Knud Meister Carlo Andersen Jan als Detektiv #27
Jan und das verhängnisvolle Telegramm
In Bombay erreicht Jan Helmer d...
29 downloads
776 Views
482KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Knud Meister Carlo Andersen Jan als Detektiv #27
Jan und das verhängnisvolle Telegramm
In Bombay erreicht Jan Helmer das verhängnisvolle Telegramm, das ihn zwingt, die schöne Weltreise auf der «Flying Star» abzubrechen: Sein Vater, Kriminalkommissar Mogens Helmer, ist verschwunden! Hinter der Entführung steckt eine internationale Spionenbande, deren Bekämpfung Jan sich zur Aufgabe macht. ISBN 3-275-00541-3 Originals: «Fuld Kraft fremad, Jan!» und «Nu eller aldrig, Jan!», Aus dem Dänischen übersetzt von Ursula von Wiese 1974, Albert Müller Verlag
E-Book not for sale!!!
Buch KNUD MEISTER UND CARLO ANDERSEN Jan und das verhängnisvolle Telegramm Eine Detektivgeschichte für die Jugend («Jan als Detektiv», Band 27) In Bombay erreicht Jan Helmer das verhängnisvolle Telegramm, das ihn zwingt, die schöne Weltreise auf der «Flying Star» abzubrechen: Sein Vater, Kriminalkommissar Mogens Helmer, ist verschwunden! Hinter der Entführung steckt eine internationale Spionenbande, deren Bekämpfung Jan sich zur Aufgabe macht. Er vermißt die Freunde, die weiterhin die Weltmeere befahren; aber er gewinnt einen treuen, zuverlässigen Helfer in seinem zukünftigen Schwager Jens Bach, sehr zum Unwillen seiner Schwester Lis, die um den Verlobten bangen muß. Ein Name taucht auf, den Jan gut kennt: Katz. Es ist der Bruder des Meisterspions, dem Jan seinerzeit das Handwerk gelegt hat, und dieser Werner Katz hat es nun auf den jugendlichen Detektiv abgesehen. Jan erhält von seinem Vater weitgehende Vollmacht, und wenn er auch keine polizeilichen Befugnisse hat, so darf er doch auf eigene Faust vorgehen, allerdings unter der Bedingung, daß er sich nicht vorsätzlich in Gefahr begibt. Daß er dennoch wiederholt in eine Klemme gerät, dafür sorgen die rachsüchtigen Spione, die sich jedoch Jans Scharfsinn kaum gewachsen zeigen. ALBERT MÜLLER VERLAG RÜSCHLIKON-ZÜRICH • STUTTGART • WIEN
Die Bände der Reihe «JAN ALS DETEKTIV» 1 Jan wird Detektiv 2 Jan und die Juwelendiebe 3 Jan und die Kindsräuber 4 Das Geheimnis der «Oceanic» 5 Jan und die Falschmünzer 6 Spuren im Schnee 7 Der verschwundene Film 8 Jan auf der Spur 9 Jan ganz groß! 10 Jan stellt 20 Fragen 11 Jan gewinnt die dritte Runde 12 Jan packt zu 13 Jan ruft SOS 14 Jan hat Glück 15 Jan und die Schmuggler 16 Jan, wir kommen! 17 Jan siegt zweimal 18 Jan in der Falle 19 Jan, paß auf! 20 Jan und der Meisterspion 21 Jan schöpft Verdacht 22 Jan zieht in die Welt 23 Jan auf großer Fahrt 24 Jan und die Marokkaner 25 Jan und die Leopardenmenschen 26 Jan zeigt Mut 27 Jan und das verhängnisvolle Telegramm 28 Jan wird bedroht 29 Jan in der Schußlinie 30 Jan und das Gold 31 Jan und die Dunkelmänner 32 Jan und die Rachegeister 33 Jan und die Posträuber
ERSTES KAPITEL Vorn im Flugzeug leuchtete das Schild auf, das den Reisenden gebot, nicht mehr zu rauchen und sich anzuschnallen. Die Maschine ging zur Landung hinunter. Während sich Jan anschnallte, blickte er durch das kleine Seitenfenster hinab. Ein seltsames Gefühl erfaßte ihn. Wie gut kannte er jede Einzelheit dieses Bildes – den blauen Sund, die großen Hangare, die Gebäude des Flughafens, die geraden Pisten und im Hintergrund die große Stadt Kopenhagen… Eigentlich hätte er sich freuen müssen, seine Heimat wiederzusehen; aber sein Gesicht blieb ernst. Er kehrte allein und vorzeitig von der Weltreise zurück, die er mit Ingenieur Smith und seinen Freunden unternommen hatte. Er dachte an die herrlichen Fahrten mit der «Flying Star» zurück, die in Bombay für ihn ein Ende gefunden hatten. Der Schrecken saß ihm immer noch in den Knochen. Seine Mutter hatte das Kabel gesandt, das nicht nur für Jan, sondern auch für seine Kameraden und für Ingenieur Smith einen Schock bedeutet hatte: «Komm sofort heim stop Vater ist verschwunden!» Zuerst meinte Ingenieur Smith, es müsse irgendein Mißverständnis vorliegen, aber ein Ferngespräch mit der Behörde in Dänemark bestätigte die Meldung: Jans Vater, Kriminalkommissar Mogens Helmer, war rätselhafterweise verschwunden. Unter diesen Umständen mußte Jan natürlich dem Ruf der Mutter Folge leisten, und im Verlauf weniger Stunden hatte Ingenieur Smith alles für Jans Flug in die Wege geleitet. Schweren Herzens hatte Jan auf dem Flugplatz von Bombay von seinen Freunden Abschied genommen. Natürlich belastete ihn die Sorge um den Vater, doch ebenso betrüblich fand er es, die herrliche Schiffsreise nach aller Herren Ländern abbrechen -4-
zu müssen. Erling hatte unbedingt mit ihm zurückkehren wollen, aber sich schließlich doch umstimmen lassen, so daß sich Jan nun zum erstenmal in seinem Leben allein befand. Schon jetzt vermißte er den Freund, mit dem er bisher so gut wie jedes Erlebnis geteilt hatte. Er mußte mit der Sorge um den Vater allein fertig werden… Jan fühlte einen Kloß im Hals, während das Flugzeug zur Landung ansetzte. Nach Ansicht der Freunde war er immer «ein zäher Bursche» gewesen, jetzt aber drohten ihn die Gefühle zu überwältigen. Was konnte dem Vater nur zugestoßen sein? Natürlich hatte der Kommissar viele Feinde – er hatte ja viele Verbrecher der Gerechtigkeit ausgeliefert –, doch kam es im allgemeinen selten vor, daß nach der Strafe Entlassene Rache zu nehmen wagten. Wie sonst könnte man das geheimnisvolle Verschwinden erklären? Eins stand für Jan nämlich fest: Aus freien Stücken war sein Vater nicht verschwunden… Das Flugzeug setzte mit sanftem Stoß auf und rollte auf der Zementbahn aus. Als das Triebwerk ausgeschaltet war, entstand geschäftige Tätigkeit unter den Passagieren, und mehrere zeigten sich ungeduldig. Jan wunderte sich darüber, denn immerhin waren sie einige Tage geflogen, so daß es nun auf ein paar Minuten nic ht ankam. Kurz darauf trabten alle in einer langen Reihe zur Zollabfertigung. Jan ging in niedergeschlagener Stimmung dahin, ohne seine Umgebung zu beachten; aber auf einmal vernahm er eine bekannte Stimme: «Hallo, Jan! Willkommen daheim!» Wie vom Blitz getroffen blieb er stehen. Es war die Stimme seines Vaters! Verwirrt blickte er zu dem eingezäunten Platz rechts vom Hauptgebäude, wo sich die Zuschauer drängten, und fast hätte er sich auf den Hosenboden gesetzt; denn mitten im Kreis der Familienangehörigen stand sein winkender und lachender Vater. -5-
Jan stieß einen Freudenschrei aus und rannte hinüber. Die Rufe, die hinter ihm ertönten, hörte er gar nicht. «Vater, wie in aller Welt…» Kommissar Helmer ließ ihn nicht zu Wort kommen: «Bist du wahnsinnig, Junge? Du mußt doch erst durch die Zoll- und Paßkontrolle.» «Ja, aber…» Frau Helmer hatte Tränen in den Augen. «Daß du endlich wieder zu Hause bist…» «Zurück mit dir!» rief der Kommissar. «So, da haben wir schon die Geschichte.» Zwei uniformierte Männer waren herbeigelaufen und faßten den «Flüchtenden» an den Armen. Nach ihrer Ansicht wollte er die Zoll- und Paßkontrolle umgehen. Helmer zeigte schnell seinen Ausweis und gab eine kurze Erklärung ab. Unter dem Gelächter des Publikums mußte sich Jan zu der Reihe der Ankömmlinge zurückführen lassen und brav zum Eingang folgen. Jetzt brannte er mehr als alle andern vor Ungeduld. Es dauerte noch zwanzig Minuten, bis er seine Familie in der Ankunftshalle des Flughafens begrüßen konnte. Die Mutter umarmte ihn freudestrahlend und wollte ihn kaum mehr hergeben. «Was ist denn mit Vater?» fragte er immer wieder. «Alle Erklärungen müssen noch warten», sagte Helmer. Jan war ganz verwirrt, aber wohl oder übel mußte er alle begrüßen, die eigens zum Flughafen gekommen waren, um ihn abzuholen, zuerst seine Schwester Lis, dann ihren Verlobten Jens Bach, den Jan nach anfänglichen Mißverständnissen sehr schätzen gelernt hatte. Erst jetzt sah er, daß Jens einen prachtvollen Schäferhund an der Leine führte, und unwillkürlich entfuhr es ihm: «Boy!» Als der Hund diesen Namen hörte, wedelte er schwach und -6-
blickte erwartungsvoll zu ihm auf. «Ja, er heißt Boy wie sein Vater», sagte Mogens Helmer ernst, «und er ist ebenso gut abgerichtet.» Jan schwieg benommen; er dachte an seinen treuen Kameraden, den tüchtigen Polizeihund Boy, mit dem er im Verlauf der Jahre viele Abenteuer und Gefahren bestanden hatte. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Hunden verblüffte ihn. Helmer gab ihm einen Schlag auf die Schulter. «Es ist traurig, mein Junge, daß du deinen alten Boy nicht mehr vorfindest, aber im Sohn wirst du einen Ersatz haben. Bei der Dressur hat er alle Kenner überrascht, ja, man kann behaupten, daß er seinen Vater sogar übertrifft. Es ist dein Hund, Jan!» «Er gehört mir?» «Natürlich, das ist nur recht und billig. Ihr beide werdet bestimmt gute Freunde werden, das heißt, wenn du uns nicht wieder verläßt. Möchtest du die Weltreise lieber fortsetzen?» Jan zögerte mit der Antwort. Ja, er konnte seine Freunde irgendwo auf der südlichen Halbkugel an Bord der «Flying Star» wieder treffen, vielleicht in Sydney oder in Melbourne; aber die Flugkarte war teuer, und mit dem Frachtdampfer dauerte die Fahrt zwei Monate, und dann wurde es zu spät… Er seufzte und faßte seinen Entschluß: «Nein, Vater, nun bleibe ich zu Hause.» «Abgemacht», nickte Helmer. Die Mutter nahm es dramatischer. Sie umarmte Jan und rief dankbar: «Ach, mein lieber Junge, wie freue ich mich! Ich bin immer in Sorge, wenn du in der Welt umherreist. Jetzt wirst du gut auf dich achtgeben, versprichst du mir das?» «Ja-a.» Das klang nicht gerade überzeugend; Jan mußte daran denken, welche Worte sein Freund Erling beim Abschied im Flughafen von Bombay zu ihm gesagt hatte: «Mit voller Kraft voraus, Jan!» Vielleicht hatte Erling selbst nicht gewußt, was er -7-
damit meinte, doch wahrscheinlich war es in Anbetracht der betrüblichen Umstände als Aufmunterung gedacht gewesen. Jan reckte sich unwillkürlich. Ja, das war ein kluges Wort gewesen, und es sollte sein Motto werden. Mit voller Kraft voraus! Als sich die kleine Gruppe zum Auto begab, legte Helmer seinem Sohn die Hand auf die Schulter und sagte ernst: «Nun sollst du endlich die Erklärung hören. Ich bin tatsächlich entführt worden…» «Entführt…» wiederholte Jan. «Ich verstehe deine Verwunderung, Jan. In unserem friedlichen kleinen Land sollte so etwas ja nicht vorkommen, nichtsdestoweniger ist es geschehen. Als ich eines Abends ziemlich spät vom Polizeipräsidium heimkam und gerade den Wagen geparkt hatte, wurde ich rücklings niedergeschlagen, so daß ich die Besinnung verlor. Ich kam erst zu mir, als ich in einem dunklen Kellerraum gefangen saß. In den nächsten Tagen erhielt ich nur das Notwendigste zu essen und zu trinken. An eine Flucht war anscheinend nicht zu denken, denn ich wurde die ganze Zeit von bewaffneten Männern bewacht.» «Aber warum… es ist mir unbegreiflich…» «Ich verstand es zuerst auch nicht, Jan. Es muß sich aber um einen Racheakt gehandelt haben, und vielleicht hätte es mit meinem Tod geendet, wenn mir schließlich die Flucht nicht doch geglückt wäre. Die Flucht selbst ist eine lange Geschichte, die ich dir ein andermal erzählen werde – die andern haben sie schon zu oft gehört –, aber bei der Sache kommt ein Name vor, der dich sicher interessieren wird, nämlich Katz.» «Katz», stieß Jan verblüfft hervor. «Der Meisterspion? Ich denke, er ist tot!»* *
Davon erzählt Band 20 der Reihe «Jan als Detektiv» mit dem Titel «Jan und der Meisterspion», erschienen im Albert Müller Verlag und in jeder -8-
«Freilich, der Meisterspion ist tot, aber wir wissen jetzt, daß sein Bruder weiterarbeitet, leider ebenso gut. Er ist aber nicht nur darauf aus, wie sein verstorbener Bruder mit der Spionagetätigkeit Geld zu verdienen, sondern er sinnt auch auf Rache. Allem Anschein nach weiß er, was früher alles vorgefallen ist, und darum sage ich dir, mein Junge, gib acht!» Jan war so überwältigt, daß er nicht gleich Worte fand. Er dachte an die Zusammenstöße, die er und seine Freunde mit dem Meisterspion erlebt hatten, und es stimmte ihn besorgt, daß nun in Gestalt des Bruders ein Rächer aufgetreten war. Schließlich sagte er: «Scheint mir wirklich ernst zu sein, Vater.» «Es ist sehr ernst», bekräftigte Helmer. «Paul Katz war ein gefährlicher Mann, aber der Bruder ist noch schlimmer, jedenfalls bedenkenloser. Wir waren ihm und seiner Bande schon mehrmals auf der Spur, und jedesmal sind sie uns entschlüpft. Im übrigen gleicht Werner Katz seinem verstorbenen Bruder wie ein Ei dem andern, aber er versteht es, sich zu maskieren, und seine Bande arbeitet so gut, daß wir bisher nicht zuschlagen konnten.» Der Kommissar machte eine Pause. «Es kann für dich ernst werden, Jan, und ich muß mich darauf verlassen, daß du kein unnötiges Risiko eingehen wirst. Du wirst dich gegebenenfalls sofort an mich wenden, nicht wahr?» Jan lächelte flüchtig. «Selbstverständlich, Vater, und ich werde auch aufpassen. Deine Entführung beweist ja, daß mit der Bande nicht zu spaßen ist.» Er ahnte nicht, wie recht er damit hatte. Als die Gruppe bei Helmers Wagen angelangt war, kam hinter der Ecke des Flughafengebäudes vorsichtig ein Kopf hervor. Hätte Jan dieses Gesicht gesehen, so hätte er glauben müssen, der Meisterspion Paul Katz wäre von den Toten auferstanden. Buchhandlung erhältlich.
-9-
ZWEITES KAPITEL Jan fand es sonderbar, wieder in der Heimat zu sein, während sich seine Freunde auf der anderen Seite der Erdkugel aufhielten. Sein Zimmer war für ihn bereit, aber er vermißte Erling, mit dem er hier zusammengearbeitet hatte. Daß er sein Studium fortsetzen würde, galt als selbstverständlich, doch seine Eltern meinten, er könne damit warten, bis Erling ebenfalls aus dem Ausland zurückkehrte. Die unzertrennlichen Freunde wollten ja beide Ingenieur werden und beim Studium miteinander Schr itt halten. Frau Helmer war überglücklich, ihren Sohn wieder um sich zu haben, aber für Jan wäre es doch ein wenig langweilig gewesen, wenn er nicht Boy zur Gesellschaft gehabt hätte. Anfangs zeigte sich der Hund seinem neuen Herrn gegenüber ziemlich abweisend, doch da Jan mit Schäferhunden umzugehen wußte, dauerte es nicht lange, bis die Freundschaft geschlossen wurde. Boy schlief bei Jan im Zimmer, und jeden Tag unternahm er mit dem Hund einen weiten Spaziergang. Mit der Zeit gehorchte ihm Boy aufs Wort. Eines Abends kam Jens Bach und suchte Jan in seinem Zimmer auf. Er ließ sich im Sessel nieder und sagte lächelnd: «Es ist ja schön, dich wieder hier zu haben, Jan, aber ich hege den Verdacht, daß du dich langweilst. Dir fehlen nicht nur deine Kameraden, sondern auch spannende Ereignisse, nicht wahr?» «Wie man’s nimmt», antwortete Jan ausweichend. «Geh, ich kenne dich doch!» Jens lachte. «Offen gestanden, ich hätte auch ganz gern etwas Abwechslung, und eigentlich habe ich auf dich gezählt. Aber es besteht wo hl keine Hoffnung?» Jan betrachtete seinen zukünftigen Schwager belustigt. Jens -10-
war ein flotter, sportlicher junger Mann, der das Leben zwar nicht leichtnahm, aber gleichzeitig von Abenteuerlust beseelt war und sich gegebenenfalls als zuverlässiger Helfer erwies, wenn es galt, auf Verbrecher Jagd zu machen. «Spannende Ereignisse kommen immer wie ein Blitz aus heiterm Himmel», sagte Jan munter. «Manche haben in dieser Beziehung mehr Glück als andere», erwiderte Jens mit einem kleinen Seufzer. Er konnte nicht ahnen, wie bald sein Wunsch in Erfüllung gehen sollte… Zur selben Stunde waren in einem alten Haus vor der Stadt mehrere Männer versammelt. Dieses Haus war früher das Hauptgebäude einer Gärtnerei gewesen, aber als der Grund und Boden zum Verkauf ausgeschrieben worden war, hatte ein Deutscher das Haus erworben. Dieser Mann gab sich als Schriftsteller aus und erklärte, für seine Arbeit Ruhe zu brauchen. Tatsächlich hätte ein Fremder, der einen Blick durchs Fenster warf, ihn am Schreibtisch sitzen sehen können, aber die Arbeit des «Schriftstellers» bestand hauptsächlich darin, Wochenberichte an eine Spionagezentrale in Hamburg zu senden. Der Mann war Mitglied einer weitverzweigten internationalen Spionage-Organisation, einer von jenen, die sich für den Höchstbietenden verdingten, und er arbeitete zur Zeit in Dänemark. Der eigentliche Chef hieß Werner Katz und war der jüngere Bruder des berüchtigten Meisterspions Paul Katz, der Jan und seinen Freunden große Schwierigkeiten bereitet hatte. Er war schlank und trug meistens einen eleganten dunklen Anzug; wenn er Dänisch sprach, hörte nur ein sehr feines Ohr den fremdländischen Tonfall heraus. Im allgemeinen verhielt er sich ruhig und beherrscht, doch wenn er in Zorn geriet, trat der Fanatiker zutage. Dann schwollen ihm die Schläfenadern, seine -11-
Stimme wurde schneidend, die Augen nahmen einen geradezu unheimlichen Ausdruck an. Seine Helfershelfer achteten ihn wegen seiner Tüchtigkeit, fürchteten ihn aber auch sehr. Da die Spionagetätigkeit gut bezahlt wurde, nahmen sie manches in Kauf. Werner Katz leitete die Zusammenkunft, die jetzt in dem alten Gärtnerhaus stattfand. Die Männer hatten ihm aufmerksam zugehört, warfen einander aber bedenkliche Blicke zu, als er schloß: «Und da Jan Helmer jetzt nach Dänemark zurückgekehrt ist, muß er unschädlich gemacht werden!» Eine Weile herrschte Schweigen. Dann sagte der «Schriftsteller», der Herbert Schön hieß: «Wir werden ein ganz unnötiges Risiko laufen und uns unter Umständen in die Nesseln setzen…» «Was soll das heißen?» entgegnete Katz scharf. «Wer befiehlt hier, du oder ich?» Schön zuckte die Schultern. «Natürlich du, Katz, aber deswegen kannst du doch auf einen vernünftigen Rat hören. Auch dein Bruder war rachedurstig, und das ist ihm zum Verderben geworden. Meiner Meinung nach wird uns Jan Helmer bei der Arbeit nicht schaden, wenn wir ihn in Frieden lassen.» Katz beugte sich über den Tisch vor und sagte eiskalt: «Ich fürchte mich nicht vor Jan Helmer, aber ich will mich an ihm rächen. Er und seine Freunde sind schuld daran, daß unsere Organisation ihren Meisterspion verloren hat.» Mit blitzenden Augen fügte er hinzu: «Und unser Meisterspion war mein Bruder!» Wieder zuckte Schön die Schultern. «Du bist der Chef, und du trägst die Verantwortung.» Die andern hatten geschwiegen. Sie wußten alle, daß mit Werner Katz nicht zu spaßen war. Er pflegte unbarmherzig abzurechnen, wenn man sich ihm widersetzte. -12-
Katz blickte ringsum. Er sah wieder friedlich aus, und seine Stimme klang ruhig, als er sagte: «Wir sind ohnehin ohne Arbeit, da ich vom Büro in Hamburg neue Anweisungen abwarten muß. Diese Zeit wollen wir für die Abrechnung mit Jan Helmer nutzen, und diesmal soll es kein Fiasko geben.» Die Männer waren sich darüber klar, worauf er hindeutete. Kriminalkommissar Helmer wurde von der internationalen Spionage-Organisation als einer der gefährlichsten Widersacher betrachtet, und da Werner Katz ihn gleichzeitig persönlich haßte, war beschlossen worden, ihn zu entführen. Was dann weiter mit ihm geschehen sollte, hätte vom Hauptbüro in Hamburg bestimmt werden müssen; doch während man diesen Beschluß noch abwartete, war Helmer die Flucht gelungen. Zwei Wächter hatten einander bei der Ablösung mißverstanden, so daß die Kellertür einige Minuten nicht abgeschlossen gewesen war. Eine knappe halbe Stunde später erschienen Streifenwagen bei dem Haus am Greve-Strand, doch inzwischen war die Flucht des Kommissars entdeckt worden, und die Bande hatte schon das Weite gesucht. Seither arbeitete die Polizei unter Hochdruck, um ihr auf die Spur zu kommen, jedoch vergebens; denn mittlerweile war das neue Hauptquartier in dem alten Gärtnerhaus aufgeschlagen worden. Wie die Füchse verfügten die Spione über mehrere Verstecke, und die unterirdische Arbeit wurde ungehindert fortgesetzt. «Also kein Fiasko mehr», sprach Katz weiter. «Eure Aufgabe ist es, Jan Helmer zu beschatten, abwechselnd immer zu zweit, von sechs Uhr morgens bis Mitternacht, und wenn sich die Gelegenheit ergibt, müßt ihr schnell handeln. Er wird dann hierher entführt.» Mit bösem Lächeln schloß er: «Ich will mit dem Burschen reden.» Nachdem die Helfershelfer gegangen waren, lehnte sich Katz zufrieden zurück und zündete sich eine Zigarette an. Hin und wieder lachte er leise vor sich hin. Abgesehen von dem Fehlschlag mit Kommissar Helmer hatte der Chef des -13-
Spionageringes allen Grund, mit den Zuständen zufrieden zu sein. Die Arbeit in Dänemark ging ganz nach Wunsch. Es war ein harter Schlag für die Spionage-Organisation gewesen, daß sich Paul Katz, in die Enge getrieben, das Leben genommen hatte; aber im Lauf der Zeit war das Netz neu geknüpft worden, und Werner Katz zeigte sich ebenso tüchtig und rigoros wie sein berüchtigter Bruder. Er hatte sich schon viele gute Verbindungen geschaffen. Meistens handelte es sich um nichtsahnende Leute, die sich von den geriebenen Spionen «auspumpen» ließen und ihrem Vaterland schadeten, ohne es zu wollen. Katz hatte sein Spionagenetz in Dänemark schon so fein gesponnen, daß er sogar über Jans Ankunft in Kopenhagen Bescheid wußte. Ein Kodekabel von der Zentrale in Bombay hatte ihm die Abflugszeit der Maschine mitgeteilt. Um sicherzugehen, war er zum Flughafen Kastrup gefahren und so Zeuge der Ankunft gewesen. Auf diese Weise bekam er auch einen Eindruck von Jans Aussehen, so daß er ihn seinen Leuten beschreiben konnte. Werner Katz war sich durchaus darüber klar, daß seine persönlichen Rachegefühle ihn daran hinderten, sich seinen eigentlichen Aufgaben zu widmen; doch er konnte nicht dagegen an, mochte es auch unklug sein. Für ihn bedeuteten Gegner nichts anderes als Steine in dem großen Spiel, aber einen Menschen gab es, den er von ganzem Herzen haßte, und dieser eine Mensch war Jan Helmer. Jan und Jens Bach waren im Kino gewesen. Nun saßen sie in Jens’ kleinem Sportwagen, der vor dem Helmerschen Gartentor hielt, und sprachen noch über den Film, den sie gesehen hatten. Es war ein milder, stiller Frühlingsabend, und es herrschte in dieser Gegend nur wenig Verkehr. Nach einer Weile brachte Jens die Rede auf die Entführung -14-
des Kommissars. «Weißt du, was ich befürchte, Jan? Die ser gefährliche Werner Katz könnte es im Grunde auf dich abgesehen haben.» «Durchaus möglich», antwortete Jan. «Ich werde auch die Augen offen halten. Aber seiner Meinung nach befinde ich mich irgendwo im Fernen Osten auf der ‹Flying Star› und…» «Da bin ich gar nicht so sicher», unterbrach ihn Jens. «Wenn er als Spion gute Verbindungen hat, weiß er, daß du nach Dänemark zurückgekehrt bist.» «Na, und?» gab Jan unbekümmert zurück. «Das nützt ihm nicht viel, denn er und seine Leute wissen ja nicht, wie ich aussehe.» «Könnte er nicht ein Bild von dir haben? Du warst ja öfters in den Zeitungen abgebildet.» «Zuletzt vor einem Jahr, und inzwischen habe ich mich stark verändert. Im übrigen ist die Kriminalpolizei an der Arbeit, und vielleicht hat sie die Spione geschnappt, bevor Katz mich aufspürt.» «Trotzdem würde ich an deiner Stelle…» Jens brach mitten im Satz ab und starrte mit offenem Mund auf ein Auto, das in entgegengesetzter Richtung langsam an ihnen vorbeifuhr. Dann rief er verdutzt: «So etwas! Das ist doch nicht möglich!» «Was ist denn los?» fragte Jan verwundert. Jens drehte sich um. «Siehst du das Auto dort?» «Ja, was ist damit?» «Es hat ein gefälschtes Nummernschild!» «Ihm nach, Jens!» Jans Kommando kam instinktiv. Es war sozusagen der Detektiv in ihm, der ihn so handeln ließ. Erst als der kleine Sportwagen gewendet hatte und dem Auto folgte, dachte Jan nach und erkundigte sich: «Woher weißt du eigentlich, daß das Nummernschild gefälscht ist?» Jens schüttelte den Kopf. «Sonderbare Sache. Du siehst doch, -15-
daß das Auto vor uns ein Ford ist und die Nummer A 2204 trägt, nicht wahr?» «Ja, das ist klar. Aber woraus schließt du…» «Ich will es dir erklären. Die echte Nummer A 2204 ist nämlich ein Chevrolet, der einem Fabrikdirektor draußen in Lyngby gehört. Er ist einer der besten Freunde meines Vaters und war erst vor drei Tagen bei uns zu Besuch.» «Bist du ganz sicher?» «Bombensicher!» «Interessant», sagte Jan. «In dem Auto sitzen zwei Männer», stellte Jens fest. «Halte gut Abstand», mahnte Jan. «Sie dürfen nicht merken, daß wir ihnen folgen.» Beim Bahnhof Österport bog der Wagen mit dem falschen Nummernschild nach links ab und fuhr schneller, so daß auch Jens mehr Gas geben mußte. Der Verkehr war in dieser Gegend so lebhaft, daß die Männer von der Verfolgung kaum etwas merken konnten. Sogar bei einem Kreisel ließ das Tempo nicht nach. Als das Auto von einer Geschäftsstraße nach rechts abbog, rief Jan: «Sieh dich vor, Jens, gleich werden sie wieder langsam fahren.» Er behielt recht. In der stillen Nebenstraße bewegte sich der Ford im Schneckentempo weiter. «Wie konntest du das wissen?» fragte Jens erstaunt. «Siehst du denn nicht, wo wir sind? Das ist doch unsere Straße! Wir sind im Kreis herumgefahren. Ich hege den Verdacht, daß in dem Ford zwei Leute der Katz-Bande sitzen, die Vater oder mir auflauern. Schau, wie langsam sie an unserem Haus vorbeifahren… und jetzt… jetzt halten sie!» «Was nun?» «Weiterfahren!» antwortete Jan rasch. «Ich ducke mich, damit sie mich nicht sehen können.» Von seinem Versteck aus sagte -16-
er: «Du darfst den Kopf nicht drehen, wenn du an ihnen vorbeifährst. Sonst werden sie mißtrauisch.» «Und was machen wir, wenn wir an ihnen vorbei sind?» «Fahr noch hundert Meter weiter und halte auf der linken Straßenseite.» Nachdem Jens diese Anweisung befolgt hatte, tauchte Jan wieder auf und erkundigte sich: «Stehen sie immer noch vor unserm Haus?» «Ja», antwortete Jens, der sich vorsichtig umgedreht hatte. «Sollten wir nicht deinen Vater alarmieren?» Jan schüttelte den Kopf. «Wenn wir das versuchen, riskieren wir, daß sie inzwischen verduften. Warten wir lieber ab, was geschieht. Schalte nur die Standlichter ein, aber laß den Motor laufen. Wir müssen bereit sein, die Verfolgung wiederaufzunehmen.» Obwohl die Wartezeit langsam verstrich, war es spannend. Jens sah sich immer wieder um und überzeugte sich, daß der Ford immer noch vor dem Helmerschen Hause stand. Es schlug Mitternacht, und plötzlich rief Jens: «Jan, sie fahren ab!» «Ich ducke mich wieder», sagte Jan schnell. «Laß ihnen einen Vorsprung bis zur nächsten Kreuzung, bevor du ihnen folgst.» Kurz darauf war die Verfolgung wieder in vollem Gang. Nachdem der Ford abgebogen war, rief Jan: «Volle Kraft voraus, Jens! Wir müssen sie einholen!» Jens antwortete nicht, sondern biß die Zähne zusammen. Der Sportwagen sauste so schnell dahin, daß ein Verkehrspolizist ihn wahrscheinlich aufgeschrieben hätte. Aber das war gut, denn diesmal beschrieb der Ford keinen Kreis, sondern setzte die Fahrt geradeaus fort. Jan richtete sich wieder auf und nickte zufrieden, als er den Wagen weiter vorn sah. «Jedenfalls können sie nicht wissen, daß sie verfolgt werden», sagte er. -17-
«Dazu ist der Verkehr auch zu lebhaft», meinte Jens. Das änderte sich jedoch, als sie Lyngby hinter sich hatten und unter einem Eisenbahnviadukt durchführen. Sie mußten dem Ford wieder einen größeren Vorsprung lassen. Er zweigte mehrmals ab, und als der Sportwagen wieder einmal um eine Ecke bog, konnten Jan und Jens die Schlußlichter des Fords plötzlich nicht mehr sehen. Eine Zeitlang fuhren sie aufs Geratewohl hin und her, aber A 2204 war wie vom Erdboden verschwunden. «Zu ärgerlich», sagte Jens enttäuscht. «Nicht so schlimm», erwiderte Jan. «Auf jeden Fall wissen wir jetzt, daß der Wagen mit dem falschen Nummernschild in diese Gegend gehört, und so können wir die Sache morgen abend näher untersuchen.» «Wir?» gab Jens bedenklich zurück. Jan lachte. «Ich weiß, was du denkst, Jens. Du findest, ich müßte es Vater erzählen, aber damit möchte ich lieber noch warten.» «Warum?» «Aus dem einfachen Grund, weil ich Vater nicht mit einer halben Geschichte kommen will. Mit Sicherheit wissen wir vorläufig nur, daß wir ein Auto mit gefälschtem Nummernschild verfolgt haben. Daß es sich dabei um die Spionenbande handeln konnte, ist nichts als bloße Vermutung.» «Du bist unverbesserlich, Jan», sagte Jens. «Ich verstehe übrigens, was du meinst und… na ja, ich bin mit von der Partie!» «Fein. Fahren wir also nach Kopenhagen zurück.»
