Norbert Koubek Jenseits und Diesseits der Betriebswirtschaftslehre
GABLER RESEARCH
Norbert Koubek
Jenseits und Die...
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Norbert Koubek Jenseits und Diesseits der Betriebswirtschaftslehre
GABLER RESEARCH
Norbert Koubek
Jenseits und Diesseits der Betriebswirtschaftslehre Institutionen – Unternehmenstheorien – Globale Strukturen
RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Ute Wrasmann | Anita Wilke Gabler Verlag ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8349-2347-9
Vorwort Der Titel „Jenseits und Diesseits der Betriebswirtschaftslehre – Institutionen – Unternehmenstheorien – Globale Strukturen“ leitet sich aus dem Inhalt der einzelnen Beiträge ab, die neben betriebswirtschaftlichen Themen auch Veröffentlichungen zu volkswirtschaftlichen, arbeitssoziologischen, wirtschaftspädagogischen, sozialphilosophischen und weltregionalen Fragestellungen umfassen. In die vorliegende Schriftensammlung wurde eine Auswahl von Beiträgen aufgenommen, die vom Verfasser als Alleinautor veröffentlicht wurden, wodurch vor allem die in Koautorenschaft entstandenen Projektveröffentlichungen und empirischen Untersuchungen unberücksichtigt bleiben oder nur in Zusammenfassungen vorliegen. Die Schwerpunkte der wissenschaftlichen Tätigkeit im Zeitraum von vier Jahrzehnten lassen sich den Themengebieten Wirtschaftsstrukturen und Institutionen, Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre sowie Internationale Organisationen und Globalisierung zuordnen. Der erste Teil (Wirtschaftsstrukturen und Institutionen) bezieht sich einerseits auf staatliche Planung, Wettbewerb und Konzentration und andererseits auf die Universitäten als gesellschaftliche Bildungsinstitutionen. Im zeitlichen Rückblick ist erkennbar, daß Zyklen nicht nur in der Realwirtschaft bestehen, sondern auch bei wissenschaftlichen Themen und Forschungsschwerpunkten. Zu nennen sind hier die Veröffentlichungen zur staatlichen Rahmenplanung und zur Funktion des Wettbewerbs. Die darin enthaltenen Positionen wurden im Zuge des vordringenden Shareholder-Value-Ansatzes und der wachsenden Bedeutung neoklassischer Modelle in Verbindung mit der Annahme von sich selbst regulierenden Märkten im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts zunehmend zurückgedrängt, erleben gegenwärtig aber angesichts der weltweiten Bankenkrise und ihrer realwirtschaftlichen Auswirkungen seit 2008 eine beachtliche Renaissance. Dabei geht es auch um die Suche nach einem neuen Gleichgewicht zwischen Privatwirtschaft und Staat, da sich der Rückzug des Staates und der supranationalen Organisationen aus der Setzung und Durchsetzung von Rahmenbedingungen und Normen für fast alle an der globalisierten Wirtschaft Beteiligten als zu weitgehend erwiesen hat. Am Beispiel der Universitäten als den zentralen Institutionen einer Gesellschaft zur Vermittlung und Weiterentwicklung der Wissenschaft und zur intellektuellen und moralischen Bildung läßt sich zeigen, daß Form und Inhalt, Struktur und Strategie in einer sich fortwährend wandelnden Welt eng verbunden sind. Dies macht ein kurzer Gang durch die neuzeitliche Universitätsentwicklung in Deutschland ebenso deutlich wie das aktuelle Segment der Integration von akademischer Weiterbildung in den universitären Aufgabenbereich.
VI
Vorwort
Im zweiten Teil (Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre) werden einige der zwischen 1973 und 1985 veröffentlichten Beiträge zu einer auf die Kategorie Arbeit ausgerichteten Theorie der Unternehmung und die vorausgehende Arbeitsorientierte Einzelwirtschaftslehre (AOEWL) vorgestellt. Dies war als Gegengewicht zu dem in der damals dominierenden Betriebswirtschaftslehre stark an der Optimierung des Kapitaleinsatzes ausgerichteten Zielsystem und den korrespondierenden Instrumenten gedacht. In den später entstandenen angelsächsischen Ansätzen zum Shareholder Value wurden diese als einseitig bezeichneten Positionen nochmals deutlich verstärkt und auch begrifflich klar zum Ausdruck gebracht, parallel dazu entwickelte sich der interessenpluralistische StakeholderValue-Ansatz. Aus verschiedenen Gründen ist der arbeitsorientierte Ansatz in Richtung einer ökonomischen Rationalität mit stofflich mehrdimensionaler und finanziell eindimensionaler Ausprägung, mit interessen- und machtbezogenen Instrumenten und Durchsetzungsformen sowie gesellschaftlich übergeordneten Zielsetzungen ab Mitte der 80er Jahre vom Verfasser bisher nicht weiterentwickelt worden. Vergleicht man die damalige Diskussion mit den zwischenzeitlich in der Betriebswirtschaftslehre bzw. in nahestehenden Fachwissenschaften entstandenen neuen Ansätzen, so zeigen sich Erweiterungen der theoretisch-begrifflichen und der praktisch-instrumentellen Ebene, die damals aus arbeitsorientierter Perspektive gefordert und ansatzweise formuliert wurden. Zu nennen sind hier insbesondere die ökologieökonomischen Modelle zur Einbeziehung des Stoffkreislaufs und der Nachhaltigkeit, die Integration sozialökonomischer Theorien durch nationale und internationale Richtlinien, die Corporate-Social-Responsibility (CSR-) Konzepte sowie kulturrelevante, unternehmensethische und neuroökonomische Kategorien. Die Bedeutung mehrdimensionaler Zielsysteme im Rahmen des bereits genannten Stakeholder-Ansatzes und der Balanced-ScorecardKonzepte, institutionenökonomische Ansätze auch in der Betriebswirtschaftslehre und aktuell die Überlegungen zur stärkeren Regulierung der Märkte und Unternehmenstätigkeiten in der globalisierten Wirtschaft sind hier gleichfalls zu nennen. Insbesondere in ökologie- und sozialökonomischer Hinsicht wurden umfangreiche Konzepte von dem Personenkreis vorgelegt, der an der Diskussion zur Entwicklung einer arbeitsorientierten Theorie beteiligt war. Im zweiten Abschnitt dieses Teils stehen Themen zu Unternehmenszyklen und Pionierunternehmen im Vordergrund. Damit lassen sich die in Marktwirtschaften zentrale Rolle des dynamischen Unternehmers sowie die zyklischen Schwankungen im Wirtschaftsablauf und deren Auswirkungen auf die Unternehmenspolitik benennen. Die Beiträge beziehen sich in zentralen Aussagen auf Schumpeter’sche Positionen und Kategorien einschließlich der Gründung neuer Unternehmen im Zuge der Durchsetzung von Innovationen und Marktchancen.
Vorwort
VII
Im dritten Teil (Internationale Organisationen und Globalisierung) liegt der Schwerpunkt auf mehreren Themen der internationalen bzw. globalen Verflechtung von Unternehmen, Verbänden und Aktivitäten in einzelnen Ländern und Weltregionen. Dabei greifen die entsprechenden Aktivitäten meist über den engeren betriebswirtschaftlichen, in zahlreichen Fällen auch volkswirtschaftlichen Rahmen hinaus, da Länder und Weltregionen umfassend nur unter Einschluß von historischen, geographischen, politischen, soziologischen und kulturellen FrageVtellungen darstellbar sind. Daher muß jedes Unternehmen und jede Organisation bei der Expansion in internationale Wirtschaftsräume mit einem starken Anstieg von komplexen Aufgaben und neuen Herausforderungen rechnen, auch wird das bisherige labile nationale Gleichgewicht der Interessengruppen und Machtzentren in wesentlichen Teilen verschoben bzw. in Teilen aufgelöst. Eine der tragenden Säulen dieser Veränderungen stellen die internationalen bzw. multinationalen Unternehmen dar, von denen wesentliche Transferleistungen in technologischer, produktionsmäßiger, organisatorischer, finanzieller und entwicklungspolitischer Hinsicht ausgehen. Dazu werden neue betriebswirtschaftliche Modelle des internationalen Managements und neue internationale Arbeitsbeziehungen entwickelt und auch die Gewerkschaften als Teil des Industrial-Relation-Systems richten sich zunehmend international aus. Auffällig ist das Entstehen neuer Machtzentren außerhalb der westlichen Staaten, in denen ursprünglich die Moderne mit der korrespondierenden Wirtschaftsordnung entstanden ist. Dies trifft für Schwellenländer, insb. die vier bedeutendsten Länder Brasilien, Rußland, Indien, China (BRIC-Staaten) sowie die gesamte Pazifikregion mit den amerikanischen und ostasiatischen Anrainerstaaten zu. In diesem Zusammenhang wird es im 21. Jhdt. und darüber hinaus zu erheblichen Verschiebungen in der Welt-, Weltwirtschafts- und Unternehmenspolitik kommen. Es spricht somit vieles dafür, daß das europäisch-amerikanische und damit westliche Zeitalter der letzten 500 Jahre zu Ende geht und eine multipolare Weltordnung mit einer entsprechenden Weltwirtschaft entstehen wird. Erste Anzeichen für deren Aufbau erleben wir zurzeit. Die Zukunft ist hierbei strukturell bedingt eine unbekannte Größe, doch sie bildet sich nicht willkürlich und beliebig. Daher ist diese Beurteilung zwar nicht beweisbar, aber nach Ansicht des Verfassers dennoch in hohem Maße wahrscheinlich. Mit diesem Nach-denken oder besser Vor-denken über die neuen Ordnungen und Strukturen und ihre ökonomische Relevanz auf globaler, weltregionaler, gesamt- und einzelwirtschaftlicher Ebene wird die Spurensuche für den Zeitraum von 1970 bis 2010 beendet. Der Band schließt mit einem Ausblick.
VIII
Vorwort
Abschließend möchte ich denjenigen vielmals danken, die direkt oder indirekt am Entstehen dieses Buches beteiligt waren. Dies sind x die Verlage. Sie haben ausnahmslos meiner Bitte um Wiederabdruck zugestimmt, wobei Näheres dem Quellennachweis zu entnehmen ist. x die Kollegen der Schumpeter School, ehemalige Mitarbeiter sowie Freunde und Bekannte. Aus mehreren Gesprächen habe ich Ermunterung und Zuspruch erhalten, in einem Überblick ausgewählte wissenschaftliche Arbeiten zusammenzustellen und im letzten der insgesamt 72 Semester meiner Tätigkeit als Hochschullehrer zu veröffentlichen. x die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Lehrstuhl, insb. Dipl. Ök. Kirsten Meyer, Julia Nikolaus (B.Sc.), cand. rer. oec. Alexander Zocher sowie vor allem cand. rer. oec. Johannes Elspaß. Sie haben die technischen Arbeiten zur Zusammenstellung einer einheitlichen digitalen Datei sowie die kritische Durchsicht des Manuskriptes, insbesondere auch bei den neu entstandenen Texten mit Zuverlässigkeit und Engagement geleistet. x der Gabler Verlag. Hier fand die Idee, eine Veröffentlichung unter der nicht ganz alltäglichen Themenstellung in das Verlagsprogramm aufzunehmen, vorbehaltlose Zustimmung und professionelle Betreuung. Besonders erwähnen möchte ich die zuständige Lektorin Anita Wilke. Ich hoffe, daß mit der Auswahl von 20 Beiträgen, die zu unterschiedlichen Themen und in verschiedenen Zeiträumen entstanden sind, ein Text vorliegt, der einen durchgängigen Grundgedanken erkennen läßt. Dieser besteht in der Verknüpfung sowohl einzel- und gesamtwirtschaftlicher Fragestellungen als auch ökonomischer und außerökonomischer Perspektiven und der Suche nach einer aussagefähigen ökonomischen Rationalität. Es erfüllt mich mit besonderer Freude, daß ich diese Veröffentlichung als Mitglied der „Schumpeter School of Business and Economics“ vorlegen kann. Den Lesern wünsche ich beim Gang durch die verschiedenen Themen und der damit verbundenen Zeitreise eine anregende Lektüre. Norbert Koubek Wuppertal, im Februar 2010
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Teil I
V
Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
A Planung, Wettbewerb, Konzentration A.1 Die zeitliche Dimension der Ausgaben im modernen Budget
3
A.2 Das Wettbewerbssystem im Rahmen volkswirtschaftlicher Steuerungssysteme
29
A.3 Konzentration in der Bundesrepublik Deutschland
45
B Universitäten als Bildungsinstitutionen B.1 Universitätsmodelle: Von der Ordinarien- zur Dienstleistungsuniversität B.2 Executive Higher Education as a Challenge for Universities
87 104
Teil II Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre A Arbeitsorientierte Theorie der Unternehmung A.1 Plädoyer für eine ökonomische Anthropologie auf der Grundlage von Interessen
109
A.2 Grundelemente einer Arbeitsorientierten Einzelwirtschaftslehre
130
A.3 Arbeitsorientierte Rationalität und Arbeitnehmerinteressen
157
A.4 Arbeit und ökonomische Rationalität in der Wirtschaftspolitik
175
A.5 Perspektiven der Weiterentwicklung einer arbeitsorientierten Theorie der Unternehmung
197
A.6 Wirtschaftlichkeit
208
X
Inhaltsverzeichnis
B Unternehmenszyklen und Pionierunternehmer B.1 Die Unternehmung III: Niedergang und Krise, Aufschwung und Boom
227
B.2 Der Unternehmer – Gestalter von Veränderungen in einer komplizierter werdenden Welt
245
Teil III Internationale Organisationen und Globalisierung A Internationale Unternehmen und Internationale Gewerkschaften A.1 Multinationale Unternehmen
251
A.2 Internationale Unternehmen und Internationale Gewerkschaften
263
A.3 Entwicklung der Geschäftsfeld-Organisation in Unternehmen der chemischen Industrie im internationalen Vergleich
273
B Länder und Weltregionen B.1 Der Pazifik – Das Mittelmeer des 21. Jahrhunderts?
285
B.2 Indien im weltwirtschaftlichen Wettbewerb
297
B.3 EU and ASEAN/ASEAN+3: World Region Developments, FDI and Multinational Corporation Strategies
315
B.4 BRIC-Staaten – Ein neues Zentrum der Weltwirtschaft
324
Ausblicke
349
Quellennachweis
353
Teil I Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
A
Planung, Wettbewerb, Konzentration
A.1 Die zeitliche Dimension der Ausgaben im modernen Budget*
1
Allgemeine Vorbemerkungen
Jedes Ordnungssystem des menschlichen Zusammenlebens beruht auf Voraussetzungen, die nur in einem theoretischen Idealzustand vollständig gegeben sind, während die Wirklichkeit immer davon abweicht, und zwar um so mehr, je stärker sich die Art des menschlichen Zusammenlebens bei gleichbleibendem Ordnungsschema im Zeitablauf ändert. Im Staat als der institutionalisierten Form des Zusammenlebens kulminieren die Veränderungen und werden in dem überindividuellen Rahmen der staatlichen Aufgabenerfüllung sichtbar. Da jede staatliche Tätigkeit zumindest mittelbar mit Ausgaben verbunden ist, muß sich dieser Wandel in der Ausgabengestaltung des Staates widerspiegeln, und es wird zu fragen sein, ob die z. Zt. bestehenden institutionellen Bedingungen zur Regelung der zeitlichen Fragen des Budgets den heutigen und in naher Zukunft voraussehbaren Erfordernissen noch entsprechen. Zu diesem Zweck werden die früheren und gegenwärtigen Budgetverhältnisse in den vier parlamentarisch-demokratisch regierten Ländern Frankreich, Bundesrepublik Deutschland (BRD), Vereinigte Staaten von Amerika (USA) und Großbritannien näher untersucht, wobei trotz dieser Beschränkung alle wesentlichen, mit der zeitlichen Dimension zusammenhängenden Fragen in einem oder häufig sogar mehreren dieser Länder auftreten. Dabei wird sich zeigen, daß in Frankreich vor allem die rechtlichen, politischen und budgettheoretischen Aspekte der zeitlichen Dimension erarbeitet wurden, während sich in den USA eine eindeutige Bevorzugung der wirtschafts- und finanzpolitischen Problembehandlung ergibt, die besonders in jüngster Zeit zu interessanten Ergebnissen führte. Im Hinblick auf die zeitliche Dimension der Ausgaben werden sich demgegenüber weder aus der britischen noch aus der deutschen Budget Praxis „Pionierleistungen“ erkennen lassen. Zur Methode der Problembehandlung ist zu sagen, daß wir jeweils von den empirischen Verhältnissen ausgehen, deren Vielfalt durch ausgaben- und budgettheoretische Merkmale systematisieren und die so ermittelten Ergebnisse auf de*
Auszüge aus: Inaugural-Dissertation, Frankfurt am Main 1969/ 1970, S. 1-10, 132-156.
4
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
ren rechtliche, finanzpolitische, politische und/oder wirtschaftliche Aussagefähigkeit untersuchen. In Teil 2 wird zuerst anhand einer kurzen geschichtlichen Entwicklung des Budgets gezeigt, welchen Ursprungs die verschiedenen Zielsetzungen des Budgets sind, und anschließend gilt es, eine Begriffsbestimmung der „zeitlichen Dimension der Ausgaben“ zu geben. Teil 3 beschäftigt sich mit der Frage, welcher Art die Ausgabenentscheidungen in den vier Ländern Frankreich, BRD, USA und Großbritannien in zeitlicher Hinsicht sind, wobei es um eine Abgrenzung der ausgabenmäßig rechtlich unverbindlichen Planungs- und Programmentscheidungen von den rechtlich wirksamen Ausgabenentscheidungen geht. Neben der rein empirisch orientierten Zusammenstellung der verschiedenen nationalen Institute zur Ausgabenfixierung sollen als Schlußfolgerung einmal die budgetrechtlich relevanten Momente der Ausgabengestaltung und zum anderen die politische Bedeutung der Ausgabenermächtigungen ermittelt werden. Teil 4 der Arbeit bringt eine Beschränkung der Fragestellung ausschließlich auf den Budgetbereich, und hier soll versucht werden, die Vielzahl der empirisch festgestellten zeitlichen Budgetausgabenregelung in einen systematischen Zusammenhang zu bringen.1 Dabei wird sich eine genaue Analyse der in der Finanzwissenschaft entwickelten Budgetsysteme sowie deren Erweiterung in verschiedenen Punkten als sehr fruchtbar erweisen, dies umso mehr, als dieser Teil der Budgettheorie im deutschsprachigen Bereich bisher immer nur in Ansätzen behandelt wurde. Im Rahmen dieser Ausführungen lassen sich die in zeitlicher Hinsicht wesentlichen Ausgabenregelungen der Normal-, Verpflichtungs- und Zahlungskredite sowie der übertragbaren Ausgaben und Vorgriffe einzeln und in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit übersichtlich darstellen. Teil 5 enthält den Versuch, ein in zeitlicher Hinsicht optimal gestaltetes Budget zu entwickeln. In Abschnitt 5.1 wird die Behandlung der optimalen zeitlichen Dimension der Ausgaben auf den Budgetbereich beschränkt, wobei es hier um die Frage einer ein- bzw. mehrjährigen Budgetperiode geht, die nach verschiedenen Gesichtspunkten zu untersuchen ist, während in Abschnitt 5.2 der die Ausgaben berührende zeitliche Rahmen auf die verschiedenen dem Budget vorgelagerten Entscheidungsebenen erweitert wird. Hier erfolgt in einem abschließenden Punkt eine nochmalige Erörterung des Budgetbereichs der Ausgaben, die sich jedoch von früheren Ausführungen durch die veränderten – im Vorausgehenden entwickelten – institutionellen Rahmenbedingungen unterscheidet. Teil 6 bildet in Form einer Zusammenfassung den Abschluß der Arbeit. Schon an dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, daß wir uns der Problematik des Versuchs, ein in zeitlicher Hinsicht optimales Budget zu entwi1
Die Arbeit wurde inhaltlich Ende 1968 abgeschlossen, so daß die seither durchgeführten budgetrechtlichen Änderungen nicht mehr berücksichtigt werden konnten.
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
5
ckeln, das nicht auf die besonderen politischen, finanzpolitischen und wirtschaftlichen Verhältnisse eines Landes abgestellt ist, bewußt sind1. Da es sich aber bei allen vier Ländern, deren Budgetwesen analysiert werden, um parlamentarische Demokratien in einem hochindustrialisierten Stadium handelt, lassen sich auf der Grundlage einer „finance comparée“ (Laufenburger) einige Prinzipien erarbeiten, die in mehreren, ähnlich konstituierten Staaten realisierbar sind, doch führt dies selbstverständlich nicht zu budgetär-institutionellen Lösungen en détail2. In terminologischer Hinsicht ist zu bemerken, daß die Ausdrücke „Budget“ und „Haushaltsplan“ als synonym betrachtet werden, da einerseits das Wort „budget“ in der französischen, amerikanischen und britischen Literatur ausschließlich zu finden ist, andererseits in der deutschen Literatur beide Ausdrücke nebeneinander verwendet werden. Das deutsche Haushaltsrecht kennt zwar den Ausdruck „Haushaltsplan“, so daß diese Bezeichnung vor allem im Zusammenhang mit deutschen haushaltsrechtlichen Veröffentlichungen benutzt werden wird, während in den theoretischen und auf ausländische Regelungen Bezug nehmenden Teilen der Arbeit vom „Budget“ die Rede sein wird. Im Verlauf der Systematisierung und Weiterentwicklung der Budgettheorie ergab sich die Notwendigkeit, einige neue Begriffe einzuführen. Mit der Anlehnung an die im französischen Sprachbereich entwickelten Termini wurde zwar erreicht, daß auch die deutschen Ausdrücke knapp und eindeutig gehalten werden konnten, doch geht dies manchmal leider zu Lasten der sprachlichen Eleganz.
2
Begriffsbestimmungen und Probleminhalte des Themas
Die Themenstellung enthält zwei Begriffe, die es zu klären gilt. Es sind dies das „Budget“, das kurz in seiner historischen und, damit verbunden, funktionalen Entwicklung bis zur Gegenwart dargestellt werden soll und die „zeitliche Dimension der Ausgaben“.
1
2
Vgl. hierzu: Institut de Droit Comparé de l'Université de Paris: La réforme budgétaire, T. II, in: Etudes de Finances Publiques, Paris 1954, p. 135; United Nations: Government Accounting and Budget Execution, New York 1952, p. 1 f. Vialon, F. K.: Amerikanische Budgetpraxis, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 238 v. 20. Dez. 1955, S. 2045; Jacomet, R.: Les Budgets. Le Contrôle de leur Exécution, in: Institut de Droit Comparé: Etudes de Finances Publiques Comparées, Paris 1935, p. 14; Diskussionsbeitrag von Peyster zu: Suchan,von: L'exercice et la gestion, in: Annales de Finances Publiques, No II (1937), p. 99.
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Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
2.1 Das Budget Das Wort „Budget“ leitet sich von dem altfranzösischen „bouge“ oder „bougette“ (Ledertasche) her, das sich wiederum auf das lateinische Wort „bulga“ (Sack, Tasche) zurückführen läßt. Die Engländer übernahmen diesen Ausdruck und bezeichneten die Tasche, in der sich die Ausführungen des Schatzkanzlers über die Finanzen befanden, als „budget“. In Frankreich wurde das Wort „budget“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts offiziell übernommen „und zwar im Sinne von Voranschlag.“1 Durch diesen Voranschlagscharakter soll das Budget der öffentlichen Verwaltung eine rationelle Staatswirtschaftsführung mittels Aufstellung eines Planes ermöglichen. Hierin zeigt sich die Grundfunktion jedes Budgets, die man als die finanzpolitische bezeichnen kann2. In diesem Sinne bestanden schon im 15. Jahrhundert in Brandenburg Budgetansätze in einer Art von Voranschlägen und Wirtschaftlichkeitsübersichten3. Der entscheidende Anstoß in der Budgetentwicklung in Richtung auf die heute übliche Form erfolgte von der politischen Seite her, und zwar als Auseinandersetzung des Parlaments mit der Krone, die sich mit Ausnahme Englands, wo sie früher einsetzte, gleichzeitig mit der liberal-kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung vollzog4. Im 19. Jahrhundert wurde der Kampf der Parlamente um das Budgetrecht über alle öffentlichen Einnahmen und Ausgaben durchgeführt, und indem das Recht zum jährlichen Votum erlangt wurde, war die Durchbildung der Verfassung zur parlamentarischen Demokratie erreicht. „Hier wird das Budgetrecht zur tragenden Säule der Grundgesetze, der Verfassung.“5 „Il est clair, en effet, que le pouvoir financier conditionne tous les autres: dans un État, c’est 1’attribution des compétences financières qui désigne le véritable titulaire du pouvoir.“6 1
2
3 4
5 6
von Schanz, G.: Budget, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., III. Bd., Jena 1926, S. 84 f. Vgl. ferner: Neumark, F.: Der Reichshaushaltplan. Ein Beitrag zur Lehre vom öffentlichen Haushalt, in: Finanzwissenschaftliche und volkswirtschaftliche Studien, hrsg. v. Bräuer, K., Heft 16, Jena 1929, S. 1-4; Senf, P.: Budget (I). Haushaltplan, in: HdSW, Bd. 2, Stuttgart/ Tübingen/ Göttingen 1959, S. 427; Heinig, K.: Das Budget und seine Darstellungsformen, in: Public Finance/ Finances Publiques, vol. 8 (1953), S. 72 f. Neumark: Reichshaushaltplan, aaO., S. 16 f; Neumark; F.: Theorie und Praxis der Budgetgestaltung, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, 2. Aufl., Bd. I, hrsg. v. W. Gerloff und F. Neumark, Tübingen 1952, S. 558. Zu demselben Sachverhalt, jedoch mit z.T. abweichender Bezeichnung vgl. auch: Senf: Budget, aaO., S. 430; Kolms, H.: Finanzwissenschaft IV, Berlin 1964, S. 79; Nöll von der Nahmer, R.: Lehrbuch der Finanzwissenschaft, Bd. 1, Köln/ Opladen 1964, S. 73 f. von Schanz, aaO., S. 87. Colm, G.: Haushaltplanung, Staatsbudget, Finanzplan und Nationalbudget, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, 2. Aufl., Bd. I, aaO., S. 521. Vgl. auch: Neumark: Budgetgestaltung, aaO., S. 554 f. Heinig, K.: Das Budget, Erster Band, Tübingen 1949, S. 32. Lassale, J.-P.: Le parlement et 1'autorisation des dépenses publiques, in: R.S.F., 55. Jg. (1963). p. 580. Ebenso: Amselek, P.: Le budget de l'Etat sous la Ve République, Paris 1966, p. 179 f.
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
7
Mit dem Erringen dieser „compétences financières“ durch die Legislative gelangte die politische Budgetfunktion zur vollen Auswirkung1, und dieser Prozeß vollzog sich in den vier hier interessierenden Staaten in den Hauptetappen wie folgt: Großbritannien2 „Geschichtlich hat England zuerst die Grundsätze entwickelt, auf denen der Begriff des modernen Budgets beruht.“3 Zuerst rang das Parlament dem König das Recht der Zustimmung zu einigen Einnahmen ab, die außergewöhnlichen Charakter trugen (Magna Charta von 1215). In der „Petition of Right“ von 1628 widersetzte sich das Parlament der Besteuerung ohne vorherige parlamentarische Einwilligung, und die „Bill of Right“ von 1688 stellte endgültig die Ungesetzlichkeit eines derartigen Verfahrens fest. Das Parlamentsrecht dehnte sich von der anfänglichen Bewilligung der Spezialeinnahmen auf alle Einnahmen aus und umfaßte alsbald auch die Ermächtigung, über die Ausgaben beschließen zu können. Daneben erfolgte auch die Durchsetzung der Periodizität der Ermächtigungen. Frankreich4 Die Entstehung der französischen Finanzinstitutionen vollzog sich in großen Linien, wenn auch mit einer zeitlichen Verschiebung, entsprechend den Etappen der historischen Entwicklung in England. Eine Budgetkonzeption entstand erst während der Restauration und der Julimonarchie im 19. Jahrhundert, obwohl zeitweilig Ansätze für ein Steuerbewilligungsrecht der „États généraux“ bereits im 14. Jahrhundert vorhanden waren. Nachdem weder die Revolution noch die napoleonische Herrschaft ein allgemeines Budgetrecht schufen, beschleunigte sich die Entwicklung in den folgenden Jahrzehnten und erreichte mit dem Dekret von 1862 über die „comptabilité publique“ (Haushaltsordnung) ihren ersten Höhepunkt.
1 2
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4
Neumark: Reichshaushaltplan, aaO., S. 18; ders.: Budgetgestaltung, aaO., S. 558. Vgl.: Trotabas, L.: Institutions Financières, 4. Aufl., Paris 1962, p. 25 ff; Burkhead, J.: Government budgeting, New York 1956, p. 2 ff; Brittain, H.: The British Budgetary System, 2. Aufl., London 1960, p. 13 f. Jèze, G.: Allgemeine Theorie des Budgets. Deutsche Ausgabe von Fritz Neumark, Tübingen 1927, S. 10. Diese Grundsätze sind: „Einnahmenbewilligung, Ausgabenbewilligung und Periodizität.“ Ebenda, aaO., S. 11. Vgl.: Jèze/ Neumark, aaO., S. 15 ff; Trotabas: Institutions Financières, aaO., p. 34 ff; Heinig, K.: Das Budget, Zweiter Band, Tübingen 1951, S. 14-16, 22-24, 30 f.
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Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Vereinigte Staaten von Amerika1 Die Absicht des englischen Parlaments, in den nordamerikanischen Kolonien neue Steuern zu erheben, stellte den unmittelbaren Anlaß des amerikanischen Unabhängigkeitskampfes dar. Die Verfassung der USA, welche 1787 ausgearbeitet wurde und 1788 die erforderliche Zahl von einzelstaatlichen Zustimmungen besaß, enthielt von Anfang an das Recht der Einnahmen- und Ausgabenermächtigung sowie das der Periodizität der öffentlichen Rechnungslegung (Art. I Sect. 9(7). Im 19. Jahrhundert bildeten sich zahlreiche „appropriations committees“ des Kongresses, die in weitgehender Eigenständigkeit die Budgetausgaben bestimmten, und erst im Jahre 1921 erfolgte mit dem „Budget and Accounting Act“ eine umfassende Kodierung des Budgetrechts. Deutschland2 Im ersten deutschen Kaiserreich konnte sich wegen der fehlenden Zentralgewalt kein Budgetwesen entwickeln; vielmehr entstanden nur einzelne Bewilligungsrechte gegenüber Fürsten und Herrschern jener Jahrhunderte. Nach der Gründung des Bismarck-Reiches wurden in den deutschen Ländern Komptabilitätsgesetze erlassen, während das Reich keine eigene Haushaltsordnung besaß, sondern das preußische Haushaltsrecht gewohnheitsrechtlich verwendete. Dies änderte sich erst in der Weimarer Republik mit dem Erlaß der „Reichshaushaltsordnung“ (RHO) am 31. Dez. 1922 (RGBl. II, 1923, S. 17), wobei ergänzend auf das in Art. 85-87 der Weimarer Reichsverfassung enthaltene Finanzrecht hingewiesen sei. Diese einseitige politische Orientierung des Budgets, auf deren besondere Kennzeichnung in Form der Jährlichkeit wir später noch genauer eingehen werden, entwickelte sich somit in allen vier Ländern i. w. zu einer Zeit, die man dogmengeschichtlich als Liberalismus bezeichnet. Die staatliche Tätigkeit sollte sich auf die Erfüllung der Ordnungsfunktion, d.h. die notwendigsten Verwaltungstätigkeiten beschränken, so daß man auch von einem „Etatgendarme“ bzw. „Nachtwächter-Staat“ sprach. Im Hinblick auf den Wirtschaftssektor wurde ein streng neutrales Verhalten und ein möglichst geringes Ausgabenvolumen gefordert.3 1
2
3
Vgl.: Burkhead, aaO., p. 9 ff; Smithies, A.: The Budgetary Process in the United States, New York/ Toronto/ London 1955, p. 49 ff; Trotabas, L.: Finances Publiques, 2. Aufl., Paris 1967, p. 27 f. Vgl.: Jèze/ Neumark, aaO., S. 22 f; Schulze, R. und Wagner, E.: Reichshaushaltsordnung nebst den Wirtschaftsbestimmungen für das Reich, 3. Aufl., Berlin 1934, S. 224 f, Armbruster, H.: Die Wandlung des Reichshaushaltsrechts, in: Freiburger Rechtswissenschaftliche Arbeiten, Heft 1, Stuttgart/ Berlin 1939, S.41; Heinig: Budget II, aaO., S. 31 ff, 56; Hirsch, J.: Parlament und Verwaltung, Bd. 2, 2. Teil: Haushaltsplanung und Haushaltskontrolle in der Bundesrepublik Deutschland, in: Politik. Regierung. Verwaltung, hrsg. v. Th. Ellwein, Stuttgart/ Berlin/ Köln/ Main 1968, S. 13-36. Vgl. hierzu: Neumark, F.: Grundsätze und Arten der Haushaltsführung und Finanzbedarfsdeckung, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, 2. Aufl., Bd. I, aaO., S. 610 ff, Jacomet, R.: L'Adaptation du budget aux tâches de l'Etat moderne, in: Public Finance/ Finances Publiques, vol. 8 (1953), p. 45,
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
9
Bei der jährlichen Ausgabenbewilligung ging man davon aus, daß „les budgets qui se succédaient étaient totalement indépendants les uns des autres“1. Es bestehen berechtigte Zweifel, ob diese völlige parlamentarische Unabhängigkeit de facto je bestand, denn eine Einschränkung ergibt sich bereits durch den finanziellen Bedarf der staatsnotwendigen Verwaltungsbehörden sowie die Amortisationszahlungen für Staatskredite. Daneben gelangten aber bereits damals staatliche Maßnahmen zur Ausführung, die sich auf mehrere Jahre bezogen, wie z.B. Straßen-, Kanal-, Eisenbahnbauten, zivile Schiffsbauten und Entwicklungen im Militärbereich.2 Wesentlich bedeutender jedoch als die hier erkennbaren Widersprüche war es für die Weiterentwicklung des Budgetkonzepts – vor allem auch in ihrer zeitlichen Dimension der Ausgaben –, daß sich vor einigen Jahrzehnten die Auffassungen über den Staat und die von ihm zu erfüllenden Aufgaben grundlegend gewandelt haben. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, doch vor allem nach der Weltwirtschaftskrise von 1930, trat die Erkenntnis von der Bedeutung des staatlichen Wirtschaftssektors als integrierter Bestandteil der Volkswirtschaft immer stärker in das Bewußtsein der Nationalökonomen und Wirtschaftspolitiker, und gleichzeitig machte die sich abzeichnende Industriegesellschaft ein starkes Ansteigen der Staatsausgaben notwendig. Diese Entwicklung hatte bereits A. Wagner3 vorausgesehen und daher von dem „Gesetz der wachsenden Ausdehnung des Finanzbedarfs“ als Spiegelbild des „Gesetzes der wachsenden Ausdehnung der öffentlichen, insbesondere der Staatstätigkeiten“ gesprochen. Für den Staat ergaben sich einerseits aus der „New Economics“4, die von Keynes und den Theoretikern, die sein System ergänzten und vertieften, erarbeitet wurde, andererseits aus dem Entwicklungsprozeß der Gesellschaft, die zur „affluent society“ (Galbraith)5 tendiert, qualitativ und quantitativ ständig zunehmende Aufgaben. Die hieraus resultierenden Ausgaben fanden und finden ihren
1 2 3
4
5
Trotabas: Institutions Financières, aaO., p. 45 f; Duverger, M.: Finances Publiques, 5. Aufl., Paris 1965. p. 1 ff. Lassale, aaO., p. 604. Heinig: Budget II, aaO., S. 77. Wagner, A., zit. nach: Neumark, F., Wirtschafts- und Finanzprobleme des Interventionsstaates, Tübingen 1961, S. 99. Unter „New Economics“ wird hier das wirtschaftstheoretische System verstanden, welches seit dem Erscheinen der „General Theory ...“ von J.M. Keynes im Jahre 1936 entwickelt wurde. Der mit diesem Ausdruck gekennzeichnete Sachverhalt rückt immer mehr in den Blickpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Vgl. dazu u. a.: Massé, P.: La croissance des besoins collectifs et ses répercussions sur la stratégie du développement économique, in: Regul, R. (Ed.): The Budget Today, Public finance and the market economy in affluent societies. - Le budget aujourd' hui. Finances publiques et économie de marché dans des sociétés d'abondance, in: Cahiesisde Bruges, N.S. 19, Bruges 1968, p. 22 ff sowie in derselben Veröffentlichung: Scott (Jr.) I. O.: Repercussions of the Development of New Collective Needs in the United States, aaO., p. 76 ff.
10
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Niederschlag im Staatsbudget.1 Daneben nahmen auch die Bürgschafts- und Sicherheitsleistungen des Staates, die in dem Eventualhaushalt zusammengefaßt werden, stark zu.2 Die hier kurz skizzierte Konzeption, welche die Vorherrschaft des Liberalismus ablöste3, bezeichnet man als Interventionismus, und in ihr erhält das Budget eine spezifisch wirtschaftspolitische Funktion.4 „Mit den Veränderungen der politischen-ideologischen, wirtschaftlichen und soziologischen Grundlagen der öffentlichen Finanzwirtschaften ändert sich auch deren quantitative und qualitative Bedeutung im Rahmen des gesamten gesellschaftlichen Daseins.“5
Daraus folgt, daß es der Wandel, welcher sich aufgrund der angezeigten Daten im Budget vollzogen hat, notwendig macht, die einseitig politisch orientierte, dem starren Jährlichkeitsdenken verhaftete Budgetkonzeption zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, und wir hoffen, hierzu mit dieser Arbeit einen Beitrag leisten zu können. Die Größe der staatlichen Maßnahmen und die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Durchführung erfordern eine die Gesamtdauer der Ausführung und Finanzierung umfassende Planung, denn der „rythme de l’économie est plus long que l’année et le budget doit plus ou moins le suivre.“6 (…)
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Neumark: Budgetgestaltung, aaO., S. 555; Colm, G.: Budgetary Projections in the Framework of Economic Projections and their Adaptations, in: Public Finance/ Finances Publiques, vol. XVII (1962), No. 1, p. 5 ff; Jacomet: L'adaptation du budget, aaO., p. 45 f. Heinig, K.: Staatshaushalt und öffentliche Arbeiten, in: Internationale Rundschau der Arbeit, 14. Jg. (1936), 2. Bd., S. 6I4 erkannte diesen Zusammenhang schon frühzeitig. Amselek spricht davon, daß „1'Idéologie libérale du siècle dernier fait aujourd'hui figure de pièce de musée dans le temple des idées“. Zit. aus: Amselek, aaO., p. 27. Vgl. z.B.: Neumark: Budgetgestaltung, aaO., S. 559; ders.: Haushaltführung und Finanzbedarfsdeckung, aaO., S. 636-641; Colm, G.: The Federal Budget and the National Economy, Planning Pamphlets No. 90, National Planning Association, Washinton 1955, p. 11 f; Hofstra, H.J.: Les nouvelles techniques de préparation et d'aménagement du budget, Institut International des Sciences Administratives, Bruxelles 1965, p. 11 ff. Senf: Budget, aaO., S. 429. Duverger: Finances Publiques, aaO., p. 245. In ähnlichem Sinn: Laufenburger, H.: L'Elargissement du Concept du Budget, in: Finanzarchiv N.F., Bd. 12 (1950), p. 29: „Il est certain que le développement incessant de 1'interventionisme économique, social et financier de l'Etat a singulièrement élargi le cadre même du budget“, sowie Denizet, J.: Budget et plan économique, in: Regul (Ed.), aaO., p. 120.
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
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5.2 Das Budget im zeitlich-optimalen Gesamtrahmen* Die zeitliche Dimension der Ausgaben läßt sich in immer geringerem Maß erfassen, wenn sich die Betrachtung lediglich auf den Budgetbereich beschränkt, so daß eine Erweiterung des Rahmens, und zwar in zwei Stufen der Planung, erforderlich wird. Erstens ist das Budget in eine mehrjährige Finanzplanung einzubetten, die sich ihrerseits wiederum von staatlichen Programmplanungen ableitet. Da diese Art der mittelfristigen Planung jedoch nur den staatlichen Bereich umfaßt, kann die Bedeutung dieses Bereichs innerhalb der Gesamtwirtschaft nicht Gegenstand einer solchen Planung sein; vielmehr sind diese erweiterten Zusammenhänge und Abhängigkeiten im Rahmen einer zweiten Planungsstufe darzustellen, welche die langfristigen Wirtschafts- und Gesellschaftsplanungen umfaßt.1 An früherer Stelle der Arbeit wurde gezeigt, daß die beiden Planungsebenen in den vier untersuchten Ländern bereits entwickelt sind, doch werden die gegenwärtigen Regelungen noch deutlich erkennbar von historischen Zufälligkeiten geprägt und sind damit lückenhaft. Es ist nun zu fragen, inwieweit ein durch entsprechende nachherige Kontrollen ergänztes Planungs- und Programmsystem einen flexibleren und an möglichst objektiven Kriterien orientierten Entscheidungsprozeß für Budgetausgaben ermöglicht, der sowohl die mit der Ausgabenfestlegung verbundenen wesentlichen demokratischen Grundrechte der Legislative sichert als auch eine dem ökonomischen Rationalprinzip entsprechende Ausgabengestaltung gewährleistet. Dabei kann auf das erste, seit 1968 in den USA realisierte Konzept dieser Art, das „Planning-Programming-Budgeting System of the Federal Government“2 (PPBS), Bezug genommen werden, denn damit „ist einerseits die Verbindung von kurzfristiger Budget- und mittel- bzw. langfristiger Finanzplanung offiziell rezipiert und andererseits der Versuch gemacht worden, teils auf der Grundlage verfeinerter moderner Buchhaltungsmethoden, teils mittels administrativer Umgestaltungen das ökonomisch-finanzielle Gewicht und die reale Effizienz aller kostenden Regierungsmaßnahmen in Erscheinung treten zu lassen.“3
5.2.1
Finanzplanung, Programmplanung und Programmkontrolle
Die Entwicklung der beiden Planungsarten vollzog sich nicht parallel, und es ist erst ein Ergebnis neuester Forschung, zwischen der Finanzplanung einerseits und der Programmplanung sowohl im Sinne einfacher Programmgesetze als auch ei* 1 2 3
Auszüge aus: Inaugural-Dissertation, Frankfurt am Main 1969/ 1970, S. 132-156. Vgl. zur institutionellen Regelung Punkt III.A.2. [hier nicht wiedergegeben, N. K.] Vgl.: Weidenbaum: Economic Analysis, aaO., p. 463. Neumark: Planung, aaO., S. 190.
12
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
ner Kosten-Nutzen-Analyse andererseits eine Verbindung geschaffen zu haben. Eine erste Realisierung erfolgte in dem bereits skizzierten „Planning-Programming-Budgeting-System“, wobei dieses System sogar über eine entsprechend gestaltete Art der Staatsbuchhaltung zu einer unmittelbaren Integration des Budgetbereichs führt. 5.2.1.1
Finanzplanung
Mit der Finanzplanung soll die künftige Entwicklung der finanzpolitisch relevanten Bereiche so transparent gemacht werden, daß für die nach ihrer Dringlichkeit abgestuften staatlichen Aufgaben auch die entsprechenden Finanzmittel vorhanden sind.1 Auch wenn die fortlaufende Finanzplanung als ein Institut jüngeren Datums betrachtet werden muß, so wurden bereits im 19. Jahrhundert in verschiedenen politischen, wirtschaftlichen oder militärischen Ausnahmesituationen große Finanzpläne erstellt; den Anfang machte Rußland im Jahre 1810, gefolgt von Österreich, England, Italien und Preußen.2 Die Finanzplanung bildet den finanzpolitischen Rahmen, innerhalb dessen die zukünftigen budgetären Auswirkungen von Gesetzen, Plänen, Programmen, Verträgen und/oder Fakten aufgezeigt und koordiniert werden. Sie vollzieht sich am zweckmäßigsten in Form einer gleitenden mittelfristigen Finanzplanung, denn obwohl der Gesamtplanungszeitraum konstant bleibt, ergibt sich durch die jährlich stattfindenden Planergänzungen die Möglichkeit der Planrevision, d.h. eine – auch unbedingt erforderliche – relativ hohe Flexibilität der Planung.3 Da „der Finanzplan als quantifiziertes Regierungsprogramm aufzufassen“ ist, bedeutet dies vor allem, „daß der Plan innerhalb eines hypothetisch errechneten Einnahmerahmens für den Planungszeitraum Prioritäten von Programmen in sachlicher und zeitlicher Hinsicht setzt.“4 Wenn die Regierung eine ihren Vorstellungen entsprechende prioritätsbezogene Programmauswahl treffen soll, so ist es notwendig, daß verschiedene Programme, die sich aus einem vorgelagerten Entscheidungsprozeß ableiten, wahlweise zur Verfügung stehen. Die programmplanungsorientierten Entscheidungen lassen sich als Gegengewicht zu der mit der Finanzplanung verbundenen exekutiven Kompetenzverstärkung verwenden, indem sie die politischen Zielvorstellungen des Parlaments zum Ausdruck bringen können. Da es sich hier jedoch um einen außerhalb der 1
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Vgl. für die BRD S. 24 dieser Arbeit und die dort angegebene Literatur. [hier nicht wiedergegeben, N. K.] Heinig: Budgetplan, aaO., S. 210 f; ders.: Budget II, aaO., S. 76 ff. Neumark: Planung, aaO., S. 185 f. Stern/ Münch, aaO., S.142, die auf die damit zusammenhängenden rechtlichen Fragen der Plantreue und -gewährleistung kurz eingehen, berühren einen erst in Ansätzen behandelten Problemkreis. Neumark: Finanzplanung und Konjunkturpolitik, aaO., S. 12. Vgl. auch: ders.: Planung, aaO., S. 173 ff, 197 f.
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
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Finanzplanung liegenden Bereich handelt, sollen die Ausführungen dazu an späterer Stelle erfolgen. Obwohl die Finanzplanung für die Legislative rechtlich nicht verbindlich sein kann, ist ihre Wirkung auf die späteren Budgeterstellungen von erheblichem Einfluß und muß es auch sein, will man nicht „den erwünschten Einfluß auf die laufende Finanzgebarung und deren mittelfristige Rationalität unmöglich machen“1. Die Legislative sollte dieser Einschränkung ihres Entscheidungsspielraums auf dieser Ebene zumindest soweit entgegentreten, daß sich das in der Programmauswahl und der Erstellung der Finanzplanung ausdrückende politische Programm der Exekutive in Übereinstimmung mit den von der Parlamentsmehrheit aufgestellten politischen Zielen hält. Dazu bedarf es einer umfassenden Unterrichtung des Parlaments nach der Verabschiedung des Finanzplans durch die Regierung. „Auch ist eine anschließende politische Debatte über den Finanzplan notwendig.“2 Dies genügt nach Albers3 aber nicht, vielmehr sollte das Parlament den Finanzplan „wie den Jahreshaushalt beraten, ihn unter Umständen ändern und verabschieden, so daß es nicht ohne zwingenden Grund von ihm abweichen kann“, doch sieht er auch hierin lediglich eine politische Willenserklärung. Die mit diesem Problemkreis zusammenhängenden verfassungsrechtlichen und -politischen Fragen bezüglich der Funktionstrennung der staatlichen Organe müssen hier unerörtert bleiben. Statt dessen greifen wir den auf amerikanische Verhältnisse bezugnehmenden Vorschlag Neumarks4 auf, daß sich das Parlament mit einem Stab qualifizierter Sachverständiger umgeben solle, um durch verbesserte Information ein wenig die politische Kräfteverschiebung zwischen der Exekutive und der Legislative verhindern zu können. Die Finanzplanung ist aber nicht nur politisch für die Legislative ein völlig ungeeignetes Ausgleichsinstrument für die im Budgetbereich verlorene parlamentarische Einflußnahme auf die Ausgabengestaltung, sondern die darin enthaltenen Daten stellen auch für die ökonomische Beurteilung der staatlichen Ausgaben eine einseitige, im wesentlichen auf die Zahlung abgestellte Grundlage dar. Diese Planungsart ist demzufolge einerseits für die langfristig wirkenden Entscheidungen zeitlich zu begrenzt und andererseits kann sie in sachlicher Hinsicht keine wirklich programmorientierten Entscheidungshilfen liefern. Dieser zweite Mangel wird zwar teilweise behoben, indem verschiedene Programme als Grundlage der Finanzplanung dienen (nach § 10 StabG) oder indem 1
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Neumark: Finanzplanung und Konjunkturpolitik, aaO., S. 13. Vgl. auch: Hettlage: Mehrjährige Finanzplanung, aaO., S. 242, wo es heißt: „Wenn die mehrjährige Finanzplanung ihren Zweck erfüllen soll, können die jährlichen Haushaltspläne künftig in der großen Linie nur noch Vollzugsmaßnahmen darstellen“, sowie Weichmann: Finanzplanung, aaO., S. 225 f. Hettlage: Mehrjährige Finanzplanung, aaO., S. 241. Albers, aaO., S. 208. Vgl. Neumark: Planung. aaO., S.195.
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Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen „in gewissem Umfang ständig Planungsunterlagen für die Investitionsvorhaben der ersten drei Jahre der Finanzplanung so vorzubereiten sind, daß mit ihrer Durchführung kurzfristig begonnen werden kann“1 (§ 11 Satz 1 StabG in Verbindung mit § 1 Abs. 3 EBHO bzw. § 2 Abs. 3 HGrG (Entwurf)).
Entscheidend ist dieser Mangel jedoch nur im Rahmen eigenständiger Programmplanungen bzw. entsprechender Programmbudgets zu beseitigen. Man kann in der Finanzplanung eine dem Budget vorgelagerte Entscheidungsebene mit rechtlich unverbindlicher Wirkung sehen, die sich an dem auf Zahlungsermächtigungen beruhenden, jedoch rechtlich wirksamen Kassenbudget orientiert.2 Danach läßt sich die Möglichkeit einer nachherigen Kontrolle der in der Finanzplanung vorgesehenen Ausgabenansätze ableiten, wobei die sich mittelfristig ergebenden Abweichungen zwischen vorgesehenen und realisierten Zahlungen, die sich auf eine Vielzahl verschiedenartiger Faktoren zurückführen lassen, ermittelt werden können. Diese nur auf Zahlungsvorgänge abgestellte Kontrollform erscheint uns weder finanzpolitisch noch politisch besonders aufschlußreich, so daß sich eine selbständige Institutionalisierung nicht empfiehlt. Demgegenüber ist eine ex post-Betrachtung der Zahlungen im Rahmen der noch darzustellenden Programmkontrolle leicht und sinnvoll anwendbar. 5.2.1.2
Programmplanung
Bis vor wenigen Jahren gab es als praktiziertes Verfahren zur Berücksichtigung der außerhalb der Finanzplanung bestehenden zeitlichen Ausgabenprobleme lediglich die im französischen Budgetbereich in verschiedener Ausgestaltung entwickelten Programmgesetze oder „lois de programme“, die, wenn auch in unsystematischer Form und kaum in das jeweilige Budgetsystem integriert, gleichfalls in den anderen Ländern festgestellt werden konnten. Dabei kann zwar im Idealfall der ökonomischen Bedeutung der sich aus den Verpflichtungsermächtigungen ableitenden Vorgängen Rechnung getragen werden, und in politischer Hinsicht ist das Parlament durch die Bewilligung von Programmgesetzen (mit oder ohne rechtliche Wirkungen für künftige Budgetkredite) in der Lage, die Grundlagenentscheidungen, aus denen die späteren Budgetausgaben resultieren, zu treffen. Es bleibt jedoch der schwerwiegende Nachteil, daß die legislativen Entscheidungsgremien kein Zahlenmaterial über die mit einzelnen Programmen verbundenen volkswirtschaftlichen Kosten-und Nutzengrößen besitzen, so daß vor allem eine Unterstützung bei der Wahl zwischen Alternativprogrammen nach ökonomischen Kriterien nicht möglich ist.
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BT-Drs. V/ 3040, S. 48 (Tz.142). Vgl.: Tretner, aaO., S. 35; Colm/ Wagner, aaO., p. 123.
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
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Aus diesem Grunde entwickelte man seit einiger Zeit in steigendem Maß Systeme, die sowohl die Rationalität der Entscheidungen als auch die ökonomische Effizienz der staatlichen Ausgaben erhöhen sollen. Diese vor allem von amerikanischer Seite durchgeführten Forschungen führten in terminologischer Hinsicht zu einer nicht unerheblichen Verwirrung. So betrachten einerseits amerikanische Regierungsstellen die Ausdrücke „program“, „performance“, „activity“ und „function“ als mehr oder weniger austauschbar1, während man andererseits die analytischen Instrumente mit „cost-benefit analysis“, „cost-effectiveness analysis“, „system analysis“, „operations research“, „operations analysis“ u.a. bezeichnet, wobei Fisher für diesen letzten Problemkreis die terminologisch noch nicht vorbelastete Bezeichnung „cost-utility analysis“ vorschlägt.2 Richtungsweisend, wenn auch terminologisch unscharf, waren vor allem die Forschungsergebnisse der "l.Hoover-Commission“ im Jahre 1949, so z.B. die Empfehlung Nr. 1, „that the whole budgetary concept of the Federal Government should be refashioned by the adoption of a budget based upon functions, activities, and projects: this we designate as a ‘performance budget’.”3
Nach Neumark4 zielen alle derartigen Verfahren darauf ab, „einmal die primär oder ausschließlich an administrativen Merkmalen orientierte Planung, wie sie heute noch in der formalen Budgetgestaltung vorherrscht, durch eine solche zu ersetzen, die die Ausgaben nach Funktionen oder Leistungen gliedert („performance budget“), und zum andern durch Programme, die der Verwirklichung sogenannter „national goals“ dienen, derart planen, organisieren und auf ihre gesamtwirtschaftlichen Nettonutzen abschätzen zu können, daß Exekutive und Legislative ihre letztlich politisch bestimmten Entscheidungen in möglichst vollkommener Kenntnis der ökonomischen Alternativen zu treffen vermögen und die vergleichsweise wirtschaftlich rationellste Methode zur Erreichung eines Ziels ausgewählt zu werden vermag.“
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Smithies, A.: Conceptual Framework for the Program Budget, in: Novick, D. (Ed.): Program Budgeting. Program Analysis and the Federal Budget, Cambridge, Maas.,1965, p. 34. Vgl.: Fisher, G. H.: The Role of Cost-Utility Analysis in Program Budgeting, in: Novick (Ed.), aaO., p. 66; Steiner, G. A.: Problems in Implementing Program Budgeting, in: Novick (Ed.), aaO., p. 310 f. Commission on Organization of the Executive Branch of the Government: Budgeting and Accounting. A Report to the Congress (1st Hoover-Report), Washington 1949, p. 8. (Im Orig. drucktechn. hervorgehoben). Diese Art der Budgetgestaltung wurde als „performance budget“ bezeichnet, ein Begriff, den Heinig mit Vollzugs-, Erfüllungs-, Leistungsbudget übersetzt, doch „ist nicht ohne weiteres zu verstehen, was eigentlich vorgeschlagen wird.“ Zit. aus: Heinig: Budget II, aaO., S. 469. Weichmann/ Wawrczeck sprechen in diesem Zusammenhang von „Programmbudget“. Vgl.: Weichmann, H./ Wawrczeck, C.: Neuordnung der öffentlichen Haushalte, in: Schriften des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs, Nr. 3, Hamburg o.J. (1952), S. 13 ff. Neumark: Planung, aaO., S. 189 f.
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Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Dabei lassen sich für das Programmbudget als Hauptelemente (1) die strukturellen Aspekte, (2) die analytischen Prozeßbetrachtungen und (3) die Informationssystembetrachtungen unterscheiden, wobei die ersten auf das Endprodukt einer Tätigkeit unter langfristig geplanten Gesichtspunkten abzielen, die zweiten die Analyse von Alternativprogrammen zur Zielrealisierung unter Nutzen-Kosten Angaben bringen und die dritten zur Unterstützung der beiden ersten Punkte eine fortlaufende Sammlung, Kontrolle und adäquate Aufbereitung von Zahlenmaterial liefern1. Für die analytischen Programmbetrachtungen stehen mehrere Verfahren zur Verfügung, worunter sich auch die Kosten-Nutzen Analyse als das am meisten gebräuchlichste befindet2. Die theoretischen Lösungsversuche für derartige Planungsprobleme gehen in ihren Anfängen auf Juvénal Dupuits Aufsatz über „la mesure de l’utilité des travaux publics“ aus dem Jahre 1844 zurück3, und sie fanden einen vorläufigen Höhepunkt in der Entwicklung des „Planning-Programming-Budgeting-System“ (PPBS) und dessen allgemeine Übernahme in die amerikanische Budgetpraxis mit Beginn des Fiskaljahres 19684. Hierbei ist die „cost-benefit analysis“ in ein mehrstufiges Planungs- und Entscheidungssystem integriert, doch kann auf Einzelheiten im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden. Das Gesamtsystem „may, in retrospect, represent a major advance in the application of economic analysis to public sector decisionmaking“5, denn in „einer Kombination der Theorie kollektiver Entscheidungen und der für den staatlichen Sektor auszubauenden Theorie des „operations research“ liegt m.E. eine möglicherweise sowohl praktikable als auch den Forderungen nach Rationalität und staatsbürgerlicher Einflußnahme weitgehend entsprechende Lösung.“6
Obwohl die bisherigen Ergebnisse in dieser Richtung erfolgreich waren, so zeichnen sich doch deutlich einige Grenzen der analytischen Programmbetrachtung ab. Diese liegen erstens in der schwierigen gesamtwirtschaftlichen Nutzenquantifizierung, zweitens in der für zahlreiche öffentliche Projekte ganz oder zumindest teilweise nicht sinnvoll durchzuführenden Quantifizierung und drittens in der Beschränkung auf einzelne, der Analyse zugängliche Programme, was nicht gewährleistet, daß der gesamtwirtschaftliche Nettonutzen optimiert wird.7 1 2
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Fisher, aaO., p. 61. Vgl. hierzu: Fisher, aaO., p. 63 f. Im gegenwärtigen Entwicklungsstadium ist diese Analyse „an art rather than a science“. Ebenda, p. 70. Vgl. auch: Hofstra, aaO., p. 38 ff. Neumark: Planung, aaO., S. 189. Andréani, aaO., p. 195 bemerkt dazu: „Le P.P.B.S. est avant tout, une nouvelle facon de considérer le budget.“ Eine kurze Charakterisierung wurde bereits auf S. 25 f dieser Arbeit gegeben. Weidenbaum: Econ. Analysis, aaO., p. 463. Remy, Wolfgang: Problem rationaler Bestimmung der öffentlichen Ausgaben. InauguralDissertation, Frankfurt (M), 1965, S. 111. Vgl. hierzu: Neumark: Planung, aaO., S. 200 f. In ähnlichem Sinn: Fisher, aaO., p. 67-69, 72 ff.
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
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Trotz dieser Einschränkungen bleibt bei sinnvoller Anwendung dieser Analysen der Vorteil, „gesamtwirtschaftlich mehr oder minder problematische Projekte aus dem Plan ausscheiden zu können und so einer irrationellen Verwendung der nationalen Ressourcen vorzubeugen.“1 Die Erarbeitung der einzelnen Programme und ihrer Alternativen2 sowie das Sichtbarmachen der jeweils mit ihnen verbundenen Auswirkungen auf die Finanzplanung3 ist Aufgabe der Exekutive, während die Entscheidung für eine bestimmte Programmplanungsvariante aus politischen Gründen dem Kompetenzbereich der Legislative zustehen muß. Diesem Entscheidungsbereich fällt in Verbindung mit der verstärkten nachherigen Budgetkontrolle und einer gleich noch näher zu erläuternden Programmrechnung die Aufgabe zu, den einerseits in der Budgetgestaltung, andererseits bei der Aufstellung der Finanzplanung stark reduzierten parlamentarischen Einfluß auf einer gleichsam zeitlich vorverlegten Ebene des Gesamtentscheidungsprozesses wirksam werden zu lassen. Der Programmvollzug bedarf in einem System, das noch besondere Verpflichtungsermächtigungen kennt, der parlamentarischen Ermächtigung, wobei auch geprüft werden muß, ob darauf nicht verzichtet werden kann, wenn einerseits das Gesamtprogramm aufgrund umfangreicher Beurteilungen einschließlich der Kosten-Nutzen Analysen und der zeitlichen Erstreckung parlamentarisch bewilligt wurde, andererseits aber die Exekutive den noch verbleibenden Handlungsspielraum u. U. für budgetäre Entscheidungen benötigt, wenn sie die ökonomischen Ziele möglichst optimal realisieren will.4 Ein besonderes, lediglich für die Ausgabenkategorie des staatlichen Schuldendienstes verwendbares Verfahren dieser Art wurde in Form der öffentlichen Verschuldungspolitik bzw. des sog. „debt management“ entwickelt, mit dem man u.a. eine möglichst große ökonomische Rationalität anstrebt, die weit über den finanzpolitisch relevanten Bereich hinausgeht.5 Zeitlich gesehen ist in jedem 1 2
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Neumark: Planung, aaO., S. 201 Entsprechende Planungsarbeiten sind auch in der BRD in Gang gekommen, und als wichtigste Pläne kann man “den „Rüstungsplan“, „Verkehrsplan“, „Forschungs- und Wissenschaftsplan“, das „Sozialbudget“, den „Familien-Lastenausgleichsplan“ sowie einen Plan zur Neuorientierung der Agrarpolitik“ nennen. Zit. aus: Wolkersdorf, aaO., S. 45. Vgl. dazu: Finanzbericht 1969, aaO., S. 98 ff. Hier wird die Finanzplanung 1968 bis 1972 erstmals auch nach Sachgebieten geordnet, wobei diese sogar detaillierter ist als die Zusammenfassungen nach ökonomischen bzw. institutionellen Kriterien. Dadurch ist eine wesentliche Voraussetzung für die erforderliche enge Verbindung von Programm- und Finanzplanung gegeben. Diesem letzten Gesichtspunkt wurde, wie bereits früher erwähnt, mit den §§6-8 StabG in der BRD Rechnung getragen, indem die Regierung in bestimmten Fällen Ausgabenkürzungen ohne vorherige parlamentarische Zustimmung und Ausgabenerhöhung nach einem vereinfachten Zustimmungsverfahren vornehmen kann. Vgl. hierzu: Musgrave, R. A: Theorie der öffentlichen Schuld, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, 2. Aufl., Bd. III, hrsg. v. Gerloff, W./ Neumark, F., Tübingen 1958, S. 68 ff; Neumark: Haushaltführung und Finanzbedarfsdeckung, aaO., S. 647, 649 ff; Finanzbericht 1969, aaO., S. 244 ff: „Staatliches Debt Management im Ausland“, wo neben einigen kritischen Bemerkungen zu der derzeitig noch völlig unzulänglichen Regelungen in der BRD u. a. eine ausführliche Darstellung
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Fall von einer auf die gesamte Laufzeit der einzelnen Staatsschulden bezogenen Betrachtung auszugehen. Die Programmplanung bedarf zu ihrer Wirksamkeit der praktischen Anwendung innerhalb des Budgets, und: „both programming and budgeting depend in essential ways on the information that can be obtained only through perceptive reviews of past performance, which require the exercise of analytic skills going far beyond usual concepts of government accounting.“1
5.2.1.3
Staatsbuchhaltung und Programmkontrolle
Der soeben zitierte allgemeine Hinweis auf die Mängel der gegenwärtig üblichen Art der Staatsbuchhaltung ist so zu interpretieren, daß weder eine zahlungsorientierte noch eine entsprechende verpflichtungsorientierte Staatsbuchhaltung die für die Programmanalysen, -überwachungen und nachherigen -kontrollen erforderlichen Zahlenangaben erbringen kann.2 Die budgetäre Kostenerfassung erfordert somit eine dritte, eigenständige Buchhaltung, die gegenwärtig in den USA auf der „accrual basis“ für die gesamte Staatsverwaltung errichtet wird3 und für die in Frankreich als Grundlage die Budgetkreditphase des „service fait“ zur Verfügung steht. In der BRD ist eine entsprechende Buchhaltung bisher noch nicht vorhanden4, doch bestimmt §73 Abs. 2 des BHO-Entwurfs bezüglich der Ausgabenseite: „Die Buchführung über (...) die Schulden soll mit der Buchführung über die (...) Ausgaben verbunden werden“. Diese Vorschrift erscheint geeignet, den Begriff der Schulden auch in einer kostenadäquaten Weise abzugrenzen, und über die bereits an früherer Stelle theoretisch und begrifflich entwickelte Grundlage der Budgetkreditdurchführungsphase „Vollziehung“5 ließe sich eine buchführungsmäßige Verbindung zu den nach § 8 Abs. 2 EBHO vorgesehenen NutzenKosten Untersuchungen herstellen.
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der Verfahren in den hier interessierenden drei Staaten Frankreich, USA und Großbritannien gegeben wird. Smithies: Programm Budget, aaO., p. 60. Vgl. dazu: Hofstra, aaO., p. 46: „Lorsque le budget général de l'Etat est établi sur la base de comptes de caisse ou d'engagements, il ne suffit pas d'élaborer ce budget conformément aux principes du budget fonctionnel. La circulaire budgétaire doit indiquer les dépenses supplémentaires entraînées par des projets pour lesquels les engagements et les dépenses sont insuffisants.“ Damit erweist sich die Aussage von Jacomet : Conceptions nouvelles, aaO., p. 109 als unvollständig, wo es heißt: „En somme, pour 1'exécution des tâches économiques de l'Etat, il sera dressé distinctement un budget d'engagement et un budget de caisse.“ Vgl. S. 102 ff dieser Arbeit. [hier nicht wiedergegeben, N.K.] Wie den Erläuterungen zu §73 Abs. 2 zu entnehmen ist, wurde dieser Absatz in Ergänzung des §35 Satz 2 HGrG als Soll-Vorschrift gefaßt, doch setzt die Verwirklichung „den Übergang zur elektronischen Datenverarbeitung voraus, der zur Zeit vorbereitet wird.“ Zit. aus : Bt-Drs. V/ 3040, S. 65 (Tz. 405 f). Vgl. S. 106 dieser Arbeit. [hier nicht wiedergegeben, N.K.]
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
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Diese Verbindung von Programmplanung und Haushaltsplan würde gleichzeitig neben derjenigen von mehrjähriger Finanzplanung und Haushaltsplan bestehen, die in diesem Zusammenhang all zu sehr als dominierendes Ziel der Neuordnung der Staatsbuchhaltung betrachtet wird, wie aus dem Regierungsentwurf zu entnehmen ist.1 Eine solche Erweiterung der Staatsbuchhaltung erscheint vor allem im Hinblick auf die in den USA von der „President’s Commission“ gemachten Vorschlägen, die bereits weitgehend realisiert sind und, wie wir sahen, auf eine Integration von Programmplanung und Budget innerhalb der Staatsbuchhaltung abzielen, dringend geboten. Leider kann dieses sehr interessante und m.W. bisher in der deutschen Literatur noch nicht behandelte Problem im Rahmen dieser Arbeit nicht näher untersucht werden.2 Die Programmkontrolle3 baut auf der bestimmte Bedingungen erfüllenden Staatsbuchhaltung auf, und zwar in zweierlei Hinsicht. Einmal werden den vorherigen Kosten-Nutzen-Analysen soweit als möglich die tatsächlich realisierten Kostengrößen, wie sie sich aus der kostenorientierten Staatsbuchhaltung ergeben, gegenübergestellt, und das Ergebnis ist, ggfs. unter Berücksichtigung veränderter Nutzengrößen, finanzpolitisch, politisch und wirtschaftspolitisch zu bewerten. Zum anderen sind auch die zahlungsorientierten Aufzeichnungen der Staatsbuchhaltung auszuwerten, denn eine Zusammenfassung aller im Verlauf der Programmdurchführung getätigten Zahlungen und ein Vergleich mit den geplanten Zahlungen erbringen einen wesentlichen Aspekt für die nachherige Beurteilung der Maßnahmen. Somit ergibt sich für die Legislative neben und teilweise anstelle der jährlichen, mit der bisherigen Budgetrechnung verbundenen nachherigen Kontrolle ein weiterer Bereich, die Tätigkeit der Exekutive zu überprüfen, der sich durch die inhaltliche Verbindung der zusammengefaßten Posten sehr wirkungsvoll gestalten läßt4. Daneben erscheint dieser Vergleich von ex-post- und ex-ante-
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BT – Drs. V/ 3040, S. 37 (Tz. 40). Die von uns vorgebrachte Kritik wird, wie bereits festgestellt, auch durch eine nach Aufgabenbereichen gegliederte Finanzplanung nicht aufgehoben. Eine knappe Übersicht über den Stand der Diskussion ist enthalten in: Thoms, W.: Zur Reform des Rechnungswesens der öffentlichen Haushalte (Bund, Länder und Gemeinden), in: DöH, 8. Jg. (o.J.), S. 129 ff, doch fehlt hier völlig die Verbindung von Programmplanung und Budget. Derselbe Mangel zeigt sich m.E. auch bei den Prüfungen durch den Bundesrechnungshof. Vgl. hierzu: Hirsch, aaO., S. 152 f. Vgl. dazu: Hirsch, aaO., p. 61, 63; President's Commission, aaO., p. 37 ff; Hofstra, aaO., p. 67 f, 118 f. Hirsch, aaO., S. 158 bemerkt hierzu, daß der Haushaltsplan in erheblichem Umfang seine Brauchbarkeit als parlamentarisches Kontrollinstrument verliert. „Vielmehr müßte auch die ex-post-Kontrolle aus einer vergleichenden Beurteilung von Programmen und Projekten bestehen, und zwar zu einer Zeit, wo sie grundsätzlich noch beeinflußbar und revidierbar sind. Sie wäre demnach von der formalen, nachträglichen und regelmäßig verspäteten Rechtmäßigkeits- und Rechnungskontrolle zu einer umfassenden Haushaltskontrolle weiterzuentwickeln“.
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Größen geeignet, die künftigen Planungsprozesse im Sinne der „trial and error“Methode zu verbessern.1 Diese Überlegungen beginnen auch in der BRD Platz zu greifen, wobei sich drei Schwerpunkte zeigen. Erstens ist im Rahmen der Neuordnung des Haushaltsrechts vorgesehen, die Rechnungsprüfung nicht mehr auf die Kontrolle der Erfüllung der Grundsätze der Ordnungsmäßigkeit und Zweckmäßigkeit zu beschränken und zu einer gegenwartsnahen Prüfung zu gelangen, indem „– unabhängig von der Rechnungslegung – auch solche Verwaltungsakte geprüft werden, die erst später zu förmlichen Rechnungen führen.“2 Damit erscheint, wie wir sahen, zumindest rechtlich die Möglichkeit gegeben, parallel zu der geforderten legislativen Programmermächtigung eine Programmkontrolle aufzubauen. Zweitens zeichnet sich schon seit Jahren die Tendenz ab, in der Berichterstattung des BRH die Bedeutung der „Denkschrift“, die nicht auf die einjährige Haushaltsrechnung beschränkt ist, sondern große Aufgabenbereiche umfaßt, zu erhöhen.3 Drittens wird mit der im Rahmen der Finanz- und Haushaltsreform vorgesehenen Änderung des Art. 114 GG, durch die der BRH das Recht erhalten soll, sich unmittelbar an das Parlament wenden zu können, die Möglichkeit einer verbesserten Kommunikation zwischen dem Bundestag und dem Bundesrechnungshof geschaffen.
5.2.2
Gesamtwirtschaftsplanung
Das bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts fast völlige Fehlen einer die gesamte Volkswirtschaft umfassenden lang- und großenteils auch mittelfristigen Wirtschaftsplanung in nahezu allen parlamentarisch-demokratisch regierten Staaten ist allein ideologisch mit der bis dahin herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftslehre des Liberalismus erklärbar. Wenn demgegenüber heute in wachsendem Maß anerkannt wird, daß zwischen staatlicher Planung und einer demokratisch-sozialen Gesellschaft mit marktwirtschaftlicher Wirtschaftsordnung kein Widerspruch besteht4, so besteht nun bezüglich der Frage nach Umfang und Intensität der staatlichen Planung ein breites Meinungsspektrum. 1 3 3 4
Hofstra, aaO., p. 72. BT-Drs. V/ 3040, S. 42 (Tz. 82). Hirsch, aaO., S. 151 ff. „Die Marktwirtschaft beruht ihrer Konzeption nach auf den Planungen privater Wirtschaftssubjekte. Ein prinzipieller Widerspruch zwischen Planung und Marktwirtschaft ist schon aus diesem Grunde nicht möglich. Fraglich kann nur sein, ob, inwieweit und in welcher Weise die Planung privater Wirtschaftssubjekte durch Planung staatlicher Institutionen zu ergänzen oder zu ersetzen ist.“ Zit. aus: Arndt, H.: Die Planung als Problem der Marktwirtschaft, in: Rationale Wirtschaftspolitik und Planung, aaO., S. 15.
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Es ist uns im Rahmen der Arbeit nicht möglich, auf diese schon häufig diskutierte Problematik einzugehen, doch erscheint uns gerade hier eine starke Verknüpfung von Diskussionsinhalt und gesellschaftlicher Entwicklung vorzuliegen, was jedoch die zahlreichen Irrationalismen in der Argumentation der Gegner jeglicher materiell gehaltvollen staatlichen Planung nicht entschuldigen soll. Die tiefgreifenden gegenwärtigen – und künftig in noch weit stärkerem Maße zu erwartenden – wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen lassen sich ohne gesamtwirtschaftliche Planung sinnvoll nicht mehr lösen, denn es „reichen Preismechanismus und freier Wettbewerb als Ordnungselemente allein nicht mehr aus – so unverzichtbar sie auch weiterhin sind.“1 Nach unserer Ansicht wird dieses Ordnungselement unter den Bedingungen der sich entwickelnden „modernen Industriegesellschaft“2 vor allem als Lenkungsinstrument zur Befriedigung der wachsenden gesamtgesellschaftlichen Bedürfnisse immer größere Mängel zeigen. Schon jetzt sei jedoch mit Nachdruck betont, daß diese Planung allein keine Gewähr für gesellschaftlich-politische Entwicklungen im Sinne einer freiheitlich-demokratischen Staatsauffassung geben kann; vielmehr kommt es entscheidend auf die im Planungsprozeß realisierte Rollenverteilung zwischen Exekutive und Legislative an.3 Für die hier anstehenden Probleme einer von dem Budget bis zur Gesamtwirtschaftsplanung sich erstreckenden zeitlichen Dimension der Ausgaben genügt es, wenn von dieser Planung Orientierungsdaten zu entnehmen sind, um die volkswirtschaftlichen Kosten der permanenten wirtschaftlichen Anpassungs- und Umstellungsprozesse so gering wie möglich zu halten. Damit handelt es sich im Sinne von Tuchtfeldt4 um „gesamtwirtschaftliche Projektionen mit verbindlichen Zielen für den öffentlichen Sektor (insbesondere die öffentlichen Investitionen) und einer unverbindlichen prognostischen Orientierung für die Privatwirtschaft.“
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Schiller, K.: Zukunftsaufgaben der Industriegesellschaft. Vorwort zu: Shonfield, A., aaO., S. XX. Vgl. auch die knappe Formulierung von Jürgensen/ Kantzenbach, aaO., S.50: „Gesamtwirtschaftliche Planung ist ein Teilbereich moderner Wirtschaftspolitik.“ Vgl. hierzu die kritischen Ausführungen von: Galbraith, J. K.: Die moderne Industriegesellschaft, München/ Zürich 1968, bes. S. 202-222. Vgl. hierzu: Hirsch, aaO., S. 184 f. Tuchtfeldt, E.: Die volkswirtschaftliche Rahmenplanung im Widerstreit der Meinungen, in: WWA, Bd. 94 (1965), S. 14. Durch diese Interpretation ist für uns eine weitergehende Diskussion über die Abgrenzung und Bedeutung der umfassenderen Planungskonzeptionen ohne Belang. Vgl. hierzu neben Tuchtfeldt: Jöhr, W. A.: Planung als Mittel rationaler Wirtschaftspolitik in der Marktwirtschaft?, in: Rationale Wirtschaftspolitik und Planung, aaO., S. 79 ff; Regul, aaO., S. 253 ff; Schlecht, Otto: Gesamtwirtschaftliche Zielprojektionen als Grundlage der wirtschaftspolitischen Planung in der Marktwirtschaft, in: Kaiser: Planung III, aaO., S. 111 ff.
