel, in dessen Bereich er viele schöne Stunden erlebte. Irgendwie besaß der Gedanke an den dunklen Gott etwas Beruhigendes. Als der Schlaf endlich zu ihm kam, brachte er keine üblen Träume mit sich.
W
illar erwachte vom Geräusch eines sich bewegenden Steinchens. Hastig sah er sich um. Die Nebel hingen noch tief. Die Gefangenen schliefen, auch die Wächter. Dort, wo zuvor das Feuer brannte, saß einer von ihnen in sich zusammen gesunken. Er hielt Wache, war aber nicht sehr aufmerksam in dieser frühen Stunde. Willar lauschte. Es herrschte Stille. Der junge Mann dachte über sein Leben nach, das ihm nichts mehr bieten wollte. Aber er dachte auch den Vater und hoffte, der werde von seinem Schicksal erfahren. Er war sicher, daß Ariston dann jeden Preis bezahlen würde, um ihn zu befreien. Wieder vernahm er ein winziges Geräusch. Das konnte ein Tier sein, das sich mit wenig Entfernung von ihrem Lager bewegte. Doch Willar glaubte nicht daran. Ein Tier verhielt sich weniger vorsichtig. Er tastete vorsichtig mit einer Hand den Boden ab, fand einen faustgroßen Stein und hielt ihn umklammert. Mit der anderen Hand griff er nach Ulanders Decke. Aber dann wagte er doch nicht, den Kustos zu wecken. Er war diesem Mann ausgeliefert und wollte unter keinen Umständen dessen Zorn erwecken. Dabei fürchtete er weder Demütigung noch die Peitsche. Aber ihm drohte die Auslieferung an Nodhers Kustos und dies war etwas, das schon im Denken daran für ihn die größte Pein bedeutete. Körperliche Liebe kannte, von Recht und Sitte her, in den Reichen keine Beschränkung. Es war dabei völlig unerheblich, ob Liebende verschiedenen Geschlechtern angehörten
oder nicht. Willar wußte, daß sein Vater manches Mal den Freund Orales als Geliebten aufsuchte. Er hatte auch den vertrauten Umgang zwischen Gerrys und Nymardos gesehen und vermutete hier ganz richtig eine tiefe Männerliebe. Er fürchtete nicht körperliche Nähe, sondern die Gewalt und darin mißbraucht zu sein. Er nahm eine Bewegung wahr. Fast zu spät schnellte er mit heiserem Aufschrei nach vorn, als aus den schützenden Nebeln ein Angreifer gegen Ulander sprang. Willars Stein zerschmetterte dem Mann das Gesicht. Augenblicklich entstand Lärm und Kampfgetümel. Acht bewaffnete Männer griffen ihr kleines Lager an. Einige trugen Säbel, andere schwangen Keulen. Ulander war schon auf den Beinen und wehrte mit seiner Waffe drei Angreifer ab. Seine Kameraden kämpften unweit entfernt. Willar handelte ohne Überlegung. Er nahm dem Mann, den er eben tötete, den Säbel ab. Die Waffe lag gut in der Hand. Und daß er sie beherrschte, das bewies er nun. Willars Säbel durchbohrte einen von denen, die Ulander bedrängten. Dann trieb der junge Mann einen weiteren Angreifer vor sich her, den Hang hinunter. Sein Gegner kämpfte mit der Macht der Verzweiflung. "Du Narr," keuchte er, als er Willars Kupferreif sah, "wir stehen auf derselben Seite." Willar stieß zu. Röchelnd sank der Mann nieder. Doch Willar hatte nicht die Zeit, sich jetzt um ihn zu kümmern. Ein anderer Mann stürzte sich auf ihn. Sie lieferten sich einen beachtlichen Waffengang. Willar bemerkte kaum, daß der Waffenlärm ansonsten verebbte. Ulanders Leute hatten ihre Gegner schon bezwungen. Auf den Wink des Kustos hin griffen sie nun nicht ein. Sie alle beobachteten Willars Kampf mit dem Fremden. Der Mann war deutlich stärker als ihr Gefangener und keineswegs so geschwächt.
Willar keuchte. Die wunden Füße, der Hunger und der Durst gingen nicht spurlos an ihm vorüber. Und sein Gegner hatte das Waffenhandwerk gelernt. Er benutzte den Säbel nicht wie jemand, dem er unvertraut war. Willar wurde zurück getrieben. Schritt für Schritt verlor er an Boden und als sein wunder Fuß auf einen scharfkantigen Stein trat, stürzte er im unerwarteten Schmerz zur Seite. Sein Gegner stieß einen Siegesschrei aus, als er den Säbel in den jungen Mann stoßen wollte. Willar rollte sich im letzten Augenblick zur Seite. Seine Waffe hielt er abwehrend nach oben. Es war eher ein Zufall denn eine kämpferische Meisterleistung, daß er seinen Feind nun in die Schulter traf. Der Mann ließ die Waffe fallen. Willar sprang auf. Die Spitze seines Säbels deutete auf die Stirn des Gegners. Schweratmend sah er sich um. Sions Wärter kamen langsam näher. Ulander blieb, wo er war. Er lachte leise. "Töte ihn," verlangte er. Willar starrte auf sein Opfer. Erst jetzt sah er den Kupferreif um dessen Hals. Das wirre Haar und der dichte Bart ließen diesen Mann wild erscheinen. Aber nun, ihm ausgeliefert, erkannte Willar dessen Angst. Er hatte schon davon gehört, daß manches Mal ein Gefangener aus den Minenbereichen floh. Diese Flüchtlinge schlossen sich auf der Insel wohl zu kleinen Trupps zusammen, die raubend durch das Land zogen und auf diese Art irgendwie versuchten, in dieser unwirtlichen Gegend zu überleben, die sie ja nicht verlassen konnten. Sie überfielen die Minen und auch Gefangenentransporte. Es ging ihnen dabei nur um die Pferde, um Waffen und Proviant. Sie versuchten nie, ihresgleichen zu befreien. Wer auf die Insel kam und einen Kupferhalsreif trug, dem konnte man nicht vertrauen. So gab es auch untereinander bei diesen Männern nur Mißgunst und Gewalt.
Willar starrte noch in die angsterfüllten Augen seines Opfers. Der Mann war den Minen entkommen und das bißchen Freiheit, das er sich so erhielt, endete hier. Willar ließ die Waffe fallen, die sofort einer der Wärter aufhob. Er drehte sich um und sah zu Ulander den Hang hinauf. Daß er ihm nun den Gehorsam verweigerte, daß würde ihm Sions Soldat nicht verzeihen. Willar handelte ohne Überlegung, als sich mit einem Mal herumwarf und dann lief er, als könne er so seinem Schicksal entfliehen. Er rannte am Rand des Geröllfeldes entlang. Alles in ihm schrie zur Aufgabe, mahnte ihn, nicht zu fliehen. Doch seine Beine gehorchten nicht seinem Willen. Er lief weiter. "Ihr wartet," rief Ulander seinen Leuten zu. Dann schwang er sich auf den Rücken seines ungesattelten Pferdes und trieb es vorwärts. Willars Vorsprung war viel zu gering, um nun eine lange Jagd zu ermöglichen. Ulander holte ihn rasch ein. Er schwang im Ritt die lange Peitsche, die mit lautem Knall den Rücken seines Gefangenen aufriß. Willar ließ sich zu Boden fallen und wartete auf weitere Hiebe. Doch Ulander trieb sein Pferd nur ganz nahe zu ihm. "Zurück." Seine Stimme klang kalt und unpersönlich. Mit hängenden Schultern trottete Willar vor ihm her, bis er das kleine Lager erreichte und nahe des neu entfachten Feuers zu Boden sank. Ulander sprang zu Boden. Er beachtete Willar zunächst nicht weiter. Seine Aufmerksamkeit galt den Toten. Die acht Wegelagerer, die hier ihr Leben verloren, wurden nicht begraben. Man nahm ihnen den Kupferreif ab, um ihn, dem jeweiligen Siegel entsprechend, dem nächsten Kustos zu senden, damit der Tod des Gefangenen vermerkt werden konnte.
Ulander starrte mit düsterem Blick auf seinen Mann, der bis vor kurzem zur Wache verpflichtet war und hier ebenfalls den Tod fand. Ihn ließ er begraben, damit die Tiere der Insel sich nicht seines Körpers bemächtigen konnten. Thorin handelte als seine Stimme. Er gab die Anweisungen weiter und achtete auf deren Einhaltung. Als er dann Ulander einen Becher mit heißem Tee reichte, sagte er: "Der Überlebende trägt Khyons Siegel. Wir müssen durch eine Mine, die Khyon gehört und können ihn dort abliefern." Ulander nickte abwesend. reglos am Boden lag.
Sein Blick hing an Willar, der
"Ein wunderlicher Kerl," stellte er fest. "Er rettet mein Leben und verpflichtet mich dadurch. Und dann läuft er fort und fordert jede Härte heraus." Er sah zu seinen Gefangenen hinüber. "Er ist anders als die dort." "Ihr behandelt ihn nur anders," erwiderte Thorin zögernd. Ulander sah seinen Mann nachdenklich an. "Ich würde es schätzen," gab er langsam zu, "wenn du weniger vorsichtig sein wolltest, Thorin. Von den Leuten hier bist du der beste Mann, wie ich wohl weiß. Ich sähe dich nur ungern in der Gruppe der namenlosen Wächter einer Mine." Thorin lächelte sacht. Hoch erfreut hörte das Lob und die darin enthaltene Aufforderung zu offener Kameradschaft. "In Sion hätten wir den Burschen als einen Mann der Ehre bezeichnet," drückte er nun seine Gedanken aus. "Im fairen Kampf tötet er und er hat immerhin drei unserer Gegner vernichtet. Ich bin nicht sicher, ob wir diesen Überfall ohne seine Aufmerksamkeit und seinen Säbelkampf überleb-
ten. Daß er sich weigert, einen schon besiegten, unbewaffneten Gegner zu töten, spricht eigentlich eher für als gegen ihn." "Und was mache ich nun mit ihm?" Thorin senkte den Kopf und schwieg. Da lachte Ulander leise, da er dessen Gedanken erriet. "Du mißdeutest die Situation," versprach der Kustos. "Ich lege mich nicht zu Männern und daran wird auch diese Insel nichts ändern. Und ich respektiere es durchaus auch bei den Gefangenen, wenn sie genau das nicht wollen." Jetzt sah ihn der Soldat wieder an. Sein Blick suchte forschend, ob der Vorgesetzte die Wahrheit sprach. Dann verstand er. "Wäre der Bursche ein freier Mann, würde euch an seiner Freundschaft gelegen sein, Herr." Ulanders Antlitz verhärtete. Was Thorin da aussprach, hatte er bisher nicht bedacht. Er trieb Willar bis an die Grenzen seiner Kraft, duldete seine Wunden, seinen Schmerz, seinen Durst. Das war nicht die Art, in der man um Freunde warb. Aber es war eine Möglichkeit, Gedanken und Gefühle in diese Richtung zu unterdrücken und zu verhindern. "Kettet die beiden Gefangenen an die anderen," befahl er seinen Leuten. Er selbst setzte sich ans Feuer, winkte Thorin an seine Seite und nahm das Frühmahl zu sich. Mit ausdruckslosem Gesicht ließ es Willar geschehen, daß die schwere Kette durch die Öse am Halsreif gezogen wurde. Er befand sich jetzt zwischen dem verletzten Mann Khyons und
Shannar. Sie alle erhielten etwas Wasser und eine Molnuß. Danach kümmerten sich die Wärter um die Tiere. Willar mußte sich manchen Knuff und viele böse Worte gefallen lassen. Die Gefangenen verübelten es ihm, daß er für ihre Peiniger stritt. Er zog sich soweit von ihnen zurück, wie es die Kette eben zuließ. Shannar starrte ihn nur finster an. Er beschimpfte ihn nicht. Willar grinste verächtlich. Der Junge nahm an, er habe sich Ulander anbiedern wollen und hoffte selbst, er könne durch Liebesdienste seine Lage erleichtern. "Der Herr sieht immer wieder zu dir her," stellte Shannar fest. "Er wird dich wieder rufen. Aber du mußt gefügiger sein, hörst du." Willar lachte trotz seiner Lage leise auf. "Ulander ist nicht Riccaro," meinte er nur. Shannar erschrak sehr. Woher kannte der Mann neben ihm diesen Namen? Was wußte er über sein Leben? Riccaro war der Kaufmann, dem er vor einem guten halben Jahr diente und den er stets über sich ließ, hoffend, der Reichtum seines Herrn werde auch seine Zukunft sichern. Er tötete Riccaro, als der versuchte, die kleine Schwester zu vergewaltigen und er wollte Nodhers Erben töten, weil dieser Zeuge der Sache wurde. Dafür verbannte man ihn auf die Insel der Läuterung. Doch Shannar sprach nie darüber. Willar konnte davon nichts wissen. Er wußte nicht, daß Willar der Bruder von Nodhers Erben war.
Der Zug setzte sich, angetrieben von Peitschenklängen, wieder in Bewegung. Nachdem der Weg gangbarer wurde, drängten die Wächter zu mehr Eile. Der Verletzte vermochte kaum, Schritt zu halten. Der Mann verlor viel Blut. Er taumelte hinter Willar her, stürzte mehrmals. Zur Tagesmitte erhielten sie etwas Wasser. Trotz seines
unerträglichen Durstes nahm Willar nur einen winzigen Schluck aus der Schale, ehe er um Vergebung bittend zu Thorin aufsah, der ihm das Wasser gab. Dann hielt er die Schale an den Mund des Verwundeten, der gierig die zusätzliche Gabe in sich aufnahm. Thorin schwieg dazu. Gegen Abend erreichten sie Khyons Mine. In den letzten Stunden stützte Willar mitleidig den Verwundeten. Doch auch seine Kraft endete und er war froh, als er sich mit den anderen endlich einfach auf das Erdreich fallen lassen durfte und etwas ausruhen. Auf Ulanders Bitte hin gaben Khyons Leute den Gefangenen reichlich Wasser und Nahrung. Ihren eigenen Flüchtling ketteten sie los und nahmen ihn mit. Bald darauf hörte Willar einen entsetzten Aufschrei. Er sah dann, wie die Leute den wimmernden Mann zum Mineneingang schleppten. "Hast du es nicht gewußt?" wollte Shannar wissen. "Wer flieht, dem wird das Knie zertrümmert, ehe er in den Berg muß. Der Mann lebt nicht mehr lange. Du hättest dir nicht so viel Mühe mit ihm geben sollen. Das lohnt nicht. Auf dich wartet desselbe. Du bist schließlich auch geflohen. Erspar' dir das, indem du etwas williger vor unserem Herrn bist." Willar schloß entsetzt die Augen. Er würde also entweder grausam verkrüppelt in einer Mine enden oder Sakserr ausgeliefert sein. Er stöhnte leise. Shannar rutschte näher zu ihm. "Ich will dir doch nur helfen," drängte er. "Lächle Ulander an, küsse seine Füße, dränge dich ihm auf. Er wird dich behalten und dann geht es dir sogar relativ gut." Willar stieß ihn angewidert von sich. Den ganzen Tag hindurch hatte Shannar einen der Wärter so auf sich selbst aufmerksam gemacht und es sah auch so aus, als käme er zum Ziel.
"Du hast keinen Grund, stolz zu sein," murrte Shannar beleidigt. "Hier geht es nur ums Überleben. Du bist der Einzige von uns, der außer mir die Chance dazu hat." Willar drehte ihm nun den Rücken zu und verhinderte damit deutlich jedes weitere Wort. Shannars Worte machten durchaus Sinn und gerade das erschreckte ihn. Er versuchte, sich ein solches Leben im Detail vorzustellen. Er stöhnte leise. Thorin war ein freundlicher Mann und wäre er der Kustos, so könnte Willar vielleicht sogar nachgeben. Doch sich Ulander so auszuliefern, erschien ihm unmöglich. Er hing diesen Gedanken noch nach, als längst Stille in der Mine einkehrte und alles schlief. "Raaki, du bist der einzige der Götter, die mir durch deinen Tempel nicht fremd geblieben sind," stammelte er leise in der Dunkelheit. "Schirme du Ulander. Er hat mein Wort, daß ich die Götter für ihn bitte, solange er mich nicht zum willenlosen Werkzeug der Gier macht. Du bist der dunkle Gott des Todes, den ich um reiches Leben bitte. Das ist so widersinnig wie diese ganze Insel hier. Achte auf ihn, damit die Gewalt dieses Reiches nicht sein Leben in Dunkelheit stürzen kann." Er schwieg verzweifelt. Das Schicksal, das ihn erwartete, würde auch auf Ulander treffen und aus dem aufrechten Mann eine Bestie wie Sakserr machen. Er wußte nicht, daß der Kustos in der Dunkelheit nach seinen Gefangenen sah und sein seltsames Gebet vernahm. Ulander entfernte sich geräuschlos, verwirrt von dem, was er hörte.
F
rüh am andern Morgen brachen sie wieder Ulander gab Anweisung, Willar die Kette abzunehmen.
auf.
"Er bleibt im Zug der Gefangenen," entschied er. "Wenn er noch einmal die Flucht versucht, tötet ihn."
Zur Tagesmitte rasteten sie an einer winzigen Quelle. Hier wuchs sogar ein verkrüppelter Pejuk-Baum, der ein paar wenige Früchte trug. "Hinauf mit dir," forderte Thorin Willar auf, "etwas frisches Obst ist sehr willkommen in dieser Einöde." Der junge Mann kletterte gehorsam auf den Baum, brach die großen, säuerlichen Früchte und warf sie Thorin zu, der sie geschickt auffing. Der Baum wuchs nicht sehr hoch und als der dürre Ast brach, auf dem sich Willar befand, stürzte er zwar hinunter, aber er verletzte sich nicht. Thorin lachte leise. Er warf Willar eine Frucht zu. "Bring sie deinem Herrn," verlangte er. Willar sah ihn unruhig an, doch er erhob sich fügsam. "Sei freundlicher zu ihm," mahnte Thorin da. "Gib ihm einen Grund, dich zu schonen." Unsicher sah Willar zu Shannar hinüber, der vor einem Wärter kniete und dessen Hand mit Küssen bedeckte. "Das ist der denkbar schlechteste Grund, den du liefern kannst," warnte Thorin grinsend. Irritiert gehorchte Willar seinen Worten. Der Mann forderte ihn zu Freundlichkeit, aber nicht zu Fügsamkeit auf. Willar wußte nicht, was Thorin da andeutete, aber er empfand fast so etwas wie ein Gefühl der Sicherheit dabei. In der Gegend hier wuchs spärlich Gras und niederes, aber grünes Buschwerk. Sie hatten einen angenehmen Lagerplatz gefunden. Ulander ruhte auf seiner Satteldecke. Er lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken, die Arme unter dem Haupt verschränkt. Willar kniete an seiner Seite nieder. "Herr," sagte er leise, "Thorin sendet euch frisches Pejuk." Ulander setzte sich auf. Er nahm die Frucht, zerteilte sie mit dem Dolch und aß. Willar blieb mit gesenktem Kopf bei ihm.
"Wofür hat man dich verurteilt?" wissen, nachdem er gesättigt war.
wollte
der
Kustos
"Vergewaltigung und Mord," murmelte Willar. Alles, was es über die Gefangenen an Aufzeichnungen gab, befand sich in den Schreibhäusern am Hafen. Innerhalb der Insel existierten sie nur als Minensklaven. Hier waren Namen und Vergehen nicht mehr wichtig. "Gewalt an Weibern," stieß Ulander verächtlich aus. "Und zugleich grenzenlose Angst davor, daß dir dasselbe widerfahren kann. Du bist natürlich unschuldig." Willar schwieg. Der Kustos sprach diese Worte so abwertend, daß jede Erwiderung falsch sein mußte. Wenn man die Gefangenen befragte, so beteuerten sie alle ihre Unschuld. Worte zählten nicht. "Wo kommst du her?" "Ich stamme aus Nodher," gab Willar hierin bereitwillig Auskunft. "Ich wurde in der Nähe der Stadt Surs geboren." "Als verwöhnter Sohn reicher Eltern," stellte Ulander fest. Wieder schwieg Willar. Sein Vater herrschte über ganz Nodher und wirklich verwöhnte er seine Söhne. Willars Leben kannte durchaus Pflichten, doch auch sehr viel Freiraum und Freude. Aber darüber konnte er nicht reden. Niemand würde es glauben, wenn er sagte, daß Sion einen Sohn von Nodhers Herrn auf die Insel verbannte. "Hast du Freunde?" Willar verkrampfte sich etwas bei diesen Worten. Die Frage kam voll Interesse und ohne Hinterlist. Er dachte an Burg Nodher. Sein Bruder Ilkonys verhielt sich freundlich ihm
gegenüber. Auch besaß er viele eigene Gefährten und Kameraden. Aber Freundschaft ging wohl tiefer. Willar dachte an seine ernsten Gespräche mit Nymardos. Diesen Mann hätte er gern zum Freund, doch erschien er ihm immer irgendwie fremd und es gab nichts wirklich Verbindendes zwischen ihnen. Er dachte auch an Tibra. Als er im Tempel weilte, ritten sie manches Mal zusammen aus. Der Magier besaß ein heiteres Wesen. Sie lachten viel gemeinsam, aber die Zeit war zu kurz, um sich wirklich einander anzuschließen. Und er dachte an Cyprina. Aber dabei wurden seine Augen feucht. "Es gibt ein Mädchen in Nodher, Herr," würgte er sich endlich ab. "Das du liebst? getötet hast?"
War
sie williger als die Frau, die du
"Ich habe sie nie angerührt," flüsterte Willar erstickt. "Bitte, zwingt mich nicht, aus meinem Leben zu berichten. Jede Erinnerung ist eine Qual." "Hier bleibt dir nur dein Erinnern," erwiderte Ulander da sehr nachdenklich. Er legte die Hand unter Willars Kinn. Der zuckte wie unter einem Hieb bei der Berührung zusammen, warf sich ganz nieder und kämpfte gegen die zitternde Furcht, die ihn überkam. "Ich rühre dich nicht an," versprach Ulander betroffen. Willar zwang sich selbst, sich wieder auf die Knie zu erheben. Diese Worte wirkten trotz allem sehr bedrohend. "Bitte, übergebt mich nicht Sakserr," flehte er. "Ich werde alles ertragen und alles tun, nur, zwingt mich nicht dazu."
"Alles ertragen?" forschte Ulander aufmerksam. "Ja, Herr," bestätigte Willar, dessen Stimme langsam an Festigkeit gewann. "Ich weiß, was ich für meine Flucht ertragen muß. Ich ziehe das vor." "Zerschmetterte Knochen machen einen Mann nicht unbedingt zu einem besseren Arbeiter," grinste Ulander. "Ich denke, wir regeln das durch fünfzig Peitschenhiebe." Zu seiner Überraschung sah ihn Willar nun voll an. "Ich kenne einen Mann, den die Peitschen an den Rand des Todes brachten," erzählte er mit fester Stimme, während er an Tibra dachte. "Ich habe gesehen, welche Qual sie in ihm hinterließen. Er hat es überwunden. Ich werde an ihn denken, wenn ihr dieses Urteil vollzieht. Ihr werdet mich nicht zerbrechen, Herr, jedenfalls nicht auf diese Art." "Wenn ich dich zerbrechen wollte, hätte ich es längst getan," stellte Ulander fest. "Dazu bedarf es nicht einmal körperlicher Gewalt. Ein wenig Zeit genügt." "Ihr habt alle Macht und alle Zeit," erwiderte Willar ruhig. "Ich weiß wohl, daß ihr mich vernichten könnt. Ich bin zufrieden, wenn ich mir bis zum Ende meine Selbstachtung bewahren kann." "Du glaubst gar nicht, wie schnell auch die zu rauben ist," sagte Ulander mit bedeutsamem Lächeln, während er zu Shannar hinüber sah. "Es war ein Fehler, mir das Leben zu retten." Willar hatte nicht erwartet, daß er davon sprach. Dieser Mann bedrohte ihn, doch er vergaß diese Tat nicht. Er dachte an Thorins Mahnung. Konnte es möglich sein, daß Ulander nach einem Weg suchte, Dankbarkeit zu beweisen?
"Es war nur dann ein Fehler," sagte er langsam, "wenn ihr eure Macht benutzt, um eure Gefangenen sinnlos größerer Qual auszusetzen, als das Gesetz ihnen ohnehin zudachte." Thorin mahnte ihn zu Freundlichkeit. Im Gedenken an diese Worte fügte er hinzu: "Ich hoffe sehr, daß diese Insel eure Seele nicht vergiften wird." "Gute Gedanken," lächelte immerhin versprochen."
Ulander,
"die
hast du mir
"Trotz meiner Furcht umgeben sie euch." Der Kustos lachte leise. Willar schmeichelte ihm nicht, er wußte es. Das unbeholfene Gebet an den dunklen Gott bewies es. "Wenn dein Denken irgendwelche Macht besitzt," sagte er ernst, "dann weite es auf Thorin aus." "Das habe ich schon getan, Herr." Ulander musterte seinen Gefangenen, dann nickte er. Willar sprach die Wahrheit, er spürte es. "Ich sollte dich töten," murmelte Ulander nachdenklich. "Du bist meiner Seele gefährlicher als diese Insel." Willar zuckte zusammen. Als sich der Kustos nun erheben wollte, griff er hastig nach dessen Hand. Es kostete ihn Überwindung, sie an seinen Mund zu ziehen. Er hielt inne, erlaubte sich den Kuß nicht. "Tut es," bat er leise. Thorin kam herbei. Die Pferde waren schon wieder gesattelt. Man wollte weiter. Bis zum Abend konnte Slak erreicht werden. Niemand wollte eine weitere Nacht in den Nebeln verbringen. Ulander lachte verhalten. Er sprang auf
und zog Willar auf die Beine.
S
lak lag in einer Ebene, umgeben von hohen Bergen. Einige Häuser für die freien Männer befanden sich hier. In einem Gatter lebten Bergziegen, die für frisches Fleisch sorgten. Der spärliche Bewuchs der Insel duldete keine Fruchtbarkeit. Die Galeeren, welche das Kupfer von der Insel holten, brachten Tee, Wein, Nüsse und Samen. Wirklichen Luxus gab es nicht, doch verglichen mit dem, was die Gefangenen hier erwartete, konnte sich jeder der Wächter wie ein König fühlen. Ulander sah sich vom Sattel aus um. Ein paar Männer kamen schon gelaufen und trieben die Gefangenen, die er mit sich führte, zum freien Platz. Ein großes Rad holte das Wasser aus der Tiefe. Unweit entfernt zeigte sich ein Schlund. Dort ging es senkrecht hinab in den Berg. Wer einmal in diesem Loch verschwand, der durfte nicht hoffen, noch einmal das Licht des Tages zu sehen. Aus dem größten der Häuser, dem einzigen, dessen Fenster mit Muskovit verglast wurden, trat ein Mann. Ulander ritt zu ihm. Dies war bisher der Kustos der Mine. Er hatte seine drei Jahre abgedient und freute sich, nun endlich abgelöst zu werden. Dieser Abend und diese Nacht war für ihn ein Fest und er hatte auch alles entsprechend vorbereitet. Ulander wollte gern mit ihm feiern. Er gab noch Anweisung, daß die neuen Gefangenen bis zum Morgen ruhen durften, dann ließ er sich in das Geschehen ziehen. Thorin hielt sich an seiner Seite. Er staunte ein wenig, wie sehr Ulander nun verändert erschien. Der Kustos genoß das Fest, sprach dem Wein reichlich zu und lachte über die Ablenkungen, die sich ihm boten. Thorin blieb nüchtern. Er sah mit schmalen Augen zu, wie Ulanders Vorgänger sich ungeniert an einem der Gefangenen vergnügte, die hier die Dienerschaft abgaben. Ulander trat zu ihm und legte die
Hand auf seinen Unterarm. "Heute gehört Slak noch ihm," mahnte er mit überraschend nüchterner Stimme. Thorin atmete tief durch. Dann lächelte er etwas schüchtern. "Verzeiht, Herr," bat er leise. "Ich hatte schon befürchtet, ihr haltet dieses Treiben für normal." Am andern Morgen wurde der alte Kustos verabschiedet. Er erhielt eine kleine Eskorte, die ihn zum Hafen bringen sollte. Sie bestand aus Männern, deren Dienstzeit abgelaufen war. Sie alle freuten sich sichtlich, die Insel verlassen zu dürfen.
E
in Mann trat neben Ulander. Man hatte ihn dem Kustos schon vorgestellt. Er hieß Makaras, diente dem bisherigen Kustos wie ein Verwalter. Er kannte die Mine und alles, was hier geschah. Er würde die Aufgabe übernehmen, Ulander einzuweisen und ihn mit den Berichten vertraut zu machen. Aber dafür besaß der neue Herr der Mine noch keinen Sinn. Zunächst wollte er alles besehen und sich ein eigenes Bild über Slak machen. Thorin blieb bei ihm und Makaras fügte allem, was sie sahen, erklärende Worte an. Ulander stand am Rand des Schachtes und sah in die Dunkelheit hinab. Ein dickes Seil führte hinunter. "Das ist der kürzeste Weg zum Kupfer," meinte Makaras, "wir sind schon tief im Berg. Das Seil führt bereits neun Knoten tief." "Wie tief ist das?" wollte Thorin wissen. "Das Seil hat richtige Knoten," erwiderte Makaras. "Sie sind etwa sieben Meter auseinander. Von jedem Knoten aus
führt ein waagrechter Stollen in den Berg. Mit der Winde dort holen wir das Kupfer nach oben. Der oberste Stollen ist fast leer, aber tief unten haben wir erst angefangen. Ein paar Leute sind dabei, den Schacht tiefer zu treiben. In einigen Tagen sind wir dann wohl zehn Knoten tief." "Wie oft kommen die Gefangenen heraus?" forschte Ulander. Makaras lachte leise. "Überhaupt nicht, Herr," erwiderte er gelassen. "Jedenfalls nicht, solange sie am Leben sind. Sie halten es etwa ein Jahr lang aus. Verschwendet eure Gedanken nicht an diesen Abschaum. Slak ist eine der reichsten Minen der Insel. Es gibt genug Nachschub für uns. Wenn ihr die neuen Leute jetzt hinab befehlt, könnten sie den Schacht tiefer treiben und den zehnten Stollen anlegen." Ulander sah ihn nur kurz an. Dieser Mann besaß keinerlei Gefühl für die Minenarbeiter. Für ihn waren sie eine Ware; Werkzeuge, um Kupfer zu bergen. Aber vermutlich war diese Einstellung notwendig, um hier leben zu können. Sie gingen nun zu den Gefangenen. Man löste die Kette von ihnen. Einige Wärter mit langen Peitschen standen bereit. Keiner von diesen Verlorenen sollte auch nur eine Chance zur Flucht erhalten. Makaras sah sich jeden einzelnen der Männer genau an. Wenn er vor einem stand, mußte dieser sich erheben, langsam um die eigene Achse drehen und sich begutachten lassen. Beim dritten Mann sah er zu Ulander. "Mit eurer Erlaubnis, Herr," bemerkte er und teilte den Mann dazu ein, am Abtransport des Kupfers zu arbeiten. Ulander verstand. Wen er überging, der mußte in den Berg. Makaras entschied, wo die Männer eingesetzt wurden und diejenigen, welche eine andere Aufgabe erhielten, fanden
sogar Worte des Dankes. An Willar ging er vorbei und bestimmte ihn damit für die Mine. Shannar betrachtete er grinsend. Als der Jüngling sich dann vor ihm niederwarf, seine Füße umklammerte und küßte, winkte er einem seiner Kameraden, der ihn fortführte. "Zur besonderen Verwendung," erklärte Makaras anzüglich. Er beendete wenig wieder zu Ulander.
später
seine
Inspektion
und
trat
"Ich hoffe, ihr seid mit meiner Wahl einverstanden, Herr." "Weitgehend," bestätigte Ulander. Er sah kurz zu Willar. "Den kettet zunächst ans Wasserrad." Makaras hob unwillig den Kopf. "Bis ich Zeit für ihn habe," fügte Ulander mit fester Stimme hinzu. "Er gehört mir." Makaras nickte lächelnd. Er leistete bereits freiwillig die zweite Dienstperiode ab. Ulander war der dritte Kustos, den er sah. Im Allgemeinen brauchten die neuen Herren etwas Zeit, ehe sie die Sitten der Insel verstanden. Ulander schien eine Ausnahme zu sein. Wen der Kustos für sich auswählte, der war tabu für alle anderen. Zumindest solange, wie es dem Kustos gefiel. Makaras betrachtete Willar nun aus der Entfernung heraus genauer. Wenn die Zeit dafür reif war, wollte er erkunden, weshalb ausgerechnet dieser Bursche das Gefallen seines Herrn erregte.
N
icht weit von Wylas Grenze entfernt sahen die Freunde von einer Anhöhe aus hinab auf den Tiath, der hier eine breite, hölzerne Brücke besaß. Einer der wenigen echten Grenzübergänge zwischen Nodher und Sion war erreicht. Auf beiden Seiten des Flusses befanden sich Heerlager. Viele Bewaffnete bewegten sich zwischen den Zelten. "Die lassen niemanden über die Brücke," vermutete Ilkonys, der auf dem Weg hierher sich wirklich als dienstbar, doch auch als verschlossen und still erwies. "Sie werden uns nicht aufhalten," versprach Nymardos, während er aus dem Sattel glitt. Tibra lachte leise. "Die Reisenden der Reiche werden hier aufgehalten," stimmte er zu. "Ich werde als dein Chela gehen." Nymardos öffnete bereits sein Bündel und entnahm ihm die weiße Tunika, die ihn als Priester des Lichts auswies. "Kleide dich als Tabalkes Priester," wies Gerrys Nodhers Erben an. "Die Soldaten werden Amarra nicht behindern." Nymardos war zu Tibra getreten und hatte ihm den Arm um die Seite gelegt. "Als mein Chela?" erkundigte er sich leise. "Ich dachte eher, daß Priester die Grenze überschreiten werden."
Unmerklich sah er dabei zu Ilkonys hinüber. Tibra grinste. "Das alles hat für mich keine Bedeutung," erwiderte er ruhig. "Also habe ich auch nicht nach entsprechender Kleidung gefragt. Meinst du, daß ich in Reisekleidung Schwierigkeiten bekomme? Dann geht ihr vor, ich hole euch in Sion ein, sobald ich einen heimlichen Übergang gefunden habe." Nymardos sah ihn ernst an. "Ob es dir gefällt oder nicht, mein Freund," erwiderte er ruhig, "für mich hat es eine große Bedeutung. Ich habe alles dabei, worauf du nach Amarras Recht Anspruch hast." Tibra lachte leise. "Das hätte ich mir denken müssen," meinte er leichthin. Ilkonys riß die Augen auf, als er sah, wie Nymardos dem Freund nun die hellgrüne Tunika reichte, die allein den Priestern der dritten Weihe zustand. Mit verkniffenem Gesicht sah er zu, wie sich der Magier in das ihm fremde Gewand kleidete. Gerrys und Nymardos halfen ihm dabei, leise spöttelnd, weil er sich fremd darin fühlte und etwas ungelenk bewegte. Bis auf Gerrys banden sie alle ihr Haar. Er war Falla und damit Mann der Macht. Die anderen folgten ihm als Tempelherrn. Tibra erschien es nicht wünschenswert, wenn sie alle Beachtung fanden. Wie erwartet, so hielten die Soldaten an der Brücke die Reiter auf und verlangten, sie mögen in Nodher bleiben. Gerrys neigte sich im Sattel nach vorn. "Deine Sorge ehrt dich, Sohn," sagte er gelassen, "doch Amarra achtet auf seine Diener. Wir sind nach Sion
gerufen und werden diesem Ruf Folge leisten. Nodher stellt sich doch nicht etwa gegen Amarra?" Der Mann war verunsichert. Er rief nach seinem Teju, besprach sich leise mit ihm. Schließlich ließ man sie passieren. Am andern Ende der Brücke wiederholte sich alles. Sions Leute wollten sie zunächst nicht in ihr Land lassen, widerstrebten dem selbstbewußten Falla dann aber doch nicht und gaben den Weg frei. In der dicht bevölkerten Gegend hier, wo sich viel zu viele Soldaten zeigten, wechselten sie ihre Kleidung nicht aus, sondern ritten als Priester, die niemand weiter beachtete. Gegen Abend erreichten sie eine Siedlung, wo sich auch eine Herberge fand. "Wir übernachten hier," beschloß Tibra. Er glitt aus dem Sattel, fluchte leise, weil die Tunika ihn behinderte und grinste Ilkonys dann frech an. "Kümmere dich um die Pferde, Sohn." "Falsche Anrede," lachte Gerrys. "So spricht ein Falla. Priester untereinander nennen sich Brüder." "Ich glaube nicht, daß ich den da zum Bruder will," brummte Tibra, dabei an Willar denkend. Sie betraten die Herberge, wo sie sich reich bewirten ließen. Die anderen Gäste kamen nicht umhin, sich über diese Priester zu wundern, die heiter miteinander scherzend speisten. Ilkonys kam später zu ihnen, setzte sich schweigend an ihren Tisch. Auch er aß und trank, doch er beteiligte sich nicht ihren Gesprächen. Die kleine Herberge besaß nicht viele Zimmer. Sie mußten sich einen Gastraum teilen, was einzig Ilkonys mißfiel. Es gab hier kaum eine Einrichtung. Auf dem Boden lagen saubere Decken. Ein kleiner Tisch und ein Stuhl sowie eine
Truhe war alles, was sich ansonsten in dem Raum fand. Sie benutzten die Kerze nicht, sondern erhellten das Zimmer mit ihren Kristallen. "Worauf wartet ihr, Prinz," riß Tibra Nodhers Erben aus der abwartenden Haltung, "ohne Hilfe komme ich kaum aus dieser komischen Verkleidung." Er erwartete Leibdienst. Ilkonys gehorchte mit versteinertem Gesicht. Er fühlte sich wirklich gedemütigt, obgleich sich Nymardos und Gerrys gegenseitig genau denselben Dienst erwiesen. Er faltete die Gewänder zusammen, kleidete sich selbst aus und bettete sich in eine Zimmerecke, möglichst weit entfernt von den Freunden nieder. Gerrys legte sich eng neben Nymardos. Er rief das Licht in seinem Kristall etwas mehr zurück. Tibra hielt eine Decke in der Hand und zögerte noch. Dann lachte er leise auf. Er legte sich an Nymardos' freier Seite nieder. Gerrys hielt den Freund etwas fester. Er hatte nicht erwartet, daß Tibra so viel Nähe suchte. Nymardos drehte sein Gesicht dem Falla zu, küßte ihn sacht und lächelte, während er den Arm um Tibra legte. Der Magier griff über ihn nach Gerrys' Hand, die er mit festem Druck hielt. "Du hast keinen Grund zur Eifersucht," brummte er gutmütig. Gerrys erwiderte nichts. Als Ariston dem Freund Harkym zusprach, blieb Nymardos in jener Nacht bei dem Magier. Er wußte es und er freute sich darüber. Die beiden Freunde vereinten sich nicht, aber auch das hätte Gerrys nicht gestört. Vertraute Nähe zwischen den Menschen, die er liebte, mußte auch ihn bereichern. Nymardos brauchte sehr wenig Schlaf. Er erwachte früh, verhielt sich jedoch still, um die Freunde nicht zu wecken. Irgendwann wachte Tibra auf. Er drehte sich auf den Bauch, lag halb über Nymardos und näherte dem Freund das Gesicht.