-18-
DRITTES KAPITEL Tags darauf hatte Jan Bedenken wegen der Lage, aber der Detektiv in ihm verlangte sein Recht. Es lockte ihn, zu seinem Vater sagen zu können: ‹Bitte sehr, du findest die Spionenbande da und da…› Große Hoffnungen hegte er zwar nicht, weil er ja keinen weiteren Anhaltspunkt hatte als die Tatsache, daß sich zwei Männer in einem Auto mit falschem Nummernschild für die Straße interessiert hatten, in der Kriminalkommissar Helmer und sein Sohn wohnten. Trotzdem fühlte er instinktiv, daß etwas dahinterstecken mußte, und er dachte daran, daß seine Freunde immer behaupteten, er habe einen sechsten Sinn. Wenn er jetzt selbständig vorging, würde ihm der Vater bestimmt Vorwürfe machen, aber im stillen stolz auf ihn sein, falls sich die Nachforschungen als erfolgreich erwiesen. Im übrigen war Jan ehrlich genug, sich einzugestehen, daß er gern die Gelege nheit ergriff, die Langeweile zu vertreiben. Mittags kam Jens, und gleich nach dem Essen zog Jan ihn in sein Zimmer, um mit ihm den Schlachtplan für den Abend zu entwerfen. Aber die beiden hatten die Rechnung ohne Lis gemacht. Sehr bald schon platzte sie herein, ließ sich gemütlich nieder und sagte munter: «So, ihr Banditen, laßt hören, worum sich die Sache dreht!» «Was für eine Sache?» murmelte Jan ein wenig verlegen. «Mir ist nicht klar, was du meinst, Lis.» Sie lachte. «Wie naiv du auf deine alten Tage geworden bist! Ich kenne dich schon manches Jahr, Bruderherz, und es entgeht mir nicht, wenn du etwas im Schilde führst. Gestern abend hast du mit Jens etwas unternommen, und heute habt ihr eine neue -19-
Geheimniskrämerei. Rückt also heraus mit der Sprache!» Die beiden jungen Männer wechselten einen Blick, und dann fragte Jan: «Kannst du ein Geheimnis für dich behalten, Lis?» Sie fragte zurück: «Habe ich dir das nicht oft genug bewiesen?» «Also gut, wir wollen dich einweihen.» Hierauf erzählte er ihr alles. Als er geendet hatte, seufzte Lis schicksalsergeben. «Du bist schrecklich, Jan. Jahrelang hast du dich tollkühn in Abenteuer gestürzt, und nun willst du auch noch meinen geliebten Zukünftigen aufs Glatteis locken. Gehst du freiwillig mit, Jens?» «Offen gestanden, ja», antwortete Jens. Sie lachte. «Ihr beide paßt gut zusammen. In ein paar Monaten wollen wir heiraten, Jens, und da forderst du das Schicksal heraus. Meiner Meinung nach ist es gefährlich, Räuber und Gendarm zu spielen. Oder habt ihr am Ende vergessen, daß Werner Katz Vater entführt hat und böse Absichten mit ihm hatte?» «Wir wissen ja nicht einmal, ob wir es wirklich mit Katz zu tun haben», rechtfertigte sich Jan. Lis hob abwehrend die Hand. «Red keinen Unsinn! Du weißt recht gut, worum es geht. Aber weißt du es auch, Jens?» «Gerade deshalb ist es ja so verlockend», antwortete Jens ehrlich. Sie seufzte abermals. «Da kann man nichts machen.» Ihr Blick fiel auf Boy, der zwischen ihnen saß und aussah, als verstünde er jedes Wort. Sie streichelte den Hund und sagte: «Unter einer Bedingung lasse ich euch euren Willen. Ihr müßt Boy auf eure Expedition mitnehmen.» «Das hatte ich ohnehin vor», gab Jan ernst zurück. «Du mußt uns nicht für leichtsinniger halten, als wir sind.» «Dann bleibt mir nichts anderes mehr übrig, als euch Hals-20-
und Beinbruch zu wünschen.» Abends waren Jan und Jens wieder im Sportwagen unterwegs. Zu ihren Füßen lag Boy, der den Eindruck machte, als ob er etwas Besonderes erwartete. Sie fuhren in gleichmäßigem Tempo, aber auf der Straße nach Lyngby lenkte Jens den Wagen plötzlich zum Randstein und bremste. Jan fragte erstaunt: «Ist etwas nicht in Ordnung?» Jens warf einen Blick auf den Rückspiegel, bevor er antwortete: «Das kann man wohl sagen, denn heute werden wir verfolgt.» «Wie kommst du darauf?» «Es fiel mir schon beim Kreisel auf. Wir hatten ein Auto dicht hinter uns, und es schien mir A 2204 zu sein. Jetzt hat der Wagen ungefähr fünfzig Meter hinter uns gehalten. Ich wollte nämlich die Probe machen. Was sollen wir nun tun?» Jan überlegte. Dann sagte er: «Steig aus und mach dir irgendwie am Motor zu schaffen, damit sie nicht mißtrauisch werden. Inzwischen setze ich meine Gehirnzellen in Tätigkeit.» «Wie lange willst du sie betätigen?» «Du kannst drei Minuten lang an deinem Motor herumfummeln.» Jens stieg aus, und es wirkte durchaus natürlich, als er die Motorhaube öffnete und irgendwelche Untersuchungen vornahm. Als er sich einige Minuten später wieder ans Steuer setzte, sagte Jan: «Du hältst dich doch für einen besonders guten Autofahrer, Jens. Nun zeig einmal, was du kannst. Die Kerle können unmöglich wissen, daß wir zu ihrem Bau unterwegs sind. Also müssen wir sie abschütteln. Kannst du wie der Blitz fahren?» «Wenn mir die Verkehrspolizei kein Bein stellt», antwortete Jens kurz. -21-
«Darauf müssen wir es ankommen lassen. Du schießt einfach mit einem Hechtsprung los, biegst bei der ersten Abzweigung nach rechts ab und fährst dann aufs Geratewohl kreuz und quer. Ich rechne damit, daß du unsere Verfolger abschütteln wirst.» «Will mein Bestes tun. Halt dich fest, Jan!» Obwohl dieser Rat scherzhaft gemeint war, wurde Jan in seinem Sitz zurückgeschleudert, als der Sportwagen losbrauste. Schon im zweiten Gang nahm das Tempo stark zu, und wenige Sekunden später sausten sie dahin. Jens warf einen Blick auf den Rückspiegel und sagte mit zusammengebissenen Zähnen: «Ja, sie folgen uns.» «Jetzt rechts abbiegen!» befahl Jan. «Du mußt sie abschütteln.» Die Reifen quietschten, als der Wagen abbog, und dann gab Jens erneut Gas. Er war ein glänzender Autofahrer, der mit seinem Wagen auf du und du stand, so daß er selbst bei größter Geschwindigkeit sein Auto beherrschte und nie ein dummdreistes Wagnis einging. In den nächsten fünf Minuten fuhr er kreuz und quer durch die Straßen, bis er zufrieden verkünden konnte: «So, ich glaube, nun sind wir sie los.» «Bravo, Jens!» Jan seufzte erleichtert auf. «Wir wollen uns ein wenig Ruhe gönnen, bevor wir die Lyngby-Straße ansteuern.» Jens schlug noch einige Haken und bog schließlich in die Lyngby-Straße ein. Sicherheitshalber spähte er die linke Seitenstraße hinab, aber der geheimnisvolle A 2204 war nirgends zu sehen. Während sie in nördlicher Richtung weiterfuhren, führte Jan ein kleines Gespräch mit Boy: «So, mein Freund, jetzt hast du einen Vorgeschmack gehabt, wie es ist, wenn du mitmachen sollst. Dein Vater war ein tapferes Tier, das vor nichts zurückschreckte, und wenn du ihm nachschlägst, können wir mit dir zufrieden sein. Du wirst uns nicht enttäuschen, nicht wahr?» Boy knurrte leise, als wollte er sagen: «Du kannst sicher sein, -22-
daß ich meinem berühmten Vater keine Schande machen werde.» Auf der breiten Landstraße setzte der kleine Sportwagen die Fahrt ins unbekannte Abenteuer fort. Natürlich mußten die beiden jungen Männer ihre Nachforschungen aufs Geratewohl betreib en. Sie wußten zwar, wo der Ford am vergangenen Abend verschwunden war, aber weitere Anhaltspunkte hatten sie nicht. Für alle Fälle parkten sie den Wagen in einiger Entfernung von der Stelle, und da Boy aufs Wort gehorchte, durfte er vorläufig frei laufen. Ringsum gab es hier, an der Grenze zwischen Stadt und Land, viele kleinere Häuser, doch dazwischen breiteten sich Wiesen mit einzelnen Gehöften aus, die der Ausbreitung der Großstadt bisher Widerstand geleistet hatten. Auch Wald war zu sehen, und weiter vorn glänzte der Furesee wie ein Spiegel im klaren Mondschein. Nach kurzer Beratung einigten sich Jan und Jens, getrennte Wege zu gehen und sich nach einer halben Stunde wieder beim parkenden Sportwagen zu treffen; jeder sollte auf eigene Faust versuchen, «etwas herauszufinden». Jan hatte mehr Glück als Jens, denn als sie sich wieder trafen, konnte er berichten: «Wir sind bestimmt auf einer Spur, Jens. Ich traf zufällig einen Burschen, der sich als Ausläufer einer Bäckerei ausgab und nicht sehr hell aussah, so daß ich keine Hemmungen hatte, ihn auszufragen. Er erzählte mir, daß ein deutscher Schriftsteller vor ein paar Monaten hier in der Nähe ein altes Gärtnerhaus gekauft oder gemietet hat. Er soll ein ordentlicher Mann sein, der still und friedlich seiner Schriftstellerei lebt; aber mir scheint, wir sollten ihn uns etwas näher ansehen. Ich könnte mir vorstellen, daß er in Wirklichkeit gar nicht so ordentlich ist.» Jens nickte. «Jedenfalls wird es nichts schaden, wenn wir uns das alte Gärtnerhaus näher ansehe n.» -23-
Fünf Minuten später näherten sie sich der ehemaligen Gärtnerei, die recht verwildert war; von der einstigen blühenden Herrlichkeit zeugten bloß noch an die fünfzig Obstbäume. In dem großen Hauptgebäude war nur ein Fenster erleuchtet. Jan warf einen Blick über die niedrige Dornenhecke und sagte leise: «Ich fühle einen unbezähmbaren Drang, durch das erhellte Fenster zu gucken. Warte du hier mit Boy.» «Sollten wir nicht lieber zusammen gehen?» wandte Jens ein. «Nein. Allein kann man sich besser helfen, Jens. Bis gleich!» Jan verzichtete darauf, das Gartentor zu suchen, er benutzte eine kleine Öffnung in der Hecke. Er vergrößerte sie, wobei er sich zwar die Hände zerkratzte, aber auf diese Weise konnte er in den Hintergarten eindringen, wo er sicherer zu sein glaubte als auf der Vorderseite. Hier hatte er eine Blockhütte vor sich, die er für einen Geräteschuppen hielt; doch plötzlich kam ihm der Gedanke, daß sie ja als Garage dienen könnte. Sie stand halb im Schatten des Hauses; die Seite, auf der sich die Tür befand, wurde vom Mondlicht beschienen. Er beschloß nachzusehen. Vorsichtig huschte er zu der Tür, die angelehnt war. Sie knarrte ein wenig, als er sie aufmachte. Wahrhaftig, das kühne Unterfangen lohnte sich – drinnen stand ein Auto, und deutlich erkannte Jan das Nummernschild: A 2204! Obwohl diese Entdeckung für ihn keine sonderliche Überraschung bedeutete, lächelte er frohlockend vor sich hin. Nun war er seiner Sache so gut wie sicher. Schnell glitt er wieder in den Schatten und schlich unter das erleuchtete Fenster, obwohl er das letzte Stück im Mondschein zurücklegen mußte. Er war sich darüber klar, daß er jetzt das größte Risiko einging. Die Fassade wurde vom Mond beschienen. Um zu dem Fenster hineinzuspähen, blieb ihm nichts anderes übrig, als ein paar Meter am Spalier hinaufzuklettern. Gegebenenfalls konnte er dabei vom Weg aus gesehen werden. -24-
Er hielt sich so behutsam wie möglich am Hauptstamm des Spaliers fest und arbeitete sich empor. Einige Zweige knackten, und Blätter fielen zu Boden; aber Jan sagte sich, daß die leisen Geräusche nur von seinem Bewußtsein aufgenommen wurden. Drinnen im Zimmer waren sie sicher nicht zu hören. Als sich sein Kopf in gleicher Höhe mit dem Fenstersims befand, konnte er nur hoffen, daß niemand in dem erhellten Zimmer zufällig zum Fenster blickte. Zentimeter um Zentimeter schob er den Kopf hoch, bis er ins Zimmer zu spähen vermochte. In dem recht spärlich eingerichteten Raum saß ein Mann mit dem Rücken zum Fenster, und vor ihm standen zwei andere, die ihm offenbar eine Erklärung abgaben, während der Sitzende unbeweglich zuhörte. Jan vernahm nur ein Gemurmel, obwohl er sich anstrengte, die Worte zu verstehen. Er mußte es darauf ankommen lassen. Er schob sich noch etwas höher, legte das Ohr an die Scheibe und hielt den Atem an. Deutlich hörte er den einen Mann sagen: «Und wenn es heute abend auch schiefging, werden wir ihn schon noch abknallen!» Jan schrak so sehr zusammen, daß er mit dem Kopf seitwärts an die Scheibe schlug. Der andere Mann schaute zum Fenster, stieß einen Ruf aus und deutete mit dem Zeigefinger hin. Der Sitzende sprang auf und fuhr herum. Jan erschrak noch mehr, denn hätte er es nicht besser gewußt, so hätte er darauf schwören können, daß dieser Mann der Meisterspion Paul Katz war. In seiner Benommenheit ließ er den Stamm des Spaliers los, rutschte mit krampfhaft haltsuchenden Händen abwärts und prallte ziemlich unsanft auf den Boden. Wie im Traum hörte er, daß das Fenster aufgerissen wurde. Dann vernahm er laute Rufe und stampfende Schritte. Sowie er sich aufgerafft hatte, rannte er los. Es glückte ihm, das Loch in der Hecke sogleich wiederzufinden, und ohne der -25-
Dornen zu achten, stürzte er zum Weg und rannte weiter. Jens kam ihm mit dem Ruf entgegen: «Was ist geschehen, Jan?» «Ich war…» Mehr konnte Jan nicht sagen, denn in diesem Augenblick tauchte Katz an der Ecke der Dornenhecke auf und brüllte: «Halt, oder ich schieße!» Die beiden Freunde standen wie versteinert, als Katz mit gezückter Pistole auf sie zustürzte; aber dann befahl Jan: «Faß, Boy!» Der kluge Hund hatte offenbar nur auf dieses Kommando gewartet; mit einem Satz sprang er auf den Mann zu. Sogleich krachte ein Schuß. Katz hatte seine Pistole auf Boy abgefeuert. Anscheinend war der Hund nicht getroffen worden, denn mit wildem Knurren biß er sich am Hosenbein des Gegners fest, der fast hintenüber gefallen wäre. Blitzschnell spielten sich die Ereignisse ab. Die beiden andern Männer kamen jetzt angelaufen, und der größere – ein wahrer Riese – packte Boy am Halsband, riß ihn zurück und schleuderte ihn im Bogen über die Hecke. «Weg! Schnell weg!» schrie Katz und lief zurück. Die Männer folgten ihm. Ein grauer Schatten flog über die Hecke. Das war Boy, der den Flüchtenden nachsetzen wollte, aber Jan befahl scharf: «Boy, komm her!» Der Hund blieb stehen, sichtlich im Zweifel, was er tun sollte, und Jan wiederholte das Kommando. Diesmal gehorchte Boy und blickte verständnislos zu seinem jungen Herrn auf. Jan tätschelte ihm den Kopf. «Brav, Boy, sehr brav!» Die drei Männer waren um die Ecke gebogen. Jens fuhr sich mit der Hand über die feuchte Stirn und fragte verwundert: -26-
«Warum hast du Boy die drei Banditen nicht fangen lassen?» Jan schüttelte den Kopf. «Katz hat auf Boy geschossen, ohne ihn zu treffen; aber wer weiß, ob er das zweitemal nicht besser schießt…» Boy lief plötzlich den Weg entlang und kehrte mit einem Stoffetzen im Maul zurück. «Brav, Boy, brav!» rief Jan und streichelte ihn. «Den Mann haben wir nicht erwischt, aber ein Stück von seinem Anzug, das uns vielleicht dienlich sein wird.» Er steckte den Fetzen ein. «Ich bin billig mit ein paar Kratzern weggekommen, Jens, und nun schlage ich vor, daß wir uns das Haus inwendig etwas näher ansehen.» «Was sagst du?» erwiderte Jens verblüfft. «Du willst das Haus untersuchen? Dorthin sind die Kerle doch gelaufen.» «Das bezweifle ich stark», erklärte Jan. «Als Katz und seine Helfershelfer Hals über Kopf Reißaus nahmen, wurden sie nur von dem Gedanken getrieben, daß auch wir Helfer in der Nähe haben, und zwar die Polizei. Daß wir auf eigene Faust vorgegangen sind, werden sie niemals annehmen. Bestimmt haben sie das Feld geräumt.» «Wenn du meinst…» gab Jens zögernd zurück. «Aber ist es mir vielleicht gestattet, erst einmal meine Pfeife anzuzünden und mich von dem Schrecken zu erholen?» «Schmauch nur los», sagte Jan lächelnd, «wenn es deinen Nerven guttut.»
-27-
VIERTES KAPITEL Nachdem Jens seine Pfeife angezündet und ein paar Züge genossen hatte, krochen beide durch das Loch in der Hecke, und Boy folgte ihnen. Kurz darauf standen sie vor der Haupttür des Hauses, die, wie Jan erwartet hatte, nicht verschlossen war. Jan machte sie auf, und sie gelangten in eine Diele, die nichts Besonderes enthielt. Die Küche zur Linken war ebenso uninteressant; die Tür zur Rechten führte in das Zimmer, wo die drei Spione miteinander gesprochen hatten. Hier brannte die Deckenlampe immer noch. Jan hatte gehofft, wichtige Papiere zu finden, wurde jedoch enttäuscht. Wenn sich in diesem Hause irgendwelche aufschlußreiche Papiere befanden, mußten sie woanders versteckt sein. In zwei kleineren Räumen war auch nichts zu entdecken. Gerade hatte Jan das Licht im letzten Zimmer gelöscht, da begann Boy zu knurren und spitzte die Ohren. Jan befahl leise, aber bestimmt: «Still, Boy!» Der Hund gehorchte augenblicklich, und Jan lauschte gespannt. Er erschrak, denn draußen knirschte der Kies. Kehrte Katz mit seinen Helfershelfern am Ende zurück? So plötzlich ihm der Gedanke gekommen war, so schnell gab er ihn auch auf. Er hielt es für unwahrscheinlich, daß die drei in Panik Geflüchteten nun in aller Seelenruhe zurückkehrten. Vermutlich waren es andere Mitglieder der Bande; doch das änderte nichts an der Tatsache, daß er jetzt mit Jens und Boy in einer Falle saß. Rasch schloß er die Durchgangstür zu dem erhellten Zimmer, wiederholte seinen Befehl an den Hund, sich still zu verhalten, und sagte leise zu Jens: «Nun sind wir in der Tinte. Es kommen Leute. Mach deine Pfeife aus.» Jens klopfte seine Pfeife am Absatz aus und zertrat die Glut. -28-
Durch die geschlossene Tür konnten sie hören, daß einige Männer das große Zimmer betraten. Sie sprachen miteinander, aber es klang nicht, als ob es sie beunruhigte, das Zimmer menschenleer zu finden. Stühle scharrten, und einer der Leute gähnte laut, woraus zu schließen war, daß sie sich sicher fühlten. Es schienen drei Männer zu sein, aber wie lange würden sie bleiben, und gab es für sie wohl einen Grund, die Tür zu dem Raum zu öffnen, in dem sich Jan mit Jens und Boy aufhielt? Diese letzte Frage bewirkte, daß sich Jan auf einen alten Lehrsatz besann: Die beste Verteidigung war ein Angriff! Auf jeden Fall mußte man mit der Möglichkeit rechnen, daß die drei Männer bewaffnet waren; folglich kam nur eine Überrumpelung in Betracht. Blitzschnell faßte Jan seinen Entschluß und flüsterte Jens ins Ohr: «Wir können uns aus dieser verflixten Lage nur befreien, wenn wir frech vorgehen. Vielleicht sind die drei Männer da drinnen bewaffnet, und wir müssen sie überrumpeln.» «Aber wie?» raunte Jens. «Wir haben keine Waffe.» «Du hast deine Pfeife. Tu so, als ob es eine Pistole wäre. Ich rechne mit der Schockwirkung. Außerdem haben wir Boy. Wollen wir es wagen?» «Natürlich.» Jens hatte sofort begriffen, was Jan meinte, und nahm den Pfeifenkopf in die Hand, so daß der Stiel wie der Lauf einer Pistole hervorragte. «Bist du bereit?» flüsterte Jan. «Klar zum Gefecht!» Vorsichtig drückte Jan die Türklinke hinunter. Dann riß er die Tür jählings auf und rief mit aller Lungenkraft: «Hände hoch!» Die nichtsahnenden Männer erschraken so sehr, daß sie beinahe vom Stuhl gefallen wären. Sie sprangen verwirrt auf, und Jan wiederholte drohend: «Hände hoch, oder wir schießen!» Jens stand mit gezückter «Pistole», und Boy zeigte seine -29-
kräftigen Zähne. In fassungslosem Entsetzen hoben die drei Männer die Hände hoch. Jan befahl scharf: «Umdrehen! Mit dem Gesicht zur Wand!» Zwei Männer gehorchten augenblicklich, während der dritte zauderte. Mit schneidender Stimme rief Jan seinem Schwager zu: «Bis drei zählen, Jens, und dann schießen!» «Eins», begann Jens, «zwei…» Da drehte sich der Mann zur Wand. Jan seufzte im stillen erleichtert auf. Trotzdem fiel er nicht aus der Rolle, sondern fuhr in strengem Tone fort: «Jens, du deckst die drei Kerle, während ich sie nach Waffen durchsuche. Wenn einer von ihnen die Arme senkt, schießt du sofort! Verstanden?» «Wird gemacht», antwortete Jens hart. «Stell dich mehr rechts auf, damit du freie Schußlinie hast.» «Zu Befehl.» Jens rückte ein paar Schritte zur Seite; es fiel ihm schwer, ernst zu bleiben. Jan suchte die drei Männer gründlich nach Waffen ab. Zwei waren unbewaffnet, aber der dritte trug eine Pistolenhalfter. Als Jan die 7,65- mm-Walther in den Händen hielt, sagte er scharf: «Soso, meine Herren, das wird eine teure Sache werden. In Dänemark wird es streng bestraft, eine Feuerwaffe bei sich zu haben.» Der Mann, der die Pistole getragen hatte, trat von einem Fuß auf den andern, worauf Jan befahl: «Paß auf ihn auf, Boy!» In der nächsten Sekunde stand das Tier so nahe bei dem Mann, daß er den warmen Atem des Hundes im Rücken spürte. Jan sagte ruhig zu Jens: «Ich rufe nun den Kommissar an. Laß die Pistole ja nicht sinken. Sowie sich einer rührt, wird er erschossen – auf meine Verantwortung!» «Zu Befehl», antwortete Jens und schnitt eine Grimasse, um sich das Lachen zu verbeißen. Jan ging zum Telephonapparat hinüber, der auf einem -30-
Ecktischchen stand, und sowie er mit seinem Vater verbunden war, erklärte er mit kurzen Worten, was sich ereignet hatte, und wo das Gärtnerhaus stand. Kommissar Helmer sagte nur hastig: «Die Streifenwagen werden in einer Viertelstunde dort sein.» «Jens hält inzwischen die drei Kerle mit einer Pistole in Schach», antwortete Jan. «Das will ich hoffen.» Am Tonfall war zu merken, daß der Kommissar Jens’ Pistole nicht recht traute, aber die Klugheit hielt ihn davon ab, überflüssige Fragen zu stellen. Nachdem Jan den Hörer aufgelegt hatte, wandte er sich augenzwinkernd an Jens: «In wenigen Minuten ist das Haus voll Polizei.» Er blickte auf seine Uhr. Eine Viertelstunde konnte unter Umständen eine verteufelt lange Zeit sein. Was sollte werden, wenn inzwischen noch mehr Leute von der Bande auftauchten? Einmal konnte ein Bluff glücken. Die schlimmste Vorstellung war es für Jan, daß Katz auf den Gedanken verfallen könnte, in sein Hauptquartier zurückzukehren. In diesem Falle wäre alles verloren… Die Minuten verstrichen im Schneckentempo, und Jan merkte, daß ihm das Hemd am Leibe klebte. Noch nie war der Sekundenzeiger so langsam von der Stelle gerückt. Noch acht Minuten! Er untersuchte die Pistole, die er dem einen Mann abgenommen hatte. Im Magazin staken fünf Patronen, und als er den Ladestreifen drehte, sprang die sechste heraus und rollte unter das Tischchen. Die drei Männer bewegten sich unruhig, als sie die Geräusche hörten, aber Jan befahl barsch: «Stillgestanden und Hände hoch! Jens, du schießt sofort, wenn sie sich nic ht ruhig verhalten.» Jens hätte gern geantwortet, daß er lieber seine Tabakpfeife rauchen würde, doch er begnügte sich mit seinem üblichen «Zu Befehl». Jan bückte sich, um die Patrone unter dem Tischchen -31-
hervorzuholen. Dabei fiel sein Blick auf ein abgeris senes Stückchen von einer Karte. Er hob es auf und las die unverständlichen Wortteile: thinger akler ur rup Es war offenbar ein Teil von einer zerrissenen Visitenkarte, aber trotz gründlichem Suchen konnte Jan die andere Hälfte nicht finden. Also steckte er den Kartenfetzen in die Tasche und begann auf und ab zu gehen. Noch drei Minuten! Mit dem Gesicht zur Wand und mit erhobenen Armen standen die drei Männer jetzt ganz unbeweglich, während Boy hinter ihnen aufmerksam Wache hielt. Keiner der drei hatte bisher ein Wort geäußert, und gerade das steigerte Jans Unruhe, obwohl er sich damit tröstete, daß die Polizei jede Minute eintreffen konnte. Nein, das Spiel durfte nicht verloren werden! Er machte Jens ein Zeichen und schlüpfte zur Tür hinaus. Die kühle Frühjahrsluft, die ihm draußen entgegenschlug, war wohltuend, und er atmete sie in tiefen Zügen ein. In der Ferne erblickte er Scheinwerfer von näherkommenden Wagen; er zählte drei. Er sprang mitten auf den Weg und schwenkte die Arme. Die Autokolonne blieb ein paar Schritte von ihm entfernt stehen, und Polizeibeamte – uniformierte und in Zivil – stiegen eiligst aus, mehrere mit schußbereiter Pistole. Sie bedurften keiner besonderen Erklärung, sondern stürmten sogleich durch den Garten zum Haus. Ein viertes Auto kam an, dem Kommissar Helmer entstieg. «Hallo, Jan!» rief er. «Ist alles in Ordnung? Ist euch auch nichts geschehen?» -32-
«Alles ist in bester Ordnung», antwortete Jan lachend. «Ich habe mir nur die Hände an der Hecke zerkratzt. Deine Leute sind schon im Haus und machen die drei Spione dingfest.» «Nun erklär mir erst einmal alles», verlangte Helmer. Jan erstattete kurz Bericht, und als er geendet hatte, sagte sein Vater: «Weißt du, was ich getan hätte, wenn du im letzten Jahr nicht so gewachsen wärst?» «Was denn, Vater?» «Ich hätte dich vor den Augen meiner Leute übers Knie gelegt!» «Wirklich?» Helmer schmunzelte. «Und danach hätte ich gesagt, daß du ein prächtiger Bursche bist. Gib mir jetzt die Pistole.» Jan gab sie ihm, und Helmer überzeugte sich, daß sie gesichert war. «Vater, du wirst doch Jens’ Pistole nicht auch beschlagnahmen?» «Frechdachs! Ihr beide fahrt jetzt sofort heim. Wir sprechen uns morgen.» Zehn Minuten später saßen Jan und Jens wieder in dem kleinen Sportwagen, und Boy legte sich zu ihren Füßen nieder. Jens lachte vor sich hin und sagte: «Weißt du, was ich tun möchte, Jan?» «Nein. Was?» «Ich möchte meine Pfeife stopfen, bevor wir losfahren!» Am folgenden Morgen hatte Kommissar Helmer in seinem Arbeitszimmer ein längeres Gespräch mit seinem Sohn. Jan schilderte ihm nun die Vorfälle im einzelnen. «Eigentlich sollte die Tabakpfeife der Sammlung im Kriminalmuseum einverleibt werden», sagte Helmer lächelnd, -33-
als Jan geendet hatte. «Aber Jens hängt wahrscheinlich an ihr.» Dann wurde er ernst. «Wie immer hast du gute Arbeit geleistet, Jan. Wenn ich dich lobe, anstatt Vorwürfe auf dein sündiges Haupt zu laden, so hat das seinen bestimmten Grund. Schon als Vierzehnjähriger hast du angefangen, dich als Detektiv zu betätigen, und oft ein gefährliches Spiel getrieben. Die Begabung ist dir nicht abzusprechen, aber man muß auch einräumen, daß du meistens Glück gehabt hast. Heute ist es etwas anderes. Du bist fast erwachsen, und es beunruhigt mich nicht mehr, wenn du dich in gefährliche Dinge mischst. Auch meine Kollegen und der Polizeidirektor finden, daß du die Eignung zum Detektiv hast. Darum möchte ich dir eine wichtige Frage stellen…» Der Kommissar ließ sich Zeit, seine Pfeife umständlich anzuzünden und ein paar Züge zu paffen. Jan ahnte, was kommen würde. «Du wolltest Ingenieur werden und hast mit dem Studium begonnen. Ist das immer noch dein Wunsch?» Erst nach einer Weile antwortete Jan: «Ja-a… eigentlich… das heißt…» «Hm, das klingt nicht sehr überzeugend, mein Junge, trotzdem will ich es für bare Münze nehmen. Na ja, wir haben abgemacht, daß du das Studium mit Erling zusammen fortsetzt, und da er erst in einem halben Jahr nach Dänemark zurückkehrt, hast du ja genügend Zeit, dir die Sache zu überlegen.» «Warum sagst du das alles, Vater?» fragte Jan. Helmer entsandte eine neue Rauchwolke zur Decke. «Weil mir scheint, daß du ein Gewinn für die Kriminalpolizei werden könntest, denn deine Begabung liegt klar zutage. Hingegen hättest du als Ingenieur mit einer starken Konkurrenz zu rechnen.» «Meinst du Erling?» «Ich meine nicht nur Erling, sondern noch viele andere. Erling -34-
würde als Polizeibeamter immer in deinem Schatten stehen, weil seine Begabung auf anderen Gebieten liegt. Das hat sich ja schon in der Schule gezeigt. Nun, ich will dir nicht dreinreden; du weißt, daß du deinen Beruf nach eigenem Gutdünken wählen kannst. Aber du sollst wissen, daß ich nicht das geringste dagegen hätte, wenn du in die Polizeischule eintreten möchtest. Wie gesagt, du hast ein halbes Jahr Zeit, es dir zu überlegen. Ich mache dir eine n etwas ungewöhnlichen Vorschlag, Jan. Im nächsten halben Jahr kannst du nach Herzenslust Detektiv spielen, ohne daß ich dir Vorwürfe machen werde. Im Gegenteil, als Polizeibeamter werde ich dir zur Seite stehen.» «Ich darf also selbständig vorgehen?» fragte Jan gespannt. «Gemach, gemach», antwortete Helmer lachend. «Du kennst die Gesetze, mein Junge. Jeder hat die Bürgerpflicht, die Behörde zu benachrichtigen, wenn er über ein geplantes Verbrechen Bescheid weiß. Es gibt jedoch Fälle, wo es sich schwer beur teilen läßt, ob rasches Handeln nicht noch wichtiger ist. Ich überlasse die Entscheidung deinem gesunden Menschenverstand.» Er warf einen Blick auf seine Uhr. «Ich muß ins Amt. Einen Rat möchte ich dir noch geben, Jan. Was die Spionage-Organisation betrifft, so haben wir erst drei Mann hinter Schloß und Riegel. Es bleiben noch eine ganze Menge, unter ihnen Werner Katz, der gefährlichste von allen. Wir wissen nun mit Sicherheit, daß sie es auf dich abgesehen haben, und ich rate dir: Gib gut auf dich acht!»