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Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Dieses als volkswirtschaftliche Rahmenplanung bzw. Globalprojektion bezeichnete Vorgehen wurde vor allem durch die Arbeiten der EWG-Kommission im Rahmen des Aktionsprogramms der zweiten Stufe entscheidend gefördert, was nicht ohne Wirkung auf die entsprechende Problembehandlung in den Mitgliedsländern blieb.1 Auch in jüngerer Zeit erhoben sich noch kritische Stimmen selbst gegenüber dieser sehr schwachen Form staatlicher Planung, wenn etwa Kleps2 fordert, gesamtwirtschaftliche Vorausschätzungen sollten nur verwaltungsintern als Grundlage der Finanzplanerstellung dienen, um durch die Nichtveröffentlichung „die Gefahr unerwünschter Antizipationen und daraus gegebenenfalls abgeleiteter Ansprüche an den Staat zu vermeiden.“ Das hier angeschnittene Problem der Plangewährleistung erscheint uns im Rahmen unserer Rechtsordnung auf den Bereich der volkswirtschaftlichen Rahmenplanung jedoch in keinem Fall anwendbar.3 Fragt man nach der Art der Beziehungen zwischen der staatlichen und der gesamtwirtschaftlichen Planung, so erscheint die optimale Lösung in der Einbettung der staatlichen Finanz- und Programmplanung in einen Volkswirtschaftsplan zu liegen. Dabei ist es in mittelfristiger Sicht wesentlich, daß die sich in der Finanz-und/oder Programmplanung quantifizierende Inanspruchnahme von volkswirtschaftlichen Produktivkräften in eine den gleichen Zeitraum umfassende mittelfristige Volkswirtschaftsplanung eingeordnet ist, denn nur so wird ersichtlich, „daß ein öffentliches Projekt nicht nur die Investitionen anderer Sektoren des Budgets verdrängt, sondern auch mit den privaten Investitionen und dem privaten Konsum konkurriert“4. Zum anderen stellt ein solcher mittelfristiger Volkswirtschaftsplan nur die Konkretisierung von langfristigen Perspektivplänen dar (z.B. über 10, 15 oder 20 Jahre). Die volkswirtschaftliche Perspektivplanung kann im Rahmen der neu zu bestimmenden politischen Machtverteilung zwischen Exekutive und Legislative zu einem entscheidenden Faktor zugunsten der letzteren entwickelt werden, da es sich hierbei potentiell um eine in hohem Maße offene, d.h. aus der geschichtlichen Entwicklung nicht determinierte Zukunftsgestaltung handelt. Damit ist die Legislative aufgerufen, als Repräsentativorgan der Staatsbürger diesen vor allem auch gesellschaftspolitisch als Möglichkeit angelegten Zeitraum gedanklich
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Vgl. hierzu: Groeben, H. von der: Probleme der überregionalen Programmierung, in: Rationale Wirtschaftspolitik und Planung, aaO., S. 524 ff, bes. S. 532 f; Regul, aaO., S. 266 ff; Kleps, aaO., S. 426 ff; Jürgensen/ Kantzenbach, aaO., S. 49 f. Kleps, aaO., S. 470. Vgl. zu diesem Problemkreis: Ipsen, H. P.: Fragestellungen zu einem Recht der Wirtschaftsplanung, in: Kaiser: Planung I, aaO., S. 60 ff. Stolber, W. B.: Effizienz in der öffentlichen Wirtschaft, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft, Bd. 19 (1968), S. 373.
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
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vorwegnehmend, also planend, zu erfassen1, wobei es sich aus dem Wesen der Rahmenplanung ergibt, daß es sich um politische Grundlagenentscheidungen handelt. Dies, so scheint es, wird am besten ermöglicht, wenn für die Legislative als ganzes bzw. die Regierungspartei(en) und die Opposition getrennt hochqualifizierte Planungsstäbe mehrere langfristige, die Leitlinien der politischen Gruppierungen berücksichtigende Alternativpläne der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung entwerfen, damit die legislative Entscheidung auf möglichst rationale Weise erfolgen kann. Auch hierbei lassen sich bestimmte Teilbereiche der Planung in Form einer Kosten-Nutzen-Analyse darstellen. Als letztes sei noch kurz auf die Frage eingegangen, ob der in einer parlamentarischen Demokratie theoretisch jederzeit und praktisch zumindest nach jeder Wahl als Möglichkeit bestehende Regierungswechsel, mit der Konsequenz, daß bisher oppositionelle Kräfte die Gelegenheit zur Verwirklichung ihrer politischen Vorstellungen erhalten, durch diese Form der mittel- und langfristigen Planung nicht substantiell und in unvertretbarer Weise erschwert wird. Diese Befürchtung wird aus folgenden Gründen nicht geteilt: Erstens bestehen zwischen den großen Parteien in der Regel keine weltanschaulich-ideologischen Gegensätze mehr. Zweitens ist eine gewisse Eigenständigkeit in der staatlichen Ausgabenstruktur festzustellen, die unabhängig von Planungsprozessen vorhanden ist und durch die Planung lediglich sichtbar wird; doch damit kann sie logischerweise nicht der Planung zur Last gelegt werden.2 Drittens lassen sich, da die Pläne nicht vollzugsverbindlich sind, bei einem Regierungswechsel die veränderten politischen Ziele in einer gemeinsamen Aktion von Regierung und der sie tragenden Partei(en) durch Schwerpunktverlagerungen bei den in Durchführung befindlichen Programmen und den zur Auswahl stehenden neuen Programmen realisieren. Dabei kann es sich im letzten Fall sowohl um den Ersatz ausgelaufener Programme handeln als auch um solche, die im Zuge eines stetigen Wirtschaftswachstums mit dem damit verbundenen zumindest absoluten, nach Wagners Gesetz aber auch relativen Ansteigen des Staatsanteils am gesamten Sozialprodukt zur Durchführung gelangen. So ergibt sich als Gesamtbild eine zeitlich wie sachlich aufeinander abgestimmte Stufung von Planungsbereichen, die von der langfristigen Volkswirt1
2
Denizet, aaO., p. 120 f sieht in dieser Art der Planung die neue Grundlage der parlamentarischen Demokratie, wenn er schreibt: „La démocratie parlementaire qui s'est fondée sur le contrôle de la dépense publique et sur l'autorisation donnée au Gouvernement de lever des recettes fiscales doit trouver aujourd'hui une justification nouvelle qui ne peut être que le contrôle des grandes options du Plan. Si elle ne le fait pas, elle risque de se voir vider de ses attributions essentielles...“ Vgl. auch: Ebenda, p. 147. In gleichem Sinn: Hirsch, aaO., S. 185 f. Hierzu führt Hofstra, aaO., p. 33 aus: „La question qui se pose est celle de savoir si nous voulons avoir les mains liées par des décisions prises au hasard dans le passé, ou si nous voulons prendre des engagements semblables à la suite d'une étude minutieuse portant sur l'avenir.“ In gleichem Sinn: Tretner, aaO., S. 76.
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Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
schaftsplanung über die mittelfristige Volkswirtschaftsplanung, die Programmund Finanzplanung bis zum Verpflichtungs-, Vollziehungs- und Kassenbudget reicht. Dabei entspricht der abnehmenden zeitlichen Dauer sowohl eine wachsende Verbindlichkeit, die zwar weitgehend politischer Natur ist, sich jedoch im Budget in rechtlich wirksamen Budgetkreditermächtigungen äußert, als auch in der Tendenz einer Schwerpunktverlagerung von der Legislative zur Exekutive hin.1,2 Diese Planungen werden im Bereich des Staatssektors durch die nachherige Budget- und Programmkontrolle ergänzt.
5.2.3
Standort des Budgets in einem entwickelten Planungssystem
In diesem letzten Punkt der Arbeit ist zu fragen, ob und ggfs. wie das an früherer Stelle3 aus den rechtlichen und/oder politischen Bedingungen des Budgets entwickelte Konzept von Verpflichtungs- und Zahlungsermächtigungen für Kapitalausgaben und einigen vergleichbaren laufenden Ausgaben sowie von Zahlungsermächtigungen für die übrigen laufenden Ausgaben unter Berücksichtigung des oben vorgetragenen vielschichtigen Planungs- und Kontrollsystems geändert werden kann4. Der vorgeschlagene Ausbau des Planungs- und Kontrollsystems ist nur realisierbar, wenn die Parlamente mehr Zeit auf diese Probleme verwenden, so daß unter diesem Aspekt eine Verminderung oder gar völlige Streichung der auf die Budgetermächtigungen entfallenden Zeit sehr gelegen käme. Trotz des erheblichen Zeitaufwandes besitzt das Parlament gegenwärtig nur noch einen geringen Entscheidungsspielraum, es sei denn, gesetzlich, vertraglich und/oder planungsmäßig fixierte und vom Parlament früher gebilligte Maßnahmen würden ganz oder teilweise geändert5. Auf diesen Revisionsmöglichkeiten beruht heute im Wesentlichen die budgetäre Flexibilität, doch bleibt dieses Verfahren als Ausdruck der Souveränität der Legislative außerbudgetär bedingt, wie wir bereits feststellten. Eine nicht revisionsbezogene Entscheidungsfreiheit besitzt das Parlament demgegenüber im Bereich der lang- und mittelfristigen Pläne und Programme, und hier gilt es, legislative Initiative zu entfalten. 1 2
3 4
5
Vgl.: Hirsch, aaO., S. 82. Die hier skizzierte Ausgestaltung der zeitlichen Dimension der Ausgaben, die i.w. durch den sachgerechten Informationsfluß zwischen verschiedenen Entscheidungsträgern gekennzeichnet ist, müßte sich methodisch anschaulich in einem kybernetischen Modell darstellen und in spieltheoretischer Hinsicht auch simulieren lassen. Eine Behandlung dieses heuristischen Ansatzes, der die technisch-organisatorisch bedingten Irrationalismen im gegenwärtigen Verfahren klar aufzeigen könnte, würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit überschreiten. Vgl. S. 67-70 dieser Arbeit. [hier nicht wiedergegeben, N.K.] Die Ausführungen zu den übrigen Merkmalen der Budgetsysteme (Veranschlagungstechnik, Abschluß und Art der Staatsbuchhaltung) bleiben bei dieser erneuten Überprüfung der zeitlichen Dimension der Ausgaben außer Betracht, da sie inhaltlich nur unwesentlich berührt werden. Vgl. zu diesen Fragen Punkt III.C.2. [hier nicht wiedergegeben, N.K.]
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
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Somit steht letztlich zur Diskussion, ob die mittels des Budgets zur Zahlung gelangenden Ausgaben noch besonderer budgetärer Ermächtigungen in Form von Verpflichtungs- und/oder Zahlungsermächtigungen bedürfen oder ob künftig auf jede parlamentarische Ermächtigung verzichtet werden soll. Die Beantwortung dieser Frage, die eine politische Abgrenzung des Verhältnisses von Budget- und Planungsentscheidung bedeutet, ist in ihren entscheidenden Gesichtspunkten in verschiedenen Zusammenhängen dieser Arbeit vorbereitet worden, so daß wir uns hier auf das Zitieren der folgenden, sehr prägnanten Formulierung von Amselek1 beschränken können: „Le problème de la démocratie en France, en ce dernier tiers du XXe siècle, c’est essentiellement celui de la démocratisation des processus de planification de la vie économique, celui de l’insertion des élus de la Nation dans les circuits technocratiques qui visent à fixer le destin de celle-ci, et particulièrement leur association au choix des options fondamentales à moyen ou long terme. Dans cette perspective, le budget et l’autorisation budgétaire tendent à passer un peu au second plan.“
Die Frage nach dem nunmehr verbleibenden budgetermächtungsmäßigen Einfluß des Parlaments wird somit nicht mehr als eine Grundsatzfrage der parlamentarischen Demokratie behandelt, sondern erscheint zweitrangig oder, wie Amselek es formulierte, „un peu au second plan“. Dennoch spricht ein entscheidender Grund für die Aufrechterhaltung von legislativ erteilten Ermächtigungen für alle Budgetausgaben, die allerdings mit gewissen, von der Exekutive ad hoc zu treffenden Entscheidungen zur volkswirtschaftlichen Zielrealisierung partiell umgangen werden können: Soll das Interesse des Parlaments an einer vor allem auch finanzwirtschaftlich wirksamen nachherigen Budgetkontrolle gefördert und erhalten werden2, so setzt dies nach unserer Ansicht voraus, daß sich das Parlament nicht ausschließlich auf lang- und mittelfristige Analysen und Entscheidungen sowohl im Planungs- als auch im Kontrollstadium beschränken darf. Zur Erreichung dieser Wirkung erscheint es jedoch vollkommen ausreichend, lediglich die Zahlungsermächtigungen parlamentarisch erteilen zu lassen, und zwar für aggregierte Budgetposten in ein- oder zweijährigem Zyklus.3 1
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3
Amselek, aaO., p. 184. Amselek bezieht sich zwar auf die französische Demokratie, doch zeigten die vorangegangenen Ausführungen deutlich, daß der dargestellte Sachverhalt auf alle vier untersuchten Länder zutrifft, wobei diese Länder von uns als repräsentativ für alle parlamentarischen Demokratien auf dieser Entwicklungsstufe betrachtet wurden. Vgl. auch die auf S.148 f dieser Arbeit gemachten Ausführungen. [hier nicht wiedergegeben, N.K.] Dabei sei auf den Vorschlag von Hirsch verwiesen, eventuell „der Rechnungsprüfungsbehörde stellvertretend für das Parlament auf Teilbereichen Entlastungsbefugnisse einzuräumen“. Zit. aus: Hirsch, aaO., S. 160 Wie aus früheren Ausführungen mehrfach zu entnehmen ist, sind jedoch auch wir der Ansicht, daß für das Parlament in Zukunft die mitschreitende und nachherige Programmkontrolle gegenüber der jährlichen Haushaltskontrolle als die politisch wesentlich effizientere Kontrollform in den Mittelpunkt treten sollte.
26
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Diese psychologisch motivierte Argumentation ist es auch, die uns davon abhält, den von Hirsch1 kürzlich gemachten Vorschlag, das Parlament solle auf „das jährliche Haushaltsgesetz“ verzichten, „wenngleich nicht auf die jährliche Haushaltsberatung“, unverändert zu übernehmen. Für den ermächtigungsmäßigen Aspekt der zeitlichen Dimension der Budgetausgaben empfiehlt sich somit folgende Regelung: Die Legislative sollte ihre budgetären Ausgabenermächtigungen parallel zu dem Aufbau eines umfassenden Ausgabenplanungs- und -kontrollsystems auf die Form eines jährlich oder zweijährig zu ermächtigenden Kassenbudgets reduzieren. Dies wäre ein entscheidender Beitrag dazu, daß das Parlament in Zukunft seine Beratungen, Beschlußfassungen und Kontrollen in immer stärkerem Maße auf Grundlagenbereiche konzentrieren kann. Allein hier besteht bei fortschreitender Planungskontinuität und -intensität der Ausgaben eine politisch bedeutsame Einflußmöglichkeit der Legislative, die in einer sich schnell wandelnden Industriegesellschaft, in der die verschiedenen Lebensbereiche immer intensiver auf wissenschaftlich-technische Weise durchdrungen und manipulierbar werden, zur Erhaltung bzw. Erweiterung einer freiheitlich-demokratischen Staatsordnung zunehmend bedeutungsvoller, wenn nicht sogar zur Existenzfrage für die parlamentarische Demokratie. Der Anfang 1969 in der parlamentarischen Diskussion der BRD stehende Regierungsentwurf einer Bundeshaushaltsordnung sieht in den uns interessierenden Bestimmungen im wesentlichen nur institutionelle Neuerungen vor, wie sie hier in den Punkten 5.2.l und 2. erörtert wurden, während eine Realisierung der institutionell wie politisch weitergehenden Veränderungen, die den Inhalt des Punktes 5.3.3. bildeten, bisher nicht zu erkennen ist. Diese Sachlage entspricht insofern unseren Vorstellungen, als für eine umfassende Reform zuerst die jetzt beabsichtigten Maßnahmen zumindest ansatzweise vollzogen sein müssen, doch sind bereits in diesem Stadium die budgettechnischen und -institutionellen Detailfragen in dem aufgezeigten großen Zusammenhang zu sehen, will man verhindern, daß die mit einer umfassenden Planung im staatlichen Bereich realisierbare primär ökonomische Stabilität in eine politische Sterilität umschlägt. Dazu sind jedoch weitreichende, über die technische Effizienz der Ausgabengestaltung hinausgehende Reformen erforderlich, deren Durchführung aber nicht mehr eine Frage des guten Willens der politischen Repräsentanten ist, sondern eine politische Machtfrage darstellt.2
1 2
Hirsch, aaO., S. I84. Vgl. zu den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen der notwendigen Parlamentsreform: Hirsch, aaO., S. 178 ff.
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
6
27
Zusammenfassung
Abschließend sollen die wesentlichen Gesichtspunkte der Arbeit in kurz gefaßter Form nachgezeichnet werden. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildeten die sich in einzelnen Etappen der historischen Entwicklung des Budgets widerspiegelnden finanzpolitischen, politischen und wirtschaftspolitischen Budgetfunktionen. Diese Budgetfunktionen wurden lange Zeit im wesentlichen als mit den Ausgabenfunktionen identisch betrachtet, doch zeigte sich unter den gegenwärtigen staatsinterventionistischen Bedingungen einer Industriegesellschaft parlamentarisch-demokratischer Prägung eine starke Tendenz zur rechtlichen oder zumindest faktischen Erweiterung der zeitlichen Dimension, innerhalb derer sich die Ausgabenfunktionen vollziehen. Negativ formuliert kommt dies einer Entwertung des Budgets gleich, und diese Entwicklung konnte weitgehend unabhängig von den verschiedenartigen nationalen budgetrechtlichen Regelungen festgestellt werden. Eine genauere Analyse der zeitlichen Dimension der Ausgaben innerhalb des Budgets erfolgte unter Anwendung der Merkmale der Budgetsysteme (Dauer der Ermächtigung, Veranschlagungstechnik, Abschluß der Staatsbuchhaltung und Art der Staatsbuchhaltung), wobei die Untersuchung an einigen Stellen zu einer Weiterentwicklung der Lehre von den Budgetsystemen führte. Mit diesem theoretischen Instrument ließen sich sowohl die zahlreichen empirisch festgestellten Budgetkreditformen systematisieren als auch Ansatzpunkte zur Beantwortung der Frage gewinnen, in welchen Punkten an dem Jährlichkeitsprinzip des Budgets festgehalten werden sollte und in welchen nicht. Hinsichtlich des Problems der ein- bzw. mehrjährigen Budgetperiode zeigte sich bei der finanzpolitischen Funktion ein Vorteil der einjährigen Budgetdauer, im Sinne der politischen Funktion wurde die Jährlichkeit in jedem Fall aufgehoben und bezüglich der wirtschaftspolitischen Funktion konnte keine einheitliche Beurteilung festgestellt werden. In jedem Fall wurde mit der mehr als einjährigen Budgetperiode eine selbständige Programm- bzw. Planebene erforderlich, die als eine neue und gleichzeitig entscheidende Dimension in der Ausgabenbetrachtung anzusehen ist. Diese Zusammenhänge setzen eine aussagefähige Staatsbuchhaltung voraus, die einerseits sowohl die mit den Verpflichtungs- und den Zahlungsvorgängen der Budgetkredite verbundenen Maßnahmen registrieren muß, andererseits aber auch auf der Grundlage der Ausgabenvollziehung zu einer kostenorientierten Betrachtung der Ausgaben führt. Als Ergebnis der Untersuchung ergab sich eindeutig eine irreversible Entwertung des Budgets als Träger der zeitlichen Dimension der Ausgaben und der mit ihnen verbundenen Funktionen zugunsten von mittel- und langfristigen Planungen und programmbezogenen Kontrollen. Dieser Tatsache ist bis vor kurzem institutionell lediglich teilweise Rechnung getragen worden; demgegenüber ist
28
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
das in den USA in den vergangenen Jahren entwickelte und dort bereits in die Budgetpraxis übernommene „Planning-Programming-Budgeting-System“ mit der z. Zt. im Aufbau befindlichen Rechnungslegung auf der kostenorientierten „accrual basis“ als das erste, diesen Überlegungen im wesentlichen entsprechende Verfahren anzusehen. Aus der veränderten zeitlichen Dimension der Ausgaben ergibt sich somit die Notwendigkeit, in verfassungsmäßiger Hinsicht der Tendenz einer wachsenden Kompetenzverlagerung zugunsten der Exekutive, die nicht mehr allzu weit von der Entwertung grundlegender legislativer Rechte entfernt zu sein scheint, entgegenzutreten. Zu diesem Zweck ist die volle Entwicklung eines aufeinander abgestellten Systems der Planung, Budgetierung und Kontrolle sowie eine adäquate Verteilung der jeweiligen Zuständigkeiten von Legislative und Exekutive erforderlich. Dabei wird es vor allem darauf ankommen, daß sich die Legislative im Staatsausgabenbereich auf wesentliche Grundlagenentscheidungen sowie auf eine effiziente nachherige programmorientierte Ausgabenkontrolle beschränkt, während die mit den Budgetausgaben nicht nur durchführungs- sondern auch ermächtigungsmäßig zusammenhängenden Entscheidungen in immer stärkerem Maße in die Verantwortlichkeit der Exekutive fallen. Die nachherige detaillierte jährliche Budgetkontrolle sollte soweit als möglich einer unabhängigen Instanz, z.B. dem Rechnungshof, übertragen werden.
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
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A.2 Das Wettbewerbssystem im Rahmen volkswirtschaftlicher Steuerungssysteme*
Mit diesem Artikel wird der Versuch unternommen, in sehr gedrängter Form all das zusammenzufassen, was bei einer praxisorientierten Analyse und Bewertung volkswirtschaftlicher Wettbewerbsprobleme, die in weiten Bereichen zugleich Konzentrationsfragen sind, berücksichtigt werden muß. Da hierbei die vielschichtigen Wechselwirkungen von Ökonomie, Gesellschaft und Politik in die Untersuchung eingehen, besteht bei einigen Ausführungen die Gefahr einer sehr thesenhaften Formulierung. Dieses Risiko wird jedoch bewußt in Kauf genommen, weil sich erst durch einen umfassenden Ansatz die komplexen sozioökonomischen Probleme und im Anschluß hieran entsprechende Kriterien für die Beurteilung konkreter wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Vorhaben darstellen lassen.
1
Aufgaben für die volkswirtschaftlichen Steuerungssysteme
Zwei Aufgabenbereiche sind es, die im Rahmen unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung von jedem volkswirtschaftlichen Steuerungssystem1 zur gegenseitigen Abstimmung von Teilbereichen innerhalb der gesamten Volkswirtschaft zu leisten sind: Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Produktivität im Hinblick auf die Produktion und Verteilung der Güter (Produktivitätskriterium)2. Dabei ist zu beachten, daß über den Marktbereich hinaus auch solche Produktions- und Verteilungsvorgänge erfaßt werden, die nicht in den Kategorien von Marktangebot und Marktnachfrage gemessen werden können, dennoch aber für den Bestand und die Fortentwicklung der Industriegesellschaft von großer Bedeutung sind. Diese Forderung berührt unmittelbar das Verfahren, wie die Produktion und Verteilung der Güter und Dienstleistungen im Hinblick auf den gesellschaftlichen Bereich, d.h. über den ökonomischen Bereich hinaus, geregelt ist. * 1
2
in: WWI-Mitteilungen, 23. Jg., H. 11/ 1970, S. 328-336. Hier sei auf zwei Aufsätze zur Wirtschaftskybernetik verwiesen, in welchen die Beziehungen der einzelnen volkswirtschaftlichen Steuerungssysteme in weit stärkerem Maße als dies im folgenden beabsichtigt ist, dafür aber auch wesentlich formaler, behandelt werden: Kade, G., Ipsen, D. und Hujer, R., Modellanalyse ökonomischer Systeme, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Heft 1/ 1968, S. 2–35; – dieselben: Kybernetik und Wirtschaftsplanung, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 125-1/ 1969, S. 17–55. In dem Produktivitätskriterium werden alle ökonomischen Wettbewerbsfunktionen zusammengefasst. Vgl. hierzu: Kantzenbach, E., Die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 15 ff.
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Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
An diesen Punkt knüpft die zweite Aufgabe für jedes Steuerungssystem an. Die Abstimmung der verschiedenen ökonomischen Teilbereiche muß in einer Weise erfolgen, die mit dem im gesellschaftlichen Bereich vorherrschenden Demokratieverständnis in Einklang steht (demokratisches Legitimationskriterium). Gerade in der Verbindung der beiden Aufgaben liegt ein Anspruch an das Steuerungssystem, der über den bisherigen ökonomischen Rahmen hinausgeht und ganz bewußt auf eine theoretische Einbeziehung der ökonomischen Beziehungen in den gesellschaftlichen Bereich abstellt. Diese Beziehungen wiederum sind nur in politischen Kategorien erfaßbar. Steuerungssysteme außerhalb des Wettbewerbs Das Wettbewerbssystem als alleiniges Steuerungsinstrument kann diesen beiden Anforderungen nicht genügen, unabhängig davon, in welcher konkreten Ausgestaltung es vorhanden ist. Dieses besitzt seine gegenwärtige Leistungsfähigkeit deshalb, weil man es erstens auf den unmittelbar ökonomischen Bereich beschränkt und zweitens mit den Problemen der demokratischen Legitimation unter Hinweis auf das individuelle Marktverhalten der autonomen und souveränen Wirtschaftssubjekte nicht konfrontiert. Auf Grund dieser Einseitigkeiten des Wettbewerbssystems haben sich Ansätze zu verschiedenen ergänzenden bzw. alternativen ökonomischen Steuerungssystemen entwickelt, die jedoch bisher unverbunden sind und nur Teilbereiche betreffen. Im Einzelnen sind hier zu nennen: Staatliche Wirtschaftspolitik im Allgemeinen und staatliche Rahmenplanung im Besonderen. Zusammenarbeit der wesentlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsverbände innerhalb von Wirtschafts- und Sozialräten oder ähnlichen Gremien. Kartell- und Konzernbildung sowie als bisher höchste Stufe privatwirtschaftlicher Interessenabstimmung die Konzernkooperation und die Schaffung von Einheitsgesellschaften1.
2
Wettbewerbssystem und Produktivitätskriterium
In einem ersten Schritt der Betrachtung erfolgt eine Beschränkung auf das Verhältnis von Wettbewerbssystem und Produktivität bei der Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen. Dabei ist die Frage zu untersuchen, wel1
Einer der stärksten Befürworter der Kooperation als neuer Organisationsform auf den Märkten ist Arno Sölter, Wettbewerbsexperte beim Bundesvorstand der Deutschen Industrie. Vgl. z.B. Sölter, A., Das Rätsel Wettbewerb, in: 10 Jahre Kartellgesetz 1958-1968. Eine Würdigung aus der Sicht der deutschen Industrie, Bergisch-Gladbach 1968.
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
31
che Bedeutung das Wettbewerbssystem zur Steuerung der verschiedenen volkswirtschaftlichen Prozesse besitzt. Es erweist sich als zweckmäßig, diese Prozesse in einen ,ökonomischen’ und einen ,metaökonomischen’ Bereich einzuteilen. Als Einteilungskriterium dient die Herkunft der Impulse zur Steuerung der volkswirtschaftlichen Prozesse, d.h. es wird auf die Zielsetzung abgestellt, die der Produktion und Verteilung der Güter und Dienstleistungen zugrundeliegt. Ökonomischer Bereich Dieser Bereich ist vor allem dadurch gekennzeichnet, daß sich die Beziehungen zwischen Anbietern und Nachfragern primär an den Kriterien der unternehmerischen Zielsetzungen orientieren. Es werden somit die Güter und die Dienstleistungen produziert und angeboten, die unter den bestehenden oder gestaltbaren Marktbedingungen unternehmerischen Erfolg versprechen, wobei dieser an Gewinnhöhe, Marktanteil, Finanzierungsweise, Selbständigkeit des Managements, langfristiger Absatzsicherung und ähnlichen Kriterien gemessen wird1. Als erste Annäherung an die Gegebenheiten der Märkte genügt es, wenn trotz aller empirisch feststellbaren Überschneidungen eine getrennte Untersuchung des Wettbewerbssystems für den Investitionsgüter- und Konsumgütersektor vorgenommen wird. Hierbei werden im Investitionsgütersektor die in der Industriestatistik getrennten Bereiche der Grundstoff- und Investitionsgüterindustrie zusammengefaßt. Im Investitionsgütersektor führen sowohl die Höhe der Entwicklungskosten als auch die Entwicklungsdauer einzelner technischer Entwicklungslinien zur Kooperation, freiwilligen Selbstbeschränkung bzw. gegenseitigen Schwerpunktabgrenzung der Unternehmensgruppen und Konzerne. Als Beispiele seien genannt der, Stahlbereich: Schaffung der Walzstahlkontore2, Vereinbarung über das Produktionsprogramm zwischen den Stahlkonzernen in der Bundesrepublik3; Chemiebereich: Interessenabgrenzung zwischen den drei IG-Farben-Nachfolgern4; Elektrobereich: Kooperation zwischen der Siemens AG und der AEG-Telefunken AG bei der Einrichtung und Fertigung von Kraftwerken, Turbinen, Transformatoren und Großrechenanlagen5. 1
2 3 4 5
Vgl.: Brändle, R., Voraussetzungen erfolgreicher Unternehmenspolitik. Unternehmensziele und Unternehmensplanung, in: Der Betrieb, Heft 24/ 1970, S. 1 089–1 092. Hierzu: Köhler, H. W. (Hrsg.), Die Walzstahlkontore, 2. Aufl., Düsseldorf 1969. Volkswirt, Nr. 7 vom 14. 2. 1969, S. 49 ff. Vgl. Capital, Nr. 4/ 1967, S. 52 ff. Vgl. Blick durch die Wirtschaft vom 10. 4. 1970.
32
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Selbst dort, wo verschiedene technische Möglichkeiten der Produktion modellmäßig erarbeitet wurden, einigen sich die Unternehmen häufig auf nur eine technische Entwicklungslinie. Diese Art von großtechnischen Produktionsbedingungen wird in Zukunft mit Sicherheit zunehmen, da sich im Zuge der technischen Entwicklung der Kapitaleinsatz pro Produkt bzw. die optimale technische Betriebsgröße auch weiterhin erhöhen werden. Im Konsumgütersektor bestehen sowohl von den Produktionskosten als auch von der Produktentwicklungsdauer her die Voraussetzungen zu einer größeren Angebotsvielfalt. In dieser Vielfalt liegt eine wesentliche Voraussetzung für die freie Konsumgüterwahl begründet. Ohne auf einzelne Konsumgüter-Produktmärkte bereits in diesem einführenden Artikel näher einzugehen, bleibt zu sagen, daß sich unter den gegenwärtigen technischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen in den Industriegesellschaften keine alternativen Steuerungssysteme entwickeln lassen, die in ihrer Leistungsfähigkeit mit dem Wettbewerbssystem vergleichbar wären. Diese Aussage gilt insbesondere für die Verteilungsprobleme auf einzelnen Produkt- und Dienstleistungsmärkten. Verschiedene restriktive Praktiken verhindern ganz oder teilweise den hohen Elastizitätsgrad und/oder die preisdämpfende Wirkung des Wettbewerbssystems vor allem im Bereich der Verteilung. Dabei handelt es sich erstens um Preisbindungen und ähnliche Hemmnisse1, zweitens um die hohen Werbekosten, die Bestandteil der Produktkosten sind2, und drittens um die organisierte Verschwendung, sei es in Form technisch überflüssiger Modellvielfalt und -veränderung, sei es durch systematische Herstellung von nur kurzfristig haltbaren Produkten3. Ein strukturelles Element, durch welches das Wettbewerbssystem als vorherrschendes volkswirtschaftliches Steuerungssystem entwertet wird, liegt in der Konzernplanung und interpersonellen Verflechtung. Das Wettbewerbssystem enthält u.a. die Voraussetzung, daß die unternehmerische Strategie den Konkur1
2
3
Vgl. Bußmann, L., Zur Frage der vertikalen Preisbindung, in: WWI-Mitteilungen, Heft 11/ 1962, S. 240-244. Vgl. Baran, P. A., Zur politischen Ökonomie der geplanten Wirtschaft, in: edition suhrkamp 277, 2. Aufl., Frankfurt (M.) 1969, S. 126 ff; Baran, P. A./ Sweezy, P. M., Monopolkapitalismus, Frankfurt (M.) 1967, S. 114-141; Huffschmid, J., Die Politik des Kapitals. Konzentration und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik, in: edition suhrkamp 313, 3. Aufl., Frankfurt (M.) 1970, S. 104-107; Galbraith, J. K., Die moderne Industriegesellschaft, in: Knaur Taschenbuch 219, München 1970, S. 189-202; Senger, H. G., Beurteilung der Vertriebskosten, in: Nürnberger Abhandlungen zu den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Heft 20, Berlin 1963, S. 39 ff., 60 f., 130132, 144 sowie Anhang. Vgl. Baran, P. A./ Sweezy, P. M., a.a.O., S. 135-138; Packard, V., Die große Verschwendung, in: Fischer Bücherei 580, Frankfurt (M.) und Hamburg 1964, S. 37-177; Arndt, H., Macht, Konkurrenz und Demokratie, in: Grosser, D. (Hrsg.), Konzentration ohne Kontrolle, Köln und Opladen 1969, S. 29, 72 f.
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
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renzunternehmen nicht bekannt ist, doch trifft gerade diese Voraussetzung bei den Großunternehmen und Konzernen zumindest im nationalen Rahmen nicht mehr zu. Erste Analysen über die Mandatsträger in den Verbänden, Aufsichtsräten oder vergleichbaren Gremien von Großunternehmen und Konzernen zeigten bereits, daß die Vertreter der „Konkurrenzunternehmen bzw. -konzerne“ entweder direkt in die jeweiligen Aufsichtsräte, Beiräte oder ähnliche Gremien gewählt werden oder daß indirekte Verflechtungen über Privat- und Großbanken sowie Verbände bestehen1. Dadurch können die langfristigen Unternehmens- und Konzernplanungen sowie ähnliche Daten von grundsätzlicher Bedeutung der „Konkurrenz“ nicht vorenthalten werden. Somit stehen den Konzernen sowohl die gegenseitige Abgrenzung ihrer Interessenschwerpunkte als auch die personelle Verflechtung in den Entscheidungsgremien als Handlungsparameter zur Verfügung. Die insgesamt ausgewogenen Beziehungen zwischen den Großunternehmen und Konzernen untereinander lassen sich nicht auf die Beziehungen der Großindustrie zu ihren zahlreichen kleinen und mittleren Zulieferungsunternehmen übertragen. Im letzten Fall ist eine sehr einseitige unmittelbare Wirkung der lang- und mittelfristigen Unternehmensstrategie, wie sie sich vor allem in der Konzernplanung ausdrückt, feststellbar2. Dies gilt unabhängig von den einzelnen Vertragsbedingungen, die der Öffentlichkeit nur in wenigen Fällen zugänglich sind, indem die Überlebens- oder zumindest Wachstumschancen zahlreicher Zulieferer aufs engste mit der Politik der Großunternehmen bzw. Konzerne verbunden sind. Metaökonomischer Bereich Dieser sich auch künftig stark ausweitende Bereich umfaßt die Produktion und Verteilung der Güter und Dienstleistungen mit hoher gesellschaftlicher Produktivität. Dabei ergibt sich diese auf die gesamte Industriegesellschaft bezogene Produktivität besonders im Formalen häufig auf Grund technologischer Sachzwänge, während für die inhaltliche Ausgestaltung in weitem Maß politische bzw. gesellschaftspolitische Maßstäbe gelten. Es handelt sich vor allem um die Aufgaben des Informations-, Erziehungs-, Bildungs-, Berufsschulungs-, Wohnungs-, Gesundheits- und Sozialwesens, der Verkehrs- und Umweltgestaltung sowie einiger technologischer Entwicklungen. Abgestuft nach dem Grad einer liberalistischen Gesellschaft werden grundsätzlich auch die oben erwähnten metaökonomischen Aufgaben unter Marktbedingungen behandelt. Die Konsequenzen eines derartigen Systems sind histo1
2
Vgl. hierzu Hoppenstedt Wirtschaftsverlag (Hrsg.): Wirtschaftliche und finanzielle Verflechtungen in Schaubildern. Ebenda: Leitende Männer der Wirtschaft 1970; Huffschmid, J., a.a.O., S. 84 ff. Vgl. Arndt, H., a.a.O., S. 41 ff; Huffschmid, J., a.a.O., S. 68-72.
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Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
risch in genügender Zahl vorhanden und daher leicht erkennbar. Sie lassen sich wie folgt beschreiben: Entweder fehlen mangels privatwirtschaftlicher Rentabilität die Güter- und Dienstleistungsangebote, die zur Lösung der oben aufgezählten metaökonomischen Aufgaben benötigt werden, oder das Angebot orientiert sich an der Zahlungsfähigkeit der einzelnen Personen bzw. Personengruppen. Für die hier anstehende Betrachtung ergibt sich in beiden Fällen, daß die materiellen Voraussetzungen für eine demokratische Gestaltung der Gesellschaft fehlen. Zur Lösung dieser Aufgaben kann das Wettbewerbssystem kein brauchbares Steuerungsinstrument bei der Auswahl der Prioritäten und der Entscheidungen über Programme darstellen, da die hierzu notwendigen Anreize primär nicht den unternehmerischen Zielvorstellungen entsprechen. Allein im Augenblick der öffentlichen Auftragsvergabe zur Programmdurchführung, d.h. nach der erfolgten Bestimmung der Prioritäten durch politische Instanzen, besteht eine Gelegenheit zum Wettbewerb verschiedener Anbieter. Die Möglichkeit zu diesem Wettbewerb hängt jedoch stark von der Art der gewünschten Güter und Dienstleistungen ab, da die öffentlichen Aufträge häufig ein hohes Maß an Unsicherheit besitzen1. Dies gilt vor allem, sofern wissenschaftlich-technische Neuentwicklungen erforderlich werden und/oder die Produktion mit einem hohen Komplexitätsgrad verbunden ist. In diesen Fällen arbeiten die beteiligten Unternehmen und Konzerne bei der Programmdurchführung durch Bildung von Konsortien oder ähnlicher Organisationsformen eng zusammen. Ergebnis Mit dem Vordringen der metaökonomischen Aufgaben, dem Ansteigen der Entwicklungskosten und -dauer bei technischen Großsystemen im Bereich der Investitionsgüter, den steigenden Verkaufskosten und dem geplanten schnellen Verschleiß bei Konsumgütern sowie der bei zunehmender Konzentration verstärkten Interessenabstimmung und der personellen Verflechtung zwischen den einzelnen Unternehmen und Konzernen wird der Wettbewerb als vorherrschendes Steuerungssystem in den Industriegesellschaften immer mehr entwertet. Mit dieser Aussage wird der Anspruch in Frage gestellt, das Wettbewerbssystem besitze allgemein die Fähigkeit zur optimalen Erfüllung des Produktivitätskriteriums. Die erfolgreiche Anwendung des Wettbewerbssystems zeigt sich vielmehr in verstärktem Maße in abgegrenzten ökonomischen Bereichen. Einmal ist hier der bereits erläuterte Konsumgüterbereich, vor allem zur Lösung der Güter- und Dienstleistungsverteilung, zu nennen. Daneben verlagert sich in 1
Vgl. Gleitze, B., Planung und Wettbewerb, in: WWI-Mitteilungen, Heft 7/ 1963, S. 157 ff, hier S. 159.
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einer Volkswirtschaft, die entscheidend durch die direkte oder indirekte Wirkung von Großunternehmen und Konzernen geprägt wird, die Leistungsfähigkeit des Wettbewerbssystems von den lokalen, regionalen und teilweise auch nationalen Märkten auf die interregionalen bzw. internationalen Märkte1. Damit zeigt sich die Wirkung des Wettbewerbssystems auf den regionalen und nationalen Märkten nur noch mittelbar. Es liegt gewissermaßen ein dialektischer Prozeß vor, indem das bisherige Wettbewerbssystem mit dem Vordringen von Großunternehmen und Konzernen weitgehend zerstört wird und an dessen Stelle allmählich ein aus ökonomischen Großorganisationen bestehendes Wettbewerbssystem im interregionalen und -nationalen Rahmen aufgebaut wird. Entscheidend dabei ist, daß auch dieses neue System ausschließlich auf den ökonomischen Bereich beschränkt bleibt, so daß zumindest die zunehmend vordringliche Lösung der metaökonomischen Probleme mit anderen Steuerungssystemen erfolgen muß.
3
Wettbewerb und demokratisches Legitimationskriterium
Die Frage nach der demokratischen Legitimation des Wettbewerbs führt zurück in die Geschichtsphase, als der Wettbewerbsgedanke zum beherrschenden Lösungsansatz für wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen wurde, d.h. in die Spätphase des Absolutismus. Damals ging es vor allem darum, den wirtschaftlichen Bereich aus der Bevormundung der Feudalherren zu befreien, und hierzu erschien ein Netz von Marktbeziehungen autonomer Wirtschaftssubjekte besonders geeignet2. Diese damalige Legitimationsgrundlage bezog sich auf die vor rund zwei Jahrhunderten bestehenden gesellschaftlichen und politischen Bedingungen. In der Zwischenzeit haben sich sowohl zahlreiche schwerwiegende Mängel dieses Markt- bzw. Wettbewerbssystems für einzelne soziale Klassen gezeigt als auch die gesellschaftlichen Bedingungen und der Anspruch geändert, unter denen eine demokratische Gesellschaft bestehen und sich weiterentwickeln kann. Deshalb reicht die skizzierte historische Legitimation des Wettbewerbssystems nach un1
2
Vgl.: Grosser, D., Einführung, in: Konzentration ohne Kontrolle, a.a.O., S. 9; Galbraith, J. K., a.a.O., S. 74 ff; Sieber, E., Die multinationalen Unternehmen, der Unternehmenstyp der Zukunft?, in: ZfBF, Heft 7/ 1970, S. 414-438. Zur Erfaßbarkeit und Bedeutung der Großunternehmen und Konzerne in einzelnen Branchen der bundesdeutschen Wirtschaft siehe: Sieber, G., Betriebskonzentration, Unternehmenskonzentration und Konzernierung, Köln 1962, bes. S. 114-140; Bundestagsdrucksache IV/ 2330 vom 5. Juni und 9. Oktober 1964: Bericht und Anlagenband zum Bericht über das Ergebnis einer Untersuchung der Konzentration in der Wirtschaft (Konzentrationsbericht); Bußmann, L., Die Konzentration in der westdeutschen Wirtschaft, in: WWI-Mitteilungen, Heft 1/ 1965, S. 11-18; Grochla, E., Betriebsverbindungen, in: Sammlung Göschen, Bd. 1235/ 1235 a, Berlin 1969, S. 195 ff; Huffschmid,J. a.a.O., S. 36-80; Kursbogen zu Kursbuch 21: Kapitalismus in der Bundesrepublik, Berlin 1970. Albert, H., Marktsoziologie und Entscheidungslogik, Neuwied 1967, S. 398 ff.
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Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
serem heutigen Demokratieverständnis selbst in theoretischer Hinsicht nicht mehr aus. Der wissenschaftlich-technische und gesellschaftliche Wandel in den Industriegesellschaften der letzten Jahrzehnte zeigt sich erstens in den neuen großtechnischen und sehr kapitalintensiven Produktionsbedingungen, zweitens in einer Erweiterung der Absatzmärkte auf überregionale bzw. internationale Räume mit einem entsprechenden erweiterten absatzpolitischen Instrumentarium und drittens in dem Bestehen umfangreicher Bedürfnisse, die sich wirkungsvoll nur kollektiv befriedigen lassen1. Aus diesen Änderungen ergab sich ein Funktionswandel des Wettbewerbs, in dessen Verlauf das Problem der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Macht, welches mit dem Auftreten und Bestehen von Großunternehmen und Konzernen verbunden ist, zunehmende Bedeutung gewann2. Daraus folgt für die noch zu entwickelnden Steuerungsinstrumente, die den funktional entwerteten Wettbewerb teils ergänzen, teils ersetzen: Neben der Aufrechterhaltung einer hohen Produktivität tritt als gleichwertiges Ziel das Problem der demokratischen Kontrolle der sozioökonomischen Macht. Unter Macht wird hier mit Albert3 die Möglichkeit verstanden, „soziale Prozesse im Sinne eigener Zielsetzungen zu beeinflussen, gleichgültig, auf welchen Bereich sich diese Möglichkeit erstreckt und in welchem Maße sie vorhanden ist“.
4
Erscheinungsformen der sozioökonomischen Macht
Die Erscheinungsformen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Macht (sozioökonomische Macht) zeigen sich auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Sie sollen hier in folgender Weise klassifiziert und kurz erläutert werden. Volkswirtschaftliche Produktionsstruktur Der Entscheidungsspielraum von Großunternehmen und Konzernen umfaßt Parameter, die in entscheidendem Maß die strukturellen Gegebenheiten und Ent1
2
3
Zur allgemeinen Literatur vgl. Arndt, H., Macht, Konkurrenz und Demokratie, a.a.O.; Baran, P. A./ Sweezy, P. M., Monopolkapitalismus, a.a.O.; Galbraith, J. K., a.a.O.; Huffschmid, J., a.a.O.; Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Die Industriepolitik der Gemeinschaft, Memorandum KOM (70) 100 vom 18. März 1970; Mandel E., Marxistische Wirtschaftstheorie, Frankfurt am Main 1968. Vgl. Albert, H., a.a.O., S. 418-428. Das Machtproblem ist in der hier unter Anm. 1 angegebenen Literatur ausführlich und aus verschiedener gesellschaftspolitischer Perspektive dargestellt. Albert, H., a.a.O., S. 448. Albert stützt sich auf die Machtdefinition von Max Weber, berücksichtigt jedoch die Kritik an der Weberschen Definition. Ebenda. Vgl. auch Russel, B., Macht. Eine sozialkritische Studie, Zürich 1947.
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wicklungen in den einzelnen Wirtschaftsräumen bestimmen. Als Parameter gelten im dispositiven Bereich die Planung und Organisation, im unmittelbar produktbezogenen Bereich die Beschaffung, Produktion, Investition und der Absatz sowie im monetären Bereich die Finanzierung. Die obige Aussage über die durchgreifenden Strukturbestimmungen läßt sich u.a. am Beispiel der Investitionspolitik von Großunternehmen und Konzernen verdeutlichen. Die Finanzierung dieser Investitionen kann auf Grund der hohen Selbstfinanzierungsrate1 und der internationalen Verflechtung der Geld- und Kapitalmärkte weitgehend unabhängig von der staatlichen Konjunkturpolitik erfolgen. Berücksichtigt man die Tatsache, daß die Stabilisierung des Ablaufes der Gesamtwirtschaft vor allem den staatlichen Stellen zufällt, so wird deutlich, daß sich diese bei konjunkturgerechtem Verhalten nachträglich an den unternehmerischen Prioritäten orientieren müssen. Wissenschaftliche Forschung Die Bedeutung der wissenschaftlichen Forschung für die künftige Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft steigt zunehmend2. In diesem Bereich eröffnen sich für Großunternehmen und Konzerne entscheidende Einflußmöglichkeiten, die mit der veränderten Rolle des Staates im politischen System, der Kooperation zwischen staatlichen und wirtschaftlichen Stellen, der Unternehmens- und Konzernkooperation, der Größe und Komplexität der meisten Forschungsprojekte und ähnlichen Bedingungen in Verbindung stehen3. In der BRD wurden diese Zusammenhänge in jüngster Zeit u.a. anläßlich der Konzipierung neuer Forschungsinstitute deutlich4. 1
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3
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Vgl. Galbraith, J. K., a.a.O., S. 172 ff; Mandel, E., a.a.O., S. 535. Zur Selbstfinanzierungsrate in der BRD vgl. Scheibe-Lange, I., Investitionen und Selbstfinanzierung im Jahre 1968, in: WWIMitteilungen, Heft 4/ 1970, S. 129 bis 132. Vgl. hierzu Team-Prognose für 1970 bis 1980: Das 198. Jahrzehnt, Hamburg 1969, Teil III; Weinberg, A. M., Probleme der Großforschung, Frankfurt am Main 1970; Prognos Report Nr. 3: Westeuropa 1985. Die Entwicklung von Wirtschaft und Bevölkerung in den Industrieländern WestEuropas bis 1985, Basel 1969; Weingart. P., Friedensforschung und Futurologie – Wege zur heimlichen Programmierung der Wissenschaftspolitik, in: Futurum, Heft 3/ 1970, S. 329-355. Vgl. hierzu Hirsch, J., Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und politisches System. Organisation und Grundlagen administrativer Wissenschaftsförderung in der BRD, in: edition suhrkamp 437, Frankfurt am Main 1970; Helfert, M., Einfluß von sozioökonomischen Interessen auf die Rezeption von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Bisher unveröffentlichte Arbeit im WWI (1970). Im Einzelnen sei auf die Auseinandersetzungen um die Gründung folgender drei Forschungseinrichtungen verwiesen: (1) „Industrieinstitut zur Erforschung technologischer Entwicklungslinien“ in Hannover; (2) „Wissenschaftszentrum Berlin“; (3) „Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt“ in Starnberg. Vgl. hierzu Spiegel, Nr. 13, vom 23. 2. 1970, S. 45; Frankfurter Rundschau vom 24. 4. 1970; Zeit, Nr. 16 vom 17. 4. 1970, S. 6; Süddeutsche Zeitung vom 22. 5. 1970 sowie Weingart, P., a.a.O., S. 348 ff.
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Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
„Military-Industrial-Complex“ Eng verbunden mit der Bedeutung von Wissenschaft und Forschung für die Industriegesellschaft ist die sich nun auch in der Bundesrepublik verstärkt abzeichnende Zusammenarbeit zwischen Großunternehmen und Konzernen, der Staatsbürokratie und leitenden Militärfachleuten1. Vor allem in der fehlenden wirksamen öffentlichen Kontrolle über den Umfang und die Richtung der Forschungsvorhaben liegt eines der Charakteristika des sogenannten „military-industrialcomplex“2. Informationswesen Das Informationswesen wird in der sich entwickelnden Industriegesellschaft immer größere Bedeutung erlangen, da die Komplexität der sozioökonomischen Beziehungen steigt. Der Kybernetiker Steinbuch spricht in diesem Zusammenhang von der „informierten Gesellschaft“3. Dabei hängt es in hohem Maß von der Art der Informationen ab, wie die Entscheidungen innerhalb der Wirtschaftsgesellschaft fallen. Der Einfluß und die Einflußmöglichkeiten bestimmter finanzstarker Wirtschaftsgruppen sind hierbei zu überwachen und gegebenenfalls zu verhindern4. Interessengruppen Die zunehmende Bürokratisierung der Industriegesellschaft führt zu einer starken Aufwertung der Verbände, der Parteien, der Staatsbürokratie und ähnlicher Organisationen5. Dabei läßt sich die Vielzahl der Gruppen materiell klassifizieren, 1
2
3
4
5
Vgl. Rilling, R., Kriegsforschung und Wissenschaftspolitik in der BRD, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 12/ 1969 und Heft 1/ 1970; Vilmar, F., Technischer Fortschritt als Abfallprodukt der Rüstungsforschung?, in: Frankfurter Hefte, Heft 4/ 1970, S. 244-250; Spiegel, Nr. 1-2 vom 5. 1. 1970, S. 33 ff; Zeit, Nr. 23 vom 5. 6. 1970, S. 25 f. Vgl. hierzu Galbraith, J. K., a.a.O., S. 309; Hallgarten, G. W. F., Das Wettrüsten. Seine Geschichte bis zur Gegenwart, Frankfurt (M.) 1967; Senghaas, D., Abschreckung und Frieden, Frankfurt (M.) 1969; Vilmar, F., Rüstung und Abrüstung im Spätkapitalismus, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1967. Steinbuch, K., Die informierte Gesellschaft, in: rororo Taschenbuch 6612-6613, Reinbek 1968. Vgl. auch Deutsch, K. W., Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven, Freiburg i. Br. 1969. Vgl. hierzu allgemein Arndt, H., a.a.O., S. 56 ff; Haarmann, R., Pressekonzentration: Gefährdung der Demokratie, in: Grosser, D. (Hrsg.), a.a.O., S. 176-191; Bundestagsdrucksache A/ 3122 vom 3. 7. 1968: Schlussbericht der Pressekommission. Als Beispiel aus jüngster Zeit sei verwiesen auf den „Fall Tern“. Tern war Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zur Analyse dieses Falles vgl. Zeit, Nr. 24 vom 12. 6. 1970; Spiegel, Nr. 25 vom 15. 6. 1970, S. 69 f. Breitling, R., Die Verbände in der Bundesrepublik. Ihre Arten und politischen Wirkungsweisen, Meisenheim am Glan 1955; Schneider, H., Die Interessenverbände, in: Geschichte und Staat, Bd. 105, München 1965; Lange, O., Entwicklungstendenzen der modernen Wirtschaft und Gesellschaft, Wien/ Köln/ Stuttgart/ Zürich 1965; Jaeggi, U., Macht und Herrschaft in der Bundesrepub-
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indem man davon ausgehen kann, daß zu den bedeutenden Gruppen „vor allem wirtschaftliche oder durch die Wirtschaft stark bedingte Gruppen gehören“1. Hinsichtlich der internen Machtverteilung innerhalb der Wirtschaftsverbände, das heißt des Teils der Interessengruppen, der für Großunternehmen und Konzerne von besonderer Bedeutung ist, läßt sich sagen, daß die Verbände „ihre Macht aus der ökonomischen Potenz der großen Unternehmen beziehen (...)“2. Bereits diese wenigen Bemerkungen weisen auf die große Bedeutung der personellen und finanziellen Verflechtungen zwischen den Interessengruppen und den Großunternehmen bzw. Konzernen hin. Multinationale Unternehmen und Konzerne Für die Ausübung sozioökonomischer Macht stellen die multinationalen Unternehmen und Konzerne eine qualitativ neue Ebene dar. Dies ergibt sich erstens aus den unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Bedingungen in den einzelnen Ländern, zweitens aus dem Fehlen einer entwickelten supranationalen politischen Instanz und drittens aus dem unterschiedlichen Entwicklungsstand der übernationalen Interessengruppen der beiden Faktoren ,Kapital’ und ,Arbeit’.
5
Kontrollmöglichkeiten der sozioökonomischen Macht
Zur Lösung des sozioökonomischen Machtproblems bedarf es unter Verwendung des demokratischen Legitimationskriteriums in jedem Fall eines ausdrücklich politisch orientierten Regelungssystems. Damit unterscheidet sich dieses System grundlegend von dem Wettbewerbssystem, das in anderen historischen Zeiten und unter anderen Bedingungen bewußt von der politischen Entscheidungsebene getrennt wurde. Im Rahmen der bestehenden volkswirtschaftlichen Steuerungssysteme lassen sich die im ökonomischen und gesellschaftlichen Bereich wirkenden Gestaltungskräfte nur kontrollieren, wenn verschiedene Instrumente gleichzeitig angewendet werden. Fusionskontrolle und Kartellpolitik zur Überprüfung und gegebenenfalls Änderung des Unternehmens- und Konzernverhaltens. Dabei geht es allgemein um die Verhinderung von unerwünschtem bzw. mißbräuchlichem Verhalten, nicht hingegen um das Aufrechterhalten eines (teilweise nur scheinbar) hohen Wettbewerbsstands um seiner selbst willen.
1 2
lik, in: Fischer Bücherei 1014, Frankfurt am Main 1969; Beyme, K. von, Interessengruppen in der Demokratie, München 1969. Jaeggi, U., a.a.O., S. 29. Jaeggi, U., a.a.O., S. 80.
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Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Vermehrte Publizität von Großunternehmen und Konzernen sowie regelmäßige öffentliche Analyse von relevanten Unternehmens- und Konzerndaten. Die bestehenden gesellschaftsrechtlichen Unterschiede der verschiedenen Unternehmens- und Konzernformen sind hierbei aufzuheben. Mitbestimmung am Arbeitsplatz, in den Betrieben, Unternehmen und Konzernen, die sich zur Machtkontrolle innerhalb dieser Organisationen eignet. Mitbestimmung in Kammern bzw. in Räten mit ähnlichen oder erweiterten Funktionen, die sich zur sozioökonomischen Kontrolle der nach außen wirkenden Macht der Großunternehmen und Konzerne eignet. Änderung der Vermögensverteilung durch überbetriebliche Ertragsbeteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen. Zur Sicherung der Umverteilungswirkung kann hierbei die Vermögensverwaltung in kollektiver Form erforderlich werden. Wissenschafts-, Bildungs- und Forschungspolitik. Diese öffentlichen Aufgaben sind sowohl in ihren Zielsetzungen als auch in dem jeweiligen Umfang auf demokratische Weise zu entwickeln. Verstärkter Einsatz öffentlicher und gemeinwirtschaftlicher Unternehmen. Diese können entsprechend ihrer Zielsetzung einen Mißbrauch wirtschaftlicher Macht einschränken bzw. eignen sich zur Erprobung neuer gesellschaftspolitischer Unternehmensverfassungen. Bei dieser Unternehmensform ist besonders darauf zu achten, daß es nicht zu einer direkten Vereinigung von staatlichadministrativer und ökonomischer Macht kommt.
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Beurteilung der Kontrollmaßnahmen
Die Veränderung der Wirksamkeit des Wettbewerbs als volkswirtschaftlichem Lenkungsinstrument führte verstärkt zu dem Problem der sozioökonomischen Macht hin. Hieraus resultierte die Notwendigkeit, diese Macht zu kontrollieren, soll sich der Anspruch auf eine demokratische Organisation der Gesellschaft nicht zu einem reinen Formalismus entwickeln. Die vorstehend erläuterten Ansätze zur Kontrolle der sozioökonomischen Macht führen jedoch nicht zu einem Verfahren, mittels dessen man die Prioritäten von Maßnahmen zur Gestaltung der Gesamtgesellschaft und -wirtschaft festlegen kann. Dadurch bestehen die aufgezeigten Mängel der volkswirtschaftlichen Steuerungssysteme fort, denn die dargestellten Methoden der Machtkontrolle gewährleisten keine offene Diskussion und keine auf einer demokratischen Grundlage stehende politische Entscheidung über die künftigen Alternativen in der ökonomischen Entwicklung. Um dies zu erreichen, wird es notwendig sein, ergänzende volkswirtschaftliche Steuerungssysteme einzubauen und miteinander zu verbinden.
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Das Wettbewerbssystem als Teil eines mehrstufigen Steuerungssystems
Im folgenden werden vier sich gegenseitig ergänzende Steuerungssysteme abgeleitet, die erst als Ganzes die beiden eingangs aufgestellten Kriterien der „ökonomischen Produktivität“ und der „demokratischen Legitimation“ erfüllen können. Dabei liegt der Steuerungsschwerpunkt der beiden ersten Systeme im Bereich der demokratischen Legitimation, während mit den letzten beiden Systemen vor allem die Produktivität gesichert werden soll. Als erstes Steuerungssystem ist eine langfristige Gesellschafts- und Wirtschaftsplanung zu nennen, in der die künftigen Prioritäten festgelegt werden. Da die Ziel-Abstimmung über Alternativen nur auf Grund politischer Interessen möglich ist, können zur Erarbeitung der zugrundeliegenden Planungen und Entscheidungen lokale, regionale bzw. überregionale Wirtschafts- und Sozialräte maßgeblich beteiligt werden. Soll diese Planung mehr als nur eine Diskussionsgrundlage bleiben, so müssen die mit der Plandurchführung betrauten öffentlichen Stellen sowohl ihr bisheriges Instrumentarium systematischer und stärker zur Durchsetzung der politisch als erwünscht angesehenen Ziele einsetzen als auch neue Instrumente entwickeln. Ein weiteres Steuerungssystem liegt in der verstärkten Kooperation der gesellschaftlichen Interessengruppen, vor allem auch, soweit sie unterschiedliche Interessen vertreten. Hierbei lassen sich die Vorstellungen über strukturelle gesellschaftliche Entwicklungen entweder einander annähern oder sie können wegen ihrer unterschiedlichen Ziele offen dargelegt werden. Damit wird deutlich die Notwendigkeit einer politischen Entscheidung aufgezeigt, und es entsteht nicht der Eindruck, daß es sogenannte Sachzwänge sind, die diesen Entscheidungen zugrunde liegen1. Die Einführung von demokratischen Organisationsprinzipien in allen Verbänden sowie deren Aktivität in Wirtschafts- und Sozialräten würde Voraussetzungen schaffen, durch welche die Bevölkerung unmittelbar wesentlich stärkeren Einfluß auf die Formulierung der gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Prioritäten nehmen könnte. Die Konzernbildung und Konzernkooperation ist aus den bereits an früherer Stelle erläuterten Gründen notwendig, damit die unternehmerischen Risiken bei der Entwicklung neuer technischer Verfahren bzw. bei größeren Projekten tragbar gehalten werden sollen. Die gegenwärtig mit dieser Konzernierung verbundenen Nachteile der Machtbildung, die sich aus einer einseitig auf das Unternehmensinteresse bezogenen Anwendung ergeben, sind nach der hier vertretenen Ansicht vermeidbar. Hierzu ist es erforderlich, das volkswirtschaftliche Steuerungssystem der Kon1
Vgl. Leminsky, G., Die Gewerkschaften in der Industriegesellschaft, in: WWI-Mitteilungen, Heft 6/ 1969, S. 163 ff.
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zernbildung und Konzernkooperation mit den beiden oben geschilderten Steuerungssystemen zu verbinden sowie die erläuterten Instrumente zur Kontrolle der sozioökonomischen Macht aufzubauen. Als viertes und letztes Steuerungssystem ist das Wettbewerbsprinzip zu nennen, das auf den entsprechend relevanten Märkten eine wesentliche Funktion zu erfüllen hat. Dieses Steuerungssystem wirkt in vielfältiger Weise, wobei der Preiswettbewerb lediglich eine und häufig nicht die dominierende Form darstellt. Verbindet man dieses volkswirtschaftliche Steuerungssystem mit den bereits geschilderten drei anderen Systemen, so bestehen gute Voraussetzungen, daß sich die Nachteile, welche das Wettbewerbssystem augenblicklich selbst bei der Lösung der Produktivitätsfragen aufweist, vermeiden lassen.
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Zuordnung der Steuerungssysteme
Die Steuerungssysteme, von denen jeweils zwei schwerpunktmäßig zur Erfüllung des demokratischen Legitimationskriteriums bzw. des Produktivitätskriteriums entwickelt wurden (Langfristplanung, Verbändekooperation bzw. Konzernbildung und Konzernkooperation, Wettbewerb), stehen in folgender Beziehung zueinander: Durch Verbändekooperation und Wettbewerb verbleibt den Beteiligten ein relativ hohes Maß an Autonomie, denn es wird ein Teil der sozioökonomischen Macht bereits innerhalb der einzelnen Steuerungssysteme neutralisiert. Demgegenüber enthalten die Gesellschafts- und Wirtschaftsplanung sowie die Konzernbildung und Konzernkooperation als volkswirtschaftliche Steuerungssysteme einen hohen Grad sozioökonomischer Macht. Diese Bedingungen lassen sich reduzieren, weil sowohl im Bereich der vorwiegend ökonomischen Strukturen (Konzernbildung und Kooperation) als auch im Bereich der vorwiegend politischen Strukturen (Gesellschafts- und Wirtschaftsplanung) sehr komplexe und wirkungsvolle Entscheidungsebenen entstehen. In diesen Ebenen werden Entscheidungen vorbereitet und/oder getroffen, die sowohl von der Zuständigkeit als auch von der quantitativen Bedeutung her häufig keine alternativen und eigenständigen Entwicklungen mehr gestatten. Die Konzernbildung und Konzernkooperation bedingt aus folgenden Gründen den Ausbau der gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Planung: Die aus technischen und ökonomischen Gründen notwendige Auswahl zwischen verschiedenen Entwicklungslinien hat entsprechend einem demokratisch-politischen Entscheidungsprozeß zu erfolgen, weil sich gerade in dieser Auswahl eine wesentliche Erscheinungsform der sozioökonomischen Macht zeigt.
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Fusionskontrolle und Kartellpolitik im Rahmen des Konzeptes der volkswirtschaftlichen Steuerungssysteme
Aus aktuellem Anlaß sollen im folgenden einige Schlußfolgerungen der vorgetragenen Konzeption für das erste Instrument zur Kontrolle sozioökonomischer Macht abgeleitet werden, das die Fusionskontrolle und Kartellpolitik zum Inhalt hat. Es konnte gezeigt werden, daß der Wettbewerb auch unter den gegenwärtigen Bedingungen in der Industriegesellschaft unbestrittene Vorzüge besitzt. Daneben bestehen jedoch in verschiedenen Bereichen Probleme, zu deren Lösung sich selbst ein in seiner Wirksamkeit gesicherter Wettbewerb als ungeeignet erweist. Es handelt sich dabei vor allem um unabdingbare ökonomische Voraussetzungen für eine auch inhaltlich demokratische Gesellschaftsentwicklung. Gleichzeitig ließen sich selbst im unmittelbaren ökonomischen Bereich Entwicklungs-, Produktions- und Investitionsaufgaben ermitteln, die sich nur über eine verstärkte Konzentration und Kooperation lösen lassen. Hierbei ist davon auszugehen, daß es sich im Bereich des Wachstums und der Größe von Unternehmen „tendenziell um notwendige Vorgänge in einer hochindustrialisierten Wirtschaft“1 handelt. Ohne politische Gegenmaßnahmen würden diese Tendenzen zu einer verstärkten sozioökonomischen Machtbildung innerhalb der bestehenden Herrschaftsverhältnisse führen. Dies ist und kann weder im Interesse einer demokratischen Gesellschaftsentwicklung im Allgemeinen liegen noch kann es aus der gewerkschaftlichen Interessenlage im Besonderen hingenommen werden2. Ein Ansatzpunkt unter mehreren, diese Tendenz zu verhindern, liegt in der Fusionskontrolle, die sich nach den vorangegangenen Überlegungen logischerweise auf Großunternehmen und Konzerne beschränken kann. Es erscheint gerade unter Berücksichtigung des Machtproblems unerläßlich, diese Fusionskontrolle präventiv zu gestalten. Der Kartellpolitik fallen im Wesentlichen zwei Aufgaben zu. Erstens ist eine Mißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen und Konzerne zu 1
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Leminsky, G., Ordnungspolitische Probleme der Konzentration, in: WWI-Mitteilungen, Heft 11/ 1964, S. 260. Vgl. zur gewerkschaftlichen Interessenlage Brenner, O., Kooperation aus gewerkschaftlicher Sicht. Referat zum Rationalisierungskongress 1967 am 21. 6. 1967 in Bad Godesberg, o. J. (1967), S. 8 ff., 14-25; Leminsky, G., Ordnungsprobleme, a.a.O., S. 255 ff; Leminsky, G., Gewerkschaften in der Industriegesellschaft, a.a.O., S. 164 ff; Neemann, G., Kontrolle vor der Fusion, in: Welt der Arbeit, Nr. 16 vom 17. 4. 1970; Rosenberg, L., Bändigung der Macht, in: Neue Rhein Zeitung, Nr. 20 vom 26. 7. 1964; Sohn, K. H., Konzentrierte Wirtschaftsmacht gefährdet die Demokratie, in: Welt der Arbeit, Nr. 33 vom 14.8.1964; Strzelewicz, W., Autoritätsstrukturen und industrielle Organisation, in: Oertzen, P. von (Hrsg.), Festschrift für Otto Brenner zum 60. Geburtstag, Frankfurt am Main 1967, S. 283-301; Vetter, H. O., Die Bedeutung des DGB-Grundsatzprogramms für die Politik der deutschen Gewerkschaftsbewegung, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Heft 6/ 1970, S. 330 ff., hier bes. 337.
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Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
ermöglichen, das heißt über ökonomische Organisationen, bei welchen auf Grund quantitativer Merkmale in besonderem Maße sozioökonomische Macht vorliegt. Zweitens müssen die Voraussetzungen zur Überwachung des Verhaltens der Marktteilnehmer gegeben sein, um zu verhindern, daß Unternehmen und Konzerne außerhalb der marktbeherrschenden Zone ihre vorhandene Macht mißbräuchlich in ökonomischen und gesellschaftlichen Bereichen einsetzen. Das Instrument der Fusionskontrolle und Kartellpolitik unterliegt in seiner Erfolgsmöglichkeit jedoch denselben einschränkenden Bedingungen wie das System des Wettbewerbs insgesamt. Daher wurde versucht zu zeigen, daß nur durch den Einsatz mehrerer sich ergänzender Instrumente das Problem der sozioökonomischen Macht auf gleichermaßen demokratische wie ökonomisch effiziente Weise gelöst werden kann. Ein zu starkes Abstellen auf das Instrument der Fusionskontrolle und Kartellpolitik würde unter den erläuterten Bedingungen im Falle des Gelingens – woran ernsthaft zu zweifeln ist – zu einem Grad an Wettbewerb führen, der aus gesamtgesellschaftlichen Überlegungen heraus nicht wünschbar sein kann. Das hieraus folgende „eingeschränkte Engagement“ zur Aktivierung des Steuerungssystems ,Wettbewerb’ führt konsequent zu dem Ergebnis, daß der Wettbewerb zwingend durch weitere volkswirtschaftliche Steuerungssysteme zu ergänzen ist. Erst aus einer Verbindung dieser Teilsysteme kann sich das aus politischen Motiven bestimmte Ergebnis einer ökonomisch und gesellschaftlich verwirklichten Demokratie ergeben. Allein diese Bedingungen erscheinen geeignet, die Antinomie zwischen ökonomischer Konzentration und demokratischer Gesellschaft zu überwinden.
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A.3 Konzentration in der Bundesrepublik Deutschland*
1
Einleitung: Ziel, Methode, Begriffsbestimmung
In der gesellschaftspolitischen Diskussion der Gegenwart über Probleme der Konzentration steht die Auseinandersetzung um die Vermögenskonzentration im Mittelpunkt, wobei es insbesondere um die Lösungsmöglichkeiten zu ihrer Abschwächung geht. Diese zentrale Form der Konzentration ist in ihrer Bedeutung aber erst voll abzuschätzen, wenn man sie in eine umfassende Betrachtung von Konzentrationsvermögen in Wirtschaft und Gesellschaft einbezieht. Es dürfte niemanden überraschen, wenn sich in einer Gesellschaft, in der zwischen den verschiedenen Bereichen von Ökonomie, Politik, Sozialisation und Information sehr enge Beziehungen bestehen, die Entwicklung der Grundstrukturen gleichgerichtet vollzieht. Im folgenden geht es gerade um das Aufzeigen dieser Gemeinsamkeiten, und zwar im Hinblick auf die Konzentration. Erst hierdurch lassen sich die politischen Wirkungen der Konzentration aufzeigen, denn Konzentration ist eine der ökonomischen Voraussetzungen von Macht, und zwar sowohl von wirtschaftlicher als auch von politischer Macht. Bevor die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Formen der Konzentration empirisch dargestellt werden können, erscheint es notwendig, diese Beziehungen kurz theoretisch zu beleuchten. Dabei geht es insbesondere um die Verteilung der mit wirtschaftlichem Handeln verbundenen Rechte zwischen den hinter dem Kapitaleinsatz einerseits und den hinter dem Einsatz von Arbeit andererseits stehenden Gruppen. Die Grundstrukturen in unserem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem lassen sich durch folgende Merkmale beschreiben, die Ausdruck der noch immer kapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft sind: 1. Legitimation des wirtschaftlichen Handelns in den Unternehmen durch den Faktor Kapital. 2. Zurechnung des Wertzuwachses einer Periode bei den Eigentümern des Faktors Kapital. 3. Abstimmung der einzelwirtschaftlichen Planungen über autonome Unternehmen, und zwar entweder über Marktprozesse oder über verschiedene Formen der Kooperation. 4. Staatliche Politik, um für das Wirtschaftssystem erstens die Rahmenbedingungen im Rechts-, Wirtschafts- und Sozialbereich zu setzen, zweitens über Globalsteuerung den Wirtschaftsablauf in den Makrostrukturen zu stabilisieren und drittens bestimmte Infrastrukturen bereitzustellen, die sich auf nicht-marktgängige Güter und Dienstleistungen beziehen. *
in: Das Nein zur Vermögenspolitik, hrsg. v. Pitz, K. H., Reinbek 1974, S. 68-106.
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Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Die Abstimmung zwischen einzelwirtschaftlichem und staatlichem Handeln erfolgt sowohl von Kapitalseite als auch von Arbeitsseite aus besonders durch ein System von Organisationen, die im kommunalen und regionalen Bereich sowie auf Landes- und Bundesebene (und zunehmend auch im europäischen Rahmen) aktiv sind. Aus diesem kurzen Aufriß wesentlicher struktureller Zusammenhänge in unserer Gesellschaft lassen sich für die hier interessierende Fragestellung nach der Konzentration folgende Untersuchungsbereiche herausgreifen: 1.
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Konzentration der Produktion auf Betriebs-, Unternehmens- und Konzernebene, um u.a. das Ausmaß an Autonomie der Unternehmen zu erfassen. Dabei geht es um die Konzentration von Umsätzen und Beschäftigten nach Größenklassen. Konzentration der Verfügungsmacht in den Unternehmensleitungen, um zu erfassen, in welcher Form die Legitimation des wirtschaftlichen Handelns durch den Faktor Kapital stattfindet. Konzentration von Produktivvermögen und Einkommen, die weitgehend als Ausdruck der Aneignung des Wertzuwachses durch den Faktor Kapital anzusehen sind. Konzentration der Einflußmöglichkeiten auf die staatliche Willensbildung und das staatliche Handeln, die als Ausdruck der gesellschaftlichen Machtstruktur gelten können.
Es soll im folgenden kein Überblick über die Lehrmeinungen zu den verschiedenen Formen der Konzentration gegeben werden. Hierfür eignen sich andere Veröffentlichungen, die in den letzten Jahren erschienen sind, weit besser.1 Vielmehr geht es in diesem Beitrag vor allem darum, die verschiedenen Konzentrationsformen für die BRD jeweils durch einige wesentliche Zahlen zu beschreiben, wobei der Zeitraum zwischen 1960 und 1970 gewählt wird, jedoch auch – soweit vorhanden bzw. im Rahmen dieser Übersicht vertretbar – Angaben über Konzentrationsverhältnisse vor 1960 gemacht werden sollen. Da jedoch das empirische Material zum Teil nur sehr lückenhaft vorliegt, darf der Leser nicht erwarten, für alle untersuchten Bereiche zeitlich voll aufeinander abgestimmte Zahlen zu erhalten. Soweit Zahlen für 1968 veröffentlicht werden, wird damit meist dem Wechsel im Umsatzsteuersystem Rechnung getragen, weil nach der Einführung der Mehrwertsteuer erstmals 1968 die Umsatzzahlen ohne Steueranteile veröffentlicht wurden. 1
Vgl. hierzu insbesondere: Arndt, H. (Hrsg.), Die Konzentration in der Wirtschaft, 2. Aufl., 2 Bde, Berlin 1971 sowie die Bibliographie: Konzentration und Konzentrationspolitik 1960-1966, bearb. v. Huffschmid, J./ Michaelis, J./ Plan, W.-R., Berlin 1967. Weiterhin: Lenel, H.-O. Ursachen der Konzentration, 2. Aufl., Tübingen 1968.
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
47
Internationale Daten zur Konzentration werden nur in Form eines ergänzenden Beitrags aufgenommen, wobei sich diese lediglich auf einige Angaben zur Produktionskonzentration und Konzentration im Bankenbereich beziehen. Es ist nicht beabsichtigt, ein auch nur annähernd geschlossenes Bild der internationalen Konzentration vorzulegen. Dabei wird unter „international“ die Verflechtung der Unternehmen der BRD mit ausländischen Unternehmen verstanden. Nach der empirischen Darstellung geht es in einem weiteren Punkt darum, die vorgefundenen Strukturen zu bewerten, und zwar vor allem hinsichtlich der Wirkungen auf das Gesellschaftssystem. Dies soll an Hand des Begriffs der Macht bzw. enger, der sozioökonomischen Macht geschehen. Damit werden im folgenden die beiden Begriffe „Konzentration“ und „Macht“ von zentraler Bedeutung sein. Sie sollen daher zunächst näher bestimmt werden. Als Konzentration werden Ballungen im ökonomischen Bereich bezeichnet. „Ballungen können sich in verschiedenen ökonomischen Bereichen vollziehen. Nicht nur bei Betrieben oder Unternehmen, sondern auch bei Einkommen, Vermögen, Verfügungsmacht und Standorten können Konzentrationen auftreten, die verschiedenartige Erscheinungsformen aufweisen. Im entsprechenden Umfange lassen sich spezielle Konzentrationsbegriffe bilden.“1
Mit diesen Ballungen verbinden sich nun in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft Einflußmöglichkeiten bzw. Möglichkeiten, bestimmte Ziele durchzusetzen. Diese Möglichkeiten sollen als Macht bezeichnet werden, die gekennzeichnet ist durch die Tatsache, „soziale Prozesse im Sinne eigener Zielsetzungen zu beeinflussen, gleichgültig, auf welchen Bereich sich diese Möglichkeit erstreckt und in welchem Maße sie vorhanden ist“2. Die Art der Beziehungen zwischen Konzentration und Macht hängt im wesentlichen von dem Maß an demokratischer Willensbildung und Kontrolle in Wirtschaft und Gesellschaft ab. Nimmt die Konzentration in ihren verschiedenen Formen zu, während sich nichts oder nur wenig im Hinblick auf die Machtkontrolle ändert, so muß dies zu wesentlichen Verzerrungen in den sozialen Beziehungen führen, wobei die von der Konzentration begünstigten Personen bzw. Gruppen ihre gesellschaftliche Macht ausdehnen können. „Je größer die Konzentration wirtschaftlicher Macht in Privathand wird, desto schwieriger dürfte es dem Staat werden, eine auf das Gesamtinteresse zielende Politik zu verfolgen.“3 Damit ist der Zusammenhang zwischen Konzentrationsvorgängen und wirtschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Strukturen aufgezeigt. 1
2
3
Vgl. Arndt, H./ Ollenburg, G., Begriff und Arten der Konzentration. In: Die Konzentration in der Wirtschaft, 1. Bd., a.a.O., S. 8. Albert, H., Marktsoziologie und Entscheidungslogik, Neuwied 1967, S.448; Vgl. auch Russell, B., Macht. Eine sozialkritische Studie, Zürich 1947. Vgl. Grosser, D., Einführung zu: Konzentration ohne Kontrolle, hrsg. v. Grosser, D., Köln und Opladen 1969, S. 19.