"Hat dir schon einmal jemand gesagt, daß du ein netter Kerl bist?" Nymardos lächelte amüsiert. "Zumindest nicht mit diesen Worten," erwiderte er leise. "Zu respektlos gegenüber dem Pala des Than?" grinste Tibra. "Nein," antwortete Nymardos. "Zu vertraut und zu zärtlich. Aber ich nehme an, das war eine Liebeserklärung." Tibra setzte sich auf. Nymardos griff nach seiner Hand. "Bin ich dir schon wieder zu nahe gekommen?" erkundigte er sich aufmerksam und zugleich ein wenig besorgt. Gerrys kuschelte sich im Halbschlaf näher an ihn. Er hatte die Worte gehört, ohne sie zuzuordnen. "Du kannst gar nicht nahe genug sein," brummte er zufrieden. Tibra grinste. "Irgendwie hat er recht," stellte er fest. Er erhob sich, weckte Ilkonys und dann bereiteten sie sich auf den neuen Tag vor. Eine Stunde später ritten sie aus der Siedlung.
G
egen Mittag kleideten sie sich auf freiem Feld um. In Reisekleidung fühlte sich Tibra sichtlich wohler. Er ritt nun sogar schneller. Am Abend schlugen sie das Lager neben einem schmalen Bach auf. Sions reiche Fruchtbarkeit stillte mühelos ihren Hunger.
Ilkonys versorgte die Pferde, kümmerte sich um Feuerholz, sammelte Wiesenbeeren und Strauchnüsse, kochte Tee. Er tat alles, was ein Leibdiener zu tun hatte. Als er sich zum Mahl abseits niedersetzen wollte, rief ihn Gerrys aber zum Feuer. Trotzig sah Noders Erbe auf Tibra nieder. "Mit eurer Erlaubnis, Herr?" Der Magier nickte nur und erst da setzte sich der Prinz zu ihnen. Wieder beteiligte er sich nicht am Gespräch. Irgendwann stieß ihn Tibra fast kameradschaftlich in die Seite. "Gehorsames Tun sollte eigentlich freudiges Tun sein," meinte er vergnügt. "Wenn ihr weiter nichts als schlechte Laune verbreitet, werdet ihr langsam, aber sicher lästig, Prinz. Was ihr jetzt tut, habt ihr als Chela jahrelang getan. So schlimm kann es gar nicht für euch sein." Ilkonys starrte weiterhin stumm ins Feuer. Es störte ihn wirklich nicht, daß er dienen mußte. Aber es gefiel ihm nicht, daß die Heiterkeit dieses Magiers, die ihn früher erfreute, ihn jetzt eigentlich ausschloß. "Was ist mit dir?" erkundigte sich Gerrys besorgt. Ilkonys preßte die Lippen zusammen. Gerrys war sein Freund, doch er stand deutlich auf Tibras Seite. Erst, als der Falla sich erhob und dann ganz nahe neben ihn setzte, erstarb sein Widerstand. "Es ist nicht richtig," murmelte er. "Was ist nicht richtig?" "Man darf nicht erlauben, daß sich jemand als Priester verkleidet," präzisierte der Prinz. "Das ist, als würde Amarra verhöhnt."
Er starrte noch immer ins Feuer und wagte nicht, nun Gerrys oder gar den Pala des Than anzusehen. Tibra lachte heiter. "Ich war Seymas' Chela," erklärte er vergnügt. Ilkonys zuckte zusammen. Ruckartig wandte er sich Tibra zu. Der Magier hielt seinem forschenden Blick fröhlich stand. "Das also ist auf Sinnar geschehen," murmelte Nodhers Erbe. Gerrys legte ihm den Arm um die Schultern, doch er schwieg dazu, wie auch Nymardos und Tibra schwiegen. Daß der Magier den Than auf Amarra in der Gegend von Sinnar aufsuchte, war kein Geheimnis. Niemand wußte, was dort geschah und weshalb diese Zeit die beiden so ungleichen Männer tief verband. Die Vermutung des Prinzen, daß Tibra dort Leitung erfuhr, lag nahe, auch wenn sie völlig falsch war. "Warum habt ihr das niemand wissen lassen?" erkundigte sich Ilkonys aufmerksam. "Ist das so wichtig?" Nodhers Erbe nickte langsam. "Ein Priester des dritten Grades wird überall anders geachtet als ein Magier," erwiderte er. "Ihr wart schon Priester, als Vater euer Leben durch die Peitsche bedrohte. Ihr hättet euch mit einem Wort retten können. Es wird mir nun leichter fallen, euch zu dienen." "Das ist bedauerlich," stellte Tibra gelassen fest. "Aber es schmeichelt wohl eurem Hochmut. Ihr bemerkt nicht einmal, wie sehr mich eure Worte beleidigen." "Das war nicht meine Absicht," gab Ilkonys betroffen zu.
Nymardos lächelte. "Was mich betrifft," mischte er sich ein, "so gehört meine Freundschaft einem Magier, nicht einem Priester." "Ich fürchte," gab Gerrys mit ernster Stimme zu, "ich werde dich immer als Magier sehen, Tibra." "Gerrys!" rief Ilkonys bestürzt. "Als sein Falla mußt du ihn zu den Ritualen rufen und seine Weihen vertiefen. Ein Magier ist nichts wert im Vergleich zu Saakes Mann." Sie reagierten alle spät, als Tibra nun überraschend schnell aufsprang, den Prinzen beim Wams packte und auf die Füße riß. Ehe einer eingreifen konnte, hatte er Ilkonys schon einige Male ins Gesicht geschlagen und ihn dann angewidert zu Boden gestoßen. Breitbeinig stand Tibra über ihm. Er neigte sich ihm zu. Seine Stimme klang gefährlich leise: "Noch eine solch tollkühne Bemerkung, und ich liefere euch im nächsten Tempel zum Gewahrsam ab," drohte er. "Es war ein Magier, kein Priester, der euch Burschen in Khyons Tempelberg das Leben rettete. Es war auch ein Magier, der Thyrian rettete und es ist und bleibt Magie, was Miska wendet. Es war ein Freund von mir, der euch in Leris rettete, nicht wahr? Auch er ist Magier. Und trotz allem ist es nur ein Magier, der versucht, euren Bruder zu retten." Nymardos legte ihm begütigend die Hand auf die Schulter. Da atmete Tibra tief durch, wandte sich ab und setzte sich erneut ans Feuer. Sein Zorn verflog augenblicklich. Er grinste. "Wenn der Bursche mich noch einmal beleidigt, kreuze ich die Klinge mit ihm," meinte er leichthin. "Auf Sions Grund beuge ich noch nicht einmal das Recht damit." Ilkonys richtete sich langsam auf.
"Ich schlage mich nicht mit euch," murrte er. "Ihr hättet keine Chance gegen mich." Tibra lachte schallend. Aber er sprach nicht weiter darüber und forderte Ilkonys auch nicht noch einmal heraus. Als der neue Morgen begann, sattelte er selbst sein Pferd. "Ihr dient von nun an nur noch Gerrys und Nymardos," bestimmte er. "Wenn es euch so leicht fällt, Priestern zu dienen, dann tut das. Ich brauche euch nicht, Prinz." Ilkonys sagte nichts dazu, doch still hieß er diese Entscheidung sehr willkommen. Im weiteren Verlauf der Reise stellte er jedoch rasch fest, daß Tibra ihm damit keinen Gefallen tat. Die Freunde hielten treu zu ihm und da er den Dienst des Prinzen nicht mehr duldete, lehnten auch sie jede Hilfe ab. Ilkonys war mit einem Mal gänzlich von der Gemeinschaft ausgeschlossen. Er stand abseits, wenn sie gemeinsam die Pferde versorgten und Feuerholz suchten oder die Nahrung bereiteten. Sie dienten einander, doch keiner von ihnen fühlte sich darin auch nur abgewertet. Im Gegenteil festigte dies ihre gegenseitige Freundschaft und vertiefte sie. Der vertraute Umgang zwischen den Männern erweckte in Nodhers Erben Gefühle der Eifersucht. Aber er sah auch, daß der Falla wie der Pala des Than in Tibra wirklich nur einen Magier und einen Freund fanden. Die Priesterschaft dieses Mannes bedeutete wirklich nichts und fand in ihren Gesprächen keinen Raum.
S
ie erreichten Sions Küste dort, wo sich das Land wie ein Pfeil ins Meer erstreckte. Hinter dem Horizont mußte die Insel der Läuterung liegen. Hier lag Nimad. Dies mochte die größte Hafenstadt der Reiche sein, in deren Hafen sich so manche Galeere fand. Sie hatten ihre Pferde verkauft. Es war billiger, später neue Tiere zu erwerben, als sie nun
gegen bare Münze irgendwo auf ungewisse Zeit unterzustellen. Und es war unwahrscheinlich, ein Schiff zu finden, das sie mit den Tieren übersetzte. Mit finsterem Gesicht sah Tibra dem Treiben im Hafen zu, wo er beobachtete, wie Gefangene auf eine Galeere gebracht wurden. "Das Schiff fährt zur Insel," begriff Ilkonys. "Wenn wir genug bieten, nehmen sie uns sicher mit." "Tibra entscheidet, wie es weitergeht," erwiderte Gerrys ruhig. "Diese Mission ist ihm anvertraut." "Seymas überschätzt ihn," murrte Noders Erbe. "Ich werde nie verstehen, weshalb er ihm damit sogar über Nymardos Macht gibt. Sie sind doch Freunde." Gerrys lächelte ihn wehmütig an. "Weißt du," sagte er traurig, "manchmal frage ich mich wirklich, ob du Freundschaft überhaupt einschätzen kannst. Es gibt Zeiten, in denen bist du ein treuer Gefährte und verhältst dich in allem wie ein Freund. Und dann wieder zeigst du dich nur hochmütig und anderen Menschen gegenüber abwertend. Warum willst du alles einordnen und einstufen? Wieso versuchst du, den Wert eines Menschen in seinem Tun und nicht in seinem Sein zu finden?" "Wir sind bestimmt von dem, was wir tun," murmelte der Prinz. "Solange dein Tun über dein Sein entscheidet," erwiderte der Falla ernst, "ist dein Geist schwach und ohne jede Kraft. Wenn er erstarkt ist, bestimmt er das Tun, ohne sich daran zu ketten. Nymardos ist Pala des Than und mit diesem Titel auch Teilhaber von dessen Macht. Hast du davon in den letzten Tagen etwas gespürt?"
"Tibra behandelt ihn wie seinesgleichen," sagte Ilkonys düster. "Er dürfte nicht dulden, daß er Feuerholz sammelt oder die Pferde versorgt. Er müßte ihm dienen." "Dann wären sie keine Freunde," lächelte Gerrys. Ilkonys sah zu den beiden Männern, die abseits auf der Landungsbrücke standen und sich unterhielten. Sie schienen über die Schiffe zu sprechen, sich aber in der Wahl nicht einigen zu können. "Sie streiten," stellte Ilkonys mit leichter Befriedigung fest. Kaum, daß er dies sagte, hörte er Tibras lautes Lachen. Die Freunde kamen wieder zu ihnen. "Unser Führer ist der Meinung, daß keines von diesen Schiffen für unsere Zwecke brauchbar ist," erklärte Nymardos lächelnd. "Und was tun wir?" wollte Gerrys wissen. "Warten," kam die lakonische Antwort. "Wir quartieren uns ein und warten, was Tibra entscheidet." "Wir sind noch nicht am Ziel," murrte Ilkonys. "Das kostet unnötig Zeit." "Weiter vorn habe ich eine hübsche, saubere Herberge gesehen," erklärte der Magier gelassen, "dort bleiben wir über Nacht." Er ging mit Gerrys voraus. Ilkonys folgte mit Nymardos. Er schwieg zunächst, überwand sich dann und fragte: "Herr, wolltet ihr auch warten?" "Nein," gab Nymardos gelassen zu.
"Und ihr ordnet euch ihm unter?" "Tibra hat ein ungutes Gefühl, wenn er die Galeeren sieht," erwiderte Nymardos ruhig. "Seine Intuition ist sehr ausgeprägt und birgt viel Weisheit. Es wäre töricht, die Warnungen seines Geistes zu ignorieren und sich dadurch in unnötige Gefahr zu begeben." Ilkonys schwieg. Auch Willar hatte so ein ungutes Gefühl, ehe er nach Sion aufbrach. Hätte er wie Nymardos entschieden, käme der Bruder nie in Gefahr. Die Herberge bot jedem von ihnen einen eigenen kleinen Raum. Ilkonys und Gerrys begaben sich früh zur Ruhe. Tibra streifte allein durch Nimad. Er wollte keine Begleitung, ohne dies begründen zu können. Nymardos saß allein bis spät am Feuer beim Kamin und wartete auf die Rückkehr des Freundes. Als Tibra nicht kam, begab er sich zur Ruhe. Das Frühmahl nahmen sie dann gemeinsam ein. Niemand beachtete sie. Die große Hafenstadt war fremde Gesichter gewöhnt. "Ist Thylenon inzwischen auf erkundigte sich Tibra ungeniert.
Amarra eingetroffen?"
Nymardos lachte leise. Der Freund ahnte auf eine verborgene Weise, daß er in dieser Nacht geistigen Kontakt mit Seymas hatte. "Die beiden Herrscher weigern sich hartnäckig, auch nur miteinander zu reden," bestätigte er. "Sie nehmen nicht einmal gemeinsam am selben Ritual teil." "Und Seymas?" "Wie könnt ihr es wagen...?" mischte sich Ilkonys ein, wurde aber durch einen kurzen, bösen Blick des Pala zum Schweigen
gebracht. "Er hat sie noch nicht gesehen," gab Nymardos Auskunft. "Aber lange kann er nicht mehr warten. An der Grenze in der Nähe des Tempels des Friedens hat es einige Übergriffe und blutige Schlachten gegeben. Beide Seiten beklagen ihre Toten. Im Moment herrscht wieder Ruhe, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis alles in einen großen Krieg ausartet." "Hat der Than ein Schiff geschickt?" Alle drei starrten den Magier an, der ihr Erstaunen begriff und leise lachte. "Ihr seid ulkig," stellte er vergnügt fest. "Seymas weiß, wohin wir wollen und er weiß, daß wir auf der Insel nichts verloren haben. Wenn wir eine Galeere nehmen, weiß jedes Reich sofort, daß Amarra sich in ein Land begibt, wo es kein Recht besitzt. Was liegt näher, als ein Schiff Amarras zu benutzen?" "Du hast damit gerechnet," stellte Gerrys verblüfft fest. "Aber es war nie die Rede davon." "Es ist ein Schiff da?" vergewisserte sich Ilkonys. Nymardos nickte ruhig. "Es wartet seit Tagen," gab er zu. "Ein kleines Handelsboot aus Khyon, am andern Ende des Hafens. Wir haben es gestern nicht gesehen und es trägt auch nur Khyons Flagge." Tibra schöpfte sich vom heißen Körnerbrei nach. Er aß mit gesundem Appetit. In seinen dunklen Augen lag ein zufriedenes Strahlen. "Und wo warst du die letzte Nacht?" erkundigte sich Nymardos. "In der Stadt," gab Tibra kauend zu. "Es ist erstaunlich, wie hier selbst in der Dunkelheit geschäftiges Treiben herrscht. Ich habe Karten besorgt, die besser sind als
jene, die wir haben. Außerdem erfährt man viel über die Insel, wenn man ein paar Stunden in den Schänken mit den Leuten trinkt. Aber sie brennen hier einen miserablen Tratta und verkaufen ihn zu teuer." Er gähnte ungeniert. "Suchen wir das Schiff, damit ich etwas Schlaf bekomme." Sie begaben sich zum Hafen, wo sie nun, als sie darauf achteten, so manches Schiff aus Khyon sahen. Von einem kleinen Segler her ertönte lautes, aufdringliches Lachen. Sie sahen leicht bekleideten Frauen dort an Deck, die einen jungen Mann unterhielten. Tibra zog die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Ilkonys lachte leise. "Das ist ein reicher Müßiggänger und bestimmt kein Bote Amarras," behauptete er. "Seht das Schiff dort. Die Leute scheinen zu warten." Tibra grinste. "Der Typ ist in Nimad sehr beliebt. Er hat fast täglich Gäste auf dem Schiff und wenn er eine Schänke aufsucht, bezahlt er die komplette Zeche." Der Mann zog eben eine Frau an sich und küßte sie voll Leidenschaft. Ilkonys stieß einen verächtlichen Laut aus. Er wollte weiter. Aber Tibra lachte nur und betrat den Landungssteg. "Wir haben keine Zeit für Feste," murrte Nodhers Erbe. Nymardos faßte seinen Oberarm. Irritiert sah er ihn an, dann glitt sein Blick zu Tibra, der eben das Schiff betrat. Der Magier wurde laut begrüßt, als sei er ein lange erwarteter Freund. "Hey," rief er ihnen zu, "wollt ihr nicht an Bord kommen? Uns wird ein faszinierender Tag auf See geboten."
Sie wurden beobachtet, als sie das Schiff betraten. Der junge Mann hier blieb keinem unbekannt und neugierig sahen die Leute zu, wen er an diesem Tag mit sich nahm. Die Frauen reichten den Freunden gefüllte Becher. Segel wurden gesetzt. Das Schiff glitt aus dem Hafen. Tibra hatte sich im Bug auf eine Decke gelegt. Er schlief schon, als der vermeintliche Müßiggänger zu Nymardos trat, unmerklich das Haupt neigte und grüßte: "Der Pala des Than ist lange erwartet. Meine Name ist Polyr. Verfügt über mich, Herr." Ilkonys leerte hastig seinen Becher. Er starrte Gerrys an. "Das sind alles Priester," konnte Tibra das erkennen?"
begriff er erst jetzt. "Wie
"Er hat wohl auf ihr Sein und nicht auf ihr Tun geachtet," erwiderte Gerrys lächelnd, ehe er selbst zu Polyr trat und den Mann begrüßte. "Wie weit ist es bis zur Insel?" "Sehr weit," erwiderte der Mann. "In Nimad denken sie, die Insel fasziniere mich. Ich fahre oft hinüber, nehme immer Leute der Stadt mit und dann schauen wir auf das verbotene Land und stellen uns die Grausamkeiten vor, die dort geschehen. Ihr werdet da sein, ehe sich die Nebel senken." "Und ihr wartet dort auf uns?" wollte Ilkonys wissen. Der Mann musterte ihn nur kurz. Er wußte nicht, wer er war und fragte darum nach seinem Namen. Nodhers Erbe gab Antwort, verschwieg aber seinen Rang. "Ich segle morgen zurück," gab Polyr da Auskunft. "Es wäre gefährlich, vor der Küste zu kreuzen. Die Wächter der Insel mögen keine Neugierigen. Aber ich werde jeden zweiten Tag nachsehen, ob ihr alle schon zurück seid.
Befestigt ein weißes Tuch zwischen den Steinen an der Küste. Wenn ich es sehe, weiß ich, daß ihr wartet." "Ihr bringt uns nicht zum Hafen? Mann, das müßt ihr." Erstaunt sah Polyr von Ilkonys zu Nymardos. Der lächelte sacht. "Ich bin gehalten, der Weisung des Magiers zu folgen," erklärte der Priester in verbindlichem Ton, dabei entschuldigend den Pala des Than anschauend. "Das sind wir alle," erwiderte Nymardos amüsiert. "Ich füge mich lieber der Weisheit als jugendlichem Ungestüm." Beschämt trat Ilkonys zur Reeling und starrte aufs Meer. Selbst Amarras Boten empfanden es nicht als demütigend, Tibra unterstellt zu sein. Das verwirrte ihn sehr. Der Magier schlief tief, aber völlig entspannt. Eine der Frauen hatte eine Decke über ihn gebreitet und wachte, wenige Schritte entfernt, über ihn. Die ganze Besatzung sprach leise, um den Schläfer nicht zu stören. Gerrys und Nymardos unterhielten sich mit Polyr. Ilkonys glaubte sich übersehen und staunte ein wenig, als eine der leicht bekleideten Frauen zu ihm trat. Sie reichte ihm lächelnd eine kleine Schale mit Früchten. "Er muß sehr müde sein," meinte sie dabei. "Er hat die Nacht über nicht geschlafen," gab Ilkonys grinsend zu. "Aber ihr müßt nicht flüstern. Sein Schlaf ist immer sehr tief." "Ihr kennt ihn gut?" "Ich glaube, ich kenne ihn überhaupt nicht," brummte Nodhers Erbe. "Aber ich kenne auch Amarras Leute nicht mehr, die es anscheinend als Ehre empfinden, einem Magier
zu dienen." Erstaunt sah sie ihn an. "Es ist eine Ehre," erwiderte sie ruhig. "Unserem Gebieter liegt an ihm und er wählt genau, wen er zu seinem Dienst befiehlt. Es ist nicht wichtig, daß er kein Priester ist. Die meisten Magier sind unsere Gegner. Er ist ein Freund Amarras. Viele von uns haben früher nicht gewußt, daß ein sehr starker Geist sein Leben der Magie widmen kann. Jetzt wissen wir, daß jeder Weg gut ist." "Und das ist bedeutsam?" zweifelte Ilkonys offen. Sie lächelte ruhig. "Alles ist bedeutsam, wenn man es genau betrachtet. Ihr mögt diesen Mann nicht, nicht wahr?" "Wir stehen nicht auf derselben Stufe," brummte Nodhers Erbe. "Ich glaube nicht, daß er sich über euch erhebt," erwiderte sie freundlich. Ilkonys drehte sich um und starrte aufs Meer. Nein, nicht Tibra erhob sich, er tat es. Die Priesterin ließ ihn mit seinen Gedanken allein. Niemand kümmerte sich weiter um ihn. Irgendwann ging er in den Bug, setzte sich neben Tibra und schaute ihm beim Schlafen zu. Und immer wieder fragte er sich, wie es geschehen konnte, daß er bei seiner Ankunft auf Nodher so sehr in Zorn geriet, daß er diesen Mann der Gewalt seines Vaters auslieferte. Als die Insel der Läuterung am Horizont auftauchte, rüttelte er Tibra leicht an der Schulter. Der Magier knurrte eine abwehrende Bemerkung, schob, noch im Schlaf, die lästige Hand beiseite, drehte sich um und schlief weiter.
Nymardos beobachtete die Szene. Nun lachte er leise, trat hinzu, kniete neben Tibra nieder und legte die Hand unter dessen Haupt. Sanft hob er den Kopf des Schläfers an. Tibra legte ihm die Arme um den Hals und gähnte. "Soll das heißen, daß wir schon da sind," brummte er. "Du kannst durchaus noch eine Stunde schlafen," erwiderte Nymardos. "Es ist noch nicht dunkel genug, um an Land zu gehen. Aber der Ausblick ist sehenswert." Tibra ließ ihn los und setzte sich auf. Polyr stand abwartend abseits. Der Magier sah ihn, grinste und erhob sich. "Ich bin sicherlich keine sehr unhaltsame Begleitung gewesen," meinte er zu dem Priester, während er ihm die Hand reichte. "Ich verspreche euch eine angenehmere Überfahrt, wenn ich zurückkomme. Vermutlich schlafen dann meine Freunde und ich wache." Er sah zum Land hinüber. Polyr schilderte ihm alles, was er über die Insel in Erfahrung brachte.
A
ls die Nebel sanken, hatten sie noch einmal reichlich gegessen. Ein kleines Beiboot ruderte die Gefährten an Land. Tibra deutete den steilen Hang hinauf. Sie kletterten über die großen Steine. Auf halber Höhe befand sich eine kleine Höhlung im Berg. Hier übernachteten sie. Weit draußen ankerte Polyrs Schiff, das sich am frühen Morgen nach Nimad begeben wollte. Es war noch ein Stück weit gesegelt, um während des Aufenthalts nicht ihren Landungsplatz zu entdecken. Ihr Lagerplatz erwies sich als völlig sicher. Es war nicht notwendig, hier abwechselnd zu wachen. Ilkonys sah mit
fast geringschätzigem Staunen, wie der Magier sich wieder niederbettete und willens war, noch einmal lange und tief zu schlafen.
W
illar drehte das Wasserrad Stunde um Stunde. Er mußte die Arbeit nicht allein tun. Ein kleiner, zottiger Muskesel befand sich neben ihm. Doch nur ihn trieb die Peitsche an, die manches Mal seinen Rücken traf und die Haut zerriß. Makaras rief den Wächter an. Dann kam er langsam näher. Schwer atmend blieb Willar stehen. Eine kleine Pause war alles, was er erhoffte. Makaras grinste anzüglich. Mit einem Finger strich er über Willars Rücken, entlang eines der blutigen Peitschenstriemen. Willar hielt entsetzt den Atem an, als der Mann hinter ihm dann fast zärtlich über seine Brust fuhr und seinen Oberarm streichelte. Thorin befand sich bei Ulander im Haus. Er stand am Fenster, hörte seinem Herrn zu und starrte auf die Szene. "Ihr solltet das sehen," meinte er schließlich. Ulander trat neben ihn und folgte seinem Blick. "Makaras ist kein Narr," beruhigte er Thorin. "Er hat sich hier eine Stellung erarbeitet, die Macht einschließt. Das riskiert er nicht wegen eines Gefangenen. Er weiß, daß Willar mir gehört." Tatsächlich ließ Makaras den Gefangenen los. Er ging zum Wärter mit der Peitsche. "Unserem Herrn wird es nicht gefallen, wenn du ihn weiter verwundest," behauptete er. "Treibe den Esel an, nicht
den Mann." Die weiche Haut Willars hatte ihn allerdings erregt. Er ging nun in sein eigenes Haus. Shannar gehörte ihm. Hier mußte er sich nicht beherrschen. Der Junge mochte willig sein, er würde ihn in wenigen Stunden fürchten. Die Angst, das Wimmern und Flehen seines Opfers war für Makaras Teil der Befriedigung, die er suchte. Es war Shannar, der Willar am Abend von den Ketten befreite. Seine Augen zeigten noch die Spuren vieler Tränen; sein schmächtiger Körper war übersät von Schrammen und blauen Flecken. "Du sollst dich waschen und du darfst auch trinken," sagte er. Willar, völlig erschöpft, sank neben der Wasserwanne nieder. Mühsam zog er sich an deren Rand hoch, tauchte dann den Kopf in das kalte Naß und sog gierig das Wasser in sich auf. Shannar tauchte ein Tuch ins Wasser, reinigte vorsichtig Willars Rücken und versuchte, die Wunden möglichst schmerzfrei vom Schmutz zu befreien. "Was machst du?" Hinterlist vermutete.
murrte
Willar,
der
irgendeine
"Ich tue nur, was mir befohlen ist," erwiderte Shannar unsicher. "Ich glaube, Ulander will dich sehen. Du mußt sauber sein, wenn du zu ihm gehst." Willar nahm ihm das Tuch ab. Während er sich mit dessen Hilfe reinigte, musterte er Shannar. "Wenn ich dich so ansehe," stellte er fest, "dann zweifle ich daran, daß das pure Überleben dieses Opfer wert ist." "Du
hast Glück, daß Ulander dich will," gab Shannar zu.
"Aber du mußt nur einen Fehler machen. Dann gehörst auch du Makaras und hast keinen Grund mehr, mich zu verhöhnen." "Ich spotte nicht über dich," versprach Willar mitleidig. "Ein wenig verstehe ich dich sogar, jedenfalls hier." "Was meinst du damit?" "Ich meine, daß ich es irgendwie verstehen kann, wenn man auf dieser verfluchten Insel überleben will. Aber ich werde nie verstehen, wie du in Leris so leben konntest." "Woher weißt du, woher ich komme?" Ein Peitschenriemen riß Shannars Rücken auf. Er schrie in leisem Schmerz. "Wir dürfen nicht miteinander reden," flüsterte er hastig. Wortlos gab ihm Willar das Tuch zurück, ehe er dann langsam auf das Haus seines Herrn zuging. Thorin, der sich bisher bei Ulander aufhielt, trat aus der Tür. "Auf die Knie," mahnte er freundlich. "Du darfst niemals stehen, wenn ein Wärter in deiner Nähe ist. Es sei denn, deine Arbeit erfordert das oder es wird von dir verlangt." Willar kniete fragte er:
eilig nieder. Er durfte nicht reden, trotzdem
"Herr, wie muß ich mich verhalten?" "Auf alle Fälle so, daß dein Herr keinen Anlaß findet, dich Makaras zu überlassen." Der Mann, dessen Namen er eben aussprach, kam über den Platz. Er sah Willar vor Thorin knien, lachte leise und kam
herbei. Er musterte Willar nur kurz, ehe er bemerkte: "Wenn man ihm den Bart stutzt, sieht er direkt ansprechend aus." Er stieß mit dem Fuß nach Willar. "Steh auf." Als der Gefangene gehorchte, löste er mit raschem Griff sein Lendentuch und warf es beiseite. Thorin spannte sich unmerklich an, während Willar in ohnmächtigem Bewußtsein seiner Machtlosigkeit den Kopf senkte. Makaras lachte leise. Er gab Shannar einen Wink und während er auf ihn wartete, betrachtete er Willar eingehend. "Was soll das?" wollte Thorin wissen. Shannar kam gelaufen, warf sich vor Makaras nieder und hielt ihm ein Tuch entgegen. "Leg es ihm um," verlangte der Wächter. "Unser Herr soll sich nicht an dem alten Fetzen beschmutzen." Shannar gehorchte. Er zitterte etwas dabei, weil er wußte, daß Makaras ihn an diesem Abend nicht aus seiner Nähe zu entlassen gedachte. In dieser Stunde beneidete er Willar, obwohl er bezweifelte, daß dieser seine Chance zu nutzen verstand. "Kommt," lud Makaras da Thorin ein, "ich habe euch ein Haus vorbereiten lassen, das euch wohl gefallen wird." "Weshalb die bevorzugte Behandlung?" wunderte sich der im Weggehen. "Weil unser Herr in euch mehr einen Gefährten denn einen Untergebenen sieht," grinste Makaras. Willar stand allein. Trotz der beschämenden Situation war nun froh, ein sauberes Tuch um die Lenden zu tragen. Er seufzte leise, ehe er die Tür öffnete und angstvoll eintrat.
Der große Raum barg neben einem niederen Tisch und bequemen Sesseln auch einen Arbeitsbereich, wo Ulander hinter einer wuchtigen, breiten Schreibplatte saß und verschiedene Papiere betrachtete. Bei Willars Eintreten erhob er sich. Sein Gefangener schloß die Tür, ehe er niederkniete. "Umdrehen," verlangte der Kustos. Willar biß sich auf die Unterlippe, während er gehorchte. Er hatte nur die Wahl zwischen Ulander und Makaras und da war der Kustos sicher das kleinere Übel. Er mußte es irgendwie ertragen, irgendwie damit leben. Er verkrampfte sich auf unglaubliche Weise, als Ulander hinter ihn trat. Dann spürte er Ulanders Hand auf seiner Schulter. Willar warf sich nach vorn, krümmte sich auf den nackten Holzdielen zusammen. Er wartete auf ein Wort, einen Hieb, erwartete Befehl und Gewalt und Brutalität. Aber nichts geschah. Nach geraumer Zeit erst drehte er furchtsam den Kopf und sah über seine Schulter. Ulander stand unbewegt. In der Linken hielt er eine tönerne Schale, der er mit der Rechten etwas Wundsalbe entnahm. Er lächelte. "Was hast du erwartet?" fragte er sanft. Mit einem Mal schämte sich Willar seiner Furcht und seiner Gedanken. Still kniete er wieder hin und wandte Ulander den Rücken zu. Der Kustos bestrich die Wunden mit heilender Salbe. Danach deutete er mit dem Kinn zum Tisch. "Iß," forderte er Willar auf. Dann achtete er nicht weiter auf ihn, sondern widmete sich erneut den Papieren. Sehr viel später erst sprach er wieder. "Bist du der Schrift mächtig?"
"Ja, Herr." Ulander lehnte sich im Stuhl zurück. "Ich empfinde diese Arbeit als lästig," gab er zu. "Komm her." Er wartete, bis Willar neben ihm stand und reichte ihm dann einige Papiere. "Ich brauche eine Aufstellung über die bisherige Ausbeute der Mine. Schaffst du das?" "Ja, Herr." "Gut, dann setz dich an den Tisch dort und fang an. Ich will die Liste in Monatsabständen eingeteilt." Willar nahm die Schriften an sich. Auf dem Tisch stand eine Kerze, in deren Schein er arbeiten konnte. Die Unterlagen reichten fünf Jahre zurück und schienen eher willkürlich angefertigt zu sein. Als Ulander spät in der Nacht hinter ihn trat, hatte er noch nicht einmal die Hälfte seiner Aufgabe bewältigt. Wie unter einem Hieb zuckte er zusammen, als sein Herr ihm die Hand auf die Schulter legte. Ulander griff nach dem Blatt, das er beschrieb, ließ ihn aber nicht los. "Gute Arbeit," lobte er dann. "Die Feder scheint dir wirklich vertraut zu sein. Genug für heute, Willar. Komm." Er griff nach der Kerze und führte den Gefangenen in den Nebenraum. Hier war seine Lagerstatt an der Wand befestigt. Ihr gegenüber stand ein schmaler Schrank, gegenüber der Tür befand sich eine Truhe. Der kleine Raum besaß kein Fenster. Ulander setzte sich auf das Lager. "Willst du mich nicht bedienen?" erkundigte er sich amüsiert. Willar kniete rasch nieder und zog ihm die Schuhe aus. Er half seinem Herrn aus den Kleidern, bediente ihn bei der
Waschung und konnte nicht verhindern, daß seine Augen dabei feucht wurden aus Furcht vor dem, was geschehen konnte. Immer wieder erschütterte leises Zittern seinen Körper. Ulander legte sich nieder. "Lösche die Kerze," verlangte er. Willar trat zum Tisch und blies das Licht aus. "Komm zu mir." Er gehorchte voll Furcht, kniete neben dem Lager nieder und nun drangen die Tränen aus seinen Augen, als Ulander die Hand unter sein Kind legte. "Du weinst ja," stellte der Kustos fast erstaunt fest. Willar legte beide Hände um seine Hand. Er schluchzte. "Ich weiß nicht einmal, was ich tun muß," stammelte er, "um es erträglich zu halten. Bitte, helft mir wenigstens dabei." Ulander legte sich zurück. "Und wo ist jetzt deine Selbstachtung?" Willar preßte verzweifelt die Lippen auf seine Hand. Wäre die Mine seine Alternative, so fiele die Wahl leicht. Doch wenn Ulander ihn verstieß, blieben ihm nur Makaras oder Sakserr und damit konnte er sicher nicht leben. "Du schläfst auf dem Boden." Willar erstarrte fast bei diesen Worten. Ulander lachte leise, entzog ihm die Hand und bettete sich bequem nieder. "Du bist mein persönliches Eigentum," stellte der Kustos
fest. "In Slak ist es allem Anschein nach Teil meines Amtes, einen der Gefangenen nach meiner eigenen Willkür zu benutzen. Das läßt mich vor meinen Leuten stärker erscheinen." Er lachte leise. "Gib dir Mühe, Willar, damit sie nicht daran zweifeln, wie dankbar du für meine Güte bist." Das klang verächtlich. Doch der Prinz hörte darin nur die Verheißung. "Ich bin euch dankbar, Herr," versprach er. "Du sollst auch verliebt in mich tun," grinste Ulander. "Wenn du dich noch einmal anspannst, wenn ich dich berühre, beweist du das Gegenteil. Solange niemand unser Spiel durchschaut, rührt dich keiner an. Kannst du es nicht durchtragen, gibt es keinen Schutz mehr für dich." "Warum tut ihr das?" fragte Willar bang. "Vielleicht sind deine guten Gedanken ein wirksames Gegengift gegen die Gewalt hier," meinte Ulander leichthin. "Schlafe nun." Er drehte sich zur Wand, zog die Decke über sich und sagte nichts mehr. Willar lag noch lange wach. Er lauschte den regelmäßigen Atemzügen seines Herrn. Ganz langsam erst begriff er, daß Ulander ihn nie bedrohen wollte. Als er endlich einschlief, fühlte er sich zum ersten Mal seit der Zeit, da sie ihn in Sion vors Tribunal zerrten, sicher.