-35-
FÜNFTES KAPITEL Nach dieser Unterredung saß Jan sehr nachdenklich an seinem Schreibtisch. Er hatte sich so sehr an die Vorstellung gewöhnt, wie sein Freund Erling Krag Ingenieur zu werden, daß er vom Vorschlag des Vaters ganz verblüfft war. Natürlich klang es verlockend, Brücken, Eisenbahn- und Hafenanlagen zu bauen, aber ob es nicht doch noch fesselnder und befriedigender wäre, seine ausgesprochene Begabung für den Kampf gegen das Verbrechertum einzusetzen? Jedenfalls wollte er erst einmal den gefährlichen Werner Katz unschädlich machen… Er holte die abgerissene Visitenkarte aus dem Schubfach, in dem er sie aufbewahrt hatte, und betrachtete die Wortfetzen: thinger akler ur rup Offenbar waren diese Bruchstücke die Endungen irgendwelcher Wörter, und vermutlich war «thinger» das Ende eines Namens, der sich jedoch nicht einmal erraten ließ. Leichter schien es zu sein, hinter die Bedeutung von «akler» zu kommen, denn das konnte nur Makler bedeuten, vielleicht Schiffsmakler, Börsenmakler oder Grundstücksmakler. Nein, Grundstücksmakler paßte nicht zu der Anordnung, dann eher Warenmakler. Die Buchstaben «ur» gehörten entschieden zu einem kurzen Wort, wahrscheinlich zu Agentur. Ja, das dürfte stimmen, überlegte Jan, denn nach dänischem Gesetz konnte ein Makler nur Geschäftsvermittler sein und nicht im eigenen Namen Geschäfte abschließen; er unterstand dem sogenannten Agenturvertrag. Kopfschüttelnd betrachtete Jan die Buchstaben «rup». -36-
Natürlich war das letzte Wort der Ortsname, und wenn man annahm, daß es sich um einen Ort in der Nähe von Kopenhagen handelte – dieser Gedanke lag ja nahe –, kamen bloß Glostrup, Kastrup und Ordrup in Frage. Nur merkwürdig, daß weder ein Straßenname noch eine Telephonnummer auf der Karte stand… Ein Geschäftsmann würde doch niemals auf diese Angaben verzichten. Mit dieser Visitenkarte mußte es eine besondere Bewandtnis haben; dahinter verbarg sich irgend etwas Unreelles… Wahrscheinlich gab es in Glostrup, Kastrup oder Ordrup einen Mann, dessen Name mit «thinger» endete, und dieser Mann hatte sich Visitenkarten anfertigen lassen, die ihn fälschlicherweise als Schiffs- oder Warenmakler und Handelsagenten bezeichneten. In der nächsten halben Stunde durchstöberte Jan das Telephonbuch nach Agenturen, deren Inhabernamen mit «thinger» endeten; doch das erwies sich als vergebliche Mühe. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als von der Ortsbezeichnung auszugehen. Eine Heidenarbeit, bei der es ganz gleich war, wo er begann. Aber nein, in Kastrup kannte er ja die Seepfadfinder, die ihm, mit Björn Höberg an der Spitze, schon ein paarmal wertvolle Dienste geleistet hatten. Es dünkte ihn eine gute Idee, Björn anzurufen und ihn in die Sache einzuweihen. Natürlich konnte der geheimnisvolle Herr «thinger» seine Agentur ebensogut in Glostrup oder Ordrup betreiben, aber ein Versuch schadete nichts. Auf jeden Fall war es für den Anfang das einfachste Vorgehen. Björn ging noch ins Gymnasium, und Jan erreichte ihn erst gegen fünfzehn Uhr. Wie gewöhnlich war Björn sofort Feuer und Flamme; er wollte sich mit seinen Pfadfinderkameraden sogleich ans Werk machen und Jan benachrichtigen, sobald sich bei den Nachforschungen irgend etwas Wesentliches ergab. «Es wird auch Zeit, daß du uns endlich wieder einmal einsetzt, Jan. Du hast uns sehr vernachlässigt», beschwerte er sich. «Ich wollte dich bei deinen Schulaufgaben nicht stören», gab -37-
Jan schmunzelnd zurück. «Du Ekel!» rief Björn. «Wenn man einer guten Sache dienen kann, macht es nichts, in Physik und Mathematik weniger zu glänzen. Hoffentlich kann ich dir bald günstigen Bescheid geben. Ich bin schon unterwegs!» Vergnügt legte Jan den Hörer auf. Auf Björn konnte man sich verlassen, er war ein Prachtjunge. Es würde nicht lange dauern, bis er alle Seepfadfinder in Kastrup mobilisiert hatte, um sich mit ihnen auf die Pirsch zu begeben. Es war einige Stunden später. Die Frühjahrssonne stand schon tief, sandte aber immer noch goldenen Glanz über die Bürogebäude und Hangare im Kopenhagener Lufthafen. Ihr Licht fiel auch auf die nahegelegene Villenstraße und auf ein Metallschild: Otto Wanthinger Schiffsmakler Agentur Das Schild war an der Eingangstür eines recht bescheidenen ziegelgedeckten Backsteinhauses angebracht, wo mehrere Männer versammelt waren, unter ihnen Werner Katz, der das Wort führte. Er schritt erregt hin und her, blieb schließlich vor den andern stehen und sagte mit verhaltener Wut: «Wieder ist uns Jan Helmer in die Quere gekommen, aber das soll das letztemal gewesen sein! Der Bursche muß unschädlich gemacht werden. Drei von unsern Leuten sind geschnappt worden, und im Augenblick ahne ich nicht, was für Karten die Kriminalpolizei in der Hand hält. Jedenfalls ist es gefährlich, hier im Haus zu bleiben…» «Wieso gefährlich?» unterbrach ein dunkler, untersetzter Mann. «Ich lebe hier als braver, geachteter Schiffsmakler und -38-
sehe nicht ein…» «Dummes Zeug!» fiel ihm Katz ins Wort. «Keinen roten Heller gebe ich für deine Würde als geachteter Schiffsmakler! In ein oder zwei Tagen kann sich die Kriminalpolizei bei dir einstellen.» «Bei mir? Wie ist das möglich?» fragte Wanthinger. «Weil sich Herbert wie ein Idiot benommen hat. Du gabst ihm deine Visitenkarte mit dem Kodewort, und weißt du, was er damit gemacht hat?» «Nein…» «Er hat sie entzweigerissen und ahnt nicht, wo die eine Hälfte geblieben ist. Wahrscheinlich steckt sie ir gendwo im Gärtnerhaus, und du kannst sicher sein, daß die Polizei sie finden wird.» «Aber wenn es nur die Hälfte ist…» «Glaubst du etwa, das genügt nicht? Die dänische Kriminalpolizei ist recht tüchtig, allzu tüchtig für meinen Geschmack.» «Vielleicht wird die andere Hälfte gar nicht gefunden, und du machst dir ganz unnötige Sorgen», meinte Wanthinger. «Laß das gefälligst meine Sache sein», schnarrte Katz. «Ich habe mehr Verstand als ihr alle zusammen, und mir braucht keiner Vorschriften zu machen, wie etwas anzupacken ist. Dieses Haus hier muß sofort aufgegeben werden, und schon heute abend ziehen wir in ein neues Hauptquartier. Punkt 21 Uhr stehen zwei Lastwagen mit zuverlässigen Leuten vor der Tür, und bis dahin muß alles geräumt sein.» Katz wandte sich an die andern: «Macht euch sofort ans Packen! Ich möchte nicht in eurer Haut stecken, wenn ihr nur einen Papierschnipsel zurücklaßt. Wie gesagt, die Leute mit den beiden Lastwagen sind unbedingt zuverlässig; es braucht also keiner von euch mitzufahren. Ihr begebt euch einzeln zum neuen Hauptquartier, -39-
wo wir uns um 23 Uhr versammeln. Ich habe aus Hamburg neue Anweisungen erhalten, und schon morgen früh beginnen wir mit einer großen und schwierigen Aufgabe. Habt ihr verstanden?» «Verstanden», ertönte es im Cho r. «Also auf Wiedersehen heute abend um elf.» Nachdem Werner Katz gegangen war, wischte sich der «Schiffsmakler» Wanthinger den Schweiß von der Stirn und sagte seufzend: «Puha! Als ich vor einigen Jahren in Paris für Paul Katz arbeitete, fand ich ihn einen außerordentlich strengen Chef, aber im Vergleich zu seinem Bruder war er ja fast ein sanfter Engel!» Keiner widersprach ihm. Jan war mit der Sachlage ganz zufrieden. Seine Eltern wollten an diesem Abend ins Theater gehen, und Lis hatte einer Freundin versprochen, zu ihr zu kommen. Er und Jens hatten also das Haus für sich, und niemand konnte sie stören, wenn Björn anrief. Die beiden hatten es sich in Jans Zimmer gemütlich gemacht. Jens paffte seine geliebte Pfeife, während er sich Jans Bericht anhörte. «Vielleicht entdeckt Björn etwas», meinte er zum Schluß. «Sehr viel Hoffnung besteht nicht mehr, denn es ist bald halb zehn», erwiderte Jan. «Ich glaube…» In diesem Augenblick läutete das Telephon. Jan sprang auf und lief ins Arbeitszimmer seines Vaters, wo der Apparat stand. In der Tat, es war Björn, und in den nächsten zwei Minuten lauschte Jan gespannt. «Bravo, Björn, ihr seid großartig!» rief er dann. «In spätestens einer halben Stunde sind mein Schwager und ich dort. Kannst du so lange in der Nähe bleiben?» Björn lachte. «Ja, natürlich. Sollen die andern auch auf euch -40-
warten?» Jan antwortete nach kurzem Nachdenken: «Nein, nicht nötig. Es könnte auffallen, wenn ihr zu viele seid, die dort draußen herumlauern. Muskelkraft werden wir heute abend sicher nicht brauchen. Bleib dem Haus möglichst fern!» «Also bis nachher!» Als Jan den Hörer auflegte, ertönte die Stimme seines Schwagers von der Tür her: «Der Motor ist schon aufgewärmt, Herr Oberinspektor. Wie ich höre, sollen wir auf eine Expedition.» Jan erklärte ihm rasch: «Björn und die andern Jungen haben den geheimnisvollen Schiffsmakler gefunden. Er wohnt in der Nähe des Flughafens und heißt Otto Wanthinger. Aber jetzt ist die Zeit kostbar…» «Wieso? Warum?» «Wanthinger ist soeben dabei, sein ganzes Hab und Gut auf zwei Lastwagen zu verladen.» «Will er umziehen?» «Oder flüchten. Komm, wir müssen uns beeilen!» Auf der Treppe bemerkte Jens seufzend: «Es wird also wieder eine Wettfahrt. Früher oder später wird mich die Verkehrspolizei hops nehmen.» Kurz darauf lenkte er seinen Sportwagen durch die Straßen. Jan saß zurückgelehnt und überlegte. Kein Zweifel, dieser Wanthinger stak mit der Spionenbande unter einer Decke – warum würde er sonst spät abends ausziehen? Anscheinend fühlte Katz den Boden unter seinen Füßen brennen und suchte eine neue Deckadresse, die seine drei festgenommenen Helfershelfer nicht kannten. Wahrscheinlich würden sie der Kriminalpolizei beim Verhör früher oder später etwas verraten, und Werner Katz war nicht der Mann, der es darauf ankommen ließ. Er rechnete offenbar damit und betrachtete deshalb das -41-
Haus in Kastrup als gefährlichen Aufenthaltsort für die Bande. Als unentbehrlicher Begleiter war Boy mitgenommen worden, und Jan streichelte ihn jetzt, während er sagte: «Ja, wir haben mit einem Herrn namens Katz eine kleine Rechnung zu begleichen, und für alle Fälle sollst du an diesem Fetzen schnuppern.» Er hielt dem Hund den Stoffetzen hin, den Boy am vergangenen Abend erbeutet hatte, und Jan lachte. «Ich merke, daß du den Geruch wiedererkennst. Vielleicht mußt du bald deinen Spürsinn beweisen.» Ohne die Augen von der Fahrbahn abzuwenden, sagte Jens: «Du redest ja mit dem Hund, als ob er ein Mensch wäre.» «Ein Mensch ist er nicht», antwortete Jan lächelnd, «aber bestimmt gescheiter als manche Menschen. Wenn er auch die Worte nicht versteht, sondern nur die üblichen Kommandos, begreift er doch vieles durch Tonfall oder Bewegungen.» Der Wagen bog in die Landstraße zum Flughafen ein, und Jens beschleunigte das Tempo. Vor einem Bahnübergang gab Jan Anweisung, nach links abzuschwenken und nach einer bestimmten Wegkreuzung anzuhalten. Er spähte durchs Fenster und erklärte: «Diese Stelle habe ich mit Björn als Treffpunkt abgemacht. Wo bleibt er nur? Wanthingers Haus liegt ganz in der Nähe.» «Kennst du die Adresse?» «Ja, Björn hat sie mir angegeben.» «Fahren wir doch hin und kreisen dort herum. Vielleicht habt ihr euch am Telephon mißverstanden.» «Möglich. Aber es ist besser, wenn ich hinlaufe und mich dort umsehe, während du hier wartest. Komm mit, Boy!» Mit dem Hund an der Seite lief Jan schnell weiter, aber vor der nächsten Kreuzung verlangsamte er den Schritt. Ja, das war die Straße, wo Wanthinger wohnte. Auch hier war Björn nirgends zu sehen, und Jan wurde ein wenig unruhig. Wieso klappte es -42-
mit der Verabredung nicht? Vorsichtig lugte er um die Ecke, und da erschrak er. Die kurze Straße war leicht zu überblicken, doch sie erstreckte sich öde und verlassen. Nirgends waren Lastwagen zu sehen, und Björn war wie vom Erdboden verschluckt. Eine Weile stand Jan wie gelähmt da. Was konnte bloß geschehen sein? Kaum eine halbe Stunde war vergangen, seit er mit Björn telephoniert hatte, und schon waren Möbel und Inventar auf zwei Lastwagen verladen worden. Er beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen, und blickte prüfend nach allen Seiten, aber die kurze Straße war immer noch menschenleer. Kurz darauf stand er vor dem Haus, wo ein Schild anzeigte, daß hier der Schiffsmakler Otto Wanthinger seine Agentur betrieb. Die Bewohner mußten es mit ihrem Auszug sehr eilig gehabt haben, wenn sie sich nicht einmal die Zeit gelassen hatten, das Schild zu entfernen. Demnach brauchten sie es wohl nicht mehr. Jetzt hauste Wanthinger irgendwoanders, und vermutlich hatte er auch Namen und Beruf gewechselt. Ohne sich lange zu besinnen, drückte Jan auf die Klinke der Haustür, die zu seiner Überraschung nicht abgeschlossen war. Kaum hatte er das festgestellt, da hatte er neuen Grund, sich zu wundern, und zwar über Boys Benehmen. Der gutdressierte Hund unterstand sonst immer dem Kommando, doch augenblicklich nahm er es damit nicht so genau. Mit der Schnauze am Boden schnüffelte er umher, kreiste herum, lief auf die Straße und kehrte zurück. Offenbar hatte er eine Spur aufgenommen. Jan erinnerte sich plötzlich an den Stoffetzen, an dem Boy im Auto gerochen hatte, und nun tat das brave Tier seine Pflicht. Werner Katz mußte heute in diesem Haus gewesen sein! Jan rief Boy zu sich und lobte ihn. Dann machte er vorsichtig die Haustür auf und tastete nach dem Lichtschalter. Als die -43-
kleine Diele erhellt war, schloß er die Haustür und betrat ein Zimmer nach dem andern. Nirgends war ein Möbelstück oder ein Bild an den Wänden. Jans Schritte widerhallten in den leeren Räumen. Das Haus war einstöckig, aber unterkellert. Gerade wollte Jan das letzte Zimmer verlassen und den Keller untersuchen, da blieb er regungslos stehen. Draußen vor dem Haus hielt ein Auto, und einige Sekunden später näherten sich Laufschritte. Boy knurrte leise, als in der Diele schwere Schritte laut wurden. Jan hielt den Atem an. Er wußte, daß er wie gestern abend in der Falle saß, aber sich diesmal nicht mit einem Bluff helfen konnte. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und in der Öffnung standen drei Polizisten mit gezückter Pistole, und hinter ihnen kam ein Beamter in Zivil zum Vorschein. Jan war so verblüfft, daß es ihm die Sprache verschlug. Der Beamte in Zivil drängte sich vor und rief: «Was hat denn das zu bedeuten? Das ist ja der junge Helmer!» Jan atmete erleichtert auf, als er den Untergebenen seines Vaters erkannte. «Guten Abend, Herr Inspektor», sagte er. «Das ist aber eine Überraschung…» «Ja, für beide Teile», unterbrach ihn Inspektor Holm. «Wie bist du in dieses Haus geraten?» «Ach, das ist eine lange Geschichte», antwortete Jan ausweichend. «Ich werde meinem Vater morgen alles erklären, denn jetzt gibt es etwas viel Wichtigeres zu tun.» «So? Was denn?» «Dieses Haus hier wurde von Spionen bewohnt…» «Ja, das wissen wir. Und was weiter?» «Ein Freund von mir, der Björn Höberg heißt, nannte mir die Adresse und teilte mir mit, daß die Bewohner ausziehen wollten – übrigens mit zwei Lastwagen –, und wir verabredeten uns in -44-
der Nähe. Doch als ich vor einer Viertelstunde herkam, waren Björn und die Lastwagen verschwunden. Ich bin beunruhigt, daß Björn etwas zugestoßen sein könnte.» «Glaube ich gern», brummte der Inspektor unwirsch, «aber so geht es zu, wenn halberwachsene Burschen Detektiv spielen wollen. Warum überlaßt ihr derartige Dinge nicht der Kriminalpolizei?» Jan machte ein zerknirschtes Gesicht, worauf der Inspektor in versöhnlicherem Tone fortfuhr: «Na, nimm meine Bemerkung nicht zu wörtlich. Ich weiß ja, daß ihr – du und deine Freunde – der Polizei öfters einen Dienst geleistet habt. Aber früher oder später kann es auch einmal schiefgehen. Weiß dein Vater, daß du dich hier in Kastrup herumtreibst?» «Nein, noch nicht…» «Hm. Und wo wohnt dieser Björn Höberg?» Jan gab die Adresse an, und Holm nickte kurz. «Wir werden uns um die Sache kümmern.» Er wandte sich an einen der Polizisten: «Jörgensen, laufen Sie schnell zum Wagen und machen Sie Meldung von den beiden Lastwagen und dem verschwundenen Jungen. Alle Streifenwagen sollen benachrichtigt werden. Vielleicht können die Lastwagen irgendwo in der Stadt angehalten werden.» Jörgensen beeilte sich, der Anweisung Folge zu leisten. Der Inspektor fragte Jan: «Bist du mit dem Auto hergekommen?» «Ja, zusammen mit meinem Schwager. Er wartet in der Nähe.» Der Inspektor lachte auf. «Na, wenigstens brauchen wir uns über den Wagen, den wir gesehen haben, nicht mehr den Kopf zu zerbrechen. Nun aber schleunigst heim zur Mutter! Und noch vielen Dank für die Hilfe.» Die letzten Worte klangen leicht spöttisch, und als Jan mit Boy das Haus verließ, sann er über die Wechselfälle des Lebens nach. Gestern abend waren er und Jens von der Polizei nach -45-
Hause geschickt worden, und heute hatte es sich wiederholt… Jens kam ihm schon entgegengelaufen und fragte aufgeregt: «Was ist eigentlich los? Du bist ja eine Ewigkeit weggeblieben, und vor zehn Minuten raste ein Polizeiwagen vorbei.» Jan erklärte ihm die Zusammenhänge mit kurzen Worten, und die Stimmung war ein wenig matt, als sie zur Stadt zurückfuhren. Jans Gedanken kreisten um Björn. Daß er die Verabredung nicht eingehalten hatte, mußte einen triftigen Grund haben. Am Ende war er tollkühn zu nahe an das geheimnisvolle Haus herangegangen, war von den Spionen gesehen, überrumpelt und entführt worden… Dieser Gedanke bedrückte Jan, und er konnte sich nur damit trösten, daß er jedenfalls keine Schuld trug. Im Gegenteil, er hatte Björn ja ausdrücklich gewarnt, sich nicht dem Haus zu nähern, um kein Mißtrauen zu erwecken. Unbegreiflich, denn Björn war sonst immer ganz zuverlässig. «Du willst wohl nach Hause?» erkundigte sich Jens. «Ja, wohin sonst?» gab Jan zurück. Als der Wagen vor seinem Gartentor hielt, sagte er: «Die Polizei ist ja nun auf derselben Spur wie wir, so daß wir nichts mehr unternehmen können.» «Wie ist es nur zugegangen, daß die Polizei so unerwartet in Wanthingers Haus aufgetaucht ist?» fragte Jens. «Ganz einfach», antwortete Jan, «einer der verhafteten Spione hat vermutlich aus der Schule geplaudert. Das geschieht oft, wenn ein Verbrecher hofft, durch einen Verrat billiger davonzukommen. Vielen Dank für deine Hilfe, Jens.» Jans Niedergeschlagenheit nahm zu, als er in seinem Zimmer saß. Die Eltern gingen nach dem Theater meistens noch aus, und da Lis auch noch nicht heimgekommen war, fühlte er sich plötzlich sehr einsam. Alle seine Überlegungen führten zu nichts, und er beschloß, zu Bett zu gehen; doch gerade in diesem -46-
Augenblick läutete das Telephon im Arbeitszimmer. Jan eilte zum Apparat, von unbestimmter Hoffnung beflügelt, und meldete sich. «Hallo, Jan!» Er mußte sich festhalten – das war Björns Stimme! «O Björn, wo in aller Welt…» «Versäum keine Zeit mit langen Fragen! Kannst du mich in zehn Minuten bei der S-Bahnstation Svanemölle treffen?» «Ja, aber…» «Kannst du sofort kommen?» «Ja, ja natürlich…» «Bis gleich!» «So warte doch einen Augenblick!» rief Jan. «Weißt du, daß du von der Polizei gesucht wirst?» «Die Nachforschungen sind eingestellt», antwortete Björn. «Mach schnell!» «Also in zehn Minuten…» Während Jan mit Boy in einem Taxi zur S-Bahnstation Svanemölle fuhr, stellte er Betrachtungen darüber an, woher Björn wohl wissen mochte, daß die Polizei die Suche nach ihm eingestellt hatte. Es gab noch mehr Fragen, deren Beantwortung jedoch warten mußte, und er verzappelte sich beinahe vor Ungeduld. Er konnte es einfach nicht erwarten, mit Björn zu sprechen. Sowie er den Fahrer bezahlt hatte, kam Björn auf ihn zu und sagte: «Ei, du hast ja deinen Spürhund mitgenommen.» «Ja, man kann nie wissen…» «Laß uns ein Stückchen laufen, dann erzähle ich dir alles. Du bist sicher gespannt.» «Das kann man wohl sagen», lachte Jan, der froh war, endlich Bescheid zu erhalten. -47-
Sie gingen mit Boy auf den Fersen die Borgervänge entlang, während Björn mit seiner Erklärung begann: «Nachdem ich dich von Kastrup aus angerufen hatte, kehrte ich zu Wanthingers Haus zurück. Ich hatte ja damit gerechnet, daß du eintreffen würdest, bevor alle Sachen verladen wären, aber in dieser Hinsicht wurde ich enttäuscht. Kaum war ich wieder dort, hörte ich einen der Männer sagen: ‹So, nun können wir losfahren›. Da war guter Rat teuer. Zuerst wollte ich zum Flughafen rennen und ein Taxi anheuern, doch ich befürchtete, daß die Lastwagen inzwischen abhauen könnten…» «Sehr vernünftig, Björn. Und dann?» «Es waren zwei Planwagen, aber hinten offen, und so packte ich die Gelegenheit beim Schopf…» «Du stiegst auf…?» «Klar! Ich lauerte an der Ecke, und als der hinterste vorbeifuhr, rannte ich ihm nach und sprang auf. Viel Platz hatte ich nicht zwischen all dem Kram, und die Fahrt kam mir stundenlang vor…» «Wo endete sie?» fragte Jan gespannt. Björn deutete über das Geleise. «Dort drüben vor einer Villa in Ryvangen. Als das flotte Tempo nachließ, dachte ich mir gleich, daß wir uns dem Ziel näherten, und sprang ab. Ich versteckte mich hinter der nächsten Ecke und sah, daß die Möbel in ein palastartiges Haus getragen wurden. Deine Freunde schwimmen offenbar in Geld, wenn sie sich eine solche Wohnung leisten können…» «Sahst du außer den Fahrern noch mehr Leute?» «Ja, zwei Männer kamen aus der Villa und halfen beim Möbelschleppen. Sonst war keine Seele zu sehen. Aber nun laß mich hören, was du erlebt hast.» Jan berichtete kurz und erkundigte sich dann: «Du sagtest, die Polizei hätte die Suche nach dir eingestellt. Woher weißt du -48-
das?» «Ach, das ist ganz einfach.» Björn lachte vergnügt. «Nachdem ich dich benachrichtigt hatte, rief ich meinen Vater an. Er war ein bißchen aus den Fugen, weil die Polizei bei ihm gewesen war und ihm mein Verschwinden gemeldet hatte; aber ich sagte ihm, ich wäre wohlbehalten am Leben und mit dir zusammen…» «Das stimmte nicht», warf Jan vorwurfsvoll ein. «Na ja, ich wußte doch, daß du gleich herkommen würdest, nicht wahr? Vater versprach mir, sofort die Polizei anzurufen und zu melden, daß es sich um falschen Alarm handelte. Also ist damit zu rechnen, daß die Suche nach mir abgeblasen worden ist.» «Hm», machte Jan. «Verlangte dein Vater nicht von dir, auf der Stelle heimzukommen?» Björn zuckte die Schultern. «Darüber sprachen wir hin und her, denn es gefiel ihm nicht, daß ich herumstreunte, wie er es nannte; aber verboten hat er es mir nicht, weil er überglücklich war, daß ich noch lebte. Was machen wir jetzt?» Jan antwortete gedehnt: «Ich möchte mir das Haus etwas näher ansehen, aber ich weiß nicht recht…» «Ich komme mit!» «Es könnte nicht ganz ungefährlich sein…» «Sonst wäre es ja langweilig!» «Kommst du dann nicht zu spät heim?» Björn zuckte wieder die Schultern. «Für Schulaufgaben ist es ohnehin zu spät.» «Also gut», sagte Jan zaudernd.