48 2
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Ökonomische Konzentration von Produktion, Verfügungsmacht und Einkommen
2.1 Konzentration im Bereich der Produktion Die empirische Erfassung der Produktionskonzentration läßt sich in statistischer Hinsicht nach verschiedenen Gesichtspunkten darstellen, wobei hier folgende Hauptkriterien ausgewählt werden: Erstens wird die Produktion nach der Art der wirtschaftlichen Einheit, in der sie stattfindet, gemessen. Hierbei lassen sich Angaben für Betriebe, Unternehmen und Konzerne unterscheiden. Zweitens werden als Erhebungsmerkmale der Umsatz und die Zahl der Beschäftigten nach Größenklasse erfaßt. Drittens sollen die genannten Zahlen bzw. Zahlenkombinationen für verschiedene, ausgewählte Jahre angegeben werden, um den Entwicklungsverlauf zu erkennen. Dabei werden – soweit es das statistische Material zuläßt – die Jahre 1960 und 1970 gegenübergestellt. Darüber hinaus wird in bestimmten Fällen versucht, ein weiter zurückliegendes Jahr mit zu erfassen. Viertens erfolgt eine Darstellung der Produktionskonzentration nach unterschiedlichen Wirtschaftszweigen. Dabei geht es um die Vermittlung eines möglichst umfassenden Überblicks über die Konzentrationsverhältnisse sowohl in ausgewählten Wirtschaftssektoren als auch in der Gesamtwirtschaft. Fünftens werden auf Grund ihrer Bedeutung folgende Wirtschaftssektoren gesondert untersucht: Industrie/ Handel, hier: Einzelhandel/ Kreditwirtschaft/ Versicherungswirtschaft/ Pressewesen. Die Bedeutung der Industrie ergibt sich unter anderem aus der Tatsache, daß hier fast 45 % des Bruttoinlandsprodukts erzeugt wird, das 1970 insgesamt etwa 687 Mrd. DM betrug und knapp ein Drittel aller Erwerbstätigen beschäftigt sind, deren Gesamtzahl sich 1970 auf 27,2 Mio. belief. Bezieht man die Energiewirtschaft und den Bergbau mit ein, so erhöht sich dieser Anteil auf rd. 50 %. Der Handel hat für die Verteilung der Produkte sowie für die Preisbildung im Lebenshaltungsbereich eine zentrale Bedeutung. Sein Anteil an der Wertschöpfung betrug 1970 knapp 6 %. Die Wirtschaftsbereiche ,,Kreditwirtschaft und Versicherungswirtschaft“ waren 1970 mit 2,7 % an der Entstehung des Bruttoinlandsprodukts beteiligt. Bei diesen Bereichen liegt die ökonomische Bedeutung weit über den aus den reinen Wertschöpfungsbeiträgen erkennbaren Zahlen, denn hier fallen wesentliche Entscheidungen über die Kreditlenkung und Finanzierung der Investitionen für die Gesamtwirtschaft. Der Wirtschaftsbereich „Pressewesen“, auf den unter Einbeziehung der Wertschöpfungsbeiträge aus den Bereichen Wissenschaft, Bildung und Kunst im Jahr 1970 nur ein Anteil von rd. 1 % an dem Bruttoinlandsprodukt entfiel, ist in anderer Hinsicht von zentraler Bedeutung: Hier geht es vornehmlich um die Art
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
49
der Willensbildung bzw. um die Sicherung der Meinungsfreiheit in der Gesellschaft.
2.1.1 Konzentration in der Industrie Betriebsebene Die hier ermittelten Ergebnisse stellen gewissermaßen die unterste Ebene für die Erfassung der Konzentrationsverhältnisse dar, da der „Betrieb“ die kleinste technisch-organisatorische Einheit zur Herstellung bestimmter Produkte ist.1 Eine detaillierte Statistik nach verschiedenen, hier interessierenden Merkmalen liegt nur für den Bereich der Industrie vor. Tabelle 1 enthält eine Übersicht über die auf Betriebsebene vorhandene Konzentration nach der Zahl der Betriebe und Beschäftigten sowie der Höhe des Umsatzes, und zwar bezogen auf die Betriebsgröße (gemessen in der Anzahl der Beschäftigten). Dabei wurden die Angaben für den Monat September (nur für diesen Monat werden jeweils entsprechend aufbereitete amtliche Zahlen veröffentlicht) aus den Jahren 1952, 1960, 1968 und 1970 zusammengestellt. Ein Vergleich der Ergebnisse in den Jahren 1960 und 1970 zeigt für alle Betriebe mit 500 und mehr Beschäftigten keine nennenswerten Veränderungen der Anteile von Betrieben, Beschäftigten und Umsatz (vgl. Tabelle 1). So arbeiteten 1960 in 2,9 % der Betriebe (2680) 53 % der Beschäftigten in der Industrie (4,26 Mio.), die 56,5% des industriellen Umsatzes im September (rd. 13,5 Mrd. DM) erzeugten. Im Jahre 1970 waren in 3,0 % der Betriebe (2979) 53,4 % der Beschäftigten in der Industrie tätig (4,76 Mio.), die 55,8 % des industriellen Umsatzes erzeugten (rd. 27,3 Mrd. DM). Unternehmensebene Als Unternehmen werden die rechtlichen Institutionen erfaßt, die den Betrieben übergeordnet sind. Ein Unternehmen ist als kleinste rechtliche Einheit definiert, für die eine Buchführung und ein Geschäftsabschluß vorliegen.2 Für den Unternehmensbereich liegen Veröffentlichungen im Rahmen der Industriestatistik erst seit 1963 vor, wobei in Tabelle 2 wegen der Vergleichbarkeit das Jahr 1964 ausgewählt wurde. Ein Blick auf die Besetzung der Größenklassen ab 500 Beschäftigte zeigt, daß in den Jahren 1964–1970 die Anteile der Unternehmen und Beschäftigten gestiegen sind. 1
2
Zur Begriffsbestimmung vgl. Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1970, S. 180. Vgl. Statistisches Bundesamt: Fachserie D, Industrie und Handwerk, Reihe 1 II, 1970, S. 5.
50
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Ähnliche Ergebnisse lassen sich aus Tabelle 3 ablesen, in der die Zahlen der Industriestatistik nach Umsatzgrößenklassen ausgewertet sind. Insbesondere in der Größenklasse ab 250 Mio. DM Jahresumsatz ist eine starke Zunahme des Umsatzanteils festzustellen, und zwar von knapp 34 % 1964 auf 42 % 1970. Eine längere zeitliche Vergleichbarkeit für den Unternehmensbereich liefern die Ergebnisse der Umsatzsteuerstatistik, doch werden hierbei keine Angaben über die Beschäftigten veröffentlicht (vgl. Tabelle 4). Bezogen auf den industriellen Umsatz stieg in dem Zeitraum von 1960 bis 1970 der Anteil der Steuerpflichtigen mit einem Umsatz ab 100 Mio. DM von 0,4 % auf 0,9 % und der Umsatzanteil von knapp 45 % auf über 55 %. 1960 handelte es sich dabei um 318 Steuerpflichtige, während es 1970 bereits 681 waren. Ebene der Unternehmensverbindungen bzw. Konzerne Eine weitere Verdichtung wirtschaftlicher Entscheidungen ergibt sich, wenn nicht die rechtlich selbständigen Unternehmen, sondern die finanziellen und organisatorischen Leitungszentren von Einzelwirtschaften betrachtet werden. In der Großwirtschaft ist dabei festzustellen, daß mehrere rechtlich selbständige Unternehmen in einem Konzern bzw. in einer Unternehmensverbindung zusammengeschlossen sind. Die jeweils 100 größten Unternehmensverbindungen der Industrie erhöhten ihren Umsatzanteil, gemessen am gesamten industriellen Umsatz in den Jahren zwischen 1954 und 1970 von knapp 34 % auf fast 56 % (vgl. Tabelle 5).
0,9 1 998
1,1 682
3,6 1 010
100,0
34,3
11,7
17,3
11,5
9,9
12,4
2,9
%
40 547
abs.
9 499
35,3 1 172
12,8 1 508
18,5 4 521
10,8 6 166
8,9
11,0 29 067
2,7
%
in 1000
1,3
1,6
4,9
6,7
10,7
8,3
8,8
1,9
3 224 40,1
1 037 12,9
1 391 17,3
862
10,3 667
31,4 711
%
Beschäftigte
43,8 155
%
Betriebe
1,9
%
%
6 567
9 984 41,9 1 152
3 486 14,6 1 561 1,2
1,6
4,7
6,6
10 050 10,1
32 183 32,3 2 800
3 185
705
Mill. DM
42 918
abs.
7,5
14,9
18,0
10,1
1 284
1 695
4 964
6 815
10 253
in 1000
955
1,3 3 570
1,7 1 176
5,0 1 535
6,9
10,3 722
31,6 762
40,2
13,2
17,3
10,8
8,1
8,6
1,8
%
Beschäftigte
September 19703
43,2 161
%
Betriebe
8,6 31 384
1,9
%
3 138 38,2 14478 39,0
1 073 13,1 5 532
1 438 17,5 6 685
922 11,2 3 752
705 8,6
772 9,4
163 2,0
in 100 % 0
Beschäftig Umsatz2 te
September 1968
43 298 43,5
abs.
Betriebe
4 045 17,0 4 672
2 293 9,6
1 709 7,2
1 864 7,8
442
Mill. DM
Umsatz
1
23 824 100,0 99 483 100,0 8 210 100,0 37 137 100,0 99 313 100,0 8 882 100,0
September 1960
11085 100,0 92 480 100,0 8 046 100,0
3 918
1 416
2 048
1 199
987
1 221
296
Mill. DM
Umsatz
1
14,9
17,5
9,8
7,2
7,9
1,8
%
48 934 100,0
20 032 40,9
7 293
8 561
4 780
3 502
3 869
897
Mill. DM
Umsatz3
Quelle: Sieber, G., Betriebskonzentration, Unternehmenskonzentration und Konzernierung, Köln 1962, S. 60. WWI-Mitteilungen Nr. 8-9/197 I, S. 237. Statistisches Bundesamt: Fachserie D, Reihe 1.I.
2
Einseht, Umsatzsteuer Ohne Mehrwertsteuer 3 Zahlen für Sept. 1971 liegen vor, doch werden wegen der Vergleichbarkeit mit den Zahlen für Unternehmen die Ergebnisse von 1970 genommen. 4 Abweichungen ergeben sich aus Rundungen.
1
579
667
91 427 100,0 5 830
792
1000 und mehr
Insgesamt4
3 300
990
4 777
500-999
9,0
8 254
50- 99
100-199
200-499
34,1 724
31 129
5,2
46,1 171
42 185
1- 9
10- 49
in 1000
%
abs.
(Anzahl der Beschäftigte n)
Beschäftigte
Betriebe
September 1952
Betriebsgröß e
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
51
Tabelle 1: Betriebe, Beschäftigte und Umsatz in der Industrie nach Beschäftigtengrößenklassen
1 304
1 061
500-999
1 000 und mehr
50,3
10,7
14,7
9,4
8 325 100,0
4 184
888
222
785
7,2
7,7
%
Umsatz
licht
veröffent-
nicht
Mrd. DM
Unternehmen mit 10 und mehr Beschäftigten Ohne Mehrwertsteuer Abweichungen ergeben sich aus Rundungen
47 946 100,0
2,2
11,9
600
646
in 1000
Beschäftigte
Quelle: Statistisches Bundesamt: Fachserie D, Reihe 1,II.
3
2
1
2,7
4 026
200-499
Insgesamt3
8,4
5 704
100-199
18,2
8 721
50- 99
56,6
%
27 130
abs.
Unternehmen1
10- 49
Unternehmensgröße (Anzahl der Beschäftigten)
1964
%
2,3
2,9
8,8
12,1
18,4
55,5
%
45 222 100,0
1 030
1 295
3 964
5 479
8 309
25 125
abs.
Unternehmen1
49,9
10,9
15,1
9,4
7,1
7,6
%
240,18
44,70
62,21
37,35
27,35
30,05
Mrd. DM
8,4
6,2
6,8
%
100,0
54,4
10,1
14,1
Umsatz2
8 148 100,0 441,84
4 063
886
1 227
770
583
619
in 1000
Beschäftigte
1968
%
2,5
3,1
9,4
44 864 100,0
1 127
1 374
4 209
5 580 12,4
8 180 18,2
24 394 54,4
abs.
Unternehmen1
52,4
10,7
14,8
8,8
6,5
6,9
%
8 848 100,0
4 633
943
1 306
781
576
608
in 1000
Beschäftigte
1970
582,29
324,56
59,60
81,48
46,40
33.53
36,73
Mrd. DM
100,0
55,7
10,2
14,0
8.0
5,8
6,3
%
Umsatz2
52 Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Tabelle 2: Unternehmen, Beschäftigte und Umsatz in der Industrie nach Beschäftigtengrößenklassen
153
47 946
250 und mehr
Insqesamt4
19,9
100,0
0,3
0,6
1,0
9,3
20,4
%
licht
fent-
veröf-
nicht
1000
Beschäftigte
1964
372 881
126 164
42 383
34 157
36 662
47 282
31 406
31 142
13 635
10 050
195
321
581
1 253
3 565
4 808
9 708
9 126
15 665
Anzahl
100,0
0,4
0,7
1,3
2,8
7,9
10,6
21,5
20,2
34,6
%
1
Unternehmen
100,0 45 222
33,8
11,4
9,2
9,8
12,7
8,4
8,4
3,7
2,7
%
2
Quelle: Statistisches Bundesamt: Fachserie D, Reihe 1, II.
2
Umsatz Mill. DM
Unternehmen mit 10 und mehr Beschäftigten Einschl. Umsatzsteuer 3 Ohne Mehrwertsteuer 4 Abweichungen ergeben sich aus Rundungen
1
278
100-250
2,2
1 058
3 092
10- 25
496
4 467
5- 10
25- 50
9 803
50-100
6,4
9 557
1- 2
2- 5
39,7
19 042
bis unter 1
%
Anzahl
Unternehmen
bis unter.. . Mill. DM
Umsatzgrößenklassen von . . .
1
29,4
10,2
8,8
10,1
14,1
9,3
9,4
4,6
4,1
%
1 148 100,0
2394
833
715
825
1144
759
766
377
336
1000
Beschäftigte
1968
38,3
10,9
9,0
9,9
12,3
7,6
7,0
3,0
2,0
%
441 838 100,0
169 284
48 237
39 770
43 661
54 554
33 572
30 973
13 081
8 705
Mill. DM
Umsatz
3
44 864
254
428
839
1 618
4 401
5 517
10 599
9 149
12 059
Anzahl
1970
8,2
7,9
3,6
2,7
%
2 976
938
867
882
100,0
33,6
10,6
9,8
10,0
1 197 13,5
725
702
320
242
1000
Beschäftigte
100,0 8 848
0,6
1,0
1,9
3,6
9,8
12,3
23,6
20,4
26,9
%
Unternehmen
1
42,0
11,0
9,7
9,6
11,7
6,7
5,9
2,3
1,2
%
582 290 100,0
244 701
64 042
56 560
55 690
68 107
38 802
34 112
13 192
7 082
Mill. DM
Umsatz3
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
53
Tabelle 3: Unternehmen, Beschäftigte und Umsatz in der Industrie nach Umsatzgrößenklassen
100,0
30,1
100,0
0,4
1,3
Mrd.DM
308 846
137 136
49 784
104 968
16 958
%
100,0
44,4
16,1
34,0
5,5
43
402
1 757
29 354
48 958
Anzahl
%
100,0
0,0
0,0
0,5
2,2
36,4
60,8
484,1
141,2
30,4
81,7
80,5
135,8
14,6
Mrd.DM
61
63
557
2 417
33 940
44 305
Anzahl
%
100,0
0,1
0,1
0,7
3,0
41,7
54,5
Steuerpfl.
100,0 81 343
29,2
6,3
16,9
16,6
28,1
3,0
%
Steuerbarer Umsatz4
1968
Quelle: Statistisches Bundesamt: Ergebnisse der Statistik über die Umsatzsteuer-Veranlagung für 1950 bzw. Fachserie L. Reihe 7 für die übrigen Jahre.
2
Für 1950 (1960) wurden ab 25 (100) Mill. DM keine Untergliederungen veröffentlicht, Steuerpflichtige mit Umsatz ab 10 000 DM 3 Einschl. Umsatzsteuer 4 Ohne Mehrwertsteuer 5 Abweichungen ergeben sich aus Rundungen
1
84816
318
1 092
25 531
% 68,2
Steuerpfl.
80 561
91 031
40,3
Anzahl 57 875
Steuerbarer Umsatz3
1960
Insgesamt5
100,0
36 715
44,0
15,7
Steuerpfl.2
47
86 018
0,5
40 040
14 276
%
Steuerbarer Umsatz3
Mrd.DM
1950
1 Mrd, und mehr
500 Mill,-l Mrd,
100 MlI,-5OO Mill,
446
13,4
25 Mill,-100 Mill,
1 Mill,- 25 Mill, 11 486
%
86,1
74 086
Anzahl
unter DM
12 000- 1 Mill,
Steuerpfl.2
Umsatzgrößenklassen von , ,, bis
651,2
204,3
42,9
113,7
110,5
165,8
14,0
100,0
31,4
6,6
17,5
17,0
25,5
2,2
%
Steuerbarer Umsatz4 Mrd.DM
1970
54 Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Tabelle 4: Umsatzsteuerpflichtige und steuerbare Umsätze in der Industrie nach Umsatzgrößenklassen1
55
A Planung, Wettbewerb, Konzentration Tabelle 5: Die Umsätze der 100 größten Unternehmensverbindungen der Industrie 1954 Industriebereich Gesamte Industrie1 darunter: die 100 größten Unternehmensverbindungen 2,3
1 2 3
Mrd. % DM 144,8 100,0 48,6
33,6
1960 Mrd. % DM 266,4 100,0 103,3
38,8
1970 Mrd. % DM 528,9 100,0 294,9
55,8
Umsatz nach Angaben der Industrieberichterstattung (ohne Bauwirtschaft) Für 1954 und 1960: Über 50 % Kapitalbeteiligung Für 1970: 50 % und mehr Kapitalbeteiligung. Umsätze einschließlich Exporten und Eigenleistungen ausländischer Beteiligungen.
Quelle: Konzentrationsbericht v. 5. 6. 1964 sowie Anlagenband zum Konzentrationsbericht v. 9. 10. 1964, veröffentl. in: Bundestags-Drucksache IV/2320; Die Zeit, Nr. 29 v. 16. 7. 1971; Statistisches Jahrbuch für die BRD 1972.
Vergleichende Auswertung der Tabellen 1 bis 5 für 1970 Nach dieser „Längsschnittbetrachtung“ sollen nun noch kurz verschiedene Ergebnisse des Jahres 1970 dargestellt werden. Dabei geht es insbesondere darum nachzuweisen, in welchem Maß die Produktionskonzentration von der untersten Ebene des Betriebes über die Ebene des Unternehmens bis hin zur obersten Ebene der Unternehmensverbindung bzw. des Konzerns zunimmt. Untersucht man die vorliegenden Zahlenangaben für das Jahr 1970 in dieser Hinsicht, so lassen sich folgende interessante Strukturen erkennen. Jeweils rd. 55 % des Umsatzes wurden erzielt - von 2979 Betrieben (500 Beschäftigte und mehr); - von 1127 Unternehmen (1000 Beschäftigte und mehr); - von 681 Umsatzsteuerpflichtigen (100 Mio. DM Jahresumsatz und mehr); - von 100 Unternehmensverbindungen/Konzernen (624 Mio. DM Jahresumsatz und mehr). Geht man von Umsatzanteilen um rd. 40 % des Industrieumsatzes aus, so ergeben sich folgende Konzentrationsverdichtungen: - auf Betriebsebene: 1284 Betriebe (1000 Beschäftigte und mehr); - auf Unternehmensebene: 254 Unternehmen (250 Mio. DM Umsatz und mehr); - auf der Ebene der Unternehmensverbindungen/Konzerne: 50 Großunternehmen (1600 Mio. DM Umsatz und mehr).
56
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
2.1.2 Konzentration im Handel Die wirtschaftliche Konzentration im Handel läßt sich in aussagefähiger Form an Hand der Verteilung der Umsätze nach Umsatzgrößenklassen vornehmen. Dabei wird hier der Einzelhandel ausgewählt, doch sei zumindest erwähnt, daß die Konzentration im Großhandel noch stärker ist. Für den Einzelhandel werden vergleichende Zahlen für die Jahre 1950, 1960 und 1970 vorgelegt (vgl. Tab. 6).1 In diesem Zeitraum nahm die Zahl der Umsatzsteuerpflichtigen um über 20 % auf rd. 380 000 ab, während der Umsatz um das 5,5fache auf rd. 170 Mrd. DM stieg. Kennzeichen dieses Strukturwandels ist insbesondere die wachsende Bedeutung der großen Unternehmen. So entfielen auf Unternehmen mit einem Umsatz von 10 Mio. DM und mehr: im Jahre 1950 8,4%, im Jahre 1960 knapp 27 % und im Jahre 1970 über 35 %. Diese Umsätze wurden mit einem verschwindenden Anteil der Unternehmungen erzielt, und zwar für 1960 mit 0,1 % und 1970 mit 0,3 %. Nähere Einzelheiten sind der Tabelle 6 zu entnehmen. Abschließend soll darauf hingewiesen werden, daß in dieser Übersicht die kapitalmäßigen Verflechtungen zwischen Einzelhandelsunternehmen auf Konzernebene nur sehr unvollständig zum Ausdruck kommen. Die Konzentration auf Konzernebene dürfte somit über den hier angegebenen Zahlen liegen.
2.1.3 Konzentration in der Kreditwirtschaft Betrachtet man die Struktur der Kreditwirtschaft nach Anzahl und Geschäftsvolumen der Kreditinstitute für die Jahre 1960 und 1970, so ist zunächst die starke Abnahme der Gesamtzahl aller Kreditinstitute hervorzuheben, und zwar von 13259 auf 8549, d.h. um mehr als ein Drittel (vgl. Tab. 7). Dies ist aber insbesondere auf die Veränderung bei der Vielzahl der kleinen Kreditinstitute zurückzuführen, denn im gleichen Zeitraum sank die Zahl der an die Bundesbank berichtenden Institute nur um rd. 5 % von 3792 auf 3601. Gleichzeitig erhöhte sich das gesamte Geschäftsvolumen um das 3,5fache auf fast 820 Mrd. DM im Jahre 1970, wobei das Geschäftsvolumen aller Kreditinstitute nur unwesentlich über diesem Betrag liegen dürfte.
1
Vgl. hierzu: Scheibe-Lange, I., Warenhäuser in der Expansion. Karstadt-Kaufhof–Horten im Spiegel ihrer Bilanzen. (Schriftenreihe der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen, H. 4), Düsseldorf 1972, S. 9-22.
1 628
1 Mill. - 10 Mill.
489 490
0,0
0,3
2,7
10,2
86,8
100,0
%
30 809
2 589
3 665
5 508
7 365
11 682
Mill. DM
Umsatz2
100,0
8,4
11,9
17,9
23,9
37,9
%
440 524
28
373
6 250
43 767
114 618
275 488
Anzahl 62,6
0,0
0,1
1,4
9,9
26,0
100,0
%
Steuerpflichtige
1960
86 065
13 928
8 938
14 401
18 425
17 772
12 601
Mill. DM
Umsatz2
100,0
16,2
10,4
16,7
21,4
20,7
14,6
%
382 482
8
64
980
17 031
91 966
122 159
150 274
Anzahl 39,3
0,0
0,0
0,3
4,5
24,0
31,9
100,0
%
Steuerpflichtige
1970
4,6
9,2
169916 100,0
22 243 13,1
15 619
22 535 13,3
39 659 23,3
42 200 24,8
19 815 11,7
7 846
Mill. DM %
Umsatz3
Statistisches Bundesamt: Ergebnisse der Statistik über die Umsatzsteuerveranlagung für 1950 bzw. Fachserie L, Reihe 7 für die übrigen Jahr.
Für 1950 (1960) wurden ab 10 (100) Mill DM keine Untergliederungen veröffentlicht. Einschl. Umsatzsteuer Ohne Mehrwertsteuer Für 1950 Jahresumsatz ab 10 000 DM; für 1960 Jahresumsatz ab 8 500 DM; für 1970 Jahresumsatz ab 12 000 DM
Insgesamt
1 Mrd. und mehr
100 Mill. - 1 Mrd.
Quelle:
4
3
2
1
12 965
1 Mill.
250 000 -
74
49 986
10 Mill.- 100 Mill.
424 837
- 100 0004
Anzahl
Steuerpflichtige
100 000 - 250 000
klassen von … bis unter … DM
Umsatzgrößen-
1950
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
57
Tabelle 6: Steuerpflichtige und steuerbarer Umsatz im Einzelhandel nach Umsatzgrößenklassen1
13 259
906
3 792
47 25 247
337 (6) 878 (12) 2258 3 473
2,4
100,0
1,2 0,7 6,5
8,9 (0,0) 23,2 (0,0) 59,6 91,6
%
241 133
115 331
233 072
30 287 27 903 9 072
49,5
100,0
13,0 12,0 3,9
61 753 26,5 (28 129) (12,1) 85 043 36,5 (29 012) (12,5) 19 013 8,2 165 809 71,1
Mill. DM
Geschäftsvolumen
8 549
817
3 601
46 17 200
314 (6) 844 (12) 2 180 3 338
absolut
2,2
100,0
1,3 0,5 5,6
8,7 (0,0) 23,4 (0,0) 60,5 92,7
%
391 193
817 861
111 434 68 957 24 599
203 609 (83 565) 314 845 (127 237) 94 417 612 871
Mill. DM
Monatsberichte der Deutschen Bundesbank. – Statistische Beihefte zu den Monatsberichten der Deutschen Bundesbank, Reihe 1. - Konzentrationsbericht vom 5.6. 1964 und Anlagenland vom 9. 10. 1964, veröff. in: Bundestags-Drucksache IV/232.
47,8
100,0
13,6 8,4 3,0
24,9 (10,2) 38,5 (15,6) 11,5 74,9
%
Geschäftsvolumen
Anzahl
%
Anzahl absolut
Unberücksichtigt sind Kreditgenossenschaften, bei denen das Geschäftsvolumen am 31. 12. 1953 unter 0.5 Mill. DM lag (für Dez. 1960) bzw. am 31. 12. 1967 unter 5 Mill. DM lag (für Dez. 1970) Die Berliner Niederlassungen der drei Großbanken, ,,Deutsche Bank“, „Dresdner Bank“, ,,Commerzbank“ zählen als eigene Institute. Genoss. Zentralbanken und Kreditgenossenschaften Hypothekenbanken und öffentlich-rechtliche Grundkreditanstalten Abweichungen ergeben sich aus Rundungen Davon 25 Institute mit weniger als 100 Mill. DM Geschäftsvolumen Davon 9 Institute mit weniger als 100 Mill. DM Geschäftsvolumen
Quelle:
7
6
s
4
3
2
1
nachrichtl.: Alle Kreditinstitute
davon: Großbanken/Girozentralen/ Realkreditinstitute/Kreditinstitute mit Sonderaufgaben
Alle berichtenden Kreditinstitute5
4. Realkreditinstitute4 5. Kreditinstitute mit Sonderaufgaben 6. Sonstige Kreditinstitute
Bankengruppen (nach berichtenden Kreditinstituten1) 1. Kreditbanken (darunter Großbanken)2 2. Sparkassensektor (darunter Girozentralen) 3. Genossenschaftssektor3 Geschäftsbanken (1 + 2 + 3)5
Dezember 1970
Dezember 1960
58 Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Tabelle 7: Anzahl und Geschäftsvolumen der Kreditinstitute
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
59
Das gesamte Bankensystem in der BRD läßt sich nach der Eigentumsstruktur in drei große Bereiche gliedern, und zwar in die privatwirtschaftlichen Kreditbanken, in die öffentlichen Kreditinstitute sowie in die genossenschaftlichen Kreditinstitute. Von der Zahl der Institute her verminderten sich alle Sektoren, wobei sich jedoch die Anteile an der Gesamtzahl der berichtenden Institute nur unwesentlich änderten. Die Zahl der jeweils großen Institute bei Großbanken und Girozentralen blieb unverändert. Zählt man hier die Realkreditinstitute und die Kreditinstitute mit Sonderaufgaben hinzu und mißt deren Anteil am gesamten Geschäftsvolumen, so ergibt sich folgendes Bild: 1960 vereinigten 90 Kreditinstitute (das sind 2,4 % der berichtenden bzw. 0,7 % aller Kreditinstitute) fast die Hälfte des gesamten Geschäftsvolumens auf sich. Diese Zahlen veränderten sich bis 1970 kaum, wobei nunmehr 81 Institute (2,2 % der berichtenden bzw. 0,9 % aller Kreditinstitute) fast 48 % des Geschäftsvolumens auf sich vereinigten. Dieses Ergebnis erlaubt jedoch nicht die Schlußfolgerung einer unveränderten Konzentration im Bankenbereich. Vielmehr müßten Angaben über die einzelnen Bankengruppen zur Verfügung stehen, in denen mehrere rechtlich selbständige Kreditinstitute (insbesondere Geschäftsbanken und Realkreditinstitute) zusammengeschlossen sind.1 Auf drei weitere Konzentrationsbereiche wird an späterer Stelle eingegangen, und zwar auf die Verfügungsmacht über Aktienkapital, die personellen Verflechtungen sowie die internationale Bankenkooperation. 2.1.4 Konzentration in der Versicherungswirtschaft Die Konzentration in der Versicherungswirtschaft läßt sich anschaulich durch die Verteilung des Prämienaufkommens auf die Versicherungsunternehmen darstellen. Dabei ist die vierteilige Gliederung der Versicherungswirtschaft zu beachten, in der nach Lebensversicherung, Krankenversicherung, Sachversicherung und Rückversicherung unterschieden wird. Insgesamt betrachtet gibt es eine Vielzahl von kleinen und kleinsten Versicherungen auf Gegenseitigkeit, deren Bedeutung in ökonomischer Hinsicht nur sehr gering ist.2 1960 unterlagen insgesamt 9341 Versicherungsunternehmen der Aufsicht,3 von denen jedoch nur 388 als mittlere und große Unternehmen gelten.
1
2
3
Vgl. hierzu für 1960: Konzentrationsbericht vom 5. 6. 1964, veröffentlicht in: BundestagsDrucksache IV/ 2320, S. 35-44. Vgl. Braeß, P., Konzentration in der Versicherungswirtschaft, in: Arndt, H. (Hrsg.), Die Konzentration in der Wirtschaft, Bd. 2, a.a.O., S. 463 ff. Vgl. Anlagenband zum Konzentrationsbericht v. 9. 10. 1964, Bundestags-Drucksache IV/ 2320, S. 355.
60
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Eine Maßgröße für die in der Versicherungswirtschaft vorfindbare Konzentration stellt der Anteil des Prämienaufkommens dar, der auf die jeweils 10 größten Unternehmen entfällt (vgl. Tab. 8). Tabelle 8:
1
Anteile des Prämienaufkommens der 10 größten Versicherungsunternehmen in Prozent
Art der Versicherung1
1950
1960
1968
Lebensversicherung Krankenversicherung Sachversicherung Rückversicherung
45,3 67,8 46,7 85,0
47,3 69,6 44,5 87,6
48,1 76,2 43,8 86,3
Zahl der mittleren und großen Unternehmen unter öffentlicher Aufsicht: 1953: 459; 1960: 388; 1968: 399
Quelle: Für 1950/1960: Anlagenband zum Konzentrationsbericht vom 9. 10. 1954, BundestagsDrucksache IV/2320, S. 355 f, 376 f. Für 1968 sowie Anmerkung: Braeß, P.:. Konzentration in der Versicherungswirtschaft in: Arndt, H. (Hrsg.) Konzentration in der Wirtschaft, 2. Aufl., Berlin 1971, 2. Bd., S. 464, 468.
Dabei zeigt sich, daß sich dieser Anteil in der Zeit von 1950 bis 1968 nur bei der Krankenversicherung nennenswert erhöht, hat, und zwar von 67,8% auf 76,2%. Bei der Sachversicherung ist sogar ein Rückgang eingetreten. Diese Zahlen lassen – ähnlich wie für den Bankenbereich – den Rückschluß zu, daß mit dem vorhandenen Zahlenmaterial die Konzentrationsvorgänge nicht erfaßt werden. Diese Vorgänge beziehen sich auf Versicherungsgruppen bzw. Konzerne, wobei die rechtliche Selbständigkeit der Unternehmen nur in Ausnahmefällen berührt wird. Betrachtet man mit dieser Blickrichtung die Versicherungs-Aktiengesellschaften, so heben sich, gemessen an den Verflechtungen, „nach Größe und Bedeutung sechs Konzerne oder, besser gesagt, ,Gruppen’ heraus“, die im Jahre 1970 insgesamt 82 Aktiengesellschaften umfassen und „zahlenmäßig rd. 47,7 % und kapitalmäßig rd. 68,9 % aller Versicherungs- Aktiengesellschaften repräsentieren“1. 1968 waren von den 399 unter Aufsicht stehenden Versicherungsunternehmen 175 inländische Aktiengesellschaften. Auf diese Aktiengesellschaften entfielen 60,6 % des gesamten Prämienaufkommens der Erstversicherer, wobei dieser Wert in den Jahren 1960 bis 1968 fast unverändert geblieben war. Unterstellt man, daß zwischen den Versicherungs-Aktiengesellschaften die Grundkapital-Höhe ähnlich gestreut ist wie die Höhe des Prämienaufkommens, dann folgt 1
Vgl. Braeß, P., Versicherungswirtschaft a.a.O., S. 473 f. Dabei handelt es sich um: 1. Rheinische Gruppe, 2. Agrippina-Gruppe, 3. Allianz-Münchener-Rück-Gruppe, 4. Magdeburger Gruppe, 5. Victoria Gruppe, 6. Gerling-Konzern.
61
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
daraus: 1970 entfielen auf die sechs größten Versicherungsgruppen über 40 % des Prämienaufkommens,1 das insgesamt knapp 28 Mrd. DM betrug.
2.1.5 Konzentration im Pressewesen Die Konzentration im Pressebereich soll im folgenden an Hand der publizistischen bzw. redaktionellen Einheiten und der Auflagenhöhe in der Tagespresse deutlich gemacht werden. Diese Einheiten beziehen sich auf alle Redaktionen, in denen der politische Teil von Tageszeitungen erstellt wird.2 Wenn 1972 insgesamt 137 solcher Einheiten bestanden, so bedeutet dies, daß in nur 137 Vollredaktionen geschrieben wurde, was in der gesamten Bundesrepublik in einer verkauften Auflagenhöhe von über 20 Mio. Exemplaren an Tageszeitungen zu lesen stand. Insgesamt wurden über 1000 Tageszeitungen herausgegeben. Seit 1962 hat sich die Zahl der publizistischen Einheiten von 213 um über ein Drittel vermindert und die Zahl der Zeitungsausgaben von 1245 um rd. ein Fünftel (vgl. Tab. 9). Tabelle 9: Zahl und Auflagenhöhe der Tagespresse
1
2
Merkmale
1962
1966
1. Publizistische Einheiten 2. Ausgaben 3. Verkaufsauflage in Mill. 4. Verkaufte Exemplare der Tageszeitungen mit Auflagen von über 50 000 in Mill. 5. Verkaufte Exemplare aus den 5 größten Tageszeitungsgruppen in Mill.1 6. Verkaufte Exemplare aus der Springer-Gruppe in Mill.
213 1245 18,1
2
1971 (2. Vj.) 145 10552 20,9 2
1972 (2. Vj.) 137 20,8
x
x
x
x
16,0
x
x
x
x
8,3
x
x
x
x
4,3
Dabei handelt es sich um: (1) Springer-Gruppe, (2) Gruppe Süddeutsche Zeitung, (3) Gruppe Stuttgarter Nachrichten, (4) Gruppe Frankfurter Allgemeine Zeitung, (5) Gruppe Westdeutsche Allgemeine Zeitung Zahlen beziehen sich auf 3. Quartal 1971
Quelle:
1
181 1239 20,2
1970 (2. Vj.) 148 1128 20,8
Vorläufiger Bericht der Pressekommission, veröff. in: Bundestags-Drucksache V/2403 v. 15. 12. 1967, S. 22. IG-Druck und Papier (Hrsg.) Die Konzentration im Presse- und Verlagswesen der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart o. J.
1960 lag der Prämienanteil der 5 größten Unternehmen bzw. Konzerne – unabhängig von der Rechtsform – bei 41,7 %. Vgl. Anlagenband zum Konzentrationsbericht, a.a.O.. S. 368. Vgl. Nussberger, U., Die Mechanik der Pressekonzentration, Berlin 1971, S. 12.
62
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Entscheidend sind über diese Konzentrationen hinaus folgende zwei Gesichtspunkte: Erstens haben wegen des aus dem Kapitalbesitz resultierenden Weisungsrechts lediglich die Zeitungsverleger die Möglichkeit, ihr „politisches Weltbild“ in den Redaktionen durchzusetzen. Zweitens sind die genannten 137 Redaktionen nicht unabhängig, sondern ähnlich wie in den anderen untersuchten Wirtschaftssektoren häufig in Unternehmensgruppen bzw. Konzernen zusammengeschlossen. Bezogen auf die Gesamtzahl der verkauften Tageszeitungen erschienen 1972 in nur 5 Zeitungsgruppen fast 40 % der Gesamtauflage. Betrachtet man den überregionalen Tageszeitungsmarkt (gemessen an der verkauften Auflage von über 50 000 Exemplaren), so beträgt der Anteil der 5 Gruppen über 51 %. Allein der Springer-Konzern hatte 1972 auf diesem überregionalen Markt einen Anteil von fast 27 %.1
2.1.6 Konzentration in der Gesamtwirtschaft Geht man von den in der amtlichen Statistik veröffentlichten Zahlen aus, so läßt sich die Konzentration in der Gesamtwirtschaft am besten an Hand der getätigten Umsätze darstellen. Dabei sei aber nochmals darauf hingewiesen, daß die Besonderheiten der Konzentration in einzelnen Branchen (z.B. Kredit- und Versicherungswirtschaft, Pressewesen) hiermit nicht oder nur sehr unvollständig zum Ausdruck kommen. In den Jahren zwischen 1950 und 1970 erhöhte sich der gesamte Umsatz in der BRD um das 6fache und betrug 1970 über 1,4 Billionen DM. In der gleichen Zeit stieg die Zahl der Steuerpflichtigen um über 300 000 auf rd. 1,625 Mio. (vgl. Tab. 10). Zwischen den einzelnen Größenklassen ergaben sich in diesem Zeitraum erhebliche Verschiebungen. Teilt man die Zahl der Umsatzsteuerpflichtigen bzw. der Umsätze bei dem Wert von 25 Mio. in zwei Gruppen auf, so zeigt sich folgendes Bild: 1950 erzielten 697 Unternehmen mit einem jeweiligen Umsatz von 25 Mio. DM und mehr über ein Viertel des Gesamtumsatzes. 1960 entfielen auf 2309 Unternehmen über zwei Fünftel des Umsatzes (41,7%). Zwischen 1960 und 1970 stieg die Zahl der Steuerpflichtigen in dieser Größenklasse auf insgesamt 5548, wobei sich der Umsatzanteil auf über die Hälfte erhöhte.
1
Vgl. zu diesen Problemen: Arndt, H., Die Konzentration in der Presse und die Problematik des Verleger-Fernsehens, Frankfurt/ M., Berlin 1967. Reinhard Haarmann, Pressekonzentration: Gefährdung der Demokratie, in: Grosser, D. (Hrsg.), Konzentration ohne Kontrolle, a.a.O., S. 176 ff.
1 Mill.
1 Mrd.
1 310 691
697
24 859
285 135
65,6
77,9
94,0
27,6
32,8
39,6
100,0 237,5 100,0
0,0
1,9
98,1
%
Mrd. DM
Anzahl
%
Steuerbarer Umsatz3
1950
Steuerpflichtige2
1 649 088
46
%
98,5 13,9
116,0 16,3
81,6 11,5
230,8 32,5
183,1 25,8
Mrd. DM
Steuerbarer Umsatz3
100,0 710,0 100,0
0,0
0,0
0,1
1 804 459
4,1
95,7
%
1960
67 809
1 578 970
Anzahl
Steuerpflichtige
1 652 408
69
73
666
3 241
94 729
1 553 630
Anzahl
1968
100,0
0,0
0,0
0,0
0,2
5,7
94,0
%
Steuerpflichtige
1089,3
192,4
50,8
132,3
147,6
344,1
222,1
Mrd. DM
100,0
17,7
4,7
12.1
13,6
31,6
20,4
%
Steuerbarer Umsatz4
1970
1 625 168
89
105
942
4 412
120 597
1 499 023
Anzahl
100,0
0.0
0.0
0.0
0.3
7.4
92.2
%
Steuerpflichtige
1 430,4
275.8
73.7
185,3
200.1
446,9
248.5
Mrd. DM
100,0
19.3
5.2
13.0
14.0
31.2
17.4
%
Steuerbarer Umsatz4
Quelle: Statistisches Bundesamt: Ergebnisse der Statistik über die Umsatzsteuerveranlagung für 1950 bzw. Fachserie L., Reihe 7 für die übrigen Jahre.
2
Für 1950 (1960) wurden ab 25 (100) Mill DM keine Untergliederungen veröffentlicht. Steuerpflichtige mit Umsatz ab 10 000 DM. 3 Einschl. Umsatzsteuer. 4 Ohne Mehrwertsteuer. 5 Abweichungen ergeben sich aus Rundungen.
1
Insgesamt5
1 Mrd. und mehr
500 Mill-
100 Mill.-500 Mill.
25 Mill-100 Mill.
1 Mill.- 25 Mill.
12 000 -
Umsatzgrößenklassen von . . . bis unter . . . DM
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
63
Tabelle 10: Umsatzsteuerpflichtige und steuerbare Umsätze in der Gesamtwirtschaft nach Umsatzgrößenklassen1
64
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Auch in der Größenklasse ab 100 Mio. DM Umsatz stieg zwischen 1960 und 1970 der Umsatzanteil beträchtlich, und zwar von rd. 30% auf 37,4%. Fast vollständig ist dies auf die Zunahme in der Größenklasse von 1 Mrd. DM und mehr zurückzuführen, auf die 1970 fast 1/5 aller Umsätze entfielen. Hieran wiederum sind lediglich 89 Großunternehmen aus der Gesamtzahl von 1,625 Mio. Umsatzsteuerpflichtigen beteiligt, d.h. 0,005%. Die große Mehrzahl der Umsatzsteuerpflichtigen setzt sich aus Kleingewerbetreibenden, Handwerkern und freiberuflich Tätigen mit einem Jahresumsatz von unter 1 Mio. DM zusammen. Auf sie entfielen 1950 über 98% aller Steuerpflichtigen, 1960 waren es 95,7 % und 1970 ergab sich ein Anteil von 92,2 %. In weit stärkerem Maß nahm jedoch der entsprechende Umsatzanteil ab, und zwar von fast 40 % 1950 auf nur noch etwas über 17 % im Jahre 1970.
2.2 Konzentration der Verfügungsmacht über Produktion In den bisherigen Angaben zur Konzentration blieben die Personen bzw. Gruppen, die über die wirtschaftliche Produktion verfügen, fast ganz unberücksichtigt. Bezieht man die Verfügungsmacht über die Produktion in die Betrachtung ein, so ist hinsichtlich der aus dem Kapital fließenden Verfügungsmacht vor allem nach der Rechtsform der Unternehmen zu fragen, weil mit verschiedenen Rechtsformen unterschiedliche Strukturen der Verfügungsmacht verbunden sind. Unter dem Gesichtspunkt von Konzentration und Macht muß sich das Interesse vorrangig auf die Großunternehmen beziehen. Diese Unternehmen werden zum weitaus überwiegenden Teil als Kapitalgesellschaften (AG, KGaA, GmbH) geführt, was insbesondere zu einer Beschränkung der Haftung der Eigentümer auf das eingesetzte Kapital führt. Aus Finanzierungs- bzw. Risikogründen u.ä. folgt weiterhin, daß der überwiegende Teil der großen Kapitalgesellschaften in der Rechtsform der Aktiengesellschaft organisiert ist. (Sofern dies nicht der Fall ist, liegen die Gründe vor allem in der Publizitätsscheu der entsprechenden Unternehmensleitungen bzw. Eigentümer.) Damit werden die mit Aktienvermögen verbundenen Verfügungsrechte in unserem Zusammenhang von besonderer Bedeutung sein. In dem bereits mehrfach erwähnten Konzentrationsbericht sind u.a. die Rechtsformen der 1000 größten Industrieunternehmen für 1960 dargestellt.1 Dabei ergibt sich für die Gesamtzahl ein Anteil der Aktiengesellschaften von rd. 44%, während 30% in der Rechtsform der GmbH geführt werden. Das restliche Viertel entfällt auf Personengesellschaften und sonstige. Für die 100 größten Industrieunternehmen ergeben sich demgegenüber folgende Anteile: Aktiengesell-
1
Vgl. Konzentrationsbericht, a.a.O., S. 69.
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
65
schaften knapp 80%, Gesellschaften mit beschränkter Haftung 13%, Personengesellschaften und Sonstige 8%. Von diesen Strukturen her führt eine Analyse der Kapitalgesellschaften nach Größenklassen des Nominalkapitals (hier für die Jahre 1959 und 1969) zu interessanten Ergebnissen (vgl. Tab. 11). 1959 gab es knapp 40 000 Kapitalgesellschaften mit fast 39 Mrd. DM Nominalkapital. Dabei entfielen von der Anzahl her rd. 6% auf AGs, vom Nominalkapital her jedoch betrug dieser Anteil fast 70 %. In der Größenklasse von über 100 Mio. DM Nominalkapital waren 0,1% aller Kapitalgesellschaften mit fast 37% des Nominalkapitals vertreten, während bei den Aktiengesellschaften auf 2,1% der Gesellschaften mit rd. 13 Mrd. DM fast die Hälfte des Aktienkapitals entfiel. Bis zum Jahr 1969 erhöhte sich der Anteil der AGs in der Größenklasse über 100 Mio. DM auf 4,4%, auf den nunmehr jedoch über 60% des Aktienkapitals in Höhe von insgesamt fast 54 Mrd. DM entfallen. Der Anteil des Aktienkapitals am gesamten Kapital der Kapitalgesellschaften lag 1969 mit knapp 60% wesentlich unter dem entsprechenden Anteil von 1959. Bei der Entwicklung der Zahl der Gesellschalten ist eine gleiche Tendenz festzustellen, denn hier verringerte sich der Anteil der AGs von rd.6% auf rd. 3% aller Kapitalgesellschaften.1 Auf die Größenklasse von über 100 Mio. DM entfiel 1969 mit über 43 % ein insgesamt höherer Anteil des Nominalkapitals als 1959. Hierbei lag der Anteil des Aktienkapitals mit fast 84 % unter dem entsprechenden Wert für 1959, der über 92 % betrug. Dieses Vordringen der GmbHs ist insbesondere durch die geringeren Publizitätsvorschriften für diese Rechtsform gegenüber den Aktiengesellschaften bedingt. Damit versuchen die Unternehmer, selbst die nach aktienrechtlichen Vorschriften noch immer relativ schwache und lückenhafte öffentliche Kontrolle weiter abzuschwächen. Vor diesem Hintergrund sollen nun die Leitungsorgane in der Großwirtschaft analysiert werden, was am zweckmäßigsten durch die Darstellung der personellen Verflechtungen erfolgt. Damit wird die Darstellung der Konzentration unmittelbar zu einer Beschreibung der sozioökonomischen Machtstrukturen. Die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften versuchen, diese Strukturen zu ihren Gunsten zu verändern, so daß es sich empfiehlt, neben den kapitalorientierten Bereich auch den arbeitsorientierten Bereich in die Betrachtung einzubeziehen.
1
Die Entwicklung hat sich auch nach 1969 fortgesetzt. So verteilte sich Ende 1972 das Nominalkapital aller Kapitalgesellschaften in Höhe von 117 Mrd. DM zu 55 % auf Aktienkapital und zu 45 % auf Stammkapital. Vgl. Wirtschaft und Statistik, H. 3/ 1973, S. 162 f.
über 100 Mill. DM Insgesamt4
Insgesamt4 bis einschl. 100 Mill. DM
über 100 Mill. DM
bis einschl. 100 Mill. DM
Größenklassen
2 165
95
2 070
2 379
50
2 329
Zahl
100,0
4,4
95,6
100,0
2,1
97,9
%
53 567
32 778
20 789
27 055
13 053
14 001
Mill. DM
30
69 647
36 833
6
36 827
Zahl
100,0 69 677
61,2
38,8
100,0
48,3
51,7
%
100,0
0,0
100,0
100,0
0,0
100,0
%
37 474
6 564
30 910
11 629
1 095
10 534
%
56
0,1 14 148
125
0,2
99,8
100,0 71 842 100,0
17,5
82,5 71 717
43,2
56,8
91 041 100,0
39 342
51 699
100,0
36,6
63,4
Mill. DM
39 156 99,9 24 535
Zahl
Quellen: Wirtschaft und Statistik H. 3/1960 und H. 3/1970. Deutsches Wirtschaftsinstitut, Berlin (Ost): DWl-Berichte 8-70, S.23.
2
%
Nominalkapital
Kapitalgesellschaften insgesamt Gesellschaften
100,0 39 212 100,0 38 684
9,4
90,6
%
Stammkapital Mill. DM
GmbH Gesellschaften
Jeweils 31. 12. Ohne Berlin (West) und Saarland 3 Ohne Berlin (West). Angaben für Berlin (West): AG und KGaA: Zahl: 152: Grundkapital 1354 Mill. DM. GmbH: Zahl 4024: Stammkapital 1785 Mill. DM 4 Abweichungen ergeben sich aus Rundungen.
1
1969 3
19592
Jahr1
Grundkapital
AG und KGaA
Gesellschaften
66 Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Tabelle 11: Konzentration des Nominalkapitals bei Kapitalgesellschaften
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
67
2.2.1 Kapitalorientierter Bereich Die personelle Verflechtung läßt sich je nach dem beruflichen Schwerpunkt der auftretenden Personengruppen in drei Bereiche aufgliedern. Erstens handelt es sich um die Vertreter der Banken, zweitens ist das rückgekoppelte personelle Verflechtungssystem zwischen den Großbanken und den Großunternehmen bzw. Konzernen darzustellen und drittens ist eine Verflechtung zwischen Unternehmen außerhalb des Bankensektors zu untersuchen. (1) Vertreter der Banken als Mandatsträger Betrachtet man zunächst die personellen Verbindungen aus der Perspektive der Banken, so erscheint es zweckmäßig, mit der Verfügungsmacht über Kapital zu beginnen. Hierbei ergibt sich eine dominierende Rolle des Bankensektors im allgemeinen und der drei Großbanken „Deutsche Bank AG, Dresdner Bank AG, Commerzbank AG“ im besonderen, die ihre Entsprechung in der Ämterhäufung der Mitglieder von Leitungsorganen dieser Banken findet. Dabei ist es gleichgültig, ob sich die personellen Beziehungen aus Eigentums- oder Depotstimmrechten ableiten. Allein die drei genannten Großbanken verfügen auf diese Weise über schätzungsweise rd. 50 % des gesamten Aktienkapitals in der BRD. Die gründlichste Untersuchung auch zu diesen Themenbereichen stellt noch immer der „Konzentrationsbericht für das Jahr 1960“ dar. Hiernach gab es Ende 1960 in der BRD 661 börsennotierte Aktiengesellschaften, von denen 619 im Konzentrationsbericht untersucht werden konnten. (Bei den nicht erfaßten 42 Unternehmen handelt es sich überwiegend um kleine Gesellschaften.) Von den 619 Aktiengesellschaften arbeiteten 577 außerhalb des Bankensektors. In diesen Aktiengesellschaften waren von den Kapitaleigentümern 3014 Aufsichtsratsposten (AR-Posten) zu besetzen; hiervon beanspruchten die Banken 795 oder gut ein Viertel. Da jedoch bei 132 Untereinheiten im Aufsichtsrat keine Bankenvertreter festgestellt wurden, stellten die Banken in den verbleibenden 445 Unternehmen von den dort für die Kapitalseite insgesamt zu vergebenden 2407 AR-Mandaten jedes dritte AR-Mitglied (vgl. Tab. 12). Rund 100 Banken waren an dieser Besetzung beteiligt, doch kamen aus nur 11 Instituten „586 oder fast 75 % aller von Banken gestellten Aufsichtsratsmitglieder“1. Die drei Großbanken vereinigten auf sich 423 Mandate, das sind über 53 % aller von Bankenvertretern besetzten AR-Sitze. Diese 423 Mandate entfielen fast zur Hälfte auf AR-Vorsitzende bzw. Stellvertretende ARVorsitzende. 1
Vgl. Anlagenband zum Konzentrationsbericht, a.a.O., S. 347. Vgl. auch die Auswertung bei Huffschmid, J., Die Politik des Kapitals. Konzentration und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1970, S. 80 ff.
68
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Tabelle 12: Verteilung der Aufsichtsrats-Posten 1960 Anzahl der AG Aktiengesellschaften mit Bankenvertretern im Aufsichtsrat Aktiengesellschaften ohne Bankenvertreter im Aufsichtsrat Aktiengesellschaften (Nichtbanken) Aktienbanken mit Bankenvertretern im Aufsichtsrat Aktienbanken ohne Bankenvertreter im Aufsichtsrat Aktiengesellschaften insgesamt 1
AR-Mandate1
davon Bankenvertreter
Anteil der Bankenvertreter
445
2 407
795
33,0 %
132
607
-
-
577
3 014
795
26,4 %
36
341
135
39,6 %
6
31
-
-
619
3 386
930
27,5 %
Mitglieder des Aufsichtsrates ohne Arbeitnehmervertreter
Quelle:
Anlagenband zum Konzentrationsbericht v. 9. 10. 1964, veröff. in: Bundestags-Drucksache 1V/2320, S. 346.
Ein ähnlicher Grad an Einflußnahme der Großbanken zeigte sich, wenn man von den 318 Aktiengesellschaften außerhalb des Bankenbereichs ausging, die der Untersuchung der Depotstimmrechtsverhältnisse zugrunde lagen. Hier wurden von 1722 AR-Mitgliedern (ohne Arbeitnehmervertreter) 573 oder ein Drittel von den Banken gestellt, von den drei Großbanken allein 297 AR-Mandate, was fast 52 % aller von Banken besetzten Mandaten entspricht.1 Diese Zusammenstellung mit dem Ergebnis 423 bzw. 297 Mandate bezieht sich jedoch lediglich auf die in die jeweilige Untersuchung einbezogenen 577 bzw. 318 Aktiengesellschaften außerhalb des Bankenbereichs. Versucht man, für die Zeit um 1960 alle von leitenden Mitgliedern der drei Großbanken besetzten AR-Posten oder ähnliche Mandate in Gesellschaften mit anderer Rechtsform zu erfassen, so ergeben sich wesentlich höhere Zahlen. Pritzkoleit2 kommt hierbei zu folgendem Ergebnis: Deutsche Bank AG: Dresdner Bank AG: Commerzbank AG: 1 2
550 Mandate knapp 300 Mandate 224 Mandate
Konzentrationsbericht, a.a.O., S. 41. Pritzkoleit, K., Auf einer Woge von Gold, Wien–München–Basel 1961, S. 128, 161, 177.
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
69
Die drei Großbanken hatten somit im Jahre 1960 rd. 1070 Mandate in Kontrollorganen von Unternehmen der deutschen Wirtschaft inne. Alle Zahlen, die sich auf ein Jahr nach 1960 beziehen, sind weniger repräsentativ, und zwar sowohl hinsichtlich ihres Umfangs als auch ihrer Überprüfbarkeit bzw. Zuverlässigkeit. Dennoch kann gesagt werden, daß keine neueren Zahlen bekannt sind, die auf eine grundsätzliche Änderung dieser Art von personeller Verflechtung schließen lassen.1 Die mit der Novellierung des Aktiengesetzes von 1965 erfolgte Begrenzung der AR-Mandate auf 10 Posten pro Person wurde mit Erfolg faktisch umgangen.2 Mit Sicherheit hat darüber hinaus auch die sog. Reprivatisierung von Bundesvermögen in den 60er Jahren über die dargestellten „sozialen Gesetzmäßigkeiten“ bei der Abtretung von Stimmrechten den Einfluß der Großbanken auf die Wirtschaft erhöht. Von hier aus lassen sich leicht Zusammenhänge zu der gegenwärtigen Diskussion um die Vermögenspolitik herstellen, und man kann zumindest angeben, was geschehen müßte, um diese bestehende Macht nicht noch weiter zu verstärken. (2) Personelle Rückverflechtungen zwischen Mandatsträgern der Großbanken und der Unternehmen außerhalb des Bankensektors Von wesentlicher Bedeutung ist die Tatsache, daß die drei Großbanken ausnahmslos Publikumsgesellschaften sind, d.h. ihr Aktienbesitz ist breitgestreut. Demzufolge ist in der Praxis selbst für die Kapitaleigentümer dieser Großbanken keine wirksame Kontrolle der Unternehmensleitungen möglich. Sehr interessante Angaben sind hierzu im „Konzentrationsbericht“ enthalten, wo es heißt: „Bei keinem der drei Institute wurden Einzelaktionäre mit größerem Anteilsbesitz ermittelt(...) Das Fehlen von Großaktionären läßt sich aber dadurch erklären, daß die Großbanken nach ihren eigenen Auskünften bestrebt sind, größeren Aktienbesitz und damit einen Einfluß von einzelnen Aktionären zu verhindern. Aus diesen Gründen beobachten sie Kauf und Verkauf von Aktien ihres Instituts. Eine Kontrolle ihres Aktionärskreises wird dadurch erleichtert, daß im allgemeinen zwischen 40% und 50% ihres gesamten Aktienkapitals in den Kundendepots der eigenen Bank liegen. Darüber hinaus unterstützen sich die Banken gegenseitig, um eine breite Streuung ihrer Aktien zu erreichen. Dadurch erhielten die Vorstände der Großbanken, die im allgemeinen nach dem Kollegialprinzip arbeiten, ein hohes Maß an Selbständigkeit. Das Gewicht der Verwaltung wird noch dadurch erhöht, daß in den Hauptversammlungen der drei Großbanken zwischen 65% bis 80% der Stimmen durch die einzelnen Institute selbst – sei es auf Grund des Kundenbesitzes oder von Leihstimmen – vertreten wurden. Auch sind die Auf1 2
Vgl. Capital, Nr. 1/ 1971, S. 27.; Der Spiegel, Nr. 4/ 1971 v. 10. 2. 1971, S. 41. Stanzick K.-H., Der ökonomische Konzentrationsprozeß, in: G. Schäfer, C. Nedelmann (Hg.), Der CDU-Staat I. Analysen zur Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik, Frankfurt/ M. 1969, S. 72; Geschäftsberichte der Deutschen Bank AG, Dresdner Bank AG, Commerzbank AG sowie Hoppenstedt Wirtschaftsverlag: Die leitenden Männer der Wirtschaft.
70
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen sichtsratsvorsitzende und die Mehrzahl der zu den Aufsichtsratspräsidien gehörenden Personen frühere Vorstandsmitglieder der betreffenden Institute.“1
Diese Praxis hat sich unterdessen nicht geändert, wie folgende Zahlen zeigen: Bei der Deutschen Bank AG wurden in der Hauptversammlung am 15. 5. 1970 von dem anwesenden Grundkapital fast 57% durch den eigenen Vorstand vertreten, und im Jahre 1969 belief sich diese Zahl sogar auf rund 59 %.2 Aus diesen Bedingungen ergeben sich geradezu ideale Voraussetzungen, die von den Großbanken kontrollierten Vorstände der Unternehmen als Kontrolleure der Banken einzusetzen. Somit sitzen in den Aufsichtsräten und Beiräten der Banken „die Manager, über deren Entlastung abgestimmt und deren Kontrolleure gewählt werden sollen“3. Auf regionaler Ebene bestehen Institutionen, mit welchen die Systeme der personellen Rückverflechtungen fortgesetzt werden. Einerseits haben die Großbanken auf regionaler und lokaler Ebene über die Direktoren und Leiter der großen Filialen zahlreiche Mandate in den Kontrollorganen der für sie regional und lokal bedeutsamen Unternehmen. Andererseits werden bei den Großbanken Landesbeiräte oder ähnliche Gremien gebildet, die sich vor allem aus den Vorstandsmitgliedern dieser Unternehmen zusammensetzen. Im Jahre 1960 umfaßte allein die Institution der Landesbeiräte „insgesamt 944 Mitglieder, von denen fast die Hälfte den tausend größten Industrieunternehmen angehören“4. Auch Anfang der 70er Jahre bestanden die Landesbeiräte noch; nichts deutet darauf hin, daß sich ihre Aufgaben und ihre Zusammensetzung geändert haben. (3) Personelle Verflechtungen zwischen den Unternehmen außerhalb des Bankensektors Soweit diese Art der Verflechtung auf der Zugehörigkeit der Unternehmen zu Konzernen oder zu Unternehmensgruppen beruht, ist sie hier ohne Bedeutung, da diese Verbindungen lediglich die personelle Sicht der einheitlich geleiteten ökonomischen Großorganisationen sind. Diese Bedingungen werden im Hinblick auf ihre sozioökonomische Machtkonzentration bereits durch die konsolidierten Umsatz- und Kapitaldaten sowie die Zahl der Beschäftigten zum Ausdruck gebracht. Es treten jedoch noch eine Reihe von personellen Verflechtungen zwischen Unternehmen und Konzernen auf, die sich außerhalb der Zugehörigkeit zu Konzernen bzw. Unternehmensgruppen aus Beziehungen im Beschaffungs-, Produk1 2 3 4
Konzentrationsbericht, a.a.O., S. 44. Vgl. Der Spiegel, Nr. 4/ 1971, a.a.O., S. 54. Vgl. Die Zeit, Nr. 33 v. 16. 8. 1968. Vgl. ferner: Konzentrationsbericht, a.a.O., S. 42. Konzentrationsbericht, a.a.O., S. 42.
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
71
tions-, Absatz- und Forschungsbereich bzw. aus sonstigen Kapitalbeteiligungen ableiten. Einen Überblick über die kapitalmäßigen Verflechtungen in der gesamten Privatwirtschaft in der BRD enthält das Schaubild in „Kursbuch 21“1. Obwohl einige Zahlen, die allerdings für den Charakter der Verflechtungen nicht entscheidend sind, in diesem Schaubild nicht oder nicht mehr zutreffen, so vermittelt es doch einen zuverlässigen Einblick in die Dichte der Kapitalverflechtungen zwischen den großen Wirtschaftseinheiten im Produktions- und Dienstleistungsbereich. Diese Kapitalverflechtungen werden in der Regel von personellen Verflechtungen abgesichert. Ein Wirtschaftssektor, durch den sich die personellen Verflechtungen in besonderem Maße verdeutlichen lassen, stellt die Großversicherungswirtschaft dar. So soll der AR der Allianz-Versicherung AG das „exklusivste Gremium“ der deutschen Industrie sein, dessen 10 Kapitalvertreter im Jahre 1968/69 einen Umsatz von über 50 Mrd. DM und eine Beschäftigtenzahl von über 800 000 Personen repräsentierten. „Wegen der regen Nachfrage hat die Allianz (...) das Oberhaus der Aufsichtsräte erweitert: durch 154 Posten für regionale Beiräte.“2 In diesem Wirtschaftssektor stehen vor allem die Interessen der Kapitalbeschaffung außerhalb des allgemeinen Kapitalmarktes im Vordergrund. Nach Berechnungen der Deutschen Bundesbank3 beliefen sich die Verpflichtungen der Unternehmen allein gegenüber den Versicherungsgesellschaften Ende 1970 auf rund 19 Mrd. DM und erreichten damit fast die Höhe der gesamten Anleiheverpflichtungen.
2.2.2 Arbeitsorientierter Bereich Eine Darstellung der personellen Konzentrationsvorgänge wäre unvollständig, wenn nicht auch die Strukturen auf arbeitsorientierter Seite mit einbezogen würden. Hier zeigen sich die personellen Verflechtungen zur Durchsetzung arbeitsorientierter Interessen auf vierfache Weise: bei der Besetzung von Betriebsratsposten, bei der Besetzung von Aufsichtsratsposten im allgemeinen, bei der Besetzung von Aufsichtsratsposten in gemeinwirtschaftlichen Unternehmen und schließlich bei der Besetzung von Stellen für Arbeitsdirektoren. Die Legitimation und Leistungsfähigkeit der arbeitsorientierten Funktionsträger in den Betrieben und Unternehmen hängen aufs engste von einer breiten Zustimmung der Arbeitnehmer ab. Damit ist zugleich ausgedrückt, daß diese Funktionsträger ihre Machtstellungen, die sie auf Grund ihrer Informationen 1
2 3
Vgl. Tabelle: Kapitalverflechtung in der Bundesrepublik, in: Kursbuch 21: Kapitalismus in der Bundesrepublik, Berlin 1970. Vgl. Capital, Nr. 8/ 1970, S. 53 sowie Capital, Nr. 1/ 1971, S. 31. Vgl. Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, Nr. 5/ 1971, S. 28.
72
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
und Entscheidungsrechte besitzen, wirkungsvoll nur in enger Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmern bzw. Gewerkschaften ausüben können. Dies muß berücksichtigt werden, wenn nun kurz die Struktur arbeitsorientierter Funktionsträger in den Betrieben, Unternehmen und Konzernen wiedergegeben wird. ,,Im Jahre 1968 wurden entsprechend dem Betriebsverfassungsgesetz in rd. 25 000 Betrieben rd. 142 400 Betriebsräte gewählt.“1 Davon entfielen auf die dem DGB angeschlossenen Gewerkschaften rd. 83% der Mandate, die DAG erreichte 3%, der Christliche Gewerkschaftsbund und andere Splittergruppen erreichten 0,5%, während 13,4% der Betriebsratsmitglieder keiner Organisation angehörten. Das Ergebnis der Betriebsratswahlen 1972 lautete2: In insgesamt 29 298 Betrieben wurden 173 670 Betriebsratsmitglieder gewählt. Von diesen gehörten 77,6% DGB-Gewerkschaften an, 3% zur DAG, 0,5% zu den restlichen Gewerkschaften, während 18,9% unorganisiert waren. Aus der Betriebsratstätigkeit ergibt sich, daß der wesentliche Teil der hier vorhandenen Entscheidungskompetenzen für arbeitsorientierte Interessen auf den unmittelbaren betrieblichen Bereich bezogen ist. Zur Beeinflussung der langfristigen Unternehmenspolitik sind die Mandate in den Aufsichtsräten und die Positionen der Arbeitsdirektoren wesentlich bedeutsamer. Hier bestehen jedoch mit der im Aktiengesetz von 1965 festgelegten sog. Drittelparität sowie mit der Beschränkung der paritätischen Mitbestimmung auf den Montanbereich von der Zahl und Macht her enge Grenzen. Die Zahl der nach dem Betriebsverfassungsgesetz gewählten Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat lag Anfang 1971 zwischen 5000 und 5500.3 Davon waren im Bereich der 42 Unternehmen, die der paritätischen Mitbestimmung unterliegen, im Jahre 1971 insgesamt 307 Arbeitnehmervertreter tätig, von denen die Hälfte Betriebsangehörige sind. Außerdem besteht in jedem der paritätisch mitbestimmten Unternehmen je eine Position eines Arbeitsdirektors. Es ist festzustellen, daß bei den auf betriebsfremde Arbeitnehmervertreter entfallenden Aufsichtsratsposten in hohem Maße die Führungsspitzen der Gewerkschaften vertreten sind. Eine weitere Möglichkeit der personellen Verflechtung zwischen dem Produktionsbereich und den arbeitsorientierten Interessengruppen ergibt sich über die gemeinwirtschaftlichen Unternehmen der Gewerkschaften. Die Bedeutung dieser Unternehmen ist jedoch im Rahmen der gesamten Volkswirtschaft zu gering, als daß dieses Element allein wesentliche Veränderungen in der Machtverteilung bewirken könnte. So beträgt der Anteil des Grundkapitals der vier ge-
1
2 3
Vgl. Markmann, H., Gewerkschaften und Konzentration. In: Arndt, H. (Hrsg.), Die Konzentration in der Wirtschaft, Bd. 2, a.a.O., S. 521. Vgl. DGB-Nachrichten-Dienst v. 22. 2. 1973. Markmann, H., Gewerkschaften und Konzentration, a.a.O., S. 521.
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
73
meinwirtschaftlichen Unternehmensgruppen der Gewerkschaften am gesamten Nominalkapital in der Bundesrepublik im Jahre 1970 lediglich rd. 0,5%.1
2.3 Internationale Aspekte der Produktionskonzentration Die wirtschaftlichen Vorgänge in der BRD vollziehen sich zunehmend im internationalen Verbund. So stieg der Anteil des Exports am Bruttosozialprodukt von 1950 über 1960 bis 1970 von 11,4% (ohne Saarland und Berlin-West) über 20,7% (einschl. Saarland und Berlin-West) auf 23,1%. Ähnliche Werte lassen sich für den Import errechnen. Hinter diesen Zunahmen verbirgt sich jedoch ein tiefgreifender Strukturwandel. Die Außenhandelsverflechtungen erfolgen zunehmend über sogenannte Multinationale Konzerne (MNK), d.h. Wirtschaftseinheiten, die in zwei oder mehr Ländern Produktionsstätten unterhalten. Diese internationale Verflechtung ergab sich bis Mitte der 60er Jahre insbesondere dadurch, daß US-Unternehmen in der BRD investierten, während in der Zwischenzeit auch deutsche Großunternehmen bzw. Konzerne zunehmend Produktionsanlagen in Drittländern aufbauen. Dies wird sowohl an der Entwicklung der Direktinvestitionen als auch an der Zahl der ausländischen Tochtergesellschaften deutlich. Für diesen zuletzt genannten Bereich bestand Ende der 60er Jahre für die Unternehmen der BRD folgende Situation2: 954 deutsche Unternehmen besaßen insgesamt 2916 Tochtergesellschaften im Ausland, wobei lediglich 448 Unternehmen über nur eine Auslandsgesellschaft verfügten. Umgekehrt waren in dieser Zeit 1887 ausländische Muttergesellschaften mit Niederlassungen in der BRD vertreten. (Alle Zahlen beziehen sich auf den OECDBereich außer Japan.) Ende 1970 betrug der Wert der ausländischen Beteiligungen von deutschen Unternehmen rd. 21,1 Mrd. DM und erreichte damit fast den Betrag der ausländischen Beteiligungen in der BRD, die sich auf 21,6 Mrd. DM beliefen. Demgegenüber betrug das Verhältnis von ausländischen Beteiligungen im Inland zu inländischen Beteiligungen im Ausland 1964 erst knapp 62%. 1970 befand sich fast ein Fünftel des Nominalkapitals von Kapitalgesellschaften in ausländischer Hand, während dies 1964 knapp 17% waren (s. Tab. 13). Die Verflechtungen von Industrie und Handel werden im Finanzbereich durch internationale Bankengruppen ergänzt. Hierbei ist die Bedeutung der Großbanken in der BRD nicht unerheblich. So gehören zu den vier größten 1
Vgl. Hirche, K., Die Finanzen der Gewerkschaften, Düsseldorf 1972. Nickel, W., Gegen Konzentration privater Macht. Die gemeinwirtschaftlichen Unternehmen der Gewerkschaften. In: Das Parlament, Nr. 32-33 v. 8. 8. 1970. 2 Vgl. Yearbook of International Organizations, hrsg. v. Hall, R. A. für die Union of International Associations, 13. Aufl., Brüssel 1971, S. 1030-1034.
-
5. Verhältnis von inländischen zu ausländischen Beteiligungen in v. H. (Ziff. 4.: Ziff. 2.1.) 61,9
7 205
16,5
11 643 10 836
65 612
Kapital Mill. DM
-
-
8,3
6 988 5 811
69 744
Anzahl“
75,6
14 349
19,4
18 972 17 153
88 264
Kapital Mill. DM
1968
-
-
7,9
7 761 6 513
82 450
Anzahl
Quelle: Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, Mai 1969, Januar 1972; Nehls, K.: Kapitalexport und Kapitalverflechtung, Frankfurt am Main 1970, S. 147; Bundesanzeiger, Nr. 68 v. 8. 4. 1971 (Runderlaß Außenwirtschaft Nr. 10/71); Wirtschaft und Statistik H. 3/1965.
1 ohne direkte Beteiligungen
-
6,3
4 042 3 317
52 816
4. Inländische Beteiligungen im Ausland insgesamt
3. Anteil ausländ. Beteiligungen an inländ. Kapitalgesellschaften in v. H. (Ziff. 2.2: Ziff. 1)
2. Ausländische Beteiligungen 2.1.– insgesamt 2.2.– darunter an Kapitalgesellschaften
1
1. Alle inländischen Kapitalgesellschaften
Anzahl
1964
97,6
21 113
19,6
21 627 19 537
99 526
Kapital Mill. DM
1970
74 Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Tabelle 13: Kapitalverflechtung der Wirtschaft der BRD mit dem Ausland
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
75
internationalen Bankengruppen jeweils deutsche Großbanken, und zwar die Deutsche Bank AG, die Dresdner Bank AG, die Commerzbank AG sowie die Westdeutsche Landesbank AG (eine Girozentrale). Diese Bankengruppen, die als Vorstufen zu immer enger zusammenwachsenden Finanzinstitutionen angelegt sind, vereinigten 1969 eine addierte Bilanzsumme von rund 680 Mrd. DM und einen Einlagenbestand von rund 550 Mrd. DM auf sich. Unter Einbeziehung der jährlichen Wachstumsraten einerseits bzw. der Währungsparitätsänderungen andererseits dürften sich diese Zahlen für 1972 auf schätzungsweise 800 Mrd. DM bzw. 700 Mrd. DM erhöht haben.
2.4
Konzentration der Einkommen
Die Vermögenskonzentration steht nicht nur mit der Konzentration im Produktionsbereich in Beziehung, sondern in weiten Bereichen auch in Zusammenhang mit der Einkommensentwicklung. Zwar ist die Bildung von Produktivvermögen, insbesondere bei den Großunternehmen, die im Zuge des Unternehmenswachstums auftritt, weitgehend von dem persönlichen Willen der Kapitaleigentümer zur Vermögensbildung getrennt, denn diese Unternehmen bzw. Konzerne wachsen im wesentlichen über den sogenannten cash flow, d.h. über die Eigenfinanzierung, aus sich selbst heraus.1 Dennoch gibt es Bereiche – insbesondere bei der Geldvermögens- und Grundvermögensbildung –, in denen die Einkommenshöhe ausschlaggebend ist. Die Einkommenshöhe ist für die abhängig Beschäftigten von entscheidender Bedeutung, weil mit der Höhe der Einkommen aus unselbständiger Arbeit weitgehend die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten der Lebenslagen festgelegt sind. Für die Messung der Einkommensentwicklung in sozioökonomisch aussagefähiger Form liegen von Seiten der amtlichen Statistik nur sehr unbefriedigende Ergebnisse vor. Erfreulicherweise veröffentlichte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin, im Sommer 1973 eine ausführliche Berechnung zur „Einkommensschichtung sozialer Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland 1950 bis 1970“2, auf die sich die folgenden empirischen Daten stützen. Auch hierbei bleibt noch immer unberücksichtigt, daß in der Einkommenshöhe für Selbständige die Vielzahl von Kleingewerbetreibenden, Kleinbauern u.ä. enthalten ist, deren Einkommen dem Einkommen der abhängig Beschäftig1 2
Vgl. Levinson, C., Die Inflation, Hamburg 1972, bes. S. 173-210. Vgl. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW): Einkommensschichtung sozialer Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland 1950 bis 1970. In: Wochenbericht 34/ 73 des DIW v. 23. 8. 1973.
76
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
ten häufig in etwa entspricht und deren soziale Stellung in verschiedenen Aspekten vergleichbar ist mit derjenigen der abhängig Beschäftigten. Diese Art der Zusammenrechnung bewirkt, daß das Durchschnittseinkommen der in rechtlichem Sinne selbständig tätigen Personengruppen erheblich gesenkt wird. Andererseits sind in der Gesamtsumme der Einkommen aus unselbständiger Arbeit auch die Einkommen der in leitender Funktion tätigen Personen in Unternehmen und Verwaltungen enthalten, zu denen auch der in diesem Zusammenhang vielzitierte Generaldirektor gehört. Diese Einbeziehung hebt das Durchschnittseinkommen der unselbständig Tätigen. Aus beiden Abgrenzungen ergibt sich also, daß der in sozioökonomischer Hinsicht bestehende Unterschied zwischen Selbständigen und Unselbständigen durch die verzerrende statistische Abgrenzung verkleinert wird. Das DIW hat in seinen Berechnungen zumindest für den Bereich der unselbständig Tätigen eine Differenzierung nach Arbeitereinkommen, Angestellteneinkommen (einschließlich Beamten) und Renteneinkommen vorgenommen. Leider fehlt eine vergleichbare Differenzierung auf Seiten der Einkommen aus selbständiger Arbeit. Die Entwicklungen der Einkommen nach den sozialen Gruppen für die Jahre 1950, 1960 und 1970 ist in Tabelle 14 enthalten. Hieraus ergibt sich z.B., daß jedem Selbständigen-Haushalt 1950 im Durchschnitt 71 % mehr Einkommen zur Verfügung stand als jedem Arbeiterhaushalt. Bis 1970 stieg dieser Vorsprung auf rd. 116 %. Entsprechende Verschiebungen ergaben sich zwischen Selbständigen einerseits und Angestellten/Beamten bzw. Rentnern andererseits, da sich die relativen Einkommensabstände zwischen Arbeiter- und AngestelltenHaushalten sowie Rentnerhaushalten zwischen 1950 und 1970 kaum verändert haben. Nähere Angaben, insbesondere zur Einkommensschichtung und deren Entwicklung innerhalb der sozioökonomischen Gruppen sind der Tabelle 14 zu entnehmen. Als wesentliches Ergebnis läßt sich feststellen, daß in den zurückliegenden 20 Jahren die Einkommensunterschiede zwischen den Selbständigen und Unselbständigen zugenommen haben. Dies ist eine Entwicklung, die der zunehmenden Vermögenskonzentration parallel läuft.
%
%
58 2,1 450 15,3 388 15,5
in 1000
1500-2000
67 1117 2133 16 439 1178 381 3 287 5 006
1,3 17,8 30,9 0,4 7,8 15,3 2,5 17,4 22,3
Jährliches Nettoeinkommen auf Monatswerte umgerechnet Ohne Berlin (West) und Saarland. Ab 2000 DM keine Untergliederung
748 14,2 2975 47,3 1 838 26,7 260 6,1 1 353 23,9 3 014 39,0 2 421 15,9 7 084 37,5 6 041 27,0
3 0,0 268 4,3 1364 19,8 118 2,1 619 8,0 89 0,6 1 143 6,0 3 397 15,2
575 19,9 107 3,7 28 1,0 1 816 45,2 850 21,1 307 7,6 1097 20,7 1435 27,2 1026 19,4
191 6,8 881 29,9 260 10,4
% in 1000
838 29,7 940 31,9 92 3,7
in 1000
500-1000 1000-1500 %
88 941 34 376 61 541 2 937
87 2,2 702 13,3
186 6,3 1 047 41,9
3000 u. mehr in % 1000
2885 4020 5285
2820 2945 2500
in 1000
331 781 1519 203 504 911 357 838 1581
425 972 1842
567 1423 3267
Durchschnittseinkommen je % Haushalt (in DM)
100 100 100 100 100 100 100 100 100
100 100 100
100 100 100
Haushalte
- 5285 1,4 24 0,4 6285 13,6 439 6,4 6895 - 4260 0,6 5 0,1 5655 4,9 155 2,0 7720 0,4 - 15 250 2,9 302 1,6 18 905 13,1 2 343 10,5 22 400
15 0,5 154 3,8 910 17,2
46 1,6 265 9,0 710 28,4
in 1000
2000-3000
Quelle: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: DIW-Wochenbericht 34/73 v. 23. 8. 1973.