W
illar erwachte früh am Morgen. Eben hoben sich die Nebel. Leise erhob er sich, griff nach der Waschschüssel und trug sie hinaus. Im Dämmerlicht ging er zum Wassertrog, wo er das alte Wasser auf den Boden schüttete und die Schüssel neu füllte. Auch Shannar war hier und er tat genau dasselbe. Der Junge wirkte übernächtigt.
"War es sehr schlimm?" flüsterte er ihm zu. Willar lächelte sacht. "Ich habe es mir schlimmer vorgestellt," behauptete er. "Unser Herr ist sehr sanft." Shannar seufzte. "Ich sagte dir doch, daß du Glück gehabt hast," murmelte er. "Wenn du fügsam bist, wird Ulander dich einige Tage, vielleicht sogar Wochen für sich behalten. Wirklich übel wird es erst, wenn er dich mit anderen teilt." "Makaras teilt dich jedenfalls noch nicht. Und ich kann mir nicht denken, daß es noch schlimmer werden könnte." Shannar schluckte trocken. "Alles ist besser als die Mine." "Du würdest dir das Leben hier erspart haben, wenn du in Leris nicht aus falschem Stolz heraus die Hilfe deines Vaters abgelehnt hättest," stellte Willar trocken fest. Shannar starrte ihn an. Er kannte seinen Vater nicht. Seine Mutter verließ diesen Mann, als er zwei Jahre alt war. Er diente schon Riccaro auf jede erdenkliche Weise, als er die Botschaft empfing, daß sein Vater bereit sei, zu ihm zu kommen, falls er dies wünsche. Shannar lehnte dies damals ab. "Er ist ein Versager," zitierte er, was die Mutter so oft über seinen Vater sagte. "Ich will nichts mit ihm zu tun haben." Willar grinste.
"Und was bist du?" fragte er nur. Er nahm die Schüssel und trug sie zurück. Shannar kannte den Namen seines Vaters, aber er wußte nicht, wer dieser Mann war. Tibra hatte es ihm nicht gesagt. Und er wollte es auch nicht tun. Leise betrat er das Haus seines Herrn, doch die Umsicht war unnötig, da Ulander schon erwachte. Willar lächelte unsicher. "Ich hoffe, die Nacht gefiel dir," grinste Ulander und überspielte seine Scheu. "Hilf mir jetzt. Danach gehst du zum Küchenhaus und holst ein Frühmahl. Thorin und Makaras werden mit mir speisen, also bring reichlich mit." "Ich werde euch beim Mahl bedienen?" "Du wirst mich immer und überall bedienen," nickte der Kustos. "Immer vorausgesetzt, du überzeugst nachher Makaras von deiner Hingabe an mich." Willar gab sich Mühe. Sein ganzes Leben hatte er Pagen besessen, die ihm jeden Dienst leisteten. Er wußte, wie er sich benehmen mußte. Beim Frühmahl sorgte er umsichtig dafür, daß sich kein Becher und Teller vorschnell leeren konnte. Die Männer sprachen über die Belange der Mine. Willar wußte, daß vor allem Makaras ihn beobachtete. Doch auch Thorin musterte ihn immer wieder. Willar schenkte Makaras den Becher voll. Er spannte sich an, als der Wärter dabei seinen nackten Schenkel streichelte. Ulander sah es aus den Augenwinkeln. Er faßte nach Willars Handgelenk, zog ihn neben sich und bemerkte: "Ich teile niemals." Willar kniete neben ihm nieder und warf ihm einen fast gläubigen Blick zu, ehe er Ulanders Hand zum Kuß an seine
Lippen zog. Makaras grinste, doch Thorin preßte unwillig die Lippen zusammen. Ulander fuhr dem Prinzen durchs Haar. Die Geste wirkte sehr zärtlich. "Du kannst abräumen," erlaubte er, "die Reste sind für dich." Willar trug das Geschirr hinaus. Ehe er das Tablett ins Küchenhaus brachte, aß und trank er selbst. "Ihr habt ihn leicht gewonnen," stellte Makaras fest. "Er schien gestern eher voll Abwehr zu sein." Ulander lachte leise. "Die Alternativen haben dem Burschen wohl nicht gefallen," meinte er leichthin. "Wenn man auf seinen Besitz achtet, nützt er sich weniger schnell ab." Er erhob sich. "Zeigt mir, wie ihr die Leute in ihr Tagwerk einweist." Sie widmeten sich der Arbeit. Makaras bezog nun auch Thorin mit ein, gab ihm aber einen Aufseherposten und stellte ihn damit über die anderen freien Männer hier. Niemand stieß sich daran. Der Kustos hatte durch sein Verhalten schon deutlich bewiesen, wieviel ihm an diesem Mann lag. Es war natürlich, daß er über ihnen stand.
W
illar hielt sich im Haus auf, bis Ulander kam. Dann arbeitete er weiter an der Aufstellung. Gegen Mittag schickte ihn der Kustos zum Küchenhaus. Als er dort eintrat, wurde die Tür von innen geöffnet. Er stieß mit Shannar zusammen, dem sein Tablett entglitt. Mit einem Mal war Makaras herbei. Er stieß Shannar zu Boden, beschimpfte ihn übel und trat ohne Unterlaß mit dem Stiefel in seinen Unterleib. Der Jüngling krümmte sich schmerzerfüllt am Boden. Willar kniete nieder.
"Es war meine Schuld, Herr," versicherte er, von Mitleid erfüllt. Makaras fuhr herum. Seine Faust krallte sich in Willars Haar. "Schau ihn dir an," fauchte er. "Wenn unser Herr mit dir fertig ist, wirst du mir gehören." "Makaras!" Ulander war in die Tür seines Hauses getreten und sah, was geschah. Er lehnte sich fast gemütlich gegen den Türrahmen. Makaras stieß den Prinzen zurück, der sich hastig aufrappelte und zu seinem Herrn lief, vor dem er sich niederwarf. "Steh auf." Willar gehorchte rasch. Da griff Ulander nach seinem Halsreif, zog ihn zu sich. Er preßte seinen Mund auf den des Gefangenen, doch seine Augen hingen dabei an Makaras. Der verneigte sich endlich leicht in seine Richtung und verließ den Platz. Ulander grinste. "Wehe, du wischst dir den Mund ab," drohte er gemütlich. "Jetzt geh und hol mein Essen." Es gab auch im Küchenhaus Wärter, die schwere Peitschen trugen. Doch die Arbeit leisteten Gefangene. Sie gehörten zu denen, die auf der Insel ihr Schicksal loben durften. Niemand tadelte sie, wenn sie miteinander sprachen und keiner der Wächter zeigte Unwillen, als sie ihre Worte nun auch an Willar richteten. "Danke den Göttern," meinte einer, während er die Speisen für den Kustos richtete, "sie scheinen es wirklich gut mit dir zu meinen."
"Als ob die Götter auf der Insel wären," spottete ein anderer. Willar sagte nichts dazu. Er konnte sich nicht beklagen, sicher nicht. Doch er war umgeben von Peitschenklängen, Schmerzensschreien und der stetig drohenden Gewalt. Dies war sicher kein Ort, an dem die Götter wirkten. Ulander nahm schweigsam das Mahl zu sich, ließ aber genug davon übrig, so daß Willar sich sättigen konnte. Am Abend weilte Thorin einige Zeit als Gast in diesem Haus. Der Kustos verhielt sich unverändert. Er wollte auch, daß dieser Mann keinen Zweifel hegte an seiner Beziehung zu Willar. Der Prinz ließ sich nicht anmerken, wie wenig ihm anzügliche Bemerkungen oder deutliche Berührungen gefielen. Als Thorin ging, atmete er auf. Ulander lachte leise. Der Kustos blieb ruhig im Sessel, während Willar sich wiederum den Schriften widmete. Der Prinz hatte fast den ganzen Tag daran gearbeitet und vollendete nun sein Werk. Er trat zu Ulander, kniete nieder und reichte ihm die Aufstellung. "Fertige nun Listen über die monatlichen Verluste und die Zugänge," verlangte Ulander. "Ich will in kurzer Zeit eine Übersicht über die Mine bekommen, die etwas mehr aussagt als Makaras' Worte." Willar fügte sich gehorsam. Das vorhandene Material ließ sich nur schwer auswerten, doch ohne solche Aufstellungen herrschte in Slak nur Willkür. Ulander war entschlossen, in seiner Zeit hier sehr erfolgreich zu arbeiten. Gelang ihm dies, erhielt er außer dem überdurchschnittlichen Lohn auch eine ansehnliche Prämie. "Erzähle mir von dem Mädchen, das du liebst." Willar
zuckte
zusammen.
Er
hatte nicht erwartet, ange-
sprochen zu werden. Unruhig sah er auf. Ulander lehnte mit geschlossenen Augem im Sessel, hielt den Weinpokal in den Händen und schien völlig entspannt. Der Prinz kniete an seiner Seite nieder. "Herr," bat er leise, "laßt mich Vergangenes vergessen." Ulander blieb unbewegt. "Die Arbeit, die ich dir zugedacht habe, ist in ein paar Tagen getan. Als Liebhaber taugst du nichts. Was soll ich mit dir machen, wenn du mich nicht einmal unterhalten kannst?" "Ich kenne die Geschichten und Legenden der Reiche," bot Willar an. "Nur deine eigene Geschichte willst du verschweigen? Woher kennst du diesen Shannar?" "Ich kenne ihn nicht, Herr. Ich befand mich aber in Surs, als er verurteilt wurde und weiß, was er tat." "Ich werde sehen, ob mich deine Ersatzangebote unterhalten," beschloß der Kustos lächelnd. "Erzähle mir seine Geschichte." Willar gehorchte. Er erzählte ausführlich alles, was er über Shannar je hörte und schilderte dessen Kindheit und Jugend, als sei er dabei gewesen. Er sprach von Riccaro, den er tötete und von Ilkonys, den er bedrohte. "Nodhers Erbe hatte sich sicher eine fröhlichere Heimkehr in seine Heimat gewünscht," bemerkte Ulander dabei. Willar vermochte es wirklich, ihn zu unterhalten. Die Art, wie er erzählte, hätte es ihm durchaus ermöglicht, als Geschichtenerzähler auf den Marktplätzen sein Auskommen zu finden. Der Prinz nickte. Er fuhr in seiner Erzählung
fort. Als er zu Ende kam, war die Kerze niedergebrannt. Wieder schlief er auf dem Boden vor dem Lager seines Herrn. In dieser Nacht wich ihm der Schlaf nicht aus. Aber Ulander lag lange wach und überlegte, wie es mit Willar weitergehen sollte. Sein Gefangener war ihm schon nicht mehr gleichgültig. Aber er zweifelte daran, daß er ihn drei lange Jahre hindurch an seiner Seite halten konnte. Und selbst wenn dies gelänge, so wartete doch danach auf Willar ein grausames Schicksal. Und davor konnte er ihn dann nicht bewahren.
A
m andern Tag ritt der Kustos mit Thorin und Makaras zur Jagd. In den Bergen gab es außer ein paar wenigen Großkatzen, deren geschmeidige Kraft auch so manches Menschenleben kostete, kräftige, wilde Ziegen. Diese Tiere boten schmackhaftes Fleisch und ihr langes, zottiges Fell gab wärmende Decken ab. Außerdem bot die Jagd angenehme Abwechslung und half, die Gegend zu erkunden. Willar hatte einen großen Kübel mit Wasser gefüllt und begonnen, die Kleidung seines Herrn zu reinigen. Er erwartete es fast, daß Shannar zu ihm kam und wunderte sich darum nicht, als der Jüngling nun dieselbe Arbeit begann. Solange die wirklichen Herren nicht bei der Mine weilten, zeigten sich die Wärter etwas weniger aggressiv. Darum wagte es Shannar, ein Gespräch zu beginnen. "Du hast von meinem Vater gesprochen," erinnerte er Willar. "Kennst du ihn?" Der Prinz unterbrach seine Arbeit nicht, als er antwortete: "Ich werde jedenfalls auf dieses Thema nicht eingehen. Ich sehe, daß du Schmerzen hast. Bist du wieder geprügelt
worden?" Shannar warf ihm einen wehen Blick zu. "Das ist der leichteste Teil der Folter," gestand er leise. "Ich habe nie einen so brutalen, gierigen Mann erdulden müssen. Gegen Makaras ist sogar Sakserr ein freundlicher Mensch. Ich habe gehört, daß in den Bergen hier Flüchtlinge leben. Hast du schon an Flucht gedacht?" "Nein," wehrte Willar ab. "Und werde auch nicht daran denken. Die Kerle, die uns auf dem Weg hierher überfielen, waren auch nicht viel besser dran. Außerdem habe ich noch Hoffnung, daß ich zu Hause nicht ganz vergessen bin." "Du meinst, deine Leute holen dich hier heraus? Das kannst du vergessen, Mann. Wenn du die Insel betrittst, bist du verloren. Man vermerkt im Hafen ja nicht einmal, welcher Gefangene in welche Mine kommt. Du bist tot. Du weißt es nur noch nicht." "Du willst fliehen?" Shannar sah sich ängstlich um, ehe er nickte. "Ja, wenn du mitkommst und mir hilfst." Willar lachte wider Willen. Er wrang ein Kleidungsstück aus, griff nach dem nächsten Teil und redete erst dann wieder. "Als du Nodhers Erben bedrohtest," erinnerte er Shannar mit spöttischer Stimme, "da half dir ein Sklave. Wenn ich mich recht entsinne, bist du diesem Dal nicht sehr dankbar gewesen." Shannar starrte ihn. Der Jüngling überlegte verzweifelt, ob er diesem Mann schon einmal begegnet war. Er konnte sich nicht daran erinnern.
"Das hat mir schon einmal jemand vorgeworfen," murmelte er, zum ersten Mal seit langem an Tibra denkend. "Warum denkt jeder, ein Sklave sei mehr wert als ich?" "Weil man für einen guten Sklaven eine Menge Solare bezahlt und für jemanden wir dich oder mich keinen Finger rührt," grinste Willar. "Damals war ich frei." "Eben," stellte der Prinz lakonisch fest, "damals warst du es. Wenn aber jemand in Freiheit schon weder Treue noch Ehrenhaftigkeit kennt, dann wird er es in Zeiten der Not erst recht nicht tun." "Du verachtest mich?" Willar nickte langsam. "Ja, das tue ich wohl," gab er zu. "Aber vielleicht nur, weil du deinen Vater verachtest und ich mir nichts mehr wünsche als seine Freundschaft." Shannar ließ die Hände sinken. "Also kennst du ihn doch. Bitte, erzähle mir von ihm." Willar beendete seine Arbeit. Er hatte noch im Haus zu tun und wollte Ulander nicht durch Säumen verärgern. Da wurden Rufe laut. Die kleine Jagdgesellschaft kehrte zurück. Beim Brunnen glitten die Reiter aus den Sätteln. Andere würden sich um die Pferde und um die Jagdbeute kümmern. Makaros betrachtete meinte dann fröhlich:
Willar,
musterte Shannar kurz und
"Ihr habt eine gute gerne mit euch tauschen."
Wahl getroffen, Herr. Ich würde
Ulander lachte heiter. Der gemeinsame Ritt hatte die Männer einander näher gebracht, was nun offeneren Umgang ermöglichte. "Man tauscht keinen feurigen geschundenes Fohlen," grinste er.
Mustang
gegen
ein
"Aber man läßt Freunde auf dem eigenen Pferd reiten," bemerkte Makaras anzüglich. Thorin entfernte sich stumm. Ihn widerte solche Rede an. Willar warf sich vor Ulander nieder, preßte das Gesicht auf dessen Schuh und fürchtete geradezu seine Antwort. "Ein schlechter Reiter verdirbt ein Tier," meinte der Kustos gelassen. "Außerdem sagte ich euch schon, daß ich niemals teile. Was sich aber nicht auf unsere Jagdbeute bezieht. Ich hoffe, wir speisen später zusammen." Makaras sah seinem Herrn und dessen Gefangenen nach. Irgendwie gefiel es ihm, daß Ulander den Burschen noch nicht aufgab. Wenn ein Kustos zu gierig und zu unbeständig war, brachte er nur Unruhe ins Lager. Die drei Jahre mit diesem Herrn versprachen angenehm zu werden. Was Willar betraf, so konnte er warten. Irgendwann würde er ihn bekommen.
T
ibra führte die Freunde den Hang hinauf und ignorierte Ilkonys' abwehrenden Worte. Oben sahen sie einen steinigen Pfad, menschenleere Einöde und erschreckend unfruchtbares Land. "Wir hätten die Küste entlang gehen sollen," schimpfte Nodhers Erbe. "Es ist doch unsinnig, die Insel zu Fuß zu durchqueren. Am Hafen gibt es Pferde." "Die aber niemand an Fremde verkauft," wehrte der Magier unwirsch ab, während er den Degengurt fester anzog. "Was wollt ihr dann? Pferde stehlen? Brave Leute überfallen und sie ausrauben?" "Das wäre kein Problem, Prinz," grinste Tibra. "Nur gibt es hier kaum brave Leute. Also werden nicht wir jemanden überfallen, sondern uns überfallen lassen." Er nahm den Weg auf. Nymardos hielt sich neben ihm. "Ich werde dir keine große Hilfe sein, wenn es ums Kämpfen geht," warnte er lächelnd. Tibra grinste. "Wenn es gefährlich wird, hältst du dich abseits," verlangte er. "Würde ich dir zutrauen, in Gefahr zu töten, hätte ich darauf bestanden, daß du deinen Bogen mitnimmst. Aber ich befürchte, du würdest uns nicht einmal mit Frischfleisch
versorgen." Nymardos lächelte nur. Er beherrschte den Langbogen meisterhaft, doch er benutzte den Pfeil nur als Konzentrationshilfe. Und was das Fleisch betraf, so legte er ohnehin keinen Wert darauf. Eine Molnuß sättigte anhaltender, war gesünder und verlangte keine Zubereitung. "Habe ich dich gekränkt?" forschte der Magier aufmerksam. Nymardos legte ihm den Arm um die Seite. "Es würde mich kränken, wenn du etwas anderes von mir denkst," versprach er. "Sag mir, was du hier erwartest." "Ich warte auf Pferde," lachte Tibra. "Nach allem, was ich in Nimad erfuhr, gehe ich davon aus, daß sich in Hafennähe die meisten Banden herumtreiben. Geflohene Gefangene schließen sich zu losen Gruppen zusammen und versuchen, irgendwie zu überleben. Sie rauben, morden, plündern. Die Auswegslosigkeit ihres Daseins macht sie gefährlich." "Wie groß sind diese Banden?" wollte Gerrys wissen. "Meist nur sehr klein. Diese Leute mißtrauen einander. Keiner gönnt dem anderen etwas. Das erschwert den Umgang. Mehr wie zehn Leute werden uns sicher nicht angreifen." "Na toll," brummte Ilkonys. "Das klingt ja wirklich sehr einfach." "Ich denke, ihr seid so gut mit der Waffe," grinste der Magier. "Da dürften ein paar Flüchtlinge doch keine echten Gegner für euch sein. Außerdem sollt ihr nicht angreifen, sondern genau wie Gerrys dafür sorgen, daß Nymardos nichts geschieht."
"Und was tut ihr?" "Laßt euch überraschen." Tibra lachte vergnügt. "Die Insel gibt mir Möglichkeiten, die ich woanders nicht habe." "Wovon redest du?" forschte Gerrys aufmerksam. "Von Magie natürlich, mein Freund. Erinnerst du dich noch daran, wie ich das Festungstor in Sarai aufsprengte?" Gerrys nickte im Erinnern an die unglaubliche Kraft, die Tibra damals freisetzte. "Wenn keine fremden Kräfte wirken," fuhr Tibra fort, "dann kann ich am meisten tun. Hier gibt es keine starken Bäume, deren Geist Raum verlangt. Es gibt keine Menschen, deren Denken die Luft erfüllt. Es gibt keine großen Quellen, deren Reinheit einen weiten Bereich durchdringt. Orte der Kraft findest du hier nicht." "Aber garantiert einen Berggeist," spottete Ilkonys. In Khyon benahm sich Tibra ganz so, als besäße der Tempelberg, in dem sie eingeschlossen waren, einen eigenen Geist, der machtvoll und hoheitsvoll Respekt verlangte. Damals schon lachte der Prinz darüber. Tibra sah ihn ernst an. "Die Insel ist eine einzige, große Mine. Ein starker Geist würde sich wehren. Hier ist nichts, das von großer Bedeutung ist." Er sah die Felshänge hinauf. "Ich muß mich korrigieren," fügte er grinsend hinzu. "Starke Luftgeister wehen hier allemal." Ilkonys sah sich unbehaglich um, schalt eigenen Aberglauben und sagte nichts mehr.
N
dann still den
ach wenigen Stunden stieß Nymardos den Freund leicht in die Seite. Tibra nickte verstehend. Der Pala des Than hatte die Nähe von Menschen erspürt und warnte ihn stumm.
"Ein guter Platz zum Lagern," entschied er. "Hier?" Ilkonys ließ den Blick über nackten Stein schweifen. "Wir haben ein entferntes Ziel und sollten weiter." Tibra trat zu ihm, packte ihn bei der Schulter und drückte ihn mit fester Hand zu Boden. "Ich entscheide, was wir tun," beharrte er. "Geht in diese Richtung zum Hafen, wenn ihr wollt. Oder fügt euch endlich, Prinz." Ilkonys zog die Beine an und stützte die Ellbogen auf die Knie. "Jede Stunde, die wir zögern," maulte er aber weiter, "bringt Willar dem Tod näher." Gerrys setzte sich zu ihm. "Falsche Eile bringt auch keinen Gewinn," versprach er. "Weshalb vertraust du ihm nur so?" murmelte der Prinz. "Wir lagern hier, während er zu den Felsen dort geht und was weiß ich tut. Wir müssen weiter." Auch Nymardos lagerte sich nieder. "Unsere Pferde kommen," stellte er lächelnd fest. Gerrys und Ilkonys sprangen auf, da sich nun wirklich einige Reiter näherten. Ihre Hände griffen nach den Degen. Die fünf Reiter zogen Säbel. Sie erwarteten leichte Beute. Tibra stand entfernt zwischen großen Gesteinsbrocken. Er stieß nun einen schrillen Pfiff aus. Die Reiter zügelten die Tiere. Noch waren sie ein ganzes Stück von ihren Opfern entfernt. Einer der Männer lenkte sein Pferd auf den
Magier zu, der breitbeinig dastand und sehr gelassen wirkte. Tibra hielt einen kleinen, nußförmigen Stein in der Hand, den er nun nach dem Reiter warf. "Das reicht nicht einmal für eine Platzwunde," fauchte Ilkonys. Doch der kleine Stein kam mit übernatürlicher Geschwindigkeit auf den Reiter zu. Er traf dessen Stirn, bohrte sich tief in den Schädel. Lautlos fiel der Mann aus dem Sattel. Seine Kameraden sprangen zu Boden. Sie eilten auf Tibra zu. Nymardos erhob sich rasch. "Wir nehmen die Pferde," entschied er sofort. "Und Tibra?" wollte Gerrys wissen, doch der Freund lief schon auf die Tiere zu. Sie saßen fest im Sattel, als Tibra die Männer weiter zwischen die großen Steine lockte. Einer der Gegner kletterte auf einen mannshohen Felsbrocken, um den Magier von oben anzuspringen. Obwohl sie sich auf ebenem Grund befanden, rollte der Fels etwas zur Seite. Der Mann stürzte. Sein tierischer Schrei erfüllte die Luft, als der mächtige Stein sich über ihn schob. Die restlichen drei Gegner wurden vorsichtiger. Sie prüften jeden Schritt, ehe sie ihn ausführten. Und sie waren Tibra nahe genug, um ihn nun anzugreifen. "Schließe dich uns an," verlangte einer vor ihnen. "Gemeinsam sind wir unbesiegbar." Nymardos lenkte sein Tier näher zu dem vertrauten Freund. Tibra winkte ihn zurück. Er hielt nun den Degen in der Hand.
"Ich schließe mich nur Leuten an, die mir ebenbürtig sind," lachte der Magier herausfordernd. "Zeig', ob du meiner Gesellschaft würdig bist." Der Mann stieß den Säbel nach vorn, doch Tibra parrierte mühelos den Hieb. Als sich aber die Klingen berührten, ging eine Kraft auf den Säbel über. Für einen Moment schien er zu glühen. Der Mann schrie auf und ließ die Waffe fallen. Er umklammerte seine Faust, als habe er sich verbrannt. Die andern beiden Männer wichen zurück. Ihr Gegner mußte mit bösen Kräften im Bund sein und war so leicht nicht zu besiegen. Jetzt fürchteten sie um ihr Leben. Nymardos konzentrierte sich auf sie. Ihr unausgebildeter Geist konnte leicht berührt und umfaßt werden. Er steigerte ihre Angst zur Panik. Wenig später flohen die Männer in wilder Hast. "Verschwinde," riet Tibra fast freundlich dem Mann, den er eben entwaffnete. Ohne seine Kameraden fühlte der sich nicht mehr stark. Trotzdem gab er sich nicht die Blöße offener Furcht. Langsam wich er zurück, Schritt für Schritt suchte er Abstand. Tibra wartete, bis er weit genug entfernt war. Dann erst suchte er das Pferd des ersten Angreifers, stieg in den Sattel und ritt zu den Freunden. Er wirkte leicht erschöpft, doch er lächelte Nymardos an. "Danke, Freund," sagte er nur. Ilkonys sah irritiert auf. Ihm war entgangen, wie der Pala des Than durch priesterliche Macht handelte. Aber keiner gab ihm eine Antwort auf seine stumme Frage.
A
ls die Nebel sanken, schlugen sie ihr Lager zwischen einigen niederen, knorrigen Bäumen auf. Es gab genug dürres Holz hier, da der Wind manchen entwurzelten Busch, längst vertrocknet, an den Berghang drückte. Tibra erlaubte nur ein sehr kleines Feuer, das zudem in einem eilig gegrabenen Erdloch angelegt wurde. Er wollte keine weiteren Banden anlocken. "Wir werden abwechselnd Wache halten," bestimmte er. "Ich übernehme die letzte Schicht." "Wie wäre es mit einem magischen Schutzwall, in dem wir sicher schlafen können," brummte Ilkonys sarkastisch. "Im Prinzip eine gute Idee," erwiderte Tibra gelassen. "Aber auch magische Kraft ist nicht unerschöpflich und ich brauche vermutlich noch einige davon. Ihr übernehmt die erste Wache, Prinz." "Warum ich?" "Weil ich garantiert nicht gut schlafen werde, wenn ihr spät in der Nacht wacht," grinste Tibra. "Haltet ihr mich für Erbe da aufspringend an.
unzuverlässig?" fuhr ihn Nodhers
Tibra blieb ganz ruhig. Er verschloß sorgsam seinen Wasserschlauch, ehe er antwortete: "Ganz und gar nicht. Aber für sehr unbesonnen. Erregt euch nicht darüber, Prinz. In ein paar Stunden wißt ihr genau, was ich meine." Er zog seine Decke an sich. "Das Feuer darf ruhig ausgehen. Wenn man mich in Nimad nicht belogen hat, leben die großen Katzen weiter oben in den Bergen und wenigstens die müssen wir hier nicht fürchten." Er
rollte
sich
zur
Seite
und schlief augenblicklich ein.
Gerrys deckte ihn sorgsam besser zu. "Ich wünschte, ich hätte seinen tiefen Schlaf," meinte er leise. "Er muß seine Gedanken wirklich beherrschen, da sie ihn nicht einmal hier bewegen und die Ruhe behindern." Doch auch er lag nicht sehr lange wach, nachdem er sich niederbettete. Die Dunkelheit kam schnell. Ilkonys lehnte sich gegen einen der Bäume und lauschte angespannt. Solange er Wache hielt, sollte kein heimtückischer Überfall möglich sein. Seine Gedanken schweiften ab. Wieder und wieder überlegte er, ob Willars ungutes Gefühl vor der Reise nach Sion wirklich eine deutliche Warnung beinhaltete. Er versuchte, sich vorzustellen, wie er künftig mit solchen Bemerkungen umgehen konnte. Wo lag der Unterschied zwischen Furcht vor einer Sache und einer Warnung des Geistes? Er fand keine Antwort, was ihn sehr verunsicherte. Er dachte an Cyprina und ihre Furcht vor seiner Annäherung. Künftig wollte er ihr gegenüber noch zurückhaltender sein. Er malte sich aus, wie er um sie werben wollte. Und er überlegte sich zum wiederholten Mal, wie es geschehen konnte, daß er Tibra an den Vater auslieferte. Seit vielen Stunden schon wehte hier ein schwacher Wind, nicht kalt oder schneidend, doch durchaus unangenehm und lästig. Er trieb die dichten Nebelschwaden vor sich her, formte sie zu Gebilden und legte sie gleich feuchten Tüchern auf das Gesicht des Prinzen. Die Feuchtigkeit der Nebel war hier fast Nässe. Ab und zu ertönte ein hoher, jaulender Ton. Ilkonys spannte sich an. Dieses Geräusch war ihm fremd. Er überlegte, ob möglicherweise auf dieser Insel Tiere lebten, von denen er nie hörte. Manchmal war etwas wie ein Flüstern zwischen dem Wind vernehmbar, manches
Mal klang es wie entferntes Lachen. Der Magier sprach doch von mächtigen Luftgeistern. Ilkonys erinnerte sich daran. Als ausgetrocknetes Büschelgras gegen seinen Schuh rollte, erschrak er. Seine Hand umklammerte den Griff des Degens. Ihm wurde unheimlich zumute. Lautlos ging er zu den Pferden, die ruhig standen. Als Tiere der Insel kannten sie diese Geräusche. Er sah nach den Gefährten. Sie schliefen alle. Ein hörnchenartiger Erdbewohner rannte zwischen seinen Beinen hindurch. Fast hätte Ilkonys aufgeschrien. Er preßte die Lippen zusammen und die Hände zu Fäusten, als er sich wieder gegen den Baum lehnte. Tibra nannte ihn unbesonnen. So ganz unrecht schien er nicht zu haben. Die fremdartigen Geräusche nahmen an Vielfalt zu, wurden auch langsam lauter. Ilkonys empfand durchaus Furcht. Er gestand sich diese sogar ein, aber er hielt es aus, solange es seine Pflicht gebot. Trotzdem verlor er das Zeitgefühl darin. Er weckte Gerrys viel zu früh. "Du bist dran," mahnte er den Falla leise. "Es ist ziemlich unheimlich da draußen. Wenn du willst, wache ich noch etwas mit dir." "Es ist besser, wenn du schläfst," erwiderte Gerrys, sich erhebend. "Wir müssen morgen alle bei Kräften sein." Nodhers Erbe nickte nachgebend, lagerte sich nieder und versuchte, die Geräusche der Insel zu ignorieren. Doch es dauerte sehr, sehr lange, bis er endlich in unruhigen Schlummer fiel. Auch Gerrys lagerte sich am Fuß des schmalen Stammes und lehnte mit dem Rücken dagegen. Er lauschte, halb fasziniert, halb mißtrauisch. Das Jaulen, Sirren, Lachen, Singen, es
wurde langsam immer lauter. Fast schon umgab Lärm das Lager. Gerrys rief etwas Licht aus seinem Lebenden Kristall. Es genügte nicht, um die Nebel zu durchdringen, denn es umgab ihn wie ein Schemen. Lächelnd betrachtete er den Stein, den Nymardos ihm einst gab an dem Tag, an dem er von Raaki berufen wurde. Er diente dem dunklen Gott und das schloß aus, daß er Dunkelheit fürchtete. Ganz nahe bei ihm kristallisierte sich ein neues Geräusch. Es erinnerte an die spielenden Jungen der wilden Großkatzen; ähnelte einem spielerischen Fauchen. Gerrys lauschte aufmerksam. Unwillkürlich legte er die Hand um den Kristall. Voll Erstaunen sah er da, wie das Licht, das diesem Mineral entströmte, eine rötliche Färbung annahm. Er kannte dies. In Stunden größter Gefahr hatte sich auf diese Weise Raaki schon gezeigt. Der Falla lauschte aufmerksamer. Konnten die Töne wirklich gefährlichen Wesen entstammen? Das Geräusch bei ihm verebbte, als flöge sein Ursprung über die Berge davon. Doch das rötliche Licht blieb und vermittelte Gerrys ein tiefes Gefühl absoluter Sicherheit. Nymardos erwachte, erhob sich leise und vertrauten Freund. Lächelnd sah er das Licht.
ging zu dem
"Viel zu früh für dich," bemerkte Gerrys. "Ich wecke dich, wenn deine Wache beginnt." "Du weißt, daß ich sehr wenig Schlaf brauche," wehrte Nymardos ab und setzte sich zugleich neben ihn. "Hast du das Licht gerufen?" "Licht schon," gab der Falla zu, "aber nicht dieses. Ich hatte nie Einfluß auf die Farbe. Da draußen ist etwas Unheimliches. Ich kann dir aber nicht sagen, ob es gefährlich ist."
"Es ist auf alle Fälle fremd und wirkt dadurch bedrohlich. Ich denke, das ist es, was Tibra am Abend andeutete. Aber wir wachen, um uns vor Menschen zu schützen." "Greifbare Gegner wären mir lieber." "Ich ziehe es vor, wenn gar keine Gegner da sind. Nun schlafe, Gerrys. Ich benötige keine Ruhe mehr." Der Falla wußte, daß der Freund wirklich kaum Schlaf brauchte. Darum gab er nach. Er neigte sich ihm zu, küßte ihn verhalten und begab sich dann wieder zur Ruhe. Nymardos wachte. Auch er vernahm all diese Geräusche, die er nicht zu deuten vermochte und deren Ursprung sich nicht ergründen ließ. Sie erschienen ihm nicht wirklich als bedrohend, doch die Schwingung, die von ihnen ausging, belastete den geöffneten Geist. Er schirmte sich ab, erstaunt feststellend, daß jeder Ton sich etwas zurück zu ziehen schien und nur noch entfernter verweilte. Als er sehr viel später zu Tibra ging, wehrte sich der Magier nicht, wie sonst immer, gegen das Erwachen. Er erhob sich im Gegenteil sehr rasch und entfernte sich etwas von den Schläfern. Nymardos lagerte sich zu ihm. "Wenn du deinen Geist abschirmst, werden diese fremden Geräusche dich nicht so bedrängen," versprach er. "Ist es so schlimm?" "Es ist jedenfalls nicht angenehm," gab Nymardos zu. "Hier ist eine Kraft, die so deutlich ist, daß sich Raaki in Gerrys' Kristall zeigte." "Dann sollten wir Nodhers Erben bedauern," stellte Tibra grinsend fest. "Er ist noch viel zu wenig Priester, um geistig zu reagieren. Deshalb gab ich ihm die erste Wache. Wenn
die Nacht erst beginnt, ist es weniger stark." "Du kennst es?" "Nicht direkt," gab der Magier zu. "In magischen Zeremonien sind, zumindest am Anfang, Luft- oder Feuergeister gerne Störfaktoren, die man überwinden muß. Das hier ist ähnlich, wenn auch sehr viel stärker. Weiter oben auf der Insel ist es vorbei. Aber dieser Kessel hier, der scheint ein Zentrum zu sein. Ruhe noch ein wenig, mein Freund. Du hast ohnehin zu lange gewacht und mir die halbe Zeit geraubt. Bis sich die Nebel heben, will ich diese Kraft kennen." "Ich bedauere, wenn ich dich jetzt ungewollt behindert habe," gab Nymardos zu. "Ich hielt deinen Schlaf für wichtiger." "Das weiß ich zu schätzen," grinste Tibra. "Trotzdem störst du jetzt ausnahmsweise einmal wirklich." Der Freund ließ ihn allein. Tibra blieb nicht beim Baum, sondern ging langsam und forschend in die Nebel hinein. Sein Fuß ertastete den Schritt, doch er konzentrierte sich nicht auf festen Stand, sondern nur auf die Schwingungen, die ihn umgaben. Für ihn war dies Kraft und Kraft als solche betrachtete er immer als Herausforderung.
B
eim gemeinsamen Frühmahl plauderte er dann, als sei überhaupt nichts ungewöhnliches gewesen. Ilkonys saß still dabei. Er hoffte nur, die kommenden Nächte zeigten sich ruhiger. Ehe sie das Lager abbrachen, öffnete Tibra sein Bündel. "Wir haben nun viel genauere Karten," erklärte er wie nebenbei, "da überprüfe ich die Strecke lieber noch einmal."
Während er die Kerze aufstellte und die Silberschale füllte, führte Gerrys Nodhers Erben ein paar Schritte beiseite. "Er darf jetzt nicht gestört werden," erklärte der Falla. "Was tut er denn?" "Keine Ahnung," gab Gerrys zu. "Aber wenn er fertig ist, wissen wir genau, wohin wir reisen müssen." "Bist du wirklich sicher, daß er Saakes Weihe hat?" Gerrys lachte ganz leise und griff vertraut nach Ilkonys' Hand. "Ich bin ganz sicher," versprach er. "Aber er benimmt sich nicht wie ein Priester. Ich glaube, ich werde in ihm immer nur einen Magier sehen können." Der Falla sah ihn ernst an. "Das würde ihn freuen," versicherte er. "Du weißt ja, daß sehr starke Priester auch einige Dinge der Magie kennen und beherrschen. Das macht sie aber deshalb nicht zu Magiern. Wenn nun ein sehr starker Magier Bereiche der Priesterschaft kennt, so ist dies der umgekehrte Fall. Er bleibt ein Magier dabei." "Und kann trotzdem als Amarras Mann handeln," begriff Ilkonys nachdenklich. "Ich hoffe nur, wir finden Willar auch wirklich." "Hey, Prinz," rief Tibra da zu ihnen hinüber, "sattelt schon mal die Pferde. Ich bin gleich soweit." Ilkonys ging sofort zu den Tieren. Gerrys blieb bei ihm.