-49-
SECHSTES KAPITEL Ganz wohl war es Jan bei der Sache nicht zumute. Ob es nicht doch besser gewesen wäre, die Polizei zu benachrichtigen? Es bestand immerhin die Möglichkeit, daß Katz und seine Bande dann in den nächsten Stunden dingfest gemacht würden. Andererseits hätte er Inspektor Holm gern bewiesen, daß es sich für ihn nicht nur um ein Spiel handelte, sondern daß er wie ein echter Detektiv zu einem Ergebnis gelangen konnte. Vom Vater hatte er die Erlaub nis, auf eigene Faust vorzugehen, sofern er sich auf kein Wagnis einließ, und wie sollte man entscheiden, ob ein Wagnis bestand… «Wollen wir nicht endlich losgehen?» unterbrach Björn Jans Gedankengang ein wenig ungeduldig. «Alsdann», antwortete Jan entschlossen. «Ich bin gespannt, ob sich in dem Haus noch mehr Leute verstecken.» Unterwegs sagte Björn: «Ich habe mir übrigens die Nummer des Lastwagens, der mich befördert hat, aufgeschrieben und meinen Vater gebeten, sie der Polizei anzugeben.» «Bravo, Björn, du bist ein As!» «Ich bin ja bei dir in eine gute Schule gegangen», wehrte Björn bescheiden ab. Fünf Minuten später konnte er Jan die Villa von weitem zeigen. Es war tatsächlich ein palastartiges Gebäude mit großem Garten, und Jan stellte zu seiner Überraschung fest, daß das Nachbarhaus Schiffsreeder Morton gehörte, dem Vater seines Freundes Jack Morton, der sich zur Zeit mit seinen anderen Kameraden im Fernen Osten auf der «Flying Star» befand. Er machte Björn auf diesen glücklichen Zufall aufmerksam und fügte hinzu: «So können wir von der Rückseite vordringen. Jacks Vater wird sicher nichts dagegen haben, wenn wir seinen -50-
Garten als Durchgang benützen.» Jan gab seinem Hund Anweisung, sich still zu verhalten, während sie durch Mortons schmiedeisernes Tor gingen und an der Gartenmauer entlang schlichen. Mortons Haus war festlich erleuchtet – offenbar hatte der Schiffsreeder Gäste –, aber der Garten lag öde und still. Björn betrachtete die vielen erhellten Fenster und sagte: «Ob Herr Morton wohl etwas von seinen Nachbarn weiß?» «Kaum», erwiderte Jan. «Wir können ihn ja morgen fragen.» Im hintersten Teil des Parks war das Gebüsch dichter. Obwohl die Hecke geschnitten und alles wohlgepflegt war, merkte man, daß hier selten ein Mensch hinkam. Der Kies wies keine Fußspuren auf. Zwischen den Sträuchern war die Erde ziemlich weich, und Boy begann herumzuschnüffeln wie früher am Abend bei Wanthingers Haus. Jan befahl den Hund zu sich und ließ ihn wieder an dem Stoffetzen riechen, worauf der Eifer des Tieres zunahm. Mit der Schnauze am Boden streifte es durchs Gebüsch, blieb aber ab und zu stehen, um sich zu überzeugen, daß Jan und Björn ihm folgten. «Was hat der Hund nur?» fragte Björn verwundert. Jan schüttelte ratlos den Kopf. «Mir unverständlich. Man könnte meinen, daß er Werner Katz’ Spur aufgenommen hat, aber was könnte der Kerl hier in Mortons Garten zu tun gehabt haben?» Boy schnüffelte weiter an der dichten, hohen Ligusterhecke herum, die die beiden Grundstücke trennte; doch plötzlich verharrte er. Als Jan bei ihm war, stellte er fest, daß die Hecke hier ein recht großes Loch aufwies. Im Mondschein konnte er erkennen, daß die Öffnung neueren Datums war, denn die Bruchstellen der Zweige waren frisch. Boy blickte abwartend zu seinem jungen Herrn auf, wie um zu fragen, ob er durch das Loch weitergehen sollte. -51-
«Weißt du, was ich glaube, Björn?» sagte Jan. «Mir scheint, Katz hat sich hier wie ein Fuchs einen zweiten Ausgang geschaffen, denn es ist klar, daß Boy seine Spur aufgenommen hat.» «Was nun?» «Ich krieche durch das Loch, und du wartest hier mit Boy. Wenn du mich den Hund rufen hörst, läßt du ihn sofort los.» «Wie lange sollen wir warten?» fragte Björn. «Ungefähr eine Viertelstunde. Halte Boy so lange an der Leine.» Vorsichtig kroch Jan durch die Öffnung und blickte sich um. Der Nachbargarten war fast ebenso groß wie der des Schiffsreeders, aber nicht so gepflegt. Zwischen den Bäumen war die große weiße Villa zu sehen. Im Erdgeschoß waren mehrere Fenster erhellt, doch obwohl man weder Jalousien noch Vorhänge zugezogen hatte, nahm Jan keinen Menschen wahr. Zur Linken stand am Rande des Gartens ein kleineres Gebäude, wahrscheinlich die ehemalige Wohnung des Chauffeurs oder des Gärtners; dort schimmerte kein Licht. Während Jan behutsam weiterschlich, hörte er ein Auto auf der Straße vor dem Haus halten, und dann vernahm er knirschende Schritte auf dem Kies. Er konnte den Weg zum Haupteingang nicht sehen, aber Stimmengemurmel verriet, daß dort mehrere Leute gingen. Kurz darauf wurde es wieder still, dafür erhellte sich oben noch ein Zimmer. Jan erhaschte einen Blick auf Gestalten, die sich in den Räumen bewegten; dann wurden überall die Jalousien geschlossen. Das ganze Haus lag jetzt in Dunkel gehüllt, nur die Fassade wurde vom Mond beschienen. Jan schwankte, was er tun sollte. Der Gedanke lockte ihn, der Polizei mitteilen zu können, daß Werner Katz und seine ganze Bande in diesem Haus versammelt waren; aber er wußte ja nicht, ob sich Katz unter den Leuten befand, die hier Zuschlupf gesucht hatten. Das war der springende Punkt. Möglich, daß -52-
Katz jetzt mit seinen Helfershelfern eine Beratung abhielt; aber konnte es nicht auch sein, daß er erst später auftauchte? Wenn man eine Schlange unschädlich machen wollte, mußte man ihr den Kopf abhacken, nicht den Schwanz, und der Kopf, das war nun einmal Werner Katz. Gerade hatte Jan den Beschluß gefaßt, sich näher an das Haus heranzuschleichen, da hörte er eine Tür ins Schloß fallen. Kurz darauf knirschten Schritte auf dem Kies, und es lief ihm kalt über den Rücken. Um die Ecke des Hauses bogen zwei Gestalten. Er erschrak, denn sie schienen auf ihn zuzukommen. Schon glaubte er, entdeckt worden zu sein; doch das war unmöglich – das Gebüsch deckte ihn, so daß er vom Hause aus nicht gesehen werden konnte. Während die Männer näherkamen, fing er einige Worte ihres Gesprächs auf. «Und darum ist es mir gleich, was Hamburg sagt, mein lieber Schön.» «…Wahnsinn, ein solches Wagnis einzugehen… ganz sinnlos…» Die Auseinandersetzung wurde deutlicher: «Nicht so sinnlos, wie du glaubst. Der widerwärtige Bursche muß aus dem Wege geräumt werden, denn er ist uns noch viel hinderlicher als die Polizei.» Wieder lief es Jan kalt über den Rücken, denn es war ihm klar, daß der «widerwärtige Bursche» Jan Helmer hieß; außerdem hatte er die Stimme des einen Mannes erkannt – es war Werner Katz! Die beiden gingen ein paar Meter entfernt an ihm vorbei, und er hörte Schön sagen: «Ich habe der Organisation jahrelang treu gedient, aber bei einem Mord mache ich nicht mit.» Das Lachen des Spionagechefs klang unheimlich. «Morgen früh brauchst du dich nicht mehr zu sorgen, Schön, denn dann -53-
ist es geschehen. Schon um…» Mehr hörte Jan nicht, aber es genügte: Er hatte sein Todesurteil vernommen! Trotzdem hatte er jetzt andere Sorgen, denn er merkte plötzlich, daß die Männer auf das Loch in der Hecke zugingen. Was würde geschehen, wenn sie unversehens Björn und Boy vor sich hatten? Jan zweifelte nicht daran, daß Katz eine Waffe bei sich trug. Jan wurde von dem Drang erfaßt, laut nach dem Hund zu rufen, aber zum Glück bezähmte er sich. Katz und Schön setzten ihren Weg fort, vorbei an der Öffnung, auf das kleine Nebengebäude zu. Kurz darauf wurde drinnen Licht gemacht, und sogleich setzte sich Jan in Bewegung. Ohne darauf zu achten, daß er Kratzer abbekam, lief er durch die Sträucher zurück. Bei dem Heckenloch zischte er eifrig: «He, Björn!» «Ja…» «Alles in Ordnung, aber es wird noch eine Zeitlang dauern, bis ich zurückkomme.» «Schon gut, wir warten.» So schnell wie möglich schlich Jan zu dem Gärtnerhäuschen. Das eine Fenster war erhe llt; drinnen hatte niemand daran gedacht, es zu verdunkeln. Vorsichtig spähte Jan hinein. Katz und Schön sprachen sichtlich erregt miteinander, aber es war kein Wort zu verstehen. Offenbar konnten sie sich nicht einigen, und Jan hatte Gelegenheit, sich Schön gründlich anzuschauen. Dem Aussehen nach war er ein adretter, friedfertiger Mann. Jan hielt ihn für den deutschen Schriftsteller, von dem ihm der Bäckerjunge gestern abend erzählt hatte; niemals hätte man ihn für einen geriebenen Spion gehalten. Jan hätte viel dafür gegeben, wenn es ihm möglich gewesen wäre, wenigstens ein paar Worte des Gesprächs aufzufangen. Plötzlich zog Katz eine Pistole hervor und klopfte mit breitem Grinsen auf den Lauf. Er legte sie auf den Tisch und sagte -54-
irgend etwas. Mit einer Handbewegung bedeutete er Schön, sich zu setzen. Schön kam der Aufforderung widerwillig nach und hörte zu, während Katz, der stehengeblieben war, weitersprach. Mit der Faust machte er eine drohende Gebärde, und Jan erschrak über seinen haßerfüllten Ausdruck. Zweifellos bezogen sich seine Worte auf den «widerwärtigen Burschen». Im nächsten Augenblick grinste er wieder breit und ging aus dem Zimmer. Schön blieb unbeweglich sitzen – er schien angespannt zu lauschen –, und auf einmal kam Leben in ihn. Er sprang auf, ergriff die Pistole, warf einen raschen Blick auf die Tür im Hintergrund und klappte die Pistole auf; in fassungsloser Verwunderung sah Jan, daß der Mann das Magazin leerte. Er steckte die Patronen ein, legte die Waffe auf den Tisch zurück und setzte sich wieder. Jan war so verblüfft, daß er sekundenlang keinen Gedanken zu fassen vermochte. Dann aber ging ihm auf, was das zu bedeuten hatte. Schön wollte verhindern, daß er, Jan Helmer, ermordet wurde; er wußte, daß Werner Katz keine leeren Drohungen ausgestoßen hatte. Als Katz zurückkam, hielt er ein Bündel Papiere in der Hand. Er legte sie vor Schön auf den Tisch, gewahrte dabei die Pistole und steckte sie in das Halfter. Er breitete die Papiere aus und wies darauf. Schön beugte sich gespannt vor. Eine Weile gingen die beiden Männer die Papiere durch, während Katz offenbar Erklärungen abgab. Schön nickte ein paarmal. Anscheinend waren die beiden Männer jetzt nicht mehr uneins; demnach mußte es sich um einen anderen Plan handeln. Schließlich ging Schön zur Tür; offenbar hatte er von Katz einen Befehl erhalten. Hurtig wie ein Wiesel verschwand Jan um die Hausecke. Mochte der «Schriftsteller» auch ein verhältnismäßig gutherziger Mensch sein, es war gewiß besser, nicht von ihm gesehen zu werden. -55-
Schön trat ins Freie und begab sich raschen Schrittes zur Villa. Jan wagte sich erst hervor, als der Mann verschwunden war, und blickte wieder durchs Fenster. Katz beugte sich über die Papiere, und in dem großen Wandspiegel, der ihm gegenüber an der Wand hing, sah Jan die schwarzen Haare im elektrischen Licht glänzen. Der Spion ahnte nicht, daß er in diesem Augenblick selbst ausspioniert wurde! Ob er wohl die ganze Nacht hier zuzubringen gedachte? Vielleicht hatte er Schön zu den Leuten geschickt, die sich in der Villa aufhielten, um ihnen irgend etwas ausrichten zu lassen. Ab und zu hob Katz den Kopf. Es ließ sich nicht entscheiden, ob er etwas überlegte, oder ob er sein Spiegelbild wohlgefällig betrachtete. Jan wußte, wie eitel Verbrecher sein konnten. Endlich stand er auf und ging zu einem Wandapparat, wahrscheinlich einem Haustelephon, das mit der Villa in Verbindung stand. Er sprach in die Muschel, und Jan ärgerte sich weidlich, daß er kein Wort zu verstehen vermochte. Aber es blieb ihm für seinen Ärger nicht viel Zeit, denn es geschah etwas Unerwartetes. Katz hängte den Hörer gemächlich auf, fuhr blitzschnell herum, zielte mit seiner Pistole aufs Fenster und drückte ab. Nichts ereignete sich. Katz betätigte nochmals den Abzug, starrte verdutzt auf die Waffe, drückte zum drittenmal ab… und schon lief er zur Tür. Im selben Augenblick schossen mehrere Gestalten aus der Villa, die aufs Gärtnerhäuschen zuliefen. Das Ganze vollzog sich so schnell, daß Jan kaum einen Gedanken fassen konnte; aber jetzt rannte er wie eine Gazelle über den Rasen und ins dichte Gebüsch. Das Herz klopfte ihm bis zum Halse, während er sich durch das Flechtwerk der Zweige zu dem Loch in der Ligusterhecke durcharbeitete. Die Rufe, die hinter ihm im Garten ertönten, trieben ihn noch mehr an. Bei dem Loch stöhnte er atemlos: «He, Björn, ich komme!» -56-
«Hallo!» antwortete Björn von der andern Seite der Hecke. Jan kroch durch die Öffnung und stand endlich im Garten des Schiffsreeders Morton. Björn fragte aufgeregt: «Was ist los?» «Hörst du nicht das Geschrei?» stieß Jan hervor. Es war wirklich nicht zu überhören. Die Schritte und Rufe klangen immer näher. Björn, dem es gewiß nicht an Mut fehlte, fragte bedenklich: «Sollten wir nicht lieber abhauen?» Jan wischte sich den Schweiß von der Stirn. «Nein, nein, laß uns noch warten. Hier sind wir sicher.» Er sagte zu Boy, indem er auf das Loch wies: «Gib acht, Boy!» Sofort bewachte der Hund die Öffnung. Mit gespitzten Ohren und gesträubtem Nackenfall streckte er den Kopf vor, jedoch ohne zu knurren. Die beiden Freunde lauschten mit angehaltenem Atem. Anscheinend herrschte unter den Männern im Nachbargarten Verwirrung. Man vernahm verschiedene Rufe: «Nein, er ist verschwunden…» «Aber ich sah ihn doch selbst…» «Er muß sich irgendwo in der Nähe versteckt haben!» «Wo ist der Chef?» «Ja, wo zum Teufel ist der Chef?» «Er muß hier sein…» «Nein, er ist weg!» Der letzte Ruf machte Jan stutzig. War Werner Katz wieder geflüchtet? Hatte ihn wirklich solche Panik gepackt, daß er sich ohne Rücksicht auf seine Leute davongemacht ha tte? Jans Kopf arbeitete unter Hochdruck. So bedauerlich es auch sein mochte, daß der Chef der Spionenbande von neuem durch die Maschen geschlüpft war, so hatte es andererseits sein Gutes, denn nur Katz kannte offenbar das Loch in der Hecke. Folglich -57-
durften sie sich in Mortons Garten vorläufig sicher fühlen. Nebenan ging die Unruhe noch eine Zeitlang weiter; dann wurden die Rufe schwächer, und man hörte keine Schritte mehr. Die Spione traten den Rückweg zum Haus an. Anscheinend wußten sie weder ein noch aus, nachdem ihr Anführer so mir nichts, dir nichts verschwunden war. «Ich verstehe überhaupt nichts», seufzte Björn. «Oh, was für ein Idiot ich war!» lautete Jans überraschende Antwort. «Was für ein himmelschreiender Idiot!» «Wieso…?» «Nun sollst du’s hören…» Aber Björn bekam noch immer keine Erklärung, denn Jan brach ab und lauschte gespannt. Er vernahm quietschende Bremsen, undeutlichen Lärm und dann eine schneidende Stimme: «Stehenbleiben! Polizei!» Fast gleichzeitig fiel ein Schuß… dann noch einer; es folgten laute Befehle und verworrene Männerstimmen, und schließlich gab es einen Wirrwarr von Rufen, Schreien und knallenden Pistolenschüssen. Jan wurde von Tatkraft gepackt. Ja, nun galt es, zu handeln; keine Sekunde durfte verloren werden! «Komm, Björn, mir nach! Komm, Boy!» befahl er. Schnell kroch er durch das Loch zurück und bahnte sich einen Weg durchs Gebüsch; Björn und Boy blieben ihm auf den Fersen. Vor der Villa tobte der Kampf. Jan aber lief zum Gärtnerhäuschen und spähte in das erhellte Zimmer. Ja, die Papiere lagen noch auf dem Tisch. Wie der Blitz eilte er zur Vorderseite, drang in das Zimmer ein, raffte die Papiere zusammen und steckte sie in die Innentasche. Im Nu war er wieder draußen, holte den Stoffetzen hervor, hielt ihn Boy an die Nase und kommandierte: «Such, Boy, such! Zeig, was du kannst.» -58-
Das war ein Befehl, den er nicht zu wiederholen brauchte. Augenblicklich richtete der gutdressierte Spürhund die Nase zum Boden und trabte zum westlichen Teil des Gartens, wo eine kleine Pforte auf eine Seitenstraße führte. Keine Sekunde zögerte das kluge Tier, sondern es schlug ein solches Tempo an, daß Jan und Björn außer Atem gerieten. Jan wagte den Eifer des Hundes jedoch nicht zu dämpfen, da Werner Katz inzwischen einen großen Vorsprung gewonnen ha tte. Während die Jagd durch die Villenstraßen ging, stieß Björn abermals hervor: «Ich verstehe überhaupt nichts…» «Du wirst bald alles erfahren», versprach ihm Jan. Die Schießerei hatte nachgelassen, aber es mußte sich um ein starkes Aufgebot der Polizei handeln, denn immer wieder fuhr ein Streifenwagen vorbei. «Sollten wir nicht lieber einen Wagen anhalten?» meinte Björn. «Nein, wir müssen versuchen, Katz zu fangen, und selbst der schärfste Polizeihund verliert die Fährte, wenn er in ein Auto verladen wird.» «Ach so…» Boy hatte es nun so eilig, daß die beiden Freunde kaum Schritt halten konnten. Ab und zu blieb er stehen, um zu sehen, ob sie ihm folgten. Dann ging es weiter zum Strandweg. Hier überquerte Boy, ohne zu zögern, die Fahrbahn, lief auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig ein Stück weiter und um eine Tankstelle herum. Hinter der Tankstelle lag ein großer Garagenkomplex, auf den der Hund über den zementierten Vorplatz zustrebte. «Jetzt wird’s heiß!» rief Jan. «Glaubst du, daß…» «Ja, ja», unterbrach Jan aufgeregt, «schau dort, Boy will auf die offene Garagentür zu…» -59-
In diesem Augenblick fuhr ein Auto rückwärts zur Garage heraus, vollführte auf dem Platz eine kreischende Kehrtwendung und raste mit Vollgas zur Ausfahrt zum Strandweg. So dicht sauste es an Jan und Björn vorbei, daß die beiden von dem Luftdruck beinahe umgeblasen worden wären. Trotzdem erkannte Jan den Mann am Steuer – es war Werner Katz! Ein Krachen und Klirren erklang, als der Wagen rücksichtslos in die Fahrbahn einbog, und ein gestürzter Radfahrer rutschte einige Meter weit. «Er entkommt uns!» schrie Björn außer sich. «Bei der Tankstelle stehen Taxis», rief Jan. «Komm schnell!» Sie rannten zu den wartenden Autos, Boy hinter ihnen drein. Aber plötzlich sprang Jan auf die Fahrbahn und fuchtelte wild mit den Armen. Ein Streifenwagen war in voller Fahrt auf dem Wege nach Norden, hatte aber die Geschwindigkeit wegen des gestürzten Radfahrers schon gemäßigt. Zum Glück schien dieser Mann nicht verletzt zu sein, denn er war bereits auf den Beinen und drohte mit der Faust hinter Katz her: «Du Lump, du gewissenloser Hundsfott!» Die beiden Polizisten wollten aus dem Wagen springen, um einen Rapport aufzunehmen, doch Jan sagte rasch: «Nein, nein, dem Mann ist nichts zugestoßen, wir müssen dem Auto nach!» «Was in aller Welt…» hob der eine Polizist an. Jan fiel ihm ins Wort: «Ich heiße Jan Helmer, und mein Vater ist Kriminalkommissar Mogens Helmer. Der Mann, der dort im Auto flüchtet, ist der Spionagechef Werner Katz!» Glücklicherweise wußte der Beamte Bescheid und konnte flink denken. «Steigt rasch ein, auch der Hund», befahl er. Zu dem Radfahrer sagte er: «Rufen Sie bitte die Polizei an, der Rapport muß gemacht werden.» Mit heulender Sirene sauste der Streifenwagen in nördlicher Richtung über den Strand weg weiter und in gleichem Tempo -60-
durch Hellerup. Nachdem der eine Polizist dem Präsidium über Funk Meldung erstattet hatte, wandte er sich an Jan: «Ich kenne Sie vom Hörensagen, Herr Helmer, und weiß, daß man sich auf Sie verlassen kann. Sind Sie aber auch ganz sicher, daß Katz in dem Auto sitzt?» «Todsicher», bekräftigte Jan. «Ich sah ihn deutlich, als er aus der Garage fuhr.» «Wie seid ihr ihm überhaupt auf die Spur gekommen?» Jan schilderte die Vorfälle und schloß mit den Worten: «Wir haben nun beide ein schlechtes Gewissen. Würden Sie so freundlich sein und nochmals anrufen, damit unsere Eltern benachrichtigt werden, daß wir wohlbehalten in der Obhut der Polizei sind?» «Wird gemacht.» Obwohl der Fahrer den Motor auf vollen Touren laufen ließ, verminderte sich der Abstand zwischen den beiden Wagen nicht; jedenfalls schienen die roten Schlußlichter des Flüchtenden immer gleich weit entfernt zu sein. Zum Glück herrschte zu dieser späten Stunde kein sonderlicher Verkehr, aber ab und zu brausten sie doch an einem Auto vorbei, das beim Heulen der Sirene angehalten hatte. Der Beamte neben dem Fahrer hatte nun die Funkverbindung mit dem Polizeipräsidium aufgenommen. Drei andere Streifenwagen waren bereits nordwärts zum Strandweg abkommandiert worden, doch große Hilfe war von ihnen nicht zu erwarten, weil Katz einen viel zu weiten Vorsprung hatte. Die Nadel des Tachometers wies auf 160… «Wir holen ihn ein!» «Ja, aber viel zu langsam.» «Unternehmen Sie oft eine solche Verfolgungsfahrt?» erkundigte sich Jan. «Ja, leider», antwortete der Polizeibeamte kurz. -61-
Jan wußte, daß der Mann die jungen Burschen meinte, die ein Auto stahlen und wie die Irrsinnigen fuhren, ohne sich um die Verkehrsregeln zu kümmern. Der Fahrer fragte: «Wurde Helsingör alarmiert?» «Ja.» Jan hoffte im stillen, daß die Polizei von Helsingör keine Straßensperre errichtet hatte; denn je mehr sich der Abstand verringerte, um so mehr nahm die Gefahr zu, daß Katz, der offenbar mit der Tollkühnheit des Verzweifelten aufs Gaspedal trat, die Verfolger mit ins Unglück riß. «Wir kriegen ihn!» rief Björn, als der Abstand nur noch an die fünfzig Meter betrug. Das Tempo wurde nicht verringert, und der Beamte neben dem Fahrer schrie: «Ist er denn wahnsinnig geworden?» In dem Augenblick, wo der Streifenwagen den Verfolgten überholen wollte, kurvte Katz zur linken Seite hinüber und fuhr dann im Zickzack. Das war in Anbetracht der Geschwindigkeit ein unsinniges Manöver; aber dem Spion schien alles gleichgültig zu sein, wenn er sich nur seine Freiheit bewahren konnte. Man sah schon die Lichter von Helsingör blinken, als er wieder einen Vorsprung gewonnen hatte. Der Fahrer gab von neuem Gas, murmelte aber dabei: «Er versucht es wahrscheinlich wieder, wenn wir ihm auf den Pelz rücken, und ich möchte es auf nichts ankommen lassen, weil wir ja Passagiere haben.» Jan fragte schnell: «Sollen wir aussteigen?» «Nützt nicht viel», erwiderte der Fahrer. «Wenn wir nur eine halbe Minute verlieren, entwischt er uns in Helsingör. Nein, wir müssen uns damit begnügen, das Beste zu hoffen.» «Sie könnten ihn doch von hinten rammen», schlug Björn aufgeregt vor. «So etwas macht man nur in amerikanischen Filmen», -62-
versetzte der Fahrer kurz. In der Vorstadt von Helsingör schwenkte Katz jählings nach rechts ein, und der Fahrer rief entsetzt: «Das schafft er niemals bei dieser Geschwindigkeit…» Unglaublicherweise schaffte er es. Sein Wagen wurde auf den Bürgersteig hinaufgetragen und fuhr ein Stück darauf entlang, bevor er wieder auf die Fahrbahn geriet. Vom Streifenwagen aus sah man die Schlußlichter um die nächste Ecke verschwinden. «Das kann nicht gut ausgehen», murmelte der Fahrer. Er behielt recht. Kaum hatte der Streifenwagen die erste Abzweigung genommen, da hörte man lautes Krachen und splitterndes Glas. Etwa hundert Meter voraus war Katz in einen parkenden Wagen gefahren! «Jetzt ist es aus mit ihm», bemerkte der Polizeibeamte. Aber nein, mit dem Chef der Spionagebande war es noch nicht aus. Während der Fahrer auf die Bremse trat und am Randstein hielt, huschte eine Gestalt hinter dem Autowrack hervor, setzte in großen Sprüngen über den Bürgersteig und verschwand in einem dunklen Tor. Aus der entgegengesetzten Richtung kam ein anderer Streifenwagen, und im nächsten Augenblick standen vier Polizeibeamte vor dem Tor. Jan, Björn und Boy gesellten sich im Nu dazu. Die Polizisten aus Helsingör und Kopenhagen wechselten rasch ein paar Worte, worauf der eine Kopenhagener Jan fragte: «Ist Katz bewaffnet?» «Ja, aber ich glaube, seine Pistole ist nicht geladen», antwortete Jan. «Du glaubst…» «Ich wage es nicht mit Sicherheit zu behaupten. Er kann ja ein Ersatzmagazin bei sich gehabt haben. Vielleicht hat er die Pistole neu geladen.» «Richtig», nickte der Polizist. «Wir dürfen es auf nichts -63-
ankommen lassen. Nehmt die Waffe zur Hand!» Einer der Beamten aus Helsingör sagte: «Es wird nicht leicht sein, ihn zu finden, wenn wir nur vier Mann sind. In der Altstadt gibt es so viele Schlupfwinkel – das reinste Labyrinth, sage ich euch –, daß schon die Hälfte genügen würde.» «Wir haben keine Zeit, auf Verstärkung zu warten», lautete die Entgegnung. «Die beiden jungen Leute und der Hund müssen hier warten…» «Entschuldigen Sie», fiel Jan eifrig ein, «aber Boy ist der beste Polizeihund von ganz Dänemark. Er würde Katz überall aufspüren, und ich bin der einzige, dem er gehorcht.» Es war dem Beamten anzusehen, daß er mit sich im Streit lag. «Also gut, ihr kommt mit», entschied er schließlich. «Aber ihr haltet euch gefälligst hinter uns, verstanden?» «Verstanden!» Sicherheitshalber mußte Boy nochmals den Stofffetzen beschnüffeln, worauf er die Fährte sogleich aufnahm. Mit der Schnauze am Boden durchquerte er einen kleinen Hof, in den kein Mondstrahl dringen konnte; aber die Polizisten hatten ihren Leuchtstab. Zuhinterst standen Abfalleimer vor einem ziemlich hohen Bretterzaun; Boy blieb davor stehen und blickte abwartend zu seinem Herrn auf. «Katz ist über den Zaun geklettert», erklärte Jan und wies darauf. «Ihm nach, Boy!» Das kluge Tier fuhr blitzschnell herum und nahm einen Anlauf. Zwei Sekunden später kratzten seine Krallen an dem Holz, und schon war Boy oben und sprang in den Nachbarhof hinunter. «Steh, Boy!» kommandierte Jan laut. Mit einem Sprung auf die Abfalleimer überkletterten die sechs Verfolger den Zaun, und dann ging die Jagd weiter mit Boy an der Spitze durch einen dunklen Kellerschacht, durch einen -64-
unterirdischen Gang, eine Kellertreppe hinauf, immer höher hinauf und schließlich durch einen Gang im Dachgeschoß. Am Ende des Ganges war eine Tür, vor der Boy stehenblieb, um auf die andern zu warten. Der vorderste Polizist stellte fest, daß die Tür nicht abgeschlossen war, hob seine Pistole und flüsterte: «Alle zur Seite treten! Möglich, daß er schießen wird…» Mit einem Ruck riß er die Tür auf und starrte in einen großen Trockenbodenraum. Er wurde vom Mondschein erhellt, der durch eine Reihe kleiner Schrägfenster hereinfiel. Der Beamte rief barsch: «Stehenbleiben – oder ich schieße!» Die andern drangen hinter ihm ein, so daß Jan von der Tür aus sehen konnte, was sich drinnen zutrug: Katz wollte gerade durch ein Schrägfenster aufs Dach flüchten. Natürlich war die Warnung des Polizisten eine leere Drohung, denn unter diesen Umständen durfte er nicht hinterrücks auf einen Flüchtling schießen; andererseits waren die Sekunden kostbar, und deshalb befahl Jan: «Faß ihn, Boy!» Das ließ sich der Hund nicht zweimal sagen. Knurrend flog er quer durch den Raum, sprang in die Höhe und biß sich am Hosenboden des Spions fest. Katz stieß ein Gebrüll aus und strampelte wild mit den Beinen. Der Anblick war so komisch, daß Jan beinahe gelacht hätte. Daß ein Meisterspion auf so entwürdigende Weise gefangen wurde! Boy ließ nicht los, obwohl sich Katz nach Kräften wehrte. Im nächsten Augenblick hielten die Polizisten den Mann an den Beinen, und Boy ließ ihn erst auf Jans Kommando hin los. Der Hund gehorchte sofort, lief zu Jan und blickte zu ihm auf, als wollte er wissen, ob er seine Sache richtig gemacht hatte. Jan sparte nicht mit Lobesworten und streichelte ihn. Katz wurde unsanft auf den Boden gezerrt, und als er ein wenig unsicher auf den Be inen stand, war sein Gesicht rot vor Wut. Mit haßfunkelnden Augen sah er Jan an und schnarrte: «Du warst es also wieder! Warte nur, bis du an die Reihe -65-
kommst!» Dann klappten die Handschellen zu.