2
1
Haushalte insges.
Rentner
19502 1960 1970 19502 1960 1970 19502 1960 1970
Arbeiter
84,5 28,8 2,6 93,5 65,5 30,8 80,6 34,6 11,9
2 160 74,9 806 20,1 115 2,2
19502 1960 1970
Angestellte und Beamte
4 467 1 813 180 3 984 3 706 2 378 12 298 6 548 2 676
1 687 59,8 223 7,6 3 0,1
%
19502 1960 1970
in 1000
unter 500
Selbständige1
Haushalte nach sozialen Gruppen
Monatliches Nettoeinkommen in DM von ... bis unter . . .
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
77
Tabelle 14: Einkommensschichtung der Haushalte in der BRD 1950, 1960 und 1970
78 3
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Konzentration des Einflusses auf staatliches Handeln
In unserer Gesellschaft sind Macht und Einflußchancen noch immer weitgehend nach Vermögen, Finanzkraft u.ä. verteilt. Es soll nun geprüft werden, inwieweit dieses ,kapitalistische Prinzip’ auch hinsichtlich des Einflusses auf staatliches Handeln gilt. Hierzu ist erstens darzustellen, durch welche Einnahmequellen der Staat seine Tätigkeiten hauptsächlich finanziert. Von diesen Hauptsteuerquellen aus läßt sich unter Einbeziehung von Ergebnissen der Steuerüberwälzungslehre danach fragen, in welchem Verhältnis die sozioökonomischen Gruppen von Kapital und Arbeit die staatlichen Tätigkeiten in etwa finanziell tragen. In einem zweiten Gesichtspunkt wird dann anzudeuten sein, wie die Einflußmöglichkeiten auf das staatliche Handeln in der BRD machtmäßig zwischen den beiden hauptsächlichen sozioökonomischen Gruppen von Kapital und Arbeit verteilt sind.
3.1 Einfluß durch Finanzierung der Staatstätigkeit Jedes staatliche Handeln ist mit bestimmten Ausgaben verbunden, die dem Staat auf der anderen Seite durch Einnahmen zufließen müssen. Damit ergibt sich ein enger Zusammenhang zwischen dem Umfang bzw. der Struktur staatlichen Handelns einerseits und dem Umfang bzw. der Struktur der staatlichen Einnahmen andererseits. Betrachtet man die Summe aller staatlichen Steuereinnahmen für die Jahre 1950, 1960 und 1970 nach den von den Einnahmen her bedeutendsten Steuern, gemessen am Aufkommen 1970, so entfielen auf diese Steuern 1950 rd. 72%, 1960 rd. 87% und 1970 rd. 91% aller Steuereinnahmen. Gleichzeitig reichten sowohl 1950 als auch 1970 die gesamten Steuereinnahmen zur Finanzierung von knapp 80% aller Staatsausgaben, während 1960 ausnahmsweise die Staatseinnahmen sogar über den Staatsausgaben lagen. Innerhalb der 10 einnahmestärksten Steuern ist in dem 20jährigen Zeitraum eine erhebliche Verschiebung zu Lasten der Lohnsteuer sowie der allgemeinen und speziellen Verbrauchssteuern erfolgt, d.h. der Steuern, die von der Mehrheit der Bevölkerung getragen werden (Massensteuern).
79
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
Eine weitergehende Interpretation nach den sozioökonomischen Gruppen von Selbständigen und Unselbständigen läßt sich vornehmen, wenn man die entsprechende Gliederung der Gesamtzahl der Erwerbstätigen in die Analyse einbezieht. Zwischen 1950 und 1970 stieg der Anteil der abhängig Beschäftigten von rd. 70% über 76% im Jahre 1960 auf 84%. Geht man von einer entsprechenden Aufteilung auch der Wohnbevölkerung aus, so hat dies zur Konsequenz, daß es sich bei den erwähnten Massensteuern i. w. um solche handelt, die von abhängig Beschäftigten und ihren Familien getragen werden. Die starken Strukturveränderungen bei den Steuereinnahmen sind neben der Verschiebung innerhalb der erwerbstätigen Bevölkerung insbesondere auch auf die eindeutige Bevorzugung der Einkommensarten aus Kapitalerträgen zurückzuführen. Tabelle 15: Kassenmäßige Steuereinnahmen des Staates nach Art der Steuern1 19502
19603
19703
Steuerarten 1. Umsatzsteuer 2. Lohnsteuer 3. Einkommensteuer 4. Mineralölsteuer 5. GewSt. (Ertrag und Kapital)8 6. Körperschaftsteuer 7. Tabaksteuer 8. Kfz -Steuer 9. Vermögensteuer 10. Zölle 11. Sonstige Steuern
Mill. DM 4 9254 1 693 1 9906 97 1 270 1 532 2 101 3469 109 707 5 689
Mill. DM % 24,1 16 1484 8,3 8 102 9,7 9 8096 0,5 2 664 6,2 7 433 7,5 6 510 10,3 3 537 1,7 1 475 0,5 1 100 3,5 2 786 27,8 9 086
% 23,5 11,8 14,3 3,9 10,8 9,5 5,2 2,1 1,6 4,1 13,2
Steuereinnahmen insgesamt
20 459
100,0
100,0 152 555
Nachrichtlich: Staatsausgaben insgesamt 1
25 881
68 650 65 228
Mill. DM 38 1255 35 086 18 0227 11 512 10 728 8 716 6 536 3 830 2 877 2 871 14 252
196 402
Die Klassifizierung erfolgt nach den einnahmemäßig 10 bedeutendsten Steuern 1970 Rechnungsjahr 3 Kalenderjahr 4 Einschl. Umsatzausgleichsteuer 5 Einschl. Einfuhrumsatzsteuer 6 Einschl. nicht veranlagter Steuer vom Ertrag 7 Einschl. Kapitalertragsteuer 8 Einschl. Lohnsummensteuer 9 Einschl. Zuschlag zur Kfz-Steuer 10 Vorläufiges Ergebnis 2
Quelle: Statistisches Bundesamt
10
% 25,0 23,0 11,8 7,6 7,0 5,7 4,3 2,5 1,9 1.9 9.3 100,0
80
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Im einzelnen ist aus Tabelle 15 zu entnehmen, daß sich der Anteil der Massensteuern (Lohnsteuer, Umsatzsteuer, Mineralölsteuer, Tabaksteuer, Kfz-Steuer, Zölle) vom gesamten Steueraufkommen zwischen 1950 und 1970 von knapp der Hälfte auf fast zwei Drittel erhöhte. Allein der Anteil der Lohnsteuer stieg um fast 180%, während die Einkommensteuer ihren Anteil lediglich um knapp 22% erhöhte. Damit bleibt festzustellen, daß die Finanzierung der staatlichen Leistungen in wachsendem Maß von den abhängig Beschäftigten getragen wird. Es soll nun abschließend kurz die sozioökonomische Machtverteilung untersucht werden, durch die das staatliche Handeln inhaltlich auf den verschiedenen Ebenen beeinflußt wird. Als Kennzeichen hierfür werden die Organisationen bzw. Verbände der kapital- bzw. arbeitsorientierten Interessengruppen dargestellt.
3.2 Einfluß durch sozioökonomische Macht Die organisierte Vertretung von Interessen wird in den Wirtschaftsgesellschaften, die parlamentarisch regiert werden, auf Grund der komplizierter werdenden Entscheidungsstrukturen immer bedeutender.1 Hierzu kann man mit Jaeggi2 die Hypothese aufstellen, daß die Vielzahl der Interessengruppen hierarchisch geordnet ist, wobei zu den wichtigen Gruppen „vor allem wirtschaftliche oder durch die Wirtschaft stark bedingte Gruppen gehören“. Während die Arbeitnehmerseite lediglich eine große Organisation zur Durchsetzung ihrer Interessen in Form des Deutschen Gewerkschaftsbundes besitzt – sieht man einmal von den übrigen, meist kleineren Arbeitnehmerorganisationen ab, stützt sich die Kapitalseite auf mehrere große Verbände.
3.2.1 Kapitalorientierte Verbändesysteme An dieser Stelle kann nur ein allgemeiner Überblick über die kapitalorientierten Verbändesysteme gegeben werden. Sie besitzen eine z.T. enge Form der gegenseitigen Kooperation, und in dem bedeutendsten Koordinierungsgremium, dem „Gemeinschaftsausschuß der Deutschen gewerblichen Wirtschaft“ sind beispielsweise insgesamt 14 Verbände zusammengeschlossen.3 1
2 3
Vgl. die empirische Darstellung der verschiedenen Interessengruppen in der BRD, in: Informationen zur politischen Bildung, Nr. 145: Interessenverbände in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, im Juni 1971. Vgl. Jaeggi, U., Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1969, S. 29. Im einzelnen handelt es sich um: Bundesverband der Deutschen Binnenschiffahrt; Bundesverband der Deutschen Industrie; Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels; Bundesverband Deutscher Banken; Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände; Centralvereinigung Deutscher Handelsvertreter- und Handelsmakler-Verbände ; Deutscher Hotel- und Gaststättenver-
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
81
Die kapitalorientierten Verbände besitzen teilweise ein dichtes Organisationsund Kommunikationsnetz. Nach einer in der Literatur zitierten Ostberliner Untersuchung sollen diese Verbände zu Beginn der 60er Jahre über mehr als 5000 Büros bzw. Verwaltungsstellen verfügt haben, in denen rund 30 000 Mitarbeiter hauptamtlich beschäftigt gewesen sein sollen.1 Diese Zahl erscheint schon angesichts der Vielzahl tiefgegliederter kapitalorientierter Verbändesysteme als zu niedrig. So wird in einer Untersuchung von Bredl2 die Zahl der hauptamtlichen Mitarbeiter dieser Verbände mit rund 120 000 angegeben. Darüber hinaus ist zu bedenken: Größere Unternehmen „haben nicht selten Vorstandsmitglieder für die Verbandsarbeit freigestellt und setzen eigene Abteilungen für wirtschaftsund sozialpolitische Aufgaben ein“3. Bei diesen Zahlenangaben ist als entscheidender Faktor jeweils zu berücksichtigen, daß diese Verbände lediglich für die Stabilisierung und den Ausbau der auf Kapitalseite vorhandenen gesellschaftlichen Macht tätig sind. Die einzelnen kapitalorientierten Verbände sind in ihrer Bedeutung für die Stabilisierung des sozioökonomischen Systems der Machtverteilung in der BRD nicht gleichwertig. Man kann davon ausgehen, „daß die Wirtschaftsverbände ihre Macht aus der ökonomischen Potenz der großen Unternehmungen beziehen“4. Damit ergibt sich eine unmittelbare Beziehung zwischen den Verbänden und den Führungsgremien der großen Unternehmen, Konzerne bzw. Großbanken; die personellen Verflechtungen dieser Gremien innerhalb der Unternehmen sind bereits an früherer Stelle dargestellt worden (vgl. Punkt 2.2.1.). Von besonderem Interesse hinsichtlich der Art der personellen Verflechtungen der Verbände mit den Großunternehmen, Konzernen und Banken sind vor allem:5
1
2
3 4 5
band; Deutscher Industrie- und Handelstag; Deutscher Sparkassen- und Giroverband; Gesamtverband der Versicherungswirtschaft; Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels; Verband Deutscher Reeder; Zentralarbeitsgemeinschaft des Straßen-Verkehrsgewerbes; Zentralverband des Deutschen Handwerks. Vgl. Jaeggi, U., Macht und Herrschaft, a.a.O., S. 79, sowie die dort angegebene Literaturquelle. Hiernach sind diese Angaben der Veröffentlichung von Banaschek, M., Zur Stellung und Entwicklung der Arbeitgeber-Verbände im Mechanismus des staatsmonopolistischen Kapitalismus und im System imperialistischer Massenverführung, Berlin-Ost, 1963, entnommen. Vgl. Bredl, W., Die Interessenvertretung für Arbeitnehmer. Gedanken zur gegenwärtigen Situation und zur Notwendigkeit einer Reform der deutschen Gewerkschaftsbewegung. In: GewerkschaftsSpiegel 24/ 1968, S. 1 bis 24 (Dokumentation); Blüm, N., in: Publik, Nr. 19 vom 9. 5. 1969 sowie Neumann, K., Gewerkschaftsvermögen und Gemeinwirtschaft, hrsg. von der IG Chemie-PapierKeramik, Hannover (o. J.), S. 16. Schneider, H., Die Interessenverbände, München-Wien 1965, S. 28. Jaeggi, U., Macht und Herrschaft, a.a.O., S. 80. Vgl. hierzu im einzelnen Koubek, N. u. a., Wirtschaftliche Konzentration und gesellschaftliche Machtverteilung in der Bundesrepublik Deutschland, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 28/ 72, v. 8. 7. 1972, S. 16 ff. mit weiteren Literaturangaben.
82
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
(1) Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) – Zusammenschluß von 56 Fach- bzw. Landesverbänden, die ihrerseits 720 angeschlossene Verbände repräsentieren. (2) Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) – Zusammenschluß von 39 Industrieverbänden, die ihrerseits wieder über 400 Fachverbände und Fachgruppen sowie 216 Landes- und Regionalverbände umfassen. (3) Deutscher Industrie- und Handelstag (DIHT) – Zusammenschluß der 81 Kammerbezirke in der BRD einschließlich West-Berlin. (4) Bundesverband Deutscher Banken – Zusammenschluß von 17 Landes- bzw. Fachverbänden, die mehr als 300 private Banken vertreten. (5) Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels – Zusammenschluß von 11 Landesverbänden und über 200 Fachverbänden mit z.T. bundesweitem Verbandsnetz.
3.2.2 Arbeitsorientiertes Verbandssystem Im Gegensatz zu den kapitalorientierten Interessengruppen kann sich die arbeitsorientierte Interessenvertretung in der BRD nur auf einen großen Verband stützen, und zwar den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), in dem 16 Einzelgewerkschaften zusammengeschlossen sind. Dabei leitet sich die Stärke der Gewerkschaften in der Gesellschaft im wesentlichen aus ihrer Mitgliederzahl ab. Die Zahlen für 1970 lauteten für die dem DGB angeschlossenen Gewerkschaften 6,7 Millionen (31. 12.), für die Deutsche Angestellten Gewerkschaft (DAG) 461000 (30. 9.), für den Deutschen Beamtenbund (DBB) 721 000 (30. 9.) und für den Deutschen Handels- und Industrieangestelltenverband (DHV) 60 000 (30. 9.).1 Die Struktur des DGB ist so angelegt, daß der Einfluß auf den Dachverband mit wachsender Mitgliederzahl gleichfalls wächst. Dies ergibt sich vor allem aus der Nominierung der Delegierten zu den DGB-Kongressen sowie über die Finanzierungsregelungen. Für die Finanzierung gilt, daß grundsätzlich 12% der Mitgliederbeiträge der Einzelgewerkschaften an den Dachverband abzuführen sind. Innerhalb des DGB sowie der angeschlossenen Gewerkschaften sind rund 9000 Mitarbeiter hauptamtlich tätig (gegenüber rund 120 000 in den kapitalorientierten Verbänden, wie bereits erwähnt). Hinzu kommen noch die ehrenamtlich tätigen Mitarbeiter auf den verschiedenen Ebenen des Verbandes. Diese 1
Statistisches Jahrbuch für die BRD 1972, S. 138.
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
83
ehrenamtlichen Aktivitäten sind vergleichbar mit den nicht erfaßbaren Leistungen derjenigen Mitarbeiter in den Verwaltungen der Unternehmen und Konzerne, die für solche Unternehmer tätig sind, die als Führungskräfte bestimmte Funktionen in kapitalorientierten Verbänden innehaben.
3.2.3 Nicht-ökonomische Einflußbereiche kapital- und arbeitsorientierter Interessengruppen Von wesentlicher Bedeutung für die Interessendurchsetzung im gesellschaftlichen Bereich ist neben der jeweiligen Verbandsstruktur die Einflußnahme auf Parteien sowie parteiverbundene Organisationen, auf das Informationswesen, auf das Berufs-, Bildungs-, Schul-, Hochschul-, Wissenschafts- und Forschungswesen sowie unmittelbar auf staatliche Institutionen in den verschiedenen Bereichen. In diesem Beitrag können die hier auftretenden Strukturmerkmale leider nicht dargestellt werden. Vielmehr sei lediglich als allgemeiner Hinweis die in vielen Bereichen vorhandene strukturelle Bevorzugung der kapitalorientierten Interessengruppen erwähnt. Diese hängt nicht zuletzt mit den aus der privaten Verfügung über Produktivvermögen resultierenden Rechte zusammen.1 Der Handlungsspielraum für staatliche Entscheidungen ist darüber hinaus aus vielfachen funktionellen, institutionellen und personellen Verknüpfungen zwischen dem Staatsapparat und der Kapitalseite eingeengt. Hinsichtlich der sozioökonomischen Machtverteilung bzw. des Einflusses auf staatliches Handeln ist allgemein eine Wende durch den Regierungswechsel 1969 zu verzeichnen gewesen. Mittlerweile stößt jedoch die staatliche Reformpolitik sowohl von der Finanzierungsseite her als auch von dem politischen Handlungsspielraum der Koalition an Grenzen (z.B. in den zentralen Bereichen Mitbestimmung, Vermögenspolitik, Bildungsreform, Steuerreform und Bodenrecht). Dies liegt teils an den bestehenden parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen, zum größeren Teil sind die Ursachen jedoch darin zu suchen, daß mit dem Regierungswechsel 1969, der in den Wahlen von 1972 bestätigt wurde, die sozioökonomische Machtverteilung in ihren ökonomischen Grundstrukturen überhaupt nicht beeinflußt wurde. Indem hier die Konzentrationsprozesse fortschreiten, verstärkt sich bei gleichbleibender Entscheidungs-, Legitimations- und Verfügungsmacht in den wesent-
1
Koubek, N., Wirtschaftliche Konzentration und gesellschaftliche Machtverteilung ..., a.a.O., S. 2136 mit zahlreichen Literaturangaben. In ähnlichem Sinn: Höhnen, W., Koubek, N., Scheibe-Lange, I., Quantitative und qualitative Aspekte der ökonomischen Konzentration und gesellschaftlichen Machtverteilung in der Bundesrepublik Deutschland. In: WWI-Mitteilungen, H. 8-9/ 1971, S. 266271.
84
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
lichen gesellschaftlichen Bereichen die gesellschaftliche Machtverteilung zugunsten der kapitalorientierten Interessen. Eine Reform der Gesellschaft muß insoweit wesentlich tiefer ansetzen. Der Wille zu einer stärker den Interessen der abhängig Beschäftigten verpflichteten Regierungspolitik ist hierzu zwar eine notwendige Voraussetzung, doch muß der zweite Schritt – die Veränderung der sozioökonomischen Macht - getan werden, wenn gesellschaftlicher Fortschritt gelingen soll. Dies kann der Staat, der in seinen Handlungen in hohem Maße von eben dieser Machtverteilung abhängig ist, jedoch nicht autonom tun. Vielmehr müssen die abhängig Beschäftigten und ihre Organisationen Handlungsräume in der sozialen Auseinandersetzung erkämpfen, die mit staatlichem Handeln im Sinne des gesellschaftlichen Fortschritts ausgefüllt werden können. Der voranstehende Text will die Suche nach den „neuralgischen Bereichen“, in denen die ökonomische und sozioökonomische Macht konzentriert ist, erleichtern. Abschließend soll versucht werden, die aufgezeigten Funktionszusammenhänge in einem Schaubild nochmals zu verdeutlichen. Der Leser kann die an früheren Stellen dargestellten Zahlen selbst eintragen, um eine auch empirisch aussagefähige Übersicht über wesentliche Strukturen der Konzentration und der Machtverteilung in der Wirtschaftsgesellschaft der BRD zu erhalten.
A Planung, Wettbewerb, Konzentration
4
85
Zusammenfassung in Thesen
Die Konzentration im Bereich des Produktivvermögens stellt kein isoliertes Phänomen in unserer Gesellschaft dar. -
-
-
-
In den letzten 10 bzw. 20 Jahren hat sich die Konzentration im Produktionsbereich verschiedener Wirtschaftssektoren auf Betriebs-, Unternehmens-, Konzernebene wesentlich verstärkt. Dabei war die Zunahme in den Bereichen am stärksten, in denen die langfristigen ökonomischen Planungen und Entscheidungen stattfinden. Die Produktionskonzentration ist in ihrer Bedeutung erst voll erkennbar, wenn sie durch die Konzentration im Bereich der Verfügungsmacht über Produktivvermögen ergänzt wird. Hierbei zeigt sich, daß eine relativ kleine Anzahl von Großunternehmen bzw. deren Leitungsorgane die in unserer Wirtschaft wesentlichen Entscheidungen trifft, ohne daß eine gesellschaftliche Kontrolle hierüber vorhanden ist. Auch im Bereich der Einkommensverteilung zeigen sich Konzentrationstendenzen, die hier als zunehmende Vergrößerung des Unterschieds in der durchschnittlichen Einkommenshöhe der abhängig Beschäftigten und der Selbständigen ausgedrückt werden können. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die staatliche Tätigkeit, so sind zwei Entwicklungstendenzen feststellbar: die Finanzierung der Staatstätigkeit fällt zunehmend den abhängig Beschäftigten zu; der Einfluß auf die Inhalte staatlichen Handelns erfolgt nach wie vor schwerpunktmäßig durch kapitalorientierte Gruppen. Dies geschieht entweder unmittelbar (z.B. über die Verbandstätigkeiten) oder mittelbar über die sogenannten Sachzwänge des wirtschaftlichen Ablaufs.
Eine Reformpolitik muß daher die strukturellen Ungleichgewichte der gesellschaftlichen Machtverteilung zu verändern suchen. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß staatliches Handeln weitgehend von der Machtverteilung zwischen den großen gesellschaftlichen Gruppen abhängig ist und nur in wenigen Bereichen als autonom angesehen werden kann.
86
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Abbildung 1: Ökonomische Konzentration und sozioökonomische Machtstruktur in der BRD
Staatliche Einrichtungen
5.Ebene
Interessenvertretungen gegenüber öffentlichen Stellen Einrichtungen für Berufsbildung, Schule/ Hochschule, Wissenschaft, Forschung
Kapital
Arbeit
Kleinere Interessengruppen Parteien und parteiverbund Einrichtungen
4.Ebene
Kapitalorientierte Verbändesysteme
Gewerkschaften
Handlungsfeldern Priv. Verfügbarkeit über Produktionsmittel; personelle Verflechtungen zwischen Unternehmen, Konzernen u. Banken in Privatwirtschaft u. disfunktionaler öffentl. Wirtschaft
Handlungsfelder Tarifpolitik und Betriebsstrategie; Mitbestimmung über Arbeitspl., Betrieb, Unternehmen, Konzern, Gesellschaft; Gemeinschaft; Vermögensfonds (Arbeitnehmer)
Kapitalstruktur
(Verfügungsberechtigte)
(Eigentümer)
3.Ebene
Arbeitsstruktur
2. Ebene Eigentumsstruktur des Produktivvermögens
1. Ebene
Verteilung der Umsätze, volkswirtschaftl. Wertschöpfung und ähnl. Größen auf:
Konzerne Unternehmen Betriebe
Quelle: Eigene Darstellung
Verteilung der Beschäftigten auf:
(Gewerkschaftsmitglieder)
Einrichtungen des Informationswesens
B Universitäten als Bildungsinstitutionen
B.1 Universitätsmodelle: Von der Ordinarien- zur Dienstleistungsuniversität*
1
Einleitung
Die Universitäten befinden sich zurzeit in einem großen Wandel. Dies wird deutlich, wenn man sich die Begriffe von Verstärkung der Autonomie, BolognaProzeß mit Bachelor- und Master-Studiengängen, Einrichtung von neuen Leitungsorganen, vollberufliche Positionen des Präsidenten bzw. Rektors, Hochschulrat als Form des Aufsichtsrates, Studiengebühren, Kostenorientierung, Aufbau von Ehemaligenorganisationen, Zusatzfinanzierung über Stiftungen, Eliteuniversitäten, Verstärkung der Internationalisierung, weltweiter Wettbewerb um Talente sowie Weiterbildungszuständigkeit in Erinnerung ruft. Diese Vielzahl von Änderungen, Neuerungen und Erweiterungen verwirrt, zumal der Standardansatz deutscher Universitäten im Rahmen des Humboldt’schen Bildungsideals weiterhin als Orientierung dient und damit als Maßstab für die vorgesehenen Neuerungen. Dies gilt sowohl für den Fall der Vereinbarkeit mit der Neuentwicklung als auch der Unvereinbarkeit. Die Besonderheiten in Nordrhein-Westfalen in Form der Entwicklung von Gesamthochschulen haben demgegenüber nur noch einen Erinnerungswert ohne Deutungsmacht für die Zukunft, denn sie sind in zentralen Teilen gescheitert und unterdessen als Organisationsform aufgelöst. Dies bezieht sich selbst auf diejenigen Teile, die durchaus entwicklungsfähig gewesen wären, z.B. die Nutzung der Kurz- und Langzeitstudiengänge als kompatible deutsche Antwort auf das angelsächsische Bachelor- und Mastermodell, sowie die grundsätzliche Öffnung der Universitäten auch für leistungsstarke Nicht-Abiturienten. Die Vielzahl von Neuerungen gewinnt ihre ganze Tragweite erst vor dem historischen Hintergrund der Universitätsentwicklung, denn sie werden zu einem neuen Typus von Universität fuhren, der zumindest in Teilen Humboldt-kompatibel sein kann. *
in: Controllingbeiträge im Spannungsfeld offener Problemstrukturen und betriebspolitischer Herausforderungen, hrsg. v. Pütz, M.; Böth, Th.; Arendt, V. Festschrift für Winfried Matthes, Lohmar-Köln 2008, S. 419-438.
88
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Im Folgenden sollen drei unterschiedliche Grundtypen von Universitäten dargestellt werden, die in zeitlicher Abfolge im 20. Jahrhundert in Deutschland prägend waren, wenn auch, gemessen an internationalen Standards, mit sehr unterschiedlichen Erfolgen. Zunächst wird es dabei um den klassischen Typus der Ordinarienuniversität gehen, dem ab Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts die sogenannte Gruppenuniversität folgte. Dieser zweite Typus mit einer zeitlich relativ kurzen Phase wird gegenwärtig durch die sogenannte Dienstleistungsuniversität abgelöst, in der es um die starke Nutzung des betriebswirtschaftlichen Instrumentariums zur Lenkung von Organisationen geht, und zwar gerade auch bei der Gestaltung von wissenschaftlicher Forschung, Bildung, Ausbildung und Weiterbildung.
2
Die Ordinarienuniversität als historischer Klassiker
Die neuzeitliche Universitätsentwicklung wird häufig mit der durch Wilhelm von Humboldt zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Preußen durchgesetzten Reform in Verbindung gebracht, bei der sich der Staat die Durchsetzung öffentlichrechtlicher Organisationsstrukturen, die personellen Grundentscheidungen, die programmatische Ausrichtung und die allgemeine Finanzierung aus Haushaltsmitteln vorbehielt, andererseits für die wissenschaftlichen Erkenntnissinteressen in Forschung und Lehre keine Vorgaben machte. So entstanden die Prinzipien der akademischen Selbstverwaltung und der Einheit von Forschung und Lehre für einen nach heutigen Maßstäben kleinen Kreis von Professoren und Studierenden, wobei die Entscheidungsmacht bei den Professoren lag. Beispielsweise gab es 1806, also kurz vor Beginn der preußischen Universitätsreform, an allen 39 deutschen Universitäten knapp 800 Ordinarien, 140 Extraordinarien sowie rund 6000 Studierende.1 Personifiziert wurden diese Strukturen im Status des Ordinarius als Typus des Hochschullehrers, bei dem der wissenschaftliche und organisatorische Teil der fachlichen Arbeitsgebiete in Form eines Lehrstuhls zusammengefaßt wurde und sich hierüber die Universität auch kollegial selbst verwaltete. Die philosophisch, theologisch, geisteswissenschaftlich und naturwissenschaftlich-mathematisch ausgerichteten Universitäten verweigerten die im Zuge der Industrialisierung entstehenden neuen Fachgebiete der Ingenieurwissenschaften, für die in Technischen Hochschulen eigene Ausbildungsstätten geschaffen wurden. Ähnlich entwickelten sich zunächst die betriebswirtschaftlichen Fakultäten zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Handelshochschulen. Durch die zunehmende Bedeutung der Wissenschaft für den Aufbau des modernen Staates mit wachsenden Industrien stiegen die gesellschaftliche Bedeutung und mit steigenden wissenschaftlichen Erfolgen auch die Reputation der 1
Vgl. Prahl, H. W.: Sozialgeschichte des Hochschulwesens. München 1978, S. 208 ff..
B Universitäten als Bildungsinstitutionen
89
Ordinarien, in denen sich die Kombination von freiem Erkenntnisinteresse, Selbstverwaltung, wissenschaftlichem Fortschritt und staatspolitischer Verantwortung am stärksten manifestierten. Es verwundert daher nicht, daß der Typus des Ordinarius dieser Epoche auch begrifflich den Namen gab, indem für den Zeitraum von rund 150 Jahren zwischen 1810 und 1960 von der Ordinarienuniversität die Rede ist. Etwas spöttisch sprach Dorff vom Zeitalter des „akademischen Star- und Primadonnenwesen(s)“1. Zumindest in Deutschland, genauer in der damaligen westlichen Bundesrepublik Deutschland, endete diese Epoche abrupt Ende der 60er- Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Ursächlich für den Kollaps des ordinarienbezogenen Universitätssystems waren mehrere Faktoren, von denen hier beispielhaft genannt seien: der Bedarf an neuen akademischen Fächern, eine Erhöhung der akademischen Ausbildungszahlen, die gesellschaftliche Reformbewegungen im Zuge der 68er Bewegung sowie die Unfähigkeit der universitären Führungspersonen/ Gremien zu gemäßigten Reformen. Besonders deutlich hat Helmut Schelsky die Situation am Vorabend der Hochschulreformen in Deutschland in einem Vortrag im Februar 1965 auf der Plenarversammlung der Westdeutschen Rektorenkonferenz in Würzburg dargestellt. Unter dem Titel „Die politische Aufgabe der Wissenschaft“ wurden hier das Spannungsfeld von Wissenschaft, Staat und Wirtschaft entfaltet, die Anforderungen des Staates an Aufgaben und Lösungsformen der Hochschulen formuliert und mögliche Konsequenzen herausgearbeitet. Dabei geht Schelsky vom Anspruch eines technischen Staates an das Wissenschaftssystem aus, den die wissenschaftlichen Hochschulen nur durch eine bewußte Übernahme der daraus folgenden politischen Aufgaben und ihrer institutionellen Konsequenzen entsprechen können.2 Dem stehe eine akademische Selbstverwaltung gegenüber, in der sich jeder einzelne Professor nur selbst repräsentiere.3 Vier Jahre nach diesem Vortrag beschreibt der gleiche Autor das Versagen der Hochschulen beim Lösen dieser Aufgaben. Im Zusammenhang mit der Schuldzuweisung für die Professoren konstatiert er „Verwaltungsunfähigkeit, Reformunfähigkeit und Politikunfähigkeit“4. Dahinter verberge sich kein Unwille, sondern es handle sich um ein strukturelles Problem der Professoren, da sich deren produktive Individualität einerseits, das Organisieren von Wissenschaft bzw. das Handeln im politischen Raum andererseits gegenüberstehen.
1
2
3 4
Dorff, G.: Das Beamten- und Besoldungsrecht der Hochschullehrer. In: Im Dienste der Deutschen Hochschullehrer. Der Hochschulverband unter Wilhelm Felgenträger. Schriften des Hochschulverbandes. Göttingen 1969, S. 150. Vgl. Schelsky, H.: Abschied von der Hochschulpolitik oder Die Universität im Fadenkreuz des Versagens. Bielefeld 1969, S. 178 ff. Vgl. Schelsky, H. (1969) S. 192. Schelsky, H. (1969) S. 36.
90
Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen „Die vielberedete „Autorität“ der Ordinarien in den Selbstverwaltungsgremien der Universität, in den Instituten, Seminaren und Prüfungsämtern stellt also keineswegs, wie man es von außen heute oft deutet, die organisierte Herrschaftsposition einer ihrer kollektiven Interessen bewußten Machtgruppe dar, sondern beruht auf der Naivität, mit der prinzipielle Individualitäten, die verwaltungsfremd sind, guten Gewissens und dilettantisch Verwaltung, Organisation und Politik ausüben.“1
Damit ist der Ordinarius als Individualist und einziger personeller Ausgangspunkt für eine Hochschulstruktur im Zuge der Entwicklung von Hochschule und Gesellschaft ins Abseits geraten,2 Faßt man die Ordinarienuniversität unter organisatorischen Gesichtspunkten zusammen, so ergibt sich folgende Übersicht: Abb. 1: Schlanke hierarchische Ordinarienuniversität
Schlanke hierarchische Ordinarienuniversität x x x x x x
3
Lehrstühle und Institute sind die Zentren der Aktivitäten Hochschullehrer entscheiden über die Lehre, Forschung und den Einsatz von Personal Universitäten haben die Vision und Strategie der Elitenausbildung mit starker Dominanz der wissenschaftlichen und staatlichen Berufsperspektive Hochschulrecht ist weitgehend Gewohnheitsrecht Verwaltungsaktivitäten sind auf wesentliche Kernprozesse konzentriert Ein wesentlicher Teil der Verwaltungsarbeiten wird innerhalb der Lehrstühle/ Institute erledigt
Die Gruppenuniversität, das gescheiterte Intermezzo
Die Antwort auf die geschilderten Veränderungen erfolgte durch die radikale Umgestaltung der Universitäten, die Ausweitung der Fachhochschulen zur praxisbezogenen, akademischen Berufsausbildung und die zeitweiligen Experimente mit Gesamthochschulen, in denen die unterschiedlichen Hochschultypen zusammengefaßt wurden. Dies ging mit einer alle Bereiche umfassenden Normenund Rechtsetzung einher, was in der explosionsartigen Zunahme des Hochschulrechts sinnbildlich zum Ausdruck kommt. So entstanden Beteiligungsrechte der verschiedenen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Berufsgruppen, der Professoren, wissenschaftlichen Mitarbeiter, nicht-wissenschaftlichen Mitarbeiter und Studenten, denen in den folgenden Jahrzehnten umfangreiche Sonderrechte für weitere Interessengruppen folgten, insbesondere für die Rechte von Frauen und Behinderten über Förderprogramme und Gleichstellungsbeauftragte. Nimmt man die politischen und 1 2
Schelsky, H. (1969) S. 45. Vgl. zu diesem Abschnitt insbes. Koubek, N.: Vom Ordinarius zum Hochschullehrer. In: Klüver, J./ Jost, W./ Hesse, K.-L. (Hrsg.) Gesamthochschule - Versäumte Chance? Opladen 1983, S. 110 f.
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hochschulpolitischen Differenzierungen in den einzelnen Gruppen sowie fächerund fachbereichsspezifische Besonderheiten hinzu, so ergibt dies in den Gruppenuniversitäten und ihren Organen eine Mischung von Interessen, die in Verbindung mit bürokratischen und hierarchischen Strukturen meist nur Ergebnisse auf dem jeweils kleinsten gemeinsamen Nenner möglich macht. Dadurch entsteht ein Entscheidungsfeld, bei dem bereits das Festhalten am Status quo als hart umkämpfter Kompromiß erscheint. Im Typus der Gesamthochschulen wurde diese Situation durch besondere strukturelle Merkmale nochmals zusätzlich kompliziert. Stichwortartig läßt sich dies an der Entwicklung des Gesamthochschulkonzeptes in Nordrhein-Westfalen dokumentieren, das von der flächendeckenden Bildung von acht Gesamthochschul-Regionen für das gesamte Bundesland im Jahre 1971 im Gesamthochschulentwicklungsgesetz (GHEG) bis zur ersatzlosen Streichung dieses Konzeptes und der begrifflichen Eliminierung im neuen Hochschulgesetz von 2007 reicht. Unter den Bedingungen der Gruppenuniversität werden die unterdessen zu Großorganisationen gewachsenen Universitäten jedoch weiterhin mit Organisationsmustern geleitet, die bereits Schelsky in den 60er Jahren für die Ordinarienuniversität prägnant beschrieben hatte. Die damaligen eher auf schlanke hierarchische Ordinarienstrukturen festgelegten Merkmale mit kurzen Entscheidungswegen und eindeutigen, stark personenbezogenen Leitbildern wurden in den hierarchischen Gruppenuniversitäten teilweise außer Kraft gesetzt, teilweise durch lange und komplexe Entscheidungswege, geringe Flexibilität, fehlende Identifikation der handelnden Personen und starke Regulierungsdichte zu einem Optimum an Ineffizienz weiterentwickelt. Nach nur 30 bis 35 Jahren wird der Organisationsansatz der hierarchischen Gruppenuniversität in zentralen Teilen aufgegeben und durch neue Leitbilder ersetzt. Die Suche danach gehört zu den aufregenden Elementen der gegenwärtigen Universitätsentwicklung. In der folgenden Abbildung werden die besonderen Merkmale und deren Bedeutung zusammengefaßt:
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Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Abb. 2: Umfassende hierarchische Gruppenuniversität
Umfassende hierarchische Gruppenuniversität • • • • • • • • • •
Tendenz zur direkten politischen Steuerung und Reglementierung in administrativer, finanzieller und planerischer Hinsicht akademischer Individualismus und verfassungsrechtlich gesicherte Autonomie wachsende Spezialisierung und wissenschaftliche Differenzierung erhöhte Anforderungen von außen an universitäres Handeln lange und komplexe Entscheidungswege fehlende Flexibilität mangelnde Vernetzung von Fachbereichen fehlende Identifikation der Mitarbeiter mit der Hochschule fehlende gemeinsam geteilte Vision hohe interne Komplexität
3.1 Fallstudie zur Gruppenuniversität Im Folgenden soll die Entwicklung des Typs der ehemaligen Gesamthochschulen in Nordrhein-Westfallen zwischen 1972 und 2007 vorgestellt werden, wobei das 35-jährige Experiment an der Hochschule in Wuppertal dem Autor als Erfahrungshintergrund dient. Diese Entwicklung läßt sich in den Zeitintervallen von jeweils 10 Jahren pointiert darstellen und dabei können die Ereignisse mit den allgemeinen, hochschulpolitischen Konzepten und deren Veränderungen verbunden werden. Anfang oder Start ohne Vorlauf Im Jahre 1972, genauer am 1. August 1972, erfolgte die Gründung der Gesamthochschule Wuppertal, die sich als akademische Ausbildungs- und Forschungsstätte bewußt von den klassischen Universitäten absetzen sollte. Aus den Fachhochschulen wurden durch Umbenennung Fachbereiche der Gesamthochschule mit der offiziellen Aufgabe von Seiten des Ministeriums, integrierte Studiengänge aufzubauen. Den im GHEG definierten acht Gesamthochschulregionen wurden alle Universitäten und eine größere Anzahl von Fachhochschulen zugeordnet. Die Gesamthochschulen waren damit sprachlich und konzeptionell den Universitäten übergeordnet und die fünf Neugründungen hießen entsprechend dieser Logik exklusiv Gesamthochschulen, ohne die „diskriminierende“ Ergänzung Universität.
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Die 70er Jahre oder Sturm und Drang Der Aufbruch zu neuen, in der deutschen Hochschullandschaft bisher nicht beund gekannten Ufern stützte sich auf mehrere Prinzipien, von denen hier vor allem genannt sein sollen: x Öffnung des akademischen Studiums auch für Fachoberschulabsolventen x Erweiterung des Professorenprofils um einen sog. praxisorientierten bProfessorentyp. Dieser hatte mit seinem stärkeren Praxisprofil eine um mindestens 50 % höhere Lehrverpflichtung, allerdings keine Mitarbeiterausstattung. x Regionalorientierung der Hochschule zum Abbau des Bildungsdefizits bestimmter sozialer Schichten x Neue curriculare Ansätze, vor allem in Verbindung mit Kleingruppenarbeit und Seminaren als dominante Veranstaltungsformen x Ausdrückliche Orientierung an dem Konzept der gruppenorientierten Hochschule (Professoren, wissenschaftliche Mitarbeiter, Studenten, nichtwissenschaftliche Mitarbeiter) Auf dieser Grundlage entstanden in den folgenden Jahren die Organe und Ordnungen der Gesamthochschulen. Es zeigten sich erste Konflikte auf der Ebene der Hochschulpolitik des Landes, der Wuppertaler Hochschule und auch in einzelnen Fachbereichen. Durch das weitgehende Fehlen von vorgegebenen Strukturen und Verhaltenstraditionen kam den personen- und gruppenbezogenen Einflußfaktoren eine entscheidende Bedeutung zu, wobei sich aufgrund der Ausgangsbedingungen die Organisationsstrukturen zunehmend komplizierter gestalteten. Die 80er Jahre oder die mißlungene Konsolidierung Eigentlich sollte das neue Jahrzehnt den allgemeinen Durchbruch des neuen Hochschultyps bringen, indem alle Universitäten des Landes an diesen Gesamthochschultypen angepaßt wurden. Demgegenüber trat ein hochschulpolitisches Patt ein und dies führte dazu, daß nicht die Universitäten zu Gesamthochschulen wurden, sondern ab 1980 den Gesamthochschulen der Begriff „Universität“ in ihrem Namen vorangestellt wurde, wobei das Gesamthochschulentwicklungsgesetz (GHEG) Ende 1979 aufgehoben wurde. Die Hochschule in Wuppertal hieß demzufolge „Universität-Gesamthochschule Wuppertal“ und im Jahr 1983 wurde dieser Namen regionalbezogen erweitert und in „Bergische Universität-Gesamthochschule Wuppertal“ geändert. Die Hochschule expandierte nach der Zahl der Studierenden, während die Größe des Lehrkörpers fast unverändert blieb. Dabei traten erhebliche Unterschiede in der Ausstattung der einzelnen Fächer und Fachbereiche auf, und das Kleingruppenkonzept wurde, wenn erforderlich, stillschweigend aufgegeben.
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Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Änderungen waren notwendig, doch handelte man zunächst weniger über Inhalte und Strukturen, sondern mehr über quantitative Verbesserungen der Ausstattungen. So profitierten die Universität und insbesondere einzelne stark beanspruchte und schlecht ausgestattete Fachbereiche von dem Mittel- und Stellenzuwachs des Hochschulförderprogramms ab 1989. Die 90er Jahre oder Ruhe nach dem Sturm In den 90er Jahren geriet das Modell Gesamthochschule endgültig in die Defensive und das Ministerium intervenierte zunehmend weniger bei Detailfragen. Vielmehr wurde die „Bergische Universität-Gesamthochschule Wuppertal“ zu einer der Modellhochschulen für das Experiment „Hochschule und Finanzautonomie“ ausgewählt. Damit sollten die Möglichkeiten für eine flexiblere Haushaltsführung und erste zaghafte Ansätze eines unternehmensbezogenen Finanzmanagements erprobt werden. Es wurden neue Möglichkeiten für Forschungsaktivitäten und außeruniversitäre Kooperationen geschaffen, während in einigen Fachbereichen nach innen der universitätsorientierte Umbau in Richtung auf die Umsetzung des Lehrstuhlprinzips bei gleichzeitiger Umwandlung der sog. b-Professorenstellen und die schrittweise Einführung von Managementelementen erfolgte. Auch auf studentischer Seite verabschiedete man sich allmählich vom Gründergeist, der von den nicht selbst erlebten Erfahrungen der 68er-Generation geprägt war. Das Jahrzehnt ab 2000 oder Aufbruch zu neuen Ufern Auf Landesebene war der hochschulpolitische Eifer endgültig erlahmt, die Hauptverantwortlichen entweder mit anderen Aufgaben befaßt, in anderen Positionen oder ausgeschieden und auch der Zeitgeist begann sich neu zu orientieren. So überrascht es nicht, daß einerseits in den ersten Jahren im neuen Jahrtausend Fusions- und Stilllegungspläne entstanden, die sich gerade auch auf den Standort Wuppertal bezogen und andererseits ab 2003 der Begriff „Gesamthochschule“ als Bezeichnung gänzlich gestrichen wurde. Überraschender Weise konnte diese Phase in Wuppertal mit einem externen Mediationsbericht über die Universität überwunden werden, doch bedeutete dies lediglich einen Zeitgewinn für die Institution. Immer deutlicher zeigte sich der hochschulpolitische Paradigmawechsel zur Änderung der Universitätsstrukturen in Richtung einer Dienstleistungsuniversität, die im Bologna-Prozeß mit den Bachelor- und Masterstudiengängen, in der Erweiterung der Eigenverantwortung bei gleichzeitiger Kontrolle der Politik durch Zielvereinbarungen und in zunehmendem nationalen und internationalen Wettbewerb sowie in der Einführung von Studiengebühren zum Ausdruck kommt. Das ab 2007 geltende neue Hochschulgesetz in Nordrhein-Westfalen mit der vieldeutigen Bezeichnung „Hochschulfreiheitsgesetz“ faßt diese Vorgänge zusammen. So bleibt zu hoffen, daß das gewählte Motto „Aufbruch zu neuen Ufern“ für das volle Jahrzehnt gilt.
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Faßt man die erkennbaren und in Teilen bereits realisierten Aktivitäten zusammen, so läßt sich feststellen: Die internationalen Kontakte werden ausgebaut, wissenschaftliche Kolloquien eingerichtet, Alumni-Organisationen entwickelt und Absolventenfeiern sowie kooperative Formen der Zusammenarbeit mit den Vertretern der Studierenden aufgebaut. Die Studiengänge werden auf akkreditierte Bachelor- und Masterprogramme umgestellt sowie das Hochschulmanagement und die Arbeit in den Fachbereichen auf der Basis eines arbeitsteiligen und durch qualifizierte wissenschaftliche Mitarbeiter unterstützten Managements professionalisiert. Ergänzt werden diese Neuerungen durch die systematische Entwicklung der Kontakte zur Praxis, die Gründung von Stiftungen und anderen Institutionen, die Einrichtung von weitgehend selbständigen „Schools“ und den Aufbau von zielgruppenspezifischen Angeboten an Weiterbildung.
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Die Dienstleistungsuniversität zwischen Berufsorientierung und Eliteanspruch
Aus der vorhergehend beschriebenen Konzeption und der Fallstudie wird erkennbar, warum nach nur einer Generation der Organisationsansatz der hierarchischen Gruppenuniversität zunehmend aufgegeben und durch neue Leitbilder ersetzt wird. Die Suche danach gehört zu den aufregendsten Elementen der gegenwärtigen Universitätsentwicklung, und dabei zeichnen sich zwei Tendenzen ab, die nur schwer, wenn überhaupt, zu vereinbaren sind. Einerseits steigen Anspruch und Bedarf an eine möglichst praxisnahe akademische Ausbildung, die dann im weiteren Verlauf durch Weiterbildungsangebote ergänzt werden soll, und andererseits gilt es, Universitäten aufzubauen, die im globalen Wettbewerb um Forschung und wissenschaftliche Ausbildung wettbewerbsfähig sind. Dieses Spannungsverhältnis hat weit reichende Konsequenzen und wird zu einer Differenzierung in der Universitätslandschaft führen. Auch die Auswahl und der Einsatz von Instrumentarien des Hochschulmanagements bleibt nicht ohne inhaltliche Auswirkungen. So wird eine Veränderung bei der Finanzierung durch die stärkere Betonung nichtstaatlicher Einnahmen zu einem höheren Stellenwert der finanzwirtschaftlichen Steuerungselemente und zur Schärfung der universitären Profilbildung führen, mit durchaus vorhersehbaren Konsequenzen für längerfristig unterausgelastete und strategisch randständische Lehr- und Forschungsgebiete. Als Teil der Neuausrichtung der Universitäten kann auch die europaweite Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge im Rahmen des sog. Bologna-Prozesses gewertet werden. In einigen Fächern bzw. für bestimmte Berufsgruppen reicht dabei ein Kurzstudium in Form des Bachelor-Curriculum für den
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Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Bedarf an Ausbildung aus, in anderen Fällen wird das Master-Niveau als Maßstab gesetzt. Weiterhin gehört es grundsätzlich seit der Humboldt’schen Universitätsreform zum Selbstverständnis der Universitäten, daß sie den Stand des Wissens und der Erkenntnis durch Forschungsleistungen erweitern, wobei dies bisher für grundlegend neue Erkenntnisse meist über eine möglichst anwendungsfreie Grundlagenforschung erfolgte. Hier zeichnet sich eine in Teilen wesentlich stärkere Hinwendung zu praxis- und anwendungsorientiertem Vorgehen ab. Als eine der wesentlichen Auswirkungen der geänderten Ansprüche und Rahmenbedingungen zeichnet sich die Umkehrung der organisationsrelevanten Merkmale ab. Die Gruppenuniversitäten waren im Innenverhältnis streng hierarchisch-bürokratisch, während sie nach außen als relativ homogen betrachtet wurden, und die erbrachten Studienleistungen der Studierenden wurden im Wesentlichen gegenseitig anerkannt. Diese nach innen und außen bezogenen Merkmale werden in der Dienstleistungsuniversität jeweils ausgetauscht, und zwar sowohl in der praxis-/ berufsorientierten als auch in der theorie-/ forschungsorientierten Ausprägung. Im Innenverhältnis zeichnen sich dezentrale und über die Organisationsgrenzen hinausgehende Vernetzungen ab, die flexibel und auf niedrigem bürokratischen Niveau liegen. Die Verwaltung wird zum Servicezentrum umgestaltet, die Studierenden, ausgestattet mit dem Bankbeleg der Überweisung von Studiengebühren, mutieren zu einer besonderen Form von Kunden mit hoher Organisationsbindung. Die Lehrformen werden um virtuelle elektronische Bestandteile erweitert und insgesamt erfolgt die Übernahme von zweckrationalen Teilen des Managements von Organisationen. Im Organ des Hochschulrats und einem vollberuflichen, professionellen Management im Rektorat/ Präsidium und teilweise sogar auf Fachbereichs-/ Fakultätsebene kommt dies deutlich zum Ausdruck. Im Außenverhältnis der Universitäten findet demgegenüber eine Hierarchisierung statt, indem das Postulat der Einheit und Gleichrangigkeit der Universitäten aufgegeben wird. An deren Stelle tritt die Dreiteilung in international wettbewerbsfähige Eliteuniversitäten, in leistungsfähige forschungs- und lehrbezogene Universitäten/ Fachbereiche des Humboldt’schen Typs sowie in praxisnahe Hochschulen mit anwendungsnahen Schwerpunkten. Forschungen und Promotionen sind bei dem dritten Typus damit nicht mehr oder nur noch in begrenztem Umfang möglich.
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Abb. 3: Vernetzte Dienstleistungsuniversität
Dezentral vernetzte Dienstleistungsuniversität
5
•
Orientierung an einem elitebezogenen universitären Leitbild bzw. an einer akademischen Berufsausbildung
•
Selbstverständnis der Verwaltung als Servicebereich
•
Betrachtung des Studenten als „Kunden“ mit hoher Organisationsbindung
•
Konzentration auf Kernkompetenzen (Schwerpunktbildung)
•
Erhöhung der Flexibilität in Lehre, Forschung und Verwaltung
•
Verkürzung der Entscheidungswege
•
interne wissenschaftliche Vernetzung sowie Vernetzung zwischen Fachbereichen und Verwaltung
•
externe Kooperationen mit anderen Hochschulen bei reduziertem bürokratischen Aufwand durch Festlegung einheitlicher Standards
•
gezielte Maßnahmen zur Effizienzsteigerung, Organisations- und Personalentwicklung
Instrumente des Hochschulmanagements im neuen Organisationsmodell
Ziel jeder Universität bzw. allgemeiner jeder Hochschule ist es, eine Dienstleistung im Zusammenhang mit der tertiären Bildung zu erbringen. Dabei geht man zweckmäßigerweise von dem Modell der Non Profit Organisation (NPO) aus1. Zur Zielerreichung und Steuerung dieser komplexen Einrichtungen werden geeignete Instrumente und Managementtechniken eingesetzt. Betrachtet man zunächst die Merkmale, die von den Universitäten an ein effizientes Organisationsmodell gestellt werden, so sind folgende Aspekte relevant: x Visionen, Strategien und Leitbilder, um nach außen im Wettbewerb auf dem Bildungsmarkt attraktiv zu sein und um nach innen eine identitätsstiftende Organisationskultur zu entwickeln. x Qualitativ hochwertige Informationsbasis für Entscheidungen. x Erfassung von nationalen und internationalen Tendenzen des tertiären Bildungsmarktes und ihre Bedeutung für Lehre, Forschung, Produktentwicklung, Weiterbildung u.a. 1
Sporn, B.: NPOs im Bildungsbereich -Internationale Entwicklungen des Universitätssektors und Konsequenzen für das Universitätsmanagement. In: Simsa, R. (Hrsg.) Management der Nonprofit Organisation. Gesellschaftliche Herausforderungen und organisationale Antworten. Stuttgart 2001, S. 41-53.
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Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
x Aufbau von wandlungs- und lernfähigen Organisationsstrukturen zur Realisierung der universitären Aufgaben. Daraus folgt der Aufbau eines qualitativ hochwertigen Informationssystems über alle relevanten externen und internen Abläufe, durch das die nationalen und internationalen Tendenzen des Bildungssektors und ihre Bedeutung für die eigene Universität darstellbar werden. Dieser informationstechnologischen Ausstattung muß eine adäquate Organisationsstruktur der Hochschule und ihrer Teilbereiche entsprechen. Auf einer konkreteren Ebene ist zu prüfen, welche Instrumente zur Auswahl stehen, um diese Aufgaben umzusetzen. Die Beantwortung dieser Fragen führt zu den Aussagesystemen der allgemeinen Managementlehre und kann durch einen Rückgriff auf die hierbei angebotenen Verfahren erfolgen1. Im Folgenden sollen zwei Verfahren im Hinblick auf ihre Einsatzmöglichkeiten im Hochschulbereich ausgewählt und kurz dargestellt werden. Dabei handelt es sich um die • •
Portiofolioanalyse und Portfoliostrategie Balanced Scorecard.
5.1 Portfolioanalyse, Portfoliostrategie und Hochschulmanagement Der Grundgedanke der Portfoliotechnik als zweidimensionale Darstellung der internen und externen Stärken und Schwächen einer Organisation eignet sich auch für die Abbildung und Neuausrichtung universitärer Strukturen. Bei marktbezogenen Fragestellungen von Unternehmen stehen in dem Basismodell der relative Marktanteil des Unternehmens als interne Größe und das Marktwachstum als externe Größe im Mittelpunkt. Einen begrifflich anderen Ausgangspunkt erhält man, wenn das längerfristig ausgerichtete Technologieportfolio betrachtet wird. Hier werden die eigene Ressourcenstärke als interne Variable und die Technologieattraktivität als externe Variable erfaßt. Überträgt man diesen Ansatz auf universitäre Fragestellungen, so lassen sich als interne Dimension die eigene Leistungsfähigkeit und als externe Dimension der globale Wissensmarkt bei Lehre und Forschung darstellen. Bei einer Differenzierung dieser Kriterien in die beiden Zielerreichungsgrade „niedrig“ und „hoch“ entsteht eine so genannte 2x2-Felder-Matrix.
1
Vgl. hierzu Schreyögg, G./ Koch, J.: Grundlagen des Managements. Wiesbaden 2007, bes. Kap. 3 und Weber, J./ Schäffer, U.: Balanced Scorecard & Controlling, 3. Aufl., Wiesbaden 2000.
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Als Beispiele für die Darstellung sind zu nennen: Eigene Leistungsfähigkeit • Studierende/ Professoren-Relationen • Studierende/ Wissenschaftliche Mitarbeiter-Relationen • Technologische Ausstattung der Universität • Bibliotheksausstattung • Finanzausstattung • Drittmittelanwerbung • Studiendauer • Studienabschlüsse, Promotionen, Habilitationen • Berufserfolge von ehem. Studierenden Globaler Wissensmarkt bei Lehre und Forschung • Externe Nachfrage nach Studien-, Forschungs-, Transferleistungen • Potential des tertiären Bildungsangebotes im In- und Ausland • Relevante Ranking-Ergebnisse • Allgemeine Studienbedingungen • Beschäftigungsmöglichkeiten auf Arbeitsmärkten • Bedarf an Weiterbildung • Fundraising-Potentiale • Bildungspädagogische und bildungstechnologische Voraussetzungen • akademischer Ausbildung • Forschungsbedingungen und Veröffentlichungen. Aus dieser Zusammenstellung von internen und externen Kriterien lassen sich verschiedene Strategietypen ableiten, die es den Hochschulen erlauben, ihre eigenen Positionen zu bestimmen und die Planungen von Veränderungen darauf auszurichten. Dabei wird von folgender Portfolio-Matrix ausgegangen:
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Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Abb. 4: Strategisches Portfolio von Universitäten
hoch Internationalität in Teilgebieten Globaler Wissensmarkt bei Lehre und Forschung Beibehaltung bisheriger Lehr- und Forschungsstrukturen
Differenzierung durch Interdisziplinarität und Vernetzung, Hohes Drittmittelvolumen
Eigenständige hochspezialisierte Lehre und Forschung
niedrig niedrig
hoch Eigene Leistungsfähigkeit
Quelle: Koubek (2008)
5.2 Balanced Scorecard (BSC) und Hochschulmanagement Der Grundgedanke der BSC, ein ausgewogenes Bündel an Zielen und Maßnahmen in einer Organisation auf der Basis von tragfähigen Leitbildern und Visionen zu entwickeln, läßt sich auch auf den Organisationstypus einer Universität anwenden. Dabei kommt der Vorteil dieses Ansatzes zum Tragen, zunächst eine Vision/ Strategie/ Leitbildidee zu entwickeln, an der sich alle weiteren beschrifteten Operationalisierungen orientieren. Geht man von der standardmäßig vorgesehenen 4-Ebenen-Betrachtung aus, so sind zu unterscheiden: • • • •
Wirtschaftlichkeit mit monetären und nicht-monetären Inhalten Wissenschafts- und Bildungsmarkt als Kundenebene Interne Verwaltungsabläufe als Prozeßebene Lernen und Wissen als Innovation und Wachstum
Auf der Basis dieser vier Kategorien erfolgt die Operationalisierung jeweils über Ziele, Kennzahlen, Vorgaben und Maßnahmen. Damit liegt ein umsetzbarer Ansatz zur Erhöhung der Rationalität von universitären Handlungen vor. Nähe-
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B Universitäten als Bildungsinstitutionen
res ist der folgenden Abbildung 5 zu entnehmen1. Dabei ist hervorzuheben, daß dieser Ansatz neben der Universität auch auf Fachbereiche, Institute und Lehrstühle angewendet werden kann. Abb. 5: Balanced Scorecard von Denstleistungsuniversitäten
BalancedScorecardvonDienstleistungsuniversitäten Wirtschaftlichkeit (monetär/nicht monetär) Welchen wirtschftl. Anforderungen müssen wir genügen, um wettbewerbsfähig ausbilden zu können?
Wissenschafts-/ Bildungsmarkt Welche Ziele müssen wir erreichen, um unsere Vision in Forschung und Lehre zu verwirklichen?
Vision Interne Verwaltungsprozesse Wie müssen wir die internen Strategie Verwaltungsprozesse ausgeLeitbild stalten, um die Interessen der internen Anspruchsgruppen zu befriedigen?
Lernen und Wissen Kontinuierliche Verbesserung der Prozesse durch Förderung des Potentials aller Mitarbeiter
Quelle: Koubek (2008)
1
Vgl. im Einzelnen: Mack, P.: Strategische Planung und Kontrolle an deutschen Universitäten. Eine Übertragung der Modelle aus der betrieblichen Praxis. Köln 2007, S. 135-180.
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Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
Schlußfolgerungen
Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen, die unter den Stichworten der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft, der Globalisierung, der elektronischen Kommunikation, aber auch von lernpsychologischen und lernorganisatorischen sowie gesellschaftlichen Faktoren der Bildung, Aus- und Weiterbildung umschrieben werden können, haben unterdessen die über Jahrzehnte abgeschirmten staatlich geprägten Universitäten erreicht. Die erkennbaren Veränderungen führen einerseits zurück auf tragfähige Konzepte der Universitätsentwicklung vor den strukturellen Veränderungen der 70er Jahre, andererseits greifen sie die in außeruniversitären Organisationen privater und staatlicher Art eingesetzten erfolgreichen Managementtechniken auf und wenden sie auf die hier zur Diskussion stehenden Strukturen an. Dabei zeichnet sich eine Differenzierung des Dienstleistungsbegriffs ab, indem es einerseits um eine stark an der Ausbildung orientierte, praxisbezogene Vermittlung von Wissen geht. Andererseits zeichnet sich im Rahmen der internationalen Wettbewerbsbedingungen im Forschungs- und Bildungssektor die Herausbildung einer an Eliten orientierten Gruppe von Universitäten ab, die sich schwerpunktmäßig an der Entwicklung und Vermittlung neuen Wissens an leistungsstarke, motivierte Studierende orientiert. Das Humboldt’sche Ideal der Einheit von Forschung und Lehre wird unter diesen Bedingungen für diese Spitzenuniversitäten weltweit ausgedehnt, in den jeweiligen nationalen Kontexten jedoch nicht mehr auf alle Universitäten als Leitidee übertragen. Unabhängig von den konkreten inhaltlichen Ausrichtungen der Universitäten zeichnet sich der Auf- und Ausbau von Konzepten des Hochschulmanagements ab, bei denen es um eine möglichst leistungsfähige Verknüpfung von mehreren Ebenen geht, beginnend bei Visionen/ Leitbildern über Organisationskultur/ Corporate Identity zu strategischen und operativen Zielen sowie anschließenden Maßnahmen und abschließenden Controlling-Aktivitäten. In der folgenden Abbildung 6 sind diese Ebenen zusammenfassend dargestellt:
103
B Universitäten als Bildungsinstitutionen Abb. 6: Steuerungsebenen der Organisationsentwicklung
SteuerungsebenenderOrganisationsentwicklung
Vision/ Leitbild OrganisationsKultur und Corporate Identity
Strategische Ziele Operative Ziele
Maßnahmen Controlling
Formulierung eines ergbnis-/marktorientierten Organisationsleitbildes auf der Grundlage der organisationalen Kernkompetenzen gezielte Kommunikation des Leitbildes nach „außen“ Formulierung langfristiger Ziele, die Rahmenbedingungen für die Organisationsentwicklung vorgeben. Formulierung kurzfristiger Ziele aus Vision und Strategie Aktionsplan zur Umsetzung der formulierten Ziele Überprüfung der Maßnahmen und Ergebnisübertragung auf neue Aktionen
Quelle: Koubek (2008)
Die Zukunft wird zeigen, wie wirkungsvoll das vorhersehbare und gesetzlich in vielen Teilen bereits normierte Organisationsmodell der Dienstleistungsuniversität mit seinen verschiedenen Differenzierungen sein wird. Von entscheidender Bedeutung dürfte es dabei sein, ob sich der Humboldt’sche Ansatz der Einheit von Lehre und Forschung in Verbindung mit der Freiheit der Wissenschaft unter den Bedingungen des globalisierten Wettbewerbs an den Universitäten in Deutschland verwirklichen läßt.
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Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
B.2 Executive Higher Education as a Challenge for Universities*
1
Introduction
There is a strong connection between the change and progress in all fields of scientific, social, economic and technological developments on the one side and human capabilities, skills, knowledge and the level of education on the other side. Two fundamental movements are the drivers in the change at the beginning of the 21th century. Firstly, we can see more and more above the horizon that the globalisation and the growing up of some very important emerging countries are new elements in all fields of international policy, economy and education. Secondly, the so called Kondratieff- cycle explains the long term change in technology and economic development. During the last decades the information technology was the most important reason for the development of new branches, companies, products, workplaces and skills. For both reasons new types of information and knowledge is offered to all members in those societies and countries, which are engaged in advanced economies, politics etc. One of the consequences of this process is the experience, that the only period of learning, higher education and study before professional activities is ineffective and insufficient. In contrary we realize the beginning of lifelong learning activities in all professions and organisations. Therefore the universities started supplementary education programs combined with professional activities. This combination is called executive education and is offered at different pre-academic and academic levels. The universities will more and more become partners in this process and this includes the development of new curricula for a new type of students with their professional experiences, high motivations, part-time orientation with fixed schedules in the evening, during weekends or in blocked intervals. For these special programs the executive students accept rather high fees, which they pay individually or which are even paid by their employers or companies. The revenues will become a relevant part in the income planning of successful universities and will be a significant indicator for good governance and transfer of knowledge.
*
Paper to the Symposium „Beratung und die Wirksamkeit der Hochschulbildung - Guidance and Counselling and the Efficacy of Higher Education”, Wuppertal, 24.-25. September 2009, organized by Gerhart Rott.
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B Universitäten als Bildungsinstitutionen
2
Flexibility and Intensity as Dimensions of Educational Programs in Universities
The executive programs are part of a long-term movement to change the character of universities and will bring a lot of new challenges in the field of Curricula, Qualification for staff members and lecturers, Organisational capacities, Technical equipment, especially on the IT-level, Networks between internal and external organisations. Is it possible to analyse these different influences and new challenges in a more theoretical model? I have looked into the box of instruments from my own scientific field of business administration and have adapted the so called production portfolio to the subject of this conference in the field of higher education in universities. In operational terms we can build a portfolio chart with two axes. One axis describes the flexibility of university programs and structures and the other is oriented at the intensity of cooperation. We can separate each dimension into two levels of low and high and will find a 4-field matrix, describing the organisational types of universities and their educational programs. Chart 1: Organisational Types of Universities and their Educational Programs1 high
Intensity of cooperation
3
Strategic Networks/ Cooperation Networking; Strategic Alliances; Foreigns Partners
4
Virtual Organisation E-Learning Blended Learning
1
Hierarchic Organisation Standard Services
2
Modular Organisation Modular Organisation Process Orientation
low low
high Flexibility of programs and stuctures
In field 1 we find a hierarchic organisation of a university with standardised services, programs and exams. These elements belong to an environment with rather stable conditions, in which the academic education is focused on a fulltime study period between four and five years at the beginning of the professional activities. The intensity of cooperation with other academic or practical partners are low and executive programs are not involved in this field. For economists these are bureaucratic or tayloristic organisations. 1
Similar to portfolio of production strategies, see: Picot, A./ Reichwald, R./ Wigand, R.T.: Die grenzenlose Unternehmung, 4. Auflage, Wiesbaden 2005, S. 273.
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Teil I: Wirtschaftsstrukturen und Institutionen
In adaptation to the new scientific and professional challenges the courses can be opened to a more flexible model of programs and structures. In field 2 we find therefore a modular type of organisation with process orientation, which also means, that the curricula must be carefully developed, evaluated and certified. The Bologna process in general and the combination of programs in modular organisations in particular are the actual movements in this field. Executive programs with external partners are not involved. In field 3 the universities enlarge their contacts to national, international and even global strategic networks. Firstly, this means the cooperation between academic institutions in full-time programs. On a more advanced level the cooperation includes outside organisations in politics, business, research etc. But we will also find executive programs in this field, in which the universities are directly involved in cooperation with external partners. The Executive Master Program of Business Administration or of Business Administration and Engineering belong to this type, so do the dual programs, which combine the university program with professional training. The simultaneously most complex and flexible level is relevant for field 4. Here we find a combination of a modular organisation in universities and strategic cooperation with inside and outside partners. In terms of executive programs everything is possible at any place and at any time worldwide. It is understandable that the challenge for good governance is very high in this field and that it needs a lot of qualified and intensive support by university departments or outsourced organisations. 3
Conclusion
Universities in the fields 3 and 4 must be very innovative to fulfil the ambitious conditions, which are supplied by themselves and demanded by the new type of students. In some parts these universities are equivalent to entrepreneurial organisations and are therefore often called „entrepreneurial universities”. To realise such a strategic orientation including the field of executive programs, the universities need a high level of management capacities to organise the functions and processes, which are mostly individually oriented. In the reality of 2009, in our country we find a widely spread field of experiences and specialised academic institutions, in which some institutions will win, others will lose while some again will not survive, because they cannot compete. Simultaneously to these structural elements in organisations, there will be a separation within the group of students to different types, because the interests, conditions of life and possibilities are widely spread. In any case, the relevance of information, guidance and counselling will arise to bring together the supply and demand in the field of higher education inside and outside the universities.
Teil II Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
A Arbeitsorientierte Theorie der Unternehmung
A.1 Plädoyer für eine ökonomische Anthropologie auf der Grundlage von Interessen*
1
Zur Methode bei der Entwicklung einer ökonomischen Anthropologie1
Menschliches Handeln kann sich immer nur unter jeweils konkreten historischen Bedingungen vollziehen. Dies gilt gerade auch für den Teil des Handelns, der ökonomisch ausgerichtet ist. Eine ökonomische Anthropologie läßt sich von da aus nur skizzieren, wenn von den Grundlagen einer bestehenden oder in der geschichtlichen Entwicklung früher einmal vorhanden gewesenen Gesellschaft ausgegangen wird. In diesem Plädoyer liegt es aus verschiedenen Gründen nahe, hierfür die westlichen Wirtschaftsgesellschaften der Gegenwart zu wählen. Aus der kritischen Aufarbeitung der in dieser weitgehend auf der Rationalität des eingesetzten Kapitals aufgebauten Gesellschaftsform und zum Ausdruck kommenden Form wirtschaftlichen Handelns wird unter Verwendung bestimmter Normen die Notwendigkeit deutlich, eine Alternative zu formulieren, die die Rationalität der eingesetzten Arbeit im emanzipatorischen Sinne zur Grundlage hat. Dabei müssen die Normen dieser Alternative bereits bei der auf die Rationalität des eingesetzten Kapitals bezogenen Kritik verwendet und auf bestimmte Interessenlagen zurückgeführt werden. Dieses Vorgehen führt hin zu den in der Rationalität der Arbeit zum Ausdruck kommenden Interessen (arbeitsorientierte Interessen), die in einem weiteren Schritt ihrerseits hinterfragt werden müssen, wobei insbesondere ihr Stellenwert für menschliches Handeln darzustellen sein wird. Diese Rückführung gilt * 1
in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. LX/ 3 (1974), S. 327-352 Die hier vorgetragenen Überlegungen stehen in ihrem sozio-ökonomischen Interessenbezug sowie den sozialphilosophischen Ausführungen in Zusammenhang mit den Arbeiten einer Projektgruppe des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts des DGB, in der „Grundelemente einer Arbeitsorientierten Einzelwirtschaftslehre“ entwickelt wurden. Vgl. hierzu die gleichnamige Veröffentlichung in: WSI-Studie Nr. 23, Köln 1974. Bedanken möchte ich mich insbesondere bei den Kollegen Mario Helfert, Heribert Kohl, Bernd Mülhaupt sowie bei Frank Rotter für die Unterstützung; hierbei gemachte Änderungsvorschläge habe ich entweder gerne berücksichtigt, oder sie haben mich zu einer klareren Herausarbeitung meiner eigenen, abweichenden Überlegungen geführt.
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Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
grundsätzlich auch für die auf den Einsatz von Kapital bezogenen Interessen (kapitalorientierte Interessen). Eine wirtschafts- und sozialgeschichtliche Betrachtung zeigt, daß die Polarisierung der beiden dominanten Interessenlagen von Kapital und Arbeit das Kennzeichen bestimmter Formen ökonomischer Macht und gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse ist1. Im Feudalismus und in den aus westlicher Perspektive historisch weiter zurückliegenden Gesellschaften gab es andere dominante Interessenstrukturen mit jeweils spezifischen Strukturen ökonomischer Macht, gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse und Rationalitätsformen. Gemeinsam ist diesen Strukturen, daß sie in den allgemeinen gesellschaftlichen Bereich transformiert werden, woraus die Durchdringung jeder Form des gesellschaftlichen Lebens bzw. menschlichen Handelns mit diesen ökonomischen Strukturen folgt. Dennoch läßt sich durch die Darstellung der ökonomischen Verhältnisse nur ein Teil – wenn auch ein sehr wesentlicher – des gesellschaftlichen Lebens erfassen. Dieser Teilaspekt der Ökonomie in bezug auf die Gesellschaft ist für die inhaltliche Bestimmung einer ökonomischen Anthropologie einer von zwei für wesentlich erachteten Merkmalen. An dieser Stelle endet in der Regel die herkömmliche Analyse der sozioökonomischen Wirklichkeit, doch kann dieser Diskussionsstand aus folgendem Grund nicht befriedigen: Die Tatsache, daß jede Form menschlichen Handelns gesellschaftlich vermittelt bzw. beeinflußt ist, besagt noch nichts darüber, ob menschliches Handeln damit allein auf gesellschaftliche Strukturen und Kategorien zurückgeführt werden kann. Wenn man dieser Frage weiter nachgeht, so führt dies hin zur Auseinandersetzung mit dem aus anthropologischer Sicht als Gegenpart von Gesellschaft auftretenden Bereich der Natur, die gleichfalls für menschliches Handeln konstitutiv ist. Damit stellt sich das Problem der spezifischen Bedeutung von Gesellschaft und Natur für dieses Handeln. Eine Lösung erscheint möglich, wenn die dargestellten Interessen- und Machtstrukturen der Menschen in jeweils konkreten Gesellschaften vor dem Hintergrund der Totalität der Formen menschlichen Handelns gesehen werden. Hierbei führt die Unterscheidung in gesellschaftliche und individuelle Formen menschlichen Handelns nicht weiter, da in jeder konkreten Gesellschaft alles menschliche Handeln gesellschaftlich beeinflußt ist. Vielmehr gilt es, die in gesellschaftlichen Strukturen des menschlichen Handelns zum Ausdruck kommenden Interessenstrukturen ihrerseits zu hinterfragen. Nur so ist die sich als Ergebnis allein einer einseitigen Fragestellung ergebende Reduktion des Menschen auf jeweils konkrete gesellschaftliche Bezüge zu vermeiden. 1
Vgl. hierzu die Veröffentlichungen: Wehler, H. (Hrsg.), Geschichte und Ökonomie, Köln und Berlin 1973, sowie Godelier, M., Ökonomische Anthropologie. Untersuchungen zum Begriff der sozialen Struktur primitiver Gesellschaften, Reinbek 1973.
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„Das Interesse zielt auf das Dasein, weil es eine Beziehung des interessierenden Gegenstandes zu unserem Begehrungsvermögen ausdrückt. Entweder setzt nämlich das Interesse ein Bedürfnis voraus, oder das Interesse bringt ein Bedürfnis hervor“1.
Das Verhältnis von Interessen und Bedürfnissen läßt sich wie folgt darstellen: „Die Interessen sind konzentrierte, relativ länger währende Ausrichtungen der Menschen auf die Befriedigung bestimmter objektiv hervorgerufener Bedürfnisse, deren Befriedigung entweder unzulänglich ist, so daß das Verlangen nach ihrer Befriedigung ständig die Gedanken der Menschen beschäftigt, oder deren Befriedigung (kraft der hervorgerufenen Emotionen und Lustgefühle) außerordentliche Aufmerksamkeit und das sich wiederholende und unter Umständen vertiefende Verlangen des Menschen hervorruft. Sie zeigen sich meist in der Tätigkeit der Menschen, die ständig aufs neue, sehr energisch, standhaft und oft leidenschaftlich die Befriedigung dieser Bedürfnisse verfolgen, wodurch sie die Interessen zur Geltung bringen und durchsetzen“2.
Neben dem Zusammenhang zwischen Bedürfnis und Interesse ist derjenige zwischen sozioökonomischer Macht und Interesse bzw. Ziel gleichfalls von entscheidender Bedeutung. Unter Macht wird dabei die Möglichkeit verstanden, „soziale Prozesse im Sinne eigener Zielsetzungen zu beeinflussen“3. Interesse steht somit in dem Spannungsfeld zwischen der Kategorie der Macht und der Kategorie der Bedürfnisse. Im weiteren Verlauf sollen dabei die Bedürfnisse im Sinne von Triebpotentialen interpretiert werden, da menschliches Handeln aus naturmäßiger Verankerung und gesellschaftlicher Prägung besteht. Die Interessenorientierung führt gleichsam zu der konkreten Form hin, in der jedes menschliche Handeln auftritt. Auf die Erörterung der Beziehungen bzw. Unterschiede zwischen Trieb- und Bedürfnisstrukturen sowie Interessen muß in dieser Problemskizze leider verzichtet werden. Bei dem Versuch, die Trieb- und Bedürfnisstrukturen mit Interessen zu verbinden, ist aus analytischen Gründen eine zahlenmäßige Beschränkung der Bezugsgrößen erforderlich, da die Fülle der in der Realität vorfindbaren und begrifflich unterscheidbaren Formen im Rahmen einer Theorie aus Praktikabilitätsgründen auf überschaubare Größenverhältnisse reduziert werden muß. Eine Dreiteilung in die Kategorien „Nahrungstrieb, Lusttrieb, Erkenntnistrieb“ eignet sich als heuristisches Verfahren besonders gut, da mit diesen Triebstrukturen auf relativ leicht erklärbare Art drei Formen menschlichen Handelns verbunden werden können, die analytisch als wesentlich erscheinen: die Arbeit mit dem Nahrungstrieb4, die Aggression mit dem Lusttrieb1 1 2
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Habermas, J., Erkenntnis und Interesse, Frankfurt am Main 1968, S. 244 f. Šik, O., Ökonomik, Interessen, Politik, Berlin (DDR) 1966, zit. nach: ders., Der dritte Weg, Hamburg 1972, S. 55 f; Zur allgemeinen Systematisierung der Interessen im Rahmen der Einteilung in ökonomische und nicht-ökonomische Interessen vgl. ebenda, S. 50-54, 69-75. Vgl. Albert, H., Marktsoziologie und Entscheidungslogik, Neuwied 1967, S. 448. In diesem Zusammenhang schreibt Kalivoda: „Man kann als begründet voraussetzen, daß der Mensch die tierische Art der Hungerbefriedigung variiert hat, indem er die Arbeit, d.h. die Ökonomik, erfunden hat“, in: Kalivoda, R., Der Marxismus und die moderne geistige Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1970, S. 57.