"Ich helfe dir," versprach er. "Das ist schon in Ordnung so," erwiderte Ilkonys, während er nach einem der Sättel griff. "Seit Tagen hat er meinen Dienst nicht mehr akzeptiert. Ich bin ja schon froh, wenn er mich überhaupt wieder zur Kenntnis nimmt." Er grinste etwas schief. "Es ist schon so, wie er es sagt: mein Dienst ist Teil der Buße." Da Gerrys sah, daß sich der Prinz durch die Aufgabe nicht gedemütigt fühlte, sondern sie im Gegenteil sogar begrüßte, ließ er ihn allein und ging zu den Freunden, die soeben die Karten aus Nimad studierten. Sie diskutierten über die möglichen Wege. Gerrys griff nach der angesengten Karte. "Hier ist ihr Doppel," erklärte Tibra. "Was du dort nicht mehr sehen kannst, ich habe die Flamme etwas zu spät gelöscht, das ist hier noch vermerkt. Scheint eine der größeren Minen zu sein, wo wir hinmüssen." "Wie weit?" "Kommt auf den Weg an, den wir nehmen. Etwa fünf Tage hier, sieben da und der Pfad ist nicht abzuschätzen." "Er sieht kürzer aus," stellte Gerrys fest. "Steilhänge und Flüchtlingsgruppen sehr erschweren," vermutete Tibra.
könnten ihn aber
"Und welchen Weg willst du nehmen?" Der Magier lachte leise und vergnügt, während er die Karte zusammen faltete. "Ihr beide seid wirkliche Freunde," meinte er fröhlich. "Nymardos möchte um Ilkonys Willen den kürzesten Weg, weil jeder Tag eben eine Verlängerung der Sorge um Willar
bedeutet. Du hingegen möchtest den längsten Weg, weil da am wenigsten ein Kampf zu erwarten ist und Nymardos nicht gefährdet sein soll, der den Degen nicht beherrscht. Aber beide sagt ihr es nicht und ich soll entscheiden. Wenn ich beide Wege ausschlage, werdet ihr es noch mindestens eine Nacht mit den Kraftfeldern zu tun haben, die euch vor wenigen Stunden noch bedrängten. Außerdem kommen wir dann an keiner anderen Mine vorbei und müssen mit unseren Vorräten auskommen, also wenig essen und sehr wenig trinken. Aber wenn wir uns etwas beeilen, schaffen wir es vielleicht auch in vier Tagen." Ilkonys führte die Pferde herbei. Sie waren gesattelt. Auch das Gepäck hatte er schon befestigt. Für Tibra hielt er sogar den Steigbügel, was dieser mit leicht erstauntem Blick quittierte. "Darf ich mit euch reiten?" bat er leise, während der Magier aufstieg. Tibra nickte nur. Als Ilkonys dann sein Pferd neben das des Magiers lenkte, hielten sich Gerrys und Nymardos etwas zurück. Nodhers Erbe suchte noch nach Worten, als Tibra gelassen fragte: "Hat euch die letzte Nacht so sehr erschreckt?" "Das hat sie," gab Ilkonys zu. "Aber es beschäftigt mich etwas anderes. Der Than selbst war euer Leiter, doch euch bedeutet das so wenig wie Nymardos seine magischen Grundkenntnisse beschäftigen. Ihr seid kein richtiger Priester." Diese Schlußfolgerung kam sehr vorsichtig. Er wollte Tibra jetzt nicht wieder beleidigen. Der Magier grinste. "Ihr habt lange gebraucht, um das festzustellen," bemerkte er heiter. "Es ist allerdings noch gar nicht so lange her, da war das alles nicht sehr wichtig für euch. Erst seit
ihr kein Chela mehr seid, haltet ihr das bloße Erreichen einer Weihe für wertvoll genug, um einen Menschen daran zu messen." "Ich habe euch sehr beleidigt, als ich sagte, ein Priester sei zehn mal mehr wert als ein Magier," gab Ilkonys zu. "Aber ich meinte damit nur eure Priesterschaft." "Das macht die Kränkung nicht kleiner," erwiderte Tibra offen. Ilkonys wandte den Kopf, sah ihn verlegen an und meinte nur: "Ihr habt sie ja auch entsprechend vergolten." "Nodhers Erbe ist es nicht gewohnt, geohrfeigt zu werden," stellte Tibra grinsend fest. "Wenn ihr darauf besteht, entschuldige ich mich, wenn wir zurück sind." "Nein," widersprach Ilkonys zögernd, "ich bestehe nicht darauf. Eher bin ich es, der sich entschuldigen muß." Jetzt musterte ihn Tibra aufmerksam. Der Prinz erwiderte seinen Blick, sah aber nicht sehr glücklich dabei aus. Der Magier trieb sein Pferd etwas näher zu ihm. "Die Geister der Nacht haben euch wohl sehr zugesetzt," vermutete er. "Nymardos meint, sie bedrängen den abgeschirmten Geist nicht. Eure nächste Nachtwache wird wohl so etwas einfacher." "Ihr wollt mir nicht verzeihen," begriff Ilkonys. "Ihr habt nicht darum gebeten," stellte Tibra fest. "Außerdem bin ich ohnehin nicht nachtragend. Wenn ihr in mir wieder nur den Magier sehen wollt, ist es genug."
"Ist es nicht," widersprach Ilkonys heftig. "Ich bitte euch in aller Form um Verzeihung für meine Worte an Sions Grenze. Vielleicht könnt ihr mir eines Tages auch vergeben, daß ich euch meinem Vater auslieferte," fügte er nachdenklich hinzu. "Ich bin mit Nodhers Herrscher ausgesöhnt." "Aber nicht mit Nodhers Erben." Tibra lachte leise. "Das kann sich leicht ergeben, wenn ihr euch künftig wie ein Gefährte verhaltet," versprach er. Ilkonys erwiderte nichts, aber er nahm sich vor, genau dies zu tun. Am Abend bereitete er gemeinsam mit Gerrys das Lager vor. Nymardos hatte sich etwas entfernt. Er fühlte die fremden Schwingungen hier, die die Integrität des Geistes verletzen wollten. Dieses Land erlaubte dem Menschen nicht, ein ruhiges, friedliches Leben zu führen. Es vergiftete die Gedanken und suchte nach Gewalt. Dies befremdete ihn sehr. Tibra hingegen streifte durch die Gegend, als suche er die Begegnung mit dieser Wirkung. Kraftströme jegweder Art erweckten in ihm stets den Wunsch, sie zu beherrschen. Ihr Inhalt belastete ihn nicht. In seinem Leben gab es keinen Raum für grübelndes Denken. Er dachte nicht einmal über die beiden Angreifer nach, die er tötete. Magie kannte keine Schuld, nur Macht. Mit aufkeimender Dunkelheit bereitete er einige Schritte abseits kleine Steinkreise vor. In die Mitte dieser Kiesel legte er ein Steinchen, ähnlich jenem, das in den Schädel eines der Angreifer drang. Er murmelte fremdartige Laute, bestrich die drei nußartigen Steine mit Pflanzensäften. Sie schimmerten nun ölig. Schließlich entlockte er seinen Hände
bläuliche Flammen, sehr klein nur und ruhig scheinend. Diese Flämmchen gab er auf die Steine. Es sah gespenstisch aus. Er kehrte zum Lager zurück. Durch den dichten Nebel war sein Werk mehr zu erahnen denn zu sehen. "Es ist mir lieb, wenn ihr in dieser Nacht ganz abgeschirmt bleibt," sagte er zu den Freunden. "Das Wachen ist nur wegen möglicher menschlicher Angreifer notwendig." "Ich übernehme wieder die erste Wache," versprach Ilkonys. Tibra nickte nur. "Kümmert euch um nichts, das da draußen geschieht," verlangte er. "Sollte es zu schlimm werden, weckt mich einfach auf." Während dann Ilkonys wachte, geschah überhaupt nichts. Das bläuliche Scheinen im Nebel verharrte ruhig und die fremdartigen Geräusche hielten Abstand. Als dann Gerrys wachte, wuchsen die Flammen an. Der Falla sah ein gleichmäßiges Ausbreiten dieses Lichtes, das die Form einer Kerzenflamme annahm, von der Größe her aber durchaus ein ausgewachsenes Pferd umschließen konnte. Von den vielfältigen Geräuschen blieb nur das hohe Sirren übrig. Nymardos übernahm wiederum die dritte Wache. Das Sirren wandelte sich in ein heiseres Flüstern, das sehr aufgeregt schien. Die drei Flammen leckten gleich Fingerspitzen immer weiter empor. Geräuschlos begab sich Tibra an seine Seite, setzte sich zu ihm und legte beruhigend die Hand auf seinen Unterarm.
"Wenn die Kraft nicht bald reagiert, weichen die Nebel," sagte er leise. "Dann ist es zu spät." "Wofür zu spät?" "Keine Ahnung." Tibra lehnte sich vertraut gegen ihn. "Ich habe so etwas nie zuvor gesehen und versuche einfach, es zu ergreifen. Durch ein ähnliches Experiment habe ich vor vielen Jahren gelernt, Feuerwesen zu beherrschen." "Das sind Luftwesen, hhm?" "Eher Sturmgeister," grinste Tibra. "Sie sind stärker als anderswo. Nicht einmal in Thara, dessen Berge höher sind, findet sich solche Kraft." "Willst du allein sein?" "Es ist gut, wenn du ruhen willst," erwiderte der Magier. "Meine Wache beginnt ohnehin in Kürze. Aber ich habe dich auch gern an meiner Seite." Nymardos legte den Arm um seine Schultern. Tibra erlaubte diese Nähe viel zu selten, als daß er sie nicht gänzlich auskosten wollte. Langsam wandelte sich einer der blauen Lichtfinger zu einem roten Pfeil. "Na also," brummte Tibra zufrieden. "Auf der Insel hier gibt es keinen Achat. Die Geoden, die ich ausgelegt habe, müssen Neugier erwecken. Ich habe sie mit Viscum-, Weihrauchbaum- und Dreifußöl bestrichen. Die Viscumgeode reagiert." Doch auch eine weitere Flamme veränderte sich, als sie sich nun mit gelblichem Schimmer umgab. "Das ist die Dreifußgeode," erklärte Tibra leise. "Schade, daß ich nie die Möglichkeit haben werde, mit Mesa zu
experimentieren." Nymardos hielt ihn etwas fester, während er leise erwiderte: "Amarra wird dir alles geben, was du willst." Tibra lehnte den Kopf gegen seine Schulter. "Ich denke, es wäre sehr viel möglich, wenn mir Mesa zur Verfügung stände. Andererseits ist dies Raakis Pflanze und die Kraft des dunklen Gottes macht auf mich ganz den Eindruck, als sei sie nicht zu beherrschen. Experimente sind reizvoll, aber man muß seine eigenen Grenzen kennen und respektieren." Das aufgeregte Flüstern des Windes wandelte sich zum Jaulen. Die Lichtfinger zitterten. Sie standen nun nicht mehr starr, sondern wogten leicht hin und her. Kurz, bevor sich die Nebel hoben, erreichte der Lärm ein Ausmaß, das Gerrys und Ilkonys weckte. Die beiden Männer richteten sich auf. Sie sahen die Lichter, die eben jetzt in sich zusammen stürzten. Nur Dunkelheit blieb zurück, die langsam dem nahenden Tag wich. Tibra holte die Steine. Sie fühlten sich sehr warm an. Ein leises Pulsieren durchströmte sie. Er lächelte zufrieden, als er sie hinter den Gürtel steckte.
A
riston Nodher betrat, nicht zum ersten Mal, das weite Inselreich Amarra. Die Priester schickten sein Schiff zurück. Er war gerufen und er mußte solange bleiben, wie es dem Than gefiel. Er kannte den weiß gekleideten Priester, der langsam zu ihm kam. Dies war Thyrian, der Pala des Than. Der etwa dreissigjährige Mann besaß ernste Züge. Das hellbraune Haar umrahmte ein ebenmäßiges Gesicht. Ariston kreuzte die Arme vor der Brust und kniete nieder. Dieser Gruß stand Thyrian zu, der hier die Macht des Than verkörperte. "Amarra grüßt Nodhers Herrn," sagte der geborene Priester, während er auf Ariston zutrat.
in
Sarai
Nodhers Herrscher erhob sich. Er war nun sechzig Jahre alt. Graue Strähnen durchzogen sein braunes Haar seit langem; manche Falte grub sich in sein Antlitz. "Ich bin gerufen und hoffe, meinen Herrn zu sehen," erwiderte er freundlich. "Das werdet ihr gewiß," versprach Thyrian, "doch noch befindet sich der Than auf Reisen. Seid Amarras Gast, bis er wiederkehrt." Ariston staunte, doch er schwieg. Es war nicht üblich, daß ein Than die Reiche bereiste. Er rief zu sich, wen er sehen wollte. Aber niemandem war erlaubt, sein Tun zu kritisieren. Er würde also warten müssen und dies vielleicht lange Zeit.
Thyrian führte ihn den gewundenen, blumengeschmückten Pfad hinauf zum Haupttempel, in dessen Nähe viele flache Häuser standen. Eines davon wies er Nodhers Herrn als Gastquartier zu. "Ich sende euch in Kürze einen Diener," versprach Thyrian, ehe er ihn allein ließ. "Ihr seid zu allen Ritualen zugelassen, doch zu keinen verpflichtet. Auch steht euch jeder Bereich Amarras offen, wenngleich ihr in der Nähe des Tempels bleiben solltet. Kehrt Seymas zurück und verlangt nach euch, wäre es unklug, ihn lange warten zu lassen." Ariston lächelte nur. Auch ohne diese Ermahnung würde er sich genau so verhalten. Thyrian nickte ihm kurz zu, verließ ihn und begab sich in den Tempel, wo er nach einem Mann schicken ließ. Wenig später kniete Allanon vor ihm. Der junge Priester, Anfang der zwanzig, wuchs hier als Tempelkind auf. Seit einiger Zeit verbrachte Thyrian manche Stunde mit ihm. Der Pala des Than schloß sich Menschen nicht leicht an. Allanon mochte er wirklich, zumal dessen freundliches, stilles Wesen den reifen Geist in ihm entlarvte. "Ariston Nodher ist eingetroffen," erzählte Thyrian, während er Allanon aufhob. "Ich möchte, daß du ihn bedienst." Der Priester senkte zustimmend das Haupt. Diese Aufgabe kam eigentlich Menschen zu, die noch keine Weihe erreichten. Er war Liaras Mann und damit des Leibdienstes enthoben. Doch er sah keine Kränkung darin. Sicher wollte Thyrian Ariston gut umsorgt wissen. So vermutete Allanon eine Auszeichnung. Er lächelte sacht. "Unser Gebieter hat dich zu diesem Dienst bestimmt," entdeckte Thyrian offen. "Ich werde eine Sperre um deinen Geist legen, die verhindert, daß Ariston oder ein
anderer in dir lesen kann. Was immer Nodhers Herr dir anvertraut, bleibt somit in dir verborgen. Und was immer dich bewegt, kann Ariston nicht sehen." "Ich hoffe, Nodher wird mit meinem Dienst zufrieden sein." "Sobald Sions Herrscher eintrifft, wirst du auch ihm dienen." Allanon sah überrascht auf. Hohe Gäste erhielten hier eigene Dienerschaft. Es war nicht üblich, daß sie halbe Kraft bekamen. Aber natürlich wußte auch er um die Spannung zwischen den beiden Reichen und der Gefahr des Krieges. "Ihr legt mir eine große Verantwortung auf," begriff er darum. "Ich weiß nicht, ob ich Frieden schaffen kann, Herr." "Du sollst nur dienen," versicherte Thyrian freundlich. "Alles andere ist Sache unseres Gebieters." Der junge Priester verweilte beim Pala des Than, bis alle seine Fragen eine Antwort fanden. Dann ging er zu seinem eigenen Haus, wo er sich in eine braune Tunika hüllte. So kleideten sich die Schüler auf dem Weg zur Priesterschaft. Den eigenen Rang abzustreifen, bereitete ihm keine Mühe. Er hoffte nur, Nodhers König würde mit ihm zufrieden sein. Zu seinem Erstaunen fand er dann aber in Ariston keinen machtbewußten Herrscher, sondern einen freundlichen Priester, der ihn fast wie einen Sohn behandelte. Er ahnte nicht, daß er in seinem Wesen den König durchaus an Willar erinnerte. Drei Tage hindurch waren sie fast ununterbrochen zusammen. Ariston bemerkte die Sperre um Allanons Geist, sagte aber nichts dazu. Wenn Seymas dies für nötig hielt, hatte er wohl Gründe hierfür. Der junge Mann war weit weniger verschlossen. Er erzählte viel über Amarra und lauschte
ebenso gern den Geschichten aus Nodher. Manches Mal unternahmen sie weite Streifzüge oder badeten gemeinsam im Meer, dessen warme Strömungen Amarra in einen reichen Garten wandelten. Hier gab es keine kalten Nebel, sondern nur Fruchtbarkeit und Blütenreichtum. Dann ankerte Sions Schiff im Hafen. Auch dies durfte nicht verweilen, sondern mußte die Rückreise antreten. Wieder war es Thyrian, der den Herrscher begrüßte. Thylenon herrschte seit neunzehn Jahren über Sion. Er hatte nun sechsundvierzig Mal die heiße Lichtwende erlebt. Zwar kniete auch er vor dem Pala des Than, wie es die Pflicht gebot, doch tat er dies in stolzem Selbstbewußtsein. Nur zu gern erhob er sich wieder. "Ich gehorche Amarras Ruf," erklärte er mit fester Stimme, "doch ich bin nicht bereit, Nodhers Herrn anzuhören." "Ist Reden nicht besser als Kämpfen?" mahnte Thyrian sacht. "Nodhers Erbe hat mich beleidigt und ehe er sich nicht öffentlich bei mir entschuldigt, gibt es kein Wort in dieser Sache," beharrte Sions Herr. "Ich stehe nicht wider Ariston, den ich durchaus achte." "Ilkonys ist nicht gerufen," versprach der Pala des Than. "Was mich durchaus beruhigt," gab Thylenon zu. Er bezog sein Gasthaus. Daß er den ihm zur Verfügung gestellten Diener mit Nodher teilen sollte, gefiel ihm gar nicht. Er schimpfte darüber und gab Allanon manches ungerechte Wort der Abwertung. Bestürzt ertrug der junge Mann die Ablehnung. Schweigsam tat er hier seinen Dienst und teilte seine Zeit zwischen Nodher und Sion gerecht auf.
Ariston sah seinen Kummer. Er bedauerte die doppelte Belastung, die durch seine Anwesenheit Allanon auferlegt wurde. Schließlich erklärte er, daß er künftig auf jeden Dienst verzichten wollte. Der junge Mann kniete erschrocken vor ihm nieder. "Habe ich so versagt, daß ich euch unerträglich bin?" forschte er aufgewühlt. Ariston hob ihn auf. "Es ist mir unerträglich, daß Sion dich um meinetwillen verachtet," gab er zu. "Amarra ist ein reiches Land, das jedem Gast mehr als einen Diener geben kann. Wenn unser Gebieter dies nicht will, so wird er doch akzeptieren, daß ich jeden Dienst ablehne. Diene Sions Herrn. Vielleicht macht ihn das dann etwas umgänglicher." Allanon verließ ihn. Er fürchtete, für sein Versagen von Thyrian getadelt zu werden und zugleich fürchtete er, Thylenon auf diese Weise Befriedigung seines Stolzes zu verschaffen. Schweigsam leistete er Sions Herrn jeden Leibdienst. Der Abend nahte. "Nodher erwartet dich," brummte Thylenon mißmutig. Er hatte sich gesättigt und wartete, daß Allanon das Geschirr wegtrug, um danach Ariston zu dienen. Der junge Mann schenkte ihm vom süßen Wein Amarras nach. "Nodher verzichtet auf meinen Dienst," erwiderte er betrübt. "Ist Ariston zu stolz, um dich mit mir zu teilen?" Thylenon schien amüsiert zu sein. "Oder sind seine Ansprüche zu groß, als daß du sie erfüllen kannst?"
Allanon trat zum offenen Fenster und sah lange hinaus, ehe er leise antwortete: "Nodhers Herrscher ist ein gütiger Mann, dessen Freundlichkeit mich sehr bereichert hat. Ihr seid es, der nicht teilen will, Herr. Darum verzichtet er auf meinen Dienst." Thylenon rief ihn zu sich, bedeutete ihm, sich zu setzen und sich selbst vom Wein zu nehmen. "Ich war etwas älter als du, als ich Ariston das erste Mal begegnete," erinnerte er sich nachdenklich. "Damals gehörte ich noch Amarra und herrschte nicht über Sion. Er war ein aufrechter Mann, den ich leicht achten konnte. Sein Erbe war damals etwa sechs Jahre alt und schon zu jener Zeit ein hochmütiges Kerlchen." Er lachte leise. "Ich habe wohl vergessen, daß ich dich mit Nodhers Herrn und nicht mit Nodhers Erben teilen muß. Also geh' und bringe Ariston das Abendmahl." "Er wird meinen Dienst ablehnen," befürchtete Allanon. "Sag' ihm einfach, daß ich mich bemühe, deines Dienstes würdig zu sein," erwiderte Thylenon lächelnd. "Wenn er dich dann weiter abweist, komm' zu mir. Amarra wird ihn, nicht dich tadeln." Allanon fügte sich. Als Ariston ihn abwies, zitierte er Sions Beherrscher. Nodhers Herr hielt inne. Dann lachte er leise. Er zog Allanon neben sich, teilte das Mahl mit ihm und schien sehr erheitert. Schließlich erzählte er dem jungen Priester, was diese Worte bedeuteten. Vor gut zwanzig Jahren wurde Thylenon in Gerrys Tempel gesandt, um dort zu dienen, ehe er sein Reich besitzen durfte. Er verliebte sich in die Sklavin Shu, die er sehr hart bedrängte. Ariston übergab sie ihm nicht. Er verlangte von Sions Erben, der Sklavin würdig zu werden. Für Thylenon
stellte dies ein unglaubliches Ansinnen dar. Zu jener Zeit gab es für Sklavinnen in Sion keinerlei Rechte. Trotzdem überwog Thylenons Liebe. Er warb um Shu und gewann Aristons Achtung. "Und er erhielt die Sklavin zum Lohn?" erkundigte sich Allanon mit ehrlichem Interesse. "Auf Grund der besonderen Umstände damals mußte Sions Erbe zwei weitere Jahre Tempeldienst geloben. Erst danach sandte er Botschaft zu Shu, die er wirklich zur Gemahlin nehmen wollte. Shu war inzwischen Priesterin und erhielt von Gerrys die Freiheit." "Sions Königin war Sklavin?" "Shuny, so lautet ihr neuer Name, ist nie nach Sion gegangen. Sie blieb in Raakis Tempel, wo sie einen Tempelhelfer zum Gemahl nahm." "Sie zog einen Tempelhelfer einem König vor?" zweifelte der junge Priester offen. Ariston lachte leise. Es tat ihm gut, aus der Heimat zu erzählen und seine Gedanken bei den Freunden zu wissen. "Der Tempelhelfer Rhagan ist ein sehr treuer Freund. Er liebt Shuny und bewundert sie. Thylenon hat sie nur begehrt. Ich denke, sie hat die bestmögliche Wahl getroffen." Ariston ließ Allanons Dienst wieder zu. Doch weder von ihm noch von Thylenon ging dabei eine Forderung aus. Beide Herrscher erlaubten ihm die freie Einteilung der Zeit. Es konnte durchaus geschehen, daß der junge Priester einen ganzen Tag mit Thylenon durchs Land streifte und Ariston nur am Abend kurz bediente. Ebenso war es möglich, daß Sion lange warten mußte, ehe er kam. Obwohl er ihnen zu Leibdienst verpflichtet wurde, behandelten sie ihn
beide mehr nun wie einen Gefährten. Sie reagierten voll Abwehr, wenn Thyrian ein gemeinsames Gespräch verlangte. Aber sobald Allanon dies andeutete, argumentierten sie sehr sanft. Der junge Priester bildete ein verbindendes Glied zwischen den Königen, doch auch er vermochte es nicht, ihre Ablehnung gegeneinander zu überwinden. Und noch immer befand sich Seymas nicht auf Amarra.
E
ntgegen Ulanders ursprünglicher Absicht endete Willars Arbeit für ihn nicht, nachdem die geforderten Listen erstellt wurden. Der junge Gefangene übernahm auch weiterhin alle Arbeit, die mit Schriften und Aufzeichnungen zusammenhing. Die Nächte verbrachte er auf dem nackten Fußboden in Ulanders Schlafgemach; die Tage aber nicht mehr allein im Haus. Er begleitete den Kustos, wohin immer der ging. Willar war sogar dabei, als Ulander eines Tages das dicke Seil ergriff und die Mine von innen besah. Eine ganze Reihe von Bewaffneten ging ihm voraus. Makaras versuchte vergeblich, seinen Herrn von diesem Vorhaben abzubringen. Was im Berg geschah, interessierte keinen freien Mann. Ulander besah sich im Schein der Fackeln drei der Stollen. Er schwieg zu dem Leid, das ihm begegnete. Als er die Mine verließ, wunderte er sich nur darüber, daß die Gefangenen darin es bis zu einem Jahr aushielten. Deutlicher als zuvor zeigte er nun seinen Anspruch an Willar. Manches Mal küßte er ihn demonstrativ auf freiem Platz. Oft verlangte er durch ein umerkliches Zeichen, daß der Prinz seine Hand küssen oder seine Stiefel umschmeicheln solle. Niemand im Lager zweifelte daran, daß Willar dem Kustos auf jede erdenkliche Art diente. Makaras nahm es mit anzüglichem Grinsen zur Kenntnis, Thorin mit eher verkniffenem Gesicht.
Manches Mal sprach Willar mit Shannar. Die Gelegenheit ergab sich meist, wenn sie beide früh am Tag das Wasser für die morgentliche Reinigung ihrer Herren holten. Der Jüngling verfiel zusehens, sein Blick wurde immer leerer und seine Bewegungen langsamer. Makaras hielt ihn viel zu lange bei sich. Es wäre erträglicher für ihn, wollte der Aufseher ihn den anderen Wächtern übergeben. Danach sah es aber nicht aus. Shannar verlor jede Hoffnung. Er gab Willar manches Mal noch einen Rat, wie er seinen Herrn ertragen oder auch erfreuen könne. "Wenn du ihm langweilig wirst, bist du verloren," sagte er dann. Willar schwieg dazu. Die kurzen Begegnungen mit Shannar machten ihm deutlich, wie gut er es traf. Er empfand tiefe Dankbarkeit für den Kustos der Mine. Als er nach einem solchen Zusammentreffen das Wasser zu Ulander trug und ihn wusch, griff er plötzlich impulsiv nach dessen Hand und küßte sie voll Hingabe. Der Kustos zog ihn belustigt auf die Beine. "Was ist denn mit dir los?" wunderte er sich. Willar senkte beschämt den Kopf. Ulander hob sein Haupt an. "Immer, wenn ich Shannar sehe, weiß ich, was ihr für mich tut, Herr," gab der Prinz leise zu. "Ich bin euch sehr dankbar für jeden Tag, den ihr mir ermöglicht." "Mir genügt dein Dienst," wehrte Ulander mit knapper Stimme ab. "Ich verlange weder nach deiner Dankbarkeit noch Zuneigung. Auf Dauer kann ich dich ohnehin nicht schützen." Willar nahm seine Arbeit schweigend wieder auf. Daß Ulander von Zuneigung sprach, erschreckte ihn, wurde ihm
doch dadurch klar, daß er genau dies empfand. Und er ahnte, daß auch der Kustos Gefühle für ihn empfand. Zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort wären sie Freunde geworden. Hier durften sie nur Herr und Diener sein und auf den Diener wartete der sichere Tod, den Ulander lediglich hinauszögern, aber nicht verhindern konnte.
I
nzwischen war der Schacht weit genug ausgehoben, um den zehnten Stollen zu beginnen. Thorin berichtete Ulander davon, als er eines Abends neben ihm auf der Bank vor dessen Haus saß. Willar achtete darauf, daß ihre Becher nicht leer blieben. "Es gefällt dir nicht, daß der Bursche bei mir ist," stellte Ulander unvermittelt ist. Thorin spannte sich unmerklich an, da er diese Worte als Tadel empfand. "Es steht mir nicht zu, euch zu kritisieren," wehrte er ab. "Ihr behandelt ihn immerhin gut. Er wird sogar stärker, während zum Beispiel dieser Shannar genauso zerfällt wie die anderen, die der Lust ihrer Herren dienen." "Du hast Mitleid mit diesen Leuten," erkannte Ulander klar. "Das macht deine Aufgabe vermutlich nicht leichter." "Ich habe mir diesen Dienst nicht ausgesucht," gab Thorin zu. "Aber ich bemühe mich, alles zu tun, was von mir erwartet wird. Seid ihr unzufrieden, Herr?" Ulander leerte den Becher. Er schüttelte den Kopf, als Willar sofort nachschenken wollte. "Deine Arbeit gefällt dir nicht. Makaras leistet besseren Dienst, weil er Freude daran hat."
"Freude an der Qual der Menschen," stieß Thorin aus. "Menschen? Das alles sind Verbrecher, denen ein schneller Tod nicht gegönnt werden kann." Ulander blieb ganz ruhig. "Sie haben ihr Schicksal herausgefordert und verdient. Wenn du nicht lernst, das zu begreifen, werden die drei Jahre hier für dich nicht sehr erfreulich sein." "Ihr habt es begriffen," erwiderte Thorin mit finsterem Blick auf Willar. Er erhob sich, deutete eine Verneigung an und eilte davon. Ulander verharrte. Er mochte Thorin und sah nur ungern, wie sehr dieser Mann unter seinem Wirken litt. Thorin überwachte die Arbeiten am Stollen und mußte mit ansehen, wie immer wieder ein Leichnam aus dem Berg geschafft wurde. Der Kustos überlegte, ob es nicht besser sei, diesem Mann das Vieh und die Jagd zu überantworten. Doch damit hätte er Thorin degradiert und ihm keinen Gefallen getan. Er sah zu Willar. Sein Gefangener kniete abwartend vor ihm, sah ihn aufmerksam an. Thorin wollte nicht begreifen, daß alle Gefangenen ihr Recht auf Leben längst verloren. Da konnte auch Willar keine Ausnahme sein. Dieser Bursche ließ sich zu Vergewaltigung und Mord hinreißen und verdiente den Tod auf dieser Insel. Vielleicht bereute er seine Tat, doch hier kam jede Reue zu spät. Mit einer zärtlichen Geste fuhr er Willar durchs wirre Haar. Der Prinz spürte seine Zuneigung. Vertraut legte er den Kopf in den Schoß seines Herrn. Ulander streichelte nachdenklich seine Wange. Entfernt stand Makaras unter der Tür seines Hauses und betrachtete die Szene. Zärtlichkeit zu einem hingebungsvollen Gefangenen war ihm fremd. Trotzdem besaß dieser Anblick einen besonderen Reiz für ihn. "Du wirkst wirklich nicht sehr triebhaft," bemerkte Ulander, noch immer voll Nachdenken. "Wie konnte es geschehen, daß
du über eine Frau herfällst?" "Sie wollte es, Herr," erwiderte Willar arglos. "Ich war Gast im Haus ihres Vaters. Wenn ich es mir recht überlege, dann hat sie mich geradezu verführt." Ulander lachte leise, als er sich das vorstellte. Diese Worte erschienen ihm sehr glaubwürdig, zeigte sich Willar doch immer nur zurückhaltend und fast scheu. "Und warum hast du sie dann getötet?" erkundigte er sich. Willar sprach bisher nie darüber. In dieser vertrauten Stunde aber wollte er Vertrauen beweisen. Darum gab er Antwort. "Sie zeigte mir den Garten ihres Hauses. Als die Nebel sanken, zog sie mich neben sich. Ihr Söhnchen schlief im Gras. Ich habe den Kleinen gestreichelt und das erregte sie. Wir haben uns vereint. Sie zeigte mir alle Wonnen, die man sich vorstellen kann." Er hob den Blick, sah Ulander in die Augen. "Plötzlich begann Ylmir zu weinen. Bewaffnete kamen gelaufen, weil sie Gefahr vermuteten. Wir sprangen auf. Die Männer fielen mich an. Wir kämpften. Nachdem ich überwältigt war, lag sie, von einem Säbel verletzt, am Boden. Sie starb zu dieser Stunde und die Soldaten sagten, ich habe es getan." Ulander hatte sich angespannt und seine Hand von ihm zurück gezogen. Willar nahm an, daß er ihm kein Wort glaubte. "Was ist mit Ylmir geschehen?" wollte er mit rauher Stimme wissen. "Ich weiß es nicht, Herr. Der Kleine lag neben der Mutter, beide waren sie von Blut bedeckt. Aber ich kann nicht sagen, ob sein oder ihr Blut das kleine Gesicht beschmierte. Er lag ganz still. Ich fürchte, auch er ist tot."
Ulander starrte Willar an. "Die Frau hieß Namao und ihr Vater ist Pecha in Sion?" Willar nickte langsam. Ein ungutes Gefühl überkam ihn. Ulander ballte eine Hand zur Faust. "Ylmir war mein Sohn," sagte der Kustos da mit dunkler Stimme. "Du hast dich nicht gescheut, in Gegenwart des Kindes deine Lust zu befriedigen." Er zog ein Bein an und stieß Willar den Stiefel vor die Brust. "Deine Gier hat ihn getötet!" Willar taumelte ein Stück zurück, ehe er fiel. Makaras näherte sich rasch. Ulander warf ihm einen kurzen Blick zu. "In die Mine mit ihm," befahl er. Ohne weiteres Wort betrat er sein Haus. Der Schmerz, der in ihm wühlte, sollte von keinem Menschen gesehen werden. Er kam auf die Insel der Läuterung, um Ylmirs Zukunft zu sichern. Und nun mußte er erfahren, daß sein einziges Kind gestorben war. Mit einem Mal war alles sinnlos. Er warf sich auf sein Lager, kämpfte mit den Tränen und schwor in dieser Verhärtung, daß er keinen der Gefangenen mehr wie einen Menschen behandeln wollte.
M
akaras löste die Peitsche von seinem Gürtel. Grinsend sah er auf Willar nieder. Dann deutete er zu seinem Haus. Zu viele Augen sahen nach ihnen, als daß der Gefangene auch nur die geringste Chance der Flucht besitzen konnte. Er betrat das flache Haus. Makaras schloß die Tür, legte den Riegel vor. "Ich wußte, daß du mir gehören wirst," meinte er grinsend. "Jetzt bitte mich, zu dir zu kommen."
Willar schüttelte langsam den Kopf. "Niemals," versprach er. Makaras lachte geringschätzig. In einer Ecke des Raumes kauerte Shannar am Boden und schaute angstvoll zu seinem Herrn. "Binde ihm Hände und Füße zusammen," befahl Makaras dem Jüngling. "Binde so fest, daß kein Raum zwischen Handund Fußgelenken ist. Das ergibt ein hübsches Paket." Shannar gehorchte zitternd. Willar hockte am Boden, ließ sich dies trotzig gefallen. Ulander befahl ihn in die Mine. Makaras würde ihn nicht lange quälen dürfen und für diese Nacht mußte er es einfach ertragen. Shannars Augen schimmerten feucht. Er hatte tatsächlich Mitleid mit ihm. Er fürchtete sich sehr. Trotzdem sah er kniend zu Makaras auf und flehte: "Bitte, tut ihm nichts." Der Wächter streifte sich schon die Kleidung ab. Er lachte heiser. "Der Bursche weiß noch nicht, was ihn erwartet," stellte er lüstern fest. "Er fühlt sich noch immer stark und stolz. Komm, Kleiner, wir zeigen es ihm. Ulander war wohl zu freundlich und sanft." Er packte Shannar, hob ihn hoch und küßte ihn kraftvoll, fordernd und bedrängend. Dann schleuderte er den Jüngling zu Boden. Shannar lag halb über Willar, als er sich auf ihn warf. "Du siehst zu," befahl er Willar. "Wenn du die Augen schließt, wird der Kleine schreien."
Shannar schrie nicht. Er wimmerte bald nur noch, während sich Makaras aufs Gröbste an ihm verging und unzählige Möglichkeiten fand, seine Qual zu steigern. Willar lag reglos unter ihnen und wagte nicht, den Blick zu wenden. Er hoffte schon, Makaras werde endlich von Shannar ablassen. Lieber wollte er selbst leiden, als weiter dieses Leid sehen müssen. "Nehmt mich," stammelte er endlich. Makaras krallte sich eben in Shannars Brust fest. Jetzt hob er etwas den Kopf. "Bitte mich," verlangte Jüngling bedrängte.
er,
während
er
weiter
den
Willar sah das Blut, das aus Shannars unzähligen Kratzwunden floß. Er sah den tränenleeren Blick des Jungen. "Ich bitte demütig darum, daß ihr zu mir kommt, Herr," würgte er sich ab. Makaras lachte gierig. Trotzdem packte er Shannars Kopf, drehte ihn brutal und küßte ihn gewalttätig. "Bei allen Göttern," flehte Willar entsetzt, "ihr tötet ihn, Herr. Bitte, nehmt mich." Da ließ Makaras endlich von Shannar ab. Der Jüngling kroch auf allen Vieren in eine Zimmerecke, wo er sich niederkauerte und das Gesicht mit den Armen bedeckte.