-66-
SIEBENTES KAPITEL Der Kriminalpolizei war in Ryvangen ein überaus guter Fang gelungen. Beim Feuerwechsel hatten ein paar Polizisten leichte Streifschüsse abbekommen, aber viel schlechter war es den Spionen ergangen. Man rechnete damit, daß es einigen geglückt war, dem Zugriff zu entrinnen; doch im großen und ganze n war die Bande unschädlich gemacht, da der Anführer Werner Katz hinter Schloß und Riegel saß. Kein Wunder, daß Kommissar Helmer gute Laune zeigte, als er abends heimkam. Beim Anblick von Jan und Jens sagte er munter: «Na, da haben wir ja die beiden Frechdachse. Mir scheint, wir müssen über ein paar Kleinigkeiten reden…» «Darf man zuhören?» fragte Lis. «Da du Jens bald heiraten wirst», antwortete Helmer, «kann es gar nicht schaden, wenn du erfährst, worauf du dich da einläßt.» Frau Helmer hatte sich schon daran gemacht, das Abendessen zu kochen, aber sie ließ sich doch noch Zeit für einen Stoßseufzer: «Ach, es ist schrecklich, Mogens. Jahrelang mußten wir uns um Jan ängstigen, und nun hat er Jens mit seiner Leidenschaft angesteckt.» «Das wird sich schon lege n, wenn Jens verheiratet ist», meinte Helmer lächelnd. «Jetzt aber haben wir alle einen Bärenhunger.» «Ihr seid allesamt hoffnungslos», bemerkte sie kopfschüttelnd und ging in die Küche. Im Arbeitszimmer saß der Kommissar dann mit seiner brennenden Pfeife bequem in einem Sessel und ließ sich von Jan Bericht erstatten. Er erfuhr alle Einzelheiten, von der zerrissenen Visitenkarte und dem Stoffetzen bis zu Björns großem Einsatz, und namentlich wurde Jens und Boy das verdiente Lob zuteil. Zum Schluß sagte Helmer: «Ich muß euch zugestehen, daß ihr -67-
alle gute Arbeit geleistet habt, aber den größten Dank schulden wir Björn Höberg. Wenn er uns die Nummer des Lastwagens nicht übermittelt hätte, wären wir niemals imstande gewesen, die Villa in Ryvangen so schnell zu finden, und der Himmel mag wissen, wie sich sonst alles entwickelt hätte. Übrigens habe ich inzwischen mit Herrn Morton gesprochen, Jan; er läßt dich grüßen und dir ausrichten, wenn du das nächstemal seinem Garten einen Besuch abstattest, kannst du gern zu ihm ins Haus kommen.» «Ich werd’s mir merken», antwortete Jan lächelnd. «Eine Frage habe ich noch, mein Junge. Als du durch das Fenster Katz beobachtetest, ging er zum Telephon, nicht wahr?» «Ja, Vater.» «Und dann schoß er plötzlich auf dich. Dieses unerwartete Manöver kommt mir ein bißchen… hm… merkwürdig vor. Hast du dafür eine Erklärung?» Jan rutschte verlegen auf seinem Stuhl hin und her; doch dann bekannte er ehrlich: «Ich schäme mich sehr, daß ich mich wie ein Dummkopf benommen habe. Ich dachte gar nicht daran, daß Katz mich natürlich auch sehen konnte, wenn ich ihn im Spiegel sah.» Sein Vater lachte. «Da hast du’s! Es nützt nichts, daß sich der Meisterspion blamiert, wenn es dem Meisterdetektiv ebenso ergeht! Ja, ja, mein Junge, du hast noch viel zu lernen, aber die Begabung ist dir gewiß nicht abzusprechen. Zusammen mit Jens und Björn hast du eine schöne Leistung vollbracht, und ihr könnt diesen Weg gern fortsetzen…» «Ach nein», unterbrach ihn Lis und verzog das Gesicht. «Laßt Jens wenigstens so lange aus dem Spiel, bis wir verheiratet sind.» «Du wärst keine echte Helmer, wenn du deinen Zukünftigen hindern wolltest, seinen Mann zu stehen.» Der Kommissar wurde wieder ernst. «Ja, wir schulden euch Dank, denn wir -68-
wissen, daß die Spione hier in Dänemark einen großen Coup landen wollten; aber leider haben wir keine Ahnung, was sie vorhatten. Es fehlen uns die Beweise…» «Verfügt die Polizei nicht über Kode-Experten?» fiel Jan ein. «Über Kode-Experten?» wiederholte Helmer verwundert. «Ja, natürlich, aber ich verstehe nicht…» «Schau, Vater, hier ist ein Bündel Papiere.» Jan holte die Papiere hervor, die er sich im Gärtnerhäuschen angeeignet hatte. «Der Text ist in Kodeschrift abgefaßt, und ich könnte mir vorstellen, daß es die Spionage-Abwehrzentrale interessieren wird, ihn zu entziffern.» Der Kommissar warf einen flüchtigen Blick auf die Papiere. Er nickte anerkennend. «Das ist die Krönung deiner Arbeit, Jan.» «Freut mich», sagte Jan und stand auf. «Wo willst du hin?» Bei der Tür drehte sich Jan lachend um. «In die Küche, um zu sehen, ob ich für Boy einen schönen Knochen finden kann.» Als Jan zwei Wochen später mit Boy den üblichen Spaziergang machte, mußte er sich eingestehen, daß er sich wieder einmal langweilte. Er hatte an diesem Tage einen Brief von seinem Freund Erling aus Melbourne erhalten, so daß er sich bewußt wurde, wie sehr ihm die Kameraden fehlten. Ein paarmal war er in Hellerup gewesen und hatte mit den Junioren vom Segelklub Ausflüge gemacht, aber das genügte nicht, die leeren Tage auszufüllen. Im allgemeinen dauerte sein Spaziergang mit Boy eine Stunde, doch da herrliches Wetter herrschte, setzte er ihn heute über den Freihafen hinaus bis zur Svanemölle-Bucht fort, wo die Privatjachten lagen. Eines dieser schönen Schiffe weckte sein besonderes Interesse, weil es ihn an die «Flying Star» erinnerte. Es war ein sehr -69-
elegantes deutsches Motorboot, das am Achtersteven in glänzenden Chrombuchstaben den Namen «Stadt Lübeck» trug. Diesen Namen fand Jan für eine Jacht reichlich pompös – er hätte eher zu einem Ozeandampfer gepaßt –, dennoch ließ es sich nicht leugnen, daß es ein ungewöhnlich schönes Schiff war, dessen Eigentümer Millionär sein mußte. Auf Deck war kein Mensch zu sehen, doch als Jan näher heranging, hörte er in der Kajüte, deren Tür offenstand, ziemlich erregte Stimmen. Es schienen zwei Männer und eine Frau zu sein, die sich in deutscher Sprache stritten. Es geschah nicht etwa aus Neugier, daß er stehenblieb – die Diskussion interessierte ihn gar nicht –, sondern er wollte den Anblick des schönen Schiffes genießen. So wurde er, ohne es zu wollen, Augenzeuge dessen, was sich nun ereignete. Zwei Herren und eine rothaarige, sportlich gekleidete Dame traten heraus, ohne ihren Streit zu unterbrechen. Merkwürdigerweise schienen die beiden Männer vor der zornigen jungen Dame einen gewissen Respekt zu haben. Jan wollte weitergehen, um nicht aufdringlich zu wirken, doch in diesem Augenblick geschah etwas Unerwartetes. Die Erzürnte versetzte einem der Männer eine schallende Ohrfeige. Es sah aus, als wollte der Gemaßregelte Vergeltung üben, aber die Rothaarige wandte sich wortlos von ihm ab und sprang leichtfüßig auf den Kai hinunter und ging energischen Schrittes der Strandpromenade zu, während ihr die beiden Männer verblüfft nachschauten. Im Vorbeigehen würdigte sie weder Jan noch Boy eines Blickes. Er nahm nur wahr, daß sie grüne Augen hatte, daß ihr rotes Haar in der Sonne wie Kupfer glänzte, und daß ihr Schneiderkleid einen eleganten Schnitt hatte. «Komm, Boy!» befahl Jan und entfernte sich in entgegengesetzter Richtung. Ein einziges Mal drehte er sich um und sah, daß die beiden Männer immer noch in erregtem Gespräch auf dem Deck standen. -70-
Er fand es sonderbar, daß eine so elegante junge Dame Ohrfeigen austeilte; aber als er eine Stunde später heimkehrte, hatte er die kleine Episode bereits vergessen. Kurze Zeit danach wurde Jan nach dem Abendessen von seinem Vater ins Arbeitszimmer gebeten. Kommissar Helmer zündete sich erst umständlich seine Pfeife an, bevor er begann: «Na, Jan, du hast wohl überflüssige Zeit?» «Ja, leider», antwortete Jan mit einem Seufzer. «Vielleicht wird es für dich eine kleine Aufmunterung geben, wenn du morgen zu Herrn Morton fährst und dich mit ihm unterhältst…» «Mit Jacks Vater?» fragte Jan erstaunt. «Wieso wäre das für mich eine Aufmunterung? Hast du mit ihm gesprochen?» «Ja, er rief mich heute nachmittag an. Offenbar geht es in der Villa, wo die Spionagebande geschnappt wurde, seltsam zu.» «Inwiefern?» «Obwohl sie jetzt leersteht, hat man dort spät abends Licht gesehen.» «Wer hat das Licht gesehen?» forschte Jan gespannt. «Morton selbst und eine Hausangestellte. An zwei verschiedenen Abenden. Ich schickte gleich zwei Detektive hin, aber sie stellten nichts Ungewöhnliches fest. Alles war offenbar so wie damals, als wir die Bande überwältigten.» «Keine Spuren von einem Einbruch?» Helmer nickte anerkennend. «Es freut mich, Jan, daß du sofort ans Nächstliegende denkst. Nein, alle Schlösser waren in Ordnung, die Fenster von innen verschlossen. Von Vagabunden, die eine Schlafstätte gesucht haben, können wir absehen.» «Man könnte mit einem Nachschlüssel eingedrungen sein», meinte Jan. «Das wäre durchaus möglich, weil ja einige von der Bande entkommen sind.» «Jedenfalls hätten sie dazu kein Recht», erwiderte Helmer, -71-
«denn Morton hat das Nachbarhaus vor ein paar Tagen gekauft, weil er seinen Betrieb vergrößern will. Außer der Reederei hat er nämlich noch andere Geschäfte angefangen, und so braucht er die Villa als Verwaltungsgebäude.» «Und was hat er sich gedacht, das ich tun soll?» fragte Jan leicht verwundert. «Wäre es nicht Sache der Kriminalpolizei, Nachforschungen anzustellen, wenn in der Villa rätselhafte Dinge geschehen?» «Da hast du in gewisser Weise recht, aber das hat einen Haken. Natürlich haben unsere Streifenwagen Anweisung erhalten, das Haus nachts im Auge zu behalten. Mehr können wir vorläufig nicht tun, denn das Licht erscheint ganz unregelmäßig – es liegen jeweils mehrere Tage dazwischen –, und es ist unmöglich, aufs Geratewohl Wachen aufzustellen.» Helmer lächelte. «Darum habe ich Morton versprochen, daß du dich darum kümmern wirst. Im übrigen ist verabredet worden, daß wir sofort benachrichtigt werden, sobald einer der Familie das Licht wieder bemerkt. Wenn ich dir nun diese Aufgabe anvertraue, so geschieht es inoffiziell – polizeiliche Befugnisse hast du deswegen keineswegs.» «Das versteht sich von selbst, Vater», antwortete Jan ernst. Jan war in dem schönen, gepflegten Heim der Familie Morton immer ein willkommener Gast gewesen. Jack war nicht nur von Schulbeginn an sein Klassenkamerad gewesen, sondern vor Jahren hatte Jan den Eltern Morton einen Dienst geleistet, den sie ihm nie vergessen hatten. Damals war Jacks jüngerer Bruder Edward entführt worden, und mit andern Jungen zusammen hatte Jan eine Hilfsaktion gestartet und alles zu einem guten Ende geführt.* *
Davon erzählt Band 3 der Reihe «Jan als Detektiv» mit dem Titel «Jan und die Kindsräuber», erschienen im Albert Müller Verlag und in jeder guten Buchhandlung erhältlich. -72-
Seither war Edward herangewachsen und hatte sich zu einem richtigen Spaßvogel entwickelt. An seine Entführung erinnerte er sich nur dunkel, aber er hielt ohnehin sehr viel von Jan, ja er verehrte ihn geradezu. Das hinderte ihn jedoch nicht, Jan alle möglichen Streiche zu spielen, wenn sich ihm eine Gelegenheit bot. Er meinte es nie böse, konnte es aber einfach nicht lassen, Schelmenstreiche zu verüben. Wie gewöhnlich wurde Jan herzlich empfangen. Deshalb machte es ihm auch nichts aus, daß der Kleiderbügel zusammenklappte, als er seinen Mantel aufhängen wollte. Der Spaßvogel Edward lachte sich darüber beinahe krank und erklärte, daß es derartige «lustige» Bügel in der Stadt zu kaufen gab. Beim Nachmittagskaffee wurde eine künstliche Schmeißfliege auf dem Zucker in der Schale entdeckt, und auf einmal krabbelte ein graues Mäuschen über das Tischtuch. Frau Morton seufzte schicksalsergeben und drohte ihrem Sohn: «Edward, wenn du so weitermachst, kommst du in eine Erziehungsanstalt!» Edward lachte fröhlich. «Ach, Mutter, du kannst mich ja gar nicht entbehren. Ohne mich würdest du dich in diesem Riesenhaus den lieben langen Tag langweilen. Das hörte ich selbst, als du es einmal zu Vater sagtest.» Jan amüsierte sich im stillen über den kleinen Schelm, leistete jedoch mit einer gewissen Erleichterung Folge, als er eine halbe Stunde später von James Morton ins Herrenzimmer gebeten wurde. Morton nahm an seinem großen Schreibtisch Platz, wies Jan einen Sessel zu und begann: «Dein Vater hat dir ja schon erzählt, worum es sich handelt, und wir wollen nun sehen, wie die Sache angepackt werden kann. Hast du in den nächsten Tagen etwas Besonderes vor?» Jan verneinte. -73-
«Fein. Dann schlage ich dir vor, zu uns zu ziehen. Vom Gastzimmer aus hast du einen Blick aufs Nachbarhaus. Ob du allerdings Glück haben wirst, ist eine andere Frage.» «Darf ich Näheres über das geheimnisvolle Licht im Nachbarhaus erfahren?» bat Jan. «Ja, gern», antwortete Morton. «Unsere Haushälterin – Fräulein Jensen heißt sie – sagte mir eines Morgens, sie hätte in der Nacht, als sie nach ihrem freien Tag spät heimkam, drüben Licht aufblitzen sehen. Ich hielt es, offen gestanden, für dummes Zeug, aber ein paar Tage später erhielt ich den Beweis für die Richtigkeit ihrer Behauptung. Ganz zufällig schaute ich hinüber – es war elf Uhr abends –, und ich hätte schwören können, daß hinter einem Fenster im Erdgeschoß ein Licht blinkte. Ich lief hin, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Die Haustüren und alle Fenster waren geschlossen. Damals hatte ich das Haus noch nicht gekauft, aber inzwischen sind mir die Schlüssel ausgehändigt worden…» «Und seither hat sich nichts mehr ereignet?» Morton zuckte die Schultern. «Wie soll ich das wissen? Wir schauen ja nicht jede Minute hinüber. Jedenfalls habe ich deinem Vater versprochen, ihn sofort zu benachrichtigen, wenn wir wieder etwas beobachten. Es stimmt doch, daß die Polizei nicht alle Mitglieder der Spionagebande erwischt hat?» Jan nickte. «Ja, leider. Einige sind entkommen, aber ich glaube nicht, daß es sich bei ihnen um ‹Großwild› handelt, wie Vater sich ausdrückt. Es sind sicher nur unbedeutende Mitglieder der Bande, aber natürlich können sie trotzdem den Schlüssel zu der Villa haben.» «Morgen werde ich sofort neue Schlösser einsetzen la ssen.» «Ach nein, lieber nicht, Herr Morton», bat Jan. «Warum denn nicht?» fragte der Schiffsreeder erstaunt. «Wenn neue Schlösser eingesetzt werden, habe ich -74-
wahrscheinlich keine Möglichkeit mehr, hinter das Geheimnis zu kommen. Wie soll ich die Eindringlinge entlarven, wenn sie nicht mehr hinein können?» «Hast du von deinem letzten Abenteuer noch nicht genug?» Jan machte ein ernstes Gesicht. «Ich sehe es nicht als Abenteuer an, wirklich nicht, Herr Morton. Mein Vater hat mich von jung auf gelehrt, daß es Bürgerpflicht ist, der Polizei beim Kampf gegen das Verbrecherwesen beizustehen. Im übrigen ist ja noch gar nicht erwiesen, daß es drüben nicht mit rechten Dingen zugeht. Vielleicht findet sich eine ganz harmlose Erklärung. Und ich verspreche Ihnen, kein unnötiges Risiko einzugehen.» «Also gut», sagte Morton entschlossen. «Das Gastzimmer ist für dich bereit; du kannst schon heute einziehen, wenn du willst.» «Gern. Nur noch eine Frage… Darf ich Boy mitbringen? Er macht keinen Lärm, hat aber recht großen Appetit…» Morton lächelte. «Boy ist willkommen. Er wird bei uns schon satt werden.»