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Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
und die Reflexion mit dem Erkenntnistrieb2. Mit dieser anthropologischen Verankerung wird das zweite Element einer Bestimmung der ökonomischen Anthropologie gewonnen, bei dem es darum geht, den naturgegebenen Rahmen und die gesellschaftliche Variationsbreite menschlichen Handelns aufeinander abzustimmen und durch das Berücksichtigen beider Bereiche die in der Realität vorhandene Totalität zu wahren.
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Inhaltliche Bestimmung einer ökonomischen Anthropologie
Verschiedene Wissenschaften befassen sich mit den Ursachen, Bedingungen und Ergebnissen von menschlichen Handlungen, die von einzelnen sowie innerhalb von Gruppen oder Gesellschaften vorgenommen werden. Dabei kann zurzeit von einer Einheit dieser wissenschaftlichen Erkenntnisrichtungen nicht gesprochen werden, wenn auch im Rahmen der Anthropologie Versuche unternommen werden, diesem Ziel näherzukommen, wobei unter „Anthropologie“ die Lehre von den Bedingungen der menschlichen Existenz in ihrer Gesamtheit verstanden werden soll3. Bei diesem Bemühen im Rahmen der Anthropologie geht es letztlich um den Versuch, die Stellung des Menschen als Einzelperson, Gruppen- und Gesellschaftsmitglied in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu bestimmen. Die in diesem komplexen Ansatz enthaltenen natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Forschungsrichtungen kann man auch unter dem Begriff „Humanwissenschaften“ zusammenfassen, deren gemeinsamer Bezugspunkt jeweils die anthropologische Fragestellung ist, ohne daß sie sich selbst in diese auflösen lassen. Eine zentrale Bedeutung innerhalb der Humanwissenschaften besitzt die ökonomische Wissenschaft, welche die materielle Versorgung der Gesellschaft 1
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Bei Kalivoda heißt es hier unter Bezug auf die Freudsche Theorie: „Aggressivität ist stets mit Lust verquickt, mit Libido besetzt; sie ist eine besondere Manifestation menschlichen Lebens“, in: Kalivoda, R., Der Marxismus, a.a.O., S. 72. Vgl. auch allgemein Marcuse, H., Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt am Main 1970; Nolte, H., „Über gesellschaftstheoretische Implikationen des Aggressions-Begriffs“, in: Lepenies, W., Nolte, H., Kritik der Anthropologie, München 1971, S. 103-140; Kofler, L., Aggression und Gewissen. Grundlegung einer anthropologischen Erkenntnistheorie, München 1973. Vgl. hierzu mit z.T. unterschiedlicher Richtung: v. Weizsäcker, C. F., Die Tragweite der Wissenschaft, 1. Bd., Stuttgart 1964; Havemann, R., Dialektik ohne Dogma?, Reinbek 1965; Machovec, M., Vom Sinn des menschlichen Lebens, Freiburg/ Br. 1971; Roek, R./ Schatz, O. (Hrsg.), Philosophische Anthropologie heute, München 1972; Kolakowski, L., Die Gegenwärtigkeit des Mythos, München 1973. Habermas, J., „Anthropologie“, Fischer Lexikon Philosophie, hrsg. v. Diemer, A., Frankfurt am Main 1958, S. 35; Vgl. zur Anthropologie den komplexen Ansatz in der siebenbändigen Veröffentlichung von Gadamer, H. G./ Vogler, P. (Hrsg.), Neue Anthropologie, Stuttgart 1972/ 1974. Mit ähnlicher Zielrichtung: Reihe „Anthropologie“ im Hanser-Verlag, München; Zur Kritik der verschiedenen anthropologischen Ansätze vgl. Kamper, D., Geschichte und menschliche Natur. Die Tragweite gegenwärtiger Anthropologiekritik, München 1973.
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mit Gütern zum Gegenstand hat. Dabei treten verschiedene Probleme, die mit ökonomischem Handeln verbunden sind, auf: Erstens geht es um die Erzeugung der Güter, und zwar hinsichtlich der Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen bzw. von bereits hergestellten Kapitalgütern durch menschliche Arbeit, zweitens um die Verteilung der Produkte auf die einzelnen Mitglieder bzw. Gruppen der Gesellschaft und drittens um die sozialen Verhältnisse, unter denen sich menschliche Arbeit in den Wirtschaftsprozessen vollzieht. Allgemein läßt sich der wissenschaftliche Gegenstand als Untersuchung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse in verschiedenen Gesellschaften umschreiben1. Die Steuerung und Organisation des ökonomischen Handelns erfolgt nach Maßstäben, die in Form der jeweiligen Rationalität für diesen Bereich der Gesellschaft entwickelt worden sind. Diese Rationalität ist Teil einer umfassenderen grundlegenderen Rationalität, „nämlich der des Funktionszusammenhangs der Gesellschaften. Es gibt also weder eine ökonomische Rationalität ,an sich‘ noch eine ‚endgültige’ Form ökonomischer Rationalität“2. Diese Aussage bestätigt sich gerade in jüngerer Zeit in den Industriegesellschaften, indem die von der Ökologie herkommenden Probleme die ökonomische und gesellschaftliche Rationalität zunehmend verändern3. In der Wirtschaftswissenschaft stehen die Erklärungen der realen gesellschaftlichen und ökonomischen, d.h. der sozioökonomischen Vorgänge sowie die Schlußfolgerungen daraus im Vordergrund. Darüber hinaus erscheint es notwendig, durch eine bestimmte Grundlegung dieser Wissenschaft Verbindungen zu den anderen Humanwissenschaften herzustellen, wodurch sich die verschiedenen Wissenschaften, die sich jeweils mit Teilaspekten des in der Realität als Einheit vorhandenen menschlichen Handelns befassen, zumindest in ihren Ausgangspositionen verbinden lassen und somit diese Komplexität auch widerzuspiegeln in der Lage sind.
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Dieser Zusammenhang wurde in wissenschaftlicher Form erstmals umfassend durch Marx und Engels herausgearbeitet und unter Einbeziehung der historisch-materialistischen und dialektischmaterialistischen Theorien zu einer allgemeinen Theorie gesellschaftlicher Entwicklung ausgebaut. Vgl. hierzu: Marx, K., Das Elend der Philosophie, 6. Aufl. Berlin (DDR) 1971; ders., Das Kapital, MEW Bd. 23, 24, 25, Berlin (DDR) 1965; Engels, F., Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, Berlin (DDR) 1966, ders., Über historischen Materialismus, sowie ders., „Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung der Affen“, in: Jenssen, O. (Hrsg.), Marxismus und Naturwissenschaft. Gedenkschrift zum 30. Todestage des Naturwissenschaftlers Friedrich Engels, Berlin 1925. Godelier, M., Rationalität und Irrationalität in der Ökonomie, Frankfurt am Main 1972, S. 338. Godelier setzt sich in dieser Veröffentlichung sehr ausführlich mit verschiedenen – historisch veränderbaren – Rationalitätsformen auseinander. Ähnliches gilt für: Hartfiel, G., Wirtschaftliche und soziale Rationalität. Untersuchungen zum Menschenbild in Ökonomie und Soziologie, Stuttgart 1968. Vgl. Meadows, D. u. a., Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1972.
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Mit den folgenden Überlegungen wird versucht, die Ökonomie als Wissenschaft in einen solchen Zusammenhang zu stellen. Dieser Versuch soll mit dem Begriff „ökonomische Anthropologie“1 gekennzeichnet werden. Der Untersuchungsgegenstand läßt sich dabei wie folgt umschreiben: Erstens bezieht sich die ökonomische Anthropologie auf das ökonomische Handeln in den verschiedenen Gesellschaften, wobei dieser Bereich des Handelns jeweils nur einen Teil der gesellschaftlichen Gesamtheit widerspiegelt. Die Bedeutung dieses Bereichs ist in den einzelnen Gesellschaften mit jeweils unterschiedlich entwickelten Produktivkräften und verschiedenartigen Produktionsverhältnissen nicht gleich bedeutsam. Die vorherrschenden sozioökonomischen Strukturen lassen sich durch die Kategorien von „Bedürfnis, Interesse, Macht“ erfassen2. Zweitens wird durch die ökonomische Anthropologie, in der das Ökonomische einen Teilbereich des Gesellschaftlichen darstellt, der Zusammenhang zu dem gesamten menschlichen Handeln gewährleistet. Dies geschieht, indem zwar alle Formen menschlichen Handelns als gesellschaftlich bzw. ökonomisch geprägt erfaßt werden. Dieser gesellschaftliche Bezugsrahmen ist jedoch wegen der auch bestehenden Abhängigkeit menschlichen Handelns von dem Bereich der Natur zu eng. Damit wird das Gesellschaftliche ein Teilbereich innerhalb des Bezugssystems für menschliches Handeln insgesamt, das sich durch die Kategorien von „Freiheit, Entfremdung, Selbstverwirklichung“ darstellen läßt3. Diese doppelte Begriffsbestimmung geht durch ihren zweiten Teil über das hinaus, was GODELIER unter ökonomischer Anthropologie versteht. Hier heißt es: „Gegenstand der ökonomischen Anthropologie ist die vergleichende theoretische Analyse der verschiedenen wirklichen und möglichen ökonomischen Systeme. Zur Erarbeitung dieser Theorie bezieht die ökonomische Anthropologie ihren Stoff aus den konkreten Informationen, welche die Historiker und Ethnologen über Funktionszusammenhang und Entwicklung der von ihnen untersuchten Gesellschaften beibringen. Gegenüber der politischen Ökonomie’ die sich, wie es scheint, dem Studium moderner Industriegesellschaften – sei’s mit Warenproduktion oder Wirtschaftsplanung – widmet, begreift sich die ökonomische Anthropologie gewissermaßen als Ausdehnung’ der politischen Ökonomie auf die vom Ökonomen vernachlässigten Gesellschaften.(...) Mit ihrem Ansatz übernimmt sie also die Aufgabe, eine allgemeine Theorie der verschiedenen gesellschaftlichen Formen der ökonomischen Tätigkeit des
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Zur Herkunft des Begriffs „ökonomische Anthropologie“ vgl. Godelier, M., Rationalität und Irrationalität in der Ökonomie, a.a.O., S. 288. Vgl. zu diesen Kategorien die Untersuchungen bei Müller, J. B., Bedürfnis und Gesellschaft. Bedürfnis als Grundkategorie im Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus, Stuttgart 1971; Habermas, J. , Erkenntnis und Interesse, a.a.O., S. 234-262; Neuendorff, H., Der Begriff des Interesses. Eine Studie zu den Gesellschaftstheorien von Hobbes, Smith und Marx, Frankfurt am Main 1973; Šik, O., Der dritte Weg, a.a.O.; Russell, B., Macht. Eine sozialkritische Studie, Zürich 1947; Berle, A. A., Macht. Die treibende Kraft der Geschichte, Hamburg 1973. Vgl. Israel, J., Der Begriff Entfremdung, Reinbek 1972; Fromm, E., Der moderne Mensch und seine Zukunft, 5. Aufl. Frankfurt am Main 1971.
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Menschen zu entwickeln, denn die vergleichende Analyse müßte notwendig einmal zu allgemeinen anthropologischen Erkenntnissen führen“1.
An anderer Stelle schreibt GODELIER hierzu: „Es geht also nicht um die Frage, ob die ökonomische Anthropologie existiert, sondern um die Frage nach ihrer Berechtigung. Und die Frage nach ihrer Berechtigung ist zugleich die Frage nach ihrer tatsächlichen Rolle, nach der jeweiligen Bedeutung der ökonomischen Beziehungen in der inneren Logik der Funktionsweise und der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften, also nach dem Verhältnis von Ökonomie, Gesellschaft und Geschichte“2.
Der zweite Aspekt der Definition von ökonomischer Anthropologie, in dem das Verhältnis des Gesellschaftlichen zur Gesamtheit des menschlichen Handelns zum Ausdruck kommt und der insbesondere für psychologische, sozialpsychologische und philosophische Fragestellungen von Bedeutung ist, entfällt damit bei GODELIER bzw. kommt nur sehr vermittelt zum Ausdruck. In der Literatur finden sich mehrere Theorien, durch die mit z.T. großen Unterschieden in Umfang, Methode und Inhalt versucht wird, sozialwissenschaftlich bezogene Anthropologien zu entwickeln. Hiervon seien im einzelnen genannt: soziologische Anthropologie3, politische Anthropologie4, strukturale Anthropologie5, ökonomische Anthropologie6, Sozialanthropologie7, sozialwissenschaftliche Anthropologie8, Kulturanthropologie9. Aber auch so verschiedene Positionen wie die aus marxistischer Sicht vorgelegte Theorie der Persönlichkeit10 und der Versuch einer geistwissenschaftlichen Anthropologie11 sind hier zu nennen. Ihre Gemeinsamkeit liegt insbesondere in der zentralen Erkenntnis, daß neben dem Gesellschaftlichen immer auch Natur im menschlichen Handeln enthalten ist, selbst wenn diese relativ, d.h. jeweils vermittelt durch gesellschaftliche Verhältnisse vorhanden ist. LEPENIES12 drückt diesen Gedanken wie folgt aus: 1
Godelier, M., Rationalität und Irrationalität in der Ökonomie, a.a.O., S. 288. Ders., Ökonomische Anthropologie, a.a.O., S. 24. Vgl. Lepenies, W., Soziologische Anthropologie. Materialien, München 1971. 4 Vgl. Balandier, G., Politische Anthropologie, München 1972. 5 Vgl. Lévi-Strauss, C., Strukturale Anthropologie, Frankfurt am Main 1971. 6 Vgl. Godelier, M., Rationalität und Irrationalität in der Ökonomie, a.a.O., bes. S. 281-368; ders., Ökonomische Anthropologie, a.a.O., bes. S. 7–91. 7 Vgl. Gadamer, H.-G./ Vogler, P. (Hrsg.), Sozialanthropologie, Bd. 3 von Neue Anthropologie, München 1972. 8 Vgl. Müller-Armack, A., „Gedanken zu einer sozialwissenschaftlichen Anthropologie“, in: Karrenberg, F./ Albert, H. (Hrsg.), Sozialwissenschaft und Gesellschaftsgestaltung. Festschrift für Gerhard Weisser, Berlin 1963, S. 3-16. 9 Vgl. König, R./ Schmalfuß, A. (Hrsg.), Kulturanthropologie, Düsseldorf-Wien 1972. 10 Vgl. Sève, L., Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, Frankfurt am Main 1972. 11 Vgl. Sombart, W., Vom Menschen. Versuch einer geistwissenschaftlichen Anthropologie, Berlin 1938. 12 Lepenies, W., Soziologische Anthropologie, a.a.O., S. 14. 2 3
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Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre „Einer Täuschung unterliegen wir, wenn wir glauben, gesellschaftliche Phänomene durch die Bestimmung des Menschen erklären zu können, aber ebenso geben wir uns einer Illusion hin, wenn wir meinen, den Menschen als ein Produkt der Natur im Rahmen von Gesellschaftstheorien nicht berücksichtigen zu müssen.“
Für die weitere Untersuchung ist es nunmehr erforderlich, eine Auswahl aus dem im Rahmen der oben definierten ökonomischen Anthropologie Darstellbaren zu treffen. Dies kann nicht mit Hilfe der zu sehr auf den Naturbereich bezogenen Triebe erfolgen, da hiermit das gesellschaftliche Beeinflußtsein jeder Form menschlichen Handelns nur mangelhaft zum Ausdruck kommt. Vielmehr erscheint die Ambivalenz menschlichen Handelns, d.h. das Beeinflußtsein durch Natur und Gesellschaft einerseits und die grundsätzliche Offenheit des Handelns andererseits durch die Verwendung eines auf Interessen bezogenen Ansatzes darstellbar.
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Ökonomische Anthropologie auf der Grundlage von Interessen
Die in den Gesellschaften vorhandenen sozioökonomischen Strukturen werden im folgenden von einer interessenbezogenen Perspektive aus untersucht. Somit werden in der ökonomischen Anthropologie erstens aus der Gesamtheit der Interessen die ökonomischen Interessen als Untersuchungsgegenstand ausgewählt, und zweitens wird auf interessenbezogener Basis die Auseinandersetzung mit den übrigen Kategorien der ökonomischen Anthropologie vorgenommen. Auf diese Weise läßt sich die Einheitlichkeit des menschlichen Handelns, die mit dieser analytischen Darstellung zerschnitten wird, durch die zwischen den einzelnen Kategorien jeweils bestehenden Abhängigkeiten bzw. Interdependenzen zumindest ansatzweise erhalten bzw. wieder herstellen. Im Zusammenhang mit einer ökonomischen Anthropologie stellt sich die Frage nach der Art der Abhängigkeit bzw. nach dem Maß an Freiheitsbereichen bei der Interessenentwicklung gegenüber Natur und Gesellschaft. Aus zahlreichen biologischen, sozialpsychologischen und soziologischen Untersuchungen der neueren Zeit ergibt sich, daß es weder ein autonomes Subjekt im Sinne des Rationalismus noch ein gesellschaftlich determiniertes Subjekt gibt. Dies wird als eines der wesentlichsten Ergebnisse der neueren anthropologischen Forschung angesehen und soll im folgenden kurz skizziert werden. Bei der Frage nach den Beziehungen zwischen Interessen der Menschen und Natur ist eine Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Verhaltensforschung erforderlich, und zwar mit dem humanethologischen Zweig dieser Wissenschaft. Diese Richtung hat sich aus der auf Tiere bezogenen biologischen Anthropologie entwickelt1. Die Ableitung von „menschlichen Interessen“ aus Ergebnissen die1
Vgl. zu dieser Disziplin: Lorenz, K., Über tierisches und menschliches Verhalten. Aus dem Werdegang der Verhaltenslehre (Gesammelte Abhandlungen Bd. I, II), München 1970.
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ser Forschung könnte zu widersprüchlichen Resultaten führen: Aus den vorfindbaren Tatsachen der natürlichen Auslese, von Aggressionen, Revier- und Rangkämpfen könnte einerseits die Konsequenz gezogen werden, daß ein sozialdarwinistischer Wettbewerb, die Verfolgung allein der individuellen Vorteile, ein Kampf aller gegen alle die den allgemeinen menschlichen Interessen und Anlagen angemessene Ordnung wäre, wobei als Ziel die Verfolgung des individuellen Glücks bei gleichzeitiger Minimierung der Reibungsverluste besteht. Aus der Tatsache, daß Menschen nur als soziale Wesen existieren und sich nur in intakten gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen und Verbänden als Menschen entfalten, können andererseits genau entgegengesetzte Schlußfolgerungen gezogen werden: die Forderung nach einer solidarischen Organisation der Gesellschaft1. Ein naiver Rückgriff auf die Ergebnisse der Verhaltensforschung birgt die Gefahr in sich, daß die jeweiligen historischen Bedingungen der anthropologischen „Verhaltenskonstanten“ übersehen werden. Die Verhaltensforschung ihrerseits trägt diesem Einwand Rechnung und anerkennt, daß die Menschen imstande sind, jene Triebe zu erkennen und auch gegen sie bestimmte gesellschaftliche Strukturen zu gestalten2. Dabei können jene Triebe von geringerer Bedeutung sein als die gesellschaftlichen Bedingungen. Für eine Formulierung von Interessen scheinen diese „anthropologischen Konstanten“ unterhalb einer sehr allgemeinen Ebene also von relativ geringer Bedeutung zu sein. Nunmehr ist der Frage nach den Beziehungen zwischen Interessen der Menschen und gesellschaftlichen Verhältnissen nachzugehen. Als mögliche determinierende Kategorie treten hierbei einerseits die Arbeit und andererseits die Produktionsverhältnisse, in denen Arbeit vollbracht wird, auf. Es ist die Arbeit, durch die gesellschaftliche Strukturen geschaffen werden3. Da nicht jede Form menschlichen Handelns als Arbeit bezeichnet wird, sondern nur die, welche im direkten Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Produktion von Gütern und Diensten steht, bestehen neben der Arbeit noch andere eigenständige Bereiche menschlichen Handelns, die weiter oben mit „Aggression“ und „Reflexion“ umschrieben wurden. Sie durchdringt über den gesellschaftlichen Zusammenhang diese anderen Bereiche, wird aber ihrerseits auch durch die beiden anderen Kate1
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Zu den Bestrebungen, die gegebenen historischen Formen der Organisation der gesellschaftlichen Produktion als „natürlich“ zu deuten, vgl. Hofmann, W., Universität, Ideologie, Gesellschaft. Beiträge zur Wissenschaftssoziologie, Frankfurt am Main 1968, S. 125 ff.; Mühlmann, W. E., „Sozialdarwinismus“, in: Bernsdorf, W. (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie Bd. III, Frankfurt/ M. 1972, S. 710 ff. Vgl. Lorenz, K./ Leyhausen, P., Antriebe tierischen und menschlichen Verhaltens. Gesammelte Abhandlungen, 3. Aufl. München 1971, S. 54-76. Zur geschichtlichen Entwicklung der menschlichen Arbeit vgl. van der Ven, F., Sozialgeschichte der Arbeit, 3 Bde., München 1972; Jungbluth, A., „Ein Beitrag zur Geschichte und Entwicklung der menschlichen Arbeit“, Das Mitbestimmungsgespräch 19. Jg., H. 1/ 1973, S. 3-7. Als „Monographie der industriellen Arbeit im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts“ ist zu nennen: Engels, F., Die Lage der arbeitenden Klasse in England, München 1973.
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gorien beeinflußt. Damit kommt eine Offenheit menschlichen Handelns zum Ausdruck, die umgekehrt die Herstellung von Freiheit und Selbstverwirklichung bzw. die Aufhebung von Entfremdung nicht nur von Arbeit und deren Bedingungen abhängig macht. Diese Überlegungen stehen in Übereinstimmung mit dem ersten Teil des folgenden Marx-Zitates, widersprechen jedoch dem zweiten. Hier heißt es: „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt“1.
Von hier ausgehend sind im Rahmen der dialektisch-materialistischen Weltanschauung marxistisch-leninistischer Prägung die Überbetonung der gesellschaftlichen Abhängigkeit des Menschen und der Totalitätsanspruch von Arbeit entwickelt und dogmatisiert worden. Doch wurde dieser monistischen Orientierung selbst von Marxisten widersprochen2. Die von uns in der Kategorie Arbeit bzw. in dem Gesellschaftlichen gesehene Bedeutung wird durch die Forschungsergebnisse auf verschiedenen humanwissenschaftlichen Gebieten bestätigt. Dabei soll nur allgemein auf folgende Bereiche hingewiesen werden: Ethologie, psychosomatische Medizin, Psychologie, Sozialpsychologie, Pädagogik, Ethnologie, Religionswissenschaft. Aus diesen Zusammenhängen heraus wird in dem gesellschaftlichen Bereich ein nicht die ganze Wirklichkeit des Menschen umfassendes System von Beziehungen gesehen. Die Schwierigkeiten des Nachvollzuges dieser Deutung menschlichen Handelns liegen insbesondere darin, daß mit ausschließlich gesellschaftlichen Fragestellungen die Verschiedenartigkeiten der menschlichen Handlungsebene nicht ermittelt werden können. Obwohl überall der gesellschaftliche Einfluß feststellbar ist, greift eine nur von gesellschaftlichen Einflüssen ausgehende Darstellung zu kurz. Hierin zeigt sich auch die Begrenzung jeder ausschließlich soziologischen Betrachtungsweise3.
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Vgl. Marx, K., MEW Bd. 13, Berlin (DDR), S. 8/ 9. Vgl. hierzu Klaus, G./ Buhr, H. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, 2 Bde., 6. Aufl. Leipzig 1969, bes. die Artikel: „Gesellschaftliches Bewußtsein“, „Individualismus“, „Marxismus– Leninismus“, „Mensch“. Aus der zahlreichen marxistischen Kritik an diesen theoretischen und praktischen Bedingungen sei hier verwiesen auf: Kolakowski, L., Der Mensch ohne Alternative, München 1967, bes. S. 7-52, 125-158; Garaudy, R., Die große Wende des Sozialismus, München 1972, S. 67–117; Sève, L., Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, a.a.O. Zur nichtmarxistischen Kritik vgl. die sehr ausführliche Arbeit von Rolfes, H., Der Sinn des Lebens im marxistischen Denken, Düsseldorf 1971, bes. S. 71-80, 127-137, 205 ff. Vgl. hierzu die vom Ansatz her gleichgerichteten Überlegungen bei Rotter, F. „Rechtssoziologie und Psychoanalyse“, ARSP Vol. 1973, LIX/ 4, S. 535–550; ders., „Verfassungsrechtliche Möglichkeiten der Institutionalisierung sozialen Wandels“, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 3 (1972), S. 87-138, hier S. 119 ff.
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Ein vermittelnder Ansatz liegt in einer psychologisch orientierten empirischen Verhaltensforschung in der Wirtschaftstheorie1. Der wirtschaftende Mensch wird unterdessen zwar nicht mehr „als isoliertes Individuum, sondern als ein nicht zuletzt von Einflüssen seiner natürlichen und sozialen Umwelt geprägtes Wesen“2 gesehen. Von hier aus lassen sich jedoch die menschliches Handeln in ökonomischer Hinsicht prägenden gesellschaftlichen Strukturen (z.B. Eigentums-, Vermögens-, Entscheidungskompetenzverteilung) nur sehr schwer, wenn überhaupt erfassen. Damit zusammenhängend bleiben auch die Fragen der sozioökonomischen Macht weitgehend unberücksichtigt. Erfolgt demnach eine Einbeziehung dieser Fragen, so werden die von der sozialen Umwelt auf den einzelnen ausgehenden Einflüsse, soziale Kontrollmechanismen, die sowohl für die Individuen Schutzfunktionen als auch Zwänge enthalten, nicht bewertet bzw. beurteilt. Beseitigt man diesen schwerwiegenden Mangel durch das Einfügen sozioökonomischer Ziele in die Theorie, so führt dies dann nachträglich zu einem an Interessen orientierten Ansatz3. Diese kurze Abgrenzung in dreifacher Richtung hat die Notwendigkeit einer interessenorientierten Vorgehensweise gezeigt. Die Interessen des Menschen werden dabei zwar durch biologische, ethologische, ökonomische, sozialpsychologische bzw. soziologische Faktoren beeinflußt; sie sind jedoch durch keinen dieser Faktoren ausschließlich bedingt. Diese Ergebnisse bedeuten in der Konsequenz, daß die Rechtfertigung von Interessen in einem wissenschaftlich nicht mehr vollständig auflösbaren Prozeß von sozialer Utopie – vermittelt durch soziologische Phantasie – steht, wobei beide durch Bedürfnisse bzw. Defizite der Bedürfnisse geprägt sind4. 1
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Ein von Verhaltensweisen ausgehender Ansatz ist von Schmölders entwickelt worden. Vgl. Schmölders, G., „Das Bild vom Menschen in der Wirtschaftstheorie“, Sozialanthropologie, a.a.O., S. 134-167. Durch diese Orientierung bleiben insbesondere die sozioökonomischen Machtstrukturen, die in der Realität vorhanden sind und starken Einfluß auf das menschliche Handeln haben, fast völlig unberücksichtigt. Im Zusammenhang mit der Verhaltensforschung wird darauf noch zurückzukommen sein. Schmölders, G., „Das Bild vom Menschen in der Wirtschaftstheorie“, a.a.O., S. 157. Vgl. hierzu die Arbeiten von Gerhard Weisser und den darin enthaltenen Versuch, die Ökonomie auf die Grundlage eines Axiomensystems von Interessen zu stellen. U. a. Weisser, G., Wirtschaftspolitik als Wissenschaft, Stuttgart 1934; ders., „Normative Sozialwissenschaft im Dienste der Gestaltung des sozialen Lebens“, Soziale Welt Jg. 7 (1956), S. 2ff.; ders., „Unternehmensmorphologie und Einzelwirtschaftspolitik als Bestandteile der Betriebswirtschaftslehre“, Archiv für öffentliche und freigemeinnützige Unternehmen Bd. 5 (1960-1961). – Vgl. auch die Arbeiten: Karrenberg, F./ Albert, H. (Hrsg.), Sozialwissenschaft und Gesellschaftsgestaltung. Festschrift für Gerhard Weisser, Berlin 1963; Katterle S., Normative und explikative Betriebswirtschaftslehre, Schriften des Seminars für Genossenschaftswesen an der Universität Köln, Bd. 10, Göttingen 1964; ders., Sozialwissenschaft und Sozialethik. Logische und theoretische Probleme praktischer Sozialwissenschaften, bes. christlicher Soziallehren, Göttingen 1972, bes. S. 47 ff. Vgl. Kloten, N., „Utopie und Leitbild im wirtschaftspolitischen Denken“, Kyklos Bd. XX (1967), S. 331-354; Engelhardt, W. W., „Utopien als Problem der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften“, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 125. Bd. (1969), S. 661-676; Katterle, S., Sozialwissenschaft und Sozialethik, a.a.O., bes. S. 47-79, 142-181; Mills, C. W., Kritik der soziologischen
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Ökonomische Anthropologie der kapitalistischen Gesellschaft
Unter der Vielzahl von historisch vorfindbaren Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen wird für die beispielhafte Darstellung einer auf Interessen beruhenden ökonomischen Anthropologie die Industriegesellschaft westlicher Prägung gewählt. Die ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen dieses Gesellschaftssystems sowie die hier vorhandene Form der Rationalität sind mit dem naturbezogenen Bereich menschlichen Handelns durch die in der Definition der ökonomischen Anthropologie enthaltenen Kategorien „Freiheit, Entfremdung, Selbstverwirklichung, Bedürfnis, Interesse, Macht“ verbunden.
4.1 Interessenlagen bei den beiden dominanten gesellschaftlichen Gruppen Für die Untersuchung von Industriegesellschaften westlicher Prägung erweist sich dabei die Unterscheidung von zwei dominanten ökonomischen Interessenlagen als gleichermaßen realitätsnah wie für die weitere Untersuchung fruchtbar. Dabei handelt es sich um: (1) das kapitalorientierte Interesse. Dieses Interesse bezieht sich auf die Rationalität des eingesetzten Kapitals und besteht bei Personen bzw. Gruppen, deren gesellschaftliche Stellung durch den Einsatz von eigenem oder übertragenem Kapital bedingt ist; (2) das arbeitsorientierte Interesse. Dieses Interesse bezieht sich auf die Rationalität der eingesetzten Arbeit und besteht bei Personen bzw. Gruppen, deren gesellschaftliche Stellung durch den Einsatz von eigener Arbeit in abhängiger Beschäftigung bedingt ist. Beide Interessenlagen zielen gleichermaßen auf sozioökonomisches Handeln ab und enthalten insofern Handlungsinteressen1, die zu einem System von Handlungsanweisungen für die Praxis führen sollen2. Die Umsetzung ist dabei jeweils an bestimmte Machtpositionen gebunden. Es besteht eine wesentliche Unterscheidung zwischen den beiden Interessenlagen, wenn man ihre anthropologische Rückbeziehbarkeit betrachtet. Das kapital-
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Denkweise, Neuwied 1963, S. 41-44; Zur Geschichte der sozialen Utopie vgl. Servier, J., Der Traum von der großen Harmonie, München 1971; zur allgemeinen Philosophie vgl. Bloch, E., Das Prinzip Hoffnung, 3 Bde., Frankfurt am Main 1967. Der Ausdruck „Handlungsinteresse“ ist in Anlehnung an den von Habermas für den Theoriebereich entwickelten Terminus „Erkenntnisinteresse“ abgeleitet. Vgl. zu den Fragen des Interesses die in der 8. Fußnote in Abschnitt 2 angegebene Literatur. Ein auf den Bereich der Einzelwirtschaften bezogenes Konzept ist unter Beteiligung des Verfassers dieses Artikels erstellt und kürzlich veröffentlicht worden. Vgl. Projektgruppe im WSI, Grundelemente einer Arbeitsorientierten Einzelwirtschaftslehre, WSI-Studie Nr. 23, Köln 1974.
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orientierte Interesse stellt für die kapitalbesitzende Gruppe bzw. Klasse lediglich und ausschließlich das gesellschaftliche Instrument dar, die Kategorien von Freiheit, Selbstverwirklichung, Bedürfnisbefriedigung und Machtausübung zu realisieren. Demgegenüber führen die mit dem Einsatz von Arbeit verbundenen Interessen direkt auf die Arbeit als eine Form menschlichen Handelns und auf die damit verbundenen Kategorien „Freiheit, Entfremdung, Selbstverwirklichung, Bedürfnisbefriedigung, Machtausübung“ zurück. Außerhalb dieser beiden dominanten Interessenlagen gibt es weitere, weniger bedeutende, ökonomische Interessen sowie andere, nicht-ökonomische Interessen, die in den ökonomischen Bereich hineinwirken können1. Auf diese Zusammenhänge kann hier jedoch nicht näher eingegangen werden. Die Konkretisierung und thematische Begrenzung der hier zu behandelnden ökonomischen Anthropologie führt eindeutig zu einer kritischen Auseinandersetzung sowohl mit der Praxis als auch mit der Theorie der kapitalistischen Ökonomie und des bürgerlich-liberalen Staates.
4.2 Grundstrukturen der kapitalistischen Gesellschaftsentwicklung Die gegenwärtige Produktion und Verteilung von Gütern in den westlichen Gesellschaften beruht in sozioökonomischer Hinsicht (in Abgrenzung zur technologischen) noch immer auf den gleichen realen Grundstrukturen wie zu Beginn der kapitalistischen Produktionsweise. Diese sind insbesondere: — die auf den Einsatz von Kapital bezogene Rationalität als Maßstab für ökonomische Leistungen; — das Recht, die Verfügung über die Produktion und die Aneignung des Ergebnisses der Produktion aus dem Besitz von Kapital abzuleiten; — die gesellschaftliche Abstimmung der Produktion und die Übernahme der Grundstrukturen der Verteilung aus Marktprozessen, wobei sich der Markt durch voneinander unabhängige einzelne oder gruppenmäßige Teilnehmer ergibt. Einzelheiten der kapitalistischen Entwicklung wurden vor allem von Sombart2, Weber3 und Mandel4 dargestellt, wobei die beiden ersten das Wesen des Kapita-
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Vgl. allg. Šik, O., Der dritte Weg, a.a.O., S. 69-75, sowie konkret an Beispielen Godelier, M., Rationalität und Irrationalität in der Ökonomie, a.a.O., S. 17-43. Vgl. Sombart, W., Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, München und Leipzig 1923; ders., Der moderne Kapitalismus, Dritter Band, Erster Halbband, München und Leipzig 1928. Vgl. Weber, M., Die protestantische Ethik Bd. I, 2. Aufl. München und Hamburg 1969. Mandel, E., Marxistische Wirtschaftstheorie Bd. I, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1972.
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lismus idealistisch aus einer kapitalistischen Geisteshaltung erklärten und letzterer in der marxistischen Tradition der politischen Ökonomie steht. Aus dem Zusammenwirken der verschiedenen, hier nicht näher darzustellenden Einflußfaktoren entstand gegen Ende des 18. Jahrhunderts in England der Hochkapitalismus. Aus einer Dynamik, die von dem Zwang nach Kapitalverwertung, dem Wettbewerb und den Rentabilitätsinteressen getragen wurde, gingen starke Impulse in Richtung auf die Entwicklung der Technik bzw. auf die naturwissenschaftliche Forschung aus. Sozioökonomisch stützt sich diese Weiterentwicklung des Kapitalismus auf das Bürgertum, das bereits im ausgehenden Mittelalter, in besonderem Maße aber in der Revolution von 1688, den Einfluß der Feudalklasse zurückdrängte. Mit dieser Machtverlagerung wurden wesentliche gesellschaftliche Voraussetzungen geschaffen, die zur freien Entfaltung des Bürgertums und im Gefolge damit später zur Bildung des Industrieproletariats führten1. Für jede Erklärung der Entstehung des Kapitalismus ist aber folgender Zusammenhang zu beachten: „Auf jeden Fall wird hier ein günstiges Klima, damit zusammenhängend bessere Arbeitsbedingungen u.ä., auch eine nicht geringe Rolle gespielt haben. Jedoch gegen jedes Herausgreifen eines oder einiger einzelner Faktoren werden immer ebenso eng begrenzte Einwände erhoben werden können. (…) Deshalb müssen alle wichtigen Faktoren und Prozesse in ihrer Wechselwirkung (…) und in ihrer Gesamtheit erforscht werden“2.
4.3 Grundaussagen der Sozialphilosophie der ökonomischen Klassik und Kritik Die der Emanzipation des Bürgertums dienenden gesellschaftlichen Strukturen fanden bereits Eingang in die Theorie der klassischen Nationalökonomie am Ende des 18. Jahrhunderts, und diese Theorie gilt in ihren zentralen Aussagen noch heute als Erklärung gesellschaftlich-ökonomischen Handelns. Für eine kritische Auseinandersetzung mit der dieser Theorie zugrundeliegenden Sozialphilosophie soll hier auf die Arbeiten von Adam Smith zurückgegriffen werden, mit dessen ökonomischem Hauptwerk An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) man allgemein den Beginn der eigenständigen ökonomischen Wissenschaft verbindet. Diese Veröffentlichung ist als zweiter Teil einer zusammenhängenden Theorie entstanden, in deren erstem Teil unter dem Titel
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Vgl. Sombart, W., Der moderne Kapitalismus, Dritter Band, Erster Halbband, a.a.O., bes. zweiter Abschnitt (S. 304-469); Vgl. hierzu auch: E. Mandel, Marxistische Wirtschaftstheorie Bd. 1, a.a.O., S. 327-355. Šik, O., Der dritte Weg, a.a.O., S. 38.
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Theory of Moral Sentiments Fragen der Ethik und Sozialphilosophie behandelt wurden1. Der ökonomische Teil des Smithschen Systems wurde in der Folgezeit zunehmend von den zugrundeliegenden sozialphilosophischen und ethischen Normen gelöst und verselbständigt. Dieser Prozeß erst machte es möglich, daß die SMITHsche politische Ökonomie zur scheinbar wertfreien, in Wirklichkeit utilitaristischen „reinen Ökonomie“ reduziert und auf dieser Grundlage zur Apologetik der hochkapitalistischen Wirtschaft des 19. und 20. Jahrhunderts verwendet wurde2. Wenn im folgenden die Sozialphilosophie der ökonomischen Klassik untersucht wird, so sollen hierbei vorhandene Unterschiede zwischen verschiedenen Autoren (z.B. Smith, Ricardo, Mill) nicht dargestellt werden, da es hier lediglich um die Grundaussagen geht. Diese lassen sich wie folgt zusammenfassen: - Die Ziele des wirtschaftlichen Handelns der Mitglieder der Gesellschaft ergaben sich aus dem Streben der einzelnen Personen nach ihrem individuellen Nutzen. Es wird dabei unterstellt, daß sich dann der maximale Nutzen bzw. die optimale Bedürfnisbefriedigung für alle Mitglieder der Gesellschaft einstellt. - Die Verwirklichung der Ziele des wirtschaftlichen Handelns erfolgt durch die private Verfügung über monetär bewertete Leistungen von Produktionsfaktoren in den Einzelwirtschaften. Durch die darin zum Ausdruck kommende Monetarisierung aller ökonomischen Vorgänge wird die Lenkung der Produktionsfaktoren und die Verteilung der Erträge vorgenommen. Das Ziel der Einzelwirtschaften besteht dann in der Erreichung der höchstmöglichen Rentabilität. Der Interessenausgleich zwischen einzelnen Gesellschaftsmitgliedern erfolgt über Nachfrage- und Angebotsvorgänge, die im Marktmechanismus aufeinander abgestimmt werden. Staatliches Handeln soll in diesem Zusammenhang auf wenige eng begrenzte Bereiche bezogen sein. - Als oberstes Prinzip des ökonomischen Handelns wurde das Wirtschaftlichkeitsprinzip gesetzt, welches besagt: durch einen gegebenen Einsatz von Produktionsfaktoren ist eine maximale Ausbringung marktgängiger Güter zu 1
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Vgl. Smith, A., An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, dt.: Eine Untersuchung über Natur und Wesen (Bd. 3: Ursachen) des Volkswohlstandes, übersetzt von Max Stirner nach der 4. engl. Aufl. v. 1786, Jena 1908-1923. Diese Veröffentlichung entstand aus dem zweiten Teil des Vorlesungsprogramms von Smith an der Universität von Glasgow, wobei im ersten Teil Fragen der Ethik und Sozialphilosophie behandelt wurden. Dieser erste Teil ist bereits 1759, also 17 Jahre vor Erscheinen der Inquiry veröffentlicht worden und zwar in: Smith, A., Theory of Moral Sentiments, dt.: Theorie der ethischen Gefühle, hrsg. von Eckstein, 2 Bde., Leipzig 1926; An Sekundärliteratur zu den anstehenden Problemen sei genannt: Medick, H., Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Schriftenreihe Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 5, Göttingen 1973, bes. S. 171-295. Vgl. Myrdal, G., Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung, 2. Aufl. Hannover 1963.
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erzielen, oder eine bestimmte Ausbringung ist mit einem Minimum an marktgängigen Produktionsfaktoren zu erzeugen. Man sah die gesamtwirtschaftliche Rationalität des wirtschaftlichen Handelns verwirklicht, wenn einzelwirtschaftlich nach dem Rentabilitätsprinzip gearbeitet wurde. Es erschien demzufolge als gesellschaftlich adäquate Zielfunktion der Unternehmen, nach der größten einzelwirtschaftlichen Rentabilität zu streben. Die Unternehmen wurden grundsätzlich als in der Rechtsform des Privateigentums geführt gesehen. Die schwerwiegenden Fehlentwicklungen und sozialen Ungerechtigkeiten, die die Sozialphilosophie der klassischen Ökonomie nicht berücksichtigte und die schon bald zur Entwicklung einer Gegenposition in Form der Marxschen Lehre führten, machen die zentralen Mängel in dieser Sozialphilosophie deutlich, die hier in drei Punkten der Kritik zusammengefaßt werden sollen. (1) Der zentrale Inhalt dieser Sozialphilosophie ist in der ihr zugrundeliegenden Anthropologie zu sehen, die in die politische Ökonomie der Klassik eingegangen ist. Im einzelnen geht es dabei um die Vorstellung, daß der Mensch ein autonomes Wesen sei, das sich sowohl gegenüber der Natur als auch gegenüber der Gesellschaft unabhängig entwickelt1. Dabei werden insbesondere die materiellen gesellschaftlichen Voraussetzungen der Autonomie übersehen, wenn man berücksichtigt, daß z.B. das Fehlen von Privatbesitz unternehmerisches Handeln und bestimmte Formen der besitzbürgerlichen individuellen Autonomie faktisch ausschließt. (2) Ähnlich schwerwiegend im Konzept der klassischen politischen Ökonomie ist die Fehleinschätzung der ökonomischen Strukturen für die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung. Hier steht die Smithsche Lehre ganz in der Gedankenwelt der Sozialphilosophie der englischen Rationalisten des 17. und 18. Jahrhunderts. Gesellschaftliche, d.h. auch ökonomische Beziehungen haben einen rein instrumentalen Charakter. Sie entstehen auf der Grundlage des contrat social, der das Privateigentum garantiert. Der Mensch handelt rational, wobei vorausgesetzt wird, daß er weiß, was rational ist. Man kann in diesem Verhalten ein Handeln nach dem erkannten Ziel des Eigeninteresses sehen. Die Gesellschaft wird abstrahiert von ihren tatsächlichen Klassenverhältnissen und als Einheit rechtlich gleicher und politisch freier Bürger gesehen. Ihre parteilichen und sonstigen gesellschaftlichen Gruppierungen würden zu einer Störung der vorgegebenen Harmonie führen, die wiederum Ausdruck des politischen Gemeinwil1
Vgl. hierzu Myrdal, G., Das politische Element …, a.a.O., S. 89; Bidlingmaier, J., Unternehmerziele und Unternehmerstrategien, Wiesbaden 1964, S. 31 f.; Wächter, H., Unternehmungs- und Unternehmerziele im sozio-ökonomischen Feld, Göttinger Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Studien, Bd. 10, Göttingen 1969, S. 1 ff.
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lens (Rousseau) ist. Dies stellt ein abstraktes, individualistisches Verständnis der Demokratie dar1. Die von Rousseau formulierte politische Philosophie, daß aus der naturwüchsigen Selbstliebe das Gemeinwohl aller notwendigerweise resultiere2, entspricht dem SMITHschen ökonomischen Grundsatz, wonach das aufgeklärte Selbstinteresse automatisch die wirtschaftliche Harmonie bewirke. Diese Sozialphilosophie und Ethik hatte sich in den vorangegangenen Jahrhunderten stufenweise entwickelt und diente dazu, das entstehende Bürgertum ideologisch aus der Bevormundung durch die Feudalklasse oder die Kolonialherren (USA) zu befreien3. Die Revolutionen in England (1688), den Vereinigten Staaten von Amerika (1776) und Frankreich (1789) sind der sichtbare Ausdruck für die Umsetzung dieser Theorie in die gesellschaftliche Praxis. (3) Die Orientierung und Bewertung des ökonomischen Handelns an den kapitalbezogenen Größen Gewinn und Rentabilität führt zu einer Unterbewertung all derjenigen Interessen, die sich aufgrund der bestehenden gesellschaftlichen Machtverteilung nicht oder nur unvollständig mit diesem kapitalorientierten Maßstab durchsetzen lassen (nicht-marktgängige Güter). Darüber hinaus gleichen nach dieser Theorie die einzelnen Wirtschaftssubjekte ihre wirtschaftlichen Interessen über Marktbeziehungen aus. Dieser Ausgleichsmechanismus kann jedoch durch Machtstrukturen in den Marktbeziehungen wesentlich gestört werden. Im übrigen bieten sich auch im Fall intakter Märkte genügend Freiräume, die zu Lasten der Schwachen gehen, so daß dieses Ausgleichssystem der Interessen unter Wahrung der Spielregeln durch den Staat als gemäßigter Sozialdarwinismus erscheint. Diese Kritik aufgrund der gegenwärtigen Strukturen in den Wirtschaftsgesellschaften muß jedoch die Tatsache berücksichtigen, daß zu Beginn der Industrialisierung die sachlichen Produktionsmittel Engpaßfaktoren waren. Weil es ein Engpaßfaktor war, konnten seine Eigentümer ihre Interessen bevorzugt durchsetzen. Von daher erscheint es aus der heutigen Perspektive nicht unsinnig, das wirtschaftliche Handeln auf den optimalen Einsatz dieses knappen Faktors auszurichten. In diesem Zusammenhang steht auch die Einschätzung der historischen Bedingungen beim Übergang vom Frühkapitalismus zum Hochkapitalismus durch Marx. Der Kapitalismus wird auch aus diesem Grund als ein notwendiges gesellschaftliches System in der historischen Entwicklung vom Feudalismus zum Sozialismus angesehen4. 1 2 3 4
Vgl. Fraenkel, E., Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964, S. 91. Vgl. Fetscher, I., Rousseaus politische Philosophie, Neuwied 1960, S. 50 ff. Vgl. Sombart, W., Der Bourgeois, a.a.O., S. 1-25, 170-193, 243-252. Vgl. Marx, K./ Engels, F., Manifest der Kommunistischen Partei, in der Textfassung der Erstausgabe des Jahres 1848, Stuttgart 1969.
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Arbeitsorientierte Interessen1 im Rahmen einer ökonomischen Anthropologie
Bei der Darstellung der sozioökonomischen Bedingungen, unter denen die Formulierung und Durchsetzung von Bedürfnissen, Interessen und Macht in der Gesellschaft erfolgen, hat sich gezeigt, daß es im wesentlichen zwei durch sozioökonomische Lebensbedingungen voneinander getrennte Gruppen gibt. Bei der Formulierung einer ökonomischen Anthropologie sind diese Strukturen von zentraler Bedeutung, wenn die aus dem gesellschaftlichen Bereich resultierenden Bedingungen menschlichen Handelns aufgearbeitet werden sollen. Dabei werden unterschiedliche sozioökonomische Bedingungen, unter denen einzelne Menschen leben, zu unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich der jeweiligen konkreten Bedürfnis-, Interessen- und Machtstrukturen führen. Das ergibt sich immer dann, wenn man die Ebene einer sehr allgemeinen Darstellung verläßt (z.B. Bedürfnis nach Nahrung, Wohnung, Kleidung; Interesse an Freiheit, Wohlstand, Gerechtigkeit; Macht in der Gesellschaft demokratisch zugeteilt, ausgeübt und kontrolliert). Aus den spezifischen materiellen Lebensbedingungen folgt eine spezifische Interpretation der Bedürfnisse und Interessen sowie der Verhaltensweisen. So dient die unter dem Prinzip der kapitalorientierten Rationalität sich vollziehende ökonomische Handlungsweise für die über Kapital verfügenden Personen und Gruppen dazu, materielle Voraussetzungen für eine breite Entfaltung und Befriedigung auch nicht-ökonomischer Bedürfnisse und Interessen sowie für eine Aufrechterhaltung der unter bestimmten historischen Bedingungen entstandenen gesellschaftlichen Machtverteilung zu schaffen2. Das hierbei zum Ausdruck kommende allgemeine Prinzip des individuellen Wettbewerbs um ökonomische und gesellschaftliche Erfolge bei gleichzeitiger Usurpation der Verfügungs- und Verteilungsrechte durch die Kapitalseite führt zu einer entscheidenden und strukturell bedingten Einengung der Entfaltungsmöglichkeiten der abhängig Beschäftigten. Damit erweisen sich die sozioökonomischen Bedingungen der Produktion und Verteilung als in hohem Maße an spezifische Interessen einer bestimmten sozialen Schicht gebunden3. Von den in abhängiger Beschäftigung tätigen Menschen können nur sehr wenige – und dann in der Regel auf Kosten anderer abhängig Beschäftigter – die sozioökonomischen Bedingungen ihrer Existenz individualistisch verbessern, da hierdurch die gesellschaftlichen Strukturen und Hierarchien unverändert bleiben. 1
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Hierzu sei auf die bereits erwähnte WSI-Studie verwiesen. Projektgruppe im WSI, Grundelemente einer Arbeitsorientierten Einzelwirtschaftslehre, a.a.O. Vgl. Hoffmann, R., „Parlamentarismus, soziale Interessen und Gewerkschaften“, Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 16. Jg., 1971. Vgl. Helfert, M., „Einfluß von sozio-ökonomischen Interessen auf Entwicklung und Rezeption wissenschaftlicher Erkenntnisse“, WWI-Mitteilungen 24. Jg., H. 7/ 1971; ders., Theoretische Modelle und politische Praxis, 1973, bish. unveröffentlichtes Manuskript.
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An die Stelle der individualistischen Interessenausrichtung müssen daher kollektiv-solidarische Orientierungen und eine demokratische Interessenabstimmung über Ziele und Wege der gesellschaftlichen Arbeit treten. Erst dadurch kann gewährleistet werden, daß in diese sozioökonomischen Prozesse alle wesentlichen gesellschaftlichen Interessen eingebracht und daß diese damit auch von der einseitigen Bindung an die kapitalorientierten Interessen gelöst werden können. Im folgenden soll versucht werden, einige Überlegungen zu einer ökonomischen Anthropologie vorzutragen, die mit dem Interesse am Einsatz von Arbeit verbunden ist. Als Ausgangspunkt wird die Norm gesetzt, eine humane Gestaltung aller Lebensbereiche des Menschen anzustreben. Soweit sich dieses Ziel auf den gesellschaftlichen Bereich erstreckt, ist es dabei erforderlich, die Demokratie als Ordnungsprinzip in allen gesellschaftlichen Bereichen zu verwirklichen. Nur eine demokratische Machtausübung führt zu einem Höchstmaß an Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen. Als Zwischenschritt bei der Konkretisierung und Operationalisierung dieses allgemeinen Anspruchs ist es erforderlich, den Begriff des arbeitsorientierten Interesses durch Bildung von Einzelinteressen aufzulösen. Die so entstehenden ökonomischen Interessen lassen sich je nach dem Erkenntnisziel in verschiedener Hinsicht systematisieren. Von Bedeutung sind hier insbesondere die Einteilungen in individuell-kollektive Interessen, unmittelbare-mittelbare Interessen und einzelwirtschaftliche-gesamtwirtschaftliche Interessen. Geht man beispielsweise von der zuletzt genannten Systematik aus, nach der danach unterschieden wird, ob die ökonomischen Interessen in den einzelnen Unternehmungen direkt umgesetzt werden können oder nicht, so sei folgende Aufstellung der arbeitsorientierten Interessen wiedergegeben1: Einzelwirtschaftliche Interessen — Sicherung der Arbeitsplätze — Sicherung der Einkommen — Optimale Gestaltung der Arbeit Gesamtwirtschaftliche Interessen — Steuerung der Produktion bei rationalem Einsatz von Arbeit und Kapital — Bedürfnisgerechte Versorgung mit privat und öffentlich nutzbaren Gütern — Gerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen. Allgemein gilt, daß diese Interessen im Maße der Emanzipation der abhängig Beschäftigten der Kritik und der evolutorischen Weiterentwicklung ausgesetzt 1
Vgl. Projektgruppe im WSI, Grundelemente einer Arbeitsorientierten Einzelwirtschaftslehre, a.a.O., S. 100-156.
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sind. Am Beispiel ihrer Entwicklung kann man verdeutlichen, was mit dem Begriff „soziales Lernen“ gemeint ist1. Im Verlauf des politischen Willensbildungsprozesses auf der Ebene der Gesamtgesellschaft wird sich in der Regel keine Identität zwischen den arbeitsorientierten Interessen und den übrigen Interessen ergeben. Damit muß auf dem Wege des Kompromisses und notfalls mit den verschiedenen Formen des sozialen Kampfes eine entsprechende Interessenregulierung zwischen den verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft gefunden werden, sofern sich diese Gruppen an dem demokratischen Willensbildungsprozeß beteiligen. Geht man allerdings von der Tatsache aus, daß in den bestehenden industrialisierten Gesellschaften die grundlegenden Interessen des größten Teils der Bevölkerung unmittelbar durch abhängige Arbeitsverhältnisse geprägt werden, so müssen bei einer demokratisch organisierten Interessenregulierung zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen auch bei der Formulierung des sogenannten „gesamtgesellschaftlichen Interesses“ die arbeitsorientierten Interessen entsprechend dominant vertreten sein. Dies schließt die Möglichkeit von Konflikten innerhalb der arbeitsorientierten Interessen nicht aus. Es ist davon auszugehen – und dies ist hier besonders hervorzuheben –, daß ein „gesamtgesellschaftliches Interesse“ nur möglich ist, sofern sich die Mitglieder der Gesellschaft auf allgemeine Prinzipien (z.B. Verfolgung von Glück, Wohlstand für alle, Gemeinwohl, Freiheit, friedliche Koexistenz) einigen. Diese Prinzipien im Rahmen eines leerformelhaften Gesamtinteresses sind jedoch nur innerhalb von sich z.T. ausschließenden Interessen der Gruppen bestimmbar und realisierbar2. Diese beruhen ihrerseits auf mehr oder weniger gleichartigen Interessen von Personen, die sich wiederum individuell sowie durch gruppenmäßige und gesellschaftliche Beziehungen ergeben. In der Konsequenz führen diese Überlegungen zu einem anderen Rationalitätsbegriff. Die kapitalorientierte Rationalität als Form der ökonomischen Rationalität ist als interessenbezogener Ausdruck des kapitalbesitzenden Bürgertums für die Freiheits-, Selbstverwirklichungs-, Bedürfnis-, Interessen- und Machtumsetzung dieser Personen festgelegt. Die zu entwickelnde Rationalität muß auf diejenige Gruppe, deren gesellschaftliche Stellung hinsichtlich der sozioökonomischen Möglichkeiten ausschließlich mit dem Einsatz von Arbeit verbunden ist, bezogen werden. Die einzelnen Mitglieder dieser Gruppe müssen sich über die Verbesserung der sozioökonomischen Bedingungen der Lebenssituation der abhängig Beschäftigten emanzipieren, so daß die neue Rationalitätsform als „emanzipatorische Rationalität“ bezeichnet werden kann. Emanzipation bezieht sich zwangsläufig auf die bisher nur unzureichend mit Einkommen, Vermögen, Verfügungsrechten, Bildungsgütern u.ä. ausgestatteten Personen bzw. Gruppen in der Gesellschaft, 1 2
Vgl. hierzu Negt, O., Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen, Frankfurt/ M. 1968. Vgl. Kohl, H., Pluralismuskritik in der Bundesrep., Diss. an der FU Berlin, Berlin 1968, S. 17 f.
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wobei die hier gemeinte Emanzipation nur auf die mit dem Einsatz von Arbeit verbundenen gesellschaftlichen Voraussetzungen ausgerichtet ist. Geht man im sozioökonomischen Bereich von der Polarität zwischen kapitalorientierten und arbeitsorientierten Interessen aus – die ihrerseits jeweils aus verschiedenen Teilinteressen zusammengesetzt sind –, so wird die Verbesserung einer Interessenlage in der Regel zu Lasten der anderen gehen. Die emanzipatorische Rationalität stellt die auf den gesellschaftlichen Bereich abzielende Form der Rationalität menschlichen Handelns dar. Greifen wir auf die eingangs getroffene Unterscheidung der Ebenen menschlichen Handelns zurück, so ist diese Rationalität als Bestandteil einer allgemeinen Rationalität menschlichen Handelns zu betrachten. Diese abschließende Überlegung hinsichtlich der Formen einer anthropologischen Rationalität führt hin zu dem, was man als „allgemeine Anthropologie“ bezeichnen kann1 Plaidoyer pour une anthropologie économique sur la base des intérêts Résumé Le sujet d’une anthropologie économique ne peut être que l’action de l’homme dans le domaine de l’économie se placant dans de conditions sociales concrètes. Concernant les intérêts on y voit tout d’abord la déterminante de norme de cet énoncé. En deuxième lieu on y trouve la possibilité de supprimer le double abrégé de chaque mise en question de l’économie en vue de la totalité de l’action de l’homme: les structures sociales ne suffisent pas à saisir l’ensemble de l’action de l’homme; les structures économiques représentent seulement un secteur partiel dans le recensement des structures sociales d’ensemble. Sur cette base une discussion critique mettant en question l’économie des sociétés des pays industrialisés occidentaux est menée s’occupant notamment de la rationalité des capitaux investis. Ensuite des aspects d’une forme alternative et s’orientant d’aprés les données du travail pour l’action économique sont esquissés, s’édifiant sur la rationalité du travail investi.
Pleading in Favor of an Economic Anthropology Based upon Interests Summary Subject of an economic anthropology is man’s action within the field of economy and taking place under concrete social conditions. In the first instance, interests are seen to be the determinant factor of this statement. Secondly, it is possible thereby to eliminate the twofold limitation whenever the economic question as to the totality of man’s action is raised: social structures fall short of embracing the complexity of man’s action; economic structures represent but one sector when complex social structures are covered. On this basis the economy in Western industrial societies will be discussed in a critical manner and concentrating upon the rationality of capital invested. This will be followed by an outline of aspects of an alternative labour-oriented form of economic action such outline to be based upon the rationality of labour invested. 1
Vgl. hierzu Godelier, M., Rationalität und Irrationalität in der Ökonomie, a.a.O., S. 286; ders., Ökonomische Anthropologie, a.a.O., S. 41; Gadamer, H.-G., „Theorie, Technik, Praxis – die Aufgaben einer neuen Anthropologie“, in: Gadamer/ Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, a.a.O., Bd. I, S. XXVIII f., XXXV f.
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A.2 Grundelemente einer Arbeitsorientierten Einzelwirtschaftslehre* Zusammenfassung der Forschungsergebnisse in der Projektgruppe1 „Arbeitsorientierte Einzelwirtschaftslehre“ im WSI Mit dem folgenden Text werden erstmals Ergebnisse eines Forschungsvorhabens veröffentlicht, durch das „Grundelemente einer Arbeitsorientierten Einzelwirtschaftslehre“ (AOEWL) entwickelt werden sollen. Eine Projektgruppe von neun Mitarbeitern des WSI, hat von April 1972 bis März 1973 die hier zusammengefaßten Ergebnisse erarbeitet. Durch diese Arbeiten, deren vollständige Fassung im Herbst 1973 im Rahmen der WSI-Studien vorgelegt werden soll, wird der Versuch gemacht, zumindest konzeptionell an die Stelle der herkömmlichen kapitalorientierten Betriebswirtschaftslehre eine arbeitsorientierte Einzelwirtschaftslehre zu setzen. Dieses Wissenschaftskonzept soll dazu beitragen, arbeitsorientierte Interessen in dem gesellschaftspolitisch zentralen Bereich der Ökonomie durchzusetzen, wobei der Mitbestimmung eine entscheidende Rolle gleichermaßen bei der Formulierung der Interessen, der Umsetzung in Form alternativer Entscheidungskonzeptionen und der Kontrolle der Entscheidungsträger zufällt. Obwohl die Autoren den Forschungsansatz für fruchtbar halten, sind sie sich im klaren, daß die stets berechtigte Skepsis gegenüber dem Ergebnis der eigenen Arbeit in diesem Fall noch durch die Komplexität und Neuartigkeit der behandelten Probleme wächst. Mit der Erarbeitung des Konzepts einer AOEWL hoffen die Autoren auf folgende Wirkungen: — Anregung der wissenschaftlichen Diskussion und Forschung2; — Förderung der gewerkschaftsinternen Diskussion2, um zu einer detaillierten arbeitsorientierten Theorie mitbestimmter Unternehmungen sowie zu einer Theorie gemeinwirtschaftlicher Unternehmungen zu gelangen; — Impulse zur Auseinandersetzung mit den aufgezeigten Problemen im Bildungs- und Berufsbildungsbereich; — Entwicklung von wirksameren gewerkschaftlichen Strategien gegenüber kapitalorientierten Interessengruppen. * 1
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in: WSI-Mitteilungen, 26. Jg., H. 5/ 1973, S. 166-181 Der Projektgruppe gehörten an: Ulrich Briefs, Ursula Engelen-Kefer, Mario Helfert, Gerhard Himmelmann, Heribert Kohl, Norbert Koubek, Hans-Detlef Küller, Bernd Mülhaupt, Ingrid Scheibe-Lange. - Es waren folgende Fachrichtungen vertreten: Betriebswirtschaftslehre, Volkswirtschaftslehre, Politologie, Soziologie. Als eigenen ersten Beitrag hierzu veranstaltete das WSI am 6./ 7. Juni 1973 in Düsseldorf ein „WSI-Forum“ zum Thema: Arbeitsorientierte Einzelwirtschaftslehre kontra kapitalorientierte Betriebswirtschaftslehre.
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Ziel der Arbeit, Gegenstand und Methode der Untersuchung
Der Versuch, die Betriebswirtschaftslehre als Teil der Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften aus ihrer Umklammerung durch ausschließlich oder zumindest vorrangig an Kapitalverwertung interessierten gesellschaftlichen Gruppen zu lösen, dient dem Ziel, die Humanisierung der Gesellschaft zu fördern, indem für diesen zentralen Bereich der Ökonomie wissenschaftlich abgesicherte Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Da die Studie erst später vorliegen wird, erscheint es zweckmäßig, an dieser Stelle einen möglichst umfassenden Überblick über das gesamte Forschungsprojekt zu geben. Dies zwingt zwar zu erheblichen Verkürzungen in der Aussage, so daß vieles nur gestreift werden kann, wird jedoch dem Verfahren, die Untersuchung durch die ausführliche Darstellung von wenigen Schwerpunkten vorzustellen, vorgezogen. Dieses Verfahren wirkt sich auch auf die Art der in den Anmerkungen angegebenen Literatur aus, indem häufig für stark zusammengefaßte Abschnitte mehrere Titel angegeben werden. Es ist zunächst notwendig, die im Titel verwendeten Begriffe Einzelwirtschaftslehre und arbeitsorientiert zu definieren. Unter Einzelwirtschaftslehre wird die Lehre von autonomen wirtschaftlichen Entscheidungseinheiten zur Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen verstanden, die in gesellschaftlichen Kooperations- und Austauschbeziehungen stehen. Damit werden diese Entscheidungseinheiten erstens gegenüber gesamtwirtschaftlichen Institutionen abgegrenzt. Zweitens ergibt sich eine Abgrenzung zur Betriebswirtschaftslehre, und zwar aus dem Bemühen, die Inhalte des dogmengeschichtlich vorbelasteten Begriffs Betriebswirtschaftslehre durch Anwendung des hier vorgelegten arbeitsorientierten Interessenansatzes abzulösen. Drittens soll damit auch das vordergründige Mißverständnis aufgehoben werden, das durch den unterschiedlichen Gebrauch des Begriffs Betrieb in Theorie und Praxis zustande kommt. Der zweite Begriff soll wie folgt definiert werden: Als arbeitsorientiert wird die Prägung von Handlungen verstanden, die auf die Durchsetzung von Interessen der abhängig Beschäftigten in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft abzielen. In diesem Sinne sind die arbeitsorientierten Interessen im Rahmen einer Einzelwirtschaftslehre erkenntnisleitende Interessen. Dem steht der Begriff kapitalorientiert gegenüber, der das vorrangig auf das Kapitalverwertungsinteresse ausgerichtete Handeln kennzeichnet. Der Versuch zur Entwicklung einer Arbeitsorientierten Einzelwirtschaftslehre ist neben allen sonstigen Schwierigkeiten vor allem mit erheblichen methodologischen Problemen bei der Interessenableitung behaftet; denn an keiner Stelle in der Gesellschaft zeigen sich diese Interessen in ihrer ganzen Komplexität. Die beste Möglichkeit, sie zu formulieren und empirisch zu erfassen, besteht innerhalb der Gewerkschaften als derjenigen Organisation, die durch den frei-
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willigen Zusammenschluß von Arbeitnehmern entsteht. Selbstverständlich werden bei einem solchen dichten Netz von Interessen, die sich auf das gesamte Sozialsystem beziehen, Widersprüche nicht ausbleiben. Allgemein kann davon gesprochen werden, daß Widersprüche zwischen den Interessen ein unentbehrlicher Bestandteil dieses Ansatzes sind. Dabei beruht jedoch der grundlegende Konflikt zwischen arbeitsorientierten und kapitalorientierten Interessen auf unterschiedlichen sozioökonomischen Strukturen, während gegensätzliche arbeitsorientierte Interessen aus den Bedingungen eines demokratischen Willensbildungsprozesses innerhalb der großen Gruppe der abhängig Beschäftigten in der Gesellschaft entstehen. Neben den beiden genannten Interessenlagen bestehen in der Gesellschaft noch weitere Interessen. Diese sind jedoch für die hier zu diskutierenden Bereiche in den Wirtschaftsgesellschaften auch nicht annähernd von gleichem Gewicht. Diese Untersuchung wird wesentlich dadurch erleichtert, daß sie sich ausschließlich auf die Darstellung der Bedingungen zur Erfüllung der Interessen bezieht. Die unmittelbare Ausprägung der Interessen, die in jedem Einzelfall gesondert zu untersuchen wäre, ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Im einzelnen liegt dem Konzept einer arbeitsorientierten Einzelwirtschaftslehre folgende Gedankenführung zugrunde: Den Ausgangspunkt bildet eine Auseinandersetzung mit den Problemen der Sozialphilosophie und der Erkenntnistheorie (Abschnitt 2). Von diesen Grundlagen aus erfolgt (in Abschnitt 3) eine Kritik der Betriebswirtschaftslehre als kapitalorientierte Entscheidungslehre. Aus den in sozialphilosophischen Positionen verankerten Interessen wird nicht nur die Kritik der herkömmlichen Betriebswirtschaftslehre abgeleitet, sondern es werden auf dem Wege der Differenzierung dieser Interessen auch die Kriterien für eine arbeitsorientierte Einzelwirtschaftslehre gewonnen (Abschnitt 4). Grundlage dieses Konzepts bildet die auf den Faktor Arbeit bezogene und an mehreren Kriterien orientierte emanzipatorische Rationalität, die an die Stelle der auf nur ein Kriterium bezogenen kapitalorientierten Rationalität tritt. Mit der Kritik der Betriebswirtschaftslehre (Abschnitt 3) und der in operationalisierter Form vorliegenden arbeitsorientierten Interessen (Abschnitt 4) sind die beiden entscheidenden Voraussetzungen zur Formulierung einer alternativen Konzeption für einzelwirtschaftliche Entscheidungen gegeben (Abschnitt 5). Die hier entwickelten alternativen einzelwirtschaftlichen Entscheidungsund Handlungsmöglichkeiten im Sinne arbeitsorientierter Interessen bedürfen einer Vielzahl von instrumentellen und institutionellen Voraussetzungen, wenn sie einzel- und gesamtwirtschaftlich realisiert werden sollen. Dies im einzelnen aufzuzeigen ist Inhalt des Abschnitts 6, wobei vor allem die Verbindung der einzelwirtschaftlichen und gesamtwirtschaftlichen Ebene von entscheidender Bedeutung ist.
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Nach der Darstellung des gedanklichen Gesamtrahmens wird nunmehr versucht, einen Überblick über die inhaltlichen Aussagen zu den einzelnen Themenbereichen zu geben, mit denen für die Unternehmungspolitik eine gegenüber dem Aussagesystem der Betriebswirtschaftslehre (BWL) andersartige interessenmäßige Verankerung innerhalb einer Arbeitsorientierten Einzelwirtschaftslehre (AOEWL) entwickelt werden soll.
2
Bemerkungen zur Sozialphilosophie und Erkenntnistheorie
2.1 Kritik und Versuch einer Neuorientierung der Sozialphilosophie Die Tatsache, daß jede Einzelwissenschaft im Rahmen der Gesellschaftswissenschaften, zu denen zweifelsfrei auch die herkömmliche Betriebswirtschaftslehre gehört, eine sozialphilosophische Legitimation beansprucht, ist ein entscheidender Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen. Hieraus leitet sich einerseits die Notwendigkeit ab, sich kritisch mit der sozialphilosophischen Grundorientierung der herrschenden BWL auseinanderzusetzen1, und andererseits eine AOEWL in ihrem Interessenansatz sozialphilosophisch zu entwickeln. Im ersten Fall zeigt sich, daß man diese Lehre in dieser Hinsicht auf die geistigen Wurzeln der nationalökonomischen Klassik zurückführen kann, und zwar über den aus der Mikroökonomie stammenden Teil auf direkte Weise, während bei dem aus den Handelswissenschaften herrührenden Teil diese Orientierung durch das der Praxis zugrunde liegende gleiche soziale Wertesystem vermittelt wurde. Die klassische Sozialphilosophie baut ihrerseits auf einem als rational und autonom denkenden und handelnden Menschen auf, wobei bei diesem Menschenbild anthropologische Prämissen der Renaissance weiterwirken. Anhand einer Vielzahl von Forschungsergebnissen der neueren Anthropologie2 läßt sich nachweisen, daß die Annahme der Autonomie des Subjekts falsch ist. In Verbindung mit der diesem Menschenbild entsprechenden bürgerlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ergeben sich einige entscheidende Fehlschlüsse, die bis hin zu den ökonomischen Planungen und Entscheidungen in den Einzelwirtschaften zurückwirken. Erstens wird dies in der Vorherrschaft 1
2
Vgl. Smith, A., The Theory of Moral Sentiments (dt.:Theorie der ethischen Gefühle, Berlin 1926); Hartfiel, G., Wirtschaftliche und soziale Rationalität. Untersuchungen zum Menschenbild in Ökonomie und Soziologie, Stuttgart 1968, S. 75-82; Bellinger, B., Geschichte der Betriebswirtschaftslehre, Stuttgart 1967, S. 38-55; Katterle, S., Normative und explikative Betriebswirtschaftslehre (Schriften des Seminars für Genossenschaftswesen an der Universität Köln, Nr. 10), Göttingen 1964, S. 24-36. Vgl. zu dem komplexen Ansatz für ein Menschenbild auf der Grundlage moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse die 1972/ 1973 erscheinende sechs- bis siebenbändige Veröffentlichung: Gadamer,H.-G./ Vogler, P. (Hrsg.), Neue Anthropologie, Stuttgart 1972 und 1973, S. 133-154.
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des kapitalorientierten Rationalprinzips1 in der Ökonomie sichtbar, und zweitens dient diese Orientierung der privatwirtschaftlichen Eigentumsverfassung als Rechtfertigungslehre. Mit beidem wird der spezifischen Situation des „Besitzbürgertums“ entsprochen, die damit in ihrer Absicht unterstützt wird, ihre Interessen – ursprünglich gegenüber dem Feudalstand und später gegenüber den abhängig Beschäftigten – bevorzugt durchzusetzen. Nachdem das Defizit an empirisch gehaltvollen Theorieaussagen sowohl in anthropologischer als auch in soziologischer Hinsicht aufgezeigt ist, ergibt sich die Voraussetzung, eine von der bisherigen BWL abweichende AOEWL sozialphilosophisch zu begründen, und zwar dergestalt, daß sie auch in Einklang mit den Erkenntnissen der neuen Anthropologie steht. Dies bedeutet, daß die Abhängigkeiten des Subjekts von zahlreichen Faktoren biologischer, ethnologischer, ökonomischer, sozialpsychologischer und soziologischer Natur nachzuweisen und anzuerkennen sind, ohne daß dadurch das menschliche Handeln im wissenschaftlich-rationalen Sinn determiniert wäre. Damit erhält dieser Ansatz einen offenen Charakter, da sich die Interessen jeweils aus einem wissenschaftlich nicht mehr auflösbaren Vorverständnis an sozialer Utopie bzw. soziologischer Phantasie ergeben2. Die Grundlage des menschlichen Handels wird im Sinne dieses Ansatzes in dem Interesse bzw. enger in dem Handlungsinteresse3 gesehen. Bezogen auf die Einzelwissenschaft bedeutet dies, daß die Begründung einer AOEWL auf der Grundlage von mehrdimensionalen Handlungsinteressen erfolgt.
2.2 Inhalt und Operationalisierung arbeitsorientierter Interessen Mit der Interessenorientierung werden zwei für die weitere Gedankenführung wesentliche neue Fragen aufgeworfen. Zunächst ist die Frage nach den Inhalten 1
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3
Hartfiel, G., Wirtschaftliche und soziale Rationalität, a.a.O.; Forker, H.-J., Das Wirtschaftlichkeitsprinzip und das Rentabilitätsprinzip – ihre Eignung zur Systembildung (Die Unternehmung im Markt, hrsg. v. J. Fettel, Bd. 6), Berlin 1960; Bea, F. X., Kritische Untersuchungen über den Geltungsbereich des Prinzips der Gewinnmaximierung (Betriebswirtschaftliche Forschungsergebnisse, hrsg. v. E. Kosiol, Bd. 36), Berlin 1968. Vgl. Kloten, N., Utopie und Leitbild im wirtschaftspolitischen Denken, in: Kyklos, Bd. XX (1967), S. 331-354; Engelhard, W. W., Utopien als Problem der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 125. Bd. (1969), S. 661-676; Mills, C. W., Kritik der soziologischen Denkweise, Neuwied 1963. Vgl. hierzu insbesondere die Arbeiten von Gerhard Weisser, z.B. Weisser, G., Wirtschaftspolitik als Wissenschaft, Stuttgart 1934; Ders., Normative Sozialwissenschaft im Dienste der Gestaltung des sozialen Lebens, in: Soziale Welt, 7. Jg. (1956); ders., Sozialwissenschaften normative, Art. in: Evangelisches Soziallexikon, hrsg. v. F. Karrenberg, Stuttgart 1963; Veröffentlichungen in der Festschrift für Weisser: Sozialwissenschaft und Gesellschaftsgestaltung, hrsg. v. Karrenberg, F., und Albert, H., Berlin 1963; Katterle, S., Sozialwissenschaft und Sozialethik, Göttingen 1972; Außerdem aus reform-marxistischer Sicht: Sik, O., Der dritte Weg, Hamburg 1972, S. 46-99.
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arbeitsorientierter Interessen zu stellen und somit die Frage nach den Zielen des so interessengeleiteten Handelns. In einem zweiten Schritt ist die Frage nach der Operationalisierung dieses arbeitsorientierten Interesses als Voraussetzung für praktisches Handeln zu stellen. Die erste Frage läßt sich in allgemeinen Begriffen relativ leicht – und zugestandenermaßen auf abstraktem Niveau auch wenig originell – beantworten: Ziel ist, das Handeln im Sinne der möglichst umfassenden Entfaltung der Gesamtpersönlichkeit des einzelnen zu gestalten, wofür humane Lebensbedingungen unerläßlich sind. Diese Probleme können nicht nur individuell gelöst werden, vielmehr ist die Schaffung humaner Lebensbedingungen eine kollektive, gesellschaftliche Aufgabe. Im Anschluß an die Darstellung dieser interessengeleiteten Ziele ist zu untersuchen, wie sie sich im ökonomischen Bereich verwirklichen lassen. Hierzu sind sie unter Verwendung empirischer, sozioökonomischer Untersuchungsergebnisse aufzufächern, und zwar in folgender Weise1: Auf einzelwirtschaftlicher Ebene bezieht sich das Interesse auf Arbeitsplatzsicherheit, auf optimale Gestaltung der Arbeit sowie auf Sicherung und Steigerung der Einkommen. Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene erstreckt sich das Interesse auf die Steuerung der Produktion, auf einen rationalen Einsatz von Arbeit und Kapital, auf die Versorgung mit privat und öffentlich nutzbaren Gütern sowie auf eine gerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen. Diese Vielzahl von z.T. widersprüchlichen Interessen läßt sich mit Sicherheit nicht mit dem Streben nach ausschließlich einzelwirtschaftlich rationalem Einsatz von Kapital im Produktions- und Verteilungsprozeß realisieren. Gerade dies wird jedoch bei dem wirtschaftlichen Handeln im Sinne kapitalorientierter Rationalität angenommen, indem der Erfolg allein an diesem eindimensionalen Maßstab der Differenz zwischen Ertrag und Aufwand gemessen wird. Um die Vielzahl arbeitsorientierter Interessen zu verwirklichen, ist es demgegenüber erforderlich, dem ökonomischen Handeln eine mehrdimensionale Rationalität, die weit über die Kapitalbezogenheit hinausgeht, zugrunde zu legen. Diese Mehrdimensionalität leitet sich aus den verschiedenen qualitativ unterschiedlichen, nicht nur ökonomischen Bedürfnissen der abhängig Beschäftigten ab. Diese Rationalität im Sinne arbeitsorientierter Interessen wird hier als emanzipatorische Rationalität bezeichnet. Von dieser Rationalität ausgehend sollen an späterer Stelle verschiedene Kalküle abgeleitet werden, die als Maßstä1
Vgl. über die in der vorherigen Anmerkung angegebene Literatur hinaus: Nickel, W., Zum Verhältnis von Arbeitnehmerschaft und Gewerkschaft (Schriftenreihe: Stiftung Mitbestimmung/ HansBöckler-Gesellschaft, Bd. 5), Köln 1972; Lempert, W., Leistungsprinzip und Emanzipation, Frankfurt am Main 1971; Helfert, M., Humanisierung der Arbeit und gewerkschaftliche Aktivierung der Arbeitnehmer, in: WSI-Mitteilungen, Heft 10/ 1972, S. 320 ff; Engelen-Kefer, U., Umschulung in einer wachsenden Wirtschaft, dargestellt am Beispiel der USA. Ein Beitrag zur wissenschaftlichen Beratung der Politik, Essen 1971; Bakke, E. W., Principles of Adaptive Human Behaviour, New Haven 1946, S. 6 ff.