T
horin kam vom Minenschacht zurück, als er von einem der umgänglicheren Wächter erfuhr, daß Willar mit Makaras in dessen Haus ging. Er schüttelte resigniert den Kopf, ging zu seinem eigenen Haus. Dann hielt er inne. Er
zögerte etwas, doch dann wandte er den Schritt zu Ulanders Heim, das er ohne ein Klopfen betrat. "Hinaus!" Ulander hatte den Schritt gehört, doch er wollte nicht gestört sein. Thorin überlegte nur kurz, ehe er den Schlafraum des Kustos betrat. Es brannte keine Kerze, der Raum blieb dunkel. "Ihr habt es wirklich begriffen, Herr," wiederholte Thorin seine letzten Worte. "Alle Gefangenen sind unwerter Abschaum." "Laß mich allein," murrte Ulander, ohne sich zu erheben. "Natürlich, Herr," erwiderte Thorin in ohnmächtigem Zynismus. "Wünscht ihr, daß ich euch ein anderes Spielzeug besorge, nachdem es euch nun gefällt, mit Makaras zu teilen." Ulander zog die Decke über sich. Er wollte jetzt nicht reden. "Ich habe Willar für die Mine bestimmt," brummte er unwirsch. "Halte mir künftig die Gefangenen fern." Thorin starrte auf ihn nieder, doch der Kustos regte sich nicht mehr. Er ahnte, daß sein Herr litt. Willar war ihm wohl zu vertraut geworden und er endete die Nähe, ehe er sich an sie verlor. Irgendwie konnte Thorin dies durchaus verstehen. Und es erleichterte den Mann, daß sein Kustos den Gefangenen für die Mine und nicht für Makaras' Lüste vorsah. Leise ging er hinaus.
W
illar empfand nichts als Ekel, als er Makaras' Zunge an seiner spürte. Die gierigen Hände dieses Mannes verursachten Schmerz, vor allem aber bewiesen sie seine Hilflosigkeit, da er sich durch die Fessel nicht wehren konnte.
Mit lautem Knall wurde die Tür da eingetreten. Makaras sprang empört auf. Thorin maß ihn mit unglaublich verächtlichem Blick. "Wie könnt ihr es wagen...?" Makaras sprach nicht zu Ende. Thorin ignorierte ihn einfach. Er bückte sich zu Willar, zerschnitt dessen Fessel und zog ihn grob am Halsreif auf die Beine. "Er ist in die Mine befohlen," sagte Thorin knapp. "Damit gehört er mir." "Seit wann wißt ihr so etwas zu schätzen," grinste Makaras. Thorin gab ihm keine Antwort. Er packte Willar beim Handgelenk und nahm ihn mit sich hinaus. Ohne Wort und ohne Umweg ging er zum Minenschacht. Makaras warf sich einen Umhang über die Schulter, trat in die Tür und rief einen seiner Leute herbei. "Sobald der Bursche dort in der Mine ist, ist er auch vergessen," meinte er fast gleichgültig. "In der Nacht holtst du ihn zu mir herauf. Aber sei achtsam. Ich will nicht, daß Thorin es bemerkt." Der Mann nickte langsam, während sein Blick zu dem zitternden Shannar glitt. "Wenn du deine Sache gut machst, kannst du den Jungen haben," versprach Makaras. Shannar hörte die Worte und hoffte mit einem Mal, daß dies wirklich so geschehen würde. Dann mochte Willar verloren sein, aber er erhielt die Chance auf ein etwas erträglicheres Dasein.
A
m Rand des Minenschachtes scheuchte Thorin die Wächter zurück. Er stand nun allein bei Willar. "Was hast du meinem Herrn angetan, daß du ihn dazu zwingst?" wollte er voll Unruhe wissen. "Er war immer gut zu dir. Ich dachte, er liebt dich, Bursche. Konntest du nicht besser auf ihn achten?" Willar starrte auf das Seil, das in die Mine führte. "Ich vergaß meinen Stand und gewann zu viel Vertrauen," erwiderte er unsicher. "Es ist besser, wenn du nun alles vergißt, was dein Leben je ausmachte," brummte Thorin. "Du gehst ganz hinab, zehn Knoten tief. Wir sind auf eine Ader gestoßen, wo sogar gediegenes Kupfer zu finden ist. Solange die Ausbeute groß genug ist, gibt es wenig Hiebe und viel Wasser. Also arbeite gut, Bursche. Höre ich, daß du nicht alles gibst, kann Makaras dich haben." Willar atmete tief durch. Dann griff er nach dem starken, armdicken Seil. Er kletterte hinab. Sein letzter Blick traf auf das Wasserrad. Von nun an sollte er nur noch Dunkelheit kennen oder im schwachen Schein einer Fackel Kupfer bergen. Der Abstieg fiel nicht leicht. Als er endlich die Tiefe von zehn Knoten erreichte, fühlte er sich erschöpft. Er kroch in den niederen Gang, der sich nach wenigen Schritten verbreiterte. Es gab keine Wärter hier unten, wie er erstaunt feststellte. Eine einzige Fackel brannte am Ende des noch kurzen Stollens. Hier fand er eine Handvoll Menschen, die erschöpft schliefen. Willar lehnte sich gegen die Wand des Stollens. Er begriff das Prinzip der Mine. Aus dieser Tiefe entkam man nicht. Wer überleben wollte, mußte arbeiten, denn ohne
Kupfer gab es weder Wasser noch Nahrung. Irgendwann erstarb die reichste Mine. Spätestens dann ließ die Versorgung nach. So oder so blieb nur das Sterben im Berg die einzige Zukunft, auf die er hoffen durfte. Willar hörte ein entferntes Geräusch. Er sog tief den Atem ein. Damit hatte er nicht gerechnet. Trotzdem wunderte er sich auch nicht darüber. Makaras wollte ihn haben und er versuchte nun, ihn heimlich aus dem Stollen zu holen. Einen Fluchtweg gab es hier nicht. "Raaki," flüsterte er verzweifelt, "man hat mich aller Rechte beraubt und gesteht mir nur noch den Tod zu. Du bist der dunkle Gott des Todes, den ich bitte, mir dieses letzte Recht eines Menschen zu gewähren, ohne zu dulden, daß ich zuvor gebrochen werde. Hilf mir, ich bitte dich." Wie zur Antwort ertönte ein dumpfes Grollen tief aus der Erde herauf, das die Stollen sacht erbeben ließ. Willar erschrak, kroch hastig unter den letzten Stützbalken, den er fand. Staub und Gestein bröselte hernieder. Dann krachte mit ohrenbetäubendem Lärm der senkrechte Stollen in sich zusammen und in seiner Erschütterung brachen auch die Minengänge. Der Stützbalken hielt noch kurze Zeit, dann verriet ein Knirschen, wie er nachgab. Jemand im Stollen schrie auf. Willar barg den Kopf unter den Armen. Dann brach alles zusammen und begrub die Menschen im Berg wie ein riesiges, schweigendes Grab.
I
lkonys hatte nicht erwartet, daß ein verändertes Verhalten die Reise auch für ihn angenehmer gestalten könne. Doch Tibra behandelte ihn wie einen gleichwertigen Gefährten, auch wenn er weiterhin stumm erwartete, daß Nodhers Erbe die Arbeit eines Vasallen übernahm. Der Prinz versorgte also weiter die Pferde und bereitete das Lager, doch meist half ihm einer der Freunde dabei, so daß er dies nie wirklich als Last empfinden konnte. Einmal wurde sie überfallen und schlugen gemeinsam die Gegner in die Flucht. Tibra lachte dabei, als gelänge ihm ein besonderer Spaß. Er schien diese Reise ohnehin nicht ganz ernst zu nehmen. Obwohl er genau auf den Weg und die Karte achtete und auch nirgendwo verweilte, gab er sich nie den Anschein größerer Eile. Auf ihn übte die Insel eine Faszination aus, die er auskostete. Eines Abends hielt Ilkonys Wache, als sich eine räuberische Großkatze geräuschlos anschlich und sich den Magier zum Opfer erkor. Sie sprang den Schläfer an. Ihr heiseres Fauchen riß Gerrys und Nymardos aus dem Schlaf. Tibra umklammerte den wuchtigen Hals des schwarzen Tieres. Ilkonys zog den Dolch und hechtete auf dessen Rücken. Nach kurzem Kampf floh das verwundete Tier in die Dunkelheit. Tibra zog wortlos die Decke über sich und schlief weiter, als sei nichts geschehen. Erst am andern Morgen erhielt Nymardos Gelegenheit, seine Kratzwunden zu behandeln. Ilkonys reichte dem Magier einen Becher mit heißem Tee. Er fühlte sich schuldig.
Doch Tibra grinste nur. "Man kann eine Katze nicht hören," beruhigte er den Prinzen. "Nur ein großes Feuer hält sie ab, aber das lockt dann Menschen an. Mit irgendeiner Gefahr muß man sich hier abfinden." "Ich wünschte, auch um unseretwillen, daß wir endlich am Ziel wären," murmelte der Prinz unruhig. "Wenn die Karte nicht lügt, haben wir es am Mittag geschafft," versprach der Magier. Erfreut nahmen sie diese Botschaft zur Kenntnis. "Und was tun wir dann?" wollte Gerrys wissen. "Wir können nicht gut in eine Mine Sions eindringen und einen Gefangenen fordern." "Du kannst in keine Mine eindringen," erwiderte Tibra. "Das sind keine Bergwerke, wie du sie aus Thara oder Khyon kennst. Das sind Gräber, Gerrys." "Wo es einen Eingang gibt, muß es auch einen Ausgang geben," widersprach der Falla. "Das schon," gab Ilkonys zu. "Aber man holt die Gefangenen nicht heraus, solange sie am Leben sind. Man wird uns Willar nicht freiwillig übergeben. Er gehört Sion." "Sion dürfte es egal sein, welcher der Söhne Aristons im Berg arbeitet," stellte Tibra gelassen fest. "Aber keine Sorge, Prinz. Ehe ich mit einem Austausch einverstanden bin, sehe ich mir die Mine an. Meistens gibt es einen anderen Weg, um zum Ziel zu kommen." "Ich hoffe es," erwiderte Ilkonys mit leiser Stimme.
Tibra lachte und stieß ihn freundschaftlich vor die Brust. "Ich hole Willar dort raus," versprach er grinsend. "Habe ich euer Wort, daß ihr euch danach bei Sions Herrscher entschuldigen werdet? Und daß ihr, falls euer Bruder schuldig ist, ihn Sions Recht unterstellt?" "Ihr habt mein Wort," versprach Nodhers Erbe langsam. "Ich werde Thylenon so oder so Abbitte leisten." "Hört sich gut an," stellte der Magier vergnügt fest. "Dann wollen wir reiten." Er sah Nymardos an. "Wir sind alle als Amarras Männer hier. Erfordert das die Tunika der Weihe?" Nymardos lächelte. "Auch Polyr und seine Leute gehören Amarra." Tibra lachte. Diesem sympathischen Priester und den leicht bekleideten Priesterinnen war wirklich nicht anzusehen, in wessen Auftrag sie segelten. Er zog die feste Reisekleidung ohnehin vor.
I
n Slak herrschte schon nicht mehr die pure Aufregung. Makaras überwachte umsichtig alles Tun. Sie hatten versucht, den Schacht wieder freizulegen und erkannt, wie sinnlos dieses Unterfangen blieb. Der Berg duldete keine Erschütterung und drohte, jederzeit die wenigen ganzen Stollen zu zerstören. Widerwillig beschlossen Ulander und Makaras, die erreichbaren Gefangenen nach oben zu holen.
Es gab nun so viel zu tun, daß Makaras keinen Sinn für irgendeine Abwechslung besaß. Shannar kauerte übersehen beim Wassertrog. Niemand achtete jetzt auf ihn oder wollte seinen Dienst. Thorin sorgte dafür, daß die Männer, die den Berg verließen, aneinander gekettet wurden. Er ließ
sie tränken. Aber mehr tat er nicht. Die meisten waren schon vom Tod gezeichnet. Der Staub des Kupfers zerfraß sie von innen. Wer noch etwas Kraft besaß, mußte Makaras zur Verfügung stehen, der entfernt einen neuen Stollen senkrecht in die Tiefe treiben ließ. Sion erwartete Kupfer aus Slak. Traf zu lange keine Lieferung ein, wurden sie vermutlich abberufen. Ulander sah düsteren Blickes bei allem zu. Er hatte die Mine verloren und damit völlig versagt. Doch so wichtig erschien ihm dies gar nicht. Er kam wegen Ylmir hierher und dieses Motiv verlor seinen Sinn. Es kam nicht mehr darauf an, was aus ihm oder Slak wurde.
D
ie Freunde sahen von der Anhöhe aus auf das Treiben hinab. Nymardos richtete sich etwas im Sattel auf. Sein weit geöffneter Geist nahm mehr wahr, als das bloße Auge zu schauen vermochte. "Was gibt es?" wollte Tibra finster wissen. Der Pala des Than warf ihm einen traurigen Blick zu. "Shannar ist hier." Er hatte den Geist des Jungen einst berührt, deshalb erkannte er ihn, ohne ihn mit den Augen zu schauen. Ilkonys spannte sich an. Immer fürchtete er während der Reise, Tibra könne von seinem Sohn sprechen, den er auf die Insel verbannte. Und nun befand sich der Junge in Sions Besitz. Er verstand es nicht, doch er nahm an, Tibra werde ihm dieses Urteil jetzt verübeln. Der Magier nickte langsam. "Was erspürst du noch?" fragte er trotzdem. "Die Mine ist verschüttet," gab Nymardos Antwort. "Die meisten der Gefangenen sind verloren. Der Mann dort vorn
scheint der Kustos der Mine zu sein, der dort hinten sein Vertreter." "Und Willar?" fragte Ilkonys bang. "Das erfahren wir wohl nur dort unten," vermutete Tibra, der sein Pferd nun wieder antrieb. Die Wächter griffen nach ihren Waffen, als die Fremden zur Mine kamen. Ein scharfer Ruf Makaras' verhinderte einen Angriff. Thorin sah kurz vom Minenschacht aus zu ihnen, kümmerte sich dann nicht weiter um die Ankömmlinge. Ulander trat neben Makaras. "Die sehen nicht wie wollen," murmelte er.
Wächter
aus, die zu einer Mine
"Sie alle tragen ihr Haar offen," erwiderte der vorsichtig. "Es sind Männer der Macht. Ob sie aus Sion kommen?" Ulander schüttelte den Kopf. Mächtige Männer kamen nicht auf die Insel der Läuterung. Die Fremden stiegen ab und näherten sich. Die Wärter hoben angespannt die Säbel. Tibra blieb stehen. Er hob leicht die Hand. Da traten die Freunde einen Schritt zurück. Der Magier griff an seinen Gürtel, entnahm ihm eine der Achatgeoden. Er grinste nachdenklich. Der warme Stein, der die Schwingung des Weihrauchbaumes in sich trug, pulsierte voll Kraft. Tibra nahm an, daß diese Geode wirkungslos geblieben sei, änderte sich doch in der Nacht seines Wirkens nicht ihr Licht. Aber nun spürte er seinen Irrtum. Er musterte Ulander und Makaras. Die beiden Männer wirkten nicht sehr gastfreundlich. Ulander sah zu den Bewaffneten. Eben wollte er den Angriffsbefehl geben, als Tibra handelte. Er hob die Geode vor seinen Mund, blies kräftig den Atem über sie. Die bewaffneten Wärter wichen entsetzt zurück. Aus dem Stein des Magiers schoß ein bläuliches Flammenband auf
den Kustos zu, umrundete ihn und Makaras und hing dann wie ein feuriges Rad in der Luft, die beiden Männer kreisförmig umschlossen. "Rührt euch nicht," warnte Tibra. "Dieses Feuer ist tödlich. Und ihr steckt die Säbel ein," befahl er den Wächtern. "Wenn sich einer gegen uns wendet, ist der Kustos verloren." Nymardos trat nahe zu Tibra. "Wie lange hält das Feuerrad an?" erkundigte er sich besorgt. "Keine Ahnung," grinste der Magier. "Ich habe nicht einmal gewußt, daß es existiert." Er lachte leise. "Ich schätze, die Kraft, die hier wirkt, mag die Minenleute nicht sonderlich. Also hoffe ich, daß sie uns ein wenig Freiraum verschafft." Thorin sah entsetzt das magische Wirken. Er kam zu den Fremden, stellte sich vor und fragte nach ihrem Begehr. "Was geschah mit der Mine?" wollte Tibra aber nur wissen. "Sie ist vor zwei Tagen eingestürzt," erwiderte Thorin ehrlich. "Die Erde erbebte und verschlang die Arbeiter." Der Magier trat zum Schacht. Thorin folgte ihm irritiert, während Nymardos sich nach Shannar umsah. Er ging nicht zu ihm, doch er berührte dessen Geist und erkannte sein tiefes Leid. "Wie tief ist das?" wollte Tibra wissen. "Nur noch vier Knoten," gab Thorin Auskunft. "Jeder Knoten umfaßt sieben Meter. Vor kurzem war der Schacht zehn Knoten tief." "Und wie tief war Willar?"
Thorin erschrak. Der Magier drehte sich ihm zu. "Ihr habt mir wohl einiges zu erzählen," begriff er. "Wo ist euer Haus?" Thorin deutete auf den flachen Bau. "Wartet dort auf mich." Während Thorin wirklich sein Haus aufsuchte, ging Tibra zu den Freunden zurück. Das feurige Rad stand noch immer unbewegt. "Gerrys," bat Tibra mit ruhiger Stimme, "kannst du mit Ilkonys zusammen den Kustos bewachen? Ich weiß nicht, wie ich das Feuer beenden soll, aber es wird nicht immer bestehen. Wenn es erlischt, müssen die beiden Männer sofortige Geiseln sein, oder die Wächter hier überwältigen uns sehr schnell." "Du kannst dich auf mich verlassen," versprach der Falla und zog seinen Degen. In diesem Augenblick entschwand das feurige Rad, als sei es nie da gewesen. Die Wächter kamen sofort zu ihnen gelaufen, doch Ilkonys und Gerrys handelten schneller. Ihre Degenspitzen berührten die Kehlen der Männer, die ihnen als Geiseln dienen mußten. Die Wärter blieben zurück. Nymardos nahm Ulander und Makaras die Waffen ab. Er löste die Gürtel der Männer und fesselte ihnen damit die Hände auf den Rücken. Sie brachten ihre Gefangenen in Thorins Haus, wo Ilkonys die beiden Männer auf Stühle band und auch knebelte. Sie sollten nicht durch Rufe irgendwelche Befehle geben können. "Wer seid ihr?" wollte Thorin mißtrauisch wissen. Er hatte seinen eigenen Säbel an einen Haken an der Wand gehängt und zeigte so, wie wenig feindlich er gesonnen war.
"Boten Amarras," antwortete Tibra, während er sich ungeniert umsah. "Kennt ihr alle eure Gefangenen beim Namen?" Thorin schüttelte mit ungutem Gefühl den Kopf. "Einige der Männer dienen der Lust der Wächter," gab er unruhig zu. "Alle anderen sind namenlos. Willar gehörte dem Kustos Ulander. Genau wie Shannar und die anderen diente er auf jede erdenkliche Weise, immer hoffend, daß ihm so die Mine erspart bleibt. Er spielte seine Rolle gut, so gut, daß man fast Liebe vermuten konnte. Vor zwei Tagen kam er in die Mine, zehn Knoten tief." "Und gleich danach stürzte die Mine ein?" "Es war nur wenige Stunden später," erwiderte Thorin. "Hätte er Ulander nur einen einzigen Tag länger erfreut, lebte er noch." Gerrys hielt Ilkonys fest umschlungen, der bei diesen Worten grenzenlosen Schmerz verspürte. Der Tod des Bruders erschütterte ihn, doch über die Maßen quälte ihn die Vorstellung, was Willar zuvor erleiden mußte. Er weinte leise. Auch Tibra blieb nicht unberührt. In ihm stieg Zorn auf. Nymardos legte ihm sacht die Hand auf die Schulter. "Dieser Mann hat mit alledem nichts zu tun," mahnte er den Freund. "Er war Willar wohl gesonnen und hat niemals einen der Gefangenen mißbraucht." Thorin warf ihm einen dankbaren Blick zu, obwohl er sich zugleich wunderte, wie dieser Fremdling dies wissen konnte. Tibra wandte sich um.
Er trat nahe zu Ulander, packte mit brutalem Griff dessen Haar und drückte daran seinen Kopf schmerzhaft weit zurück. Dann ließ er ihn überraschend los. Er sah Makaras an. "Hat Shannar ihm gehört?" wollte er wissen. "Ja, Herr," erwiderte Thorin leise. Tibra sagte nichts mehr. Er trat allein aus dem Haus. Die Wächter standen nahe des Eingangs. "Steckt endlich die Säbel ein," knurrte Tibra unwillig. "Wir sind nicht hier, um euch zu schaden. Aber wenn einer sich rührt, sterben eure Anführer und das könnt ihr dann versuchen, Sions Herrscher zu erklären. Der Verlust der Mine ist schlimm genug." Er ging einfach zwischen ihnen hindurch. Sein Auftreten und die Selbstsicherheit, die er ausstrahlte, ließ die Männer zögern. Er sprach von ihrem König, als sei er sein Gesandter. Einer nach dem andern steckte langsam die Waffe weg. Tibra ging zum Wassertrog. Shannar hob nicht einmal den Kopf. Er kauerte zitternd am Boden. Sein schmächtiger Körper verriet die Entbehrung und den grausamen Mißbrauch. Ilkonys stand am kleinen Fenster des Hauses und beobachtete ihn. Er erwartete förmlich, daß der Magier seinen Sohn aufheben oder wenigstens ansprechen würde. Doch Tibra betrachtete dieses hilflose Bündel Mensch nur mit still forschendem Blick. Lange stand er so, ehe er sich wieder abwandte und zurück ins Haus ging. "Ich will fort von hier," empfing ihn Ilkonys. "Ich muß so schnell als möglich nach Amarra kommen und Thylenon sprechen. Vielleicht ist der Krieg noch zu verhindern."
Tibra ignorierte ihn. "Wie viele Leute sind im Berg?" wollte er von Thorin wissen. "Mehr als dreihundert Gefangene. Aber die meisten von ihnen sind tot. Sollte es Überlebende geben, sind sie unerreichbar. Jeder Versuch, den Schacht auszuräumen, kann die oberen Schächte zum Einsturz bringen. Wir haben es wirklich versucht und hofften, wenigstens den fünften Knoten noch zu erreichen." "Ich will es sehen," beschloß der Magier. Er befahl Ilkonys, die Gefangenen zu bewachen. Da blieb Nymardos bei Nodhers Erbe. Tibra wollte ihn rufen, doch Gerrys hinderte ihn daran. Es war nicht klug, Ilkonys mit Willars Peinigern allein zu lassen. Tibra starrte in den Schacht. Die Wände waren mit Holzbalken gesichert, die weiter unten brachen. Die Winde, die bisher das Kupfer barg, brachte einen der Gefangenen nach oben. "Stollen vier ist leer," meldete einer der Wächter. Gerrys Hand legte sich um seinen Lebenden Kristall. Diese Geste hilfloser Ohnmacht besaß keine Bedeutung. Sie erinnerte ihn nur daran, daß er einer großen Kraft diente und er suchte so Stärkung bei seinem Gott. Tibra sah es. Behutsam löste er die Hand des Freundes von dem Mineral. Er starrte den Kristall an. Der Stein schimmerte ganz sacht in dunklem Rot. "Warum seid ihr hier?" forschte Thorin unruhig. Tibra starrte Gerrys noch immer sprachlos an. Die Worte lösten ihn aus der Starre. Er wandte sich dem Mann zu.
"Wie verlief der zehnte Stollen?" wollte er wissen. Thorin verstand nicht. Gerrys mahnte leise, daß jedes weitere Fragen sinnlos sein müsse. Doch Tibra bestand auf einer Antwort. "Die Stollen sind wie die Speichen eines Rades in den Berg getrieben," erklärte Thorin da. "Zehn Knoten tief müßte der Stollen, den ihr meint, dort hinten verlaufen." "Ihr baut dort einen neuen Schacht?" "Wir haben die Aufgabe, Kupfer zu bergen." Tibra ging in die angegebene Richtung. Im Laufen zog er einen Faden aus seinem Wams. Er befestigte Willars Ring daran, ließ ihn dann gleich einem Pendel baumeln. Thorin wollte zu ihm, aber jetzt hielt Gerrys ihn zurück. Angespannt beobachteten sie Tibras Tun. Der Magier ging nun ganz langsam, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Er schien den Untergrund abzutasten. Dann schlug der Ring am Faden gleich einem Pendel aus. Tibra blieb stehen. Er sah zu Gerrys, der jetzt erst mit Thorin zu ihm kam. Der Ring pendelte heftig hin und her. Tibra musterte Thorin. "Sion nimmt euch eine verlorene Mine vermutlich sehr übel," meinte er, während seine Augen wieder an Leuchtkraft gewannen. "Es wird Ulander das Leben kosten und jeden der Wächter um seinen Lohn bringen," erwiderte Thorin offen. "Es dauert zu lange, einen neuen Schacht anzulegen." Tibra sah nachdenklich auf den felsigen Untergrund. Dann hob er den Blick erneut. "Irre ich mich, oder seid ihr Ulander wirklich zugetan?"
"Der Kustos hat dieses Schicksal nicht verdient. Und die Männer hier auch nicht." "Mit Ausnahme von Makaras, wie?" "Der Mann ist ein Tier," gab Thorin unwillig zu. "Ein paar Jahre auf dieser Insel machen wohl jeden Menschen dazu. Was habt ihr auf Slak gesucht?" "Ich suche Willar." Thorin atmete tief durch. "Bedauerlich, daß ihr zu spät gekommen seid," meinte er dann aufrichtig. "Da euer Weg aber vergeblich war, geht nun bitte wieder. Ich verspreche euch, daß euch niemand verfolgen wird." Tibra lachte leise. "Ich fürchte keinen hier," versprach er grinsend. "Aber ich gehe nicht gern nach halb getaner Arbeit. Willar lebt." Thorin lachte geringschätzig auf. Er zweifelte an diesem Wort und er zeigte das auch. Doch da der Magier ihn nur still und ernst ansah, verstummte er. "Ich hoffe, ihr irrt euch," erklärte er dann. "Zehn Knoten tief ist er unerreichbar. Man könnte meinen, der Tod will ihn nicht haben." Tibra grinste Gerrys mit bezeichnendem Blick auf dessen Kristall an, als er erwiderte: "Man könnte auch annehmen, der dunkle Gott des Todes beschützt ihn. Ich schlage euch ein Geschäft vor, Thorin. Ihr helft mir, Willar zu retten und ich erhalte euch die Mine."
Der Soldat musterte ihn unbehaglich. Dieser Fremde sprach, als könne er wirklich erreichen, was er sich vornahm. Sein Blick schweifte zu den am neuen Schacht arbeitenden Gefangenen und den Wächtern, die sie antrieben. Dann sah er voll Unruhe zu seinem Haus. "Ulander ist Kustos," murmelte er. "Es ist seine Entscheidung." "Er gab Willar in die Mine, nachdem er genug von ihm hatte," wehrte Tibra ab. "Ich verhandle nicht mit ihm. Ulander und Makaras werden keine Befehlsgewalt haben, solange ich hier bin. Seid ihr nicht Mann genug, die Mine zu übernehmen?" "Zehn Knoten!" rief Thorin verzweifelt aus. "Man braucht mehr als ein Jahr, um den Schacht so tief zu treiben." "Habt ihr nie gehört, daß Amarras Macht keine Grenzen kennt?" forschte Tibra lächelnd. "Man hört so manches über das Reich der Priester," murrte Thorin abwehrend. "Nun, ihr könnt immerhin nichts verlieren dabei." Thorin warf Gerrys einen hilflosen Blick zu. Dieser schmale, bleiche Mann wirkte auf ihn geradezu beruhigend. Er mochte das dünne Haar offen tragen, trotzdem ging keine Gewalt von ihm aus. "Und wer seid ihr?" "Ich bin Gerrys, Raakis erster Falla." "Ihr dient dem dunklen Gott des Todes? Das Sterben hier muß euch gefallen. Wer sind die anderen?"
"Der Jüngste ist mein Vasall," gab Tibra an Gerrys' Stelle Antwort. "Der andere ist Pala des Than. Man nennt ihn Nymardos." Thorin schluckte. Dieser Name war ihm nicht unbekannt. Nymardos herrschte als Than der Reiche, bis Seymas seine Macht übernahm. "Ihr seid Priester?" wollte er von Tibra wissen. Der Magier nickte leicht unwillig. "Ich sagte es euch: Amarra ist hier. Gebt mir Willar und ihr erhaltet die Mine zurück. Wenn ihr euch weigert, bin ich gezwungen, eure Männer zu vernichten, um dann unbehindert doch nach Willar zu suchen. Aber dann betet, daß ich ihn lebend erreiche. Kostet es mich zu viel Zeit, bezahlt ihr dafür." "Wenn ihr einen meiner Leute anrührt, seid ihr tot," warnte Thorin, der langsam Zorn in sich fühlte. Tibra lachte leise. Er wog die Achat-Geode in der Hand und meinte wie nebenbei: "Ich beginne mit Ulander." Er wandte sich um und ging dem Haus zu. "Wartet," rief Thorin da rasch. "Ihr könnt nur gewinnen," mahnte Gerrys. Da straffte der Soldat die Schultern. Seine Stimme hallte machterfüllt über den Platz, als er seine Leute herbei rief. Er stand zwischen Gerrys und Tibra, als er mit lauter Stimme verkündete, daß diese Männer im Auftrag ihres Herrschers Thylenon gekommen seien, um die
Mine zu retten. Der Kustos und Makaras seien nach Sions Willen verhaftet. Nun gälte es, den Boten ihres Herrn Gehorsam zu leisten. Die Wächter stellten mit einem Mal viele Fragen. Sie drängten näher und hofften, etwas über ihr Schicksal zu erfahren. Tibra benahm sich, als sei er nichts anderes gewohnt, als über Menschen zu herrschen. Er redete mit den Männern, gab Auskunft und Befehl und eroberte sich in kürzester Zeit ihre Achtung und ihren Respekt. "An die Arbeit," verlangte er dann. "Vergeßt für heute den Schacht. Besorgt an Stützholz, was ihr finden könnt. Nehmt auch alles brauchbare Holz aus dem alten Schacht und stapelt, was ihr finden könnt, dort drüben auf. Keine unnötigen Peitschenhiebe mehr für die Gefangenen. Wenn ich deren Arbeit brauche, sollen sie nicht geschwächt sein. Gebt ihnen auch Nahrung und Wasser und laßt sie später ausreichend schlafen." Er ging mit Gerrys und Thorin zum Haus des Soldaten zurück. Unterwegs verhielt er kurz den Schritt und sah zu Shannar hinüber. "Er ist nicht mehr in der Lage, euch zu bedienen, Herr," murmelte Thorin, der seinem Blick folgte. Er machte eine befehlende Geste in Richtung des Küchenhauses. "Andere werden für eure Bequemlichkeit sorgen." Tibra ging schon weiter. Er ließ Ulander und Makaras losbinden und verlangte von Ilkonys, die beiden Männer in das Haus des Kustos zu schaffen. Dieses Haus war das Größte der Mine. "Ihr habt noch viel zu erzählen," sagte er zu Thorin. "Kommt mit uns in Ulanders Haus. Wir wollen speisen und dabei hören, was hier so alles geschah." "Jeder von euch kann ein Haus erhalten," bot Thorin ihm an.
Tibra lehnte ab. Er zog es vor, bei den Freunden zu bleiben. Ulander und Makaras wurden in den kleinen Schlafraum gebracht, dort wieder fest gebunden. Der Magier duldete nicht, daß man ihnen den Knebel abnahm. Thorin ließ es mit verkniffenem Gesicht geschehen. Es gefiel ihm nicht, daß Ulander sich in dieser Lage befand. Aber er konnte ihm nicht anders helfen als in der Hoffnung, die Mine zu erhalten. Ein zum Dienst gezwungener Gefangener brachte das Mahl. Er wollte bleiben und gehorsam die freien Männer bedienen, doch Ilkonys schickte ihn hinaus. Der Gedanke, daß der jüngere Bruder so lebte, quälte ihn zu sehr. Lieber wollte er die Freunde bedienen. Gerrys berichtete, was Tibra über Willar sagte und daß der Magier annahm, der Prinz sei noch am Leben. Ilkonys reagierte voll Verzweiflung. Willar so tief im Berg konnte nicht gerettet werden. Er weinte leise und schmerzerfüllt. Tibra stand an der Schreibplatte und besah die Listen und Tabellen. Als er die Aufstellung der regelmäßigen Verluste an Arbeitern überflog, stieß er einen zornigen Laut aus. Wütend fegte er mit dem Arm das Material zu Boden. Thorin erhob sich hastig. Er begann, die Schriften aufzuheben. "Iß, Freund," mahnte Nymardos. Da setzte sich der Magier zu ihnen. Er nahm sich ein Stück gebratenes Fleisch, verzehrte es schweigsam. "Wie kam Shannar nach Slak?" wollte Tibra wissen, nachdem er sich gesättigt zurücklehnte. Thorin trat an seine Seite und erzählte mit leiser Stimme, weshalb Sakserr von Nodhers Mine den Jungen an Ulander übergab. "Setzt euch zu uns," verlangte Tibra mißmutig. "Erzählt uns, was immer ihr über Willar, Shannar, die Mine und
auch Ulander und Makaras wißt." Thorin kam der Aufforderung ohne Umschweife nach. Er mochte Tibra nicht, doch er wollte seinen Zorn nicht erwecken. Die Hoffnung, die Mine vielleicht wirklich zu erhalten, schien gering. Aber mehr blieb ihm nicht als diese. Irgendwann ging Ilkonys still hinaus. Er trat zum Wassertrog, an dessen Rand Shannar noch immer kauerte. "Schau mich an," verlangte der Prinz mit leiser Stimme. Shannar erschrak. Es kostete ihn ungeheure Kraft, die Arme vom Kopf zu nehmen und den Blick zu heben. Dann erkannte er Nodhers Erben. Wie unter einem Hieb zuckte er zusammen. Wimmernd wand er sich am Boden, angstvoll krümmte er sich zusammen. Dieses Elend berührte den Prinzen sehr seltsam. Es erschien ihm geradezu unvorstellbar, daß dieser Jüngling ihn vor einem halben Jahr verwundete und nach seinem Leben trachtete. Er glaubte zu ahnen, was Willar hier durchlitt. "Ihr könnt Shannar haben," sagte er später zu Tibra. "Aber ich verlange Ulander für mich." Thorin senkte den Kopf. Auch unausgesprochen blieb kein Zweifel daran, daß dieser Mann das Leben des Kustos forderte. "Ich habe nicht um Shannar gebeten," wehrte Tibra düster ab. "Damals nicht und heute auch nicht. Was ihr Ulander anlastet, das habt ihr Shannar zugedacht. Der Richter ist nicht besser als der Henker." Ilkonys sah zu Thorin. "Hat Willar wie Shannar gelitten?" fragte er leise.
Der Soldat wich seinem Blick nicht aus. "Ich habe erzählt, was ich weiß," erwiderte er. "Aber das klang, als sei Willar gern bei Ulander gelegen. Das will ich nicht glauben. Willar hätte sich nie um eines Vorteiles Willen prostituiert." "Wollt ihr ihn verachten, weil er sein Leben retten wollte," fuhr ihn da Thorin überraschend an. "Denkt ihr, hier draußen hätten so hochtrabende Worte wie Ehre oder Scham oder Selbstachtung auch nur den geringsten Wert? Man kann leicht stolz sein, wenn man weder Durst noch Schmerz noch Furcht empfindet und keine allgegenwärtige Peitsche spürt. In einer Umgebung von Gewalt und Verachtung ergibt man sich leicht der einzig zärtlichen Geste, die sich bietet. Ich weiß nicht, welcher Hochmut euch treibt, Mann. Aber, bei allen Göttern, in Willar ist mehr Achtenswertes als in euch." Ilkonys setzte zu einer harten Erwiderung an, doch Tibras leises Lachen ließ ihn beschämt verstummen. "Ihr seid mir durchaus sympathisch," ließ der Magier den Soldaten wissen. "Ich wünschte, das würde genügen, Ulander zu helfen," murrte der. "Es genügt auf alle Fälle, den Kustos keinem hier auszuliefern," versprach Tibra grinsend. "Wie zärtlich er war, wird Willar entscheiden." "Gewalt ist immer Gewalt, auch wenn sie so geschieht," murmelte Ilkonys, noch immer erschüttert von Shannars Anblick. "Willar hatte als rechtloser Mann doch keine andere Wahl, als sich zu fügen." "Es sah so aus, als liebe er Ulander," beharrte Thorin.
"Man kann keinen Mann so lieben, wenn er Macht über einen hat," widersprach der Prinz. Gerrys und Nymardos lächelten beide, als sie sich nun ansahen. Ihre Liebe entstand zu einer Zeit, in der Nymardos als Than unbegrenzte Macht auch über Gerrys besaß. Ilkonys spürte ihre Gedanken und senkte beschämt den Kopf. Sollte Willar auf dieser Insel wirklich eine Liebe gefunden haben, so wollte er sich trotz allem darüber freuen. Aber er glaubte nicht daran. Und er hoffte nicht, den Bruder noch einmal lebend zu sehen.