-75-
ACHTES KAPITEL Nach Boys Verhalten zu urteilen, schien er sich im Hause des Schiffsreeders Morton recht wohl zu fühlen. Hingegen war Jan weniger zufrieden. Mehrere Abende hatte er schon am Fenster seines Zimmers im Erdgeschoß gesessen und unverwandt zum Nachbarhaus hinübergespäht, ohne den geringsten Lichtschimmer zu gewahren. Die Villa lag in Dunkelheit gehüllt. Mit der Zeit gelangte er zu der Auffassung, daß sein Unternehmen ein Fiasko war. Da man nicht annehmen konnte, daß Herr Morton Gesichte gehabt hatte, lag die Vermutung nahe, daß die übriggebliebenen Mitglieder der Spionagebande auf ihre nächtlichen Besuche verzichteten und für ihr ehemaliges Hauptquartier kein Interesse mehr hatten. In diese trübseligen Gedanken versunken saß Jan eines Abends gegen elf Uhr wieder am Fenster und starrte zu der Villa hinüber. Er verstand jetzt, warum sein Vater ihm diese Aufgabe anvertraut hatte. Natürlich konnte die Kriminalpolizei für eine so hoffnungslose Sache keine Zeit opfern. Gerade wollte Jan seine Kümmernisse mit Boy teilen, der zu seinen Füßen lag, da zuckte er zusammen. Drüben geschah etwas, allerdings in Sekundenschnelle, aber Jan zweifelte nicht daran, daß er hinter einer Fensterscheibe einen Augenblick lang einen Lichtschimmer gesehen hatte! Das kam so unerwartet und überraschend, daß er unbeweglich sitzenblieb. Der letzte Zweifel war verflogen – unmöglich, daß die Phantasie drei verschiedenen Menschen einen Streich spielen konnte. Plötzlich wurde er von Tatkraft ergriffen. «Nun gilt es, Boy», sagte er zu seinem Hund, der ihn erwartungsvoll ansah. «Bestimmt ist dort drüben ein ungebetener Gast.» -76-
Schnell steckte er seine Stablampe und eine Schreckschußpistole ein. «Komm, Boy!» befahl er. «Aber leise!» In dem großen Hause war alles still. Die Familie Morton ging frühzeitig schlafen, wenn keine Gesellschaft stattfand. Jan befühlte in seiner Tasche den Schlüsselbund, den der Schiffsreeder ihm gegeben hatte. Er konnte in der Nachbarvilla nach Belieben alle Türen öffnen. Da der Himmel bezogen war, herrschte draußen vollständige Dunkelheit; aber Jan kannte sowohl den Weg durch das Loch in der Hecke als auch das Nachbarhaus, das er in den vergangenen Tagen vom Keller bis zum Dach untersucht hatte. Das Licht war in einem Raum im Erdgeschoß aufgeflackert; doch daraus ließ sich nicht folgern, ob der Eindringling das Haus durch die Vorder- oder durch die Hintertür betreten hatte. Jan beschloß, die Hintertür zu benutzen. Er wagte seine Lampe nicht anzuzünden, sondern versuchte sein Glück mit einem Schlüssel nach dem andern, bis sich die Hintertür öffnen ließ. Obwohl es auch drinnen dunkel war, machte Jan kein Licht. Er wußte, daß die verschiedenen Türen zur Küche und zu den Kellerräumen gehörten, und daß eine Treppe im Hintergrund ins erste Stockwerk hinaufführte. Er hätte Boy gern mitgenommen; aber da die meisten Zimmer und Gänge keinen Teppich hatten, waren Boys Krallen auf dem Holzboden zu hören, und darauf wollte er es lieber nicht ankommen al ssen. Er streichelte den Hund und sagte mit gedämpfter Stimme: «Platz, Boy!» Der Hund gehorchte sofort und rührte sich nicht vom Fleck, als Jan die Treppe hinaufschlich. Zu seiner Überraschung war die Tür, die in die Eingangsdiele führte, abgeschlossen. Hatte sich der ungebetene Gast gegen einen «Angriff» von der Rückseite des Hauses absichern wollen? Es nützte nicht viel, darüber nachzudenken; Jan konnte nur hoffen, daß der Schlüssel -77-
nicht auf der andern Seite im Schloß stak. Er holte sehr vorsichtig, um jegliches Klirren zu vermeiden, den Schlüsselbund hervor und stellte nach einigen Versuchen erleichtert fest, daß der passende Schlüssel nicht auf Widerstand stieß. In der großen Diele war es ebenso finster wie überall. Die Stille setzte seinen Nerven zu. Nicht einmal von draußen drang ein Geräusch herein. Jan hätte gern ein vorbeifahrendes Auto gehört… Er stand mit angehaltenem Atem und lauschte. Ob der ungebetene Gast wohl bereits verschwunden war? Im Geist vergegenwärtigte er sich die Anordnung der Zimmer, und er gelangte zu der Überzeugung, daß das Licht im Büroraum erschienen war. Er hielt es fürs beste, mit den Untersuchungen dort zu beginnen. Vorsichtig tastete er sich an der Wand entlang und legte das Ohr an die Tür des Büros. Drinnen blieb alles still. Er wußte, daß dieser Raum eine zweite Tür hatte, und sein Unbehagen nahm so sehr zu, daß er daran dachte, ins Mortonsche Haus zurückzukehren und die Polizei zu benachrichtigen. Aber bestenfalls dauerte es zehn Minuten, bis ein Streifenwagen hier sein würde, und inzwischen konnte der Eindringling über alle Berge sein. Nein, er mußte die Sache allein durchstehen. Behutsam drückte er die Klinke hinunter und schob die Tür zentimeterweise auf. Das Herz klopfte ihm so heftig, daß er glaubte, das Pochen müßte in der Stille zu hören sein. In dem dunklen Büro machte er die Tür ebenso leise hinter sich zu. Nicht einmal durch die Fenster fiel ein Lichtschimmer herein, und er hatte das Gefühl, daß die Jalousien inzwischen heruntergelassen worden waren. Lauerte hier irgendwo jemand? Während er nach seiner Stablampe und der Schreckschußpistole griff, lauschte er gespannt, und es kam ihm vor, als hörte er in der Dunkelheit einen Menschen atmen. -78-
Plötzlich flammte die Deckenbeleuchtung auf. Jan erschrak so sehr, daß er unwillkürlich gehorchte, als eine Stimme ertönte: «Hände hoch!» Die zweite Tür war geöffnet, und dort stand eine schlanke, mittelgroße Gestalt mit Filzhut, Trenchcoat und einer Halbmaske, die die untere Gesichtshälfte bedeckte. Der Mann hielt eine Pistole ge zückt, und seine Stimme klang hinter der Maske merkwürdig belegt: «Behalten Sie die Hände oben, junger Mann, sonst schieße ich. Was haben Sie hier zu suchen?» «Das könnte ich Sie auch fragen», antwortete Jan. «Vielleicht haben wir beide…» «Werden Sie nicht unverschämt! Die Fragen stelle ich.» Jan war sich über die Gefährlichkeit seiner Lage klar; trotzdem blieb er besonnen, und es gelang ihm, einen verwirrten und betrübten Ton anzuschlagen: «Ja, ich glaube, daß wir aus demselben Grunde hier sind. Das Haus ist unbewohnt, und so hoffte ich, irgendeinen Wertgegenstand zu finden, den man zu Geld machen könnte…» «Diebstahl also», murmelte der Maskierte. «Wie sind Sie hereingekommen?» «Ich habe die Hintertür aufgebrochen. Darauf verstehe ich mich nicht schlecht…» «Wie ein Berufseinbrecher sehen Sie aber nicht aus.» «Na ja, das darf man auch nicht, wenn man Erfolg haben will», erklärte Jan schnell gefaßt. Er flehte: «Lassen Sie mich bitte gehen, und dann werde ich vergessen, daß wir uns hier getroffen haben.» «Das möchte ich Ihnen auch geraten haben, junger Mann. Aber ich ziehe es vor, zuerst zu verschwinden. Sie bleiben fünf Minuten stehen. Wenn Sie sich von der Stelle rühren, durchlöchre ich Sie wie ein Sieb. Verstanden?» «Ja, ja», stammelte Jan, als ob er Angst hätte. «Ich bleibe die -79-
ganze Nacht hier stehen, wenn Sie es wünschen.» «Fünf Minuten», befahl der Maskierte kurz. «Dann fort mit Ihnen. Sie werden hier im Haus ebensowenig Beute machen wie ich, das kann ich Ihnen sagen.» Ohne die Pistole zu senken, ging er rückwärts zur Tür. Als er sich umdrehte, um das Licht zu löschen, erstarrte Jan vor Verwunderung. Er traute seinen Augen kaum… Doch schon in der nächsten Sekunde herrschte Dunkelheit, und er hörte, daß der Schlüssel im Schloß herumgedreht wurde. Die Anweisung, sich fünf Minuten lang nicht zu rühren, schlug er in den Wind. Er zündete seine Stablampe an, lief hinaus und holte Boy. Bei der Tür, durch die der Maskierte verschwunden war, ließ er den Hund die Fährte aufnehmen. Boys Benehmen zeigte, daß er die Fährte beim Hauseingang wiederfand, und dann folgte er ihr so eifrig auf der Straße, daß Jan Mühe hatte, Schritt zu halten. Bei der ersten Seitenstraße bog Boy um die Ecke, immer mit der Nase am Boden, aber etwa zwanzig Meter weiter kreiste er an Ort und Stelle. Hier mußte der geheimnisvolle Maskierte ein Fahrzeug bestiegen haben, so daß der Hund die Fährte nicht mehr verfolgen konnte. So sehr Jan ihn auch anspornte, es war hoffnungslos. Am folgenden Morgen stand Jan früh auf, obwohl er spät zu Bett gekommen war. Auf der Terrasse traf er Schiffsreeder Morton, der ebenfalls zu den Frühaufstehern gehörte. Jan schilderte ihm sein nächtliches Erlebnis, und auf Mortons Frage, wie es nun weitergehen sollte, antwortete er: «Zuerst will ich Vater anrufen und ihm Bericht erstatten. Sie wissen doch, Herr Morton, daß ein paar Spione der Polizei entschlüpft sind, und meines Erachtens kommen sie ab und zu in ihr ehemaliges Hauptquartier, um irgend etwas Bestimmtes zu suchen.» «Du glaubst, sie suchen etwas?» erwiderte James Morton -80-
zweifelnd. «Was könnte das sein?» Jan zuckte die Schultern. «Keine Ahnung, aber ich halte meine Erklärung nicht für abwegig. Jedenfalls möchte ich darüber mit Vater sprechen.» Kommissar Helmer teilte die Auffassung seines Sohnes. «Deine Theorie ist nicht neu», sagte er, nachdem er Jan angehört hatte. «Wir hatten schon denselben Gedanken, aber natürlich wissen wir ebensowenig wie du, was die Kerle in dem Haus suchen. Kannst du mir den Maskierten näher beschreiben?» «Nicht sehr genau, Vater. Etwa ein Meter siebzig groß, schlank, heller Trenchcoat, grauer Filzhut, braune Beinkleider, braune Schuhe… ja, das ist alles, und diese Beschreibung paßt auf Tausende.» «Allerdings. Benachrichtige mich sofort, wenn du mehr herausfindest.» Erst nachdem Jan aufgehängt hatte, fiel ihm ein, daß er die Beschreibung doch noch hätte ergänzen können; aber da er nicht sicher war, ob es sich vielleicht um ein Hirngespinst handelte, unterließ er es, seinen Vater nochmals anzurufen. Er wollte nicht für einen Phantasten gehalten werden, zumal er wußte, daß die Kriminalpolizei unbestimmte Vermutungen und verschwommene Wahrnehmungen gar nicht schätzte – auf Tatsachen kam es ihr an. Als er sich eine Viertelstunde später zum Frühstück an den Tisch setzte, erlebte er einen schönen Schrecken. Jählings ertönte ein infernalisches Geheul, als ob eine Sirene ihre Lautstärke erproben wollte. Jan fuhr auf, und der unverbesserliche Edward konnte sich vor Lachen kaum halten. Frau Morton sagte mit strenger Miene: «Edward, wenn du so weitermachst, kommst du in eine Erziehungsanstalt, hast du verstanden?» «Ja, Mutter», antwortete Edward mit gespielter Zerknirschung. Zu Jan sagte er mit spitzbübischem Lächeln: «Mit diesem -81-
lustigen Luftkissen kannst du deine Gäste erschrecken, wenn du willst. Soll ich dir verraten, in welchem Geschäft man sie bekommt?» «Nein, danke», wehrte Jan ab, der auch fand, daß Edward mit seinen Späßen entschieden zu weit ging. Den Vormittag benützte er dann für eine gründliche Untersuchung des Nachbarhauses. Planmäßig durchsuchte er die Villa von oben bis unten, jedoch ohne das geringste zu entdecken. Schließlich ließ er sich mißmutig in einem Sessel nieder und dachte nach. Irgendwo mußte doch etwas verborgen sein, worauf die Spione aus waren. Natürlich kannte der gefangene Werner Katz das Versteck, aber entweder hatte er es seinen Spießgesellen absichtlich nicht verraten oder keine Gelegenheit dazu gehabt. Plötzlich kam ihm das Gärtnerhäuschen in den Sinn. Daß er daran nicht früher gedacht hatte! Für den Chef und seinen Stellvertreter war das kleine Nebengebäude zweifellos von großer Bedeutung gewesen, denn dort hatten sie ja die Papiere aufbewahrt und ihre Beratung abgehalten. Im Nu war Jan drüben. Es dauerte nicht lange, bis er in seinem Bund den passenden Schlüssel gefunden hatte und mit der Haussuchung beginnen konnte. Am gründlichsten ging er in dem Zimmer vor, in dem er Katz und Schön beobachtet hatte. Kein Quadratzentimeter des Bodens und der Wände entging seinem Blick, und sorgfältig durchkramte er den alten Schrank. Nichts… Zufällig gewahrte er sein enttäuschtes Gesicht im Spiegel. Dieser Spiegel erweckte in ihm die Erinnerung an seine eigene Dummheit. Er hatte einen altmodischen Mahagonirahmen und ließ sich schwer abnehmen. Aber die Mühe lohnte sich. Nachdem er den Spiegel abgestellt hatte, blieb ihm vor Überraschung der Mund offen stehen, denn mitten in dem helleren Tapetenrechteck saß ein Schlüsselloch, und die -82-
ungefähr dreißig Zentimeter langen Rillen ringsum verrieten, daß hier ein Geheimfach in die Wand eingelassen war. Jan bezweifelte, daß einer der Schlüssel, die Morton beim Kauf des Hauses ausgehändigt worden waren, zu diesem Wandtresor passen würde, und seine Vermutung erwies sich als richtig. Was nun? Seiner Überzeugung nach enthielt dieses Geheimfach den gesuchten Gegenstand. Er beschloß, sofort die Kriminalpolizei zu benachrichtigen. Er hob den schweren Spiegel auf, um ihn wieder aufzuhängen, doch im selben Augenblick ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen, das die Fensterscheiben klirren ließ. Rasch stellte er den Spiegel ab und drehte sich um – da kam der nächste Schock. Ohne daß er sie gehört hatte, waren zwei Männer hereingekommen! Sie standen mit ebenso erschrockener Miene wie Jan gleichsam festgenagelt. Das jähe Krachen hatte sie offenbar gelähmt. Auf einmal fuhren sie herum und verschwanden blitzschnell durch die offene Tür. Jan war so überrascht und verwirrt, daß er nicht daran dachte, sie zu verfolgen. Er begriff das Ganze nicht. Erst nach einer Weile arbeitete sein Kopf wieder normal. Das unerwartete Krachen war aus dem Garten gekommen; es konnte mit den geheimnisvollen Männern keinen Zusammenhang haben, denn es hatte sie ja derartig erschreckt, daß sie Reißaus genommen hatten. Ein Glück, dachte Jan und wischte sich die Stirn ab, sonst wäre er ein paar Sekunden später hinterrücks überfallen worden. Er wollte in den Garten hinauslaufen, um die Sache näher zu untersuchen. Bei der Haustür traf er Edward, der übers ganze Gesicht strahlte und begeistert fragte: «Bist du tüchtig erschrocken, Jan?» Jan packte ihn am Kragen. «Du warst das also, du Schlingel! Eine Knallbombe, was?» -83-
«Die größte und knalligste, die ich finden konnte», lachte der Lausbub vergnügt. «Du mußt dich hier ja langweilen, und da wollte ich dir die Zeit vertreiben. War das nicht toll?» «Ja», sagte Jan und ließ ihn los. «Das war dein ärgster Streich bis jetzt, aber auch dein nützlichster. Hast du die beiden Männer gesehen, die hier aus dem Haus gelaufen sind?» «Nein», antwortete Edward verwundert. «Waren zwei Männer hier? Was wollten sie?» «Wenn ich das wüßte… Zum Glück hat dein Knall sie verjagt. Aber jetzt hör gefälligst mit deinen Dummheiten auf, sonst könnte es einmal schiefgehen. Übrigens muß ich jetzt die Polizei anrufen.» Jan faßte den Jungen am Arm. «Du kommst am besten mit mir, damit kein Unheil geschieht.» Nachdem Jan seinem Vater alles berichtet hatte, sagte der Kommissar nach einigen Lobesworten: «Ich komme sofort mit ein paar Leuten. Ist Herr Morton zu Hause?» «Ja.» «Gut. In einer halben Stunde sind wir dort. Auf Wiedersehen.» Als Eigentümer der «Spionenvilla» konnte Schiffsreeder Morton die Erlaubnis geben, den versteckten Wandtresor zu öffnen – andernfalls hätte es einer gerichtlichen Befugnis bedurft –, und mit nicht geringer Spannung sahen alle zu, während sich ein Fachmann an die Arbeit machte. Sie mußten sich eine Zeitlang gedulden, bis er das Schloß aufbrachte. Als die Tür endlich aufsprang, beugte sich Kriminalkommissar Helmer eifrig vor. Das Fach enthielt eine Stahlkassette, die nicht abgeschlossen war. Dennoch gab der Inhalt zu keiner Enttäuschung Anlaß. Er bestand nämlich aus dicken Geldbündeln, größtenteils Fünfhundert-Kronen-Scheinen, die von Gummibändern zusammengehalten wurden. Helmer zählte sie flüchtig durch und brummte zufrieden: -84-
«Ungefähr hunderttausend Kronen, wahrscheinlich das gesamte Arbeitskapital der Spionenbande. Nur schade, daß hier nicht auch aufschlußreiche Papiere versteckt waren. Immerhin fein gemacht, Jan.» Bevor er mit seinen Leuten wegfuhr, ließ er sich von Jan noch die beiden Männer beschreiben, die so unerwartet aufgetaucht waren. Edward war bald dahintergekommen, daß er als Held des Tages gelten durfte, aber sein Vater nahm ihm den Wind aus den Segeln, indem er sagte: «Bilde dir bloß nichts ein, du Frechdachs! Als du die Knallbombe abließest, hattest du ja gar nicht die Absicht, Jan zu Hilfe zu kommen.» «Der Junge ist hoffnungslos», seufzte Frau Morton. «Ich hatte ihm verboten, Feuerwerk zu kaufen. Ich sehe es kommen, daß wir ihn in eine Erziehungsanstalt geben müssen.» Diese Drohung stieß sie seit etwa zwei Jahren so oft aus, daß sie ihrem Sohn damit keinen Eindruck mehr machen konnte. Er wußte genau, daß die Eltern sie niemals wahrmachen würden. Nach dem Frühstück hielt Schiffsreeder Morton im Herrenzimmer mit Jan eine Unterredung ab. Normalerweise verbrachte er den Arbeitstag in seinem Büro in der Stadt, aber wegen der besonderen Umstände hatte er jetzt seine Gewohnheiten geändert und seine Privatsekretärin beauftragt, ihm die Post ins Haus zu bringen. Jan begann ein wenig zögernd: «Herr Morton, ich möchte Sie etwas fragen…» «Nur heraus damit, Jan!» «Es hat mich gewundert, daß die Tür zur Hintertreppe gestern abend verschlossen war. Das war sonst nie der Fall.» «Hat das etwas zu bedeuten?» fragte Morton. «Durchaus möglich. Wenn die Spione sie abgeschlossen haben, dann sicher nur, um einen unerwarteten Besuch von hier -85-
zu verhindern. In diesem Falle müßten sie wissen, daß das Licht beobachtet worden ist. Gestern abend wurden ja auch die Jalousien hinuntergelassen, nachdem ich das Licht gesehen hatte. Darum möchte ich Sie fragen, Herr Morton: Haben Sie irgendeinem Menschen von dem seltsamen Licht erzählt?» Morton überlegte. «Ja, natürlich meiner Familie, außerdem deinem Vater… und du weißt darüber Bescheid. Im übrigen…» Plötzlich schien ihm ein Gedanke zu kommen. «Ja, richtig, ich sprach auch mit meiner Sekretärin, Fräulein Vera Brun, darüber.» «Seit wann arbeitet Sie bei Ihnen?» «Seit einem halben Jahr.» «Ist sie tüchtig?» «Und ob! Sie hatte glänzende Zeugnisse, und sie beherrscht fünf Sprachen, darunter Spanisch und Italienisch, was in Dänemark selten ist. Sie ist die tüchtigste Mitarbeiterin, die ich jemals gehabt habe.» «Darf ich mit ihr sprechen, wenn sie kommt?» «Ja, gern. Aber stoß sie bitte nicht vor den Kopf. Sie ist ziemlich empfindlich, und ich möchte nicht…» «Nein, nein, ich werde mich hüten.» Jan lächelte. «Mir ist nur ein Gedanke gekommen.» Morton nickte anerkennend. «Ich weiß ja, wie logisch du denken kannst. Ich werde es nie vergessen, wie gescheit du vorgegangen bist, als Edward damals entführt wurde.» «Dafür hat mich Edward mit seiner Knallbombe vor einem Unglück bewahrt. Wir sind also quitt.» «Wir beide werden nie quitt sein, Jan», sagte Morton ernst. «Ich kann dir versichern…» Er wurde unterbrochen, denn in diesem Augenblick wurde ihm die Ankunft von Fräulein Brun gemeldet. «Ich lasse bitten», gab er zurück. -86-
Unwillkürlich blickte Jan gespannt auf die Tür, und er zuckte zusammen, als eine hübsche junge Dame mit einer Aktenmappe unter dem Arm hereintrat. Es war nämlich die erzürnte junge Dame, die auf der «Stadt Lübeck» einen Mann geohrfeigt hatte! Als Mortons Sekretärin Jan gewahrte, blieb sie wie erstarrt stehen, und ihre grünen Augen flackerten unruhig auf. Die roten Haare glänzten wie Kupfer. Morton fiel das Benehmen der beiden andern nicht auf; er sagte freundlich: «Guten Morgen, Fräulein Brun. Darf ich Sie mit meinem Hausgast Jan Helmer bekannt machen. Setzen Sie sich bitte.» «Guten Morgen.» Sie warf Jan einen schnellen Seitenblick zu und setzte sich steif auf den Rand eines Stuhles. Sie wirkte beinahe sprungbereit. Jan kämpfte gegen seine Fassungslosigkeit an. Er erhob sich und schlenderte zur Tür. Nachdem er ihr den Fluchtweg versperrt hatte, hob er ruhig und höflich an: «Fräulein Brun, erlauben Sie mir eine Frage…» Weiter kam er nicht, denn die rothaarige junge Dame war wie von einer Feder geschnellt aufgesprungen. Rasch steckte sie die Hand in die Tasche, und in der nächsten Sekunde hielt sie eine Pistole in der Rechten. Ihre Stimme klang kühl: «Ich bin also in einen Hinterhalt gelockt worden. Aber so leicht lasse ich mich nicht unterkriegen.» Sie richtete die Waffe auf Jan. «Weg von der Tür, oder ich schieße! Zu Morton hinüber! Wird’s bald?» Jan mußte wohl oder übel gehorchen. Morton stieß verblüfft hervor: «Was soll denn das? Seid ihr beide ve rrückt geworden?» «Keineswegs, Herr Morton», erwiderte sie schneidend. «Aber die Herren sind ziemlich naiv, wenn Sie glauben, daß Sie mich so leicht schnappen können.» Ohne die Pistole zu senken, wich sie zur Tür zurück. «Ich rate Ihnen, mich nicht am Fortgehen zu hindern. Aber um sicherzugehen…» Mit einem Sprung war sie beim Schreibtisch und riß die Telephonschnur heraus. -87-
Morton stöhnte: «Sind Sie wahnsinnig geworden, Fräulein Brun?» «Nein», entgegnete sie kurz und zog sich wieder zur Tür zurück. «Ich will Ihnen verraten, daß ich ein besonders guter Schütze bin. Wenn sich mir jemand in den Weg stellt, schieße ich bedenkenlos. Und glauben Sie ja nicht, daß ich nicht aufpassen werde, wenn ich aus dem Hause bin. Ich kann auch aus großem Abstand treffen.» Sie verschwand aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Morton saß zuerst reglos vor Überraschung. Dann stammelte er: «So etwas ist mir noch nie vorgekommen. Was ist bloß in Fräulein Brun gefahren?» Trotz der ernsten Lage mußte Jan lächeln. «Herr Morton, ich sagte Ihnen doch vorhin, ich hätte einen Verdacht. Jetzt habe ich den Beweis, daß mein Gedanke richtig war. Ich kann mit Sicherheit behaupten, daß Ihre vortreffliche Privatsekretärin ein Mitglied der internationalen Spionagebande ist, und es würde mich gar nicht wundern, wenn sie als Nachfolgerin von Werner Katz die Organisation in Dänemark leitet.» Er eilte zum Fenster. «Ja, nun läuft sie zum Gartentor, und wir können sie nicht aufhalten.» Morton betrachtete die abgerissene Telephonschnur und sagte: «Ich verstehe das Ganze noch immer nicht, aber wir müssen die Polizei benachrichtigen. Zum Glück ist in der Diele ein zweiter Anschluß.» «Ja», antwortete Jan geistesabwesend. Er war in Gedanken vertieft. Vera Brun war nicht nur die Dame, die auf der Jacht eine Ohrfeige ausgeteilt hatte, sondern fast mit Sicherheit auch die maskierte Person, die ihn drüben in der «Spionenvilla» mit einer Pistole bedroht hatte! Nachdem Jan die Kriminalpolizei verständigt hatte, teilte er seine Vermutung dem Schiffsreeder mit. «Sie erkannte mich sofort, als sie hier hereinkam», schloß er. -88-
«Und wie bist du darauf gekommen, den Maskierten für eine Frau zu halten und meine Sekretärin zu verdächtigen?» fragte Morton erstaunt. «Seine Stimme klang so unnatürlich, daß sie auf jeden Fall verstellt sein mußte. Aber das war nicht alles. Als der maskierte ‹Mann› mir den Rücken kehrte, um das Zimmer zu verlassen, fiel mir eine kupferrote Locke auf, die unter dem Hut hervorkam. Wieso mußte er sein langes Haar verstecken?» «Trotzdem verstehe ich nicht, wieso du gerade meine Sekretärin verdächtigt hast», erwiderte Morton kopfschüttelnd. «Du kanntest sie doch gar nicht.» Jan lachte. «Ich kannte sie längst, aber ohne es zu wissen.» Er schilderte den Vorfall, den er im Jachthafen beobachtet hatte. «Als sie dann an mir vorbeiging», beendete er den Bericht, «schaute sie an mir vorbei. In ihrer Erregung sah sie weder nach rechts noch nach links. Aber als sie mich vorhin hier erblickte, verriet ihr Benehmen deutlich, daß sie mich wiedererkannte. Folglich sind wir uns drüben in der Villa begegnet.» «Hm», machte Morton nachdenklich. «Wenn man alles zusammenfügt», erklärte Jan weiter, «ergibt sich ein deutliches Bild. Einzeln betrachtet, sind es lauter Kleinigkeiten. Der Vorfall auf der Jacht, die rote Haarsträhne, auch die verstellte Stimme, die abgeschlossene Tür, die heruntergelassenen Jalousien… und schließlich Ihre eigene Aussage, daß Sie mit Fräulein Brun über das Licht in der ‹Spionenvilla› gesprochen haben… Natürlich war ich meiner Sache erst sicher, als Fräulein Brun bei meinem Anblick hier offensichtlich erschrak. Es ist ganz natürlich, daß sie annahm, wir hätten sie in einen Hinterhalt gelockt. Wie hätte sie die Lage sonst auffassen sollen? Als ich ihr den Weg versperrte, handelte sie blitzschne ll – allzu schnell, könnte man sagen –, und ihre Handlungsweise ist so gut wie ein Geständnis.» «Zweifellos hast du recht, Jan.» Morton machte ein betrübtes -89-
Gesicht. «Für mich ist es eine große Enttäuschung, denn ich habe Fräulein Brun in mehr als einer Be ziehung volles Vertrauen geschenkt…» Er brach ab, als ob ihm ein Gedanke gekommen wäre, und fragte dann mit düsterer Miene: «Hast du der Polizei von dem Vorfall auf der Jacht berichtet?» Jan nickte. «Selbstverständlich. Bestimmt ist ein Streifenwagen dorthin schon unterwegs. Mit etwas Glück wird man Fräulein Brun und ihre Helfershelfer dort schnappen. Darf ich Sie etwas fragen, Herr Morton?» «Bitte sehr.» «Weiß Fräulein Brun irgend etwas… ich meine, ist sie im Besitz irgendwelcher Kenntnisse, wodurch sie Ihnen schaden könnte?» «Ja und nein», antwortete Morton gedehnt. «Es läßt sich ja nie umgehen, daß eine Privatsekretärin einen gewissen Einblick in wichtige geschäftliche Angelegenheiten hat. Ich bin seit einiger Zeit an einer wissenschaftlichen Entdeckung interessiert, die für die dänische Wehrmacht größte Bedeutung haben kann – ich möchte sagen, für das Verteidigungswesen der ganzen westlichen Welt –, und es liegt auf der Hand, daß sich die Spionage ebenfalls dafür interessieren dürfte. Vielleicht ist es kein Zufall, daß sich die Leute im Nachbarhaus einquartiert haben. Einiges davon hat Fräulein Brun ja gewußt, allerdings nichts Entscheidendes, doch immerhin genug, daß ich mir nun Gedanken mache… Ich kann nur hoffen, daß die Polizei rechtzeitig zu der Jacht kommt.» «Bestimmt», meinte Jan. Im Grunde aber war er seiner Sache nicht so sicher. Gegen seinen Willen hatte er großen Respekt vor Mortons schöner Privatsekretärin. Sie hatte entschieden Haare auf den Zähnen. Die Brüder Katz waren gefährliche Gegner gewesen, aber Vera Brun schien nicht minder gefährlich. Er hielt es für durchaus möglich, daß sie jetzt die Abteilung in Dänemark leitete. Die -90-
Episode auf der «Stadt Lübeck» bewies ja, daß sie das Heft in der Hand hatte. Auf jeden Fall mußte sie ein wichtiges Glied in der Kette sein, da man sie als Mortons Privatsekretärin an verantwortungsvoller Stelle eingesetzt hatte. Es bot sich Jan keine Gelegenheit mehr, seinen Gedankengang fortzusetzen, da in diesem Augenblick zwei Kriminalbeamte erschienen. Den einen kannte Jan – er hieß Schröder – , und so konnte er sicher sein, daß sein Bericht nicht in Zweifel gezogen wurde. Durch Schröder erhielt er auch die Bestätigung, daß ein Streifenwagen zur «Stadt Lübeck» entsandt worden war. Es bestand also alle Hoffnung, daß die Spione dort dingfest gemacht würden, zumal Vera Brun nach Jans Dafürhalten nicht ahnte, daß er über die Jacht Bescheid wußte. Bald darauf gab es jedoch eine Enttäuschung. Es kam ein Anruf, und als Schröder aus der Diele zurückkehrte, machte er ein recht mißmutiges Gesicht. Jan erkundigte sich sofort: «Ist es schiefgegangen?» Schröder nickte. «Ja, leider. Die ‹Stadt Lübeck› ist schon heute vormittag ausgefahren.» «So ein Pech!» rief Jan ärgerlich. «Was nun?» «Das Boot muß bereits ein gutes Stück von Kopenhagen entfernt sein, möglicherweise zum Kielerkanal, aber überall in Fünen und Jütland ist die Seepolizei alarmiert worden. Wir können nur das Beste hoffen, obwohl es augenblicklich alles andere als günstig aussieht.» Nachdem die Beamten gegangen waren, schauten Jan und Morton einander niedergeschlagen an. «So ein Pech», wiederholte Jan. «Da ist es kaum ein Trost, daß wir bis jetzt Glück gehabt haben.» «Hast du nicht irgendeine Idee?» fragte Morton. Jan mußte wider Willen lachen. «Es schmeichelt mir, daß Sie mir das zutrauen, Herr Morton. Aber ich muß gestehen, daß ich -91-
einen leeren Kopf habe. Bei der Kriminalpolizei ist die Sache nun in den besten Händen.» «Vielleicht fällt dir doch etwas ein, Jan.» «Kaum unter diesen Umständen», erwiderte Jan. «Auf jeden Fall werde ich jetzt einen Spaziergang machen. Das ist immer gut, wenn ich nicht mehr ein oder aus weiß.» Auf dem Spaziergang im Garten überlegte Jan ruhig und besonnen. Die wichtigste Frage lautete seiner Meinung nach: Warum war die «Stadt Lübeck» am Vormittag ausgefahren, und wohin wollte sie? Zweifellos gehörte die Jacht der Spionenbande, die von Fräulein Brun geleitet wurde; aber die «Besatzung» konnte Kopenhagen nicht verlassen haben, weil sie ihre Aufgabe in Dänemark erledigt hatte. Erstens waren zwei Mitglieder der Bande noch vor einigen Stunden im Gärtnerhäuschen gewesen, und zweitens war Fräulein Brun pünktlich zum Arbeitsbeginn erschienen. Plötzlich kam Jan eine erschreckende Vermutung. Vielleicht hatte die Rothaarige ihn doch am Kai vor der «Stadt Lübeck» gesehen und ihn später in der «Spionenvilla» wiedererkannt. Wenn das stimmte, mußte sie es ja riskant gefunden haben, das Motorboot im Jachthafen liegenzulassen, und deswegen hatte sie es in einen andern Hafen abgeordert. Ja, das war’s – ein anderer Hafen! Eigentlich sprach gar nichts dafür, daß sich die «Stadt Lübeck» auf dem Wege nach Deutschland befand. Viel wahrscheinlicher war es, daß sie jetzt an der seeländischen Küste in einem Hafen lag, und daß Vera Brun es nun sehr eilig hatte, das Boot aus dänischem Gewässer wegzuschaffen. Ob sie selbst mitfuhr, das blieb eine offene Frage. Jan überlegte, ob er seine Vermutungen dem Vater mitteilen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Zweimal hatte sich Vera Brun als die Stärkere erwiesen, und er betrachtete es geradezu -92-
als Ehrensache, ihr diesmal ein Schnippchen zu schlagen und die dritte Runde zu gewinnen. Zu diesem Zweck brauchte er die Hilfe seines zukünftigen Schwagers Jens Bach. Hoffentlich konnte er ihn erreichen… Drei Minuten später stand Jan in der Diele und hielt den Telephonhörer in der Hand. Das Glück war ihm hold – Jens meldete sich. So kurz wie möglich setzte ihm Jan auseinander, was sich ereignet hatte. «Eine tolle Geschichte», sagte Jens. «Und was kann ich für dich tun?» «Ist nicht einer deiner Freunde Sportflieger?» «Ja, Jörgen Holt besitzt ein schönes Sportflugzeug für drei Personen. Ich bin schon ein paarmal mit ihm geflogen. Aber ich verstehe nicht…» «Paß auf, Jens», fiel Jan seinem Schwager ins Wort. «Vielleicht ist es eine verrückte Idee, aber ich nehme an, daß die Jacht jetzt irgendwo liegt, im nördlichen Öresund oder in der Kage-Bucht, und vom Flugzeug aus könnte man sie ausfindig machen…» Nun wurde Jan unterbrochen: «Du brauchst kein Wort mehr zu sagen! Ich rufe Jörgen sofort an. Ble ib beim Telephon. Du bekommst in wenigen Minuten Bescheid.» «Sag Lis bitte nichts davon», mahnte Jan. «Sie würde es gar nicht schätzen, wenn ich dich schon wieder in etwas hineinreiße…» «Sei unbesorgt! Dazu bleibt mir ohnehin keine Zeit. Bis gleich!» Kaum hatte Jan den Hörer aufgelegt, da kam James Morton aus seinem Arbeitszimmer. «Ich hörte dich reden, Jan. Ist dir doch eine Idee gekommen?» Jan erklärte ihm sein Vorhaben und schloß mit den Worten: -93-
«Wenn es mit der Suche vom Flugzeug aus klappt, kann das Unternehmen auf jeden Fall keinen Schaden anrichten. Verläuft es erfolglos, so muß ich mich eben damit trösten, daß ich einen Flug über die schöne seeländische Frühjahrslandschaft genießen konnte. Ein kleines Privatflugzeug ist doch etwas ganz anderes…» In diesem Augenblick klingelte das Telephon. Jens sagte aufgeregt: «Alles in Ordnung, Jan! Ich hole Jörgen mit meinem Wagen ab, und in zwanzig Minuten sind wir bei dir. Seine Maschine steht startbereit auf dem Privatflugplatz. Dann werden wir drei Gegenspione sein!»