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Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
be für einzel- und gesamtwirtschaftliche Planungs- und Entscheidungsgrundlagen Verwendung finden können.
2.3 Erkenntnistheoretische Bedingungen Erkenntnistheoretisch ergeben sich aus der Verankerung der AOEWL in arbeitsorientierten Interessen zahlreiche Probleme, da sowohl die Interessen als auch die Beziehungen der Interessen zu einzelwirtschaftlichen Strukturen noch nicht umfassend entwickelt sind. Dabei ist es das Ziel, einen sozialkritischen Ansatz mit einer methodologisch abgesicherten Art der Begriffs- und Theorienbildung zu verbinden1. Im einzelnen lassen sich die Erkenntnisziele der AOEWL wie folgt formulieren: — Beschreibung der Interessen der abhängig Beschäftigten und der dadurch hervorgerufenen Konflikte mit bestehenden Strukturen, — Erklärung des Abweichens der vorhandenen Unternehmungsstrukturen von den im Sinne arbeitsorientierter Interessen als notwendig erachteten Strukturen der Unternehmung, — Entwicklung einer komplexen Theorie als Verbindung von Ziel- und Instrumentalebene. Bei der Formulierung dieses Ansatzes im einzelwirtschaftlichen Bereich empfiehlt sich ein Rückgriff auf systemtheoretische Begriffe. Mit diesem stark auf Interdependenzen aufbauenden Ansatz2 läßt sich eine AOEWL in entscheidungsorientierter Weise entwickeln, um über alternative Strukturen und Inhalte von Planungen und Entscheidungen arbeitsorientierte Interessen durchzusetzen. Bei der Umsetzung fällt der strategischen Langfristplanung eine zentrale Funktion zu. Mit dieser Planung versuchen die Unternehmungen eine Vorwegnahme und Reaktion auf die Dynamik der sozialen Umwelt, die sie durch ihr Handeln ihrerseits wesentlich gestalten. Im Rahmen der strategischen Planung fällt der Planung der Investitionen eine besondere Bedeutung zu, da hiermit das Verhältnis Unternehmung – Umwelt besonders stark beeinflußt wird. 1
2
Vgl. u. a. Albert, H., Wertfreiheit als methodisches Prinzip, in: Logik der Sozialwissenschaften, hrsg. v. Ernst Topitsch, 4. Aufl., Köln-Berlin 1967, S. 181 ff; Fischer-Winkelmann, W., Methodologie der Betriebswirtschaftslehre, München 1971. – Godelier, M., Rationalität und Irrationalität in der Ökonomie, Frankfurt a. M. 1972. Vgl. Ansoff, I. H., Corporate Strategy, Harmondsworth (GB) 1971, insb. S. 176 ff; Starbuck, W. H., Organization Growth and Development, in: Organizational Growth and Development, Harmondsworth (GB) 1971; Szyperski, N., Wirtschaftliche Aspekte der Durchsetzung und Realisierung von Unternehmungsplänen, Habilitationsschrift, vorgelegt der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln.
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Kritik an der Betriebswirtschaftslehre (BWL) als kapitalorientierter Entscheidungslehre
3.1 Abgrenzung der Kritik Mit dem im vorigen Abschnitt entwickelten wissenschaftlichen Instrumentarium kann zunächst eine umfassende Kritik an der herkömmlichen BWL geleistet werden. Diese Kritik ist dabei einerseits gegenüber der Kritik an der BWL abzugrenzen, die allein den „modellplatonistischen“ Charakter dieser Wissenschaft bemängelt, im übrigen aber der in dieser Theorie enthaltenen Ziel- und Interessenorientierung verhaftet bleibt. Andererseits wird jedoch auch nicht an die Kritik im Anschluß an die Marxsche Theorie und Kapitalismuskritik angeknüpft, durch die mit orthodoxer Verfestigung die Überwindung der kapitalorientierten BWL an die Instrumente Zentrale Planung und Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln gebunden wird1. Mit dem durch arbeitsorientierte Interessen geleiteten Kritikansatz wird im Sinne des gewerkschaftlichen Selbstverständnisses und der gewerkschaftlichen Handlungsstrategien weder eine systemkonforme noch eine abstrakte gesellschaftskritische Vorgehensweise beschritten. Vielmehr werden sowohl bei der Kritik als auch bei der Entwicklung von Alternativen die vielfältigen und kurzfristig nicht auflösbaren Verknüpfungen arbeitsorientierter Handlungsstrategien mit den bestehenden kapitalorientierten Unternehmensstrukturen als Tatbestand gesehen. Die Kritik enthält somit die Voraussetzungen zu einer Überschreitung der jetzigen Wirklichkeit, jedoch nicht im Sinne einer totalen Alternative. Im folgenden wird die aus arbeitsorientierter Sicht interessengeleitete Kritik an der BWL an mehreren einzelwirtschaftlichen und gesamtwirtschaftlichen Beispielen geleistet, wobei die Beispiele aus wesentlichen betriebswirtschaftlichen theoretischen Aussagen oder praktischen Bedingungen ausgewählt worden sind.
3.2 Beispiele einzelwirtschaftlicher Kritik Die einzelwirtschaftliche Kritik am System der herkömmlichen BWL läßt sich am zweckmäßigsten anhand der Kritik der zentralen Begriffe Rentabilität, Kosten, Gewinn und Zielsystem darstellen. Durch verschiedene Beschränkungen befaßt sich diese Wissenschaft gegenwärtig fast ausschließlich mit dem unter dem Prinzip der privatwirtschaftlichen Kapitalverwertung stattfindenden wirtschaftli1
Vgl. Kozlik, A., Vergeudungskapitalismus, Wien 1966; Mandel, E., Spätkapitalismus, Frankfurt am Main 1972; Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED (Hrsg.), Imperialismus heute, Berlin (Ost) 1967.
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chen Handeln1 und dient damit bewußt oder unbewußt den hinter dieser Art der Kapitalverwertung stehenden gesellschaftlichen Gruppen. Betriebswirtschaftliche Aussagen sind daher in hohem Maße politische bzw. politisch wirkende Aussagen. Durch die Selbstbeschränkung in der Theorie bleiben selbst Teile des in der Praxis feststellbaren mehrdimensionalen, wirtschaftlichen Handelns außer Betracht (z.B. bei öffentlichen bzw. gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen). Dadurch entfällt die Entwicklung entsprechender Unternehmungsmodelle, wodurch erhebliche ordnungspolitische Konsequenzen entstehen. In neueren Ansätzen wird durch eine Erweiterung des unternehmerischen Zielbegriffs versucht, das Erkenntnisobjekt der Betriebswirtschaftslehre auszudehnen2, indem der Zielkatalog der Unternehmung aufgefächert wird. Bei diesen Versuchen werden die mit dem Rentabilitätsprinzip verbundenen Wirkungen auf das Zielsystem unverändert übernommen, wodurch die kapitalorientierte Interessenorientierung erhalten bleibt und im Sinne der emanzipatorischen Rationalität alternative Modelle für die Bilanzierung, die Gewinn- und Verlustrechnung, die Betriebsabrechnung, die Kalkulation, die Investitionsrechnung u.ä. nicht erstellt werden können. Außerdem lassen sich keine einzelwirtschaftlichen Zielsysteme für andere als kapitalorientierte Interessengruppen (z.B. Arbeitnehmer) formulieren. Eine Kritik aus arbeitsorientierter Sicht an dieser Weiterentwicklung der BWL läßt sich – anknüpfend an die von dem amerikanischen Ökonomen Ansoff3 sowie im deutschen Sprachraum vor allem an die von Heinen und seiner Schule4 entwickelten Zielsysteme – wie folgt beschreiben: — Das empirische Material ist unter marktwirtschaftlichen Bedingungen gewonnen, woraus folgt, daß nur bestimmte Ziele und Verhaltensweisen auftreten können (diejenigen, die durch Gewinn- und Rentabilitätserwartungen stimulierbar sind); — die Unternehmungen sind autonom und nicht an gesellschaftliche Normen gebunden. Die Autonomie bezieht sich im wesentlichen auf Kapitaleigner und Management. Damit bleiben diese Ziele den an die Kapitalverwertung gebundenen Interessen verhaftet und sind auch nur im Hinblick auf diese rational, nicht etwa auch zwangsläufig hinsichtlich arbeitsorientierter Interessen. Gesamtwirtschaftliche 1
2 3 4
Vgl. Moxter, A., Methodologische Grundfragen der Betriebswirtschaftslehre, Köln und Opladen 1957; Katterle, S., Normative und explikative Betriebswirtschaftslehre, a. a. O.; Kirsch, W., Zur Problematik optimaler Kapitalstrukturen, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft 1968, S. 881 ff. Vgl. insb. Heinen, E., Das Zielsystem der Unternehmung, Wiesbaden 1966. Vgl. Ansoff, I.H., Corporate Strategy, a.a.O., S. 36-71. Vgl. Heinen, E., Das Zielsystem der Unternehmung, a. a. O.; Kirsch, W., Gewinn und Rentabilität. Ein Beitrag zur Theorie der Unternehmensziele, Wiesbaden 1968.
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Ziele können bei fehlender politischer Planung gesellschaftlicher Grundstrukturen nur subsidiär, d.h. als Restgröße verwirklicht werden. Innerhalb der Unternehmung dient die Zielsetzung als Steuerungsinstrument von oben nach unten, wodurch für Mitbestimmung am Planungs- und Entscheidungsprozeß durch die abhängig Beschäftigten keine umfassende Möglichkeit besteht. Durch die herkömmliche Art der Entscheidungsfindung soll außerdem verhindert werden, daß die Konflikte zwischen kapitalorientierten und arbeitsorientierten Interessengruppen in Form alternativer und unternehmerischer Handlungskonzepte erkennbar werden. In diesen Zusammenhang fügt sich die aus der unternehmerischen Praxis gewonnene Erfahrung gut ein, daß die Unternehmensleitungen versuchen, die Kritik an der rein kapitalorientierten Zielsetzung durch eine Vielzahl von z.T. sehr aufwendigen Sozialleistungen und human-relations-Maßnahmen zu entschärfen. Hierbei sind insbesondere Maßnahmen in folgenden einzelwirtschaftlichen Bereichen zu erwähnen: Wohnungswesen, Altersversorgung, Prämiensystem, Vorschlagswesen, Aus- und Weiterbildung, Informationswesen und Freizeitorganisation1. Analysen über die mit diesen Maßnahmen von den Unternehmensleitungen gegenüber den Beschäftigten beabsichtigten Wirkungen zeigen, daß mit der kapitalorientierten Sozialpolitik einerseits zwar die negativen sozialen Auswirkungen des einzelwirtschaftlichen Rentabilitätsstrebens gemildert werden können, andererseits aber gleichzeitig die tatsächliche Soziallage der abhängig Beschäftigten verschleiert wird und die gewerkschaftliche Position geschwächt werden soll.
3.3 Beispiele gesamtwirtschaftlicher Kritik In gesamtwirtschaftlicher, exemplarischer Kritik sollen auf der Grundlage des kapitalorientierten einzelwirtschaftlichen Zielsystems und des Rentabilitätsprinzips die Konsequenzen in dreifacher Weise aufgezeigt werden. Von entscheidender Bedeutung sind dabei die mit der Planung, Entscheidung und Durchführung von einzelwirtschaftlichen Investitionen zusammenhängenden Konsequenzen. Die gesamtwirtschaftlichen Bedingungen der Wirtschaftsverfassung zeigen sich bei den drei zentralen Fragen, auf die jede Wirtschaftsordnung eine Antwort
1
Vgl. zu den Maßnahmen Bues, H., Freiwillige betriebliche Sozialleistungen in der Bundesrepublik. Bericht, nach Beobachtungen der Gewerbeaufsicht zusammengestellt, Köln 1969; Spiegelhalter, F., Die Struktur der betrieblichen Sozialaufwendungen, in: Der Arbeitgeber, Nr. 18/ 1960, S. 565 ff.
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geben muß1: die Frage nach der Produktivität, die Frage nach der Legitimation des ökonomischen Handelns, die Frage nach der Verteilung von Einkommen und Vermögen. In allen drei Bereichen ergeben sich erhebliche Mängel durch die Auswirkungen kapitalorientierter Handlungsweise, die gesellschaftlich bedingt sind. Damit werden eindeutig die kapitalorientierten Interessen gegenüber den arbeitsorientierten Interessen bevorzugt2. Von besonderem Gewicht sind die Bedingungen für den Einsatz von Arbeit3. Hier zeigt sich, daß sich die Organisation der Arbeit, der effiziente Einsatz, die Rationalisierung sowie die Veränderung der beruflichen Qualifikationsstrukturen, einzelwirtschaftlich ganz oder zum überwiegenden Teil, nach dem Ziel der Kapitalverwertung ausrichten müssen. Arbeit wird somit als Ware wie jede andere betrachtet. Sind Abweichungen von dieser Aussage in der Praxis feststellbar, so geht dies auf ein Zurückdrängen der Handlungsmöglichkeiten nach kapitalorientierten Interessen und Zielen zurück. Die Unvorhersehbarkeit der Chance und der Ausgestaltung von Einsatz und Vollzug der Arbeit wird besonders durch die Gefahren der beruflichen Dequalifizierung und der Arbeitslosigkeit geprägt. Darüber hinaus bestehen starke Hierarchisierungen bei der Kompetenzverteilung, die durch die Sozialisationsbedingungen im Sinne kapitalorientierter Interessen gesellschaftlich fortlaufend erneuert werden (z.B. berufliche Bildung). Von wachsender Bedeutung werden die mit den bisherigen Produktionsbedingungen verbundenen Wirkungen auf die Umwelt sein. Diese führten u.a. zur Schädigung der Gesundheit der Arbeitnehmer und zur Beeinträchtigung sowohl der Nutzungsmöglichkeiten der produzierten ökonomischen Güter als auch der bisher freien Güter. Eine Änderung dieser Umweltprobleme kann letztlich nur über eine Veränderung auch der einzelwirtschaftlichen Ziele erreicht werden. Für eine Beseitigung bzw. Verminderung der negativen Wirkungen von kapitalorientierten Entscheidungen in den einzelnen Funktionsbereichen der Wirtschaft werden umfassende Planungen sowie Koordinierungsarbeiten zwischen 1
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Vgl. Glastetter, W., Wachstumskonzeption und Politische Ökonomie, Köln 1971, S. 55-62, 283; Koubek, N., Das Wettbewerbssystem im Rahmen volkswirtschaftlicher Steuerungssysteme, in: WWI-Mitteilungen, Heft 11/ 1970, S. 328. Vgl. im einzelnen Albert, H., Marktsoziologie und Entscheidungslogik, Neuwied 1967, S. 392417; Katterle, S., Einkommenspolitik und Verteilungskonflikte in einer freiheitlichen Gesellschaft, in: Beiträge zur Wirtschafts- und Gesellschaftsgestaltung, Festschrift für Bruno Gleitze, hrsg. v. Friedrich Lenz in Verbindung mit Carl Föhl und Claus Köhler, Berlin 1968, S. 303-315; Arndt, H./ Swatek, D. (Hrsg.), Grundfragen der Infrastrukturplanung für wachsende Wirtschaften (Schriften des Vereins für Sozialpolitik, N. F., Bd. 58), Berlin 1971. Vgl. Marx, K., Zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin (Ost) 1971, S. 251 f; Kruse, J., u. a., Wirtschaftliche Auswirkungen der Automatisierung, Berlin 1968; Kern, H., und Schumann, M., Soziale Voraussetzungen und Folgen des technischen Wandels, in: Wirtschaftliche und soziale Aspekte des technischen Wandels in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 1970, S. 306, 318 ff; Helfert, M., Industrielle Arbeit als politische Gestaltungsaufgabe, in: WWIMitteilungen, Heft 1/ 1971, S. 17 ff.
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den verschiedenen Planungsträgern notwendig sein. Diese dürften für die an leitender Stelle in der Wirtschaft tätigen Personen nicht allzu schwer fallen, da sich bereits in der gegenwärtig bestehenden Wirtschaftsordnung eine Vielzahl von Rahmenbedingungen feststellen läßt, innerhalb derer Kooperationen bzw. Interessenabstimmungen erfolgen1. Die hier getroffenen Entscheidungen lassen sich jedoch spiegelbildlich zur gesellschaftlichen Machtverteilung einordnen, indem sie ganz oder zum überwiegenden Teil kapitalorientierten Interessen dienen. Neben den unternehmerischen Aktivitäten zwecks informeller Absprachen und den umfangreichen Aktivitäten kapitalorientierter Interessenverbände sind in zunehmendem Maße staatliche Aktivitäten in den verschiedenen Bereichen zur Gestaltung der Rechts- und Wirtschaftsordnung zu nennen. Ein Hauptziel dieser Aktivitäten liegt in gesellschaftspolitischer Hinsicht in der Stabilisierung der sozioökonomischen Machtverteilung mit der strukturell bedingten Bevorzugung kapitalorientierter Interessen. Festzuhalten ist jedoch auch, daß der Staat durch die Bereitstellung und Verteilung kollektiv nutzbarer Güter wie Bildung, Gesundheit und Erholung in weit stärkerem Maße als im Zeitalter des liberalen Rechtsstaates arbeitsorientierten Interessen Rechnung trägt oder seine Tätigkeit zumindest dem Einfluß der hinter diesen Interessen stehenden Gruppen öffnet2.
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Kriterien für eine Arbeitsorientierte Einzelwirtschaftslehre (AOEWL)
4.1 Notwendigkeit dieser Kriterien Aus der Vielzahl von Kritikpunkten gegenüber den sowohl einzelwirtschaftlichen als auch gesamtwirtschaftlichen Erscheinungsformen kapitalorientierter Interessenumsetzung sowie deren Rechtfertigung durch die Betriebswirtschaftslehre kann jedoch noch nicht als unmittelbare Folge eine AOEWL entwickelt werden. Vielmehr ist es erforderlich, zunächst die arbeitsorientierten Interessen als für das ökonomische Handeln bestimmend zu umschreiben, um Maßstäbe für eine entsprechende einzel- und gesamtwirtschaftliche Praxis zu gewinnen. Hierbei kann an die an früherer Stelle gemachten Ausführungen zur Sozialphilosophie und Interessenorientierung angeknüpft werden. Soll durch das ökonomische Handeln den Bedürfnissen der abhängig Beschäftigten entsprochen werden, so müssen vorab diesen selbst optimale Möglichkeiten der Selbstverwirklichung bei der Arbeit gewährt werden. Einer derartigen gesellschaftstheoretischen Zielsetzung entspricht die „emanzipatorische Rationalität“ im Rahmen der AOEWL. 1
2
Vgl. hierzu Höhnen, W./ Koubek, N./ Scheibe-Lange, I., Quantitative und qualitative Aspekte der ökonomischen Konzentration und gesellschaftlichen Machtverteilung in der Bundesrepublik Deutschland, in: WWI-Mitteilungen, Heft 8-9/ 1971, S. 258 ff. Vgl. Forsthoff, E., Der Staat der Industriegesellschaft, München 1971, S. 21 ff, 158 ff.
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Wenn es sowohl aus formal-logischen als auch aus praktischen Gründen unmöglich ist, die den Inhalt der emanzipatorischen Rationalität bedingenden Interessen der abhängig Beschäftigten erschöpfend aufzuzeigen, so können doch zumindest einige wesentliche Bedingungen dargestellt werden, welche die optimale Selbstverwirklichung bzw. eine optimale Gestaltung der Lebenslage ermöglichen. Hierbei ist zu beachten, daß die emanzipatorische Rationalität als Grundlage für eine AOEWL durchaus noch nicht erreicht ist, wenn sich die Selbstverwirklichung nach einem individualistischen Konzept ausrichtet. Dadurch kann die ungleiche Verteilung der sozialen Chancen im Hinblick auf die Arbeitsbedingungen keineswegs abgebaut werden; sie wird sich vielmehr verstärken. Notwendig ist daher ein kollektiv-solidarisches Konzept der Emanzipation – mithin die Verbesserung der sozioökonomischen Lage aller Beschäftigten und nicht nur einiger weniger zu Lasten anderer. Auf der Basis einer derart definierten emanzipatorischen Rationalität soll versucht werden, die Interessen der Arbeitnehmer zu formulieren. Hierbei wird zu unterscheiden sein, ob die Verwirklichung dieser Interessen auf einzelwirtschaftlicher oder gesamtwirtschaftlicher Ebene möglich, und wenn ja, notwendig ist. Dieser Einteilung des arbeitsorientierten Interessenfeldes, das bei den unmittelbaren Bedürfnissen und Gestaltungswünschen am Arbeitsplatz beginnt und bis hin zum Willen einer Verbesserung der Lebensqualität durch eine veränderte Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik reicht, liegt der Gedanke zugrunde, daß diese Interessen möglichst konkret, organisierbar und konfliktfähig sein müssen. 4.2 Einzelwirtschaftliche Interessen1 Auf normativer Basis und in Verbindung mit gesellschaftstheoretischen Ansätzen sowie empirischen Erfahrungen können im Bereich der Einzelwirtschaften folgende wesentliche Bestimmungsfaktoren zur Erhöhung des Spielraumes zur Selbstverwirklichung abgegrenzt werden: Sicherung der Arbeitsplätze, optimale Gestaltung der Arbeit, Sicherung und Optimierung der Einkommen. Bei der Arbeitsplatzsicherheit ist zwischen absoluter Sicherheit unter Ausschluß jeglicher Arbeitsmobilität und relativer Sicherheit unter Einschluß beruflicher und zum Teil auch regionaler Arbeitsmobilität zu unterscheiden. Unter Be1
Vgl. Schuster, L., Die Mobilität der Arbeitnehmer. Eine vergleichende Analyse von vier Erhebungen, in: Mitteilungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nr. 7/ 1969, S. 529 ff; McGregor, D., Der Mensch im Unternehmen, Düsseldorf-Wien 1970; Schumm-Garling, U., Herrschaft in der industriellen Arbeitsorganisation, Frankfurt a. M. 1972, S. 91 ff; Herzberg, F., Work and the Natur of Man, Cleveland und New York 1966, S. 72; Helfert, M., Probleme und Gefahren der Arbeitsgestaltung, in: Gewerkschaftliche Monatshefte Nr. 1/ 1973, S. 40-51; Kern, H., Der Betrieb als Erziehungsinstitution, in: Berufliche Bildung, Heft 10/ 1971, S. 240 ff; DGB/ ÖGB/ SGB (Hrsg.), Menschengerechte Arbeitsgestaltung, Köln 1972.
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rücksichtigung der aus vielfältigen Gründen feststellbaren relativ geringen Bereitschaft der Arbeitnehmer zu regionaler Mobilität kann indessen in einer sich laufend wandelnden Wirtschaft die Wahrung dieses Interesses nur auf der Basis relativer Arbeitsplatzsicherheit angestrebt werden. Im Vordergrund einer optimalen Gestaltung der Arbeit im Sinne des Prinzips der emanzipatorischen Rationalität stehen nicht Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung, sondern Maßnahmen zur besseren Befriedigung der beruflichen, sozialen und politischen Bedürfnisse der Arbeitnehmer: Neben den technischen Bedingungen der Arbeit sind gleichrangig mithin auch soziale und politische Anspruchskategorien der Beschäftigten zu berücksichtigen. Eine optimale Gestaltung der Arbeit muß somit auch auf den Abbau von hierarchischen Strukturen abzielen und mindestens folgende Bereiche der Arbeitssituation umfassen: ergonomische Bedingungen, Aufgabenkombination, Tätigkeits- und Kooperationsstrukturen, unternehmungspolitische Entscheidungen über den Einsatz von Arbeit. Bei der Sicherung und Steigerung der Einkommen ist zwischen der Entstehung sowie Verteilung der Wertschöpfung zu unterscheiden. Voraussetzungen der Wertschöpfung sind, daß die Wirtschaftlichkeit unter den Bedingungen emanzipatorischer Rationalität gewährleistet ist, die Liquidität erhalten bleibt, die reale Arbeitsproduktivität zunimmt sowie die sozialen Bedingungen von wirtschaftlich-technisch-organisatorischen Änderungen hinsichtlich der Änderungen bei der Struktur der Arbeitsplätze und der beruflichen Anforderungen gleichrangig berücksichtigt werden. Im Zusammenhang mit der Verteilung der Wertschöpfung geht es zunächst um den Anteil der Arbeitnehmereinkommen an der einzelwirtschaftlichen Wertschöpfung und anschließend um dessen Verteilung auf die einzelnen Arbeitnehmer durch eine aktive Tarifpolitik. Zielkonflikte zwischen den einzelwirtschaftlichen Interessen der abhängig Beschäftigten können besonders deutlich in den Beziehungen zwischen Arbeitsplatzsicherheit/Einkommenssteigerung, Arbeitsplatzsicherheit/ optimaler Gestaltung der Arbeit und Einkommenssteigerung/optimaler Gestaltung der Arbeit auftreten. Diese Konflikte sind Ausdruck einer unterschiedlichen Bewertung ökonomischer und sozialer Faktoren durch einzelne Arbeitnehmer bzw. Arbeitnehmerorganisationen. Sie sind wegen des Fehlens von sogenannten objektiven bzw. „wahren“ Interessen ein notwendiger Bestandteil eines offenen und demokratischen Willensbildungsprozesses der Arbeitnehmer. Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei an dieser Stelle betont, daß das Entstehen von Konflikten durch den Vorrang des kapitalorientierten Handelns in hohem Maße geprägt ist. Dies wirkt im weiteren dann auch auf die Art der Konfliktlösung bei den Arbeitnehmern.
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4.3 Gesamtwirtschaftliche Interessen Vorrangige Zielsetzung im Sinne arbeitsorientierter Interessen ist in diesem Zusammenhang die Schaffung gesamtwirtschaftlicher Voraussetzungen zur Erhaltung bzw. Erhöhung der Lebensqualität. Dies erfordert, daß die auf einzelwirtschaftlicher Ebene formulierten Interessen in ihren gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen soweit wie möglich berücksichtigt werden, und zwar unter den Bedingungen des kollektiv-solidarischen Konzepts der emanzipatorischen Rationalität. Dazu bedarf es jedoch wirksamer Maßnahmen sowohl in den Bereichen der gesamtwirtschaftlichen Steuerung der Produktion als auch der gesamtwirtschaftlichen Versorgung und Verteilung. Die arbeitsorientierten Interessen hinsichtlich der Steuerung der Produktion beziehen sich erstens auf den gesamtwirtschaftlichen Einsatz von Arbeit und Kapital. Zweitens sind damit Probleme der Zuordnung der gesamtwirtschaftlichen Kosten verbunden, da unmittelbar über den Einsatz von Arbeitsleistungen oder mittelbar über die Verwendung von Kapitalgütern wesentliche Aspekte der Verwirklichung von emanzipatorischer Rationalität berührt werden. Der Einsatz von Arbeit1 hat z.B. unter den Gesichtspunkten der Vollbeschäftigung, der Verbesserung der Qualität der Arbeit sowie eines gesamtwirtschaftlich erforderlichen Einsatzes der Arbeitskräfte zu erfolgen. Alle Aspekte sind im Sinne arbeitsorientierter Interessen für den Wachstumsprozeß der Gesamtwirtschaft unerläßliche Bedingungen, was wiederum Rückwirkungen auf die einzelwirtschaftlichen arbeitsorientierten Interessenfelder hat. Dabei ist besonders zu beachten, daß sich die Allokationsprobleme im wesentlichen nur durch eine gezielte Steuerung der Arbeitsmarktstrukturen erreichen lassen, da sich eine entsprechende Lenkung nicht im Sinne der Aussagen der Grenzproduktivitätstheorie verwirklichen läßt, d.h. über die Lohnhöhe. Der Einsatz von Kapital, der sich in Form von Investitionen konkretisiert, erhält seine gesamtwirtschaftliche Zielsetzung gleichfalls von seinen Auswirkungen auf die arbeitsorientierten Interessen. Korrespondierend zu den dargestellten Interessen beim Einsatz von Arbeit muß der Kapitaleinsatz daher mit den Bedingungen der Vollbeschäftigung, der vorhandenen bzw. gewünschten Qualifikationsstruktur und des regionalen und sektoralen Einsatzes der Arbeitskräfte abgestimmt sein. So ist z.B. das Ziel einer Vollauslastung des Faktors Kapital nicht zu vergleichen mit dem der Vollbeschäftigung, da hier ein direktes Humaninteresse nicht erkennbar ist. Als weiteres produktionsbezogenes Interesse ist die möglichst rationale Verwendung gesellschaftlicher Produktionsfaktoren zu nennen. Diese berührt di1
Vgl. Richta, R., u. a., Politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts (Richta-Report), Frankfurt am Main 1971, S. 97 ff; Hüfner, K., Bildungsinvestitionen und Wirtschaftswachstum, Stuttgart 1970; Edding, F., Ökonomie des Bildungswesens, Freiburg i. B. 1963.
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rekt oder indirekt auch den Umfang des Einsatzes von Arbeit. Man kann die Ergebnisse der Produktion theoretisch in die drei folgenden Kategorien einteilen: (1) goods, das sind privat und öffentlich nutzbare Güter, die den gesamtwirtschaftlichen Nutzen mehren und damit die Lebensqualität erhöhen; (2) bads, das sind Güter mit negativen Wirkungen bei der Produktion, welche zu Gefährdungen und Belastungen der Menschen führen; (3) antibads, das sind Güter, durch welche diese negativen Auswirkungen beseitigt werden sollen. Unter dem derzeitig vorherrschenden Prinzip der kapitalorientierten Rationalität kann jedoch die Produktion von bads und antibads ebenso rentabel sein wie diejenige von goods. Notwendig ist daher eine solche Veränderung in der Organisation der Produktion, daß bei der Erstellung der goods die gesellschaftlichen Folgekosten soweit als irgend möglich in die einzelwirtschaftliche Kalkulation mit einbezogen werden. Wesentliche arbeitsorientierte Interessen werden auch bei den Problemen der Versorgung mit privat und öffentlich nutzbaren Gütern berührt. Zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse reichen die durch monetäre Vorgänge, d.h. die über den Markt austauschbaren Güter und Dienste, bei weitem nicht aus. Eine Lösung dieser Versorgungsprobleme kann nur durch eine gezielte gesamtwirtschaftliche Gestaltung des Produktionsprogramms erfolgen. Von ähnlicher Bedeutung sind die Bedingungen, unter denen sich die Gestaltung des gesamtwirtschaftlichen Produktionsprogramms vollzieht1. Durch Warentests, Qualitätsund Haltbarkeitskennzeichnungen, Maßnahmen gegen unlauteren Wettbewerb unter Einschluß der Verhinderung von Exzessen im Werbebereich sowie durch entsprechende organisatorische Bedingungen des Vertriebs von Gütern ist den hier zum Ausdruck kommenden Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Die Einkommens- und Vermögensverteilungsinteressen der Arbeitnehmer stehen in Zusammenhang mit ihrer Beteiligung an dem Ergebnis der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung2. Da es einen „objektiv gerechten Lohn“ nicht geben kann, ist in unserer Wirtschaftsordnung das jeweilig erreichte Verteilungsergebnis zwischen den Interessengruppen von Kapital und Arbeit ein Kompromiß auf der Basis einer bestimmten Machtverteilung. Infolge der Kombination von notwendiger volkswirtschaftlicher Sachkapitalbildung und der unternehmerischen Autonomien hinsichtlich der Preis- und Investitionspolitik sind die abhängig Beschäftigten bei der Durchsetzung ihres Interesses der entschieden schwächere Teil.
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Vgl. Wiswede, G., Soziologie des Verbraucherverhaltens, Stuttgart 1972, S. 16 ff., 252 ff., 301 ff; Packard, V., Die große Verschwendung, Frankfurt am Main und Hamburg 1964, S. 59 ff. Vgl. Gahlen, B., u. a., Volkswirtschaftslehre. Eine problemorientierte Einführung (Augsburger Volkswirtschaftliche Studientexte, Bd. 1), München 1971, S. 148 ff; Siebke, J., Die Vermögensbildung der privaten Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland, Forschungsauftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Bonn 1971.
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Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
Alternative Konzeption für einzelwirtschaftliche Entscheidungen
5.1 Voraussetzungen Aufgabe einer AOEWL ist es demnach, die beschriebenen einzel- und gesamtwirtschaftlichen Interessen der Arbeitnehmer zur Grundlage der Entscheidungen in den Einzelwirtschaften zu machen. Dabei ist davon auszugehen, daß gesamtwirtschaftliche Ziele nicht direkt in die Einzelwirtschaften umsetzbar sind, weil die Einhaltung operational definierter einzelwirtschaftlicher Ziele auch nur in Einzelwirtschaften kontrolliert werden kann1. Gesamtwirtschaftliche Ziele können jedoch als Maßstab für die gesellschaftliche Beurteilung des Beitrages der Einzelwirtschaften dienen. Eine unabdingbare Voraussetzung für die Umorientierung einzelwirtschaftlicher Entscheidungen im Sinne arbeitsorientierter Interessen, ja geradezu die Grundlage hierfür, liegt in einer Neufassung des Kosten- und Leistungsbegriffs bzw. des Aufwands- und Ertragsbegriffs2. Aus Einfachheitsgründen wird hier das in der Diskussion geläufige Begriffspaar Kosten und Erträge benutzt. Gezielt wird dabei auf eine vollständige einzelwirtschaftliche Erfassung aller von der einzelwirtschaftlichen Leistungserstellung und -verwertung bewirkten Kosten. Auf der Seite der Leistungen ist die Einbeziehung der arbeitsorientierten Ziele in den Rahmen eines komplexen mehrdimensionalen Zielsystems zur Steuerung der Unternehmung notwendig. Dabei wird wegen des Bewertungsproblems auf einzelwirtschaftlicher Ebene die Quantifizierung sozialer Erträge wesentlich unvollständiger sein als die von sozialen Kosten. Auf der Seite der Erträge würde an die Stelle der bisher nur eindimensionalen, monetären Erfolgsermittlung bzw. an die Stelle des zwar mehrdimensionalen, aber kapitalorientierten Zielsystems ein komplexes System politisch definierter Ziele bzw. Erfolgskennziffern als Maßgröße arbeitsorientierter Interessen für einzelwirtschaftliche Entscheidungen treten. Insgesamt wird somit erstens eine Veränderung des einzelwirtschaftlichen Rechnungswesens eintreten, und zweitens sind verschiedene, nicht quantifizierbare Kosten- und Ertragsgrößen in einem auf die Unternehmungen abgestellten System sozialer Richtgrößen zu erfassen. Als Beispiele von kalkulationsfähigen gesamtwirtschaftlichen Kosten seien genannt: Kosten der Umweltverschmutzung, Kosten des Berufsverkehrs, Kosten der Arbeitsvermittlung, Kosten 1
2
Vgl. Wächter, H., Unternehmungs- und Unternehmerziele im sozio-ökonomischen Feld (Göttinger Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Studien, Bd. 10), Göttingen 1969, S. 17. Vgl. Flohr, H., Probleme der Ermittlung volkswirtschaftlicher Erfolge, Göttingen 1964; Thiemeyer, Th., Gemeinwirtschaftlichkeit als Ordnungsprinzip, Berlin 1970; Küller, H. D., Gemeinwirtschaft und Gewerkschaften – Ein Diskussionsbeitrag, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Nr. 3/ 1972; Eichhorn, P., Grundlegende Probleme einer gemeinwirtschaftlichen Erfolgsrechnung, bisher unveröffentlichtes Manuskript, erscheint demnächst in: Schriftenreihe Gemeinwirtschaft, hrsg. v. der Bank für Gemeinwirtschaft AG, Frankfurt am Main.
A Arbeitsorientierte Theorie der Unternehmung
147
der Überwachung des Wirtschaftsgebarens sowie Kosten der Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer. Die Ausweitung des Kostenbegriffs auf alle bewirkten Kosten verändert dieses Steuerungsinstrument und führt zu einer andersartigen Kombination einzelwirtschaftlicher Entscheidungen als bei reiner kapitalorientierter Steuerung. In einer von den abhängig Beschäftigten mitbestimmten Kosten- und Ertragsplanung können die Kosten- und Ertragsziele vorgegeben werden, die ihren Interessen an einer bestimmten Gestaltung der Arbeitssituation und der Ergiebigkeit der Arbeit entsprechen.
5.2 Funktionale Entscheidungsbereiche zur Durchsetzung arbeitsorientierter Interessen Geht man davon aus, daß die arbeitsorientierten Interessen für die einzelwirtschaftlichen Entscheidungen in Form entsprechender Ziele hinreichend operationalisiert sind, so kann – hier notwendigerweise nur durch die Formulierung allgemeiner Aussagen – versucht werden, die verschiedenen Entscheidungsbereiche des einzelwirtschaftlichen Instrumentariums im Sinne dieser Interessen umzugestalten. Für die Systematisierung der Entscheidungsbereiche ist dabei – aus einer Vielzahl von Möglichkeiten – folgende Reihenfolge gewählt worden: –
Auf der ersten Ebene werden die Phasen der unmittelbaren Leistungserstellung und -verwertung behandelt: Beschaffung, Produktion, Absatz. – Auf der zweiten Ebene wird der Entscheidungsbereich dargestellt, der über den qualitativen und quantitativen Zuschnitt der Unternehmung bestimmt: Personalplanung1, Planung von Forschung und Entwicklung (technologische Planung), Investitionsplanung und Planung der Organisation. – Auf der dritten Ebene und abschließend werden die Entscheidungen untersucht, die sich auf die Planung und Kontrolle der Unternehmungstätigkeit sowie die Entstehung und Verteilung der Wertschöpfung in der Unternehmung beziehen: Kostenplanung, Finanzierung und Verteilung. Bei der Darstellung der einzelnen Entscheidungsbereiche wird nach Möglichkeit folgender sechsstufiger Phasenaufbau eingehalten: (1) (2) 1
Abgrenzung der Entscheidungsbereiche, Formulierung der Aufgaben und Probleme des Entscheidungsbereichs im Hinblick auf arbeitsorientierte Interessen,
Das Voranstellen der Personalplanung in dieser Ebene ergibt sich dabei aus dem Gedanken, die Personalplanung von den übrigen Planungsbereichen der Unternehmung soweit als möglich zu emanzipieren.
148 (3) (4) (5) (6)
Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
Wertung der vorhandenen Entscheidungsinstrumente, und zwar sowohl hinsichtlich des Einsatzes in der Praxis als auch der theoretischen Aussagen in der Betriebswirtschaftslehre, Umgestaltung des Instrumentariums im Hinblick auf arbeitsorientierte Interessen, Integration des gesamten Instrumentariums aller Entscheidungsbereiche im Hinblick auf mögliche Zielkonflikte, Entwicklung von Institutionen für die Ausgestaltung der Unternehmungsfunktionen im Hinblick auf den veränderten Einsatz der Instrumente.
Schematisch läßt sich der Zusammenhang zwischen den genannten Entscheidungsbereichen und den Phasen der Darstellung wie folgt umreißen: Abbildung1: Entscheidungsbereiche und Phasen der Darstellung Entscheidungsbereiche Phase der Darstellung
Erste Ebene
Zweite Ebene
Pro- Ab- Perso- Tech. BePlaschaf- dukti- satz nalplanung fung on nung
Invest. Orga- KoPlan- nistenung sation planung
Dritte Ebene Finan- Verteilung zierung
1. Abgrenzung 2. Formulierung 3. Wertung 4. Umgestaltung 5. Integration 6. Entwicklung von Institutionen
In dieser als Übersicht über das Konzept der arbeitsorientierten Einzelwirtschaftslehre gedachten Veröffentlichung können nicht alle Entscheidungsbereiche nach dem skizzierten Schema dargestellt werden. Daher soll die Untersuchungsmethode an einem Beispiel, und zwar dem der Investitionsplanung deutlich gemacht werden1.
1
Vgl. Hax, K., Langfristige Finanz- und Investitionsentscheidungen. Art. in: Handbuch der Wirtschaftswissenschaften, Bd. I, Betriebswirtschaft, hrsg. v. Hax, K., und Wessels, T., 2. Aufl. Köln und Opladen 1966, S. 399 bis 489; Schneider, E., Wirtschaftlichkeitsrechnung, 6. Aufl., Tübingen-Zürich 1966; Scheer, A.-W., Die industrielle Investitionsentscheidung. Eine theoretische und empirische Untersuchung zum Investitionsverhalten in Industrieunternehmungen (Schriftenreihe des Instituts für Unternehmensforschung und des Industrieseminars der Universität Hamburg, hrsg. v. H. Jacob, Bd. 2), Wiesbaden 1969; Schmidt, R. B., unter Mitwirkung von Berthel, J., Unternehmungsinvestitionen, Strukturen, Entscheidungen, Kalküle, Hamburg 1970; Ansoff, I. H., Corporate Strategy, a.a.O.
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5.3 Beispiel: Investitionsplanung Zu (1): Abgrenzung des Bereichs Ziel der Investitionsentscheidung ist es, die Höhe und zeitliche Dimensionierung der Investitionsausgaben sowie die Wahl zwischen mehreren Produktionsmöglichkeiten für ganz bestimmte Produktionszwecke festzulegen. Zu (2): Formulierung von Aufgaben/Problemen aus arbeitsorientierter Sicht Zu entwickeln sind die Beziehungen zwischen den einzel- und gesamtwirtschaftlichen arbeitsorientierten Interessen und der Investitionsplanung: — im Falle des einzelwirtschaftlichen Einkommensinteresses: Auswirkungen der geplanten Investitionen auf die einzelwirtschaftliche Wertschöpfung der Unternehmung pro Kopf der Beschäftigten, auf die bestehenden Beschäftigtenstrukturen, Entlohnungssysteme u.ä.; — im Falle des einzelwirtschaftlichen Interesses an der optimalen Gestaltung der Arbeit: Auswirkungen der Investitionen auf die Qualifikationsanforderungen, die Arbeitsintensität, die ergonomischen Bedingungen u.ä.; — im Falle des gesamtwirtschaftlichen Interesses an der Versorgung mit privat und öffentlich nutzbaren Gütern: bei Vorliegen öffentlicher Richtlinien bzw. Auflagen und Gebote ist deren einzelwirtschaftliche Einhaltung zu sichern. Zahlreiche weitere gesamtwirtschaftliche Interessen auf diesem Gebiet können wegen fehlender Korrespondenz zwischen dem einzelwirtschaftlichen und gesamtwirtschaftlichen Bereich nur durch vorherige Abstimmung des einzelwirtschaftlichen Investitionsprojektes mit über die Einzelwirtschaften hinausgehenden Strukturplanungen (regionale, sektorale, gesamtwirtschaftliche Strukturplanung) realisiert werden. Zu (3): Wertung des vorhandenen Entscheidungsinstrumentariums Auf allen beispielhaft genannten Aufgaben- bzw. Problemgebieten reichen die herkömmlichen Entscheidungsmodelle nicht aus. Diese wurden zum Zwecke der Sicherung bzw. Steigerung der kapitalorientierten Rationalität oder enger: der privatwirtschaftlichen Rentabilität entwickelt. Zu (4): Umgestaltung des Instrumentariums Soweit es von den Zahlengrößen her möglich ist, sind die arbeitsorientiert geprägten Alternativen in die Investitionsentscheidungsprozesse einzubeziehen. Hierzu kann beispielsweise als Zielgröße an Stelle des Einnahmeüberschusses die einzelwirtschaftliche Wertschöpfung je Beschäftigten eingesetzt werden. Diejenigen arbeitsorientierten Zielsetzungen einzel- und gesamtwirtschaftlicher Art, die sich nicht rechnerisch erfassen lassen, müssen dann in den Investitionsentscheidungsprozessen gemäß ihrer Priorität berücksichtigt sein. Denkbar wäre auch ein normatives erstelltes Punktesystem, in dem die Investi-
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tionsalternativen durch Zuordnung von Punkten auf der Grundlage von Normen bewertet werden könnten. Dies sollte den Ansatz abgeben für ein noch darzustellendes Kalkülsystem. Zu (5): Integration des gesamten Instrumentariums aller Entscheidungsbereiche Für die Beurteilung des Umfanges der Verwirklichung arbeitsorientierter Interessen ist es von Vorteil, komplexe Investitionsprogramme zu analysieren. Außerdem sind die Investitionsprogramme im Rahmen einer integrierten Unternehmungsplanung mit allen übrigen einzelwirtschaftlichen Teilbereichen abzustimmen. Zu (6): Entwicklung der institutionellen Grundlagen für den Einsatz des alternativen Instrumentariums Bezogen auf die einzelne Unternehmung müssen für die Arbeitnehmer institutionelle Voraussetzungen zur Entwicklung von Alternativplanungen geschaffen werden (z.B. durch eigene strategische Planungs- und Entscheidungsvorbereitungsstellen). Aber auch die regionale, sektorale und gesamtwirtschaftliche Abstimmung der unternehmerischen Investitionsplanungen ist durch den Aufbau entsprechender Institutionen zu ermöglichen. Damit wird der Versuch, die Umorientierung einzelwirtschaftlicher Entscheidungen auf arbeitsorientierte Ziele hin anhand des Beispiels Investitionsplanung darzustellen, abgeschlossen. Dieser Ansatz läuft im Ergebnis sowohl auf eine Beschränkung der Autonomie der Unternehmung nach außen als auch auf eine Umstrukturierung der Entscheidungsprozesse innerhalb der Unternehmung selbst hinaus. Daraus ergeben sich wesentliche Umgestaltungen der einzelwirtschaftlichen Informationssysteme1. Die Inhalte alternativer, arbeitsorientierter Planungs-, Entscheidungs- und Kontrollprozesse in den Einzelwirtschaften können nur bei jeweils gegebenen Investitionsvorhaben formuliert werden, wozu insbesondere ein ausgebautes Mitbestimmungssystem auf verschiedenen institutionellen Ebenen erforderlich ist. Auf diese Voraussetzung wird noch zurückzukommen sein.
1
Vgl. Kittner, M., Unternehmensverfassung und Information – Die Schweigepflicht von Aufsichtsratsmitgliedern, in: Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht, 136. Bd., H. 3/ 1972, S. 214 f.
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Umsetzung arbeitsorientierter Interessen durch Verbindung einzel- und gesamtwirtschaftlicher Maßnahmen
6.1 Komplexes System von Instrumenten Die einzelwirtschaftlich formulierten programmatischen, instrumentellen und institutionellen Ansätze zur Umsetzung arbeitsorientierter Interessen erweisen sich zur Lösung der anstehenden Probleme als nicht ausreichend. Vielmehr ist zur Verwirklichung ein komplexes System gleichermaßen einzelwirtschaftlicher und gesamtwirtschaftlicher sowie ökonomischer und politischer Instrumente und Institutionen erforderlich. Im Vordergrund steht dabei die Abstimmung zwischen einzel- und gesamtwirtschaftlichen Entscheidungen hinsichtlich der zu verfolgenden Ziele und Mittel. Dieser Abstimmung müssen Kalküle der ökonomischen und ökologischen Indikatoren sowie der sozialen Richtgrößen zugrunde liegen, damit die Vielzahl arbeitsorientierter Interessen einschließlich ihrer gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen berücksichtigt werden kann. Eine Abstimmung nach Prioritäten zwischen diesen Kalkülen ist nur aus dem jeweils anstehenden Einzelproblem heraus nach politischen, d.h. auf demokratischem Wege ermittelten Wertungen möglich1. Zur Formulierung der arbeitsorientierten Interessen, die sich durch eine demokratische Willensbildung vollziehen muß, ist insbesondere ein auch international wirksames mehrstufiges Mitbestimmungssystem erforderlich, das den Arbeitsplatz, den Betrieb, die Unternehmung bzw. den Konzern, die Region und die Gesamtwirtschaft umfaßt. Theoretische Überlegungen und praktische Ansätze zu diesem integrierten Mitbestimmungssystem liegen in der Praxis bereits vor2. Neben der Mitbestimmung besteht durch den Aufbau von Kollektivfonds, die von Arbeitnehmern zu verwalten sind, die Möglichkeit der Einflußnahme
1
2
Vgl. Kapp, K. W., Umweltkrise und Nationalökonomie, in: Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, Nr. 3/ 1972, S. 231-249; Weizsäcker, E., v., Humanökologie und Umweltschutz, München 1972; Meadows, D., u. a., Die Grenzen des Wachstums, Stuttgart 1972; Nagel, A., Leistungsfähige Entscheidungen in Politik und Verwaltung durch Systemanalyse, Berlin 1971; Delors, J., Les indicateurs sociaux, Paris 1971. Vgl. die Veröffentlichungen von Ballerstedt, K., Hartwich, H.-H., Kaltenborn, W., Leminsky, G., Markmann, H., in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Nr. 9/ 1971 und 10/ 1971; Hondrich, K. O., Mitbestimmung in Europa, Köln 1970; Balduin, S., Menschenwürde im Betrieb. Humanisierung und Demokratisierung der Arbeitswelt, in: Das Mitbestimmungsgespräch, Nr. 7/ 1972, S. 139 ff; Otto, B., Gewerkschaftliche Konzeptionen überbetrieblicher Mitbestimmung (Schriftenreihe: Stiftung Mitbestimmung/ Hans-Böckler-Gesellschaft, Nr. 1), Köln 1971; Weis, J., Wirtschaftsunternehmen und Demokratie, Köln 1970.
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auf einzelwirtschaftliche und darüber hinausgehende Entscheidungen1 im arbeitsorientierten Sinn. Zur Umsetzung der aus dem politischen Willensbildungsprozeß resultierenden Zielvorstellungen durch den Einsatz der gesellschaftlichen Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit sind komplexe Sozialtechnologien erforderlich, mit deren Hilfe eine gesellschaftlich rationale Lenkung der Beziehungen zwischen Produktionsstruktur und Investitionen sowie Arbeitsmarktstruktur und Investitionen möglich wird. An Sozialtechnologien zur Lenkung der Beziehungen zwischen Produktionsstruktur und Investitionen bestehen als Steuerungsinstrumente erstens der Koordinationsmechanismus monetärer Nachfrage, zweitens das System der monetären und nichtmonetären Auflagen und Gebote und drittens die explizite Planung der gesellschaftlichen Grundstrukturen2. Diese Instrumente stehen grundsätzlich in wechselseitiger und sich ergänzender Abhängigkeit zueinander; es sei denn, sie beziehen sich auf ein und dasselbe Lenkungsproblem. Diese Interdependenz schließt jedoch nicht aus, daß ein gesellschaftspolitisch begründeter Vorrang der Gesamtwirtschaft gegenüber den Einzelwirtschaften besteht. Damit fällt der Planung der gesellschaftlichen Grundstrukturen eine besondere Funktion bei der Verwirklichung von Zielen zu, die aus arbeitsorientierten Interessen abgeleitet wurden. Dies bedeutet allerdings – und dies sei deutlich hervorgehoben – keine Entscheidung für eine Totalplanung. Von zunehmender instrumenteller Bedeutung für die Beziehungen zwischen einzel- und gesamtwirtschaftlicher Ebene im Rahmen dieser Planung der gesellschaftlichen Grundstrukturen werden insbesondere Langfristplanungen, Nationalbudgetrechnungen, Input-Output-Rechnungen bzw. volkswirtschaftliche Verflechtungsbilanzen, prospektive Kapitalflußrechnungen sowie Planung der Arbeitsmarktstrukturen sein3. 1
2
3
Vgl. Gleitze, B., Sozialkapital und Sozialfonds als Mittel der Vermögenspolitik (WWI-Studien, Nr. 1), 2. Aufl., Köln 1969; Verschiedene Autoren in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Nr. 2/ 1972. Vgl. Albert, H., Marktsoziologie und Entscheidungslogik, a. a. O., S. 392-416; Hansen, K., Ökonomische Theorie und wirtschaftliche Macht, in: Wirtschaft und Wettbewerb, H. 10/ 1970, S. 655664; Verein für Socialpolitik (Hrsg.), Macht und ökonomisches Gesetz (demnächst erscheinende Veröffentlichung der zum gleichen Thema veranstalteten Tagung vom 4.-7. Sept. 1972 in Bonn; Falk, H.-J., Die gesamtwirtschaftliche Orientierung privater Investitionen in der globalgesteuerten Marktwirtschaft, Diss. an der Wiso-Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg, 1971, S. 23 ff; Glastetter, W., Wachstumskonzeption und Politische Ökonomie, a. a. O., S. 283-348; Hax, K., Unternehmensplanung und gesamtwirtschaftliche Planung als Instrumente elastischer Wirtschaftsführung, in: Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung, N. F. 1966, S. 447-465. Vgl. Stäglin, R., und Wessels, H., Input-Output-Tabellen und Input-Output-Analysen für die Bundesrepublik Deutschland (DIW-Beiträge zur Strukturforschung, H. 6/ 1969), Berlin 1969, bes. S. 30-53; Heestermann, A.R.G., Forecasting Models for National Economic Planning, 2. Aufl., Dordrecht (Niederl.), 1972; Busse von Colbe, W., Aufbau und Informationsgehalt von Kapitalflußrechnungen, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft, 1966, S. 82-114 (1. Ergänzungsband);Lange, I, Probleme der Kapitalflußrechnung, in: WWI-Mitteilungen, H. 6/ 1967, S. 164 ff; dies., Die Kapitalflußrechnung als Mittel externer Unternehmens- und Branchenanalyse, in: WWI-Mitteilungen, H. 7/
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An Sozialtechnologien zur Lenkung der Beziehungen zwischen Arbeitsmarktstruktur und Investitionen werden eine integrierte Arbeitskräftepolitik sowie der Aufbau von einzelwirtschaftlichen Personalplanungen und eine über die Einzelwirtschaften hinausgehende Arbeitskräfteplanung erforderlich1. Als erstes ist hierbei die gesamtwirtschaftliche Globalsteuerung durch eine sektorale und regionale Struktursteuerung zu ergänzen, wobei nicht zuletzt auch arbeitsmarktpolitische Problemgruppen (insbesondere Frauen, Ältere, ausländische Arbeitnehmer, Behinderte) berücksichtigt werden müssen. Somit ist die Integration von Zielen einer Arbeitskräftepolitik mit denen der regionalen und sektoralen Entwicklungspolitik erforderlich, was neben den Zielen selbst auch die genaue Kenntnis der Wirkungen dieser Maßnahmen erforderlich macht. Als Elemente einer solchen integrierten Arbeitskräftepolitik sind zu nennen: - sektorale und regionale Entwicklungspolitik; - Regelung der Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer; - Maßnahmen zur Bildungs- und Berufsqualifikation (z.B. Fortbildung, Umschulung, Einarbeitung); - Maßnahmen zum Schutz des Arbeitsplatzes (z.B. Kündigungsschutz, Arbeitsschutz, Jugendschutz, Rationalisierungsschutz); - Maßnahmen zur Sicherung des Einkommens (z.B. Abfindungszahlungen, vorzeitige Rentenzahlungen, Überbrückungsgeld, Anpassungsgeld, Arbeitslosengeld, Kurzarbeitsgeld, Schlechtwettergeld). Daneben ist durch den Aufbau einer die Einzelwirtschaften, die Region und die Gesamtwirtschaft und in zunehmendem Maße den europäischen Raum verbindenden Arbeitskräfteplanung eine optimale Gestaltung der Arbeitsmarktstruktur zu verwirklichen. Elemente dieser Politik sind insbesondere: Personalbedarfsplanung, Personalbeschaffungsplanung, Personaleinsatz- und Personalentwicklungsplanung, Planung der Beschäftigungsbedingungen, Personalabbauplanung. Eine der Voraussetzungen zur Verwirklichung dieser Vorstellungen liegt in der Schaffung von Instrumentarien zur Verbesserung der Transparenz des einzelwirtschaftlichen Arbeitskräftepotentials und der über die Einzelwirtschaften hinausgehenden Arbeitsmärkte.
1
1967, S. 198 ff; Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Auswirkungen des Eventualshaushalts des Bundes auf die Wirtschaftszweige, in: DIW-Wochenbericht 7/ 72 vom 10. 2. 1972, S. 55 ff. Vgl. Engelen-Kefer, U., Arbeitsmarktpolitik und technischer Wandel, in: Beihefte zur Konjunkturpolitik, Nr. 18/ 1971, S. 129 ff; dies., Umschulung in einer wachsenden Wirtschaft, a. a. O.; Heyken, H., Institutionelle Grundlage und funktionale Verflechtungen der Arbeitsmarktpolitik in Nordrhein-Westfalen, Berlin 1969; Rehhahn, H., Zur praktischen Durchführung der Personalplanung nach dem neuen Betriebsverfassungsgesetz, in: Das Mitbestimmungsgespräch, Nr. 8-9/ 1972, S. 167–184.
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6.2 Konsequenzen für Institutionen und Informationsprozesse Die oben aufgezeigten Sozialtechnologien in Verbindung mit dem mehrstufigen Mitbestimmungssystem und dem möglichen Instrument von Kollektivfonds reichen jedoch nicht aus, die anstehenden komplexen Probleme der Beziehungen zwischen der einzelwirtschaftlichen und der gesamtwirtschaftlichen Ebene zu lösen. Vielmehr ist es notwendig, wirkungsvolle gesamtwirtschaftliche und gesellschaftliche Planungs-, Entscheidungs- und Kontrollinstitutionen zu entwickeln bzw. bestehende Institutionen in ihren Tätigkeiten für den hier anstehenden Zusammenhang auszubauen. Den parlamentarischen Instanzen bzw. den durch ausdrückliche Ermächtigung des Gesetzgebers legitimierten Exekutivinstanzen fällt der Akt der Entscheidung über die dargestellten Planungen zu. Zur Entscheidungsvorbereitung der Planungen eignen sich demokratisch legitimierte paritätische Wirtschaftsund Sozialräte, wobei hier ein erster Interessenabstimmungsprozeß zwischen den beteiligten Gruppen – unbeschadet von grundsätzlichen politisch-alternativen Zielsetzungen – möglich ist. Ungelöst bleibt in der bisherigen Diskussion die notwendige Ausgestaltung der öffentlichen Kontrollinstanzen. Erforderlich sind hierzu insbesondere: die Schaffung bzw. der Ausbau von Instanzen für Fusionskontrolle, Preiskontrolle, Verbraucherschutz, Warenprüfung, Umweltschutz, komplexe Planungstechnologien, Wirtschaftsprüfung (insbesondere die Überwachung der Einhaltung von Abschreibungsnormen), Kontrollen der Einhaltung der Sozialindikatoren und Überwachung der Arbeitsmarktentwicklung. Daneben bedarf es notwendigerweise eines mehrstufigen Systems für die Strukturplanung, das eng mit den zu schaffenden regionalen und gesamtwirtschaftlichen Wirtschafts- und Sozialräten zusammenarbeiten müßte. Eine solche institutionelle Ausgestaltung würde wesentliche Veränderungen im Informationsfluß zwischen den gesellschaftlichen Gruppen sowie auch hinsichtlich des Ausmaßes an Öffentlichkeit bedingen1. Erst eine solche Entscheidungsvorbereitung und -kontrolle kann die Umsetzung der arbeitsorientierten Interessen im Rahmen einer gesellschaftlichen Interessenabstimmung wirksam gewährleisten. Dabei würde die repräsentative Verfassungsstruktur, d.h. die Entscheidungskompetenz des Bundestages und des Bundesrates nicht berührt. Eine arbeitsorientierte, qualitativ verbesserte Steuerung der Einzel- und Gesamtwirtschaft erfordert jedoch nicht nur höhere Ausgaben, sondern auch einen vermehrten Einsatz personeller Ressourcen. Dies allerdings dürfte langfristig für die Gesellschaft billiger sein als die spätere Behebung bereits absehbarer und bei Untätigkeit mit Sicherheit noch anwachsender Strukturschäden. 1
Vgl. Habermas, J., Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1962; Naschold, R./ Väth, W. (Hrsg.), Politische Planungssysteme, Opladen 1973.
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Zusammenfassung in Thesen
Wegen des Umfanges der zusammenfassenden Darstellung des Konzepts „Arbeitsorientierte Einzelwirtschaftslehre“ (AOEWL) erscheint ihre nochmalige thesenförmige Zusammenfassung notwendig: — Ziel der Arbeit ist es, durch die Überwindung der kapitalorientierten Betriebswirtschaftslehre einen Beitrag zur Humanisierung gesellschaftlicher Prozesse zu leisten, indem arbeitsorientierte Handlungsalternativen aufgezeigt werden; — der Forschungsansatz beruht auf sozialphilosophischer und erkenntnistheoretischer Basis. Dabei werden die Interessen als Bauelemente eines axiomatischen, normativen Systems von Aussagen ermittelt; — die kritische Auseinandersetzung mit der Betriebswirtschaftslehre (BWL) wird sowohl gegenüber der an der Praxis orientierten Kritik dieser Wissenschaft als auch gegenüber der weltanschaulichen Kritik orthodoxmarxistischer Prägung abgegrenzt; — die arbeitsorientierten Interessen lassen sich in dem Begriff emanzipatorische Rationalität zusammenfassen, der alternativ zur kapitalorientierten Rationalität entwickelt wird; — die emanzipatorische Rationalität kann nur auf kollektiv-solidarischer Basis verwirklicht werden; — einzelwirtschaftlich lassen sich die in dieser Rationalität zusammengefaßten arbeitsorientierten Interessen als Interessen an Arbeitsplatzsicherheit, optimaler Gestaltung der Arbeit, Sicherung und Steigerung der Einkommen darstellen; — gesamtwirtschaftlich zielen diese Interessen auf eine Steuerung der Produktion durch rationalen Einsatz von Arbeit und Kapital und Berücksichtigung gesamtwirtschaftlicher Kostenprobleme sowie auf ausgewogene Versorgung mit privat und öffentlich nutzbaren Gütern und gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung ab; — der alternativen Konzeption für einzelwirtschaftliche Entscheidungen liegt eine Neudefinition des Kosten- und Leistungsbegriffs bzw. des Aufwandsund Ertragsbegriffs zugrunde; — die einzelwirtschaftliche Umsetzung von arbeitsorientierten Interessen vollzieht sich innerhalb der funktional abgegrenzten unternehmerischen Entscheidungsbereiche, wobei dieser Ansatz hier nur für den Bereich der Investitionsplanung dargestellt wird; — zur Absicherung der alternativen einzelwirtschaftlichen Entscheidungen sind zahlreiche Instrumente zu entwickeln, wodurch die aus arbeitsorientierter Sicht bestehende Kluft zwischen Einzelwirtschaft und Gesamtwirtschaft überwunden werden kann;
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— Ansätze für Kalküle der ökonomischen Indikatoren, der sozialen Richtgrößen und der ökologischen Indikatoren zur Interessenumsetzung werden entwickelt, um sie zu einem System zusammenfassen zu können, damit die Entscheidungsprozesse durch Operationalisierung arbeitsorientierter Interessen gestaltet werden können; — ein mehrstufiges Mitbestimmungssystem und Kollektivfonds werden zur Formulierung, Durchsetzung und Kontrolle des interessengeleiteten Handelns eingesetzt; — als Sozialtechnologie zur Regelung der Beziehungen zwischen Investitionen und Produktionsstruktur werden die explizite Planung der gesellschaftlichen Grundstrukturen, monetär und nicht-monetär wirkende Auflagen und Gebote sowie der Koordinationsmechanismus monetärer Nachfrage ausgestaltet; — als Sozialtechnologie zur Regelung der Beziehungen zwischen Investitionen und Arbeitsmarktstruktur werden zahlreiche Maßnahmen im Rahmen einer integrierten einzel- und gesamtwirtschaftlichen Arbeitskräftepolitik dargestellt; — die Verwirklichung des vorgeschlagenen Konzepts einer AOEWL ist mit erheblichen Konsequenzen für die Weiterentwicklung der Institutionen sowie der Informationssysteme verbunden, um zu demokratischen Entscheidungsund Kontrollprozessen auch im ökonomischen Bereich zu gelangen.
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A.3 Arbeitsorientierte Rationalität und Arbeitnehmerinteressen*
Zum Stand der Auseinandersetzung über die Arbeitsorientiere Einzelwirtschaftslehre (AOEWL). Im folgenden soll Stellung genommen werden zur Kritik am Ansatz der AOEWL; zugleich dient diese Kritik als Ausgangspunkt, einige Aspekte des Ansatzes eindeutiger zu bestimmen bzw. klarzustellen. Da sich die Diskussion bisher in hohem Maße auf die Grundlagen bezog, wird auch im folgenden die Auseinandersetzung auf dieser Ebene im Vordergrund stehen. Dabei erfolgt die Gliederung des Stoffes nicht entsprechend einzelner Kritikpunkte, sondern es wird versucht, eine Konzentration auf einige Schwerpunkte zu erreichen, denen diese dann zugeordnet werden. Im einzelnen sind dies: -
Arbeitsorientierte Lücke in der bisherigen BWL (Punkt 1) Arbeitsorientierte Ziele und arbeitsorientierte Rationalität (Punkt 2) Interesse und Normativismus (Punkt 3) Arbeitsorientierter Ansatz im Theoriesystem von VWL und BWL (Punkt 4)
Die fachwissenschaftliche Diskussion des Konzeptes der AOEWL hat ergeben, daß mehrere Möglichkeiten der Weiterentwicklung in dem Ansatz enthalten sind. Nachdem diese herausgearbeitet worden sind, wird zu fragen sein, mit welcher Orientierung der Absicht am besten entsprochen werden kann, Arbeit zur Grundlage einzelwirtschaftlicher Theorieaussagen zu machen. Von den verschiedenen Veröffentlichungen seit Erscheinen der Studie ,,Grundelemente einer Arbeitsorientierten Einzelwirtschaftslehre“ im Januar 1974 haben sich folgende Autoren ausführlicher mit diesem Ansatz auseinandergesetzt: Ackermann1, Chmielewicz2, Dinkelbach/ Rosenberg1, Fischer-Winkelmann/ Rock2, Hax (1974)3, Hax (1976)4, Kappler (1973)5, Kappler (1974)6, Raffée7, Rotter8, Schwiering/ Kaminski9, Sieben/Goetzke10, Wächter11. * 1
2
in: Zeitschrift für Betriebswirtschaftliche Forschung (ZfbF), 29. Jg. H. 1/ 1977, S. 31-43. Ackermann, K.-F., Arbeitnehmerinteressen in der betriebswirtschaftlichen Theorie – Analyse der „Arbeitsorientierten Einzelwirtschaftslehre“, in: Die Unternehmung in ihrer gesellschaftlichen Umwelt. Bericht von der wissenschaftlichen Tagung des Verbandes der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft e. V. vom 4. bis 7. Juni 1974 in München, hrsg. v. P. Mertens,Wiesbaden 1975, S. 65 – 90. Chmielewicz, K, Arbeitnehmerinteressen und Kapitalismuskritik in der Betriebswirtschaftslehre, Reinbek 1975.
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Hierauf wird im weiteren schwerpunktmäßig an verschiedenen Stellen Bezug genommen, wobei bereits an dieser Stelle der großenteils polemische Charakter der Hax-Besprechung von 1974 zurückgewiesen werden muß.
1
Zur arbeitsorientierten Lücke in der bisherigen BWL
Die Vernachlässigung arbeitsorientierter Interessen in der herrschenden BWL wird in verschiedenen Beiträgen konstatiert und konzediert, während Umfang, Ursachen und Überwindungsmöglichkeiten nicht einheitlich beurteilt werden.12 Offensichtlich hängt die Art der Problembehandlung mit dem Rationalitäts- und Interessenbegriff zusammen, wobei Ackermann, Chmielewicz, Dinkelbach Rosenberg und Sieben/ Goetzke den Begriff ,,arbeitsorientiert“ ausschließlich gruppenbezogen und damit im Sinne von arbeitnehmerorientiert verwenden. Auf diese Weise läßt sich die festgestellte Lücke im Theoriesystem eingrenzen und gleichsam unter Beibehaltung der übrigen Theorie rein additiv schließen. Zwar 1
Dinkelbach, W/ Rosenberg, O., Zielarten und Zielsysteme bei divergierenden Faktorinteressen, in: Die Bedeutung gesellschaftlicher Veränderungen für die Willensbildung in Unternehmen, hrsg. v. H. Albach, Berlin 1976, S. 813 ff. 2 Fischer Winkelmann, W. F./ Rock, R., Vor einem neuen Selbstverständnis in der MarketingWissenschaft? , in: Die Unternehmung 29 (1975), S. 237-259. 3 Hax, K., Das Projekt „Arbeitsorientierte Einzelwirtschaftslehre“. Eine kritische Betrachtung, in: ZfbF 26 (1974), S. 798-809. 4 Hax, K., Unternehmenstheorien in der Betriebswirtschaftslehre, in: ZfbF 28 (1976), S. 91-98. 5 Kappler, E., Warum nicht AOGWL?, in: Wirtschaftswoche Nr. 29 v. 13.7. 1973, S. 38-40. 6 Kappler, E., Brauchen wir eine neue Betriebswirtschaftslehre?, in: Koubek, N./ Küller, H.D./ Scheibe-Lange, I. (Hg.) Betriebswirtschaftliche Probleme der Mitbestimmung, Köln 1974, S. 163184. 7 Raffée, H., Grundprobleme der Betriebswirtschaftslehre, Göttingen 1974. 8 Rotter, F., Verfassung und sozialer Wandel, Hamburg 1974. 9 Schwiering, D./ Kaminski, U., Brauchen wir eine neue Betriebswirtschaftslehre?, in: Koubek, N./ Küller, H.D./ Scheibe-Lange, I. (Hg.), Betriebswirtschaftliche Probleme der Mitbestimmung, Köln 1974, S. 204-230. 10 Sieben, G./ Goetzke, W., Forschungsstrategische Perspektiven der Betriebswirtschaftslehre bei gesellschaftsbezogener Betrachtung der Unternehmung – Ein Ansatz zur Systematisierung neuerer betriebswirtschaftlicher Forschungsaktivitäten, in: BFuP, 27 (1975), S. 43-53. 11 Die jüngste Veröffentlichung von Wächter, H., Arbeitsorientierte Wirtschaftslehre. Arbeitsorientierte Kriterien für wirtschaftliche Entscheidungen, in: Wirtschaftsdienst 56 (1976), S. 195-200, konnte leider nicht ausgewertet werden. Die darin enthaltenen Kritikpunkte (S. 200) sind bereits berücksichtigt, da sie auch in anderen Veröffentlichungen formuliert waren. Gleiches gilt für: ders., Die Arbeitsorientierte Einzelwirtschaftslehre – eine Herausforderung an die Betriebswirtschaftslehre, in: WiSt 5 (1976), S. 310-316. 12 Vgl. Ackermann, K. F., S. 77, 90; Chmielewicz, K., S. 18; Kappler, E., S. 173 f; Raffée.H, S. 116; Schwiering, D./ Kaminski, U., S.218 ff; Sieben, G./ Goetzke, W., S. 48; vgl. auch die kürzlich veröffentlichten Aussagen von betriebswirtschaftlichen Hochschullehrern der Wirtschaftsuniversität Wien: ,,Wohin steuert die Betriebswirtschaftslehre, in: thema. Zeitschrift der Hochschülerschaft der Wirtschaftsuniversität Wien, 2/ 76, S. 3-7.
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soll nicht verkannt werden, daß bereits dieses Vorgehen künftig erhebliche Forschungskapazitäten binden würde, da die z.Zt. feststellbaren Disproportionalitäten einer so verstandenen Theorie beachtlich sind. Dennoch würde hierdurch nur ein Teil der ursprünglichen Absicht der Verfasser der AOEWL einlösbar sein, denn alle Probleme, die sich mit dem Begriff „arbeitsorientiert“ im Sinne eines eigenständigen gesellschaftlichen und nicht nur eines gruppenspezifischen Verhältnisses verbinden, werden auf diese Weise abgeschnitten. Diese Unterscheidung wird in Punkt 2 näher ausgeführt. Die Auseinandersetzung mit dieser weitergehenden Fragestellung läßt sich somit nicht im Rahmen einer gruppenbezogenen, entscheidungsorientierten Vorgehensweise führen, da das arbeitsorientierte Erkenntnisinteresse den gesamten einzelwirtschaftlichen Ökonomiebereich umfaßt, wie er in Produktion, Verteilung und Verbrauch zum Ausdruck kommt, und zwar unter der Perspektive der Arbeit als einer Grundkategorie.1 Hax2 hat diese unterschiedlichen Möglichkeiten des Vorgehens gesehen, wenn er einerseits von arbeitnehmerbezogener und andererseits von arbeitsorientierter Unternehmenstheorie spricht, jedoch interpretiert er diese Tatsache auf sehr eigenwillige Weise: Er bezeichnet die AOEWL als arbeitnehmerbezogene Unternehmenstheorie und setzt ihr die arbeitsorientierte Unternehmenstheorie gegenüber. Besonders erstaunlich, da nachweislich widerlegbar, ist dabei die Kennzeichnung der AOEWL als lediglich auf die „Maximierung des (Lohn)Einkommens der Arbeitnehmer und ihres Einflusses in der Unternehmung“ ausgerichtet, während die arbeitsorientierte Unternehmenstheorie auf Arbeitsinhalte und Sicherheit der Arbeitsplätze abstelle und damit auch gemeinwirtschaftliche Interessen zum Gegenstand habe.3 Richtig ist vielmehr, wie ein Blick in die Studie zur AOEWL zeigt, daß diese drei Interessenfelder gleichrangig behandelt werden, und zwar unter der Bezeichnung „einzelwirtschaftliche arbeitsorientierte Interessen“4. Hinter der in der voranstehenden skizzierten Doppelsinnigkeit hinsichtlich der Auffüllung des Begriffs „arbeitsorientiert“ verbirgt sich ein Problem, an dessen Zustandekommen die Verfasser der AOEWL-Studie nicht unbeteiligt sind und das zusammenhängt mit der Begriffsdefinition einerseits und der inhaltlichen Darstellung andererseits. Die Definition ist ausschließlich gruppenbezogen, wenn es heißt: „Unter „arbeitsorientiert“ wird im folgenden die Handlungsorientierung verstanden, die auf die Durchsetzung von Interessen der abhängig Beschäftigten in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft abzielt.“5 Der Ver1 2 3 4
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Vgl. hierzu die Ausführungen in Pkt. 2. Hax, K., S. 94. Ebenda. Vgl. Projektgruppe im WSI, Grundelemente einer Arbeitsorientierten Einzelwirtschaftslehre. WSIStudie Nr. 23, Köln 1974, S. 100-130. Projektgruppe im WSI, S. 11.
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fasser dieses Artikels hat versucht, die Unzulänglichkeit dieser Definition, die im übrigen nur einen Teil des Inhalts der AOEWL abdeckt, durch eine definitorische Erweiterung zu überwinden, indem der Begriff sowohl als gesellschaftliche als auch als gruppenmäßige Größe gefaßt wird. In diesem Zusammenhang heißt es dann: „Als arbeitsorientiert wird erstens und im umfassenden Sinn die Prägung von Handlungen verstanden, deren Rationalität sich unmittelbar auf den Einsatz von Arbeit bezieht. Neben dieser allgemeinen, sozioökonomisch funktionalen (besser: kategorialen, N. K. 1977) Definition ist zweitens danach zu fragen, welche Gruppen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung ein Interesse an einer solchen Art von Rationalität besitzen. Dies führt hin zu der Gruppe der abhängig Beschäftigten und den Gewerkschaften.“1
Damit ist die Trennung von Rationalität, Interesse und Gruppenbezug angelegt. Mit diesen beiden Möglichkeiten der Begriffsbestimmung verbinden sich weitreichende Alternativen in der inhaltlichen Fassung und Weiterentwicklung des arbeitsorientierten Ansatzes, wie im folgenden zu zeigen sein wird. Bevor diese Argumentation fortgesetzt wird, soll kurz auf diejenige Position eingegangen werden, die einen arbeitsorientierten Ansatz insgesamt als überflüssig erachtet. Hierzu ist W. Engels2 zu zitieren, der schreibt: „Bei wohlorganisierter Kooperation von Kapital und Arbeit sind die Entscheidungen im Unternehmen unabhängig davon, ob das Kapital oder die Arbeit die Entscheidungen fällt. Eine arbeitsorientierte Einzelwirtschaftslehre ist deshalb überflüssig.“
Wie kommen diese überraschenden Aussagen und die eindeutige Schlußfolgerung zustande? Der Theorie liegt die Annahme zugrunde, daß für die Arbeitnehmer die betriebliche Lohnmaximierung von gleicher Bedeutung ist wie die Gewinnmaximierung für die Kapitaleigentümer. Unter den bekannten mikroökonomischen modelltheoretischen Prämissen lösen sich dann alle Interessengegensätze bis auf den Verteilungskonflikt auf. Sogar dieser letzte Konfliktbereich ließe sich in der Theorie überwinden, wenn man ganz im Rahmen der neoklassischen Mikroökonomie zur grenzproduktivitätsorientierten Verteilungstheorie übergehen würde.3 Soweit geht allerdings der betriebswirtschaftliche Modellplatonismus4 nicht. 1
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Koubek, N., Brauchen wir eine neue Betriebswirtschaftslehre?, in: Koubek, N./ Küller, H. D./ Scheibe-Lange, I. (Hrsg.), Betriebswirtschaftliche Probleme der Mitbestimmung, Frankfurt am Main 1974, S. 187 f. Engels, W., Zur Unterschiedlichkeit unternehmerischer Entscheidungen bei divergierenden Faktorinteressen, in: Die Bedeutung gesellschaftlicher Veränderungen für die Willensbildung im Unternehmen, hrsg. v. H. Albach, Berlin 1976, S. 790. Unter wohlorganisiert versteht Engels „paretooptimal“ S. 779. Vgl. Külp, B., Verteilungstheorie, Stuttgart 1974 S. 38 ff., Preiser, E., Bildung und Verteilung des Volkseinkommens, 4. Aufl. Göttingen 1970, S. 265 ff. Vgl. Albert, H., Marktsoziologie und Entscheidungslogik, Neuwied/ Berlin 1967, S. 331 ff.