W
illars Augen tränten. Die dichte Staubwolke behinderte seinen Atem. Er hustete nur leise, fürchtend, das kleinste Geräusch könne den Berg völlig einstürzen lassen. Vorsichtig bewegte er seine Glieder. Er empfand keine Schmerzen, trotzdem war er nicht sicher, gänzlich unverwundet zu sein. Doch er erhielt nur einige kleine Hautabschürfungen. Langsam wandte er den Kopf. Es gab nichts zu sehen. Die einsame Fackel brannte nicht mehr. Es herrschte völlige Dunkelheit und totale Stille, die nur ab und an durch ein Knirschen des Gesteins unterbrochen wurde. Er saß unter dem zerbrochenen Stützbalken wie unter einem Zelt. Seine Hände ertasteten die Umgebung. Dem Schacht zu war alles verschüttet und auch tiefer in den Stollen hinein lag Gestein und Fels. Willar lehnte den Kopf gegen die Wand. Er schloß die Augen. Er bat um das Recht des Todes und erhielt es hier. Nun mußte er nur noch warten. Ganz leise vernahm er ein Wimmern. Es mußte vom Stollenende her zu ihm dringen. Willar lauschte, glaubte schon, sein Gehörsinn narre ihn. Aber da wiederholte sich das Geräusch. Sollte außer ihm noch jemand überlebt haben? Es erschien ihm unglaublich, aber es gab keine andere Erklärung. Vorsichtig löste er den ersten Stein. Staub rieselte auf ihn nieder. Er hielt inne. Dann schalt er sich stumm einen Narren. Die Vorsicht war unnötig. Es blieb ihm nur der Tod und ob dieser in Stunden oder Tagen kam oder sofort in Form massiven Gesteins auf ihn niederfiel, das machte
keinen großen Unterschied. Er arbeitete weiter. Willer ging vorsichtig, aber nicht furchtsam zu Werke. Stück für Stück schuf er sich etwas Freiraum. Es gab keine Möglichkeit, den Gang freizulegen, doch er wollte nur in Richtung des Wimmern kommen und dazu genügte ein schmales Loch unter der Stollendecke. Willar schob sich hindurch. Er wußte nicht, wie lange er arbeitete. Doch irgendwann erreichte er einen größeren Hohlraum. "Ist da wer?" Wieder erklang der klagende Laut. Willar tastete sich hinzu. Hilfloses Stöhnen entdeckte einen Leidensgenossen. Der Prinz tastete den Körper ab, den er fand. Dieser Mann war bis über den Unterleib unter Gestein begraben. Es gab keine Möglichkeit, ihn zu befreien. So schob er sich unter ihn, bettete seinen Kopf in den Schoß und hielt ihn fest, als könne er ihn beschirmen. Der Mitgefangene stöhnte leise. Kraftlos hielt er Willars Hand. Manchmal stammelte er einen Wortfetzen. Zu wirklicher Rede war nicht mehr fähig. Stunden später wurde er still und wieder später tat er einen letzten, tiefen Atemzug. Sein Kopf rollte zur Seite. Willar blieb sitzen. Der andere wurde durch den Tod erlöst, auf den er noch warten mußte. Zehn Knoten tief gab es keine Rettung. Doch er haderte nicht mit seinem Schicksal, sondern empfand fast Dankbarkeit, da ihn der Berg vor jedem demütigenden Zugriff bewahrte.
T
horin erwartete nicht, daß in dieser Nacht noch etwas geschehen könne. Er hatte alle Fragen beantwortet, alle Wünsche erfüllt. Nun lehnte er im Sessel und schlief auf unruhige Weise. Tibra breitete eine Decke über ihn.
"Ihr seid ja sehr besorgt um ihn," brummte Ilkonys düster. "Dabei hat er Willar in den Berg gebracht. Ohne ihn wäre mein Bruder schon befreit." "Und hätte ein paar Stunden mit Makaras verbracht," ergänzte der Magier. "Das würde er verwinden. Doch der Tod ist endgültig." "Verwinden?" Tibra sah ihn zweifelnd an. "Habt ihr nicht Shannar gesehen? Denkt ihr wirklich, daß man das verwinden kann?" Ilkonys kämpfte mit seinem Schmerz. "Ich will nur, daß er gesund nach Hause kommt," flüsterte er erstickt. "Schlaft ein wenig," sagte Tibra aber nur. Er warf den Freunden einen beruhigenden Blick zu, ehe er das Haus verließ. Draußen herrschten die dunklen Nebel. Er fand trotzdem mit sicherem Schritt zum neuen Schacht, der bisher weniger als zwei Meter tief getrieben war. Entfernt schliefen die überlebenden Gefangenen am Boden, ein paar wenige Wärter wachten. Die Männer hörten ihn, einer kam und als er ihn erkannte, ging er zurück an seinen Platz. Im Schacht lehnte ein Baumstamm. Tibra kletterte daran hinunter. Stunden hielt er sich hier auf. Als er wieder das Haus betrat, schliefen auch Gerrys und Ilkonys. Nur Nymardos wartete wachend. Beim Eintreten des Freundes entlockte er seinem Lebenden Kristall etwas Licht. Tibra lächelte. Er schien sehr erschöpft zu sein. Der Magier nahm sich eine Decke, legte sich zu Boden und schlief augenblicklich ein. Er erwachte, weil Nymardos ihn an den Schultern anhob,
sich unter ihn schob und seinen Kopf gegen die Leiste bettete. Sorgsam hob er Tibra einen Becher mit sehr heißem Kräutertee gegen den Mund. "Rede ich zuviel, daß du mir die Zunge verbrennen willst?" entfuhr es dem, als er den Becher berührte. "Gut geschlafen?" erkundigte sich der Pala des Than lächelnd. "Auf alle Fälle zu wenig," brummte Tibra, bettete sich bequemer auf ihn und schloß die Augen. Wenig später riß er sie wieder auf. "Es ist hell." "Das ist es seit Stunden, Freund. Du warst sehr erschöpft, als du in der Nacht gekommen bist. Ich versuche bereits zum dritten Mal, dich zu wecken." Der Magier setzte sich auf. Er griff nun doch nach dem Becher, schlürfte etwas von dem heißen Getränk. "Wo sind die andern?" "Am Stollen. Es wird hart gearbeitet." Nymardos sah den Freund resigniert an. "Das ist gewachsener Stein, Tibra. Wenn Willar wirklich noch am Leben ist, so kann er nie und nimmer rechtzeitig erreicht werden." "Gib mir einen Moment Zeit." Tibra stützte die Ellbogen auf die Schenkel und barg sein Gesicht in den Händen. Er zwang seinen Atem unter seinen Willen. Als er dann den Blick hob und Nymardos ansah, war alle Müdigkeit gewichen. Er lächelte schelmisch. "Ich danke den Göttern für meinen tiefen Schlaf," meinte er leichthin. "Aber du stehst ihnen näher als ich und solltest ihn enden können."
"Ich habe es versucht," lächelte Nymardos. "Du hast nicht einmal auf einen Kuß reagiert." Tibra grinste. "Dann hattest du freilich keine Chance," stellte er fest. Er trank etwas. Der Tee durchwärmte seine Glieder. Tibra fragte lieber nicht, was Nymardos dem Getränk zusetzte. Er sprang auf die Beine. "Komm schon, Freund," rief er. "Wir wollen sehen, ob die Kraft der Insel so stark ist, wie ich hoffe." Nymardos erhob sich. "Das hört sich so an, als wenn du ein Werk vorbereitet hast," stellte er gelassen fest. "Bitte die Götter, daß es gelingt," erwiderte der Magier voll Ernst. "Wenn nicht, können wir abreisen und müssen eingestehen, daß Willar verloren ist." Er trat aus dem Haus. Für einen unmerklichen Augenblick lang ruhte sein Blick beim Wassertrog, wo noch immer Shannar am Boden kauerte. Dann ging er mit Nymardos zum Schacht. Falls er Sorge empfand oder Unsicherheit, so war ihm dies jedenfalls nicht anzumerken. Er betrachtete die Arbeit im Schacht sehr kurz und rief dann laut: "Was gibt das, wenn es fertig ist? Habe ich nicht gesagt, die Männer sollen sich ausruhen? Raus aus dem Loch, aber alle." Thorin kam rasch zu ihm.
"Wir müssen..." "Nichts müßt ihr," grinste Tibra. "Solange ich meinen Teil nicht tat, seid ihr aus der Pflicht. Sorgt dafür, daß sich alle weit vom Schacht entfernen." Thorin gehorchte irritiert. Seine Stimme hallte über den Platz. Die Männer fügten sich ihm sofort. Ilkonys und Gerrys kamen zu ihm. "Und nun?" wollte Nodhers Erbe wissen. "Nun warten wir, daß sich der Schacht öffnet," meinte der Magier gelassen. "So etwas passiert nicht von allein," brummte Ilkonys. "Nein," lächelte Tibra. "Dazu bedarf es großer Kraft. Manchmal braucht man sogar ein Menschenopfer, um solche Kraft zu rufen." Er wog spielerisch eine der Achatgeoden in der Hand. Sie roch noch immer ein wenig nach Viscum und sie schien verlangend zu pulsieren. Ilkonys achtete nicht darauf. Er starrte Tibra sprachlos an. Dann, ganz langsam, nickte er. Er warf Gerrys einen langen Blick zu. Nodhers Erbe trat nach vorne. Er wollte in den Schacht. Tibra lachte schallend. "Wartet," rief er vergnügt, "ich sagte manchmal. Kommt her." Ilkonys drehte sich um, kam langsam zurück. "Ihr spielt mit mir," stellte er erstaunt fest. "Tut das, solange ihr wollt. Aber nicht, solange Willar auf Hilfe hofft. Es geschieht nichts am Schacht." "Nein?" Tibra lachte leise. Liebevoll sah er Nymardos an.
In seinen Augen stand der Schalk. "Hups, da habe ich wohl etwas vergessen." In spielerischer Geste warf er die Geode in den Schacht hinein, wo sie in zwei Teile zerbrach. Zunächst geschah gar nichts. Tibra tastete nach Nymardos' Hand. "Wolltest du nicht die Götter bitten?" raunte er ihm zu.
E
in hohes Sirren ertönte, erst leise, doch zunehmend lauter und höher in seinem Klang. Gerrys legte Ilkonys wie schützend den Arm um die Seite. Nymardos hielt Tibras Hand fester. Das Sirren steigerte sich zum bedrängenden Lärm. Mit leisem, fast sanften Ton erhob sich aus dem Schacht ein roter Lichtfinger, der weit zu den hohen Nebeln hinaufdeutete. Nymardos zog Tibra näher an sich. Er hielt ihn nun ganz fest. Sie beide sahen genau dieses Licht in der Nacht, in der Tibra, weit von hier entfernt, die Kraft der Insel zu fassen suchte. Geraume Zeit stand dieses Licht reglos und still. Dann begann es, noch immer von dem hohen Sirren begleitet, sich erst langsam, dann immer schneller um die eigene Achse zu drehen. Die Gefangen warfen sich angsterfüllt zu Boden, deckten den Kopf mit den Armen. Viele schrien voll Entsetzen. Die Wächter umklammerten die Peitschen. Sie wandten sich halb ab, um das unbegreifliche Geschehen nicht sehen zu müssen. Thorin preßte die Augenlider zusammen und legte einen Unterarm über sie. Das Ganze zog sich fast sein Gesicht an Gerrys fasziniert denn furchtsam vertrauter Geste den Kopf
eine Stunde lang hin. Ilkonys barg Brust. Der Falla starrte mehr auf dieses Licht. Tibra lehnte in gegen Nymardos' Schulter.
"Ich liebe den Anblick bloßer Kraft," flüsterte er begeistert. Plötzlich trat Stille ein. Der Lichtfinger verschwand, als sei er pure Einbildung gewesen, die nun klarem Sehen wich. Zögernd hoben die ersten Gefangenen den Kopf. Thorin schob sich äußerst vorsichtig dem Schacht zu. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Tibra an. "Wie tief ist das?" würgte er sich unter aller Anstrengung ab. "Keine Ahnung," grinste der Magier, "meßt es nach." Er drehte den Kopf und sah Nymardos an. Seine dunklen Augen strahlten. Diese Begegnung mit Kraft bereicherte und begeisterte ihn. Er empfand tiefe Freude über eine schöpferische Kraft, die sich in seine Hände gab und durch ihn freigesetzt wurde. "Wenn du nicht gleich beiseite trittst, wirst du furchtbar wütend auf mich sein," warnte Nymardos, während er ihn zugleich fester hielt. Tibra sagte nichts. Er hob den Arm und legte ihn um den Nacken des Freundes. Da neigte Nymardos den Kopf und küßte ihn sacht auf den Mund. Die Kräfte, mit denen der Freund umging, umspannten Weiten, die sich nur erahnen ließen. Nymardos empfand pures Glück, da Tibra eine Kraft, die er rief, auch zu lenken vermochte. Ilkonys sah mit verkniffenem Gesicht zu ihnen. Er versuchte, Gerrys abzulenken und zum Schacht zu ziehen. Doch der Falla blieb lächelnd stehen. "Tut dir das nicht weh?" erkundigte sich der Prinz besorgt. "Bist du nicht eifersüchtig? Tibra hat dich nie geküßt." "Ein
Kuß
ist
nicht
die
einzige
Art,
Liebe
auszu-
drücken," erwiderte der Falla sacht. "Aber auch wenn es so wäre. Was sollte mich mehr freuen, als zu sehen, wie ein Freund der Liebe begegnet?" Thorin hatte eine Meßschnur gefordert und seine Leute den Schacht erkunden lassen. Jetzt richtete er sich auf, wandte sich langsam Tibra zu und rief mit entgeisterter Stimme: "Zwölf Knoten, Herr. Es ist kein Stützholz notwendig. Das ist gewachsener Fels, in den ein Loch geschnitten wurde." Tibra löste sich von Nymardos. Mit leisem Lachen trat er auf den Schacht zu. Thorin kniete nun vor ihm nieder. Alle Männer der Mine betrachteten den Magier jetzt mit anderen Augen; nicht furchtsam, aber erfüllt von größtem Respekt. Tibra suchte mit den Augen die Stelle, an der er stand, als Gerrys' Kristall sacht erglühte und ihm Willars Leben verhieß. Von dort aus maß sein Blick eine gerade Strecke zum Schacht hin ab. Er trat dort an den Rand des Schachtes. "Befestigt hier die Maßschnur," verlangte er. "Ich muß wissen, wann ich genau zehn Knoten tief bin. Und sorgt dafür, daß eine Winde oder ähnliches einen Abstieg ermöglicht." "Das wird eine gute Stunde dauern, Herr," befürchtete Thorin. "Beeilt euch einfach," schlug Tibra gemütlich vor, "und gebt mir Bescheid, wenn ihr fertig seid." Er lagerte sich etwas abseits auf den Boden, rief einen Gefangenen an, damit er ihm ein Mahl bringe und sah dann ruhig den Arbeitern zu. Die Freunde setzten sich zu ihm. Nur Ilkonys kam erst, als Tibra ihn anrief. "Seid nicht beleidigt," lud ihn der Magier zum Verweilen
ein. "Als ich von Menschenopfern sprach, sollte euch das nicht herausfordern." Der Prinz setzte sich langsam nieder. "Ihr seid wirklich erstaunlich. Fast ohne zu Zögern würdet ihr euer Leben opfern, um Willar zu retten. Aber Sions Herrscher demütig um Vergebung zu bitten, dazu seid ihr bestenfalls unter großem Widerwillen bereit. Ihr wertet euren Stolz wirklich höher als euer Leben." Sein Blick streifte kurz den Wassertrog. "Manches kann euch wohl tatsächlich niemals geschehen." Ilkonys war sein Seitenblick nicht entgangen. Zögernd sah er Nymardos an. "Habt ihr Shannars Geist berührt, Herr? Wißt ihr, was hier wirklich geschehen ist?" "Er ist viel zu verängstigt und verletzt, als daß eine solche Berührung tief möglich wäre," erwiderte der. "Aber es genügt, ihn anzusehen, um zu ahnen, was er erlitt." Nodhers Erbe überlegte lange, ehe er sich an Tibra wandte: "Euer Sohn ist genug bestraft. Ihr könnt ihn in Freiheit mit euch nehmen." Tibra legte sich auf den Rücken. Sein Gesicht wurde ausdruckslos. "Ich laste euch Shannars Schicksal nicht an," sagte er ruhig. "Mein Sohn war ein zweijähriger Knabe voll Lebenslust, als ich ihn zuletzt sah. Der Bursche dort hat mit ihm nichts gemein. Ich will ihn nicht. Er gehört euch." "Ich wollte euch nur meine Dankbarkeit zeigen," brummte Ilkonys, leicht gekränkt. "Ich tue nichts für euch," lächelte Tibra.
Nodhers Erbe sagte nichts mehr, doch er dachte daran, daß hier sehr viel für ihn geschah. Er sah das Wirken purer Kraft, er schaute grenzenloses Leiden. Was er auf dieser Reise erfuhr, konnte er sicher nicht mehr vergessen. Auf alle Fälle würde er niemals leichtfertig einen Menschen auf diese Insel verbannen, dessen war er sich sehr bewußt.
U
nter Thorins Leitung war eine Winde am Schacht befestigt worden, die eine hölzerne Plattform hielt. Tibra besah sich die Konstruktion und lachte dann Gerrys an. "Was meinst du? Trägt es uns? Zwölf Knoten bedeuten eine gewaltige Tiefe."
"Die Winde kann sprach Thorin rasch.
mehr als zehn Männer tragen," ver-
Gerrys kletterte bereits auf die Plattform. Tibra folgte ihm und verlangte, daß man sie genau zehn Knoten tief hinablasse. Langsam sank das Holz in die Tiefe. Gerrys Lebender Kristall verströmte Licht. Tibra stieß einen überraschten Pfiff aus. Die Felswand um sie zeigte sich glatt und ohne jeden Riß. Schließlich schwebten sie in der Tiefe. Tibra griff nach der Maßschnur, nickte dann befriedigt. Sie waren zehn Knoten tief. Er zog das Opalsiegel aus dem Wams. Dieser geschliffene Amethyst mit eingraviertem Siebenstern, Amarras Siegel, besaß in dessen Mitte einen eingelassenen, kleinen Buntopal. Gerrys schüttelte zweifelnd den Kopf. Mit Hilfe seines Kristalls und dieses Schmuckstücks sprengte Tibra einst in Sarai ein hölzernes, schweres Festungstor. Doch hier waren sie von glattem Stein umgeben. "Das wird nicht gehen," zweifelte er. Tibra musterte seinen Kristall.
"Der geringste Zweifel verhindert jedes größere magische Wirken," warnte er. "Kraft ist immer vollkommener Natur. Schau den Kristall an. Er pulsiert in seinem Leuchten wie damals und er besitzt wieder diese rötliche Färbung. Ich habe den Eindruck, als habe die Kraft, die du Raaki nennst, diesen Berg verschlossen. Und diese Kraft wird ihn jetzt auch wieder öffnen. Komm' schon, Freund, konzentriere dich. Rufe die Fülle des Lichtes in den Kristall. Wenn du bereit bist, gib sie mir." Gerrys lächelte sacht. Er war Raakis erster Falle und brauchte nicht den Freundes Belehrung, um die Kraft seines Gottes zu wissen. Wenn er überhaupt zweifelte, dann an der Auswirkung magischen Handelns. Doch die Existenz dieses Schachtes strafte jeden Zweifel Lügen. Das Licht im Kristall pulsierte. Es verströmte, zog sich zurück, um gleich danach etwas weiter auszudehnen. Gerrys mußte mehr tun. Tibra erwartete einen gebündelten Lichtstrahl, gewoben aus Kraft. Und Raakis Kraft ließ sich nicht beherrschen, nicht lenken. Der Falla richtete sich auf seinen Gott aus. So wenig, wie er vor Jahren in Sarai diese Kraft lenkte, so wenig konnte er es jetzt tun. Er konnte sich nur der Kraft ergeben und diese strömen lassen. Mehr war aber auch nicht nötig. Der Kristall flammte hell auf. Er schleuderte seine Fülle gegen den Opal, die von dort umgelenkt wurde und gleich einer feurigen Kraft gegen den Fels anrannte. Die Schwachtwand bekam Risse. "Der Rest ist eine Sache für normale Werkzeuge," meinte Tibra schwer atmend. Gerrys zog bereits kräftig an der Signalleine. Sie wurde wieder nach oben gezogen. Als Thorin hörte, daß der Zugang zum zehnten Stollen vorbereitet sei, befahl er die kräftigsten der Gefangenen auf die Plattform. Nach einiger Zeit
konnten sie das erste Stützholz hinablassen. Die Männer befanden sich im Berg und gruben sich vorwärts.
T
ibra blieb nicht beim Schacht. Während die Freunde angespannt warteten, ob der alte Stollen endlich gefunden sei, begab er sich in das Haus des Kustos. Er hob Ulander vom Boden hoch, schleppte ihn in den Wohnraum und drückte ihn in einen der Sessel. "Zeit für die Wahrheit," entschied er, während er den Knebel des Soldaten löste, ihm aber die Fessel auch weiterhin nicht ersparte. "Ich habe nicht viel Achtung vor einem Mann, der eine Mine beherrscht und Leute wie Makaras wirken läßt. Aber ich verachte Männer, die wie Makaras handeln. Und jetzt will ich wissen, was Willar geschah." "Wer seid ihr?" würgte sich Ulander ab. Tibra schenkte einen Becher voll Saft, setzte ihn an die Lippen des Kustos und ließ ihn erst einmal trinken. "Ich bin Amarras Arm," erklärte er dabei grinsend, "gekommen, um Willar zu befreien. Ich hoffe für euch, er ist in besserer Verfassung als Shannar." "Er ist tot. Die Mine ist eingestürzt." "Wir sind gerade im Begriff, den zehnten Stollen freizulegen," offenbarte der Magier, während er sich gelassen auf den Tisch setzte und Ulander voll ansah. "Ihr lügt," wehrte der ab. "So schnell kommt man nicht hinab." "Hört zu," meinte Tibra fast gemütlich, "ich habe weder Zeit noch Lust, um mich lange aufzuhalten. In ein paar
Stunden ist Willar aus dem Berg und dann verschwinde ich von hier. Die Frage ist jetzt nur noch, ob ihr das erleben werdet. Also sagt mir, was habt ihr ihm angetan?" "Ich schickte ihn in die Mine, wo er nach dem Gesetz hingehört," fauchte Ulander. "Und zuvor zu Makaras?" Der Kustos spannte sich an, dann stieß er resigniert den Atem aus. "Ich gab Makaras den Befehl, Willar in die Mine zu schaffen," gab er leise zu. "Ich wußte nicht, daß mein Mann ihn zuerst für sich behielt. Thorin hat es mir später erzählt. Aber Thorin sagte auch, daß Makaras ihn nicht vergewaltigen konnte, weil er ihm Willar zu früh entriß." "Das scheint euch zu beruhigen." "Ich mochte diesen Gefangenen," gab Ulander unruhig zu, "mehr, als es für mein Amt gut ist. Er spielte den ergebenen Geliebten, um vor jeder Nachstellung sicher zu sein. Es hat uns manches Mal sogar Spaß gemacht." "Spaß? Habt ihr euch zusammen über dieses Spiel amüsiert? Hat Willar auf dieser Insel je fröhlich gelacht?" wollte Tibra nachdenklich und zugleich mißtrauisch wissen. "Nein, dazu war er zu ernst, zu scheu, zu vorsichtig und wohl auch zu sehr von Shannar verunsichert. Außerdem, ich sagte es euch schon, war unsere Beziehung etwas, hhm, außergewöhnlich. Ich wollte ihn nicht zu nahe an mich heranlassen und ihn auch nicht in einer falschen Sicherheit wiegen. Ich stieß ihn zurück, wenn er seinen Stand vergaß. Und ich warb um ihn, wenn er ihn zu sehr bedachte." "Also habt ihr mit ihm gespielt und nicht vor den anderen."
"Ihr mißversteht dies," murmelte Ulander düster. "Ich hatte ihn gern. Aber ich hatte auch Angst davor, ihn zu lieben." "Und warum dann die Mine?" Ulander schloß, von Schmerz überwältigt, kurz die Augen. "Ich hatte einen kleinen Sohn," erzählte er dann. "Ich kam nur auf die Insel, um danach besser für Ylmir sorgen zu können. Willar hat seine Mutter getötet und auch seinen Tod verschuldet. Ich wußte es nicht und als ich es erfuhr, geriet ich in Zorn. Mehr gibt es nicht zu sagen. Warum interessiert ihr euch so sehr für ihn?" "Er ist ein netter Kerl," erwiderte Tibra leichthin, als sei damit alles gesagt. "Das ist er," nickte Ulander. Tibra sprang vom Tisch. Er trat zum Fenster und sah zum Schacht hinüber, wo hektisch gearbeitet wurde. Er grübelte. Schließlich zog er den Dolch vom Gürtel, ging zu Ulander und zerschnitt dessen Fußfessel. Der Mann starrte ihn an. "Ihr könnt mich ebenso gut hier töten," sagte er ruhig. "Meine Leute werden nicht zusehen, wie ihr mich wegbringt." "Der Tod schreckt euch nicht sehr," stellte Tibra grinsend fest. "Ein Kustos, der seine Mine verliert, muß ihn in Kauf nehmen." Tibra zerschnitt nun den Strick, der Ulanders Hände fesselte und steckte danach den Dolch wieder ein. "Die Mine ist nicht ganz verloren," versprach er. "Thorin ist
ein umsichtiger, kluger Mann, dessen Kooperationsbereitschaft sie erhielt. Ich töte euch, wenn Willar dies wünscht. Euch geschieht nur das, was er will. Aber vielleicht irre ich mich in euch und wenn dem so ist, begehe ich lieber jetzt als später einen Fehler. Denn, bei allen Göttern, wenn ihr euch nicht in allem fügt, so weiß ich euch zu zwingen." "Und was erwartet ihr?" "Nicht viel. Stellt Vollmachten aus, damit Thorin, sollte euch etwas geschehen, die Mine leiten kann und Makaras keine Macht besitzt. Ihr könnt essen, trinken, was immer ihr wollt. Aber verlaßt das Haus nicht und wenn einer meiner Gefährten kommt, geht in den Schlafraum und rührt euch nicht." "Ich könnte fliehen," warnte Ulander. Tibra lachte leise. "Tut das," schlug er grinsend vor. "Aber schaut zuvor aus dem Fenster, Mann. Ich habe euch einen Schacht gegraben, wie ihr ihn in einem Jahr nicht schaffen könnt. Ich werde immer leichter einen Mann als einen Berg besiegen." Ulander ging wirklich zum Fenster. Er traute seinen Augen nicht, als er das Arbeiten dort sah und begriff, wie tief der Schacht sein mußte. "Mir geschieht nur, was Willar will?" vergewisserte er sich nachdenklich. Tibra nickte nachdrücklich. Der Kustos dachte an die wenigen, wirklich vertrauten Stunden mit Willar, an so manche echte zärtliche Geste, an offene Worte und freundliche Blicke. Aber er dachte auch seinen Zorn, mit dem er Willar in die Mine befahl. Daß dieser Gefangene sein Schicksal entscheiden solle, erschien ihm irgendwie sehr gerecht. Er
trat zur Schreibplatte. "Ich schreibe die Vollmacht für Thorin," sagte er entschlossen, "und warte, ob ihr Willar wirklich retten könnt." Tibra ging hinaus. Es mochte mehr als nur leichtsinnig sein, was er hier entschied. Doch sein Gefühl täuschte ihn selten und er fühlte sehr deutlich, daß Ulander nicht mit selbem Maß gemessen werden sollte wie Makaras.
D
ie Winde brachte einen der Gefangenen nach oben. Ein Stein war ins Rutschen gekommen und hatte ihn verletzt. Im Stollen konnte er jetzt nicht mehr helfen. Aber er brachte auch eine gute Nachricht: "Wir sind durch." Ilkonys saß bisher angespannt am Schachtrand und hoffte verzweifelt, die Männer würden endlich zu Willar vordringen. Bisher hatten sie einen Leichnam geborgen. Je länger er wartete, desto sicherer wurde er trotzdem, daß Tibra sich nicht irrte und Willar wirklich noch lebte. Jetzt sprang er auf und kletterte auf die Plattform. "Ich will runter," verlangte er. Nymardos ging zu ihm. "Willar ist vielleicht verletzt und braucht Hilfe," erklärte er Gerrys sein Handeln. Der Falla legte die Hand um seinen Kristall. Ein wenig fürchtete er nun, der Berg könne die Freunde verschlingen. Doch er sagte nichts gegen ihren Abstieg. Langsam senkte sich die Plattform. Zehn Knoten tief zeigte sich ein kleines Loch in der Schachtwand, durch das man sich regelrecht zwängen mußte. Doch dahinter hatten die Leute schon einen halbhohen
Gang angelegt. Das Material, das sie aus dem Berg schafften, warfen sie einfach den Schacht hinunter. Der Lebende Kristall des Pala des Than leuchtete den Gang voll aus. Sein weiches Licht erschreckte die Arbeiter, die ängstlich vor ihm zurück wichen. Er mußte sie mit harten Worten dazu zwingen, weiteres Gestein beiseite zu schaffen. Sie fanden zwei erschlagene Leiber. Ilkonys stieß einen erstickten Laut aus. Sein Blick fand Willar. Der jüngere Bruder lehnte am Stollenrand. Er schien leblos. In seinem Schoß lag ein älterer Mann, dessen weit geöffnete Augen kein Leben mehr besaßen. Der Tote hielt starr Willars Hände umklammert. Es war unmöglich, die beiden voneinander zu lösen. Willar reagierte nicht auf die Worte seines Bruders. Er reagierte auch nicht, als Nymardos die Finger des Toten brach und so gewaltsam die Umklammerung löste. "Er ist unverletzt," beruhigte Nymardos dann Nodhers Erben. "Aber er sieht mich nicht," stammelte Ilkonys, der beruhigend und verzweifelt zugleich Willars Haare und Gesicht streichelte. Der Blick des Jüngeren flackerte. "Seid ohne Sorge," mahnte Nymardos, "das wird bald ändern." Er wollte Willar anheben, doch Ilkonys schob ihn beiseite. Er selbst trug den Bruder in gebückter Haltung durch den niederen Stollen, ließ erst Hilfe zu, als ein Gehen unmöglich wurde. Bald hockte er auf der Plattform und hielt den Bruder fest im Arm.
Nymardos blieb noch kurz im Stollen. Er zeigte den Arbeitern, wo sie versuchen sollten, schräg nach oben zu graben, um Stollen neun zu erreichen. Noch gab es Hoffnung auf weitere Überlebende. Als er auf die Plattform kletterte, zog Ilkonys an der Signalschnur. Die Winde holte sie nach oben. Sorgsam betteten sie Willar auf eine Decke, unweit des Schachtes, der in die Tiefe führte. Die Wächter der Mine jubelten, als der erste lebende Gefangene geborgen wurde. Und die Arbeiter hatten zum ersten Mal kurz den Eindruck, als sei ihre Existenz doch nicht so unwert, wie sie bisher glaubten. Es war immerhin einer der ihren, für den dies alles unternommen wurde. Willar atmete nur flach. Er hielt die Augen geschlossen. Nach Tagen der Dunkelheit schmerzte das Licht. Er sah entsetzlich aus. Zerkratzt, verschmutzt, schweißgetrocknet wirkte er völlig verwahrlost. Das kurze, wirre Haar und der wilde Bartwuchs unterstrichen dieses Bild. Ilkonys setzte ihm sorgsam einen Becher an den Mund. Willar nahm gierig das Wasser in sich auf. Seine Augenlider zuckten. "Ulander." Er sprach den Namen mühsam, abgehackt, stockend aus. Der junge Mann befand sich am Ende seiner Kraft. Nymardos neigte sich über ihn, legte die Hände an seine Schläfen. Es würde ihm leicht fallen, Willar hier zu helfen. Ilkonys starrte mit düsterem Blick auf den Bruder. Die Freude über seine Rettung drang noch nicht durch in ihm. Er sah ihn nur an und ahnte, wie schrecklich die Tage im Berg gewesen sein mußten. Willar sprach den Namen des Kustos aus. Wie sehr mußte er diesen Mann hassen. "Dafür bezahlt er," schwor Ilkonys grimmig.
Er sprang auf und lief zum Haus, unterwegs den Degen ziehend. "Bleibt stehen!" rief Tibra, doch Nodhers Erbe eilte weiter. Fluchend rannte ihm der Magier nach. Ulander sah vom Fenster aus, wie Willar geborgen wurde. Er atmete auf. Drei Tage fürchtete er um Willars Leben und nun empfand er tiefe Erleichterung, da der junge Gefangene dem Berg entkam. Dann sah er den bewaffneten Fremden mit dem offenen Haar kommen. Rasch begab er sich in die Schlafkammer. Ilkonys trat mit dem Fuß die Tür auf. Der Kustos stand an der gegenüberliegenden Wand, leicht geduckt und durchaus bereit, sich zu wehren. Nodhers Erbe packte den Degen fester. Dann stieß er zu. Ulander warf sich im letzten Moment zur Seite. Doch er stolperte über den am Boden hockenden Makaras und stürzte. Ilkonys hob die Waffe erneut. Da war Tibra heran. Er trat Ilkonys kraftvoll in die Kniekehlen. Der Prinz knickte ein, fuhr herum. Tibra grinste, obwohl Ilkonys den Degen noch immer stoßbereit hielt. "Ihr habt ihn befreit," fauchte Nodhers Erbe. "Ich habe ihn nur losgebunden und das ist doch ein erheblicher Unterschied," meinte der Magier fast fröhlich. "Ich habe es ihm und euch gesagt: Willar entscheidet sein Schicksal." Ilkonys ließ langsam den Degen sinken, steckte ihn schließlich in die Scheide zurück. "Dann wird er noch bedauern, daß ihr mich gehindert habt," brummte er. "Dieser Mann wird sich den schnellen Tod
noch ersehnen." Er ging zurück zum Bruder. Tibra warf Ulander nur einen kurzen Blick zu, ehe er dem Prinzen folgte. Nymardos stützte Willar, der zwar saß, aber zu schwach war, sich selbst zu halten. Ilkonys kniete zu ihm, griff etwas zaghaft nach seinen Händen. "Ihr hier?" Willars Stimme stockte noch. "Ich habe..." "Sei still," bat Ilkonys sanft, "du mußt jetzt nicht reden. Du mußt dich zuerst ausruhen und essen und schlafen." Er half dem Bruder auf, doch Willar brauchte seine und Nymardos' Stütze, um zu Thorins Haus zu gelangen, wohin der Pala des Than den Schritt lenkte. Kaum, daß sie ihn niederbetteten, schlief er auch schon ein. Ilkonys wachte an seiner Seite. Nymardos verließ das Lager. Gerrys sah ihm lächelnd nach. Er wußte, daß der Freund versuchen würde, Seymas zu erreichen. Er selbst begab sich zu Thorin, den er bei seinen Anordnungen beriet.
D
ie Nebel sanken langsam. Tibra hatte wieder Ulander aufgesucht und befragte ihn nun sehr eingehend nach Makaras. Sehr rasch wurde ihm klar, daß Makaras, schon im fünften Jahr auf der Insel, für die diensthabenden Wächter eine Autoritätsperson darstellte. Ulander mochte Thorin alle Vollmachten erteilen, im Zweifelsfall würden die Männer auf Makaras hören. "Legt euch schlafen," forderte er den Kustos endlich auf. "Willar wird nicht vor dem Morgen erwachen." Er zerschnitt die Fußfessel Makaras'. "Heute Nacht gehört euer Haus euch," fügte er grinsend hinzu und nahm den gefessel-
ten Mann mit sich.
S
eymas weilte schon seit Tagen im Tempel. Er rief die beiden Herrscher nicht zu sich, ließ sie jedoch wissen, daß er sie sofort empfangen würde, wenn sie bereit seien, auch miteinander zu reden. Ariston wie auch Thylenon gaben hierin nicht nach. Sie empfingen Nachricht über jeden Grenzübergriff, erfuhren von den kleineren Schlachten und Gefechten, dem Blut und dem Sterben dort. Doch auch dies stimmte sie nicht um. Als Seymas den geistigen Ruf Nymardos' verspürte, schickte er mit fröhlichem Lachen Thyrian und Caryll, die eben bei ihm weilten, hinaus. Erst dann öffnete er sich. "Wir haben Willar gefunden. Er ist unversehrt, nur geschwächt. Morgen treten wir die Rückreise an." "Das ist eine gute Nachricht," freute sich der Than. Nymardos ließ ihn alles wissen, was geschah. Seymas empfing zufrieden die Gedankenbilder, stellte keinerlei Fragen. Er vermittelte dem fernen Freund danach sein Wissen um das, was an der Grenze geschah. Auch das Verhalten der Herrscher verbarg er nicht. Er schien sehr erheitert, als er Nymardos dann von Allanon berichtete. "Ich bringe die Sache jetzt zu Ende," versprach er noch, ehe die Verbindung erlosch. Er rief nach Thyrian und bat ihn, Allanon zu ihm zu senden. Der Freund musterte ihn kurz erstaunt, ging dann aber doch ohne Fragen hinaus. Allanon verließ eben Thylenons Gasthaus. Es war inzwischen spät und der diente seit dem frühen Morgen. Der junge
Priester empfand Müdigkeit. Trotzdem freute er sich, Thyrian zu sehen. "Unser Gebieter verlangt nach dir," entdeckte der. Allanon erschrak ein wenig. Der Pala des Than war ihm fast vertraut, doch den Than selbst kannte er bisher nur vom Sehen. Dankbar ließ er Thyrians Begleitung zu, der jedoch nicht mit ihm zusammen bei Seymas eintrat. Seymas duldete seinen unterwerfenden Allanon mit ausgebreiteten Armen vor ihm.
Gruß. Ruhig lag
"Steh' auf," verlangte Seymas dann doch mit sehr freundlicher Stimme. "Thyrian sagt, daß du guten Dienst leistest." Der junge Priester erhob sich auf die Knie, kreuzte die Arme vor der Brust und verharrte. Das Lob schmeichelte ihm und entdeckte zugleich das Wohlwollen seines Herrn. "Kränkt es dich, Nodhers Herrscher zu bedienen?" "Nein, Gebieter," versicherte Allanon rasch. "Er ist ein sehr freundlicher Mann, der mir auf anderem Weg sicher nie so offen begegnet wäre. Ich bin dankbar, da ich ihm hilfreich sein kann." "Und Thylenon?" Allanon senkte verunsichert den Kopf. "Nun?" drängte der Than. "Sions Herr ist weniger umgänglich und erfüllt von großem Stolz. Er erlaubt tiefe Gespräche, ist besorgt um sein Land und bemüht, es gut zu regieren."