-94-
NEUNTES KAPITEL Als Vera Brun aus Mortons Haus lief, war sie keineswegs so ruhig und kaltblütig, wie sie im Arbeitszimmer geschienen hatte. Sie blickte sich mehrmals um und steckte die Pistole hastig ein. Sowie sie in ihrem kleinen Wagen saß, der ein Stück entfernt parkte, ließ sie den Motor an und fuhr los. Im Rückspiegel sah sie, daß niemand sie verfolgte, und sie lächelte frohlockend. Während der Fahrt – ihr Ziel war der Hafen von Taarbäk, wo das Motorboot lag – dachte sie über die Ereignisse der letzten Tage nach. Es erboste sie, daß sie den jungen Mann mit seinem Lügenmärchen vom Einbruch nicht sofort wiedererkannt hatte, denn sie erinnerte sich gut an den Burschen, der Zeuge gewesen war, als sie auf der «Stadt Lübeck» den aufsässigen Agenten Herbert geohrfeigt hatte. Damals hatte sie sicherheitshalber die Anweisung gegeben, das Motorboot nach dem Taarbäker Hafen zu verlegen und dort weitere Befehle abzuwarten. Natürlich sollte die Aufgabe in Dänemark fortgesetzt werden, aber man mußte sie nun anders anpacken, da es mit ihrem Posten als Privatsekretärin bei James Morton aus war. Eins stand jedenfalls fest: Die «Stadt Lübeck» mußte schnellstens von der Bildfläche verschwinden. Ihre grünen Augen funkelten vor Wut, als sie an Jan Helmer dachte. Das war ja der Name des Burschen, der der Organisation schon mehrmals in Dänemark in die Quere gekommen war! Klar, daß es sich um ein und dieselbe Person handelte. Am meisten ergrimmte es sie, daß er das Geldversteck gefunden hatte. Fast hätten ihre beiden Leute ihn erwischt, aber dann war es wegen einer Bombenexplosion zu dem Fiasko gekommen. Jedenfalls hatten die beiden von einer Explosion gesprochen, aber sie traute der Sache nicht. Wer hätte denn in dem Garten eine Explosion veranstalten sollen? Sie hielt es für eine Ausrede, -95-
mit der die Tolpatsche ihr Unvermögen verschleiern wollten. Sie machte ein finsteres Gesicht, als sie in Taarbäk zum Hafen einschwenkte. Ihren Wagen ließ sie am Kai stehen. Dann eilte sie an Bord der «Stadt Lübeck». Ein Mann zeigte sich in der Kajütentür, und sie befahl schroff: «Sofort starten, Herbert!» «Ja, aber…» «Ich sagte, starten! Es eilt!» «Zu Befehl…» «Wie viele sind an Bord?» «Alle fünf.» «Wir sprechen uns, wenn wir draußen sind.» Sie begab sich in ihre Kabine, wo sie sich auf einen Stuhl fallen ließ und mißmutig vor sich hin starrte. Ihre Gedanken kreisten immer noch um Jan Helmer. Kurz darauf glitt die Jacht aus der Hafeneinfahrt. Ein Mann kam herein und fragte: «Welchen Kurs?» «Nordwärts», antwortete sie kurz. Kurz darauf rief sie alle Leute außer dem Steuermann zu sich. Den vier Agenten, die in ihre Kabine traten, schwante Unheil, als sie ihre Miene sahen. Sie betrachtete die Männer, die vor ihr standen, mit zusammengekniffenen Augen und fuhr sie an: «Ihr seid lauter Dummköpfe! Ich war zum Schluß sicher, daß das Geld im Gärtnerhaus versteckt sein mußte – Katz konnte uns ja aus dem Gefängnis keinen Bescheid zukommen lassen –, aber als ich zwei von euch hinschickte, habt ihr euch wie blöde Schafe benommen. Wißt ihr, wer das Versteck gefunden hat, bevor ihr hinkamt?» «Nein.» «Jan Helmer!» -96-
Die Männer erschraken, denn diesen Namen kannten sie nur allzu gut. Jan Helmer war der Organisation oft genug in die Quere gekommen und hatte sogar die Brüder Katz zur Strecke gebracht. «Jawohl, Jan Helmer», fuhr Vera Brun spöttisch fort. «Es wäre für euch ein leichtes gewesen, ihn zu überwältigen, aber was habt ihr gemacht? Ausgerissen seid ihr!» «Aber die Explosion…» stammelte der eine. «Wer hat die Explosion bewerkstelligt? Und zu welchem Zweck?» «Das wissen wir nicht», lautete die Antwort. «Sie ereignete sich draußen im Garten, aber wir sahen keinen Menschen…» «Weil ihr es so eilig hattet, wegzukommen», fiel sie höhnisch ein. «Wie soll man jemals Erfolg haben, wenn man es mit solchen Hasenfüßen zu tun hat?» Als sie schwieg, wagte sich Herbert mit einer Frage hervor: «Wohin fahren wir eigentlich?» Sie besann sich einen Augenblick, bevor sie antwortete: «Vorläufig zum Kattegat. Ich habe Grund zu der Annahme, daß die Polizei alle dänischen Gewässer und Häfen alarmiert hat; aber man wird sicher denken, daß die ‹Stadt Lübeck› Kurs auf Deutschland nimmt, und uns dort oben nicht suchen.» «Sollen wir um Skagen herumfahren?» «Möglicherweise. Ich bin mir noch nicht schlüssig. Wenn wir ein Stück weit im Kattegat sind, erhaltet ihr nähere Anweisungen. Jetzt weg mit euch!» Diesen Befehl hörten die Männer gern. Sie rief ihnen noch nach: «Mit voller Kraft voraus!» Nachdem sie verschwunden waren, ging Vera Brun in der kleinen Kabine unruhig auf und ab. Sie war ratlos. Sie wußte, daß es gefährlich sein würde, die Arbeit in Dänemark fortzusetzen; aber die größte Sorge bereiteten ihr ihre -97-
Mitarbeiter. Die besten Leute waren mit Werner Katz im Gefängnis gelandet, und bisher hatte die Zentrale in Hamburg es nicht nötig gefunden, Ersatz zu schicken. In spätestens zwei Stunden mußte sie jedoch unbedingt einen Entschluß fassen. Sie ergriff ihre Handtasche, die auf dem Tisch stand, und schüttete den Inhalt aus: die geladene Pistole, Puderdose, Lippenstift und andere Kleinigkeiten, ein weißes Spitzentüchlein und ein ziemlich dickes Geldbündel. Sie zählte die Scheine; im ganzen waren es achttausend Kronen. Viel war das nicht, aber mehr stand ihr augenblicklich nicht zur Verfügung, und wenn Hamburg von dem bisherigen Fiasko hörte, war mit einer Belohnung gewiß nicht zu rechnen. Andererseits mußte man neues Arbeitskapital schicken, wenn die Arbeit in Dänemark fortgesetzt werden sollte. Es graute ihr davor, dem Chef in Hamburg Bericht zu erstatten und den Mißerfolg einzugestehen. Sie warf einen Blick durchs Bullauge und sah, daß die Jacht soeben an Kronborg vorbeifuhr. Ja, in zwei Stunden würden sie mitten im Kattegat sein, und dann mußte sie sich endlich entscheiden. Sie spielte mit dem Gedanken, abzuspringen, obwohl sie das Schicksal abgesprungener Agenten recht gut kannte. Die internationale Organisation war über die ganze Welt verzweigt und verfügte über große Machtmittel. War man von ihr erst einmal eingefangen, so entging man ihr nicht so leicht… Sie ging an Deck, stützte sich mit den Ellenbogen auf die Reling und blickte zum Land hinüber. Es war ein herrlicher Frühsommertag. Weiße Schaumkronen belebten das sonst so stille blaue Wasser; an der Küste wechselten grüne Wälder mit weißen Häusern und sanft geschwungenen Matten. Weiter hinten zeichnete Kronborg seine Türme und Mauern ins Himmelsblau. Der Anblick der schönen Landschaft vertrieb für eine Weile ihre düstere Miene, aber die bessere Stimmung hielt nicht lange -98-
an, denn es fiel ihr ein, daß es vielleicht eine Dummheit gewesen war, sich an Deck zu wagen. Was sollte man jedoch machen, wenn man keinen bestimmten Plan hatte? Vorläufig galt es ja nur, die «Stadt Lübeck» so schnell wie möglich aus dänischem Gewässer wegzubringen und dann das Beste zu hoffen. Zweifellos wurde die Jacht mit allen Mitteln gesucht, und leider bot die dänische Küste keine Schlupfwinkel, wo man sich hätte verstecken können, bis die schlimmste Gefahr vorüber wäre. Was sollte sie nur tun? Nachdenklich biß sie sich auf die Unterlippe. In Gilleleie an der Nordküste der Insel Seeland hatte die Bande eines ihrer Quartiere. Es war eine schöne Sommervilla, vor einem halben Jahr von einem Kopenhagener Industriellen gemietet, der sich zur Zeit mit seiner Familie in Amerika aufhielt. Einige Male hatte sie dort das Wochenende verbracht, aber sonst war das Haus für die Agenten nicht weiter nützlich. Nur sicherheitshalber hatte man sich in verschiedenen Gegenden Verstecke geschaffen, weil ja immer der Tag kommen konnte, an dem man sie benötigte. Ob es wohl allzu tollkühn war, nach Gilleleie zu fahren? Sie selbst konnte dann an Land gehen und den andern befehlen, nach Deutschland weiterzufahren. Für diese Lösung sprachen mehrere Dinge. Erstens mußte man ihr ohnehin andere, tüchtigere Mitarbeiter schicken; zweitens blieb ihr nichts anderes übrig, als neue Anweisungen von der Zentrale abzuwarten; und drittens mußte die Geldfrage auf befriedigende Weise geordnet werden. Aber etwas sprach stark dagegen. Bestimmt hatte die Kriminalpolizei Großalarm geschlagen und viele Hafenstädte benachrichtigt. Man durfte nicht damit rechnen, daß sich der Alarm auf die Häfen von Südseeland, Fünen und Nordschleswig erstreckte. Vielleicht geriet die «Stadt Lübeck» geradewegs in eine Falle, wenn sie in Gilleleie anlegte… -99-
Bei diesem Gedanken verzog sie spöttisch die Lippen. Es schadete ja nicht weiter, wenn die fünf hoffnungslos dummen Agenten der dänischen Behörde in die Hände fielen; schade wäre es bloß um das Motorboot, und sie selbst wollte sich auf keinen Fall der Gefahr einer Festnahme aussetze n. Nein, diese Lösung mußte aufgegeben werden… aber was sonst? Ihre Unruhe nahm zu. Im allgemeinen war sie fähig, schnelle und kluge Entschlüsse zu fassen, doch diesmal schien ihr kein Ausweg einzufallen. Ein Motorengeräusch hoch oben in der Luft unterbrach ihren Gedankengang und ließ sie unwillkürlich aufblicken. Eine Sportmaschine flog ziemlich niedrig über die Jacht weg in nördlicher Richtung. Kurz darauf kurvte sie herum und kehrte zurück. Mißmutig verfolgte sie mit den Augen den Flug, wobei sie dachte, wie schön der Pilot es doch hatte; er brauchte sich keinen trostlosen Überlegungen hinzugeben, sondern konnte den Anblick der schönen Landschaft aus vollem Herzen genießen. Auf dem Rückweg strich die Maschine noch niedriger über die «Stadt Lübeck» hinweg, und dann kreiste sie ein paarmal über der Jacht. Plötzlich durchzuckte Vera Brun ein Gedanke, und ihre Hände umkrampften die Reling. Als das Flugzeug zum drittenmal über ihr kreiste, war sie ihrer Sache sicher. Dieses Flugzeug war auf der Suche nach der «Stadt Lübeck»! Diese Erkenntnis lähmte sie, und sie vermochte die Maschine nicht aus den Augen zu lassen. War nun alles verloren? Sekundenlang schossen ihr alle möglichen Gedanken durch den Kopf, doch plötzlich gewann sie ihre Tatkraft zurück. Gerade jetzt, wo die Gefahr am größten war, wurde sie wieder sie selbst. Sie rief Herbert und befahl ihn in die Kajüte. -100-
Er gehorchte sofort, und als er vor ihr stand, sagte sie rasch: «Du hast doch das Flugzeug gesehen?» «Ja, natürlich.» «Gibt dir das nicht zu denken?» «Wieso? Es fliegt ja oben in der Luft, so daß wir nicht mit ihm zusammenstoßen werden…» «Dummkopf!» fiel sie barsch ein. «Dieses Flugzeug ist auf der Suche nach uns!» «Was?» «Ganz bestimmt. Wir müssen also schnell handeln. Ändere den Kurs ein wenig, damit wir dem Land näherkommen, und fahr in vier- bis fünfhundert Meter Abstand am Strand von Gilleleie vorbei. Ich springe dann ins Wasser und schwimme hinüber.» «Ja, aber…» Dem Mann blieb der Mund offen stehen. «Und was wird aus uns?» «Sowie ich von Bord bin, fahrt ihr mit voller Kraft weiter zum Kattegat. Haltet euch dicht an die schwedische Küste – das dürfte am ungefährlichsten sein –, und dann fahrt ihr nordwärts um Skagen herum und weiter nach Hamburg.» «Ja, aber…» «Halt den Mund und hör gefälligst zu! In Hamburg holt ihr euch neue Anweisungen beim Chef, mit dem ich mich inzwischen in Verbindung setze. Habt ihr genügend Treibstoff?» «Ja, die Behälter sind voll.» «Gut. Damit hast du alle notwendigen Befehle. Troll dich nun, und vergiß nicht, was ich gesagt habe!» Sie warf die Tür hinter ihm ins Schloß und sputete sich. Zwei Minuten später war sie entkleidet und holte einen Badeanzug aus ihrem Koffer hervor. Während sie in die knallgelbe Lastexhülle schlüpfte, ärgerte sie sich weidlich, daß sie gerade diesen Badeanzug mitgenommen hatte, denn die gelbe Farbe -101-
war aus der Luft sicher zu erkennen. Die Geldscheine verwahrte sie in einem kleinen Plastikbeutel, den sie sich umhängte und unter den Badeanzug steckte. Verzagt betrachtete sie den übrigen Inhalt ihrer Handtasche. Nein, mehr konnte sie nicht mitnehmen. Die Pistole und die Toilettensachen hätten sie beim Schwimmen gehindert, und in der Sommervilla gab es Ersatz für alles. Wenn sie nur dorthin gelangte… Sie dachte nicht nur an die vielleicht recht lange Schwimmstrecke, sondern vor allem fürchtete sie, was der Pilot von oben erspähen mochte. Nur wenn es ihr gelang, unentdeckt ins Wasser zu kommen, bestand die Aussicht, daß der kühne Plan glücken würde. Als sie an Deck kam, sah sie sogleich, daß die Maschine ziemlich weit entfernt war. Hingegen näherte sich das Boot dem Strand von Gilleleie. Außerdem stellte sie fest, daß mehrere Leute badeten, und das war entschieden günstig. Viel schwieriger wäre es gewesen, wenn sie als einzige Schwimmerin hätte an Land waten müssen. So konnte sie hoffen, daß man sie unter den andern Badenden nicht weiter beachten würde. Sie befahl kurz: «Langsame Fahrt, bis ich ein Stück von der Schraube weg bin!» «Zu Befehl», murmelten die verwunderten Männer. «Gute Reise!» Mit einem Kopfsprung von der Reling sauste sie ins Wasser. Nach einigen kräftigen Schwimmzügen rief sie zurück: «Wieder volle Kraft voraus! Ich lasse in Hamburg grüßen!» «Hals- und Beinbruch!» rief Herbert. Sie verzichtete auf eine Antwort, denn sie hatte das Gefühl, daß weder Herbert noch die andern es bedauern würden, wenn sie unterwegs ertrank. Als die Jacht ein gutes Stück entfernt war, schaute Vera Brun -102-
zum Himmel auf. Das Flugzeug kehrte wieder zurück, und während es über ihr flog, trat sie Wasser, so daß nur ihr Kopf aus dem Wasser ragte. Auf diese Weise konnte ihr gelber Badeanzug von oben nicht bemerkt werden. Sie trat weiter Wasser, während sie dem Flugzeug nachstarrte, das Kurs nach Norden nahm. Kurz darauf kreiste es noch ein einziges Mal, bevor es landwärts flog. Sehr bald verschwand es hinter den Hängen. Mit langen Zügen schwamm sie dem Ufer zu. Dabei dachte sie, daß die Maschine jetzt wahrscheinlich zum Flughafen zurückkehrte, um Alarm zu schlagen. Der Pilot zweifelte nicht, daß er seine Beute gefunden hatte, und so konnte sie für die «Stadt Lübeck» und die fünf Agenten nur das Beste hoffen… Sie selbst hatte genug zu bewältigen, dessen war sie sicher. Das Wasser war noch ziemlich kühl zu Beginn des Sommers, aber Vera Brun hatte ihr Leben lang tüchtig Sport getrieben, so daß ihr geringe Unbilden nichts ausmachten. Sie konnte die andern Badenden, die dem kalten Wasser trotzten, als rote, blaue und gelbe Punkte über den schaumgekrönten kleinen Wellen erkennen. Da es nur ein Dutzend Personen waren, hielt sie es für klüger, in gutem Abstand an ihnen vorbeizuschwimmen, um nicht aufzufallen und keinen Argwohn zu erwecken. Bei einer so geringen Zahl hätte man es sicher gemerkt, wenn ein einzelner Badegast weit hinausgeschwommen wäre. So näherte sie sich ihnen in weitem Bo gen, und sie stellte fest, daß sie von ihren Spielen und Planschereien vollauf in Anspruch genommen waren. Als sie endlich an Land watete, wurde sie von keinem Menschen beachtet. Das gemietete Haus stand nur ein paar hundert Meter vom Ufer entfernt an einem Hang und hatte einen eigenen Badestrand. In dem Garten rings ums Haus wuchsen viele hohe Föhren; durch das Tor, das auf den öffentlichen Weg führte, -103-
hatte man nur einen begrenzten Blick auf das Grundstück. Eine besser geeignete Stätte konnte man sich nicht vorstellen, wenn man sich für einige Tage von der übrigen Welt zurückziehen wollte, dachte Vera Brun lächelnd. Als sie oben angelangt war, ging sie rings ums Haus herum, um zu sehen, ob alles so war, wie es sein sollte. Sie las einen Stein auf, mit dem sie das Küchenfenster einwarf, so daß sie es von innen öffnen und hineinklettern konnte. «Puh!» rief sie unwillkürlich und ließ sich trotz ihrem nassen Badeanzug auf den nächsten Stuhl sinken. «Das ist noch gut abgegangen…» Ein Weilchen ruhte sie sich aus, ehe sie ins Schlafzimmer ging, wo sie einen Teil ihrer Garderobe hatte. Sie streifte den Badeanzug ab, trocknete sich und zog sich an. Den Badeanzug hängte sie an einen Pfosten vor der Küche. Hierauf machte sie Toilette. Obwohl ihr keine große Auswahl an Kosmetika zur Verfügung stand, richtete sie sich sorgfältig her, bis sie mit ihrem Spiegelbild zufrieden war. Am meisten Zeit nahm es in Anspruch, die nassen Haare zu trocknen und zu legen. Nun kam die nächste Operation an die Reihe. Sie machte eine Schublade auf und entnahm ihr eine Pistole, die sie lud. Nachdem sie die Waffe gesichert hatte, steckte sie sie in die Tasche ihres grauen Tweedrocks. Erst jetzt zündete sie sich eine Zigarette an und ließ sich im Wohnzimmer behaglich in einem Lehnstuhl nieder. Sie fühlte sich hier sicher. Es bestand ja keine Gefahr, beobachtet oder überrascht zu werden. Der Industrielle Friberg hatte natürlich nichts dagegen gehabt, sein gut eingerichtetes Sommerhaus der ordentlichen und zuverlässigen Privatsekretärin des Reeders Morton zu vermieten. Die Häuser am Holmsweg standen noch größtenteils leer, denn der große Zustrom an Feriengästen setzte erst zu Beginn der Schulferien ein. Vorläufig konnte Vera Brun mit verhältnismäßig ungestörter Stille rechnen. Jedenfalls -104-
glaubte sie das.