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Es ist somit die Annahme einer Maximierung der für beide Gruppen gleichlaufenden Ertrags- bzw. Gewinnfunktion, die eine Auseinandersetzung mit Gruppenzielen nicht erforderlich macht. Von hier aus könnte man nun sehr leicht in Analogie die Schlußfolgerung ziehen, daß zwischen einer arbeitsorientierten Theorie und den Kapitaleigentümer- bzw. Managerinteressen einerseits sowie Arbeitnehmerinteressen andererseits dann weitgehendste Übereinstimmung besteht, wenn sich alle Beteiligten auf eine arbeitsorientierte Rationalität in der Unternehmenspolitik einigen. Nur der Nachweis, daß diese Rationalität logisch und praktisch nicht möglich ist, würde diese Argumentationskette sprengen. Die unbestreitbare Tatsache, daß die Realisierung z.Zt. praktisch nicht möglich ist, kann als Argument gegen eine hypothetisch zu formulierende Theorie selbst auf der Basis einer praktisch normativen Wissenschaftstheorie nicht verwendet werden. Hierauf wird noch zurückzukommen sein. Diese Argumentationsdoublette und das ihr vorausgegangene Original in Form der Engel’schen Argumentation gleichen einem Verwirrspiel, denn so beliebig sind Zielsysteme gruppenmäßig nicht zuordenbar, wie auch die Reaktion auf die diesbezügliche Kritik in der AOEWL gezeigt hat. Damit ist die Entscheidung, über welche Art des Vorgehens man versucht, eine arbeitsorientierte Theorie der Unternehmung zu entwickeln, noch immer offen. Bevor diese im einzelnen erläutert wird, sei deutlich hervorgehoben: Jede Wahl läßt sich nur bis zu einem bestimmten Punkt argumentativ-schlüssig vermitteln, wenn man davon ausgeht, daß Arbeitshypothesen und deren Gewichtung, spekulative Momente und hermeneutische Perspektiven auch im Rahmen der Wirtschaftswissenschaften1 bzw. enger, der Betriebswirtschaftslehre2 ihre Legimitation haben. In der Terminologie des kritischen Rationalismus könnte man sich gleichsam auf die Wertung im Basis- und Objektbereich der Wissenschaften zurückziehen. Dies ist jedoch dann überflüssig, wenn man die Verdrängung der erkenntnistheoretischen Reflexionen durch wissenschaftstheoretische Kalküle zurückweist.
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Arbeitnehmerorientierte Ziele und arbeitsorientierte Rationalität
Mit der Gegenüberstellung in der Überschrift dieses Abschnittes soll pointiert auf die Möglichkeit einer Ergänzung der bisher theoretisch auf Rentabilität bzw. Entscheidungsprozesse ausgerichteten Theoriesysteme durch ein neues, auf Ar1
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Vgl. beispielhaft: Schumpeter, J. A., Geschichte der ökonomischen Analyse, Bd. I, Göttingen 1965, S. 77. Hier heißt es u. a.: „Mit anderen Worten, der analytischen Untersuchung geht zwangsläufig ein voranalytischer Erkenntnisakt voraus, der den Rohstoff für die analytische Arbeit liefert“. Vgl. Raffée, H., S. 44 ff. Heinen, E./ Dietel, B., Zur „Wertfreiheit“ in der Betriebswirtschaftslehre, T. l, in: ZfB, 46 (1976), S. 19 ff.
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beit bezogenes Theoriesystem hingewiesen werden. Damit liegt genau die Teilung vor, auf die bereits zu Beginn des Abschnittes 1 hingewiesen wurde.
2.1 Arbeitnehmerorientierte Ziele Das Für und Wider eines die gesamte Rationalität in der Ökonomie umfassenden Ansatzes läßt sich überprüfen, wenn man versucht, die Offenheit der bisherigen Theorie für Probleme zu ermitteln, die sich aus dem Einsatz von Arbeit ergeben. Im Rahmen der BWL Gutenberg’scher Prägung war die Beziehung relativ klar erkennbar, indem Arbeit – soweit sie nicht unmittelbaren Dispositionscharakter besaß – auf reine Produktionsfaktoreigenschaften beschränkt wurde. Hier war im Rahmen der allgemeinen, auf Kapitalrentabilität und Gewinnstreben ausgerichteten Unternehmungstheorie kein autonomer Spielraum für weitere Zielsetzungen. Die Enge bezog sich sogar auf die Annahme einer konstanten Leistung objektbezogener Arbeit, was der Realität des Arbeitsprozesses entscheidend widerspricht. Vor diesem Hintergrund steht der Versuch von Zierul1, für den Faktor „objektbezogene Arbeit“ die Lernvorgänge in die dynamische Produktionsfunktion (vom Typ C) einzubeziehen. Am Ende seiner Untersuchung wies er darauf hin, daß nun in ähnlicher Weise der Einsatz von Betriebsmitteln und Repetierfaktoren vom Produktionsbeginn an dynamisiert und damit realitätsgerechter beschrieben werden müsse. Mit diesem Ansatz wurde also nichts an der Sichtweise des ökonomischen Einsatzes von Arbeit geändert; vielmehr ging es nur um die theoretische Anerkennung der Tatsache, daß Menschen Lernphasen benötigen, auch in den Fällen, in denen sie nur sog. objektbezogene Arbeitsleistungen vollbringen. Die Begrenztheit der BWL und mit ihr die Eindeutigkeit wurden zumindest in Teilen aufgegeben, als mit der entscheidungsorientierten Wendung der Theorie ein grundsätzlich unbegrenzter Zielpluralismus als Möglichkeit ins Blickfeld trat. Man kann geradezu davon sprechen, daß das einzelne Unternehmen dem subjektiven Wollen aller Beteiligten und Betroffenen argumentativ übergeben wird.2 Auf dieser Basis ist es dann sehr leicht möglich gewesen, Arbeitnehmerziele zu integrieren, ja diese Ziele und deren Integration geradezu als Notwendigkeit motivationstheoretisch zu postulieren. An die Stelle des ursprünglich weitgehend technologischen Faktorenkonzepts für den Arbeitseinsatz tritt hier ein verhaltenswissenschaftlich-sozialtechnologisches Vorverständnis von Arbeit. Jedoch bleiben die Zusammenhänge und Konsequenzen in einzelwirtschaftlicher, 1
2
Zierul, H., Die menschliche Arbeit in einer dynamischen Produktionstheorie, Kölner Wirtschaftsund Sozialwissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 6, Köln 1974, bes. S. 97 ff., 170 ff., 260 ff. Vgl. hierzu die gründliche Untersuchung von Ortmann, G., Unternehmungsziele als Ideologie, Zur Kritik betriebswirtschaftlicher und organisationssoziologischer Entwürfe einer Theorie der Unternehmungsziele, Köln 1976.
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gesamtwirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht nach wie vor weitgehend ungeprüft, wie etwa am Beispiel der Produktionstheorie (Produktionsfunktion vom Typ C) deutlich wird.1 Damit ist auch die Argumentation von Glaeser über die „Behandlung des Arbeitsbegriffes in der Betriebswirtschaftslehre“, die sich im wesentlichen auf den Gutenberg’schen Ansatz bezieht, letztlich nicht zu revidieren.2 Dies gilt in vollem Umfang auch für die nun folgenden Vorstellungen einer institutionellen bzw. instrumentellen Theoriefixierung. Der Versuch, die Kluft zwischen Theorie und Praxis institutionell zu überwinden, gründet auf der Überlegung, über alle Gruppenziele hinaus ein Interesse an der Institution „Unternehmung“ zu postulieren. Diese Argumentation ist im Zusammenhang mit der Kritik an der AOEWL besonders von Chmielewicz3 betont worden. Auf diese Weise enthält die BWL im Kern und in den wesentlichen Teilbereichen einen systemindifferenten, interessenneutralen Aussagenbezug. Da jedoch ungeklärt bleibt, „ob und inwieweit die Institutionenthese nur das Resultat von einander überschneidenden und miteinander unverträglichen Zielen der verschiedenen Interessen darstellt (...), läßt sich die sachlich orientierte Institutionenthese doch wieder auf divergierende persönliche Interessen zurückführen und aus ihnen erklären.“4
Von daher ist es einsichtig, wenn Chmielewicz den institutionellen durch einen instrumentellen Ansatz ergänzt, was jedoch dazu führt, die Leerformel Institution durch die Leerformel Individualziele aller Interessenten zu ersetzen.5 In jedem Fall – und hier von Bedeutung – ist jedoch die Instrumentalthese gruppenbezogen, was zwangsläufig zu der bereits dargestellten Integration von Arbeitnehmerzielen führt, eingeengt auf einen thematisch nicht hinterfragten Rahmen historischer und gegenwärtiger gesellschaftlicher Bedingungen von Produktion, Verteilung und Verbrauch. Erst auf dieser Grundlage kann Chmielewicz6 die folgende Aussage formulieren: „Die Betriebswirtschaftslehre heutiger Prägung würde in ihren materiellen Grundprinzipien nicht wesentlich anders aussehen, wenn eine nur vom Staat oder nur von Arbeitnehmern oder Gewerkschaften beherrschte Wirtschaftsordnung entstände, es sei denn, man verhindere durch
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Vgl. für den Bereich der Produktionstheorie die Kritik von: Reichwald, R., Die menschliche Arbeit in der betriebswirtschaftlichen Produktionstheorie – Eine methodologische Analyse – Diss. München 1973, S. 69 ff. Vgl. Glaeser, B., Zum Verhältnis von Entscheidungsorientierter Betriebswirtschaftslehre und Philosophie, in: ZfB 40 (1970), S. 665-676, bes. S. 670 ff. In diesem Zusammenhang sei auch verwiesen auf die Untersuchung von Staehle, W. H., Die Stellung des Menschen in neueren betriebswirtschaftlichen Theoriesystemen, in: ZfB 45 (1975), S. 713-724. Vgl. Chmielewicz. K. Ebenda, S. 55. Ebenda, S. 57. Ebenda, S. 76.
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Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre Anwendung politischer Macht Verbreitung und Durchsetzung betriebswirtschaftlicher Gedanken.“
Wie ist dieser Diskussionsstand zu bewerten, der zum additiven Gruppenbezug von Interessen und zur weitgehenden Ausklammerung der gesellschaftlichen/gesamtwirtschaftlichen Bedingung des ökonomischen Prozesses führt? Diese Mängel müssen dazu führen, daß sich die Ergebnisse als verkürzt und einseitig erweisen, denn die Zusammenhänge sind in der Realität vorhanden und wirken damit bei Anwendung der Theorien über Funktionsbeziehungen, Entscheidungsstrukturen u.ä. Solange diese Verbindungen nicht theoretisch abgebildet werden, bleibt dieser Ansatz auf die Registrierung und Addierung von Gruppeninteressen und deren Umsetzung im Rahmen der herrschenden Machtverteilung beschränkt, bleibt Arbeit ein prinzipiell gleichrangiger Produktionsfaktor neben anderen, nach den gleichen Regeln kalkuliert und für den Einsatz vorbereitet. Mit Recht weist daher Ortmann in seinem Beitrag zum „Theoriestatus der Betriebswirtschaftslehre“ anhand der Auseinandersetzung mit der AOEWL darauf hin, daß es nicht möglich ist, eine Sozialtechnologie zu entwickeln, in der Gesellschaftstheorie nicht mehr enthalten sei.1 Daß dieser Vorwurf teilweise auch für das bisherige Konzept der AOEWL gilt, ist nicht zu leugnen. Demgegenüber erscheint die Aussage von Schwiering/Kaminski weit überzogen, wenn es heißt, daß die Gesellschaftstheorie „in der AOEWL nicht einmal angegangen wird“ und daß der Maßstab der emanzipatorischen Rationalität im Sinne einer Selbstverwirklichung der Arbeit „zur theoretischen Perspektive einer ZweckMittel-Rationalität verkümmert.“2 Im folgenden wird versucht, den arbeitsorientierten Anspruch in dieser Hinsicht deutlicher herauszuarbeiten.
2.2 Arbeitsorientierte Rationalität Nach den methodologischen Darstellungen erscheint es möglich und zulässig, den Versuch einer neuen, auf Arbeit ausgerichteten Orientierung der wirtschaftlichen Forschung zu machen, wenn hiervon neue und bessere Ergebnisse zu erwarten sind. Dabei sei deutlich darauf hingewiesen, daß selbstverständlich jede wirtschaftswissenschaftliche Theorie im allgemeinen bzw. jede einzelwirtschaftliche Theorie im besonderen explizit oder implizit Aussagen zur Bedeutung der Arbeit im Rahmen der jeweiligen Theorie enthält. Insofern kann es im folgenden auch nicht um die erstmalige Berücksichtigung der Arbeit gehen, sondern „lediglich“ um den Versuch, die Kategorie Arbeit in den Mittelpunkt der Theoriebildung zu stellen. Demzufolge sind die einzelnen Theorien daraufhin zu befra1 2
Ortmann, G., Zum Theoriestatus der Betriebswirtschaftslehre, in: Mehrwert, Bd. 9, 1975, S. 46. Schwiering, D./ Kaminski, U., S. 228.
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gen, welche Rolle sie der Arbeit bei der Erklärung und Prognose des ökonomischen Prozesses zuweisen. Sofern diese Theorien die Realität hinlänglich genau widerspiegeln, kann man von da aus auf die Bedingungen schließen, unter denen der Einsatz von Arbeit im ökonomischen Prozeß steht. Für diese Bedingungen läßt sich jedoch nicht die Theorie verantwortlich machen, vorausgesetzt sie erfüllt ihre Funktion zur Offenlegung und nicht zur Verschleierung dieser Bedingungen. Rationales Handeln bzw. das Rationalprinzip können dem Versuch einer Neuorientierung nicht zugrunde gelegt werden, denn dabei bliebe die Frage nach dem Bezugspunkt, nach dem Maßstab ökonomischen Handelns völlig unbestimmt. Geht man davon aus, daß die ökonomische Wissenschaft noch einen speziellen Untersuchungsgegenstand besitzt, dann bedarf es als Maßgröße einer ökonomischen Rationalität. Godelier1 führt hierzu aus: „Sie (die ökonomische Rationalität, N.K.) impliziert die Aufforderung, die spezifischen Strukturen der Produktion, Verteilung und Konsumtion materieller Güter innerhalb einer bestimmten Gesellschaft, d.h. das ökonomische System dieser Gesellschaft und dessen innere Beziehungen zu den anderen gesellschaftlichen Strukturen zu definieren.“
Damit wird die ökonomische Rationalität zum Maßstab, zur Orientierung in dem unübersichtlichen Geflecht von Fakten und Beziehungen innerhalb der Ökonomie, um die Auswirkungen auf den einzelnen, die Gesellschaft und die Natur zu ermitteln. Als dominierendes Bezugssystem besteht noch immer das mit der bürgerlichen Revolution und der Entwicklung kapitalistischer Wirtschaftsformen entstandene sozialphilosophische Konzept des Utilitarismus. Dabei setzt sich der individuelle Eigennutz in ökonomischer Hinsicht über Marktbeziehungen um, gesteuert durch Kapitalgrößen. Den einzelnen autonomen Unternehmen fällt hierbei die zentrale Funktion im ökonomischen Kontext zu. Nachdem die Konstruktion der individuell zu verfolgenden Nutzenmaximierung als beste Form gesellschaftlicher Wohlfahrt widerlegt wurde und die Reibungsverluste zunehmen, ist auch die damit verbundene Kapitalrationalität kritisch zu hinterfragen.2 Da diese Rationalität der theoretischen Abbildung des unternehmerischen Handelns ursprünglich allein zugrunde lag und gegenwärtig über verschiedene Formen abgeschwächt hat, so stellt sich die Frage, ob die für das einzelwirtschaftliche Handeln zuständige Wissenschaft nicht ein neues, ökonomisch bestimmbares Bezugssystem für die Theoriebildung zu suchen hat. Dies können weder formale 1 2
Godelier, M., Rationalität und Irrationalität in der Ökonomie, Frankfurt am Main 1972, S. 35 f. Vgl. zu dieser Argumentation, die zwar nicht betriebswirtschaftlich ist, aber in deren Zusammenhang Betriebswirtschaft immer nur stattfinden kann, als allgemeine Literaturhinweise: Smith, A., Theorie der ethischen Gefühle (1759), dt: Frankfurt am Main 1949; Medick, H., Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1973; Kramm, L., Die politische Wissenschaft der bürgerlichen Gesellschaft, Berlin 1975. Als zusammenfassende Darstellung sei verwiesen auf: Koubek, N., Plädoyer für eine ökonomische Anthropologie auf der Grundlage von Interessen, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. LX (1974), hier S. 342-347.
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Rationalprinzipien noch Entscheidungsprozesse sein, da sich auf diese Weise keine Fixierung auf den ökonomischen bzw. enger, den einzelwirtschaftlichen Untersuchungsgegenstand erreichen läßt. In diesem Beitrag ist vorgeschlagen worden, die Kategorie „Arbeit“ als Grundlage der einzelwirtschaftlichen Theoriebildung zu machen, und es ist nun zumindest anzudeuten, wodurch die Hinwendung zu einer arbeitsorientierten Theorie gerechtfertigt ist. Arbeit läßt sich definieren als das sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Verhältnis, durch das die ökonomischen Vorgänge der Produktion, Distribution und Konsumtion stattfinden.1 Geht man davon aus, daß der Sektor Ökonomie dazu dient, die Versorgung des Einzelnen und der Gesellschaft als Ganzes mit materiellen Gütern und Diensten sicherzustellen, und berücksichtigt die Bedeutung der Arbeit für den Lebensvollzug des Einzelnen, so zeigt sich, daß über die Kategorie Arbeit wesentlich besser als über die Kategorie Kapital erstens die ökonomischen Zusammenhänge aufgezeigt und zweitens die Beziehungen zwischen Ökonomie und anderen Praxisbereichen sowie Wissenschaftszweigen vermittelt werden können. Arbeit wird in diesem Sinne als diejenige Kategorie verstanden, die sowohl ökonomisch (mikro- und makroökonomisch) als auch außerökonomisch-sozialwissenschaftlich als Bezugspunkt für ein wissenschaftliches Aussagensystem verwendet werden kann. Dieser für den arbeitsorientierten Ansatz zentrale Gedanke kann im Rahmen dieser Untersuchung leider nicht vertieft werden; lediglich auf einige relevante Literatur sei verwiesen, in der philosophische, soziologische, sozialpsychologische, anthropologische, sozialgeschichtliche, rechtliche und ökonomische Aussagen zu finden sind.2 Die sozialphilosophische Verankerung der Arbeit kann sich auf verschiedene Weise vollziehen. Dem Konzept der AOEWL liegt eine Ausrichtung der Arbeit zugrunde, in der sich die individuelle und gesellschaftliche Dimension gegenseitig bedingen, nicht hingegen im Verhältnis von Unterordnung bzw. Überordnung erscheinen. Bezüglich der gruppenmäßig-institutionellen Verankerung geht das Modell von einem pluralistisch-demokratischen Willensbildungsprozeß aus, im Zuge dessen die Bestimmung der arbeitsorientierten Rationalität in ei1
2
Vgl. zum Arbeitsbegriff in den Wirtschaftswissenschaften: Elster, K., Über „Arbeit“ und „Leistung“, in: ders., Vom Strome der Wirtschaft, T. 1, Jena 1931, S. 129-203, bes. S. 188 ff. Vgl. hierzu: Arendt, H., Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960; Barzel, A., Der Begriff „Arbeit“ in der Philosophie der Gegenwart, Europäische Hochschulschriften, Reihe XX, Bd. 4, Bern/ Frankfurt am Main 1973; Glaeser, B., (Verhältnis), S. 665-676; Kwant, R.C., Der Mensch und die Arbeit, München 1968; Lukács, G., Ontologie-Arbeit, Neuwied/ Darmstadt 1973; Marcuse, H., Über die philosophischen Grundlagen des wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitsbegriffs, in: ders., Kultur und Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt am Main 1968, S. 7–48; Marx, K., Ökonomischphilosophische Manuskripte von 1844, abgedruckt in: Karl Marx, Texte zu Methode und Praxis II, Reinbek 1968, S. 7–133; Preller, L., Sozialpolitik, Theoretische Ortung, Tübingen 1962; Reichwald, R.; Sohn-Rethel, A., Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis, Frankfurt am Main 1972; Thomas, K., Analyse der Arbeit, Stuttgart 1969; van der Ven, F., Sozialgeschichte der Arbeit, 3 Bde., München 1972.
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nem offenen Dialog erfolgen soll1, jeder Objektivitätsanspruch bei der Erfassung gesellschaftlicher Prozesse wird ausdrücklich zurückgewiesen. Vor diesem Hintergrund ist der Vorwurf von Hax2 völlig unhaltbar, mit dem er den Verfassern der AOEWL unterstellt, einem Gesellschaftbild im Sinne der Zentralverwaltungswirtschaft anzuhängen und objektive Interessen der Arbeitnehmer ermitteln zu wollen. Diese Unterstellung war nur möglich, weil Hax erstens von einem bestimmten Denkschema „Marktwirtschaft – Zentralverwaltungswirtschaft“ auszugehen scheint und zweitens bei der Auseinandersetzung über den verwendeten Interessenbegriff zunächst die logische Klarheit der auf marxistischer Basis beruhenden Ableitung von objektiven Interessen hervorhebt, wie sie aus marxistischer Sicht gegen das Konzept der AOEWL vorgetragen wurde, diese Ableitung dann jedoch den Verfassern der AOEWL-Studie unterschiebt. Da Hax offensichtlich die Einordnung des in der AOEWL enthaltenen offenen Ansatzes, der sich sowohl auf das Menschenbild als auch auf die Gesellschaftsvorstellungen bezieht, nicht gelungen ist, verwendet er den Rückgriff auf die marxistische Ableitung. Damit wird für ihn einordbar, „was die Verfasser wollen, welches Menschenbild sie ihrer Analyse zugrunde legen, wie die von ihnen angesteuerte gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung beschaffen ist.“3 Eine solche Argumentationsverkettung ist schlicht als unzulässig zu bezeichnen.
3
Interesse und Normativismus
Aus dem Voranstehenden wurde deutlich, daß die Einlösung des Anspruchs einer arbeitsorientierten Theorie nicht durch die unmittelbare Einführung gruppenspezifischer, auf Arbeitnehmer bezogenen Ziele erfolgt, vielmehr gilt es, zunächst eine Verbindung zwischen den abstrakten Kategorien Arbeit und arbeitsorientierter Rationalität sowie dem ökonomischen Untersuchungsgegenstand herzustellen. Hierbei gehen die gesellschaftlichen und anthropologischen Bedingungen von Bedürfnis, Interesse, Macht, Herrschaft, Entfremdung und Selbstverwirklichung bei der Analyse des ökonomischen Prozesses in die Untersuchung ein.
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Vgl. auf der Basis der kritischen Theorie Frankfurter Prägung Kappler, E., Zum Theorie-PraxisVerhältnis einer noch zu entwickelnden kritischen Theorie der Betriebswirtschaftspolitik, in: Ulrich, H. (Hrsg.), Zum Praxisbezug der Betriebswirtschaftslehre, Bern/ Stuttgart 1976, S. 107-133. Hax, K., S. 800 ff. Ebenda, S. 802.
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3.1 Arbeitsorientierte Interessen Die arbeitsorientierten Interessen eignen sich als analytische Größen, um das Spannungsverhältnis zwischen der arbeitsorientierten Rationalität und den in einer bestimmten historischen Situation handelnden Individuen und Gruppen zu kennzeichnen. Diese Interessen sind somit wandelbar, abhängig von der gesellschaftlichen Entwicklung als Ganzes und in den einzelnen Wirtschaftsorganisationen sowie von der Stellung des Einzelnen und der Gruppen zueinander in der Gesellschaft. Die arbeitsorientierten Interessen in ihren unterschiedlichen Formen der Ausgestaltung konkretisieren damit die arbeitsorientierte Rationalität. Nach deren Formulierung sind diese Interessen dann in verschiedenen Indikatoren in sozialer, ökonomischer, technischer und ökologischer Hinsicht zu operationalisieren und als solche in die Zielfunktionen der Unternehmungen einzustellen. Eine solche Vorgehensweise läßt sich auch als heuristisches Verfahren verwenden, um auf der Ebene der Interessen für diejenigen Gruppen ein neues, bisher nicht realisiertes Anspruchsniveau zu formulieren, die innerhalb des ökonomischen Prozesses die Position ihrer Interessenumsetzung verbessern wollen. Dies werden für den Bereich der Wirtschaft zum überwiegenden Teil die abhängig Beschäftigten und ihre Organisationen sein, doch ist es grundsätzlich möglich, daß hierfür auch andere gesellschaftliche Gruppen eintreten. Damit verbindet sich das arbeitsorientierte Interesse bei den abhängig Beschäftigten mit einem Anspruch auf gesellschaftliche Emanzipation, was in der AOEWL-Studie im Begriff der emanzipatorischen Rationalität zum Ausdruck kommt. Insgesamt wird es nicht unrealistisch sein anzunehmen, daß diejenigen Gruppen, die ihre gesellschaftliche Stellung bzw. ihre Beteiligung am gesellschaftlichen Arbeitsprozeß nicht unmittelbar aus dem Einsatz von Arbeit ableiten, sich der Konkretisierung und Umsetzung der arbeitsorientierten Rationalität durch diese arbeitsorientierten Interessen widersetzen. Wer beispielsweise über Kapital verfügt, vom Kapitaleinkommen lebt bzw. seine Legitimation von den Dispositionsrechten aus Kapital ableitet, wird die Bedingungen des gesellschaftlichen Arbeitseinsatzes in der Regel auch künftig in dem Rahmen zu halten versuchen, der durch optimale Verwertungsbedingungen des eingesetzten Kapitals vorgezeichnet ist. Dies macht deutlich, daß auf der Ebene der Gruppeninteressen die Einheit des Untersuchungsgegenstandes ‘arbeitsorientierte Rationalität’ auseinanderbricht, und je nach dem gesellschaftlichen Verhältnis, in dem die Einzelnen und Gruppen leben, unterschiedliche Ausgestaltungen auftreten. Aber auch innerhalb der Gruppen im allgemeinen bzw. der Gruppe der abhängig Beschäftigten im besonderen ist davon auszugehen, daß es in einem Prozeß der Willensbildung bei der inhaltlichen Bestimmung zu Zielkonflikten kommt. Auf diese Konflikte
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wurde in der Studie zur AOEWL deutlich hingewiesen und Chmielewicz1 hat die „Konflikte bei Arbeitnehmerzielen“ – unter sehr restriktiven Rahmenbedingungen – ausführlich dargestellt. Als Beispiel für das Ausmaß an Restriktion sei auf folgenden Satz verwiesen: „Hier wird zusammenfassend die These vertreten, daß im Grunde das kapitalistische Einkommensstreben ein von der Person und Wirtschaftsordnung unabhängiges Streben nach materiellem Nutzen des Menschen ist.“2
Kritik an der AOEWL, meiner Ansicht nach weitgehend zu recht, wird von mehreren Autoren an der Unbestimmtheit der gesellschaftstheoretischen Aussagen geübt, soweit sie sich auf das Verhältnis und die Konfliktsituation von Macht, Herrschaft, Bürokratie, Legitimation und Selbstentfaltung des Einzelnen beziehen.3 Gerade die Kritik zu diesem Themenkreis dürfte jedoch stark von der inhaltlichen Unbestimmtheit des Begriffs „arbeitsorientiert“ geprägt worden sein, woraus sich dann das Mißverständnis ableitete, als gehe es darum, die BWL als lediglich der falschen Seite verpflichtet anzuprangern und anschließend umzufunktionieren. Zieht sich die BWL jedoch auf den gruppenbezogenen entscheidungsorientierten Ansatz zurück, so steht der Vorwurf nach wie vor, die Arbeitnehmer bisher in den betriebswirtschaftlichen Modellbildungen vernachlässigt zu haben. Eine Sackgasse der Argumentation entsteht, wenn dem in der AOEWL mehrdeutigen Begriff des arbeitsorientierten Interesses von Chmielewicz4 der Begriff des „Institutionsinteressses“ und von Hax5 derjenige des „Allgemeininteresses“ entgegengesetzt wird. Die Einführung dieser Ausdrücke stellt in beiden Fällen eine Argumentation mit Leerformelcharakter dar, vor deren Verwendung in der betriebswirtschaftlichen Literatur vor kurzem Röber6 nachdrücklich warnte. Demgegenüber erscheint die Benutzung der Arbeit als anthropologische und gesellschaftliche Kategorie für die Analyse ökonomischer Verhältnisse und deren modelltheoretische Abbildung dann fruchtbar, wenn sich daran eine Konkretisierung über die arbeitsorientierte Rationalität bis hin zu den gruppenspezifischen Interessen anschließt. Auf dieser Ebene treten dann Arbeitnehmerinteressen, Unternehmerinteressen, Konsumenteninteressen u.a. in Erscheinung, wobei deren Träger in unterschiedlicher Weise zur Kategorie Arbeit in Beziehung stehen. Daß diese Zusammenhänge in dem Konzept der AOEWL sehr unvollständig bzw. geradezu mißverständlich behandelt wurden, ist bei der inhaltlichen Be1 2 3
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Vgl. Chmielewicz K., S. 133-224. Ebenda, S. 134. Vgl. im einzelnen: Fischer-Winkelmann, W. F./ Rock, R., S. 251 f.; Hax, K., S. 801 f., S. 806 f.; Kappler, E., S. 178 f.; Ortmann, G., S. 46; Rotter, F., S. 128. Vgl. Chmielewicz, K., S. 52. Vgl. Hax, K., S. 801; ders., S. 92 f., 95 ff. Vgl. Röber, M., Betriebswirtschaftslehre und Interesse-Begriff, Arbeitspapier Nr. 6/ 75 des Instituts für Unternehmensführung im Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der FU Berlin, S. 21, 26.
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stimmung des Begriffs „arbeitsorientiert“ bereits deutlich geworden und dürfte wesentlich zur jetzigen Verwirrung bei der Auseinandersetzung mit diesem Ansatz beigetragen haben.
3.2 Normativismus Die Konzeption der AOEWL führte gelegentlich zur Klassifizierung als ethischnormative bzw. bekennend-normative Theorie.1 Dies ist jedoch insofern falsch, als von den Wissenschaftlern zu den Zielfunktionen der abhängig Beschäftigten ebenso wenig Bekenntnisse gefordert werden wie umgekehrt zu den Zielfunktionen von Kapitaleigentümern und Management im Rahmen der jetzigen Theorien. Hierauf weisen auch Ackermann2 und Chmielewicz3 sowie in allgemeiner Hinsicht Raffée4 hin. Im übrigen sei auf die wissenschaftstheoretischen Ausführungen in Punkt 1 dieses Beitrags verwiesen, wo die Möglichkeiten hypothetischnormativer Aussagen im Rahmen des sog. Werturteilsfreiheitspostulats behandelt sind. Anders stellt sich die Frage des Normativismus dann, wenn es um die Orientierung der Forschung im Sinne der Kategorie Arbeit geht. Hier steht das Problem des wissenschaftlichen Paradigmas zur Diskussion, das bei der Analyse bestimmter sozialer, ökonomischer und gesellschaftlicher Strukturen verwendet wird.5 Als Beispiele sei auf die Analyse der gegenwärtigen Gesellschaften unter der Kategorie „Kapitalverhältnisse“, der mittelalterlichen Gesellschaften unter der Kategorie „Lehensverhältnisse“ und von antiken Gesellschaften unter der Kategorie „Sklavenwirtschaft“ hingewiesen. Zwar besteht ein wesentlicher Unterschied darin, daß bei einer Forschung auf der Grundlage der Kategorie „Arbeit“ ein nur rudimentär vorhandenes eigenständiges ökonomisches System als Untersuchungsgegenstand ausgewählt wird, während die bestehenden und die vergangenen Gesellschaften historisch nachzeichenbar sind. Sofern man jedoch davon ausgeht und dies wissenschaftstheoretisch akzeptiert, daß Wissenschaft über den status-quo unter Benutzung von Arbeitshypothesen hinausführen kann, liegt hierin kein einschränkendes Element des Forschens. Im übrigen läßt sich zeigen, daß die Realität gerade in den Unternehmen bereits in höherem Maße „arbeitsorientiert durchsetzt“ ist, als es in der herrschenden BWL zum Ausdruck kommt. Immerhin gibt es in der BRD seit fast 30 Jah1
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Ackermann, F.-K., S. 77; Vodrazka K., Wirtschaftlichkeit und neuere Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre, in; ZfbF 28 (1976), S. 46, Anm. 17. Ackermann, F.-K., S. 77-79. Chmielewicz, K., S. 115 ff. Raffée, H., S. 44 ff. Vgl. Kuhn, T. S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main 1973, bes. S. 68-78 sowie von einem anderen methodischen Ansatz herkommend: Vollmer, G., Evolutionäre Erkenntnistheorie, Stuttgart 1975.
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ren in zwei Wirtschaftszweigen die qualifizierte Mitbestimmung und seit fast 25 Jahren die Drittelbeteiligung in den Aufsichtsräten der übrigen Kapitalgesellschaften, die nicht ohne Wirkung auf die Unternehmenspolitik geblieben sind. Staatliche Gesetzgebung im Bereich der Sozialpolitik, Regelungen in den Tarifverträgen und vereinzelte freiwillige Aktivitäten von Unternehmerseite kommen als Ausgangspunkte gleichfalls in Betracht. Neben dieser an Praxis orientierten Forschung gilt es, die bisherige betriebswirtschaftliche Modellbildung daraufhin zu untersuchen, in welcher Weise sie den ökonomischen Prozeß unter der Kategorie Arbeit reflektiert hat. Dies kann nur im Rahmen einer offenen Diskussion erfolgen, die sich z.B. für das Gutenberg’sche Faktorenkonzept mit der Aussage auseinandersetzt, daß die Leistungserstellung nur unter der darin verwendeten Form der Abbildung von Arbeit im Sinne einer Unterdrückung des emanzipatorischen Anspruchs möglich ist. Ähnliches gilt für den produktionstheoretischen Ansatz von Heinen, während sich die Aussagen zu den Funktionsbereichen der Organisation und Personalwirtschaft innerhalb der entscheidungsorientierten BWL unter der genannten Fragestellung wesentlich davon abheben. Somit bestehen zahlreiche Ansatzpunkte künftiger Forschung an konkreten Fragestellungen aus arbeitsorientierter Perspektive und insofern ergibt sich auch Übereinstimmung mit Hax1. Dies ist jedoch nicht als Antithese zur AOEWL zu verstehen, sondern als inhaltliche Ausfüllung eines auf allgemeinerer Ebene entwickelten Rahmens. Ansonsten besteht die Gefahr der verkürzten, auf den status-quo fixierten sozialtechnologischen Konzeption, wofür gerade Chmielewicz zahlreiche Beispiele bietet, von denen eines bereits zitiert wurde2. Von Hax3 seien die beiden folgenden Sätze wiedergegeben, für die das gleiche gilt: „Es geht politisch nunmehr darum, die „qualifizierte“ Mitbestimmung auf alle Großunternehmen auszudehnen und sie so dauerhaft in unserem Wirtschafts-System zu verankern. Voraussetzung ist dabei, daß sich diese Form der Mitbestimmung reibungslos in das System der Marktwirtschaft einbauen läßt.“
4
Arbeitsorientierter Ansatz im Theoriensystem von VWL und BWL
Da sich das bisher Dargestellte in hohem Maße auf der Ebene von Wissenschaftstheorie und Methodologie bewegte, ergibt sich bis hierher kein Unterschied in der Behandlung einzelwirtschaftlicher oder gesamtwirtschaftlicher Probleme. Beide sind nach diesem Ansatz auf die Arbeit auszurichten als der zentralen, anthropologisch und gesellschaftlich vermittelten ökonomischen Kategorie. 1 2 3
Vgl. Hax, K., S. 808 f. Vgl. Chmielewicz, K., S. 134 Hax, K., S. 807. Hervorhebung durch den Autor
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Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
4.1 Verhältnis von Theorie der Einzelwirtschaft und Gesamtwirtschaft Warum, so ist zu fragen, wird bei einem Ansatz, der so stark über die Einzelwirtschaften hinausreichende Probleme thematisiert, die Einzelwirtschaft überhaupt einbezogen. Sollte man nicht im Sinne von W. Engels1 verfahren, der vorschlug, erst die Gesellschaft zu ändern und dann die entsprechende BWL zu entwickeln oder dem Vorschlag von Kappler2 folgen und von einer arbeitsorientierten Gesamtwirtschaftslehre sprechen? Auf unser Problem angewendet, heißt die Forderung von Engels: Entwicklung getrennter Ansätze für anthropologische, gesellschaftliche, gesamt- und einzelwirtschaftliche Problemfelder, wobei sich einzelwirtschaftliche Theorien auf einen abhängig bestimmten Gegenstand beziehen und zuletzt entwickelt werden. Gerade hiergegen erhebt jedoch Kappler ausdrücklich Einspruch. Dieses Verfahren erscheint für einen Ansatz, der neue Grundbeziehungen im Rahmen der Ökonomie ermitteln und entwickeln will, auch deshalb nicht gangbar, weil in jeder der genannten Wissenschaften die jeweils anderen mit enthalten sind und ein isolierendes Vorgehen hier genau das Aufsuchen von neuen Zusammenhängen unterbinden würde. Außerdem weist die Praxis in Teilen bereits einen eigenständig bestimmten Anspruch arbeitsorientierter Rationalität auf, der sich in den Rahmen der herrschenden Lehre nur derivativ einordnen läßt. Darüber hinaus ist festzuhalten, daß die bisherige Trennung zwischen den Wissenschaften keine zwangsläufige Entwicklung darstellt, sondern mit dem jeweiligen Erkenntnisinteresse und dem Verwertungsinteresse wissenschaftlicher Ergebnisse im Zusammenhang steht. Unbestreitbar ist, daß jeder ökonomische Vorgang im Sinne von Produktion Distribution und Konsumtion materieller Güter und Dienste spezielle Probleme für die erzeugenden, verteilenden und konsumierenden Wirtschaftsorganisationen aufwirft und von daher eine spezielle Ausrichtung der Wissenschaften erfordert. Dies darf jedoch nicht dazu führen, die übergreifenden Fragen zu unterdrücken bzw. in ein nicht bearbeitetes und zuständigkeitsmäßig nicht verteiltes Grenzgebiet abzuschieben, da sie weder rein einzelwirtschaftlich, gesamtwirtschaftlich, anthropologisch oder gesellschaftlich ausgerichtet sind. Geschieht dies dennoch, so erfolgt die Zusammenfassung der Partialergebnisse dann nur noch in einem theoretisch nicht mehr reflektierten Praxisfeld. Genau dies liegt z.B. vor, wenn sich die BWL nur mit einzelwirtschaftlichen Problemen der Beschäftigten, Investition und Finanzierung befaßt, obwohl hiermit zwingend auch gesamtwirtschaftliche Beschäftigungs-, Investitions- und Finanzierungsvorgänge festgelegt werden sowie nichtökonomische Konsequenzen verbunden sind. Daher gilt, von den einzelnen fachspezifischen Wissen1
2
Vgl. Engels, W., in: WSI Studie Nr. 24: Arbeitsorientierte Einzelwirtschaftslehre contra Kapitalorientierte Betriebswirtschaftslehre, Köln 1973, S. 237. Vgl. Kappler, E., S. 38, 40.
A Arbeitsorientierte Theorie der Unternehmung
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schaften aus den gesamten Untersuchgungsgegenstand zu reflektieren. Zentral muß dabei jedoch der ökonomische Gegenstand bleiben. Auf die BWL angewendet bedeutet dies erstens die Überwindung bzw. Neuverteilung der bestehenden wissenschaftlichen Arbeitsteilung zwischen einzel- und gesamtwirtschaftlichen Fragestellungen, zweitens die Einbeziehung bes. sozialer und ökologischer Untersuchungsgegenstände. Beides wäre mit einem auf die Arbeit bezogenen Paradigma rekonstruierbar. Es kommt jedoch ein mehr gesellschaftstheoretischer Gesichtspunkt hinzu: Indem in der AOEWL der Anspruch auf eine gegenüber der Kapitalrationalität geänderte Rationalität erhoben wird, ist es erforderlich, die Art der Veränderung in den davon vorrangig betroffenen Wirtschaftsorganisationen theoretisch zu skizzieren. Da gesamtwirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel bei starren einzelwirtschaftlichen Strukturen evolutorisch nicht möglich ist – vielmehr dann lediglich langfristig, und zwar eruptiv – so gilt es, unter der Prämisse einer gesellschaftlichen Reformstrategie die Änderungen und Änderungsmöglichkeiten gerade auch im mikroökonomischen Bereich der Wirtschaft zu untersuchen. Hierzu stellen die BWL bzw. eine veränderte Einzelwirtschaftslehre die geeigneten Anknüpfungspunkte dar. Darüber hinaus verliert die Trennung zwischen einzelwirtschaftlichen, gesamtwirtschaftlichen und nichtökonomischen Fragen im Rahmen des entwickelten Ansatzes ohnehin an Schärfe.
4.2 Verhältnis der AOEWL zum jetzigen Theoriesystem der BWL Die betriebswirtschaftliche Kritik an der AOEWL ist, soweit sie von Vertretern der entscheidungsorientierten BWL vorgetragen wurde, verbunden mit der Vorstellung, diesen Ansatz auf der Basis von Arbeitnehmerzielen in die herrschende BWL zu integrieren, gleichsam als einen von verschiedenen Schwerpunkten einer gruppenbezogenen Entscheidungstheorie. Ungeklärt ist nach der jüngsten Veröffentlichung von Heinen/Dietel1, in welcher Weise diese gruppenbezogen ausgerichteten Ergebnisse integriert werden können, wobei von den beiden Autoren die selbständigen, auf einzelne Gruppen bezogenen Ansätze abgelehnt werden. Dies führe zu einer Aufsplitterung des gesamten Faches, indem entweder ein Wissenschaftler mehrere Rollen spielt, „oder aber es müßten sich unterschiedliche Fachvertreter zu Anwälten verschiedener Interessen machen und ihnen diejenigen „Waffen“ liefern, mit deren Hilfe sie sich in der sozialen Auseinandersetzung durchsetzen könnten.“2
1
2
Heinen, E./ Dietel, B., Zur „Wertfreiheit“ in der Betriebswirtschaftslehre, T. 2, in: ZfB 46 (1976), S. 114 f. Ebenda, S. 115.
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Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
Da diese beiden Autoren jedoch auch begründeten Zweifel daran haben, „ob und inwieweit sich Problemsituationen so definieren lassen, daß sie den häufig unterschiedlichen Interessen aller Koalitionsteilnehmer gerecht werden“1, so wird der Leser ihres Beitrags in dieser Hinsicht völlig orientierungslos entlassen. Die Ausführungen zum Selektivitäts- und Objektivitätspostulat, verbunden mit der Aufforderung zur Transparenz und Toleranz können hier nicht weiterhelfen, zumal sie erkenntnistheoretisch wohl kaum haltbar sind. Die im Voranstehenden vorgeschlagene Lösung des Problems besteht hingegen darin, den ökonomischen Prozeß auf den Einsatz von Arbeit zu beziehen, und eine arbeitsorientierte Theorie stellt dann den Versuch dar, die Abbildung aller ökonomischer – hier einzelwirtschaftlicher – Zusammenhänge über die Kategorie Arbeit zu vermitteln. In dem Anspruch auf Eigenständigkeit dieses Ansatzes kommt insbesondere zum Ausdruck, daß die Auflösung von kapitalbezogenen Macht- und Herrschaftsansprüchen im Rahmen der neueren betriebswirtschaftlichen Theorien nicht umfassend berücksichtigt bzw. gar nicht versucht werden kann. Dies bedeutet nicht, daß der arbeitsorientierte Ansatz sich nicht der entscheidungsorientiert-verhaltenswissenschaftlichen und entscheidungslogischen Modelle bedienen kann. Dabei entsteht zwar die Gefahr, mit den Begriffen und Funktionsbeziehungen auch Inhalte zu übernehmen, worauf Staehle2 zu Recht hinweist. Doch es besteht niemals die Möglichkeit, einen Neubeginn in theoretischer Hinsicht auf unbeflecktem Boden zu beginnen. Gerade wenn man davon ausgeht, daß es ein Entwerfen künftiger Sozialstrukturen auf dem Reißbrett nicht gibt, ja nicht geben kann, so ist der Weg von den mikroökonomischen Produktionsorganisationen mit den dort herrschenden eingeengten Rationalitätsbedingungen und der fortwährenden Herausforderung, diese zu überwinden, besonders geeignet, falsche Utopien zu meiden. Notwendig ist jedoch ein Maßstab als Orientierung, und dieser wird in der Rationalität der Arbeit gesehen, wobei sich diese Rationalität aufgrund von Gesellschaftsanalysen und anthropologischen Studien ergeben hat. Insofern kann man von einer arbeitsorientierten Inanspruchnahme von betriebswirtschaftlichen Theoriesystemen sprechen. Im übrigen sind weite Teile dieser Theorie auf die Herausarbeitung von entscheidungslogischen Kalkülen, auf die Entwicklung und Anwendung von Methoden der Systemanalyse und des Operations Research bezogen. Die entsprechenden Modelle leiten sich damit aus den Formalwissenschaften ab, bei denen es nur um logische Wahrheitsaussagen geht.3 Daß auf diese Formalwissenschaften im Rahmen eines arbeitsorientierten Theorieansatzes nicht verzichtet werden kann, bedarf keiner besonderen Begründung. Die Herausarbeitung neuer und ergänzender Kalkülformen wird davon nicht berührt. 1 2 3
Ebenda, S. 114. Vgl. Staehle, W. H., S. 723. Vgl. Raffée, H., S. 21 ff.
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A.4 Arbeit und ökonomische Rationalität in der Wirtschaftspolitik*
1
Begrifflicher Rahmen
Bevor auf das Verhältnis von Arbeit und Wirtschaftspolitik näher eingegangen werden kann, ist zu ermitteln, worauf sich beide Begriffe beziehen.
1.1 Kategorien der Arbeit Arbeit ist die Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft, da hierdurch die Menschen in Auseinandersetzung mit der Natur die materielle Basis des individuellen und gesellschaftlichen Lebens in Form von Gütern und Dienstleistungen sichern. Diese zentrale Bedeutung der Arbeit bildet bei den Klassikern der Nationalökonomie (z.B. Smith, Ricardo, in dieser Hinsicht auch Marx) die Grundlage zur Analyse der modernen warenproduzierenden Gesellschaften. Unterdessen dient dieser Ausgangspunkt nach Godelier1 allenfalls noch für die Analyse nichtwarenproduzierender vorindustrieller Gesellschaften, und er fährt fort: „Das Paradox aber besteht darin, daß jede Ökonomie die Kombination und Konsumtion von Produktionsfaktoren voraussetzt und daß allein die Arbeit diese Kombination herstellt. So besaß die Werttheorie der Klassiker ihrem Prinzip nach einen universellen, anthropologischen Erklärungswert; sie könnte auf jede frühere oder moderne Gesellschaft, sei sie warenproduzierend oder nicht, liberalistisch oder geplant, angewendet werden. Leider verbietet die Vorstellung, dieses Erklärungsprinzip sei veraltet und überholt, die Anerkennung einer der universellen theoretischen Hypothesen der politischen Ökonomie. Freilich meinen wir nicht, daß Arbeitswerttheorie allein die Preisbildung in einer Marktwirtschaft zu erklären vermag.“
Kennzeichen der Arbeit ist somit als erstes die wertschaffende Funktion. Menschliche Arbeit ist die einzige Größe, die diese Wertschöpfung trägt.2 Dieser Vorgang vollzieht sich zweitens durch Hilfsmittel, d.h. Arbeitsmittel in Form von Maschinen, organisatorischen und planerischen Apparaten u.a. Drittens bedient sich der arbeitende Mensch immer und zwangsläufig Gegenständen, die unmittelbar der Natur entnommen sind. Rohstoffe für die Produktion, Boden als Gelände für Gebäude bzw. Verkehrswege, Luft und Wasser als Grundlagen des Arbeitsprozesses sind Ausdruck hiervon. Damit wirkt der Mensch über den Arbeitsprozeß unaufhörlich auf die Natur ein, und da er selbst ein Bestandteil dieser ist, verändert er seine eigenen Lebensgrundlagen. Viertens wird der arbeitende *
1 2
in: Krise der Wirtschaftspolitik, hrsg. v. Markmann, H./ Simmert, D. B., Bund-Verlag, Köln 1978, S. 147-165. Godelier (1972), S. 342. Vgl. auch Zinn (1976), S. 1 ff.; Israel (1977), S. 97 ff.
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Mensch im Laufe des Arbeitseinsatzes selbst verändert.1 Selbstverwirklichung, Entfremdung und Gesundheitsverschleiß sind auf jeweils unterschiedliche Weise Ausdruck für diese Zusammenhänge. Diese Beeinflussung gilt auch bei dem Entzug der Teilnahme an der gesellschaftlich organisierten Arbeitsleistung. Nachhaltige Beeinträchtigung der physischen, psychischen und mentalen Lebenssituation der betreffenden Personen sind selbst dann häufig die Folge, wenn die materielle Versorgtheit gewährleistet ist.2 Dabei kann das, was gesellschaftlich als Arbeitsleistung gilt, im Zeitablauf wechseln. Die Arbeit läßt sich somit kennzeichnen als unmittelbare wertschaffende Leistung, die bei Unterstützung durch Hilfsmittel in ihrer Ergiebigkeit gesteigert werden kann, als naturverändernde Tätigkeit und als Ausdruck von persönlichkeitsprägenden Handlungen des Menschen. Hieraus ergeben sich vier Kategorien der Arbeit, und zwar das Arbeitsprodukt, die arbeitende Person (Arbeitskraft), das Arbeitsmittel, die Natur (Arbeitsrohstoff). Diese Kategorien sind unaufhebbar miteinander verbunden.
1.2 Verhältnis von Arbeit und Ökonomie In der Arbeit bzw. in ihren vier Kategorien spiegelt sich gleichzeitig der Gegenstand der Ökonomie, des Wirtschaftens wider, denn der ökonomische Bereich ist der Teil der menschlichen Gesellschaft, in dem die materielle Existenzsicherung der Bevölkerung zu gewährleisten ist. In diesem Zusammenhang schreibt Kalivoda: „Man kann als begründet voraussetzen, daß der Mensch die tierische Art der Hungerbefriedigung variiert, indem er die Arbeit, d.h. die Ökonomik, erfunden hat.“3 Hierzu sind neben den Produktionsprozessen bestimmte Verteilungsund Konsumtionsprozesse erforderlich. Ökonomie bezieht sich somit auf die Erstellung, die Verteilung und den Verbrauch von Arbeitsprodukten sowie die mit diesen Prozessen verbundenen Einsätze von Arbeitskräften, Arbeitsmitteln und Arbeitsrohstoffen. In Anlehnung an Godelier werden diese einzelnen Prozesse wie folgt gekennzeichnet: Produktionsprozeß: „Die Produktion ist die Gesamtheit der Verrichtungen, die dazu bestimmt sind, einer Gesellschaft ihre materiellen Existenzmittel zu verschaffen. Jeder Produktionsprozeß bildet also eine geordnete Abfolge von Verrichtungen, deren Natur und deren Zusammenhang sich auf die
1
2 3
Vgl. Kwant (1968), S.66 ff.; Willeke (1956), S.321; Osterland u.a. (1973), S. 35-102; Kasiske (1976), S. 7-105. Vgl. Wacker (1977); Müller-Limmroth (1977). Kalivoda (1970), S. 57.
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Notwendigkeit gründen, denen man sich zur Erlangung des erwarteten Endprodukts unterwirft.“ 1
Distributionsprozeß: „Verteilungsakte sind diejenigen, die innerhalb einer Gesellschaft die Formen von Aneignung und Nutzung der Produktionsbedingungen sowie des Produktionsresultats, des gesellschaftlichen Produktes, bestimmen. Die Aneignung dieser ‚Gegenstände‘ ist in jeder Gesellschaft expliziten Regeln unterworfen, welche die (geschriebenen oder ungeschriebenen) Rechtstitel der verschiedenen Mitglieder dieser Gesellschaft an jenen Gegenständen definieren.“ 2
Konsumtionsprozeß: „Die Konsumtion der Produktionsfaktoren - Ressourcen, Maschinen, Arbeit - ist nichts anderes als der Produktionsprozeß selber, dessen Existenz und Kontinuität sie gewährleistet. Sie ist also den technischen Regeln der Produktion und den gesellschaftlichen Regeln der Aneignung der Produktionsfaktoren unterworfen. Sie vollzieht sich im Rahmen der Produktionseinheiten. Die persönliche Konsumtion in ihrer individuellen oder gesellschaftlichen Form erfolgt im Rahmen von Konsumtionseinheiten, die zuweilen mit den Produktionseinheiten identisch sein können, wie etwa beim bäuerlichen Kleinbetrieb. Häufig ist das Verwandtschaftssystem die Basis der Konsumtionseinheiten. Die Kernfamilie, Großfamilie, der Clan, der Stamm, sie alle können je nach den Umständen den Rahmen für die Konsumtion abgeben.“ 3
Bei allen diesen Vorgängen, die im Inhalt das ausmachen, was mit ökonomischer Rationalität gemeint ist, besteht das Ökonomische lediglich in einem bestimmten Teil, in einem besonderen Bereich der umfassenderen gesellschaftlichen Beziehungen. In den einzelnen Gesellschaftsformen sind jeweils unterschiedliche Strukturen von Produktion, Distribution und Konsumtion vorhanden. Betrachtet man die Gesellschaftsformen in ihren langfristigen Entwicklungsmustern, so bestehen zwischen diesen Bereichen jeweils erhebliche Abweichungen im Inhalt; in kurzfristigen Entwicklungsverläufen kommt es hingegen lediglich zu kleineren Modifikationen. Letztlich sind es diese verschiedenen Strukturen, die den Entwicklungsprozeß von Gesellschaften nachvollziehbar machen, und zwar auch in ihren kurzfristigeren zeitlichen Abfolgen.
1.3 Arbeit – Ökonomie – Wirtschaftspolitik Die Maßnahmen, die darauf abstellen, den ökonomischen Prozeß in einer bestimmten historischen Situation und in bestimmter Weise zu organisieren und diese Organisation aufrechtzuerhalten, lassen sich unter dem Begriff ‚Wirtschaftspolitik‘ zusammenfassen. Damit sind konkrete-wirtschaftspolitische Maßnahmen nur im Rahmen einer bestimmten Ausprägung der ökonomischen Rationalität durchführbar und zweckmäßig.4
1 2 3 4
Godelier (1972), S. 305 f. Godelier (1972), S. 311. Godelier (1972), S. 321. Vgl. Freimann (1977), S. 27 ff., S. 191 ff.
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Träger dieser Vorgänge sind die unmittelbar beteiligten Personen und Gruppen sowie die staatlich-politischen Gremien. Dabei läßt sich unterscheiden zwischen Maßnahmen, die sich auf den allgemeinen Rahmen der ökonomischen Prozesse beziehen und Maßnahmen, die innerhalb dieses Rahmens die ökonomischen Vorgänge regeln sollen.
2
Wirtschaftspolitik in den Grenzen kapitalorientierter Rationalität
2.1 Allgemeiner Rahmen der Wirtschaftspolitik Es ist das Kennzeichen der bestehenden Organisation des Arbeits- und Wirtschaftsprozesses, daß der größte Teil der Produkte auf anonymen Märkten abgesetzt wird, so daß zwischen Herstellern und Verwendern ein Markt geschaltet ist. Grundlage dieser Art der ökonomischen Regelung ist die beliebige Austauschbarkeit gegen Geld als Verrechnungseinheit sowie die eindimensionale Kalkulierbarkeit aller Größen, die im ökonomischen Prozeß benötigt werden. Warenwirtschaft, Lohnarbeit, allgemeine Verbreitung des Geldes sind neben der Legitimation des produktionsbezogenen Handelns aus dem Kapitaleinsatz heraus somit die zentralen Merkmale. Für die über Geld stattfindenden Regelungen ökonomischer Vorgänge liegen umfangreiche Operationalisierungen vor, die innerhalb des über Jahrhunderte sich erstreckenden Entwicklungsprozesses der kapitalistischen Wirtschaftsordnung entwickelt und durchgesetzt wurden. Hiermit werden die mit der materiellen Versorgung zusammenhängenden Vorgänge in ihrer rechenhaften, geldmäßigen Relevanz erfaßt. Über Preise, Löhne, Abschreibungen, Zinsen u.ä. liegt ein umfassendes System der Rechenhaftigkeit vor, das auf Unternehmungsebene in Bilanz-, Erfolgs- und Finanzrechnungen zum Ausdruck kommt.1 Vergleichbares läßt sich für den Makroökonomiebereich nachweisen. Die Bedeutung dieses Regelungsmechanismus wird vor allem durch die weitreichenden gesellschaftlichen Sanktionsmechanismen unterstrichen, die bei Nichteinhaltung der in Geld ausdrückbaren ökonomischen Rationalität zur Gefährdung oder Liquidation der Wirtschaftseinheit (Konkurs bei Unternehmung, Verpfändung, Kreditsperre u.ä. bei privaten Haushalten) führen. Außerdem sind erhebliche strafrechtliche Bestimmungen entwickelt worden, die über staatliche Macht durchgesetzt werden.
1
Vgl. Penndorf (1913/ 1966).
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2.1.1 Güter- und Geldmärkte Auf den Warenmärkten treten Verkäufer von Produkten auf, die am Tauschwert der Produkte interessiert sind, und Käufer, die vom Gebrauchswert ausgehen. Aus diesem Abstimmungsprozeß bleiben zunächst alle diejenigen Produkte ausgeklammert, für die ein Tauschwert nicht besteht (z.B. öffentlich nutzbare Güter). Außerdem ist die Verhandlungsposition von Verkäufern und Käufern von Produkten durch Macht- und Konzentrationstendenzen häufig sehr unterschiedlich, so daß sich bestimmte Zielsetzungen vorrangig durchsetzen. Wir sehen, daß es bei einer marktwirtschaftlichen Organisation des Wirtschaftsprozesses zwei Ebenen gibt, in denen die in den Gütern zum Ausdruck kommende Wertschöpfung der Arbeit zu beeinflussen ist: die Produktionsstruktur und die Bewertung der Produkte. Dies ist Aufgabe von ins einzelne gehenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen; zunächst bedarf es jedoch erst der Durchsetzung eines so gearteten Wirtschaftssystems, was hier ebenfalls als Gegenstand der Wirtschaftspolitik bezeichnet wird. 2.1.2 Arbeitsmärkte In der bestehenden Wirtschaftsform werden jedoch nicht nur die Güter, d.h. die Produkte und die zu ihrer Herstellung, Verteilung und Konsumtion erforderlichen sachlichen Produktionsmittel (Rohstoffe, Maschinen, Vorprodukte u.ä.) sowie die zur Durchführung der ökonomischen Vorgänge erforderlichen Geldmittel getauscht: Die Arbeitskraft selbst ist einbezogen in diesen Vorgang, und daher spricht man von Arbeitsmarkt wie von Rohstoff-, Produkt-, Konsumgut-, Geldmarkt. „Ein Arbeitsmarktvorgang entsteht in der Weise, daß in eigenverantwortlicher Entscheidung menschliche Arbeitsleistung einem Dritten gegen Entgelt, d.h. gegen Lohn zur Verfügung gestellt wird.“1
Daraus ergibt sich, daß nur die Arbeitskraft als potentielle Arbeitsleistung gegen Lohn gekauft wird, während der Arbeitende als Person rechtlich freibleibt. Da die Arbeitsleistung von ihrem Träger nicht getrennt werden kann, unterliegt letztlich der ganze Mensch dem marktmäßigen Tauschvorgang.2 Bei diesem Tausch von Arbeitsleistung gegen Lohn ist der Anbieter von Arbeit gegenüber dem Nachfrager nach Arbeit in der schwächeren Verhandlungsposition. Er ist gezwungen, über die Arbeitsleistung den Lohn als monetäre Form des Anspruchs auf Teile des gesellschaftlichen Produktes zu erzielen, wovon er leben muß. Dieser strukturelle Nachteil der Anbieter von Arbeitsleistun1 2
Willeke (1956), S. 321. Vgl. Müller (1957), S. 479.
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gen hat sich auch sprachlich niedergeschlagen, indem aus dem Anbieter, d.h. dem Geber von Arbeitsleistung der Arbeit-Nehmer wurde, also jemand, der eine ihm angebotene Arbeitsmöglichkeit annimmt bzw. annehmen muß, um leben zu können. Umgekehrt schlüpfte der Nachfrager nach Arbeitsleistung in das Gewand des Arbeit-Gebers, denn er gibt Arbeitsmöglichkeiten. Auf diese Zusammenhänge hat bereits F. Engels zu einer Zeit hingewiesen, als diese Sprachverwandlung noch relativ jungen Datums war. Es ist somit nicht die Arbeitsleistung, auf die diese Theorie aufbaut, sondern die Bereitstellung von Arbeitsmöglichkeiten durch Unternehmer. Wie auffällig diese begriffliche Verkehrung ist, wird deutlich, wenn man sich andere Märkte und die Kennzeichnung ihrer Teilnehmer vor Augen führt. Kapital-Geber und Kredit-Geber sind Personen, die die Geldmittel zur Verfügung stellen und nicht solche, die Anlagemöglichkeiten für Kapital und Kredit anbieten. Entsprechendes gilt für die Kapital-Nehmer und die Kredit-Nehmer, die angebotene Finanzmittel nehmen. Niemand kommt auf die Idee, Eigentümer von Kapital und Kredit als Kapital-Nehmer und KreditNehmer zu bezeichnen. Die Betonung dieser sprachlichen Umkehrung sollte man nicht in den Bereich der Sprachforschung abdrängen. Sie ist vielmehr der konsequente Ausdruck der Tatsache, daß in der herrschenden Gesellschaft, zumal in ihrer historischen Genese, sich die Arbeitsmöglichkeiten im Rahmen der Produktion mit dem Kapitalbesitz ergeben haben und nicht umgekehrt die Produktion über den Einsatz von Arbeitsmitteln stattfand, wenn Arbeitsleistungen zur Verfügung standen. An dieser grundsätzlichen Rollenverteilung hat sich bis zur Gegenwart nichts geändert.1 Neben der Arbeitsmöglichkeit ist auch der Inhalt der Arbeit von zentraler Bedeutung für den arbeitenden Menschen. Auch hier wird im Rahmen einer an der Rationalität von Geldgrößen orientierten Ökonomie das Aushandeln der Bedingungen, unter denen der Arbeitseinsatz stattfindet, ausschließlich über Marktprozesse organisiert. Sind die Beschäftigten somit mit den Bedingungen der Arbeit (Arbeitsschutz, Arbeitsorganisation, Arbeitsklima u.a.) nicht zufrieden, so müssen sie über Kündigung und Arbeitsplatzwechsel oder zumindest die Androhung davon Druck auf die Unternehmer ausüben, um zu Änderungen zu gelangen.2 Dieses Modell der Nutzung von menschlicher Arbeitskraft ist zunächst, analog zu der Behandlung der Güterseite, an die marktmäßige Verwertung der Arbeitskraft gebunden. Damit sind nur abhängig Beschäftigte erfaßt, die in ein Lohn-Arbeits-Verhältnis eintreten. Ausgeschlossen bleiben gleichermaßen die Arbeitsleistungen von Selbständigen und von denjenigen, die zwar ebenfalls gesellschaftlich nützlich tätig sind, jedoch außerhalb des Marktes arbeiten (z.B. bei Nachbarschaftshilfe, Hausfrauentätigkeit). 1 2
Vgl. Koubek/ Seifert (1977), S. 2. Vgl. Friedman (1976), S. 147 ff.; Engels (1974), S. 12 ff.
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Weiterhin steht der einzelne Anbieter von Arbeitsleistung zunächst allein auf dem Markt. Erstens benötigt er einen Arbeitsplatz, um sich durch den Lohn die zum Leben notwendigen Dinge kaufen zu können. Zweitens ist er durch Alter, Geschlecht, Beruf, räumliche Gebundenheit u.ä. nur in einem sehr begrenzten Maß auf dem allgemeinen, gesamtwirtschaftlich bezogenen Arbeitsmarkt einsetzbar. Außerdem schwankt das gesamtwirtschaftliche Angebot an Arbeitsleistungen noch durch den Altersaufbau der Bevölkerung, die Dauer der Schul- und Berufsbildung, den Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben u.a. Auf der anderen Seite, der Arbeitsangebotsseite treten Unternehmer als Nachfrager nach Arbeitsleistung auf, die im Rahmen einer von Geldgrößen her bestimmten Wirtschaftsweise ihr Verhalten von der Gewinnerwartung, der Produktionsstruktur, der Auftragslage, der eingesetzten Technologie, der Standortwahl, der Wechselkursrelation u.ä. abhängig machen. Hieraus wird deutlich, von welch vielfältigen Einflußfaktoren die Nachfrage nach Arbeitskräften abhängt, wobei als Fixpunkt in dieser tauschwertorientierten Produktion die Rentabilität des Kapitaleinsatzes gilt. Über die Einrichtungen der freien Berufswahl, der Tarifautonomie sowie der Vertrags- und Kündigungsfreiheit wurde und wird immer ein Ausgleich zwischen den beiden Marktparteien gesucht und letztlich auch durchgesetzt. Es ist aber ein Zufall, wenn das Angebot an und die Nachfrage nach Arbeitsleistung hinsichtlich Umfang, Qualifikation, regionaler Verteilung im Gleichgewicht sind, so daß Arbeitslosigkeit ein Mittel des Ausgleichs auf dem Arbeitsmarkt ist.
2.2 Wirtschaftspolitische Einzelmaßnahmen Betrachtet man überblicksartig das wirtschaftspolitische Handeln im Rahmen des soeben geschilderten allgemeinen ökonomischen Systemzusammenhangs, so lassen sich deutlich einige Schwerpunkte ermitteln, über die eine Stabilisierung des Wirtschaftsprozesses erreicht werden soll. 2.2.1 Dominanz des geldökonomischen Ansatzes Eine Vielzahl von Einzelaktivitäten wurde entwickelt, um Märkte zu schaffen, zu erleichtern und vor Zerstörungen zu bewahren, auf denen die Tauschvorgänge stattfinden. Dabei handelt es sich unter den gegenwärtigen Bedingungen jeweils um Maßnahmen, die auf Geld als gesellschaftlich sanktioniertes Legitimationspapier bezogen sind. Man kann also von einer geldökonomischen Ausrichtung der herrschenden Wirtschaftspolitik sprechen, durch die eine geldökonomische Rationalität sichergestellt werden soll. Dies bezieht sich auf alle Erscheinungsformen von Arbeit, also auf die Arbeitsprodukte, die Arbeitskräfte, die Arbeits-
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mittel und die Arbeitsrohstoffe. Eine solche Ausrichtung der Wirtschaftspolitik wird hier als kapitalorientiert bezeichnet und die hierbei angestrebte Rationalität als kapitalorientierte Rationalität. Innerhalb des Gesamtrahmens einer solchen ökonomischen Rationalität der Wirtschaftspolitik umfaßt der am meisten systemkonforme Teil diejenigen Maßnahmen, die geldökonomisch ausdrückbar sind, da der gesamte Wirtschaftsablauf auf geldökonomischer Grundlage aufgebaut ist. Im einzelnen seien an wirtschaftspolitischen Maßnahmen genannt: Wettbewerbspolitik Hierdurch sollen die nach der Durchsetzung der Gewerbefreiheit, der Niederlassungsfreiheit, der Aufhebung der Zünfte, der Ausbreitung der Lohnarbeit, der Schaffung von Kapitalmärkten gesellschaftlich verankerten Freiheiten für den Kapitaleinsatz gesichert werden. Fiskal- und Geldpolitik Die staatlichen Instrumente zur Beeinflussung des Wirtschaftsablaufs sind weitestgehend geldökonomischer Natur, sei es durch Variation von Steuersätzen, durch Subventionen, durch zusätzliche Nachfrage, durch Zinssatzänderungen oder durch Geldmengenänderungen. Kapitalbezogene Informationspolitik Durch den Zwang zur Rechnungslegung über den Kapitaleinsatz auf der Ebene der Unternehmungen (Bilanzen, Gewinn- und Verlustrechnungen) sowie der Gesamtwirtschaft (volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, volkswirtschaftliche Vermögensrechnung, Geldstromrechnung) ist eine laufende Kontrolle der Geldund Kapitalströme vorhanden. Arbeitsmarktpolitik Die für die Lösung von Beschäftigungsproblemen entwickelten Konzepte gehen einerseits von einem monetaristischen Ansatz aus. Hierbei wird in Verbindung mit dem Preis der Arbeitskraft (Lohnhöhe) Arbeitslosigkeit in bestimmter Höhe als freiwillig bzw. natürlich interpretiert, da die Vollbeschäftigung nur bei einem niedrigeren Lohnniveau und damit einer anderen Grenzrate der Substitution zwischen Kapital und Arbeit erreichbar sei. Entsprechend eng ist die Verbindung zur Einkommenspolitik, wobei beide Politikbereiche von der Geldmenge her gesteuert werden sollen. Aber auch in dem fiskalistischen Ansatz erfolgt die Steuerung der Beschäftigung über Geldgrößen, allerdings über unmittelbares fiskalpolitisches Handeln.1 1
Vgl. Simmert (1977).
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Lohn-, Einkommens- und Sozialpolitik Die Ausdehnung des Geldeinkommens als ausschließliche Einkommensform ist eine der Voraussetzungen dafür, den geldökonomischen Kreislauf durchzusetzen. Hierbei lassen sich einerseits die Nachfrageströme für den Kauf von Produkten auf Märkten schaffen, anderseits besteht auch ein Ansatzpunkt für ein Belohnungssystem über Geldeinkommen. Der Taylorismus sowie die verschiedenen Formen der analytischen Arbeitsbewertung sind Beispiele dafür, in welch differenzierter Weise die Arbeitsleistung monetarisiert wird und gleichzeitig welch willkürliche Bewertungsspielräume hier vorhanden sind. Durch diese Entlohnungssysteme können die Verhaltensweisen initiiert und reguliert werden, auf denen das an der Rationalität des Kapitaleinsatzes orientierte Arbeits- und Ökonomiesystem aufgebaut ist. Dies umfaßt den Gesamtbereich der auf die Arbeitskräfte bezogenen Maßnahmen. Sozialpolitische Aktivitäten zur menschengerechten Arbeitsgestaltung, zur Qualifikation und Bildung, aber auch zur Arbeitsplatzbeschaffung und -sicherung lassen sich hiernach nur nach Übereinstimmung mit den geldökonomischen Zielen Rentabilität, Liquidität u.a. durchsetzen. Um der mehr längerfristigen Ausrichtung dieser Maßnahmen des Arbeitskräfteeinsatzes entsprechen zu können, wird mit dem Konzept des Humankapitals der Versuch unternommen, bisher nicht erfaßte Bereiche der Arbeitsleistung geldökonomisch abbildbar und damit gestaltbar zu machen. Umweltpolitik Hier wird über die Einbeziehung von bisher nicht erfaßten Kosten des Umweltverzehrs (sog. externe Effekte) versucht, die auf die Natur bezogenen Auswirkungen des ökonomischen Prozesses über Geldgrößen zu kalkulieren und damit berücksichtigen zu können. Diese Ausweitung der geldökonomischen Erfassung ist Ausdruck dafür, daß das Tauschprinzip als gesellschaftlich vorherrschendes Regelungsinstrument im Ökonomiebereich nur aufrecht erhalten werden kann, wenn Kategorien einbezogen werden, die nicht individuellen Angebots- und Nachfragebedingungen unterliegen. Damit stellt sich das Problem der Bewertung, da sich die entsprechenden Preise und Kosten nicht über Tauschvorgänge ermitteln lassen. 2.2.2 Sozialökonomische Ergänzung Schon kurz nachdem die kapitalorientierte Rationalität gesellschaftlich vorherrschend wurde, wie dies in der umfassenden Verbreitung der Geldökonomie zum Ausdruck kommt, entstanden Ansätze für eine andere ökonomische Orientierung. Aus dem Widerstand der arbeitenden Menschen, das Tauschwertprinzip auf die ‚Ware Arbeitskraft‘ übertragen zu lassen, entwickelten sich Maßnahmen zur Regelung des Arbeitskräfteeinsatzes jenseits von geldökonomischen Überlegungen. Das Verbot von Kinderarbeit, Ansätze zu Arbeitsstätten-Verordnungen,
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Senkung der Arbeitszeit, Gesundheitsschutz, Kündigungsschutz, kollektive Tarifvereinbarungen, Betriebsrätesystem und Beteiligung der Arbeitnehmer an Entscheidungen im Aufsichtsrat von Aktiengesellschaften sind zentrale Merkmale für eine ökonomische Rationalität, die ihre Legitimation unmittelbar aus dem Anspruch von Arbeit ableitet.1 Diese Maßnahmen, zu denen noch zahlreiche andere (z.B. Kranken-, Unfall-, Renten-, Arbeitslosenversicherung, Angebot an öffentlich nutzbaren Gütern) zu zählen sind, stehen aufgrund politisch gesetzter Normen als Nebenbedingungen für eine geldökonomische Rationalität. Häufig führen diese zum Schutz, aber auch in Ansätzen zur gestaltenden Mitarbeit der Arbeitskräfte erlassenen Vorschriften zur Steigerung der geldökonomischen Rationalität. Dies darf jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß es sich unter der Perspektive der Relevanz für den Arbeitseinsatz um eine ganz neue Art von wirtschaftspolitischen Maßnahmen handelt. Von den Vorschriften in Gesetzen, Verordnungen, Tarifverträgen, Betriebsvereinbarungen gehen auch Wirkungen bis zu einer sozialökonomischen Rationalität aus, die sich auch auf die Gestaltung der Arbeitsmittel, die Art und die Verteilung der Arbeitsprodukte u.a. beziehen. 2.2.3 Technologieökonomische Ergänzung Mit staatlicher Wettbewerbspolitik allein läßt sich der Mißbrauch von Macht einzelner Unternehmungen bei der Produktgestaltung, bei der Entwicklung neuer Produkte, bei der technischen Leistungsfähigkeit von Produkten nicht beseitigen. So entstanden zunächst und im begrenzten Rahmen als Selbsthilfeeinrichtung der Unternehmungen Absprachen über die Produktgestaltung in Form von DINVorschriften, von Prüfungseinrichtungen, z.B. bei Elektrogeräten. Darüber hinaus sind über gesetzliche Vorschriften zur Konstruktion von Geräten, Bauten, Verkehrsanlagen und der Überwachungsmaßnahmen durch technische Überwachungsvereine, Gewerbeaufsichtsämter u.a. auf zahlreichen Gebieten Maßstäbe durchgesetzt worden, die einer eigenen Rationalitätsform zuzuordnen sind und die hier als technologieökonomische Rationalität der Arbeitsmittel bezeichnet werden soll. Daß funktionstüchtige Produkte längerfristig dem Gewinn- und Rentabilitätsprinzip nicht zu widersprechen brauchen, leuchtet ein. Dies gilt aber nur, wenn eine einzelne Unternehmung sich hiermit gegenüber Konkurrenzunternehmungen durchsetzen kann. Tun es alle bzw. müssen es alle Unternehmungen tun, so können hierunter z.B. bei längerer Nutzungsdauer der Produkte insgesamt der Absatz und damit bei gleichem Preis und gleichen Kosten auch der Gewinn beeinflußt werden.
1
Zur historischen Entwicklung vgl. Gladen (1974).
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Eine vergleichbare Entwicklung hinsichtlich der technischen Produktprüfung ist auf dem Gebiet der Konsumgüter in Form von Warentest und Qualitätsprüfung zu verzeichnen. 2.2.4 Ökologieökonomische Ergänzung In den letzten Jahren trat ein Bereich stark in das Blickfeld wissenschaftlicher und politischer Diskussion, der die Auswirkungen des ökonomischen Prozesses auf die Natur behandelt.1 Rohstoffverbrauch, Belastung von Wasser und Luft, Aussterben von Tier- und Pflanzenarten und damit Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts von Landschaften sind einige der zentralen Probleme. Über Emissions- und Immissionsschutzgesetze, Belastungsabkommen für einzelne Gewässer (z.B. Rhein, Ostsee, demnächst aber auch im Maßstab ganzer Weltmeere), energiesparende Maßnahmen bei Heizungen, Wiederverwendung von Rohstoffen, Raumordnungsplanungen, Einführen von Natur- und Landschaftsschutzgebieten u.a. wird versucht, Antworten auf diese Probleme zu finden. Es handelt sich bei dieser Art von Wirtschaftspolitik um eine neue Kategorie von Rationalität, der der ökonomische Prozeß unterworfen wird und die hier als ökologieökonomische (umweltökonomische) Rationalität bezeichnet werden soll.