"Regiert er es gut?" wollte Seymas sanft wissen. "Soweit ich das beurteilen kann, tut er es," erwiderte Allanon zögernd. "Nicht er, sondern ein Pecha verurteilte Aristons Sohn. Ich verstehe nicht, weshalb er deshalb gekränkt wurde, doch ich kann akzeptieren, daß er das nicht hinnehmen will. Er achtet Nodhers Herrn. Ein bittendes Wort hätte dem Prinzen sicher Gnade beschert." "Nun," lächelte Seymas vergnügt, "Nodhers Erbe handelt meistens, ehe er denkt." Allanon hob zögernd den Kopf. "So ist er ein Schaden für sein Land, Gebieter?" "Das gewiß nicht," versprach der Than ruhig. "Er ist tapfer, aufrichtig, edelmütig und treu. Meistens ist er sogar sehr nachsichtig. Man darf ihn eben nur nicht ärgern." Er lachte fröhlich. "Und man muß wissen, daß der Zorn von Nodhers Herren immer sehr schnell verfliegt. Was man von Thylenon nicht sagen kann." "Die beiden Könige achten einander," murmelte Allanon überlegend. "Es gäbe keinen Krieg, wenn sie nur miteinander reden wollten." "Dafür wirst du Sorge tragen." "Verzeiht mir, Gebieter," antwortete Allanon rasch, "ich habe es bereits versucht und nichts erreicht. Hierin hören sie beide nicht." Seymas setzte sich in einen Sessel. Er schob sich eine Sajik-Beere in den Mund, überlegte kurz und lachte dann leise auf.
"Ich sagte dir ja, daß Nodhers Herren rasch zum Zorn neigen. Das trifft auch auf Ariston zu. Fordere seinen Zorn heraus." "Herr?" Allanon wagte es nicht, nach dem Sinn dieses Befehls zu fragen. Alles in ihm sträubte sich dagegen. Aber Seymas lachte ihn fröhlich an. "Wie weit darf ich gehen?" "Soweit als nötig. Ich will, daß er richtig wütend auf dich ist." Allanon senkte ergeben das Haupt. Der Gedanke gefiel ihm gar nicht. Doch gegen ein Wort des Than gab es keinen Einwand. Als Seymas ihn nun entließ, ging er mit hängenden Schultern hinaus.
I
n dieser Nacht schlief der junge Priester nur wenig. Grübelnd überlegte er, wie er Ariston beleidigen sollte. Was immer ihm einfiel, erschien ihm gekünstelt und leicht durchschaubar. Er brachte das Frühmahl zu Nodhers Herrn. "Du siehst übermüdet aus," stellte Ariston nach kurzem Gruß fest. "Ich sagte dir doch, daß du so früh nicht kommen mußt, wenn Sion dich in der Nacht lange festhielt." Allanon schenkte seinen Becher voll. Ariston war ein ehrlicher Mann, den er nicht täuschen wollte. Aber vielleicht erregte er sich auch über die Wahrheit? "Nicht Sion belastet mich," gab er mit ruhiger Stimme zu. "Es ist mehr die Sturheit, die Sion und ihr hegt. Sie hält mich schon zu lange von den Ritualen fern." "Du bist Chela," erwiderte Ariston halb amüsiert. "Lauschst du etwa vor den Toren der heiligen Hallen?"
"Ich bin Liaras Mann," schimpfte Allanon in gespieltem Eifer. "Ihr seid Raakis Priester und erkennt dies nicht? Verliert ein Herrscher stets die Nähe der Götter?" Ohne es zu wissen traf er Ariston wirklich an einer empfindsamen Stelle. Nodhers Herrscher mußte sich seine Weihen hart erkämpfen, da er nicht, wie alle anderen Könige, als Tempelkind geboren wurde. Und er achtete stets sorgsam darauf, daß er sich diesen Ebenen nie wieder entfernte. "Du redest Unsinn," meinte er, trotzdem noch gelassen. "Aber es tut mir leid, wenn ein Versagen dich zu Leibdienst zwingt, der dir ja allem Anschein nach mißfällt." Allanon ballte unmerklich eine Hand zur Faust. Er wollte nicht mit Ariston streiten, doch er war zu Gehorsam verpflichtet. Wütend fegte er mit einer einzigen Bewegung das gesamte Mahl vom Tisch. "Hier ist nur ein Versager und der seid ihr." Ariston sprang auf. Der Bursche beleidigte ihn aufs Gröbste. Er hieb ihm impulsiv die Faust ins Gesicht, packte ihn am Kragen und schleuderte ihn machtvoll durch die Tür. "Aus meinen Augen, Mann," rief er laut. Thyrian kam schon gelaufen. Auf seinen Wink hin warf sich Allanon nieder, doch galt dieser Gruß dem Pala des Than und nicht Nodhers Herrn. Thyrian neigte nur kurz grüßend das Haupt, ehe er versprach: "Der Mann wird Amarra verlassen und in keinem Tempel geduldet sein, da er einen Gast unseres Gebieters kränkte." Er hob leicht die Hand. Allanon verstand das Zeichen. Er erhob sich.
"Das ist nicht gerecht," wehrte er sich. "Es ist zu gütig," fauchte Ariston, noch sehr erbost. "Wenn ihr dieser Meinung seid," bemerkte Thyrian mit feinem Lächeln, während er Allanon andeutete, zum Tempel zu gehen, "wird das Urteil härter ausfallen." Ein Priester erwartete Allanon am inneren Tempeltor und führte ihn mit sich. Bald war der junge Mann allein. Verunsichert sah er sich um. Man führte ihn in die große Empfangshalle, in welcher der Than bei offiziellen Gelegenheiten thronte. Der helle Raum aus weißem Stein besaß keinen Schmuck. Schmale Steinbänke befanden sich an den Wänden, mehrere Säulen trugen die Decke. Vorn stand, durch drei Stufen erhöht, der Thron des mächtigsten Mannes der Reiche. Allanon erschrank Seitentür eintrat.
sehr,
als
Seymas
durch
eine kleine
"Bleib stehen," rief der junge Than fröhlich. "Du hast deine Sache gut gemacht. Ariston ist zornig. Aber das legt sich schnell und dann wird er für dich bitten wollen. Und er weiß, daß ich ihn nur empfange, wenn er bereit ist, zugleich mit Thylenon zu sprechen." "Wird aber auch Sions Herr dazu bereit sein?" erkundigte sich Allanon vorsichtig. "Er wird darauf bestehen," versprach Seymas lächelnd. "Wenn sie kommen, wirf dich nieder, zittere ein wenig und fürchte mich." Allanon senkte den Kopf. Ihm widerstrebte diese Täuschung sehr. Seymas lachte nur, als er diese Gedanken erspürte.
C
aryll, der schon zu Zeiten Nymardos' den Titel des Pala des Than trug, brachte einen jungen Burschen in Kinderkleidung zu Thylenon und stellte ihn als neuen Leibdiener vor. Sions Herr sah den Jungen mißmutig an. "Wo ist Allanon?" wollte er dann wissen. "Er hat mir gut gedient und es gibt keinen Grund, ihn des Dienstes zu entheben." "Den gibt es wohl," widersprach Caryll sanft. "Er hat Nodhers Herrscher beleidigt und wird dafür die schlimmsten Strafen empfangen. Amarra bedauert, euch einen Unwürdigen gesandt zu haben." "Unwürdig?" Thylenon empfand tiefe Sorge. "Nodher ist zu leicht zu kränken. Es kann kein ernstes Vergehen sein, das Allanon beging." "Ariston ist anderer Ansicht, da er mit einer Verbannung nicht zufrieden sein will," entdeckte Caryll ruhig. "Dann erlaubt, daß ich mit ihm rede," verlangte Thylenon knapp. Caryll lächelte unmerklich. "Wenn dies euer Wunsch ist, begebt euch zur Empfangshalle, wo soeben das Urteil über Allanon von unserem Gebieter gesprochen wird. Der Than ist sicher bemüht, Nodher zufrieden zu stellen." Thylenon schob den Pala des Than einfach beiseite und eilte aus dem Haus, dem Tempel zu.
A
riston sah, daß Allanon am Tor empfangen wurde und glaubte zu ahnen, daß eine mehr als empfindliche Strafe auf den jungen Priester wartete. Finster starrte er Thyrian
an. "Was wird aus ihm?" wollte er wissen. Der Mann aus Sarai zuckte nur mit den Schultern. "Ich hinterfrage meinen Herrn nicht," versprach er. "Da euch eine Verbannung nicht genügt, werden Allanon wohl auch die Weihen gesperrt. Es kann durchaus sein, daß auch sein Leben in Gefahr ist." "Das wäre zu hart," murmelte der Herrscher, dessen Zorn bereits entschwand. "Womöglich bedauert er seine unbedachten Worte bereits. Mir würde seine Entschuldigung durchaus genügen." "Ihr seid großmütig," stellte Thyrian fest. "Doch hier geht es um Amarras Recht." "Dann erlaubt, daß ich mit unserem Gebieter rede," bat Ariston. Thyrian lächelte sanft. "Ihr wißt, welche Bedingung an eine Begegnung mit ihm geknüpft ist," erinnerte er den König. "Ich weiß es. Und ich akzeptiere." Da deutete Thyrian einladend zum Tempel, dem Ariston sofort zustrebte. Mit finsterem Blick starrte er dann Thylenon an, dem er vor dem Tor zur Empfangshalle begegnete. Sasaran, ein Priester aus dem näheren Umfeld des Than, öffnete sofort das breite Tor und verhinderte so, daß sie sich im Freien unterhalten konnten.
Die beiden Herrscher traten ein. Seymas thronte entfernt. Vor ihm lag Allanon auf dem Boden, das Gesicht nach unten, die Arme weit ausgebreitet. Der Than sprach von der Bedeutung des Gastrechtes, unterbrach sich bei ihrem Eintreten aber sofort. Sie kamen zu ihm. Mit einer Handbewegung verhinderte er ihre völlige Unterwerfung. "Es wäre unpassend, wollten sich Herrscher auf die Stufe eines verklagten Priesters begeben," meinte er leichthin. So knieten sie mit überkreuzten Armen rechts und links von Allanon. Seymas lehnte sich im unbequemen Thron zurück. Die Sache war ernst, er wußte es. Doch er war nie bereit, sich durch Gegebenheiten die Stimmung zu verderben. Seine hellen Augen leuchteten voll Heiterkeit. "Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie leicht ein Herrscher in Zorn geraten kann," meinte er fröhlich. "Ein Zorn, den ich schon bedauere," versprach Ariston rasch, obwohl er noch nicht zum Reden aufgefordert wurde. "Ich bin bereit, für Allanon zu bürgen," versicherte Thylenon mit ernster Stimme. "Er mag sich falsch verhalten haben, doch ganz sicher wohnt in ihm ein ehrenhafter Geist." Seymas grinste. "Der wohnt bestimmt in jedem Erben der Macht." Die beiden Herrscher starrten erst ihn, dann Allanon an. Der Than lachte leise. Sein Blick ruhte jetzt allein auf Thylenon. Sions Herrscher zweifelte noch. Dann dachte er an seine vielen ernsthaften Gespräche mit Allanon, in denen sie sich so leicht verstanden. Und er dachte daran, daß er, ehe er Amarra vor zweiundzwanzig Jahren verließ, der Sitte gemäß hier in Trance seinen Erben zeugte. Er kannte seinen Sohn nicht. Aber dem Alter nach konnte durchaus Allanon
sein Erbe sein. Fragend hob Thylenon den Kopf. "Allanon weiß, daß er Sions Erbe ist," entdeckte Seymas ruhig. Thylenon legte die Hände auf die Schultern des liegenden Mannes. Es war eine beschirmende Geste. Zugleich sah er Ariston an. "Dann bitte ich um Vergebung, wenn mein Erbe fehlte," sagte er mit fester Stimme. "Du kannst nicht um Vergebung bitten für ein Versagen," mischte sich Seymas lächelnd ein, "das du anderen nicht verzeihen willst." "Mein Erbe hat an euch gefehlt," murmelte Ariston. "Ich glaubte, ihm die Treue zu halten, wenn ich seinen Zorn nicht entschuldige. Wir sollten miteinander reden, Thylenon." "Das sollten wir," gab der zu, hielt dabei jedoch weiterhin Allanon fest. Seymas erhob sich. Er trat auf Allanon zu, hob ihn auf und schickte ihn mit einer Handbewegung hinaus. "Was wird aus ihm?" fragte Thylenon bang. "Verzeiht ihm bitte," fügte Ariston hinzu. Der junge Than lachte vergnügt. "Hier ist Amarra," versprach er. "Amarra liefert seine Freunde niemals dem Zorn anderer aus. Zur nächsten Lichtgleiche wird Allanon nach Sion kommen, um dort mit seinem Vater zu herrschen. Es liegt jetzt allein an euch beiden, ob die großen Reiche dann noch unversehrt sind."
Er folgte Allanon aus der Halle und ließ die beiden Herrscher allein, die einige Zeit brauchten, ehe sie sich von den Knien erhoben. Ein Gespräch zwischen ihnen kam nur stockend zustande. Erst, als Ariston Sions Herrscher nach draußen führte und sie gemeinsam durch die blühenden Gärten gingen, fiel das Reden leichter. Viele besorgte Blicke folgten ihnen. Die Menschen hier wußten, daß jetzt über Krieg und Frieden entschieden wurde. Ariston und Thylenon lagerten sich zusammen in einem Meer von Blüten nieder. Ihr Gespräch hatte jeden lauernden Charakter verloren. Sie besprachen die Situation an der Grenze und beschlossen beide, dorthin zu reiten und jede Aggression selbst zu beenden. Erst jetzt sprach Ariston von Willar. Er tat dies sehr vorsichtig, doch auch ungemein besorgt. "Ich bezweifle die Schuld meines Sohnes," sagte er leise. "Sollte er wirklich getan haben, wessen er beschuldigt ist, könnte er nicht länger mein Sohn sein. Ich bitte euch sehr, überprüft die Sache." "Das werde ich," versprach Thylenon. "Aber wenn er schuldig ist, dann könnt ihr nichts weiter für ihn erhoffen als einen schnellen Tod. Die Insel der Läuterung kann ich ihm ersparen, mehr aber nicht für ihn tun." "Das ist mehr, als ich in diesem Fall erhoffe," erwiderte Ariston ruhig. "Auch mein Erbe wird sich damit zufrieden geben. Für seine unbedachte Botschaft wird er sich bei euch entschuldigen."
A
llanon war froh, als Seymas ihn aus seiner Nähe entließ. Die List des Than erweckte fast seine Heiterkeit. Erfreut vernahm er die Erlaubnis, bei den Herrschern verweilen zu dürfen, bis Schiffe sie in die Heimat bringen
konnten. Nun trug er ein Tablett zu ihnen, auf dem sich Becher und ein gefüllter Krug befanden. Der süße Wein Amarras mundete ihnen. Allanon entschuldige sich mit wohl gesetzten Worten für sein Betragen. Noch lag die Sperre um seinen Geist und die List war in ihm nicht zu erkennen. Ariston reichte ihm die Hand. Wenig später ließ er Thylenon und Allanon allein. In Gedanken versunken ging er durch die Gärten. Er hatte das Glück gehabt, seinen Erben selbst aufziehen zu dürfen. Sions Herrscher begegnete dem Sohn erst heute. Er sollte ihm ungestört nahen können. Am Abend wurden sie noch einmal zu Seymas gerufen. Er empfing sie nun nicht in der Halle, sondern zu ihrem Erstaunen in seinen privaten Räumen. "Morgen bringen euch Schiffe in die Heimat," versprach der Than. "Was Willar betrifft, so wißt beide, daß Amarra ihn befreite. Wenn es ein Urteil über ihn zu sprechen gibt, so werde ich dies tun und niemand sonst." Ariston preßte die Lippen zusammen, Thylenon ballte unmerklich die Faust. "Gebieter, er hat Sions Recht gebrochen." "Das tat er, wenn er schuldig ist," erwiderte Seymas ruhig. "Ist er es nicht, brach Sion jedes Recht." "Er ist mein Sohn," sagte Ariston leise. "Ich überantworte ihn eurer Gerechtigkeit, Herr." Thylenon nickte dazu. Im Grunde mußte es ihm lieb sein, wenn Amarra über Willar Recht sprach. Denn wie immer das Urteil ausfallen mochte, es konnte auf diese Weise nicht zur Entzweiung der beiden größten Reiche führen.
Der Frieden, der eben erst neu geschlossen wurde, durfte nicht noch einmal in Gefahr geraten.
I
lkonys schlief nur kurze Zeit. Er erwachte sehr, sehr früh und blieb voll Sorge bei dem Bruder, dessen Schlaf immer mehr an Tiefe gewann. Die Nebel hoben sich. Willar wurde unruhig. Als er die Augen öffnete, war Ilkonys sofort bei ihm. "Sei still," verlangte er liebevoll. "Die Gefährten schlafen noch." Er griff nach der Wasserschale und dem Bartmesser. Willar hob abwehrend die Hände, doch Ilkonys ließ keine Gegenwehr zu. Er bedeutete dem Bruder, ruhig zu bleiben. Dann schabte er ihm den Bart und wusch anschließend sein Haar. Willar ließ es voll Unruhe geschehen. Er hatte Nodhers Erben zu dienen, nicht umgekehrt. Auch wenn Ilkonys ihn stets wie einen Freund und Gefährten behandelte, so änderte dies doch nichts an seinem Rang. "Jetzt siehst du wieder richtig gut aus," grinste Ilkonys, nachdem er sein Werk beendete. "Hast du Schmerzen?" "Nein, Herr," erwiderte Willar leise. "Aber ich bin sehr hungrig." Nodhers Erbe lachte. Der Bruder mußte wirklich unversehrt sein, wenn er jetzt an Nahrung denken konnte. Seine Fröhlichkeit weckte die Gefährten. Thorin sah erstaunt das glatte Gesicht des Mannes, der bisher auch sein Gefangener
war. Die Rechtlosen trugen Bärte und kurzes Haar. Willar sah nicht mehr wie ein Verbrecher aus. "Ihr erhaltet eine Bestätigung mit Amarras Siegel, die euch der Verantwortung für ihn entbindet," versprach Nymardos lächelnd. "Gebt ihn frei, Thorin." Der Soldat wußte, daß er gar keine andere Wahl hatte. Zwar ging weder von Nymardos noch von Gerrys eine Bedrohung aus, doch er wußte, daß zumindest der Magier nichts anderes dulden würde. Und welche Macht dieser Mann beherrschte, das bewies der tiefe Schacht. Thorin verlangte nach einem Frühmahl und ließ den Schmid rufen, den er anwies, Willar den Halsreif abzunehmen. Sie begannen eben das Mahl, als lautes Rufen ertönte. Einer der Wächter stürmte ins Haus. Er verneigte sich tief vor Thorin. "Herr," meldete er, "wir haben Makaras im Schacht gefunden. Er stürzte zwölf Knoten tief. Sein Körper ist völlig zertrümmert. Die Hände waren auf seinen Rücken gebunden und sein Mund geknebelt." "Er wußte wohl nicht, wie tief der Schacht ist, als er im Dunkeln über den Platz lief," grinste Tibra gelassen. Nymardos musterte ihn aufmerksam. Der Magier ertrug seinen Blick in aller Ruhe. Der Freund wußte wohl, daß er nicht unbeteiligt war an Makaras' Tod, doch Tibra störte sich nicht daran. Der Wächter ging wieder hinaus. Willar, der bisher mit Heißhunger die Speisen verschlang, schob den Teller zurück. Schmerz lag in seinen Augen. "Makaras wird dich nie wieder bedrängen," versprach Ilkonys, der keinerlei Bedauern über den Tod des Mannes
empfand. "Und auch Ulander bekommt keine Gelegenheit mehr dazu. Wenn Tibra mich nicht gehindert hätte, wäre auch er nicht mehr am Leben." Willar sah Tibra lange an. "Ihr seid stets sehr freundlich zu mir gewesen," sagte er leise. "Wißt ihr, daß Shannar hier ist?" Der Magier nickte nur. "Er hat dieses Schicksal nicht verdient, Tibra. Ihr dürft ihn nicht hier lassen, ich bitte euch." "Ich kam nur, um euch zu holen," wehrte Tibra ruhig ab. "Da ihr gekräftigt seid, können wir noch heute die Mine verlassen." Willar sah bittend den Bruder an. "Irgendwann wirst du uns erzählen, was dir alles widerfahren wist," hoffte Ilkonys. "Wenn dir so viel an Shannar liegt, dann soll er eben dein Sklave sein. Damit ist er fast belohnt." Willar lächelte wehmütig. "Darf ich mit Ulander reden?" bat er mit unsicherer Stimme. Ilkonys' Blick verfinsterte sich. "Der Kustos ist ungebunden," offenbarte er. "Sobald er in Ketten liegt, kannst du zu ihm." "Ungebunden?" vergewisserte sich Gerrys. Tibra grinste. "Er läuft nicht weg," versprach er. "Ihr wißt, wo sein Haus ist, Willar. Geht ruhig zu ihm, wenn ihr das wollt."
"Das tut er nicht!" rief Ilkonys besorgt. Willar hatte sich schon erhoben. Wie um Entschuldigung bittend sah er den Bruder an. "Ihr versteht das nicht," murmelte er, ehe er das Haus verließ. Ilkonys griff nach dem Waffengurt. Doch Gerrys hielt ihn zurück. Da Tibra so gelassen blieb, konnte Willar nicht in Gefahr sein, wenn er zum Kustos der Mine ging. So blieb Nodhers Erbe angespannt wartend in der offenen Tür des Hauses stehen und sah nur still dem Bruder nach, der bereit war, seinem Peiniger zu begegnen.
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illar stand vor der Tür zu Ulanders Haus und regte sich nicht. Er wußte einfach nicht, wie er diesem Mann begegnen sollte, begegnen durfte. Er wurde wider jedes Recht befreit. Thorins Haltung und Tibras Anwesenheit vermittelten ihm ein Gefühl der Sicherheit. Doch innere Stärke gab ihm dies nicht. Er war schon fast entschlossen, wieder zu gehen. Ulander sah ihn kommen und als Willar nun nicht bei ihm eintrat, fürchtete er wirklich, daß keine Begegnung mehr möglich sei. Er öffnete die Tür von innen. Die beiden Männer sahen sich sehr lange schweigsam an. "Ich danke den Göttern, daß du gerettet bist," sagte Ulander endlich. Die Starre wich von Willar. Er trat ein. Ulander schloß die Tür. Als er sich umdrehte, griff Willar rasch nach seinen Händen. "Was werden sie mit euch tun?" wollte er besorgt wissen. Ulander lächelte wehmütig.
"Der Anführer deiner Befreier sagt, daß du mein Urteil sprechen wirst," erwiderte er. "Ilkonys will euren Tod." "Ich weiß. Er hat schon versucht, seinen Willen durchzusetzen. Er sieht dir ähnlich." "Wir sind Brüder," gab Willar zu. "Ich habe immer auf Rettung gehofft, aber nicht erwartet, daß gerade diese Männer kommen werden. Ich bin sehr verwirrt." "Und wer sind die Leute?" Willar beantwortete diese Frage eingehend. Er schilderte Gerrys' Tempel und sein Amt, sprach von Nymardos und dessen noch immer andauernder Macht, die er so meisterhaft verbarg. Dann erzählte er von Tibra und den wenigen Stunden, die er bisher mit dem Magier verbrachte. Inzwischen saß er in einem der Sessel. Ulander setzte sich auf die Armlehne, ihm zugewandt. Willar hielt die Hand des Kustos vor seiner Brust. Sie waren sich manches Mal so nahe gewesen. Doch dann beherrschte Willar stets ein Gefühl der Vorsicht, das jede Auslieferung verhindern wollte. Jetzt kam fast Vertrautheit in ihm auf. Er erzählte von Makaras' Tod. Die Erleichterung war ihm dabei anzuspüren. Ulander sah ihn traurig an. "Ich wollte nicht, daß er dir Schmerz bereitet," versicherte er leise. "Ich war nur zu verzweifelt wegen Ylmirs Tod, um an diese Möglichkeit auch nur zu denken. Hat er dich...?" Willar schüttelte den Kopf. Stockend berichtete er von den Stunden, in denen er Makaras ausgeliefert war und von Shannars Leiden, an dem sich dieser Mann ergötzte. Impulsiv
schob Ulander den Prinzen an sich und Brust. Willar ließ streichelte, fühlte er
Arm um Willars Schultern, zog den preßte dessen Gesicht gegen die eigene es geschehen. Als Ulander sein Haar sich geliebt und geborgen.
"Tibra will abreisen," gestand Willar endlich. "Sie warten nur noch auf mich. Shannar kommt als mein Sklave mit mir." "Er gehört Nodher," warnte Ulander vorsichtig. "Sind diese Männer so stark, daß sie es wagen können, Sion und Nodher zugleich zu berauben?" "Ilkonys ist Nodhers Erbe." Ulander sprang auf und wich einen Schritt zurück. "Shannar ist hier, weil er ihn töten wollte." "Nodhers Herrscher ist dein, ist euer Vater? Das erklärt, weshalb ihr mein Urteil sprechen sollt," stieß er bitter aus. "Das hat damit nichts zu tun," versicherte Willar, während er sich zurücklehnte und Ulanders Abwehr ignorierte. "Ich glaube eher, Tibra spürt, wie dankbar ich euch bin." "Dankbar?" "Zugetan," berichtigte Willar mit schiefem Lächeln. "Aber Namao und Ylmir werden immer zwischen uns stehen. Trotzdem, ich wurde nur wegen Namao verurteilt. Vielleicht ist euer Sohn ja noch am Leben. Ich werde es erfahren und euch Nachricht senden." "Also kein Urteil?" vergewisserte sich Ulander steif. "Wofür?" erkundigte sich Willar erstaunt. "Für demonstrative Küsse, die mich vor anderen schützten? Für zärtliches Streicheln, das meine Haut statt der Peitsche berührte? Für die Nahrungsreste, die ihr mir reichlich überlas-
sen habt, um den Hunger fern zu halten? Oder für die Feder, die ich statt der Steinhacke halten mußte? Tibra hätte euch nicht losgebunden, wenn er annähme, daß ich euch hasse." "Ein Haß, den ich wohl verdienen würde," murmelte Ulander. Willar lächelte ihm zu und da entkrampfte sich der Kustos wieder. "Dieser Tibra scheint ein seltsamer Mensch zu sein. Doch eure Freunde warten auf euch. Ich darf euch nicht länger aufhalten. Wir haben etwa die gleiche Größe," meinte er. "Ihr solltet Kleidung aus meiner Truhe nehmen. Im Lendenschutz allein reitet es sich nicht sehr angenehm." Willar nahm dankbar das Angebot an. Ulander half ihm. Wenig später trug der Prinz dichte Kleidung und festes Schuhwerk. Bis auf das zu kurze Haar erinnerte nun nichts mehr an das Schicksal, das ihm drohte. Sie gingen zur Tür. Willar zögerte. "Wollt ihr auf einen Boten warten oder mit uns kommen, um zu erfahren, was aus Ylmir wurde?" erkundigte sich der Prinz. "Ich darf die Mine nicht verlassen," erwiderte Ulander. "Ich muß drei Jahre bleiben." "Als mein Gefangener hättet ihr keine Wahl," lächelte Willar nur. Ulander öffnete die Tür. Sie sahen beide, wie sich Ilkonys anspannte. Der Kustos ließ den Blick kurz schweifen. Thorins Befehle hallten über den Platz. Slak hatte alle Wichtigkeit für Ulander verloren. "Nehmt mich mit," bat er da mit leiser Stimme. Willar wandte sich ihm lächelnd zu. Des Bruders mißtrauisches Schauen ärgerte ihn. Er legte die Hand in Ulanders Nacken, zog ihn sacht zu sich. Ihre Blicke erforschten
einander. Da neigte sich Willar nach vorn und preßte die Lippen auf jene des Mannes, dem er bisher ausgeliefert war. Ilkonys sah es. Er sah auch, daß die Initiative von seinem Bruder ausging. Tief atmete er durch. Dann wandte er sich ab und schlug hinter sich laut die Tür zu. Willar lachte leise. Erst jetzt fühlte er sich wirklich befreit. "Mein Bruder ist wütend," stellte er vergnügt fest. "Er wird nicht sehr freundlich zu euch sein während der Reise. Ihr werdet erlauben müssen, daß ich euch duze." "Durchaus etwas, das ich mir schon länger gewünscht habe," versprach Ulander, der nun neben ihm über den Platz ging. Willar zeigte seine Freude. Die Angst im Berg und auch die Angst vor Makaras besaßen keine Bedeutung mehr. "Ilkonys hat Mitleid mit mir," erklärte er Ulander gelöst. "Deshalb vergißt er fast, daß er Macht über mich hat. Mal sehen, ob er es lernt, dich zu akzeptieren. Das würde ihn mir näher bringen."
I
lkonys starrte die Freunde düster an. Seine Hand lag am Griff des Degens. "Er hat ihn geküßt," stieß er verächtlich hervor. "Das ist ja direkt widerlich," spottete Tibra, neigte sich zu dem neben ihm sitzenden Falla und küßte Gerrys flüchtig auf den Mund. "Man sollte wirklich ein Gesetz erlassen, das Liebe verbietet." "Das ist Macht, nicht Liebe," fuhr ihn Nodhers Erbe an. "Euer Bruder ist frei und sicher," fauchte der Magier.
"Sollte er sich trotzdem bloßer Macht ergeben, dann nur, weil ihr in den vergangenen Monaten versäumt habt, ihn jedes Machtanspruches zu entheben. Und damit meine ich euren Machtanspruch, Prinz. Kein Wort wider ihn oder Ulander. Ansonsten reisen wir getrennt zurück." Ilkonys schwieg mit düsterem Blick, als nun Willar mit Ulander eintrat. Willar sah nur Tibra an, als er fragte: "Kann Ulander mitkommen?" "Als euer Gefangener?" "Als mein Gefährte," widersprach Willar. Der Magier trat zum Kustos der Mine, musterte ihn kurz und hielt ihm dann die Hand entgegen. Ulander ergriff sie zu festem Druck. "Eure Gesellschaft wird uns bereichern," vermutete Tibra grinsend. "Nur eines: solange Shannar, den Willar mitnehmen will, in der Nähe ist, will ich nicht, daß mein Name genannt wird." Ulander sah ihn fragend an. "Er soll nicht wissen, wer ich bin. Nun packt euer Bündel, denn wir wollen reiten." Eine Stunde später ritten sie aus Slak. Thorin sah ihnen lange nach. In der Hand hielt er die Vollmacht, die ihm die Mine übergab. Manches, das bisher hier üblich war, sollte nicht mehr möglich sein. Doch ehe er als Kustos nach Kupfer verlangte, wollte er versuchen, noch Überlebende in den verschütteten Stollen zu bergen. Shannar saß zusammengesunken im Sattel. Er gehörte Nodher und wenn Nodher ihn mit sich nahm, so entsprach dies dem Recht.
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ie rasteten am späten Abend. Ilkonys, nun des Dienstes enthoben, da seine Buße geleistet war, fand Gefallen daran, Shannar befehlend die Arbeit zuzuweisen. Der
Jüngling fürchtete ihn über die Maßen. Willar hielt sich ausschließlich zu Ulander. Es gab keinen Grund zur Scheu mehr zwischen ihnen und endlich wurden Gespräche möglich, wie sie sich bisher nicht erlaubten. Tibra gefiel dies sehr. "Was meinst du?" erkundigte er sich bei Nymardos, "Ist er schuldig?" "Ganz sicher nicht," versprach der Freund. "Er hat die Frau nicht vergewaltigt, sondern wurde von ihr verführt. Und er hat sie nicht getötet. Sie wurde im Kampf versehentlich verletzt." Mit ruhiger Stimme erzählte er, was er Willars Geist in unbemerkter Berührung entnahm. "Hast du auch Ulander so belauscht?" wollte Gerrys wissen. Der Falla besaß selbst die Fähigkeit, in den Geist eines Menschen einzudringen, doch vermochte er nicht, dies auf unbemerkte Art zu tun und so verzichtete er meist darauf. "Wenn man einen Menschen mit offenem Gemüt anhört," meinte Tibra leichthin, "dann bekommt man fast dieselben Informationen, wie ihr Priester durch Macht erbeuten könnt. Ich habe jedenfalls auch so sehr schnell gemerkt, daß der Soldat Willar nie ein Leid antat." "Ich frage mich nur, ob Ilkonys ihre Freundschaft dulden wird," überlegte Gerrys laut. "Willar ist nicht sein Sklave," grinste Tibra gemütlich. "Und er hat genug erlebt, um sein Leben jetzt selbst zu gestalten. Er kommt ohne Burg Nodher aus, wenn es sein muß." "Das würde mir gar nicht gefallen," murmelte der Falla, der in diesem Augenblick beschloß, sich etwas mehr Ulander zuzuwenden.
Sein Einfluß auf Ilkonys war ungebrochen groß. Wenn er diesen Soldaten Sions achtete, konnte Nodhers Erbe das nicht einfach ignorieren. Er wollte einfach Willar ein wenig helfen, doch im weiteren Verlauf der Reise verlor dieses Motiv rasch an Gewicht. Gerrys erkannte in Ulander einen aufrechten Mann, dessen Nähe ihn durchaus auch bereicherte.
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ie kamen an einer tiefen Schlucht vorbei. Tibra sah lange in die Tiefe. Die anderen waren schon etwas voraus geritten, jetzt warteten sie auf ihn. Der Magier entnahm die Geode dem Gürtel, die das Feuerrad gebar. Nach kurzem Zögern warf er sie in die Schlucht, die zu tief war, als daß man von oben die kleine Flamme hätte bemerken können, die entwich, als die Geode an ihrem Grund zerbrach. Tibra ritt weiter. Dann erreichten sie den Ort, an dem Tibra in der Nacht die Kraft der Insel in die Geoden zwang. Hier übernachteten sie. Am andern Morgen blieb Tibra allein zurück. Die dritte Geode pulsierte in seiner Hand. Er hatte eine gewaltige Kraft in ihr gefangen, die nach Freiheit lechzte. Mit ruhigen Bewegungen fügte der Magier, nachdem die Freunde seinem Blick entschwanden, einen Kreis aus kleineren Steinen zusammen, in dessen Mitte er die Geode gab. Er mußte seine ganze Konzentrationsfähigkeit aufwenden, um zu tun, was er tun wollte. Nymardos zügelte sein Tier und schaute zurück. Sie alle folgten mit den Augen seinem Blick. Weit entfernt sahen sie eine gelbe Lichtwolke, die gewaltige Ausmaße besaß und sich nur langsam verflüchtigte. "Hoffentlich ist der Mann in Ordnung," murmelte Ulander besorgt. Ilkonys warf ihm einen kurzen Blick zu. Tibra kümmerte sich nicht viel um Sions Mann, deshalb verwunderte dessen
Sorge. Sie warteten. Es dauerte recht lange, ehe Tibra endlich zu ihnen ritt. Der Magier wirkte bleich und erschöpft. Aber er grinste zufrieden, als er ihnen beruhigend zunickte. Ilkonys trieb sein Tier an dessen Seite. "Was habt ihr getan?" wollte er wissen. "Ich habe hier dreifache Kraft gefangen und alles, was übrig ist, nun der Insel wieder übergeben," erwiderte Tibra zufrieden. "Aber warum? Ihr hättet Unglaubliches leisten können, wenn ihr diese Kraft beherrschen würdet." Tibra lachte leise auf. "Ich habe Unglaubliches geleistet," meinte er stolz. "Wenn man sich Kraft zunutze macht, kann man manches erreichen, was sonst unmöglich sein mag. Aber solche Kraft länger als nötig zu beherrschen und damit ja auch zu unterdrücken, das schwächt. Sollte ich sie wieder brauchen, wird sie sich mir wohl leichter ergeben." "Ihr redet, als sei Kraft mit einem Geist beseelt." "Ihr redet genauso von euren Göttern," spöttelte Tibra. "Aber da gibt es Unterschiede." "Nur wenige, Prinz. Zumindest Raaki habe ich schon mehrmals mit magischer Gewalt wirken gesehen. Es würde mich interessieren, ob ihr jemals fähig seid, Saake zu lenken." "Ich bin Priester, nicht Magier," fauchte Ilkonys ihn da an. “Saake, die Gottheit der Weisheit, sollte die Menschen lenken, nicht umgekehrt.”
Tibra schmunzelte. "Dann laßt euch lenken," schlug er gemütlich vor und warf einen bezeichnenden Blick auf Willar. "Ihr seid im Begriff, die Zuneigung eures Bruders zu verlieren." "Sogar Gerrys mag den Kustos," erkannte Ilkonys längst. "Aber es gefällt mir nicht, wie er Willar ansieht. Und ich könnte ihn erdolchen, wenn ich zusehen muß, wie er meinen Bruder anfaßt." "Ihr seid eifersüchtig," stellte Tibra erheitert fest. Ilkonys schwieg, aber er blieb an Tibras Seite. Nach geraumer Zeit erst sprach er wieder. "Wißt ihr," gab er erstaunlich offen zu, "das bin ich oft. Es tut weh, wenn Menschen, die man mag, sich anderen Leuten zuwenden. Gerrys tut das oft. Manchmal habe ich den Eindruck, als wenn er mich absichtlich kränken wolle. Seltsamerweise gewinnt er dabei immer wirkliche Freunde." "Während ihr euch auf wenige Menschen konzentrieren wollt," ergänzte Tibra. "Seid vorsichtig, Herr, dadurch wird man schnell einsam." Ilkonys sah ihn forschend an. "Ihr habt mich Herr genannt." "Eure Buße ist abgeleistet," erwiderte der Magier leichthin. "Als Nodhers Erbe seid ihr mein Herr." "Da ist Seymas anderer Ansicht," grinste der Prinz. "Wenn ich es mir recht überlege, dann ist mir seine Ansicht auch lieber. Könnten wir nicht versuchen, wieder Freunde zu werden?"