-105-
ZEHNTES KAPITEL Während Vera Brun ihre vermeintliche Sicherheit genoß, kreiste ein Privatflugzeug in der Nähe von Gilleleie, bis es den gesuchten Landeplatz gefunden hatte und auf einem großen Feld niederging. Es holperte ein wenig beim Ausrollen, aber die Landung klappte vorzüglich, und ein paar Minuten später standen drei Personen auf dem Feld. Es waren Jan, Jens Bach und der junge Sportflieger Jörgen Holt. Jörgen Holt lächelte vergnügt und sagte: «Soweit wären wir also gekommen. Da es sich nicht um eine Notlandung handelt, haben wir uns gegen die Bestimmungen vergangen. Aber Jan hat ja versprochen, die Sache in Ordnung zu bringen.» «Das werde ich auch», bekräftigte Jan. «Dann fang nur gleich an», lachte Jörgen, «denn wenn mich nicht alles täuscht, kommt dort der Grundbesitzer höchstpersönlich.» Er irrte sich nicht. Der Bauer, der es offenbar eilig hatte, erkundigte sich sofort nach dem Grund der Notlandung. Er hörte mit großen Augen zu, als Jan ihm die Umstände erklärte, und sagte zum Schluß: «Na ja, zum Landen mag sich das Feld ja eignen, aber mit dem Start wird es wohl hapern.» Jörgen blickte ringsum und erwiderte: «Es wird schon gehen. Ich habe oft Schlimmeres erlebt. Sie werden es gleich sehen, wenn ich abhebe.» «Kommst du denn nicht mit uns nach Gilleleie?» Jörgen schüttelte den Kopf. «Meine Mission ist ja nun erfüllt, und ich fliege lieber sofort zurück. Ich würde es nicht wagen, die Maschine unbeaufsichtigt hier stehenzulassen, denn in einer halben Stunde würde es hier von Neugierigen wimmeln, vor -106-
allem von Kindern, und ich weiß aus Erfahrung, was das Jungvolk in seiner Wißbegier anrichten kann.» Jan und Jens bedankten sich nicht nur für Jörgens Hilfe, sondern auch bei dem verständnisvollen Bauern. Gespannt verfolgten sie den Start, der gut vonstatten ging. Einen Augenblick fürchtete Jan, die Maschine hätte nicht genug Höhe gewonnen, als sie den Saum eines Waldes erreichte; doch dem zwar jungen, aber erfahrenen Piloten gelang das Kunststück, das Hindernis zu überwinden, und bald war das Flugzeug nur noch als dunkler Punkt am Himmel zu erkennen. Jan und Jens verabschiedeten sich von dem Bauern und machten sich nach Gilleleie auf. Unterwegs sagte Jan: «Du solltest Lis so bald wie möglich anrufen. Ich habe ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen. Du mußt ihr sagen, daß wir wohlbehalten in Gilleleie gelandet sind.» «Du wirst wohl auch anrufen müssen», antwortete Jens. «Selbstverständlich. Ein Blitzgespräch mit meinem Vater. Er muß ja erfahren, daß die ‹Stadt Lübeck› nach Norden will.» «Ob die Spione wohl nach Schweden fliehen?» «Das halte ich für unwahrscheinlich», sagte Jan. «Ich glaube eher, daß sie mißtrauisch geworden sind und versuchen werden, um Skagen herum nach Deutschland zu gelangen. Ob die dänischen Behörden das verhindern können, läßt sich nicht vorhersagen. Vielleicht kann die Hafenpolizei von Frederikshafen ein paar Schnellboote zur Verfügung stellen. Aber mit all dem muß sich Vater abgeben.» «Und du bist sicher, daß Fräulein Brun ins Wasser sprang, um an Land zu schwimmen?» Jan schüttelte den Kopf. «Sicher bin ich nicht. Ich sah das Ganze deutlich im Feldstecher, kann aber nicht beschwören, daß es gerade Fräulein Brun war. Fest steht nur, daß es eine Dame in gelbem Badeanzug war.» -107-
«Hm», machte Jens. «Was hat sie bloß in Gilleleie zu suchen? Sie kann doch nicht in nassem Badeanzug in den Straßen herumlaufen.» «Natürlich nicht, aber irgend etwas muß sie vorhaben. Vielleicht hat sie dort Bekannte oder besitzt sogar selbst ein Ferienhaus. Das werden wir untersuchen, sobald ich mit Vater gesproche n habe. Also schnell zur Post!» Eine Viertelstunde später führte Jan ein kurzes, aber sehr wichtiges Telephongespräch mit seinem Vater, der sich über die Benachrichtigung freute. Zum Schluß sagte Helmer: «Es ist ganz in Ordnung, wenn ihr euch die Sache näher anseht, Jan. Ich brauche dann keine Leute von Kopenhagen aus hinzuschicken. Aber wenn du einen guten Rat befolgen willst, dann setzt du dich mit der Polizei von Gilleleie in Verbindung. Das Revier ist am Solweg.» «Aber, Vater…» «Ich weiß schon, was du sagen willst, mein Junge. Ihr beide möchtet die Gelegenheit benützen, das verstehe ich gut, aber ich verlange von euch, daß ihr die Polizei um Beistand ersucht, sobald es irgendwie gefährlich wird oder etwas schiefgeht. Hast du verstanden, Jan?» «Verstanden, Vater!» Als Jan auf die Straße hinaustrat, fragte Jens eifrig: «Na, wie ist es gegangen?» «Wie ich es mir dachte. Willst du jetzt nicht Lis anrufen?» Jens wand sich ein wenig. «Ich warte lieber noch damit. Du kennst ja die Überredungskunst deiner Schwester, und vielleicht würde sie es fertigbringen, daß ich den nächsten Zug nach Kopenhagen nehme, und dann hättest du das Vergnügen allein. Darauf möchte ich es nicht ankommen lassen.» «Wie du meinst», sagte Jan. «Wollen wir ein bißchen herumschlendern und sehen, ob es etwas Aufregendes zu -108-
entdecken gibt?» «Einverstanden», antwortete Jens. «Wo fangen wir an?» «Ich denke, unten am Strand», entschied Jan. «Also los!» Als sie auf dem Holmsweg zum Strand hinuntergingen, kamen sie an einem Garten vorbei, in dem die Föhren so dicht standen, daß sie das darunterliegende Haus nicht sehen konnten. Sie konnten auch nicht ahnen, daß in diesem Haus eine junge Dame saß, die einem internationalen Spionagering angehörte. Ebensowenig ahnte die junge Dame, die Vera Brun hieß, daß in diesem Augenblick zwei ihrer Verfolger vorbeigingen, und das war für die beiden vielleicht ein Glück; denn Vera Brun war sehr tatkräftig, und auf dem Tisch neben ihr lag eine geladene Pistole. Eine Weile schlenderten Jan und Jens am Strand hin und he r, ohne jedoch etwas Auffälliges zu bemerken. Die Sonne war bereits untergegangen, und auf dem langen Strand war kein Badegast mehr zu sehen. Jan kannte diesen Ferienort von früheren Besuchen her, und er wußte, daß die Gäste zu dieser Jahreszeit hauptsächlich die Nachmittagsstunden am Strand verbrachten, sofern die Sonne schien. Jens blickte sich ein wenig mißmutig um und seufzte. «Na ja, es wird keine leichte Aufgabe sein, Jan. Wenn wir sämtliche Häuser durchsuchen müssen, haben wir mindestens zwei Monate lang zu tun.» Jan lächelte. «So schlimm wird es nicht werden. Ich habe nämlich gründlich nachgedacht…» Jens unterbrach ihn hoffnungsfreudig: «Ist dir etwas eingefallen?» Jan nickte. «Jedenfalls hoffe ich, etwas gefunden zu haben, das uns die Suche erheblich erleichtern wird. Laß uns einmal voraussetzen, daß es wirklich Fräulein Brun war, die ins Wasser -109-
gesprungen und an Land geschwommen ist…» «Damit ist so gut wie sicher zu rechnen», meinte Jens. «Gut, gehen wir davon aus. Wenn sie das gewagt hat, dann muß unser Flugzeug ihren Argwohn erweckt haben, und sie hat ein ganz bestimmtes Ziel verfolgt. Sie war sich darüber klar, daß die ‹Stadt Lübeck› früher oder später aufgebracht werden wird; aber sie selbst wollte sich nicht fangen lassen – unter keinen Umständen – , und darum scheute sie sich nicht, ein Risiko einzugehen. Natürlich wäre es möglich, daß sie vorher keine Beziehung zu Gilleleie gehabt hat; aber das halte ich für unwahrscheinlich, denn was hätte sie machen sollen, wenn sie hier in einem nassen Badeanzug – und ohne einen Koffer oder sonst etwas – an Land gekommen wäre? Nein, es ist anzunehmen, daß sie hier Bekannte hat, vielleicht andere Agenten oder Mitglieder der Bande, oder aber es steht ihr ein eigenes Haus zur Verfügung.» «Das leuchtet mir ein», bemerkte Jens. «Und weiter?» «Also müssen wir die Bekannten oder das Haus finden.» «Aber wie?» Jan klopfte seinem zukünftigen Schwager beruhigend auf die Schulter. «Vielleicht wird es nicht so schwer sein, wie du glaubst. Überlegen wir weiter. Es würde entschieden Aufsehen erregen, wenn sich eine Dame in nassem Badeanzug ins Dorf wagte, noch dazu ohne Badetuch und ohne Strandschuhe. Folglich muß sie in einem der Häuser in der Nähe des Strandes Unterschlupf gesucht haben, wahrscheinlich in einem Haus mit eigenem Strand.» Jens nickte anerkennend. «Auch das klingt einleuchtend, Jan, aber zu unserem Pech gibt es unzählige Häuser, zu denen ein Stück des langen Strandes gehört. Wir können doch nicht alle belauern.» «Das wäre menschenunmöglich», gab Jan zu. «Wir können nur hoffen, daß das Glück mit uns ist. Vorläufig bin ich dafür, -110-
etwas zu essen, am liebsten oben im Hotel. Nachher sehen wir dann weiter.» «Mir aus dem Herzen gesprochen», pflichtete Jens bei. «Ich habe nämlich einen Bärenhunger.» Sie gingen am Strand entlang zurück. Als sie sich dem Holmsweg näherten, blieb Jan plötzlich stehen und deutete hinauf: «Schau dir das einmal an!» «Was denn?» fragte Jens. «Siehst du nicht den gelben Badeanzug, der dort oben zum Trocknen hängt?» «Ja, sehr adrett und ordentlich.» Jan faßte ihn am Arm. «Schnell weiter, damit wir vom Haus aus nicht gesehen werden können!» Kurz darauf wurden sie vom Gebüsch verdeckt, das größtenteils aus Heckenrosen bestand. Jens fragte erstaunt: «Sag einmal, Jan, regst du dich wirklich auf, nur weil ein Badeanzug zum Trocknen aufgehängt ist?» «Sehr aufregend ist das nicht», antwortete Jan, «aber es stimmt mich neugierig, wenn es ein gelber Badeanzug ist.» «Ach so, jetzt verstehe ich…» «Ist der Groschen endlich gefallen?» neckte Jan seinen zukünftigen Schwager. «Wenn ein Badeanzug zum Trocknen aufgehängt wird, so bedeutet das, daß er noch vor kurzer Zeit im Wasser war, und wenn ein Badeanzug im Wasser war, dann hat eine Schwimmerin darin gesteckt, und wenn er vor einem bestimmten Haus hängt, kann ma n damit rechnen, daß die Eigentümerin das Haus bewohnt, und wenn…» «Hör auf, du Klugschnaker!» lachte Jens. «Der Groschen ist ja längst gefallen, wenn es auch ein Weilchen gedauert hat. Kurz gesagt, du rechnest damit, daß Fräulein Brun in dem Haus da oben ist?» Jan schüttelte den Kopf. «Ich rechne mit nichts Bestimmtem – -111-
es können ja noch andere Damen heute nachmittag in einem gelben Badeanzug im Wasser gewesen sein –, aber ich glaube, es wäre vernünftig, wenn wir mit unseren Untersuchungen bei diesem Haus anfangen.» «Jetzt gleich?» fragte Jens eifrig. «Na, na, ruhig Blut», antwortete Jan gemessen. «Ich habe Vater versprochen, daß wir kein unnötiges Wagnis auf uns nehmen werden, und es wäre heller Wahnsinn, sich bei Tageslicht dem Haus zu nähern. Wir wissen ja nicht, wer dort wohnt, und ob die Leute bewaffnet sind. Also müssen wir unsere Ungeduld zügeln, bis es dunkel ist. In der Dunkelheit ist es ungefährlicher, um das Haus herumzuschleichen.» «Wir gehen also erst zum Hotel, um zu essen?» «Ja, aber nicht durch den Holmsweg!» Wenn man auf etwas Bestimmtes wartet, verstreicht die Zeit sehr langsam. So erging es auch Jan und Jens. Die Minuten schienen im Schneckentempo dahinzuschleichen, während die beiden im Hotelrestaurant saßen. Schließlich fragte Jens: «Wie willst du die Sache überhaupt angreifen? Wir können doch nicht einfach hingehen und an der Hausglocke läuten.» «Schwerlich», gab Jan zu. «Natürlich müssen wir vorsichtiger sein. Jedenfalls können wir fast bis zum Haus heranschleichen – durch die Heckenrosen.» «Grauenhaft!» stöhnte Jens. «Ich bin nicht erpicht darauf, bis zur Unkenntlichkeit zerkratzt zu werden.» «Möchtest du lieber eine Kugel in den Kopf kriegen?» «Noch grauenhafter! Du weißt ja gar nicht, ob die Bewohner des Hauses bewaffnet sind.» «Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen», erwiderte Jan nachdrücklich. «Wir wissen nicht einmal, ob es das richtige Haus ist. Trotzdem kann es nichts schaden, vorsichtig zu sein.» -112-
Jens schnitt eine Grimasse. «Leider wissen wir nicht, ob wir die Sache am richtige n Ende anpacken, und ich sehe uns schon die ganze Nacht um sämtliche Häuser am Strand herumschleichen.» «Mir bereitet etwas ganz anderes Sorgen», erwiderte Jan. «In welchem Haus Fräulein Brun auch zu suchen sein mag, es ist durchaus möglich, daß sie es bereits verlassen hat, während wir hier sitzen und reden. Aber es blieb mir keine andere Wahl, wenn ich mein Versprechen halten wollte.» Draußen senkte sich die Dunkelheit herab… Für Vera Brun war der Nachmittag recht lang geworden. Sie hatte sich etwas gekocht – in der Küche gab es genügend Konservenvorräte – und danach Kaffee getrunken, sonst aber konnte sie nur über ihre Zukunft nachgrübeln. Sie war sich nach wie vor im unklaren, was sie tun sollte. Da es nichts nützte, hier in diesem Haus zu bleiben, mußte sie morgen sofort mit dem Chef in Hamburg sprechen. In einem Winkel des Wohnzimmers stand zwar ein Telephonapparat, dennoch war die Sache schwierig. In der letzten Zeit war so viel geschehen, daß sie sich nicht einmal auf den vereinbarten Kode zu verlassen wagte. Sie mußte sich irgend etwas einfallen lassen! Draußen begann es zu dunkeln… Sie ging hin und her und dachte über ihre schwierige Lage nach. Schließlich zündete sie die Stehlampe an und untersuchte die Pistole. Die Waffe war in tadellosem Zustand. Seufzend legte sie die Pistole wieder auf den Tisch und gähnte vor Langeweile. In der vergangenen Nacht hatte sie nicht viel geschlafen, und es war ein anstrengender Tag gewesen. Sie gähnte abermals und schloß die Augen. In halbem Dämmerschlaf dachte sie unwillkürlich daran, wie sich ihr junges Leben bisher gestaltet hatte. Sie entstammte einer achtbaren Kopenhagener Familie und hatte eine vortreffliche -113-
Erziehung genossen, die mit einem mehrjährigen Aufenthalt in Deutschland, Frankreich und England abschloß. In allen Sportarten hatte sie sich ausgezeichnet, und sowohl ihre Begabung als auch ihr apartes Aussehen boten ihr alle Aussichten auf eine glänzende Laufbahn als Filmschauspielerin. Aber es sollte ganz anders kommen. Nach der Heimkehr aus dem Ausland nahm sie zuerst eine Stellung bei einer großen Kopenhagener Firma an, um sich nebenher zur Schauspielerin ausbilden zu lassen; aber vor einigen Jahren lernte sie zufällig einen eleganten Deutschen kennen, der in Kopenhagen zu Besuch weilte. Das war der jetzt im Gefängnis sitzende Werner Katz. Sie verlobte sich mit ihm, und viele Monate dauerte es nicht, bis er ganz sicher war, daß er sich ihr anvertrauen und ihr reinen Wein über sich selbst einschenken konnte. Zuerst entsetzte es sie, daß er sich als Mitglied eines internationalen Spionagerings den Lebensunterhalt verdiente, noch dazu in hervorragender Stellung, aber in ihrer Verliebtheit vergab sie es ihm, und kurze Zeit darauf wurde sie in das Spionagenetz eingespannt. Bei ihr spielte weder Abenteuerlust noch Geldgier eine Rolle, sondern sie folgte blindlings ihrem Verlobten. Oft wünschte sie sich, dem Netz entrinnen zu können, aber die Bindung an Katz war stärker als alles andere, und mit der Zeit fand sie doch Gefallen an der gefährlichen Tätigkeit, zumal sie wußte, daß es für sie kein Zurück mehr gab. Natürlich gehorchte sie auch, als Katz von ihr verlangte, sich in der Reederei Morton um den freigewordenen Posten einer Privatsekretärin zu bewerben. Die Spionage-Organisation hatte herausgefunden, daß sich Morton stark für eine militärische Entdeckung interessierte, die größte Bedeutung haben könnte, und deshalb war es wichtig, bei Morton einen Agenten einzuschleusen. Sie hatte ihre Arbeit im vergangenen halben Jahr keineswegs gern ausgeführt, denn James Morton war ein außerordentlich -114-
liebenswürdiger und entgegenkommender Arbeitgeber gewesen, und oft hatte sie sich überwinden müssen, um so «ausgekocht» zu sein, wie Katz es von ihr verlangte. Mehrmals hatte sie ihn gebeten, sie von der Spionage zu entbinden, aber jedesmal hatte er sie aufs bestimmteste abgewiesen. Und jetzt saß er im Gefängnis… Wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte sie es viel leichter gehabt. Sie mußte es ausbaden, daß er Schiffbruch erlitten hatte. Wenn sie die Scharte auswetzte, stand er nach der Freilassung dem Chef gegenüber ganz anders da – dieser Gedanke stachelte sie an. Abermals gähnte sie. Verschlafen dachte sie an die «Stadt Lübeck» und die fünf Helfershelfer an Bord. Ob es ihnen wohl glücken würde, zu entschlüpfen? Wenn alles gutgegangen war, mußten sie sich jetzt auf der Höhe von Skagen befinden, und dann war alles übrige ein Kinderspiel. Obwohl die fünf keine Geistesleuchten waren, wünschte sie ihnen nichts Schlechtes. Jedenfalls würde es Katz und ihr selbst zugute kommen, wenn die «Stadt Lübeck» wohlbehalten nach Hamburg gelangte; wenigstens würde es den Zorn des Chefs mildern. Vera Brun wäre nicht so schläfrig gewesen, wenn sie die Möglichkeit gehabt hätte, das betrübliche Schicksal der «Stadt Lübeck» zu sehen. Auf Ersuchen der Kopenhagener Kriminalpolizei hatte die Hafenpolizei von Frederikshafen drei Schnellboote ausgesandt, und gleichzeitig waren zwei Flugzeuge aufgestiegen. Infolgedessen boten sich keine größeren Schwierigkeiten, die Jacht einzukreisen. Da jeder Widerstand hoffnungslos gewesen wäre, ergaben sich die fünf Männer kampflos, und während Vera Brun an sie dachte, befand sich die Jacht mit Vertretern der dänischen Behörde an Bord auf dem Wege nach Frederikshafen. Schließlich dachte Vera Brun überhaupt nichts mehr. Sie war nämlich in Schlaf gefallen. Im Schein der Stehlampe glänzte ihr -115-
Haar wie Kupfer. Für Vera Brun wirkte es sich verhängnisvoll aus, daß sie gerade in diesem Augenblick tief und fest schlief. Sie hatte ein sehr feines Gehör, und sogar im Dämmerzustand wäre es ihr wohl nicht entgangen, daß draußen etwas knackte.
-116-
ELFTES KAPITEL Als Jan und Jens in der Dunkelheit am Ende des Gesträuchs standen, konnten sie oben in dem Haus ein schwaches Licht sehen. Das war für Jan ein günstiges Zeichen, und er flüsterte seinem Schwager zu: «Ich glaube nicht, daß wir durch die Heckenrosen kriechen und uns blutig kratzen lassen müssen. Wenn sich Fräulein Brun in dem Haus aufhält, hegt sie jedenfalls keinen Argwohn. Ein Mensch, der mit einem Angriff oder sonst einer Gefahr rechnet, läßt nicht Licht brennen, so daß jeder es sehen kann.» «Könnte das nicht vielleicht eine Falle sein?» gab Jens zu bedenken. «Glaube ich nicht. Wir stehen hier schon ziemlich lange, und in der Dunkelheit hat uns niemand bemerkt. Wir wollen einmal sehen, was geschieht, wenn wir in den Garten eindringen. Aber leise!» Sehr vorsichtig erstiegen sie den Hang. Es herrschte tiefe Dunkelheit, und sie mußten aufpassen, weil da und dort grasbewachsene Erdhügelchen hervorragten, über die sie ja nicht stolpern durften. Am anderen Ende des Gesträuchs blieb Jan stehen und raunte seinem zukünftigen Schwager zu: «Warte hier. Ich will nachsehen, wer in dem Zimmer ist.» So lautlos wie möglich schlich er zu dem erhellten Fenster. Ein frohlockendes Lächeln glitt über sein Gesicht. Drinnen saß Fräulein Brun in einem Sessel und schlief sanft und selig! Ihr Kopf ruhte auf dem einen Arm, und das rote Haar flammte im Schein der Stehlampe. Jan stellte fest, daß sie tief und regelmäßig atmete – offenbar wurde sie nicht von schlimmen Träumen geplagt –, aber er sah auch, daß auf dem Tisch neben -117-
ihr eine Pistole lag. Im Nu kehrte er zu seinem wartenden Schwager zurück und holte ihn herbei. Einige Sekunden lang betrachteten sie die Schlafende. Dann flüsterte Jan: «Lauf ums Haus herum und schau nach, ob du eine unverschlossene Tür findest. Geh aber nicht hinein, sondern komm wieder hierher. Ich passe inzwischen auf, ob sie weiterschläft.» Jens hatte kaum ein paar Schritte gemacht, als etwas knackte. Er war auf einen trockenen Zweig getreten und blieb erschrocken stehen. Jan starrte unverwandt auf die Schlafende, aber sie rührte sich nicht. Er bedeutete Jens mit einer Handbewegung, weiterzugehen. Nach der Rückkehr meldete Jens aufgeregt: «Beide Türen sind von innen verschlossen, aber das eine Küchenfenster ist zerbrochen, so daß wir einsteigen können.» «Ganz in Ordnung, Jens. Natürlich hatte Fräulein Brun beim Schwimmen keinen Schlüssel mit. Sie mußte also ein Fenster zertrümmern, um ins Haus zu gelangen. Vorläufig haben wir das Glück mit uns.» «Was nun?» fragte Jens. «Du bleibst hier, während ich durchs Küchenfenster einsteige. Ich werde mich bemühen, leise zu sein, damit sie nicht aufwacht. Wenn sie aber wach ist, bevor ich mir die Pistole angeeignet habe, zerschmetterst du das Fenster hier. Das wird derartige Verwirrung stiften, daß ich mich aus dem Staub machen kann. Du verstehst, was ich meine?» «Klar. Ich werde es schon richtig machen», beteuerte Jens. Auf dem Wege zum Küchenfenster gab Jan acht, daß er kein Geräusch hervorrief. Das Fenster mit der zerbrochenen Scheibe ließ sich mühelos öffnen. Es gelang ihm, fast geräuschlos in die Küche zu klettern. Einen Augenblick blieb er lauschend stehen, -118-
aber es war nichts zu hören. Die Tür zum Wohnzimmer war angelehnt, so daß ein schmaler Lic htstreifen in die Küche fiel. Das Licht genügte, daß er den Schlüssel in der Ausgangstür stecken sah, und er drehte ihn vorsichtig im Schloß herum. Jetzt war der Rückzug einigermaßen gesichert, wenn es brenzlig wurde… Zentimeter um Zentimeter schob er die Wohnzimmertür auf, und zum Schluß steckte er den Kopf hindurch. Selbst wenn es sich um eine Falle handelte, so schien sie nicht weiter gefährlich zu sein, denn Fräulein Brun schlief immer noch fest. In der tiefen Stille vernahm er ihre regelmäßigen Atemzüge. Da begann er zum Tisch zu schleichen, ohne die Schlafende aus den Augen zu lassen. Als er endlich den kühlen Stahl der Pistole zwischen den Fingern fühlte, stieß er einen leisen Seufzer der Erleichterung aus. Er wollte die Schlafende schon wecken, besann sich jedoch eines andern, schlich zu Jens zurück und holte ihn zu der geöffneten Küchentür. «Das hast du fein gemacht», sagte Jens. «Ich stand wie auf Nadeln, als ich dir zuschaute. Was hast du jetzt vor? Willst du sie hier zurücklassen?» «Nein, natürlich nehmen wir sie mit und liefern sie bei der Polizei ab; aber ich habe plötzlich Lust auf einen kleinen Spaß gekriegt.» «Auf einen Spaß?» wiederholte Jens erstaunt. «Jetzt ist doch nicht der geeignete Zeitpunkt für Späße. Was hast du denn im Sinn?» «Paß auf!» Jan entlud die Pistole und steckte die Patronen ein. Dann schob er das leere Magazin wieder hinein, während er flüsterte: «Jetzt haben wir einer Giftschlange die Zähne ausgedrückt, aber wir haben die Gelegenheit, festzustellen, wie giftig sie sind.» «Was meinst du?» -119-
«Das wirst du gleich sehen. Warte hier einen Augenblick.» Jan betrat verstohlen das Wohnzimmer und legte die Pistole auf den Tisch. Die Schlafende rührte sich noch immer nicht. Hierauf holte er Jens ins Zimmer und raunte ihm zu: «Wir bleiben hier stehen.» Mit lauter Stimme sagte er: «Hallo, Fräulein Brun!» Verschlafen regte sie sich, und er sagte noch lauter: «Wachen Sie auf, edle Dame! Wir möchten mit Ihnen sprechen.» In der gleichen Sekunde war sie hellwach. Sie zuckte zusammen, als sie die beiden Gestalten bei der Tür stehen sah; doch im nächsten Augenblick ergriff sie die Pistole und sprang auf. Mit gezückter Waffe befahl sie kurz: «Hände hoch, alle beide!» Jan hob sofort die Arme hoch, und Jens tat es ihm unwillkürlich gleich, obwohl er es ganz unnötig fand. Vera Brun bemerkte spöttisch: «Ein Glück für euch, daß ihr so folgsam seid.» Ohne die Pistole zu senken, zündete sie das Deckenlicht an und fuhr fort: «Das scheint ja tatsächlich der berühmte Jan Helmer zu sein. Jetzt haben Sie meinen Weg oft genug gekreuzt, junger Mann, und ich sollte Ihnen eigentlich eine Kugel in den Kopf schießen…» «Das wagen Sie gar nicht, Fräulein Brun», unterbrach Jan sie gelassen. «Nein? Ich werde es dir schon zeigen, wenn du dich unterstehst, Zicken zu machen. Wie bist du hierher gekommen?» «Zu Fuß», antwortete Jan mit Unschuldsmiene. Ihr Ton wurde bestimmt und drohend: «Gib anständig Antwort, sonst ergeht es dir schlecht!» «Komm, Jens, versuchen wir es einmal. Wir wollen Fräulein Brun anständig begrüßen, und dann werden wir ja sehen, ob sie zur Mörderin wird.» -120-
Die beiden jungen Männer machten ein paar Schritte auf sie zu, worauf sie sogleich befahl: «Stehengeblieben! Oder ich schieße!» «Sie wagen es nicht», erwiderte Jan, während er mit Jens langsam weiterging. Nur ein paar Meter trennten sie noch von ihr, und sie rief erregt: «Stehengeblieben! Stehengeblieben!» Aber sie kamen allmählich näher, ohne die Arme zu senken, und in ihren grünen Augen sprühte Angst auf. Unvermittelt warf sie die Pistole zu Boden und schrie verzweifelt: «Nein, ich kann es nicht… ich kann es nicht!» Jan senkte die Arme und sagte ruhig: «Ein großes Glück für Sie, Fräulein Brun. Als Spionin werden Sie Ihrer Strafe natürlich nicht entgehen, aber jetzt kann ich als Zeuge wenigstens ein gutes Wort für Sie einlegen, weil Sie auf den Mordversuch verzichtet haben.» «Nein, ich konnte es nicht… ganz unmöglich», murmelte sie und ließ sich in den Sessel fallen. «Ich weiß recht gut, daß das Spiel nun verloren ist, aber ich habe kein Menschenleben auf dem Gewissen…» Jans Stimme klang ein wenig frohlockend, jedoch sehr ernst, als er sagte: «Es wäre Ihnen auch nicht gelungen, uns zu töten, selbst wenn Sie es gewollt hätten, denn ich habe Ihre Pistole entladen, während Sie schliefen. Ich wollte mir diesen Spaß machen, weil Sie ein paar Runden über mich gewonnen haben; doch gleichzeitig sollte es beweisen, daß Sie nicht imstande wären, zwei Menschen kaltblütig umzubringen.» Er wandte sich an Jens: «Das meinte ich, als ich sagte, wir wollten einmal sehen, wie giftig die Schlange wäre.» «Schon begriffen», gab Jens zurück. Vera Brun saß starr im Sessel und blickte stumpf vor sich hin. Es ließ sich nicht einmal entscheiden, ob sie Jans Erklärung erfaßt hatte. In der letzten Zeit hatte sie unter fortwährendem -121-
Druck gestanden, und jetzt war die Reaktion eingetreten. Es schien ihr alles gleichgültig zu sein. Jan sagte ruhig: «Wir beide haben keine Befugnisse, aber ich muß Sie bitten, sich nicht aus dem Zimmer zu rühren, bevor die Polizei hier eingetroffen ist.» Er bedeutete Jens, die Agentin nicht aus den Augen zu lassen, während er zum Telephonapparat ging. Nachdem er die Nummer nachgeschlagen hatte, rief er das Polizeiamt von Gilleleie an. Der diensthabende Beamte hatte kaum die ersten Sätze gehört, als er Jan auch schon unterbrach: «Sie brauchen mir nicht mehr zu sagen, Herr Helmer, denn wir sind von der Kopenhagener Kriminalpolizei vor kurzem alarmiert worden. Übrigens hat Ihr Vater persönlich angerufen. Wo sind Sie jetzt mit Fräulein Brun?» Jan gab ihm die Adresse an und erhielt die Antwort: «Ausgezeichnet! Lassen Sie sie nicht aus den Augen. Wir sind in fünf Minuten dort.» Jan legte den Hörer auf, betrachtete seinen Häftling und sagte friedlich: «Fräulein Brun, ich bin froh für Sie, daß Sie nicht abgedrückt haben.» Sie murmelte nur matt: «Ich konnte nicht…» Wenige Minuten später hielt draußen ein Auto. Die Polizei war eingetroffen. Als der letzte Zug den Bahnhof von Gilleleie verließ, saßen Jan und Jens in einem Abteil einander gegenüber. Sie schwiegen längere Zeit, bis Jens die nicht sehr originelle Bemerkung machte: «Das war’s also.» «Ja, das war’s», antwortete Jan mit ebenso großem Mangel an Erfindungsgabe in der Wortwahl. Während der Zug die Fahrt beschleunigte, saßen sie wieder stumm da. Beide hatten Stoff zum Nachdenken, aber keiner -122-
hätte sich gewundert, wenn er gewußt hätte, daß der andere genau das gleiche dachte: Wie bedauerlich es doch war, daß ein so reizvolles und hochbegabtes junges Mädchen wie Vera Brun auf die Bahn des Verbrechens geraten und sich mit einem so schmutzigen Gewerbe wie dem Spionagedienst abgegeben hatte. «Du, Jan…» begann Jens nach einer Weile. «Ja?» «Das war ein sehr aufregender Tag.» «Wahrhaftig!» «Aber mir hat es mehr Spaß gemacht, Katz zu fangen, denn im Grunde tut mir Vera Brun leid.» «Von solchen Gefühlen darf man sich nicht beeinflussen lassen, wenn man das Verbrecherwesen bekämpft», erwiderte Jan ernst. «Aber du kannst beruhigt sein. Man wird ihr bestimmt mildernde Umstände anrechnen und sie weniger hart bestrafen als die andern Agenten. Mir macht etwas anderes zu schaffen.» «Was denn?» fragte Jens. «Ich mußte Vater am Telephon doch versprechen, die Polizei zu Hilfe zu rufen, wenn die geringste Gefahr für uns bestünde, oder wenn es sonstwie notwendig würde. Dieses Versprechen haben wir ja gehalten…» «Hm!» «Wir haben es gehalten», betonte Jan. «Es war keine Gefahr damit verbunden, Fräulein Bruns Pistole zu holen, während sie tief und fest schlief…» «Hm!» «Hör auf mit deinem albernen ‹Hm!›» brauste Jan auf. «Ich meine es ernst, wenn ich behaupte, daß es ungefährlich war… na ja, kaum gefährlich. Wir haben also Vaters Bedingung erfüllt. Trotzdem hat er die Polizei in Gilleleie alarmiert. Er hat mir anscheinend nicht über den Weg getraut…» «Ach, dummes Zeug!» fiel Jens ein. «Natürlich hat dein Vater -123-
volles Vertrauen zu uns gehabt, aber sicherheitshalber hat er Maßnahmen zu unserem Schutz getroffen, für alle Fälle, verstehst du, und du solltest dich glücklich schätzen, einen Vater zu haben, der mitten in seiner dringenden Arbeit an dein Wohl und Weh denkt. Viele junge Leute würden dich um ihn beneiden, und vielleicht stünde manches besser, wenn alle Väter so wären.» «Das weiß ich recht gut», sagte Jan ernst. «Du darfst meine Worte nicht buchstäblich nehmen. In diesem Zusammenhang möchte ich dir übrigens einen wohlgemeinten kleinen Rat geben. Wenn du mit Lis sprichst, schildere ihr nicht allzu ausführlich und genau, wie wir Fräulein Bruns Pistole in die Hand bekommen haben. Wie ich meine liebe Schwester – deine geliebte Braut – kenne, wird sie die Sache vielleicht doch gefährlich finden.» «Ich werde mich hüten», antwortete Jens lachend. «Lis würde bestimmt zu der falschen Auffassung gelangen, daß wir uns in höchste Gefahr begeben haben, und mich nie mehr von ihrer Seite lassen, jedenfalls nicht mit dir zusammen.» Der Zug rollte weiter in die Sommernacht.
-124-