"So wie früher?" "Nein, nicht so. Viel tiefer, Tibra. Wir waren zwar schon beim Du, aber für wirkliches Vertrauen hat es nicht gereicht. Sonst hätte ich euch nicht meinem Vater übergeben." "Und ich hätte wohl mit euch geredet, ehe ich Shannar entführte," gab der Magier zu. Im Ritt reichte er Ilkonys die Hand. "Versuchen wir es eben noch einmal." Ilkonys bot die Aussöhnung aus einem impulsiven Gefühl heraus an, doch nun, da sie vollzogen war, erkannte er schon bald in immer mehr zunehmendem Maß deren Gewicht. Es war nicht so sehr die Tatsache, daß Tibra ihn jetzt sofort wieder duzte und ganz wie einen Freund behandelte, die Nodhers Erben erstaunte. Er spürte nur sehr deutlich, wie wichtig ihm dieser Magier wirklich war. Mit einem Mal fand er keinen Gefallen mehr daran, Shannar zu befehligen. Zwar wies er ihm weiterhin die nötige Arbeit zu, doch tat er es weniger herrisch. Die Furcht des Jungen bedrückte ihn jetzt. Tibra sprach nicht von ihm, dennoch war er sein Sohn und Ilkonys wollte den Magier nicht kränken, indem er ihm die Schwäche seines Sohnes zeigte.
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ber Shannar fürchtete nicht nur Nodhers Erben, er fürchtete sie alle. Jeder freie Mann bedeutete für ihn eine wirkliche Gefahr. Solange er nur arbeiten mußte, fühlte er sich halbwegs sicher. Ein freundliches Wort jedoch oder gar ein an ihn gerichtetes Lächeln, das erwirkte fast schon Panik in ihm. Einzig in Willar sah er keine Bedrohung. Manchmal, wenn er den werbenden Umgang zwischen Willar und Ulander sah, hoffte er, der junge Prinz würde ihn in dieses Leben ohne Furcht einbeziehen. Er glaubte noch immer, Willar habe dasselbe durchlitten wie er, müsse ihn darum verstehen und sei ihm irgendwie nahe. Sie rasteten auf einem weiten Geröllfeld, wo sie sich und den
Tieren etwas Ruhe gönnten. Willar setzte sich nahe zu Ulander, sprach leise mit ihm. Nach kurzer Zeit griff er nach der Hand des Kustos und hielt sie locker, fast zärtlich fest. Shannar saß abseits. Er sah diese Geste. Ein seltsames Gefühl breitete sich in ihm aus. Das hatte er sich immer gewünscht. Schon zu der Zeit, als er sich Riccaro ergab, hoffte er nur darauf, wirklich geliebt zu werden und Zärtlichkeit zu empfangen. Willar erhielt, was er begehrte. Shannar empfand keinen Neid, keine Eifersucht. Er fühlte sich nur unendlich traurig und bar jeder Hoffnung. Tibra hatte sich von der Gruppe etwas entfernt. Innerlich nahm er Abschied von der Insel und der hier herrschenden Kraft, die sich ihm ergab und die so sehr faszinierte. Er vergaß die Zeit dabei und ließ die Freunde warten. "Tibra!" Willar rief ihn laut an. Er stand, wie die anderen, schon bei den Pferden und wollte weiter. Der Abschied von dieser Insel fiel ihm wirklich nicht schwer; er wollte so schnell als möglich zum Meer. Ilkonys stieß einen zornigen Laut aus, Ulander sah den jungen Prinzen kurz vorwurfsvoll an. Willar erkannte zu spät, daß er Tibras Bitte vergaß, seinen Namen nicht laut vor Shannar zu nennen. Und Shannar, der diesen Namen jetzt nicht überhören konnte, zuckte wie unter einem Hieb zusammen. Er starrte in Richtung des Magiers; sein dürrer Körper zitterte dabei. Shannar begriff sofort, daß dieser fremde Mann der Macht sein Vater war. Willar wünschte sich seine Freundschaft, er kannte ihn. Und dieser Mann war nicht das, was die Mutter immer sagte. Tibra war alles andere als ein Versager. Dafür mußte ihn Shannar bisher halten und nun erkannte er in einem einzigen Augenblick, daß sein ganzes Leben auf einem Irrtum beruhte. Der
Magier
wandte sich um. Seine Augen ruhten nur auf
Shannar, der den Kopf gesenkt hielt und mit den Tränen der Verzweiflung kämpfte. Dann zuckte er leicht wie gleichgültig mit den Schultern und kam langsam näher. Willar lief ihm entgegen. Verzweifelt sah er ihn an. Da lachte Tibra auf leise, sehr sympathische Art. "Shannar ist euer Sklave," meinte er leichthin, "und ihr habt ihm nun keinen Gefallen getan. Für ihn wäre es besser, den Begriff Vater nicht zuordnen zu können." "Es kränkt nicht euch, daß ich euren Namen rief?" "Warum sollte es?" Tibra blieb freundlich. "Ich betrachte Shannar nicht als Sohn und denke nicht über ihn nach." Willar senkte betrübt den Kopf. "Er hatte nicht eine wirkliche Chance im Leben," murmelte er. "Unter eurer Führung würde er sicherlich sein Leben anders gestalten lernen." "Diese Führung hat er abgelehnt," erinnerte ihn Tibra ruhig. "Er hat einfach seine Chancen nie genutzt, weil sie mit Arbeit verbunden waren und er hoffte, auf seine Art leichter ein Auskommen zu finden." "Nein, Herr," widersprach Willar überzeugt, "er hoffte sicher nur auf Anerkennung. Tut das nicht jeder?" Tibra lachte herzlich. Sie hatten die Freunde jetzt fast erreicht. "Ihr habt mich Herr genannt," stellte er leicht amüsiert fest. "Das dürfte eurem Bruder kaum gefallen. Mir gefällt es übrigens auch nicht." Willar lächelte etwas unsicher, aber er sagte nichts dazu. Sie ritten weiter. Da Tibra Shannar willentlich übersah,
wagte es der Jüngling nicht, sich ihm zu nähern. Als sie am Abend das Lager aufschlugen, nahm sich Shannar mehrmals vor, mit dem Magier zu reden. Doch mehr als eine hilflose Geste in dessen Richtung wagte er dann doch nicht.
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ie alle sahen es und sie schwiegen dazu. Tibra war nicht der Mann, der eine Einmischung in sein Leben duldete und seine Ablehnung gegenüber Shannar entstand aus einer tiefen Überzeugung heraus. Ein lockeres Gespräch wollte nicht aufkommen, da jeder doch Shannars Verzweiflung spürte und eigentlich nur darüber reden wollte. Tibra wußte genau, was in den Freunden vorging, doch er ignorierte es. Früher als gewöhnlich griff er dann nach seiner Decke, legte sich nieder und schloß die Augen. Ilkonys wies Shannar an, etwas entfernt die Früchte einiger Felssträucher zu sammeln. Er wollte ihn außer Hörweite wissen. Als der Jüngling ging, wandte sich Nodhers Erbe an Gerrys. "Tibra handelt falsch," vermutete er. "Er müßte Shannar eine Chance geben." "Erwartest du, daß er dich um die Freiheit seines Sohnes bittet?" erkundigte sich der Falla. "Er müßte nicht bitten," wehrte Ilkonys ab. "Wenn ich denken könnte, daß er das wünscht, wäre kein Wort darüber notwendig. Aber ich glaube eher, das würde er mir übel nehmen." Willar hatte Ulander hat bereits während der Zeit seiner Gefangenschaft Shannars Geschichte erzählt. Der Kustos sah etwas mißmutig vor sich hin. "Er nimmt Shannar wohl übel, daß er ihn nicht sehen wollte, als er ihm nach so vielen Jahren Botschaft sandte,"
vermutete er dann. "Euch steht darüber keine Beurteilung zu," wies ihn Ilkonys mit knappen Worten zurecht. Willar preßte stumm die Lippen zusammen. Es gefiel ihm nicht, wie deutlich der Bruder den Soldaten ablehnte. Gerrys ergriff etwas zu rasch das Wort. Er wollte jeden Streit zwischen den Brüdern verhindern und es gelang ihm auch mühelos, das Gespräch in seinem weiteren Verlauf zu lenken. Sehr spät erst legten sie sich zur Ruhe.
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ls sie endlich das Meer erreichten, waren Reiter und Pferde reichlich erschöpft. Sie sattelten die Pferde ab und gaben ihnen die Freiheit. Herumziehende Banden würden die Tiere früher oder später einfangen. Nachdem sie den Steilhang hinabkletterten, befestigte Tibra ein weißes Tuch zwischen den Steinen. Danach schlenderte er wie gelangweilt an der Küste entlang. "Er sondert sich immer mehr von uns ab," stellte Ilkonys mit leichter Betrübnis fest, während er sich bei den Freunden niederlagerte. Nymardos lächelte. "Tibra spürt eure stille Kritik," erklärte er gelassen. "Jeder von euch verübelt ihm, daß er sich Shannar nicht zuwenden will." "Ihr nicht, Herr?" wollte Nodhers Erbe wissen. "Ich liebe ihn," meinte Nymardos aber nur. Am Horizont tauchte Khyons Schiff auf. Wenig später ankerte das kleine Beiboot an der Küste, um die Reisenden aufzunehmen. Polyr ließ die Freunde reich bewirten, widmete sich ansonsten aber fast ausschließlich dem Magier, der sich angeregt mit ihm unterhielt. "Es ist, wie ihr gesagt habt," stellte Polyr mit leichtem
Erstaunen fest, "jetzt, auf der Rückreise, schlafen eure Freunde, während ihr alles andere als erschöpft seid. Doch auch ihr solltet ruhen, denn der Weg von Nimad aus ist weit." "Habt ihr denn Weisung, uns nach Nimad zu bringen?" erwiderte Tibra vergnügt. "Die Weisung lautet, nach euren Wünschen zu handeln," gab der Priester ruhig zu. "Wollt ihr nicht nach Sion?" "Nach Sion schon, aber nicht nach Nimad." Tibra lachte leise. "Segelt Richtung Khyon. Ich sage euch dann, wo wir an Land wollen." Eine Tagesreise vom Grenzfluß nach Nodher entfernt gingen die Freunde an Land. Hier erwarben sie gute Reittiere. Die Reise führte quer durch Sion. Leicht verwundert überließen sie alle Tibra die Führung, der allem Anschein nach es nicht eilig hatte, Nodher zu erreichen. Irgendwann sprach Ilkonys den Magier darauf an. "Das Schicksal von Ulanders Sohn ist noch immer ungewiß," erklärte Tibra. "Ehe diese Unklarheit nicht beseitigt ist, wird der Umgang zwischen deinem Bruder und diesem Soldaten immer etwas angespannt bleiben. Außerdem muß das ungerechte Urteil über Willar aufgehoben werden." "Sagtest du nicht, daß der Than selbst die Sache regeln will?" "Ich handle als sein Mann," erwiderte Tibra grinsend. "Was man anfängt, muß man auch zu Ende bringen." "Das wird Sions Herrscher nicht gefallen," brummte der Prinz. Tibra lachte fröhlich auf. Von Nymardos wußte er, daß sich
Ariston und Thylenon im Tempel des Friedens befanden. Dort, genau auf der Grenze zwischen den beiden großen Reichen, besiegelten sie den Frieden und regelten den Abzug der Truppen. Das Haus des Pechas, der Willar verurteilte, befand sich nur eine knappe Tagesreise entfernt des Tempels. Er war sicher, daß er Thylenon früher oder später begegnen würde.
E
ndlich tauchte der Besitz des Pecha vor ihnen auf. Das große Haus glich einem Palast, umgeben von einem weiten Park. Ulander zügelte zuerst sein Tier und starrte mit düsterem Blick vor sich hin. Willar ritt neben ihn. "Ich hoffe sehr, daß Ylmir am Leben ist," sagte er leise. "Es ist besser, wenn du dich hier nicht sehen läßt," murmelte Ulander. "Man könnte dich erneut deiner Freiheit berauben. Ich reite allein." "Das werdet ihr nicht tun," mischte sich Tibra ein. "Außerdem hat man uns schon bemerkt. Also reiten wir zusammen." Er wartete keine Antwort ab, sondern trieb sein Pferd an und ritt allen voraus. Ulander warf Willar einen unglücklichen Blick zu. "Ich bin dir dankbar, hier zu sein und die Wahrheit zu erfahren," sagte er leise. "Es war nicht leicht für dich, trotz des Mißfallens deines Bruders zu mir zu stehen. Er wird dich anders behandeln, wenn sich unsere Wege hier trennen." "Tun sie das denn?" Willar griff nach seiner Hand. "Wirst du nicht mit mir nach Nodher kommen?" Ulander schüttelte den Kopf.
"Ich gehöre Sion," sagte er leise. "Ich habe Slak verloren und werde dafür gerichtet werden. Davon abgesehen, es wäre nicht gut." "Wegen Ilkonys?" "Er würde dich um unserer Freundschaft willen verachten," bestätigte der Soldat. "Schau nur, wie mißmutig er uns schon wieder beobachtet. Wir passen nicht zusammen, Willar. Du bist ein Prinz, ich bin nur ein Soldat." Trotz dieser Worte aber hielt er sich eng an Willars Seite, als er nun den Gefährten folgte. Sie wurden reserviert empfangen, erhielten Gastgemächer und waren gehalten, zu warten, bis der Pecha sie empfangen wollte. Bewaffnete Männer befanden sich im Gang vor ihren Zimmern. Ihre scheinbar zufällige Anwesenheit täuschte jedoch nicht darüber hinweg, daß der Pecha sie überwachte. Nymardos kümmerte sich nicht darum. Er war Pala des Than und besaß damit eine Macht, die auch in Sion galt. Niemand hielt ihn auf, als er seinen Gastraum verließ und in seiner Gegenwart konnte sich auch Tibra frei bewegen. Während sie den Garten durchstreiften, suchte Gerrys Nodhers Erben auf. "Es gefällt dir nicht, wie ein Gefangener bewacht zu werden," stellte der Falla lächelnd fest. "Aber das Mißtrauen in Sion sollte dich jetzt nicht kränken." "Tut es aber," gab Ilkonys zu. "In mir kränkt Sion mein Land." "Dein Vater und Thylenon haben eben Frieden geschlossen," wehrte Gerrys ab. "Gefährde ihn nicht erneut, ich bitte dich." Ilkonys lächelte wehmütig.
"Das habe ich nicht vor, Gerrys. Ich bin froh, daß die Gefahr vorüber ist und ich werde mich auch bei Thylenon entschuldigen. Nur dieser Pecha hier, er hat keine Macht über mich." "Wohl aber in gewisser Weise über Willar und Ulander." "Das ist es ja, was mich stört. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll, wenn er einen von beiden bedroht." Gerrys lachte leise. "Bist du etwa bereit, auch Ulander zu schützen?" Ilkonys atmete tief durch, ehe er Antwort gab: "Ich mag diesen Mann nicht," gab er unumwunden zu. "Aber ich liebe Willar und wenn mein Bruder aus freiem Willen zu Ulander steht, dann muß ich auch ihn schützen, ob mir das gefällt oder nicht." "Es gefällt dir nicht?" "Nein, das tut es wirklich nicht. Der Mann hatte zuviel Macht über Willar. Ich bin immer noch nicht sicher, daß er ihn nicht anrührte. Diese Freundschaft erscheint mir nicht wahrhaftig. Ulander ist nicht aufrichtig. Man kann keinen Mann lieben, der den eigenen Sohn vernichtet hat." "Hat nicht auch dein Urteil Shannar vernichtet und ist nicht Tibra trotzdem auf deiner Seite?" "Das ist etwas anderes," murmelte Ilkonys. "Tibra liebt Shannar nicht. Ulander hat Ylmir wohl geliebt."
N
ymardos sprach mit Tibra über die Eindrücke, die er hier empfing und die sich nur wenig von denen des Magiers
unterschieden. Das aufgeregte Treiben konnte nur einen Grund haben: Sions Herrscher hatte sein Kommen angekündigt und man bereitete alles zu seinem Empfang vor. Die unwillkommenen Gäste störten. "Dich belastet die Atmosphäre der Ablehnung," stellte Tibra ruhig fest. "Vielleicht solltest du besser deinen Geist abschirmen." "Das würde aber verhindern, daß ich meine Umwelt wahrnehme," erwiderte Nymardos lächelnd. "Ein paar negative Schwingungen werde ich schon ertragen können. Schließlich hast du das in den letzten Tagen auch ausgehalten und da traf dich die Ablehnung von Seiten der Freunde." "Ich will nicht über Shannar reden." "Ich weiß," gab Nymardos zu. "Ich habe deinen Willen bisher auch respektiert." "Nun nicht mehr? Was hat sich geändert?" "Du sonderst dich ab, mein Freund. Wenn dich das Schweigen so sehr belastet, muß es durchbrochen werden." Tibra lachte leise. "Ich bin nicht der Mann, der sich so leicht belasten läßt," meinte er wegwerfend. "Manchmal ist es einfach besser, etwas Abstand zu wahren und damit Zwistigkeiten zu vermeiden." "Ich habe nicht die Absicht, mit dir zu streiten," versprach Nymardos mit feinem Lächeln. "Ich werde dich nicht einmal kritisieren. Aber überlege bitte, ob du die Freunde so verunsichert lassen willst. Sie alle sind der Meinung, daß du Shannar helfen könntest, wenn du es nur wolltest."
"Du bist anderer Meinung?" "Ich ahne deine Kraft. Du könntest auf jeden Menschen einwirken. Dummerweise sind dir Menschen nicht sehr wichtig." Tibra warf ihm einen kurzen Blick zu, ehe er sein Augenmerk wieder auf die Menschen im Park richtete. "Ein paar Menschen sind mir wichtig," schränkte er ein. "Shannar gehört jedenfalls nicht dazu." "Aber doch wohl alle anderen Reiter in unserer Gruppe. Nodhers Erbe ist sehr verunsichert. Womöglich sind das Schuldgefühle, denn alles, was aus Shannar auf dieser Insel wurde, konnte nur durch sein Urteil geschehen." "Du meinst also, ich sollte mit Ilkonys reden?" "Ich meine, du solltest dich nicht zurückziehen, nur, um Gesprächen auszuweichen. Wenn die Gefährten Fragen an dich stellen, mußt du antworten." "Muß ich?" Tibra lachte leise, doch sehr vergnügt. "Willar zu befreien, das war meine Absicht. Daß ich dadurch Shannar begegnen mußte, gefällt mir nicht, läßt sich aber nicht ändern. In ein paar Tagen reiten wir heim, Nymardos, und ich verspreche dir, daß wir es ohne Shannar tun werden. Ich würde Shannar niemals in Harkyms Nähe dulden wollen." "Fürchtest du eine Beeinflussung?" "Ja," gab der Magier unumwunden zu. "Harkym ist so klein, so jung; er wird alles, was sich ihm bietet, mit neugierigem Sinn aufnehmen und meine Aufgabe ist es, darauf zu achten, daß er nur das finden kann, was ihm nicht schadet."
"Du kannst ihn nicht immer behüten," warnte Nymardos mit ruhiger Stimme. "Das wird auch nicht immer nötig sein," wußte Tibra genau. "Aber genug geredet. Laß uns versuchen, etwas über Ylmir zu erfahren." "Das dürfte nicht sehr schwer sein," erwiderte der Pala des Than. Es genügte durchaus, wenn Tibra es schaffte, ein paar Menschen in ein argloses Gespräch zu verwickeln. Er wollte dann unbemerkt ihren Geist berühren und Antwort suchen auf ihre Fragen.
W
ährend die Freunde früh am andern Tag gemeinsam beim Frühmahl saßen, wurde es draußen laut. Thylenon ritt mit kleinem Gefolge auf dem Besitz des Pecha ein und wurde mit allen Ehren empfangen. Gerrys trat still zum Fenster und sah schweigend zu, wie Thylenon gelassen alle Huldigungen hinnahm. Er dachte an die Zeit, in der dieser Mann, damals noch bar jeder Macht, als Priester in seinen Tempel kam. Damals zweifelte Thylenon offen an seiner Berufung zum Falla, nannte ihn einen Günstling des Than und gefährdete sein Leben. So viele Jahre hindurch sah er ihn nicht wieder und der Mann dort unten im Hof war nicht mehr der junge Priester von einst, sondern ein selbstbewußter Herrscher, der seine Macht genau kannte. Thylenon hatte in den Jahren seiner Herrschaft sein Priestertum mehr als nur vernachlässigt. Doch nun kam er eben aus Amarra, wo er den Göttern sehr intensiv nahte. Dieses Erleben wirkte noch nach und nicht zuletzt deshalb lauschte er den unerwarteten Bildern der Vergangenheit nach, die mit einem Mal so unerwartet in ihm erstanden. Er hob nur wenig die Hand, unterbrach damit die ausgiebig vorbereitete Begrüßungsrede des Pecha und sann diesen Bildern mit
lauschendem Antlitz Lächeln seine Lippen.
nach.
Dann umspielte ein feines
"Du hast Gäste?" wollte er dann ruhig wissen. Mit unruhigem Blick nickte der Pecha, ehe er begann, von den Ankömmlingen zu berichten. Doch Thylenon hörte ihm nicht lange zu. Er ließ sich aus dem Sattel gleiten, sah sich kurz suchend um und fragte dann nach den Namen der Fremden. "Nodhers Erbe, der Pala des Than und Begleitung, Gebieter," erhielt er zur Auskunft.
nur wenig
Thylenon zog die Augenbrauen ein wenig zusammen. Der Pecha schien sich nicht sehr für seine Gäste interessiert zu haben, kannte er doch nicht einmal all ihre Namen. Und Sions Herrscher war sicher, daß weder Nymardos noch Ilkonys dieses Erinnern in ihm bewirkten. "Und weshalb begrüßen mich deine Gäste nicht?" Der Pecha wurde sichtlich unruhig, als er gestand, daß die Gäste gehalten waren, in ihren Gemächern zu bleiben. Thylenon lachte leise. "Nun, da du ihnen verbietest, zu mir zu kommen, führe mich zu ihnen," verlangte er amüsiert. "Aber für künftige Zeiten wisse, daß sowohl der Pala des Than als auch Raakis Falla in meinem Land keinerlei Beschränkung unterworfen sind." Ohne weiteres Wort ging er dem prächtigen Bau zu und dem Pecha blieb nichts weiter übrig, als seinem Herrn eilig und gehorsam zu folgen. Gerrys wandte sich wieder den Freunden zu. Es war nicht seine Absicht gewesen, Thylenon zu rufen, doch wie schon
oft, so überraschte ihn auch an diesem Tag die klare Kraft seiner geistigen Stärke. Nymardos lächelte wissend, als der Falla erklärte: "Sions Herrscher kommt zu uns." Shannar verkroch sich bei diesen Worten in der hintersten Ecke des Raumes, wo er zu Boden kauerte. Ulander erhob sich und stand verkrampft. Willar trat demonstrativ neben ihn. Tibra grinste nur, als er Ilkonys' düsteren Blick bemerkte. Der Pecha öffnete eigenhändig die Tür zum Gastraum, wurde dann aber durch eine Handbewegung des Herrschers am Eintreten gehindert. Thylenon trat allein bei den Freunden ein. Während die Tür von außen geschlossen wurde, warf sich Ulander vor seinem König nieder. Willar kniete an der Seite des Freundes, während sich Ilkonys, Tibra, Gerrys und Nymardos nur erhoben. "Willkommen in meinem Reich," wandte sich der Herrscher an Nymardos und Gerrys, so still bedeutend, wie wenig er von ihnen eine Unterwerfung erwartete. Noch übersah er Ilkonys, doch fragend schaute er auf Tibra. "Tibra ist unser geliebter Freund," stellte Nymardos den Magier mit ruhiger Stimme vor. "Tibra? Ich hörte auf Amarra von euch, Mann," erwiderte Thylenon. "Der Than selbst gibt euch diese Anrede. Das erspart euch freilich jede Unterwerfung." "Es lag mir fern, euch zu kränken," versprach Tibra freundlich. "Amarra hat euch wohl berichtet, daß wir Prinz Willar dem Tod auf der Insel entrissen." "Vom Tod war nicht die Rede," gab Thylenon zu. "Erzählt mir davon etwas ausführlicher."
Der Herrscher setzte sich nieder, lud die Freunde mit einer Handbewegung ein, es ihm gleich zu tun und lauschte dann Tibras Bericht, während Willar und Ulander übersehen abseits am Boden blieben. "Wie ihr seht," schloß Tibra dann, "habe ich euch wohl einen Gefangenen geraubt, ihn aber doch hierher gebracht, wo ihr ihm selbst die Freiheit geben könnt." "Und ihr seid sicher, daß ich das tun werde?" forschte Thylenon, auf den Tibra eine seltsame Faszination ausübte. Ilkonys wollte etwas sagen, doch Tibra legte ihm rasch kurz die Hand auf den Mund und schüttelte nachdrücklich das Haupt. Voll Erstaunen sah Thylenon, wie Nodhers Erbe sich diese Ermahnung gefallen ließ. Ilkonys' hochmütiger Stolz schien in Gesellschaft von Freunden nicht wirksam zu sein. Nachdenklich wandte sich der Herrscher an Nymardos. "Habt ihr den Geist des Prinzen berührt, Herr?" wollte er wissen. Nymardos nickte ruhig und versprach: "Willar hat keinen Menschen ermordet. Namao starb durch einen unglücklichen Zufall, aber nicht durch seine Hand." "Euer Wort genügt mir," versprach der Herrscher. "Erhebt euch, Prinz Willar, ihr seid frei." Willar hob den Kopf. Er hatte auf diesen Freispruch gehofft, einfach darauf vertraut, daß die mächtigen Männer, die sich wie Freunde verhielten, ihm wirklich helfen konnten. Und doch erhob er sich nun nicht. Ulander lag neben ihm am Boden und er hatte das Gefühl, den Freund zu verraten, wenn er sich nun von seiner Seite löste.
Unwillig sog Ilkonys den Atem tief ein, doch er schwieg wiederum, weil Tibra ihm in beruhigender Geste die Hand auf den Unterarm legte. Erst jetzt beachtete Thylenon den Soldaten, dessen Kleidung ihn als Sions Mann auswies. "Dies ist Ulander, der Kustos eurer Mine," erklärte Nymardos. Thylenon erhob sich. Nahe trat er vor Ulander, der noch immer reglos am Boden lag und in der schuldigen Unterwerfung vor seinem König auch auf sein Urteil wartete. Willar hielt den Kopf gesenkt, doch er legte seine Hand auf die Schulter des Freundes. "Steht auf, Prinz," verlangte der König. Auch er wußte, was auf der Insel der Läuterung üblicherweise geschah. Ulander als Kustos besaß die Macht, seine Gefangenen zu martern und zu töten wie auch, sie zu seiner eigenen Befriedigung zu benutzen. Willar war zu lange auf der Insel, um so augenfällig unversehrt zu sein. Dies ließ nur den Schluß zu, daß er Ulander diente. Tibra holte ihn wohl aus dem Berg, doch er sagte nichts darüber, wie lange der Prinz sich zuvor schon in dem Berg befand. Da Willar sich nicht rührte, kam Tibra zu ihm und zog ihn auf die Beine. Dabei grinste er Thylenon in unverblümter Offenheit an. "Auf die Knie," verlangte der Herrscher nun von Ulander, ehe er sich wieder an Tibra wandte: "Ihr solltet mir wohl noch etwas mehr erzählen." "Das sollte wohl ich tun," stellte Willar mit leiser Stimme fest. "Daß ich noch am Leben bin, verdanke ich Tibra. Aber daß dieses Leben noch einen Wert für mich besitzt, das verdanke ich diesem Mann, Herr. Er erhielt mir meine Würde und meine geistige Unversehrtheit. Ulander hat Slak
verloren, doch mit eurer Erlaubnis wird Nodher euch diesen Verlust ersetzen." Ilkonys lächelte bei diesen Worten verhalten. Der jüngere Bruder besaß kein Recht zu einem solchen Versprechen, doch daß er es so selbstsicher gab, erfüllte ihn mit Freude und gewissem Stolz. Fragend sah Thylenon Willar an und der erzählte von seinem Erleben auf der Insel. Der junge Prinz berichtete nicht alles ausführlich, doch zwischen seinen Worten war deutlich seine Liebe zu Ulander zu hören. Noch ehe der Prinz seinen Bericht beendete, griff Thylenon nach Ulanders Wams und zog ihn hoch. "Es ist genug," entschied der Herrscher. "Euer Bericht muß euch demütigen, Prinz, und dies erscheint mir nicht wünschenswert. Eure Unversehrtheit ist den Preis einer Mine durchaus wert. Dennoch hat euch dieser Mann in den Berg geschickt. Eure Dankbarkeit ist übertrieben." "Ich bin nicht dankbar," wehrte Willar leise ab. "Ich hoffe, daß er mir verzeiht." "Er euch?" "Ulander muß dir nichts verzeihen," mischte sich Tibra fast vergnügt ein. "Ihr habt gestern schon geschlafen, als wir ins Haus kamen. So hatten wir keine Gelegenheit, von Ylmir zu erzählen. Der Kleine ist gesund und unversehrt." Auf den fragenden Blick Thylenons hin berichtete er von Ulanders Sohn, der bei seinem Großvater, dem Pecha lebte. Der Soldat empfand große Erleichterung und tiefe Freude, doch in Gegenwart seines Königs zeigte er nichts davon. Willar besaß nicht diese Scheu. Er zog den Freund an sich und umarmte ihn herzlich.
Für Sions Herrscher war die Angelegenheit damit erledigt. Er wandte sich ab, wollte schon gehen, überlegte es sich dann aber anders und trat zu Gerrys. "Wie geht es Shuny?" erkundigte er sich mit unerwartet warmer Stimme. Vor über zwanzig Jahren hatte er sich in Gerrys' Tempel in eine Sklavin verliebt, die dort als Priesterschülerin lebte. Er begehrte sie sogar zum Weib, wollte sich ihr anvermählen und mußte es erleben, daß diese Frau ihn ablehnte und statt eines Königs einen einfachen Tempelhelfer zum Gemahl nahm. Gerrys erzählte von ihr, ihrem Leben, ihrem Mann Rhagan und den Kindern, die sie hatten. "Ich freue mich sehr, daß sie glücklich ist," versprach Thylenon. "Ich nehme an, ich kann nichts für sie tun, Falla." "Sie hat alles, was sie braucht," versprach Gerrys lächelnd. Der Herrscher erhob sich. Er wirkte sehr gelöst, sehr heiter. "Der Pecha hat ein Fest vorbereitet für meine Ankunft," meinte er leichthin. "Kommt, seid alle meine Gäste. Vielleicht entschädigt das ein wenig für die Unhöflichkeiten, die ihr hier ertragen mußtet." Er duldete keine Einwände und in seinem Land gab es keinen Widerspruch gegen sein Wort. So gaben die Gefährten nach und es dauerte auch nicht lange, bis ihnen das festliche Treiben wirklich gefiel. Tibra unterhielt sich ausgiebig mit dem Pecha, wobei alle Worte oberflächlich klangen und der tiefere Sinn nur einem sehr aufmerksamen Zuhörer vielleicht zugänglich wäre. Der Magier suchte später Ulander und führte ihn ein wenig von den Menschen weg, ehe er nach Ylmir fragte. "Eure
Frage
erstaunt
mich,"
gab
der Soldat zu.
"Nachdem mein König so gnädig urteilte, bin ich frei und werde Willars Einladung nach Nodher folgen. Ylmir wird wie der Sohn eines Pecha aufwachsen und nichts vermissen in seinem Leben." "Nichts vermissen?" "Bestimmt nicht, Herr. Der Pecha wird ihm die beste Ausbildung geben und dafür sorgen, daß er niemals der Not begegnen wird. Kann ein Mann mehr für seinen Sohn erhoffen?" "Das kommt wohl auf den Mann an," erwiderte der Magier lächelnd. "Ich erhoffe für meinen Sohn Harkym sehr viel mehr. Ihr wißt, daß auch Shannar mein Sohn ist. Seine Mutter Dimira ist eine sehr schöne Frau, die ihre Schönheit zu benutzen weiß. Ich dachte auch einmal, daß sie Shannar alles geben würde, was er braucht." "Es muß sehr schmerzhaft sein, den eigenen Sohn so vorzufinden," vermutete Ulander mitfühlend. "Er ist wie ein verwundetes Tier, das..." "Er hat versucht, seinen Herrscher zu töten," meinte Tibra geringschätzig, "und dabei bewiesen, wie wenig er von Freundschaft und Treue hält. Die Strafe für seine Tat hätte er nur zu gern dem Sklaven aufgebürdet, der für ihn alles riskiert hat. Heute erscheint er euch bemitleidenswert, doch sein Schicksal hat er sich selbst erschaffen. Das tun wir übrigens alle. Das wird auch Ylmir tun. Es wäre vermutlich nur gut, wenn er dabei einen Vater als Lehrmeister hätte." Tibra grinste. "Glaubt ihr wirklich, der Reichtum des Pecha ist mehr wert als eure Zuneigung?" "Zumindest wird dieser Reichtum seine Lebenschancen vergrößern. Wenn ich Ylmir hier lasse, wartet Macht auf ihn." "Und wer bringt ihm bei, mit Macht umzugehen?"
"Sein Großvater." "Wie sollte er?" Tibra lachte vergnügt. "Das ist doch genau der Mann, der es selbst erst einmal lernen müßte. Sein Urteil über Willar war keine Frage der Gerechtigkeit, sondern des Zorns und der Rache. Und dieser Mann soll euren Sohn erziehen?" Ulander wurde nachdenklich. Der Pecha war wirklich nicht der Mann, den er sonderlich schätzte. Seine Tochter Namao hatte er geliebt, bis er begriff, daß sie, genau wie ihr Vater, nicht menschliche Werte hochschätzte, sondern irdische Macht und Reichtum. "Er wird mir Ylmir nicht geben," vermutete der Soldat. "Das Recht ist auf eurer Seite," wußte Tibra. "Wir reiten morgen früh ab und nehmen, wenn ihr wollt, den Kleinen einfach mit. Solange Sions Herrscher hier ist, wird der Pecha es nicht wagen, das Recht zu beugen."
E
rst, als die Nebel sanken, umlagerten die Menschen nicht mehr in großen Gruppen ihren König. Thylenon fand Gelegenheit, sich in Ruhe etwas mit Nymardos zu unterhalten. Als Ilkonys nahte, entfernte sich der Pala des Than und ließ die beiden Männer allein. "Ich liebe meinen Bruder sehr," suchte Nodhers Erbe einen Anfang des unvermeidlichen Gespräches. "Es wäre wichtiger, wenn ihr euer Land so lieben wolltet," erwiderte Thylenon ernst. "Der Frieden zwischen den Reichen ist von größerer Bedeutung als das Leben eines Einzelnen." "Ich bin sehr froh, daß dieser Frieden erhalten wurde," gab Ilkonys zu.
Unzählige Menschen beobachteten sie nun. Er spürte die Blicke förmlich auf sich. Die beiden Männer standen einander gegenüber. Ilkonys hoffte noch, Thylenon würde ihm auf einfache Art verzeihen, doch Sions Herrscher stand mit verschränkten Armen in deutlich sichtbar ablehnender Haltung und wartete. Unmerklich ließ Ilkonys den Blick schweifen. Die Leute warteten auf seine öffentliche Demütigung und dies gefiel ihm gar nicht. Dann sah er Tibra. Der Magier lehnte gelassen an der Wand und grinste ihn jetzt fröhlich an. Unwillkürlich lächelte Nodhers Erbe zurück. Es war dieses Lächeln, das Thylenon versöhnte. Daß Ilkonys mit einem Knie den Boden berührte und in gesetzten Worten um Entschuldigung für seine unbedachten Worte bat, bedeutete schon nichts mehr. Thylenon hob den Jüngeren fast sofort auf.
F
rüh am nächsten Tag verließen die Gefährten den Besitz des Pecha. Ulander hielt während des Ritts glücklich seinen kleinen Sohn im Arm. Ihre Wege trennten sich dann, da die Prinzen zur Burg Nodher reiten wollten und Ulander mit Willar ging. "Ich komme zu deinem Tempel, sobald ich kann," versprach Ilkonys dem Falla. "Du hast doch nichts dagegen, wenn ich um Cyprina werbe, nicht wahr? Wir sehen uns bald wieder." Willar senkte bei diesen Worten stumm den Kopf. Wenn der Bruder um die Tochter des Falla warb, durfte er ihr nicht nahen. Und er durfte dem Bruder den Schmerz nicht zeigen, den er dabei empfand. Tibra befühlte Willars Ring, den er in seinem Wams trug. Er würde Cyprina diesen Ring wieder geben. Es war allein ihre Entscheidung, wem sie sich später zuwenden wollte. Unbehindert überquerten sie den Grenzfluß. Es gab nicht mehr viele Bewaffnete hier und die wenigen Soldaten küm-
merten sich nicht um die Reisenden. Tibra hatte es eilig. Er sehnte sich nach Erynia und Harkym. Er wollte einfach wieder nach Hause. Der Magier lachte leise, doch sehr eindringlich auf. Als er den fragenden Blick der Freunde sah, lachte er lauter. Irgendwann würde er ihnen den Grund seiner Fröhlichkeit erzählen. Tibra empfand es durchaus als erheiternd, daß ausgerechnet er, einer der stärksten Magier seiner Zeit, einen Tempel als sein Zuhause betrachtete, in dem er ein erfülltes Leben führen konnte.