2.3 Mängel der kapitalorientierten Rationalität Die Aufarbeitung der verschiedenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen hat ergeben, daß es für zahlreiche, den ökonomischen Prozeß kennzeichnende Größen nicht ausreicht, das geldökonomische Prinzip als alleingültige Form ökonomischer Rationalität zu nutzen. Arbeitskräfte, Arbeitsmittel, Natur, aber auch die Gebrauchswerte der Produkte sind hier nur einbezogen, soweit ihre auf Kapitalgrößen bezogenen Tauschwerteigenschaften betroffen sind. Arbeitslosigkeit soll durch Lohnkostensenkung und finanziell stimulierte Mobilitätserhöhung beseitigt werden, Umweltbelastung über die Einbeziehung von Umweltkosten, Rohstoffverteuerungen u.a. verhindert werden, der Einsatz von neuen Technologien im Arbeitsprozeß von der Rentabilität abhängig gemacht werden und im übrigen der Kernbereich des ökonomischen Prozesses, die Geldökonomie durch Wettbewerbssicherungen leistungsfähig gehalten werden. Diese Wirtschaftspolitik ist über die ihr zugrunde liegende marktökonomische Gleichgewichtstheorie und einen auf Kapitalgrößen reduzierten Ökonomieund Rationalitätsbegriff unfähig, anders als über monetäre Vorgänge auf die zu lösenden Probleme zu reagieren. Die Defizite eines solchen Ansatzes brauchen 1
Vgl. Mesarovi/ Pestel (1977); Gorz (1977).
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hier nicht erneut aufgeführt zu werden.1 Im übrigen werden im Rahmen dieses wirtschaftspolitischen Konzeptes die geldökonomischen Handlungsfelder soweit es geht ausgeweitet und die hiermit nicht erfaßbaren Bereiche theoretisch und begrifflich isoliert entwickelt und danebengestellt.
3
Arbeitsorientierte Rationalität als Maßstab der Wirtschaftspolitik
In Punkt 1 wurden die Merkmale herausgearbeitet, die als jeweils verschiedene Erscheinungsformen der Arbeit Grundlage des ökonomischen Prozesses sind. Versucht man, vor diesem Hintergrund die zahlreichen wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu ordnen2, so zeigt sich deutlich die Unfähigkeit, diese Maßnahmen allein über eine an der Kapitalrationalität ausgerichtete Bestimmung von Ökonomie fassen zu können. Es stellt sich nun die Frage, ob über einen an dem dargestellten Arbeitsbegriff orientierten theoretischen Ansatz die gesamte Breite der Wirtschaftspolitik zusammengefaßt werden kann. Nur auf diese Weise ließe sich die Einheit von ökonomischen Fragestellungen aufrechterhalten bzw. wiedergewinnen.
3.1 Kategorien der Arbeit und Dimensionen der Rationalität Aus der Integration der vier Kategorien der Arbeit und der vier Arten von wirtschaftspolitischen Maßnahmen läßt sich die nähere Bestimmung einer arbeitsorientierten Rationalität ableiten. Dabei ergeben sich vier Zuordnungen, wobei die bisher behandelten geldökonomischen Maßnahmen der Ausdruck einer tauschwirtschaftlichen Orientierung der Ökonomie sind. Von der Kategorie Arbeit und dem damit verbundenen Ökonomiebegriff her handelt es sich bei diesen geldökonomischen Vorgängen aber um gesellschaftlich durchgesetzte Regelungsmechanismen von Gebrauchswertökonomie, Sozialökonomie, Technologieökonomie und Ökologieökonomie, über die eine Sicherstellung der materiellen Lebensbedingungen der Bevölkerung erreicht werden soll. Mit der arbeitsorientierten Begriffsbestimmung von Ökonomie und Rationalität wird die aus einer einseitigen geldökonomischen Ausprägung der Praxis und einer ausschließlich hierauf abgestellten Marktökonomie entstandene Verzerrung und Verengung überwunden. Damit stellen die geldökonomischen Vorgänge mögliche Regelungsmechanismen der Ökonomie dar und okkupieren nicht länger den Gegenstand der Ökonomie selbst.
1 2
Vgl. Vogt (1974); Zinn (1976), S. 182 ff.; Gorz (1977). Vgl. Punkt 2.
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Arbeitsprodukt – gebrauchswertökonomische Dimension Es gilt zu ermitteln, von welcher Art die Beziehungen des Menschen zu dem Arbeitsprodukt sind. Eine den menschlichen Bedürfnissen angemessene Ausrichtung der Produktion und Produktgestaltung muß von der Tatsache ausgehen, daß die Bedürfnisstruktur nicht mechanistisch oder administrativ-verordnend ermittelt werden kann. Damit kommt der Wahlfreiheit ein hoher Stellenwert zu, doch läßt sich dieser Anspruch nur einlösen bei Beteiligung an den Entscheidungen, die zu bestimmten Arbeitsprodukten führen. Dies bezieht sich auch auf die Einteilung in privat und öffentlich nutzbare Güter und Dienste. Von erheblichem Einfluß auf den Gebrauchswert von Produkten ist darüber hinaus die Organisationsform, über die die Nutzung angeboten wird, die Lebensdauer, die Reparaturanfälligkeit. Aber auch die zur Herstellung, zur Verteilung und zum Konsum aufzuwendende Arbeit ist hier zu nennen, die entweder direkt in Zeiteinheit der Arbeit oder in Arbeitskosten gemessen werden kann. Eine Verkürzung der Arbeitseinsatzmengen führt bei gleicher Produktausbringung z.B. zu einer Entlastung der Menschen von Arbeitsleistungen, und damit verbessern sich die Möglichkeiten, daß die frei verfügbaren Zeitquanten ebenfalls steigen. Weiterhin sind die mit der Produktion verbundenen Belastungskonsequenzen zu berücksichtigen, die Folgeproduktionen zur Aufhebung der eingetretenen Schäden erforderlich machen. Die auf die genannten Kriterien der gesamtwirtschaftlichen Produktionsausrichtung sowie der Produktgestaltung abgestellten Analysen und Informationen können Erkenntnisgegenstand einer Lehre von den Arbeitsprodukten sein, wie sie sich in Ansätzen im Rahmen der Verbraucherpolitik entwickelt.1 Arbeitender Mensch – sozialökonomische Dimension Es gilt zu ermitteln, von welcher Art die Beziehungen des Menschen zu sich selbst und zu den anderen Menschen im Arbeitsprozeß sind. Der Mensch erfährt aufgrund seiner Konstitution durch das Arbeiten physische, psychische und mentale Veränderungen; gleichzeitig ist der Arbeitsprozeß aber auch eine unaufhebbare Notwendigkeit zur Lebenssicherung, wobei sich der Inhalt der Arbeit in historisch verschiedenen Phasen gesellschaftlicher Entwicklung ändert. Die hier auftretenden Beziehungen des ökonomischen Vorgangs bei der Herstellung von Gebrauchswerten lassen sich als sozialökonomische Dimension kennzeichnen. Arbeitsmittel – technologieökonomische Dimension Es gilt zu ermitteln, von welcher Art die Beziehungen des Menschen zu den Arbeitsmitteln sind, derer er sich bei der Durchführung der Arbeit bedient. Dabei geht es um die Ermittlung einer günstigen Zweck-Mittel-Relation als Ausdruck dafür, daß die technischen Hilfsmittel des Arbeitsprozesses optimal genutzt wer1
Vgl. Biervert/ Fischer-Winkelmann/ Rock (1977).
188
Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
den. Sowohl auf die Gestaltung der Produkte als auch auf den arbeitenden Menschen geht von den jeweiligen im Wirtschaftsprozeß verwendeten Arbeitsmitteln ein entscheidender Einfluß aus. Die Maschinen bzw. die technischen Hilfsmittel oder die Arbeitsmittel hängen zunächst vom Stand des technologischen Wissens und dessen Anwendung ab. Beim Einsatz im ökonomischen Prozeß sind für die entsprechende Gestaltung aber auch der Produktionszusammenhang und dessen Orientierung maßgebend. So können technologisch machbare Arbeitsmittel allein als geldökonomische Investitionen gestaltet sein, sozialökonomischen Zielen genügen oder auch auf ökologieökonomische Aspekte ausgerichtet sein. Jeweils verschieden wird der ökonomische Prozeß ablaufen. Arbeitsrohstoffe – ökologieökonomische Dimension Es gilt zu ermitteln, von welcher Art die Beziehungen des Menschen zu der Natur als Lieferantin von Arbeitsrohstoffen sind. Unaufhebbar ist das Wirtschaften auf Naturstoffe einschließlich des Bodens angewiesen. Es lassen sich eigene Maßstäbe ökologischer Art entwickeln, die direkt die Nutzung, Belastung, Veränderung der Natur (des Wassers, der Luft, des Bodens, der Mineralienbestände u.a.) durch den Wirtschaftsprozeß erfaßbar machen. Diese Aussagen gehören genauso zum Gegenstand der Ökonomie wie die Berücksichtigung der Geldausgaben bei der Nutzung oder dem Erwerb dieser Stoffe. Sie sind nach den hier eingeführten Termini Bestandteil der ÖkologieÖkonomie (Umweltökonomie). Vergleichbare Aussagen lassen sich auch für die gebrauchswert-, sozial- und technologieökonomischen Dimensionen treffen (z.B. Beständigkeit von Metallen, Gesundheitsgefährdung durch Metalle).
3.2 Konkretisierungsstufen der arbeitsorientierten Rationalität Zwar können in diesem Beitrag die aufgezeigten Zusammenhänge nicht ausführlich behandelt werden, doch sind einige Hinweise auf die sich abzeichnenden Konsequenzen zu geben. Die einzelnen Dimensionen einer arbeitsorientierten Rationalität sind über quantitative und qualitative Indikatoren und Kalküle operationalisierbar zu machen sowie macht- und interessenbezogen durchzusetzen.1 3.2.1 Indikatoren und Kalküle Gebrauchswertökonomische Indikatoren und Kalküle Für die gebrauchswertökonomische Dimension sind Indikatoren ermittelbar, die sich auf die Versorgung der Bevölkerung mit Produkten des privaten und öffentlichen Bedarfs, die zeitliche Nutzungsdauer bis zum Verschleiß, den Zusammen1
Vgl. Projektgruppe (1974), S. 252 ff.
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hang zwischen Produktstruktur und Art der Gesellschaftlichkeit des Arbeitseinsatzes u.ä. beziehen. Die hierfür ermittelbaren Kalküle stellen Methoden der Abbildung der genannten Zusammenhänge dar (z.B. materieller Versorgungsgrad der Arbeiter, Angestellten, Beamten, Selbständigen mit langlebigen Konsumgütern in Prozent der jeweiligen Bevölkerungsgruppen, Wohnfläche in qm nach sozialen und regionalen Gesichtspunkten, Lebensdauer und Reparaturanfälligkeit eines Pkw). Über produktbezogene Indikatoren und verbraucherpolitische Handlungen lassen sich Methoden der systematischen Erfassung und Steuerung entwickeln. Soziale Indikatoren und Kalküle Soziale Indikatoren beziehen sich auf die Einführung einer neuen Arbeitsorganisation bezüglich ihrer Auswirkung auf die Arbeitszufriedenheit, den Gesundheitszustand der Beschäftigten u.a. Sie werden durch zahlreiche Einzelmaßnahmen gesetzlicher, tarifvertraglicher und individualvertraglicher Art durchgesetzt. Um wirksam zu sein, müssen sie im Stadium der Generierung und Planung von Entscheidungen berücksichtigt werden sowie mit umfassenden Sanktionsmechanismen bei Nichteinhaltung versehen sein. Diese werden insbesondere auf der Ebene von Maßnahmen staatlicher und nichtstaatlicher Stellen liegen, z.B. bei Gewerbeaufsichtsamt, Gesundheitsamt, Arbeitsamt, Arbeitsdirektor, Betriebsrat, Wirtschaftsausschuß. Auf der Ebene von sozialen Kalkülen lassen sich Verfahren von Partizipation, von Bedürfnishierarchien sowie von machtstrukturellen Aspekten der repräsentativen Mitbestimmung ebenso nennen wie arbeitsphysiologische und arbeitspsychologische Konzepte. Die genannten Zusammenhänge werden im Rahmen von Sozialberichten und Sozialindikatoren einzel- und gesamtwirtschaftlich systematisch zu erfassen sein.1 Technologieökonomische Indikatoren und Kalküle Den technologischen Indikatoren, die sich auf eine effiziente Einsatz-Ausbringungsrate (Leistung) beziehen, kommt ein eigenständiger Bereich innerhalb der ökonomischen Rationalität insofern zu, als nur das gestaltbar ist, was technisch konstruiert und beherrscht werden kann. Die Auswahl über das, was hiervon realisiert wird, fällt jedoch nur sehr begrenzt in den technologieökonomischen Kompetenzbereich. Weitgehend werden diese Entwicklungen durch gebrauchswertökonomische, aber in Ansätzen auch durch sozialökonomische bzw. ökologieökonomische Anspruchsniveaus geprägt.2 Auf der Ebene von Kalkülen ist festzustellen, daß es sich hierbei in hohem Maße weitgehend um quantitative Aussagesysteme handelt (z.B. Belastung, Nutzungsdauer (technisch), Materialverschleiß), die in eigenständigen Berichten zu1 2
Vgl. Mintrop (1976). Vgl. Schumacher (1977).
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Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
sammengefaßt werden. Technische Überwachungsvereine u.a. sind in der Lage, hier kontrollierend tätig zu sein. Ökologieökonomische Indikatoren und Kalküle Bei der Formulierung von ökologieökonomischen Indikatoren geht es um die Inanspruchnahme von ökologischen Substanzen (Luft, Wasser und Rohstoffen), die durch die Produktion, die Distribution und die Konsumtion von Gebrauchswerten entstehen. Auf der Ebene von Kalkülen ist die Erstellung von Material-Produkt-Korrelationen, von Belastungskoeffizienten u.a. zu nennen.1 Die Gesamtheit der Maßnahmen läßt sich in Material-Produkt- bzw. in Umweltbilanzen zusammenstellen, und Umweltschutzbehörden können die Kontrolle der Einhaltung von Richtwerten übernehmen sowie Sanktionen erteilen. 3.2.2 Regelungsmechanismen Der ökonomische Prozeß ist mit einer Vielzahl von Planungs-, Entscheidungs-, Durchführungs- und Kontrollakten verbunden, an denen die einzelnen Mitglieder der Bevölkerung – wenn auch mit unterschiedlicher Kompetenz- und Rollenverteilung – beteiligt sind. Es stellt sich somit die Frage nach den gesellschaftlich sanktionierten Regelungsmechanismen, über die diese Vorgänge aufeinander abgestimmt werden. Dabei wird im folgenden von den in der jetzigen Gesellschaft vorfindbaren Mechanismen ausgegangen, ohne daß die hierbei feststellbare Rangfolge übernommen werden soll. Gerade aus der Kritik am Marktmodell ist deutlich geworden, daß über den geldökonomischen Regelungsmechanismus nur bestimmte Teile der Realität erfaßt werden. Damit stellt sich das Problem der Einbettung der über Geldgrößen gesteuerten ökonomischen Vorgänge in einen umfassenderen gesellschaftlichen Regelungsmechanismus.2 Tausch – Markt – Geld In jeder historisch bekannten Wirtschaftsform sind Arbeitsteilung und damit der Zwang zum Tausch von Produkten nachweisbar, zumindest nach alters- und geschlechtsspezifischen Merkmalen der Bevölkerung. Man kann daher behaupten, daß mit der materiellen Existenzsicherung immer Tauschvorgänge bzw. Äquivalente verbunden sind. Dabei stellt das Geld eine Form des Tauschmittels dar, die jedoch nur unter bestimmten Bedingungen eine allgemeine Verbreitung erfährt. So finden Arbeitsteilung und Tausch in haus- oder stammeswirtschaftlich organisierten Gesellschaften auf naturaler Basis statt.
1 2
Vgl. Ullmann (1976); Herrmann (1977). Vgl. Projektgruppe (1974), S. 261 ff.
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Es ist somit festzuhalten, daß sowohl die Intensität der Arbeitsteilung und damit auch des Tausches variiert, als auch die Form und der Inhalt dessen, was als Tauschmittel benutzt wurde und wird, Veränderungen unterworfen ist.1 In der jetzigen Wirtschaftsform sind die Arbeitsteilung, die Verbreitung von sehr tauschgeeigneten Geldformen und die Produktion von Gütern für den Markt in extremer Weise verbreitet und mit der Rationalität des Kapitaleinsatzes verbunden. Dies führt sogar soweit, den Gegenstand der Ökonomie sowie die ökonomische Rationalität ausschließlich auf geldwirtschaftliche bzw. marktwirtschaftliche Vorgänge zu reduzieren, was ein folgenschwerer Irrtum ist, durch den die in der Realität vorhandene Einseitigkeit bzw. Dominanz der geldökonomischen Vorgänge im theoretischen Bereich zur Ausschließlichkeit wird. Die zur Anwendung gelangenden Geldgrößen werden in Übereinstimmung mit der historischen Entwicklung über Marktvorgänge ermittelt und sind damit an die individuelle Tauschfähigkeit (z.B. der Waren, der Arbeitskräfte, des Bodens, der Rohstoffe) gebunden. Die Benutzung von Geld als Recheneinheit ist jedoch nicht zwingend an den individuellen Tausch gebunden, und zwar dann nicht, wenn die Geldgrößen außerhalb des Marktes gesetzt werden. Politisch gesetzte Auflagen und Gebote Es lassen sich zahlreiche politisch gesetzte Normen monetarisieren, d.h. in Geldgrößen ausdrücken und dann in die individuellen Tauschvorgänge einbeziehen (z.B. Steuern, Abgaben, Kosten des Arbeits- und Gesundheitsschutzes). Hierbei wird zwar einerseits der Gesamtrahmen der für den Tausch geeigneten ökonomischen Vorgänge nicht überwunden, anderseits werden jedoch Rationalitätsdimensionen operational und gleichsam über das fremde Medium >Geld< durchgesetzt. Diese Regelungsvorgänge lassen sich als politisch gesetzte Auflagen und Gebote bezeichnen. Sie umfassen neben den monetären Größen noch zahlreiche nicht-monetäre Größen (z.B. Bebauungsordnungen, Arbeitszeitbestimmungen, Vorschriften zur Maschinenkonstruktion, Lebensmittelbestimmungen, Abgasbestimmungen). Auch hierdurch wird der ökonomische Prozeß beeinflußt. Grobplanung der ökonomischen Grundstrukturen In einer Gesellschaft, zumal einer solchen mit parlamentarisch-demokratischer Prägung, gibt es zahlreiche unterschiedliche Zielvorstellungen über die Art der Produktion, der Verteilung und der Konsumtion. Mit dem Marktmechanismus bzw. der geldökonomischen Regelung sind Antworten auf alle hier anstehenden Fragen verbunden, doch eben eindeutig einseitige. Von daher bietet die über demokratische Willensbildung laufende Grobplanung der ökonomischen Grundstrukturen die Möglichkeit, Antworten auf die mit dem ökonomischen Prozeß 1
Vgl. Godelier (1975); ders. (1972); Veit (1966), S. 19 ff.; Schlicht (1976), S. 15 ff., 66 ff.
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verbundenen Probleme zu finden, die über den Geldmechanismus allein nicht erreichbar sind. Eine detaillierte Planung ist angesichts der großen Vielzahl ökonomischer Vorgänge sowie der damit verbundenen Machtkonzentration ohnehin Illusion und schlechte Utopie. Mit dem genannten Regelungsmechanismus lassen sich die Aufteilung in privat und öffentlich nutzbare Güter, die Belastungen im Arbeitsprozeß, die Verteilungsverfahren, die Beanspruchung und Nutzung der Natur u.ä. als Zielvorgabe regeln. 3.2.3 Interessen als Elemente der Durchsetzung Die Abstimmung über die verschiedenen Dimensionen arbeitsorientierter Rationalität und die damit zusammenhängenden Regulierungsmechanismen sind immer mit einem interessengeleiteten Handeln und dem Einsatz von Macht durch gesellschaftliche Gruppen verbunden. Dabei ist die in der Realität über die verschiedenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen gesetzte Ausprägung der arbeitsorientierten Rationalität das Ergebnis dieser Auseinandersetzung. Von dem Belieben des Einzelnen und dem der gesellschaftlichen Gruppen in der Wahl einer wünschbaren Ausprägung dieser Rationalität ist dieser Vorgang ebensoweit entfernt wie von der zwangsläufigen Durchsetzung einer im Geschichtsablauf menschlicher Gesellschaften feststellbaren objektiven Tendenz.1 Durch den Interessenansatz ist erstens das Subjekt mit seinen vorfindbaren Interessen zu erfassen, zweitens ist diese subjektive Interessenposition auf gesellschaftlicher Ebene in Interessenlagen von Gruppen einzubeziehen, und drittens gilt es, die Machtstrukturen in der Gesellschaft abzubilden, und damit zu zeigen, welchen Interessenpositionen es möglich ist, die einzelnen Zielsysteme durchzusetzen. Dies geschieht über den Einsatz von entsprechenden Handlungsstrategien und Abstimmungsfeldern.2 Dieses Verfahren eröffnet, da es handlungsbezogen ist und sich daraus ableitet, daß Personen in jeweils konkreten historischen Situationen handeln müssen, die Möglichkeit, die Systemstrukturen von Ökonomie und Gesellschaft stufenweise unter Einsatz von Interesse und Macht zu verändern. Zwar wird jedes einzelne Handlungsfeld die Form der ökonomischen Rationalität alleine nicht grundlegend ändern, im längerfristigen Verlauf und unter Ausnutzung von Eigendynamik des ökonomischen Systems lassen sich auf diese Weise jedoch nachhaltige Verschiebungen der ökonomischen Rationalität erreichen, zumal es für jede Rationalitätsform wahrscheinlich ein Optimum an Systembedingungen gibt.3 Bezogen auf die gegenwärtig zu analysierende Wirtschaftsstruktur geht es 1
Vgl. Elias (1977), S. 127-149, Koubek (1974), S. 327-352. Zur Literatur für die Bereiche Interesse und Macht vgl. Neuendorff (1973); Russell (1973); Krüger (1977), S. 323 ff. 3 Vgl. Godelier (1972), S. 359. 2
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um die Erweiterung des Handlungsfeldes für eine arbeitsorientierte Rationalität zu Lasten einer kapitalorientierten Rationalität.
3.3 Beispiel: Vom Arbeitsmarktmodell zum Recht auf Arbeit, oder: Geldökonomisches versus sozialökonomisches Modell der Beschäftigung Aus der Bedeutung der Arbeit für den Lebensvollzug des Einzelnen wird klar, daß die nach geldökonomischen Gesichtspunkten erfolgte Optimierung des Arbeitskräfteeinsatzes mit den damit verbundenen Entlassungen, Umsetzungen u.a. der sozialökonomischen Dimension des ökonomischen Prozesses nicht gerecht wird.1 Geht man im Rahmen der arbeitsorientierten Rationalität von der prinzipiellen Gleichrangigkeit der vier Dimensionen der Arbeit aus, so ist der ökonomische Prozeß auch von diesen sozialökonomischen Grundtatbeständen her zu entwickeln. Mit dieser Bestimmung der arbeitsorientierten Rationalität lassen sich die in der Realität feststellbaren Tendenzen einordnen, das Arbeitsmarktmodell zu überwinden. Dabei ist es zweckmäßig, von den Phasen des Austritts aus dem Erwerbsleben und dem Eintritt in das Erwerbsleben auszugehen, wobei die benutzte Reihenfolge mit der Zunahme von Konflikthaftigkeit korreliert. Phase des Austritts aus dem Erwerbsleben Über zahlreiche Regelungen gesetzlicher und tarifvertraglicher Art für einzelne Beschäftigungsgruppen besteht ein Kündigungsschutz. In Großunternehmungen werden künftig beim Ausbau des Instruments der Personalplanung weitere Beschäftigtengruppen diesen Schutz erhalten, da diese Unternehmungen über die natürliche Fluktuation, den altersbedingten Abgang sowie den internen Stellenmarkt in Verbindung mit Einstellungsstop erhebliche personalpolitische Elastizitäten besitzen. In zweifacher Hinsicht reicht dies aber nicht aus, um insgesamt das Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen: Erstens ist nur ein Teil der bereits Beschäftigten auf diese Weise abzusichern (Problem der im Handwerk und in Kleinunternehmen Beschäftigten), und zweitens stehen die neu ins Berufsleben eintretenden Personen (insbesondere Jugendliche) vor verschlossenen Büros und Fabriktoren. Daher ist die Phase des Eintritts in das Erwerbsleben in eine solche wirtschaftspolitische Konzeption mit einzubeziehen, und hier treten dann größere Schwierigkeiten auf. Phase des Eintritts in das Erwerbsleben Die Einlösung des Rechts auf Arbeit ist insbesondere für diese Phase durchzusetzen. Bisher gibt es nur wenige Beispiele eines entsprechenden Abrückens vom 1
Vgl. zum folgenden auch Koubek/ Seifert (1977), S. 12 ff.
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Arbeitsmarktmodell. Der Versuch, zumindest für die Auszubildenden über Umlagen auf die einzelnen Unternehmungen genügend Ausbildungsplätze zu erhalten bzw. die Finanzierung dieser Ausbildung in öffentlichen Lehrwerkstätten sicherzustellen, stellt einen ersten Schritt in diese Richtung dar. Auf weitergehende, auch andere Personengruppen erfassende Regelungen, wie sie insbesondere in der schwedischen Wirtschaftspolitik entwickelt wurden, kann hier nur allgemein verwiesen werden.1 Eine allgemeine Sicherung des Rechts auf Arbeit und damit die Überwindung des Marktkonzepts für den Arbeitskräfteeinsatz wird nur möglich sein, wenn die sich daraus ableitenden Konsequenzen für die Güterproduktion mit berücksichtigt werden. Damit ist aber die auf die geldökonomische Rationalität ausgerichtete Produktionsweise betroffen, denn nur im Rahmen eines umfassenden gesellschaftlich-ökonomisch-sozialen Planungs- und Programmzusammenhangs ist es möglich, die einzelnen Unternehmungen zu verpflichten, anteilmäßig die erforderlichen Arbeitsplätze zur Sicherung des Rechts auf Arbeit zur Verfügung zu stellen (z.B. in Abhängigkeit von der Wertschöpfung als Beitrag zum Sozialprodukt, der Lohnsumme, dem Anteil an Arbeitszeit in bezug auf die gesamtwirtschaftliche Arbeitszeit). Kurzfristig könnten diese Arbeitsplätze aus öffentlichen Mitteln (Bundesanstalt für Arbeit) finanziert werden. In diesem Falle wäre die Einbeziehung in einen sozialen Arbeitszusammenhang gewährleistet, und durch Änderung des Arbeitsvollzugs (z.B. bei den Taktzeiten, der Arbeitsteilung) ließe sich ein Beitrag zur Verminderung der Arbeitsbelastung erreichen. Die Hoffnung, das Problem Arbeitslosigkeit über geldökonomische Instrumente (mehr Gewinn, mehr Investitionen, mehr Wachstum des Sozialprodukts, mehr Arbeitsplätze) lösen zu können, ist gleichermaßen Ausdruck eines auf einem verengten Ökonomieverständnis aufbauenden wirtschaftspolitischen Konzepts und von Parteilichkeit für die mit der geldökonomischen Rationalität verbundenen Interessen in der Gesellschaft.
4
Zusammenfassung
Grundlage des ökonomischen Prozesses ist die menschliche Arbeit. Nur auf diese Weise verschaffen sich die Menschen die materielle Basis der individuellen und gesellschaftliche Existenzsicherung. Die hiermit zusammenhängenden Aspekte zu untersuchen ist der Gegenstand der Wirtschaftswissenschaft. Die von der Arbeit abgeleiteten Kategorien von Arbeitsprodukt, Arbeitskraft, Arbeitsmittel und Arbeitsrohstoff stellen eine Ebene der Analyse dar. Die zweite Ebene wird in den vier Dimensionen von Gebrauchswertökonomie, Sozi1
Vgl. Schmid (1975).
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alökonomie, Technologieökonomie und Ökologie (Umwelt)-Ökonomie gesehen, die über entsprechende Indikatoren und Kalküle operationalisiert werden. Durch Geldvorgänge sowie politisch-planerisch gesetzte Ziele sind die im ökonomischen Bereich anfallenden Koordinationsaufgaben zu lösen, wobei durch Geldsteuerung nur ein Teil der Wirklichkeit erfaßt wird. Gesellschaftliche Macht und Interessen sind die Triebfedern in der Herausbildung einer jeweils konkreten Form arbeitsorientierter Rationalität. Es läßt sich zeigen, wie einseitig die jetzige Wirtschaftspolitik auf die geldökonomische Basis ausgerichtet ist. Dies ist Ausdruck einer kapitalorientierten Ausprägung des ökonomischen Handelns und der Rationalität. Am Beispiel des Arbeitskräfteeinsatzes wird deutlich gemacht, mit welchen Konsequenzen ein Überwinden des Arbeitsmarktmodells zugunsten eines Rechts auf Arbeit verbunden ist.
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A.5 Perspektiven der Weiterentwicklung einer arbeitsorientierten Theorie der Unternehmung*
1
Ausgangspunkte
Es gehört zu den erstaunlichen Tatsachen in den Wirtschaftswissenschaften, daß der Durchbruch zu den industriekapitalistischen Formen der Produktion im 19. Jahrhundert ohne besondere Wissenschaft von der Unternehmung stattfand. Offensichtlich war die auf Lohnarbeit und Kapitalrationalität aufgebaute Realität als Antrieb und Orientierung stark genug. Das Unternehmertum bedurfte zunächst weder einer kritisch wissenschaftlichen Begleitung noch gar eines theoretischen Vorausdenkens1, und die Arbeitnehmer waren auf den Kampf ums physische Überleben konzentriert. Diese „einfache“ Wirklichkeit ging in der Folgezeit verloren, indem einerseits die Realität von Produktion und Kapitalverwertung in den Unternehmungen komplizierter wurde und Anlaß zu verschiedenen betriebswirtschaftlichen Theorien gab.2 Andererseits entstanden bei den Arbeitnehmern und Gewerkschaften bestimmte Informations-, Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte über Vorgänge in den Betrieben und Unternehmen, die ihrerseits auf die Notwendigkeit einer theoretischen Abbildung hinwiesen. Die praktischen Konflikte zwischen Kapital und Arbeit lassen vermuten, daß die damit verbundenen Bedingungen der Unternehmen auch Konsequenzen für die Theorien haben, und sei es in der Form ihrer Nicht-zur-Kenntnisnahme. Damit taucht die Frage nach den Möglichkeiten einer auf den Kategorien Arbeit, Arbeitnehmer, Mitbestimmung bezogenen betriebswirtschaftlichen Betrachtungsweise auf. Wir wollen im folgenden eine Antwort über den Weg einer Bestimmung dessen suchen, was eine Theorie der Unternehmung leistet, wodurch sie gekennzeichnet ist bzw. welche hauptsächlichen Ausprägungen sie in der Geschichte dieses Faches gefunden hat.
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Zum Erkenntnisgegenstand verschiedener Unternehmungstheorien
Gegenstand einer Theorie der Unternehmung ist die gedankliche Zusammenfassung der Teile der Wirklichkeit, die für den ökonomischen Prozeß in denjenigen Gebilden von Bedeutung sind, in welchen die Produktion von Gütern und *
1 2
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Dienstleistungen erfolgt. Dies sind in unserer Gesellschaft vorrangig die Privatunternehmen, aber auch öffentliche Unternehmen und Behörden treten hier in Erscheinung. Dabei geht es erstens um die Erklärung, welche Prozesse in den Unternehmen ablaufen, mit welchen Zielsetzungen und Konsequenzen dies geschieht und warum sich nicht etwas anderes durchsetzt (Erklärungsfunktion). Zweitens stehen Aussagen zur Gestaltung dieser Prozesse in den Unternehmungen und ihren Teilbereichen an (Gestaltungsfunktion). Im Mittelpunkt stehen somit Aussagen darüber, welche Ziele erreichbar sind und mit welchen Mitteln dies geschehen kann. Es läßt sich zeigen, daß bei einer nicht konfliktfreien Realstruktur jeder theoretische Entwurf eine bestimmte Sichtweise enthält, durch die Begriffe gebildet, Zusammenhänge betont oder unterdrückt, Teile der Wirklichkeit abgebildet oder als nicht zum Gegenstand gehörend zurückgewiesen werden usw. In der diese Fragen behandelnden wissenschaftlichen Diskussion wird dies mit dem Ausdruck „Paradigma“ umschrieben. Für die BWL liegt eine ausführliche Untersuchung der Konsequenzen von paradigmatischen Verschiebungen im Rahmen der bereits zitierten Untersuchung von HUNDT vor. Neben zahlreichen Besonderheiten im Zusammenhang mit der Produktion und Verteilung von wissenschaftlichen Erkenntnissen sind es insbesondere die Verschiebungen in der Realität, die neue Fragestellungen aufwerfen, die dann durch eine neue Perspektive theoretischer Betrachtungen angemessener gelöst werden können. Dabei gehen jedoch Teile des bisherigen Erkenntnisstandes verloren oder werden in ihrer Bedeutung zurückgedrängt. In der mit rd. 80 Jahren noch relativ kurzen Geschichte der BWL hat es seit Beginn dieses Faches mindestens viermal einen nachhaltigen Wechsel der Perspektiven innerhalb des herrschenden Lehrgebäudes gegeben, durch die jeweils neue Betrachtungen in den Mittelpunkt des auf die Sicherung der Kapitalrationalität ausgerichteten Erkenntnisinteresses rückten. Handelswissenschaft1 und Privatwirtschaftslehre2 Wirtschaftliches Handeln in den Unternehmungen und Betrieben wird für alle auf Gewinnerzielung ausgerichteten Tätigkeiten allein unter dem Gesichtspunkt der Transformation von Geld in Waren und dann in Mehr-Geld gesehen. Die Unternehmung ist gleichsam Geldfabrik (RIEGER) und dient somit ausschließlich dem Zweck der Kapitalvermehrung. Demzufolge stehen die Austauschbeziehun-
1
2
Vgl. Weber, E., Literaturgeschichte der Handelsbetriebslehre, Tübingen 1914, Nachdruck: Frankfurt am Main 1967. Vgl. Rieger, W., Einführung in die Privatwirtschaftslehre, Nürnberg 1928, Nachdruck: Osaka 1974.
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gen der Unternehmungen mit dem Markt im Vordergrund, durch die die Kapitalzirkulation getragen wird. Der ökonomische Unternehmungsprozeß ist durch die Beliebigkeit des Inhalts der Produktions- und Arbeitsvorgänge gekennzeichnet. Alle als stoffliche Fragen, d.h. als Probleme der menschlichen Arbeit, des Maschineneinsatzes, der Produktgestaltung und der Umweltbeziehungen auftretenden Betrachtungen fallen aus dem Untersuchungsfeld der ausschließlich finanzielle Vorgänge erfordernden ökonomischen Analyse heraus. Kostensteuerung und Betriebswirtschaftslehre1 Mit dem Ausdehnen der industriellen Großunternehmen und der Erhöhung der Kapitalintensität treten die Probleme der internen Steuerung der Unternehmungen in den Vordergrund. Nicht mehr das Tauschverhältnis am Markt, sondern die Kontrolle der Produktion bildet den Bezugspunkt der Betrachtungen. Um die damit verbundenen Aufgaben zu erfüllen, werden die verschiedenen Formen des Rechnungswesens als Steuerungs- und Kontrollinstrument entwickelt. Diese Epoche ist vor allem mit dem Namen SCHMALENBACH verbunden, der weitgehend empirisch-handlungsanleitend arbeitet. Der Tatsache, daß Fragen des Arbeitseinsatzes nicht systematisch untersucht werden, liegt als Perspektive die Sichtweise der Unternehmungsleitung und der diese beratenden Wissenschaftler zugrunde. Für die Gestaltung des Arbeitseinsatzes bildet sich die weitgehend technisch ausgerichtete Betriebswissenschaft heraus. Daneben werden insbesondere die stofflichen, auf den Gebrauchswert der Produkte bezogenen Überlegungen in den Prinzipien von Bedarfsdeckung und Gemeinwirtschaftlichkeit durch Schmalenbach formuliert. Zu einer Synthese der rentabilitätsbezogenen und gemeinwirtschaftlichen Theorieteile konnte es jedoch aus prinzipiellen Gründen nicht kommen, weil beide Bereiche nur zufällig komplementär sind. Kombination der Elementarfaktoren im Produktionsprozeß2 Bei dem Versuch, den Produktionsprozeß nicht in seinen Widersprüchlichkeiten real zu beschreiben, sondern über abstrakte Grundkategorien zu erfassen, entstand ein Lehrsystem, das die Kombination verschiedener Produktionsfaktoren durch die Unternehmungsleistungen in den Mittelpunkt stellt. Hierbei werden 1
2
Vgl. Schmalenbach, E., Dynamische Bilanz, 4. Aufl., Leipzig 1926, Nachdruck: Osaka 1974; Hundt, S., Zur Theoriegeschichte der Betriebswirtschaftslehre, Köln 1977, S. 47-88. Vgl. Gutenberg, E., Die Unternehmung als Gegenstand betriebswirtschaftlicher Theorie. Berlin/ Wien 1929, Nachdruck: Frankfurt am Main 1967; ders.; Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre. Erster Band: Die Produktion, l. Aufl., Berlin/ Göttingen/ Heidelberg 1951, 22. Aufl. 1976; Hundt, S., Zur Theoriegeschichte der Betriebswirtschaftslehre, Köln 1977, S. 127-162, Nagaoka, Katsuyuki: Brauchen wir eine neue Betriebswirtschaftslehre. In: Koubek, N./ Küller, H. D./ Scheibe-Lange, I. (Hrsg.), Betriebswirtschaftliche Probleme der Mitbestimmung, 2. Aufl., Köln 1980.
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Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
die innerbetrieblichen Zusammenhänge zunächst als technisch stoffliche Vorgänge abgebildet, die eine überzeitliche Gültigkeit beanspruchen. Zu diesem als vom Gesellschaftssystem unabhängig angesehenen Grundbeziehungen der Unternehmungen treten ergänzend gesellschaftlich-systemabhängige Aussagen, die in den Industriegesellschaften vorwiegend kapitalistischen Charakter besitzen. Im Rahmen der Produktionsfaktorenlehre wird die menschliche Arbeitsleistung zu einem der Elementarfaktoren, soweit durch ihn nicht Leitungsfunktionen für die Unternehmung verbunden sind. Diese begriffliche Zuordnung führt theoretisch zu einer sehr scharfen Trennung von Anweisungsbefugnis und Ausführungsverpflichtung. Des weiteren erfolgt für die objektbezogene, d.h. ausschließlich auf Ausführung ausgerichtete Arbeit eine Einbeziehung des bisher in den nicht-ökonomischen, technischen Wissenschaften entwickelten Arbeitszeitund Arbeitsstudienkonzepts. Damit sind die im Taylorismus angelegten Bedingungen von Herrschaft und Kontrolle zu integrierten betriebswirtschaftlichen Bestandteilen geworden. Mitbestimmungs- und Partizipationsansätze reduzieren sich auf die Beschreibung rechtlicher Normen, ohne daß damit Konsequenzen für die betriebswirtschaftlichen Einzelaussagen verbunden sind. Verhalten und Entscheiden in Organisationen1 Die modelltheoretische Annahme, daß menschliche Arbeit in objekt- und subjektbezogene Teile zerlegbar ist und daß sich Menschen absolut rational verhalten, traf nie die Wirklichkeit; dies war im Rahmen der GUTENBERG’schen Lehre jedoch auch nicht beabsichtigt. Dieser Umstand beginnt zu stören, als wissenschaftliche Aussagen zunehmend an ihrem Realitätsbezug gemessen werden und sich für das Management verstärkt die Notwendigkeit ergibt, das menschliche Verhalten sowie die Planungs- und Entscheidungsabläufe kalkulierbarer zu machen. Die Vertreter eines entscheidungsorientierten Selbstverständnisses in der BWL lösen die aufgetretenen Probleme, indem sie die Unternehmung als Organisation auffassen, in der die Ziele durch das Handeln der Organisationsmitglieder festgelegt werden. Damit tritt als Untersuchungsfeld auch die Willensbildung von Arbeitnehmern als Organisationsteilnehmer auf, doch bleiben die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die Unternehmungsziele entstehen und die auf die Handlungsmöglichkeiten der Gruppenmitglieder wirken, weitgehend ausgeblendet. Demgegenüber wird ein breites und insbesondere sozialwissenschaftlich geöffnetes Instrumentarium zur Darstellung und Gestaltung von Personal-, Organisations- und Planungsproblemen aus der Sicht der Unternehmungsleitung entwickelt. 1
Vgl. Heinen, E., Einführung in die Betriebswirtschaftslehre, 6. Aufl., Wiesbaden 1977; Kirsch, W., Einführung in die Theorie der Entscheidungsprozesse, 2. Aufl., Wiesbaden 1977; Ortmann, G., Unternehmungsziele als Ideologie, Köln 1976.
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Arbeitsprozeß in Unternehmungen1 Aus der voranstehenden kurzen Übersicht über vier Perspektiven betriebswirtschaftlichen Denkens wird erstens die eingangs formulierte Bewertung der Kapitalorientiertheit deutlich, zweitens ist festzuhalten, daß sich in keiner der genannten Theorien eine vom menschlichen Arbeitseinsatz ausgehende Perspektive findet. Es bedarf bei der zentralen Bedeutung der menschlichen Arbeit gerade für die einzelwirtschaftlichen Vorgänge nicht unbedingt einer weitergehenden Erläuterung, um einsichtig zu machen, daß hier eine theoretisch mögliche und zulässige Ausgangsposition für ein betriebswirtschaftliches Theoriesystem vorliegt. Ein solches Vorhaben, das im folgenden näher erläutert werden soll, läßt sich auf dreifache Weise begründen, wobei als Anknüpfungspunkte folgende Kategorien zur Verfügung stehen: Macht, Interessen, Arbeit. Diese drei Möglichkeiten sollen im weiteren Verlauf zur Untersuchung in der genannten Reihenfolge behandelt werden.
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Praktisch-normatives Wissenschaftsverständnis und praktisch-normative Arbeitnehmermacht
Eng verbunden mit der Entwicklung von Unternehmungstheorien ist das Problem der Wertaussagen, die in diesen Theorien enthalten sind. Nach welchen Auswahlkriterien werden die Untersuchungsschwerpunkte gebildet, welche Vorstellungen der Wissenschaftler fließen ein, wie sind die einzelnen Bestandteile der Theorie aneinandergefügt? Die zur Zeit vorherrschende Vorstellung geht von einem sogenannten praktisch normativen Wissenschaftsverständnis in der BWL aus. Hiernach sollen die Theorien und Modelle dann von einer subjektiven Wertung durch die Wissenschaftler frei sein, wenn sie sich auf die in der Realität vorfindbaren herrschenden bzw. praktisch geltenden Werte und Zielsysteme stützen.2 Ganz in der Logik dieses Denkmusters müßte hiernach ein Gegenstand in dem Augenblick zum betriebswirtschaftlichen Untersuchungsobjekt werden, in dem er sich auf eine gesellschaftliche Machtbasis stützt, und zwar unabhängig von deren Legitimationsweise. Dies gilt nun aber mit Sicherheit auch für die Mitbestimmung und die Arbeitnehmerinteressen in den Unternehmen und Be1
2
Vgl. Projektgruppe im WSI: Grundelemente einer Arbeitsorientierten Einzelwirtschaftslehre, WSI Studie Nr. 23, Köln 1974, Koubek, N., Arbeitsorientierte Rationalität und Arbeitnehmerinteressen. Zum Stand der Auseinandersetzung über die Arbeitsorientierte Einzelwirtschaftslehre (AOEWL). In: ZfbF 29 (1977), S. 31-43; Koubek, N./ Küller, H.-D./ Scheibe Lange, I. (Hrsg.), Betriebswirtschaftliche Probleme der Mitbestimmung, 2. Aufl., Köln 1980. Vgl. Wöhe, G., Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 11. Aufl., München 1973, S. 41 ff.; Heinen, E./ Dietel, B., Zur „Wertfreiheit“ in der Betriebswirtschaftslehre. T. 1, Zeitschrift für Betriebswirtschaft, Bd. 46, Jg. 1976, S. 19 ff.
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Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
trieben. An dieser Stelle tauchen interessanterweise einige Irritationen im betriebswirtschaftlichen Wissenschaftsbereich auf, indem sich Wissenschaftler dagegen wehren, zu Gehilfen von Partialinteressen bzw. enger, von Gewerkschaftsansprüchen zu werden. Dies steht bei den Vertretern dieses Wissenschaftskonzepts jedoch im Widerspruch zu dem selbstformulierten Selbstverständnis, denn hiernach reicht als Anspruch für eine Erklärungs- und Beratungsfunktion der BWL die in der Realität vorfindbare Macht, gleichgültig, wie diese zustande kam. Als erstes Ergebnis kann somit festgehalten werden, daß Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsansprüche innerhalb der BWL im Sinne des herrschenden Selbstverständnisses bereits auf der Ebene ihrer bloßen Faktizität legitimiert sind. Hieran ändert auch die Tatsache nichts, daß dieser Zustand unbefriedigend ist und hinter weitergehenden Begründungszusammenhängen zurückbleibt.
4
Unternehmungspolitik, Mitbestimmung und Arbeitnehmerinteressen
Es gibt mehrere erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Möglichkeiten, auf Arbeitnehmerinteressen bezogene wissenschaftliche Aussagen zu begründen. Ein erster kleiner Schritt über die im letzten Punkt genannte praktische Normativität hinaus ist gemacht, wenn hypothetisch bestimmte Interessen zugelassen sind, auf die hin Erklärungs- und Gestaltungsaussagen entwickelt werden. Umfassender sind Untersuchungen, in denen Interessen aus den gesellschaftlichen und anthropologischen Bedingungen, den demokratischen Grundregeln oder dem Betroffensein von unternehmenspolitischen Maßnahmen abgeleitet werden.1 Es soll hier nicht näher auf die einzelnen Ableitungszusammenhänge eingegangen werden, auch nicht darauf, ob die eine Art der Begründung theoretisch besser, praktisch durchsetzungsfähiger als die andere ist u.ä. Vielmehr will ich kurz darauf verweisen, daß es in der Geschichte der deutschen Betriebswirtschaftslehre immer wieder Autoren gegeben hat, die auf die Möglichkeit einer auf Arbeitnehmerinteressen bezogenen betriebswirtschaftlichen Theorie hingewiesen haben, doch blieb es über Jahrzehnte bei wenigen Sätzen oder Abschnitten in den jeweiligen Veröffentlichungen. Eine Ausnahme bildet der Ansatz von NICKLISCH aus dem Jahre 1912/1932, doch sind damit erhebliche systematische und wissenschaftspolitische Probleme verbunden, auf die hier nur pauschal verwiesen sei. Unter mehreren anderen Autoren sei GUTENBERG genannt, der sich in 1
Katterle, S./ Krahn, K. (Hrsg.), Wissenschaft und Arbeitnehmerinteressen, Köln 1980; Röder, M., Möglichkeiten und Gefahren der Einbeziehung des Interesse-Begriffs in die betriebswirtschaftliche Forschung, Journal für Betriebswirtschaft. Jg. 1977, S. 43 ff.; Steinmann, H./ Gerum, E., Reform der Unternehmensverfassung. Methodische und ökonomische Grundüberlegungen, Köln/ Berlin/ Bonn/ München 1978.
A Arbeitsorientierte Theorie der Unternehmung
203
dem Vortrag „Betriebswirtschaftslehre als Wissenschaft“ von 1957 kurz zu dem Problem einer arbeitnehmerbezogenen BWL geäußert hat, wobei er seine Skepsis wie folgt umschreibt: „Man kann z.B. einen Betrieb oder ein Unternehmen als eine Gruppe arbeitender Menschen auffassen, die in gemeinsamer Arbeit miteinander verbunden sind. Es müßte nun an sich möglich sein, die Probleme der Betriebswirtschaftslehre von diesem sozialen Phänomen der arbeitenden Gruppe her zu entwickeln und in einen geschlossenen Zusammenhang zu bringen. Ob diese Gruppe arbeitender Menschen als zentraler Bezugspunkt für einen großen und geschlossenen Bau der Betriebswirtschaftslehre geeignet ist, erscheint mir fraglich. Denn erstens stellt diese Gruppe nur ein sehr lockeres Gefüge sozialer Beziehungen dar. Ihr fehlt jede innere Bindung (...) Zweitens darf man nicht außer acht lassen, daß in unserer, auf Privateigentum beruhenden Wirtschaftsordnung der Führungsanspruch in den Unternehmen, auch die Entscheidung über ihr Bestehen und Nicht-Bestehen, von dem Eigentum an den Unternehmen, nicht von der Mitarbeit in den Unternehmen abhängig ist. Drittens wird es zweifellos nicht ganz einfach sein, von der arbeitenden Gruppe her die systematische Einheit zwischen menschlicher Arbeit im Betrieb und den Betriebsmitteln herzustellen, deren eine solche Betriebswirtschaftslehre allerdings bedürfte.“1
Seit dieser Positionsbeschreibung sind insbesondere im Rahmen der verhaltenswissenschaftlichen Unternehmenstheorie zahlreiche Aussagen vorrangig zu personalwirtschaftlichen und organisationstheoretischen Fragen gemacht worden, bei denen Arbeitnehmerinteressen direkt berührt sind. Dabei tritt an die Stelle des ursprünglich rational handelnden „homo oeconomicus“ die eingeschränkte Rationalität des Menschen, der unter diesen neuen Bedingungen über bestimmte Anreize zum Arbeiten in vorgegebenen Grenzen stimuliert werden soll. Eine andere, jedoch ebenfalls auf Personen und Interessen bezogene Fragestellung ergibt sich in der Fortsetzung des Forschungs- und Arbeitszusammenhangs der AOEWL. In den letzten Jahren wurden mehrere Themen weiterentwickelt, wobei vor allem zu nennen sind: Betriebliche Beschäftigungspolitik, Investitionen, Sozialbilanzen, Informationssysteme, Gestaltung industrieller Arbeitsbedingungen, Produktion, Finanzierung. Damit liegen z.T. auf stark instrumentalisierter Ebene zahlreiche arbeitnehmerbezogene Forschungsergebnisse vor. Andere Forschungen von Einzelpersonen und Gruppen mit ähnlichen Fragestellungen, die außerhalb dieses Forschungsansatzes arbeiten, wären zu nennen. An dieser Stelle entsteht die Frage nach den Konsequenzen eines auf Interessen im allgemeinen und Arbeitnehmerinteressen im besonderen gegründeten Forschungsansatzes in der BWL. Es besteht die hohe Wahrscheinlichkeit, daß ein interessenbezogener Ansatz auf Dauer zu einer Einbindung in das Konzept einer koalitionstheoretischen, gruppenbezogenen, multipersonalen Unternehmungstheorie führt. Die damit verbundenen Schlußfolgerungen sind bereits bei MAG vorformuliert, wenn er schreibt, daß der Dualismus von Kapital und Arbeit eine Extremform des Interessenpluralismus darstelle. 1
Gutenberg, E., Betriebswirtschaftslehre als Wissenschaft, Krefeld 1929, S. 23 ff.
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Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre „Ist man der Meinung, daß die leitenden Angestellten oder das öffentliche Interesse in die Unternehmensverfassung einbezogen werden sollten, dann liegt Interessentrialismus vor, usw. Die -ismen ließen sich fast beliebig fortführen.“1
Es spricht nicht nur der traditionsreiche individualistisch ausgerichtete Interessenbezug der ökonomischen Theorie über viele Wissenschaftlergenerationen hinweg für eine solche Entwicklung, sondern auch zentrale betriebswirtschaftliche Konzepte, wie etwa diejenigen der Anreiz-Beitrags-Lehre und der Instrumentalfunktion der Unternehmung sowie die Isoliertheit von einzel- und gesamtwirtschaftlichen Fragen legen eine solche Vermutung nahe. Als zweites Ergebnis kann man somit festhalten: Es gibt gerade in den letzten Jahren zahlreiche Untersuchungen mit direkter oder indirekter Einbeziehung arbeitnehmerbezogener Fragen in der BWL; eine grundsätzliche Anerkennung dieser Position läßt sich auch theoriegeschichtlich mehrfach nachweisen. Dabei werden Interessenbegriffe verwendet, die wissenschaftlich auf unterschiedliche Weise begründet werden. Gegenstand der Untersuchung sind fast ausschließlich Partialbereiche, wobei die personalwirtschaftlichen und organisationstheoretischen Analysen eindeutig überwiegen. Es ist somit erkennbar, daß neben dem an früherer Stelle herausgearbeiteten Machtbegriff der Interessenbegriff als Kristallisationspunkt für eine auf Mitbestimmungs- und Arbeitnehmerfragen ausgerichtete BWL vorhanden ist.
5
Arbeitsorientierte Theorie der Unternehmung auf der Basis der Kategorie Arbeit
Mit der Herausforderung der BWL durch Mitbestimmungsfragen ist eine Diskussionsebene wiedereröffnet, die lange verschüttet war und die vor allem innerhalb der BWL nie systematisch geführt wurde: Gemeint ist die Bezugsgröße „Arbeit“ als Ausgangspunkt, als Zentralbegriff einer Theorie der Unternehmung. Diese Perspektive ist in der AOEWL rudimentär angelegt, aus der heutigen Sicht erscheint dieser Ausgangspunkt für einen unternehmenstheoretischen Begründungszusammenhang jedoch am leistungsfähigsten zu sein.2 Dabei besteht insbesondere die Notwendigkeit, verschiedene Aussagen und Aussagesysteme in der BWL unter arbeitsorientierter Fragestellung aufzuarbeiten und neu zu bestimmen. Das beginnt bei dem Arbeits- und Rationalitätsbegriff
1
2
Mag, W., Entwicklungsstufen zu einer personalen Theorie der Unternehmung. Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung, Bd. 26. Jg. 1976, S. 649. Vgl. hierzu: Koubek, N., Arbeit und ökonomische Rationalität in der Wirtschaftspolitik. In: Markmann, H./ Simmert, D. (Hrsg.), Krise der Wirtschaftspolitik, Köln 1978, S. 147-165; ders.: Arbeit, ökonomische Rationalität und Interessen als Konfliktgrundlagen in der Unternehmung. In: Dlugos, G. (Hrsg.), Unternehmungsbezogene Konfliktforschung. Stuttgart 1979, S. 397-409.
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und reicht bis hin zu der unter der ausschließlichen Analyse kapitalorientierter Begriffe falsch oder zumindest einseitig wiedergegebenen Wirklichkeit. Mit der Rekonstruktion des Arbeitsbegriffs gelingt das Aufzeigen von strukturellen ökonomischen Zusammenhängen, die in vorkapitalistischen Phasen und noch innerhalb der Literatur der ökonomischen Klassik zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters als theoretische Selbstverständlichkeit vorhanden waren, dann aber verdrängt wurden. Gemeint ist insbesondere die Lehre von der alleinigen wertschaffenden Funktion der menschlichen Arbeit.1 In allen historisch aufgetretenen Gesellschaften werden die Mittel zur Sicherung der materiellen Existenz durch menschliche Arbeit erzeugt. Dabei stützt sich dieser Arbeitsprozeß immer auf die Basis natürlicher Stoffe und es werden technische Hilfsmittel eingesetzt (vom einfachen Wasserrad der Frühkulturen bis zum Computer der Gegenwart), um die Ergiebigkeit der Arbeit zu steigern. Die Arbeit läßt sich von daher erstens als wertschaffende Kategorie kennzeichnen, auf die letztlich alle ökonomischen Wertschöpfungsprozesse reduzierbar sind. Dieser Vorgang vollzieht sich zweitens durch Hilfsmittel, d.h. Arbeitsmittel in Form von Maschinen, organisatorischen und planerischen Apparaten u.a., die selbst Ergebnis von Arbeitsprozessen vorangegangener Perioden sind. Drittens bedient sich der arbeitende Mensch immer und zwangsläufig Gegenständen, die unmittelbar der Natur entnommen sind: Rohstoffe für die Produktion, Gelände für Gebäude bzw. Verkehrswege, Luft und Wasser als Grundlagen des Arbeitsprozesses sind Ausdruck hiervon. Damit wirkt der Mensch über den Arbeitsprozeß unaufhörlich auf die Natur ein, und da er selbst ein Bestandteil dieser ist, verändert er seine eigenen Lebensgrundlagen. Viertens wird der arbeitende Mensch im Laufe des Arbeitsprozesses selbst verändert. Selbstverwirklichung, Entfremdung und Gesundheitsverschleiß sind auf jeweils unterschiedliche Weise Ausdruck für diese Zusammenhänge. Diese Beeinflussung gilt auch bei dem Entzug der Teilnahme an der gesellschaftlich organisierten Arbeitsleistung, und dabei verrichtet der Mensch nicht dispositive oder objektbezogene, sondern immer ganzheitliche Arbeit, d.h. der Mensch als ganzheitliches soziales Wesen ist in den Arbeitsprozeß einbezogen. Darauf sollte sich auch das Aussagensystem der BWL in dem betreffenden Teil stützen. Jede Gesellschaft zeichnet sich durch eine besondere Art und Weise aus, wie dieser Arbeitsprozeß organisiert ist. Man faßt die hierbei auftretenden Fragen unter dem Begriff der Rationalität zusammen. Die mit dem Arbeitsbegriff verbundenen ökonomischen Grundkategorien lassen sich somit auf unterschiedliche Weise zu einem wirtschaftlich günstigen Ergebnis zusammenfügen. In Anlehnung an die in der Definition des Arbeitsbegriffs enthaltenen Kategorien gilt: Erstens sind gebrauchswertbezogene Bewertungen der Arbeitsprodukte ermittelbar; zweitens ist ein sozialer Maßstab angebbar, mit dem die Bedeutung des Ar1
Vgl. Conrad, O., Die Todsünde der Nationalökonomie, Leipzig/ Wien 1934, S. 4 ff.; Israel, J., Die sozialen Beziehungen, Reinbek 1977, S. 97 ff.
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beitsvollzuges und des Arbeitsergebnisses für die Selbstverwirklichung des Menschen erfaßt wird; daneben gibt es drittens einen technischen Maßstab, durch den die Effektivität der Arbeit in dem mengenmäßigen Verhältnis zwischen Einsatz von Arbeitsmitteln und Arbeitskräften zu Ausbringung an Arbeitsprodukten wiedergegeben wird; viertens läßt sich ein ökologischer Maßstab entwickeln, bei dem die Veränderung der Natur in Form von Raumbeanspruchung, Rohstoffnutzung u.ä. als Bezugsgröße gewählt wird. Diese vier Maßstäbe müssen innerhalb des arbeitsorientierten Zielsystems der Unternehmung zum Ausgleich gebracht werden. Dies kann nur über gesellschaftlich/ politische Bewertungen und Entscheidungen geschehen, in denen interessengeleitetes Handeln der gesellschaftlichen Gruppen auf der Basis bestimmter Machtpositionen zum Ausdruck kommt. In der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung dominiert dabei eindeutig das durch Marktbedingungen auf die Kapitalrationalität hin ausgerichtete wirtschaftliche Handeln. Erfolg und Mißerfolg der Unternehmungen werden weitgehend von daher bestimmt. Und doch bestehen auch hier zahlreiche Bestimmungen gesetzlicher, tarifvertraglicher und innerbetrieblicher Art, durch welche sowohl die mit dem Kapitaleinsatz verbundenen Machtpositionen zurückgedrängt werden, als auch die sich auf die stofflichen Formen des ökonomischen Prozesses beziehenden Fragen von Arbeitsprodukt, Arbeitskraft, Arbeitsmittel und Arbeitsrohstoff geregelt sind. Dies begann z.B. für den Bereich der Arbeitskräfte in der Frühindustrialisierung auf staatlicher Seite mit dem preußischen Regulativ gegen die Kinderarbeit von 1839, in tarifvertraglicher Hinsicht mit den ersten ausgehandelten Lohn- und Arbeitszeitverträgen unter Beteiligung der Gewerkschaft als kollektive Zusammenschlüsse der Arbeitnehmer und im innerbetrieblichen Bereich mit Individual- und Gruppenverträgen zum Schutz der menschlichen Arbeitskraft. Aber auch für die übrigen stofflichen Formen des Produktionsprozesses besteht eine Vielzahl von normativen Vorschriften. Indem eine allein auf die Marktökonomie und Rentabilität ausgerichtete Betriebswirtschaftslehre diese Zusammenhänge als nicht zu ihrem Gegenstandsbereich gehörig negierte, wurde sie zunehmend unfähiger zu erfassen, in welchem Verhältnis sich die gesellschaftliche Rationalität aus monetären oder nichtmonetären Teilen zusammensetzt. Gerade im sozialen Bereich der Regelung des Arbeitskräfteeinsatzes wird in Betrieben und Unternehmungen, in Tarifverträgen und durch staatliche Gesetze ein weites Feld geregelt, bevor die kapitalrationale Steuerung der Unternehmungspolitik zum Tragen kommt. Ähnliche Konsequenzen ergeben sich bezüglich der technischen, ökologischen und gebrauchswertbezogenen Formen der Rationalität. Man kann somit festhalten, daß die ausschließlich monetär, kapitalrational ablaufende Koordinierung gleichsam einen Extrempunkt darstellt, bei dem alle mit der Produktion zusammenhängenden stofflichen Probleme rein monetär geregelt sind. Eine Theorie, die diese Differenzierungen nicht zur Kenntnis nimmt, ist neben der möglichen kurzfristigen Ideologie ihrer
A Arbeitsorientierte Theorie der Unternehmung
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jeweils wirkenden Repräsentanten vor allem auch Opfer des langfristig wirkenden und des der individuellen Wissenschaftlersozialisation meist vorgelagerten Begriffsrahmens.
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A.6 Wirtschaftlichkeit*
1
Einleitung
Nach herrschender Meinung handelt es sich bei der Wirtschaftlichkeit um eine Verhältniszahl, in deren Zähler und Nenner jeweils Geldgrößen stehen. Dies können Kosten und Leistungen, Aufwand und Ertrag sein: Wirtschaftlichkeit =
Leistung Kosten
oder
Ertrag Aufwand
„Die Wirtschaftlichkeit ist umso günstiger, je größer als 1 die Kennziffer ist, oder in Prozenten ausgedrückt (durch die Kennziffer des Dividenden mit Hundert), je weiter die Kennziffer über 100% liegt.“1
Eng damit verbunden ist die Kennzahl der Rentabilität, bei der zunächst der Erfolg (Gewinn) als Differenz von Ertrag und Aufwand/Kosten gebildet wird. Diese Gewinngröße wird dann in Beziehung zum eingesetzten Kapital gebracht und als Quotient ausgedrückt: Rentabilität =
Gewinn x 100 Kapital
Der im folgenden zu diskutierende Zusammenhang bezieht sich häufig gleichermaßen auf die Maßstäbe der Wirtschaftlichkeit und Rentabilität, doch erschien es sinnvoll, zu Beginn die in der Betriebswirtschaftslehre vorherrschenden Begriffsbestimmungen zu geben. In einem Wirtschaftssystem mit Unternehmen, die ihre Existenz daraus ableiten, daß das in Geld bewertete Ergebnis aus dem Verkauf der Produkte größer ist als der damit verbundene Einsatz an Rohstoffen, Maschinen und menschlicher Arbeitskraft, wird die zentrale Bedeutung dieser Kennziffern verständlich. Alles, was kosten- oder aufwandssenkend bzw. leistungs- oder ertragssteigernd wirkt, wird angestrebt, während die gegenteiligen Wirkungen vermieden werden sollen. Durch diese wirtschaftlichen Tatbestände gewinnt der Maßstab der Wirtschaftlichkeit seine starke Bedeutung. Dies ist auch für den Zusammenhang zur Humanisierung der Arbeit, zum Arbeitsschutz und zur Arbeitsgestaltung wesentlich. Argumente zur Wirtschaftlichkeit und Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen stehen in der Praxis sowie in wissenschaftlichen Abhandlungen häufig in Gegensatz zueinander. Dies verbindet sich meist mit Konflikten *
1
in: Handbuch zur Humanisierung der Arbeit, hrsg. v. Bundesanstalt für Arbeitsschutz Dortmund/ E. Ott/ A. Boldt, Bremerhaven 1985, S. 1205-1222. Löffelholz, J.: Wirtschaftlichkeit und Rentabilität. In: Handwörterbuch der Betriebswirtschaft/ hrsg. v. Grochla, E./ Wittmann, W., 4. Aufl., Stuttgart 1976, Sp. 4463 f.
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209
zwischen Positionen von Unternehmern auf der einen Seite und Arbeitnehmern auf der anderen Seite. Dabei geht man bei den Unternehmern von betriebswirtschaftlich-technischen und bei den Arbeitnehmern von sozialen/humanen Zielen des Handelns aus.1 Zur Systematisierung dieser Beziehungen wurden Übersichten entwickelt, aus denen hervorgeht, wann eine Maßnahme negative, positive oder neutrale Auswirkungen auf die Wirtschaftlichkeit hat. Damit sollen diejenigen Teile erkennbar werden, über die sich die Personen und Gruppen mit unterschiedlichen Interessen einigen können. Das Konfliktfeld wird auf diese Weise eingegrenzt, denn es ist denkbar, daß beispielsweise die Mehrkosten für eine Verbesserung des Arbeitsschutzes, eine Erweiterung der Arbeitsinhalte und ähnliches durch Einsparungen an anderer Stelle ausgeglichen oder sogar überboten werden.
2
Zusammenhang von Wirtschaftlichkeit und Humanität
In der Literatur wird die Beziehung von Wirtschaftlichkeit und humanen Arbeitsbedingungen bzw. Humanität gerade im Zusammenhang mit der HdAForschung intensiver diskutiert. Dabei geht es insbesondere um die Frage der Verträglichkeit beider Ebenen. Ein besonders einprägsames Schema zur Systematisierung der hinter beiden Begriffen stehenden Inhalte wurde von Ellinger2 vorgelegt, in welchem die Beziehungen von betriebswirtschaftlich-technischen und humanen Aspekten der Produktionsumstellung aufgezeigt werden. Es stehen sich in diesem Modell also zwei Bereiche gegenüber, die durch Veränderungen jeweils verbessert, gleich bleiben oder verschlechtert werden können. Hieraus lassen sich grundsätzlich neun verschiedene Kombinationen ermitteln, wobei am folgenden Schaubild die humanen Wirkungen mit hellen Pfeilen und die technisch-wirtschaftlichen Wirkungen mit dunklen Pfeilen angedeutet sind. Aus der Richtung der Pfeile ergibt sich eine positive, neutrale und negative Wirkung. Der in der Abbildung schraffierte Bereich fällt für eine nähere Betrachtung aus, weil er für jede der beiden Positionen eine Verschlechterung bringt. In den übrigen Feldern handelt es sich um die Wirkung von Komplementarität (Feld Ia), Indifferenz (Felder 1b und IIa) und Konkurrenz (Felder Ic und IIIa).3
1
2
3
Projektgruppe im WSI, Grundelemente einer arbeitsorientierten Einzelwirtschaftslehre. Köln 1974 (WSI-Studium Nr. 23), S.47 ff, 92 ff. Ellinger, Th. u.a., Produktionsmutationen aus betriebswirtschaflich-technischer und humaner Sicht. In: Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis. 29. Jg. 1977. S. 381-394. Vgl. Gaugler, E. u.a., Humanisierung der Arbeitswelt und Produktivität. Literaturanalyse - Praktizierte Beispiele - Empfehlungen für die Praxis. Mannheim 1976; S. 222 ff.
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Abbildung 1: Wirtschaftlichkeit und Humanität bei Produktionsumstellungen 1 a
I
II
III
b
c
positive Mutationswirkung neutrale Mutationswirkung negative Mutationswirkung humane Wirkung der Mutation technisch-wirtschaftliche Wirkung der Mutation in der Praxis nicht relevante Mutationstypen
Eindeutiger Schwerpunkt der in der Literatur behandelten Fragen ist der in Feld Ia beschriebene Zusammenhang der Komplementarität zwischen Humanitätsund Wirtschaftlichkeitswirkungen. Die Aussagen im einzelnen sind jedoch keineswegs einheitlich. Am häufigsten wird die Instrumentalität von Humanisierungsmaßnahmen für die Wirtschaftlichkeit behauptet. Diese These steht vor dem Hintergrund der Auffassung, daß die Taylorisierung der Arbeit Motivation und Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer behindere, Humanisierung eine Aufhebung tayloristischer Arbeitsformen und von daher eine Steigerung der Wirtschaftlichkeit bringen müsse. Umgekehrt wird jedoch behauptet, daß eine Erhöhung tayloristischer Arbeitsformen zu einer Steigerung der Humanität führe, weil sie zur Arbeitsplatzbeschaffung und -sicherung notwendig sei. Eine dritte Interpretation der Komplementaritätsthese liegt in der Charakterisierung der Wirtschaftlichkeit als eine notwendige Nebenbedingung für HdA-Maßnahmen. Unterschiedlich ist auch die Begründung für die Behauptung einer Zielkomplementarität. Einerseits wird gesagt, daß die gesellschaftliche Vernunft es verbiete, das »Sachziel« der Unternehmung zugunsten von Humanansprüchen der Arbeitnehmer zu beeinträchtigen, so daß von dieser Norm ausgehend Verbesserungen oder zumindest Gleichheit der Wirtschaftlichkeit Bedingung für Humanisierung sei. Andererseits wird die reale Zwangsgebundenheit privatwirtschaftlichen Handelns im Konkurrenzzusammenhang als Filter begriffen, der solche Humanisierungsmaßnahmen von vornherein ausscheide, die dem Primärziel unternehmerischen Handelns widersprechen. Aus dem Bereich der Indifferenzthese enthält Feld Ib nur solche Maßnahmen, die Anspruchsdimensionen aus dem Humanbereich nicht verändern. Für die in Feld IIa zusammengefaßten Maßnahmen sind zwei Argumentationsvarian1
Ellinger, Th. u. a., Produktionsmutationen aus betriebswirtschaflich-technischer und humaner Sicht. In: Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis. 29. Jg. 1977. S. 381-394.
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ten feststellbar: Einerseits wird das Ziel der Humanisierung gleichrangig neben jenes der Wirtschaftlichkeit gerückt, und von daher werden die Maßnahmen begründet, die dem Ziel der Humanität folgen, ohne das andere zu beeinträchtigen. Andererseits wird aus dem Blickwinkel der betroffenen Arbeitnehmer die Erhaltung der Wirtschaftlichkeit als notwendige Nebenbedingung für die Durchsetzung humaner Ansprüche gesehen. Die Konkurrenz-These – hier symbolisiert in den Feldern III a und Ic – wird ebenfalls in unterschiedlichen Argumentationszusammenhängen vorgetragen. Einerseits wird ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen Humanisierung und Wirtschaftlichkeit behauptet, der eine Humanisierung von Lohnarbeit ausschließe, weil deren konstitutive Merkmale einer Humanisierung im Wege stehen. Man könnte diese Variante mit Feld Ic gleichsetzen, das dann signalisiert, daß Gewinnmaximierung und Humanität stets einander entgegen gerichtet sind, erstere aber das primäre Gestaltungskriterium ist, dem alle Produktionsmutationen unterworfen sind. Die zweite, häufiger vertretene Position läßt zwar grundsätzlich auch Komplementaritäts- und Indifferenz-Beziehungen als Möglichkeit offen, fordert jedoch auch für den Fall von damit verbundenen Wirtschaftlichkeitseinschränkungen die Durchsetzung bestimmter essentieller Humanisierungsmaßnahmen. Diese müßten dann über Tarifverträge oder staatliche Vorschriften durchgesetzt werden, da eine Realisierung von Seiten der einzelnen Unternehmung nicht zu erwarten sei. Aus dieser Wiedergabe des Literaturstandes wird deutlich, daß mit der Systematisierung nur eine begriffslogische Orientierung möglich wird. Es führt von da aus kein Weg zur Lösung praktischer Probleme, die Wirtschaftlichkeit sozialer Verbesserungen in der Produktionsstruktur zu beurteilen. Hier ist offensichtlich eine nähere Auseinandersetzung mit den entsprechenden Berechnungsmethoden in ihren jeweiligen Entwicklungen und Annahmen erforderlich, um zu den Einflußfaktoren vorzudringen.
3
Geldrechnungen und Wirtschaftlichkeit
3.1 Von der doppelten Buchhaltung zur Kostenrechnung Das Prinzip der Wirtschaftlichkeit und die zu deren Ermittlung anzuwendenden Berechnungsmethoden entwickelten sich im Zuge des Aufbaues einer auf die Rentabilität des Kapitaleinsatzes ausgerichteten Wirtschaftsweise bzw. Unternehmungspolitik. Grundlage hierfür war die Herausbildung der doppelten Buchhaltung, die aufs engste mit dem Entstehen des Frühkapitalismus in den Handelsstaaten Oberitaliens, Mittel- und Westeuropas im 13. bis 15. Jahrhundert
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verbunden ist.1 Die doppelte Buchhaltung ist erstmals für das Jahr 1340 in Genua nachgewiesen und seither steht eine Methode zur Verfügung, mit der die Kapitalbewegungen in Unternehmen nachgezeichnet werden können.2 Die damit einhergehende Erfolgsermittlung durch das Gegenüberstellen von Vermögen und Schulden im Rahmen einer Bilanz reicht dann nicht mehr aus, wenn man nach den Quellen des Gewinns bzw. Verlustes fragt. Man stellte daher neben die Aufstellung der Bilanz die Gewinn-/Verlust-Rechnung. Auf diese Weise ließen sich zahlreiche Rechnungen durchführen, in denen der Erfolg in Beziehung zu einzelnen Kapitalgrößen, zum Umsatz und ähnlichem gesetzt wurde. Auch ließen sich die verschiedenen Einflußfaktoren des Erfolgs untereinander vergleichen (z.B. Löhne, Materialkosten, Maschinenkosten, Erlöse aus dem Verkauf der Produkte). Dennoch gilt: „Im Ursprung - begrifflich und historisch - sind Bilanz und Erfolgsrechnung eins. Ist ein Geschäft abgeschlossen, weist der Überschuß des End- über das Anfangskapital den erzielten Gewinn aus. Die Bilanz zeigt den Gewinn als fertiges Resultat; die Gewinn- und Verlustrechnung die einzelnen Elemente als Aufwand und Ertrag.“3
Mit dem Aufbau großindustrieller Anlagen im 19. Jahrhundert stieg auch die Höhe des Kapitaleinsatzes stark an und die Absatzmärkte erweiterten sich. Damit verbunden war die Steigerung des Risikos des Kapitaleinsatzes. Man benötigte von daher Rechenverfahren, die möglichst detailliert Angaben zur Wirtschaftlichkeit einzelner Maßnahmen erlaubten. Auf diese Weise treten diejenigen finanziellen Größen in den Vordergrund, die unmittelbar produktionsbezogen sind. Es handelt sich somit um den Teil der Aufwendungen, der sich aus der Herstellung der Produkte ableitet. Man nennt diese Größen Kosten. Die so auf den unmittelbaren Produktionszweck der Unternehmung ausgerichtete Kostenrechnung kann einmal für die Kontrolle der abgelaufenen Wirtschaftstätigkeit ausgestaltet sein und ist damit vergangenheitsbezogen. Sie kann aber auch geplante Ansätze erhalten und wird damit zur Wirtschaftlichkeitsrechnung der Zukunft mit den sich anschließend ergebenen Möglichkeiten des Soll-Ist-Vergleiches nach Ablauf der Planperiode. Dabei werden die einzelnen Kosten zunächst in Kostenarten eingeteilt. Als wesentlichste Arten seien hier genannt: Löhne/ Gehälter/ soziale Einrichtungen/ Fertigungsmaterial/ Roh-, Hilfs-, Betriebsstoffe/ Instandhaltung/ Maschinen- und Gebäudeverschleiß/ Steuern/ Abgaben/ Beiträge. Die Zuordnung innerhalb der Unternehmung erfolgt in sogenannten Betriebsabrechnungsbögen (BAB). Hier werden die einzelnen Kostenarten den 1
2
3
Schiele, H./ Ricker, M., Betriebswirtschaftliche Aufschlüsse aus der Fuggerzeit. Berlin 1967 (Nürnberger Abhandlungen zu den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, H. 25), S. 118. Penndorf, B., Die italienische Buchhaltung im 14. und 15. Jahrhundert und Paciolis Leben und Werk. In: Paciolo, L., Abhandlungen über die Buchhaltung. 1494. Neudruck Stutgart 1968, S. 47. Hundt, S., Zur Theoriegeschichte der Betriebswirtschaftslehre. Köln 1977, S. 53.
A Arbeitsorientierte Theorie der Unternehmung
213
Stellen zugerechnet, an denen sie entstehen (z.B. Werkstatt A, B, C, Verwaltung). Da manche Kostenarten für mehrere Kostenstellen anfallen, ist eine Aufschlüsselung erforderlich, wenn man zu einer vollständigen Aufteilung auf die Kostenstellen kommen will. Ein weiteres Gebiet ergibt sich, wenn die einzelnen Produkte oder Produktionsteile mit den Kosten belastet werden sollen, die bei ihrer Erstellung entstehen. Einfach ist dieser Vorgang, wenn die einzelnen Kostenarten direkt zugeordnet werden können (z.B. anfallende Material- und Lohnkosten). Sehr viel schwieriger und teilweise nur durch Schätzverfahren lassen sich diejenigen Kosten verrechnen, die für die Erzeugung mehrerer Produkte als Ganzes anfallen (z.B. Verwaltungs-, Forschungs-, Energiekosten). Hier handelt es sich um sogenannte Gemeinkosten, die über verschiedene Berechnungsverfahren auf die einzelnen Produkte umgerechnet werden.1 Mit diesen Erläuterungen liegen nun alle Voraussetzungen vor, um sich mit den in der Betriebswirtschaftslehre entwickelten Geldrechnungen zu befassen.
3.2 Traditionelle Wirtschaftlichkeitsrechnungen Ein weiterer Schritt zur stärkeren Erfassung der Wirtschaftlichkeit einzelner Maßnahmen hängt mit der Entwicklung von Investitions-, Rentabilitäts- bzw. Wirtschaftlichkeitsrechnungen zusammen. Dabei werden Kosten-, Aufwandsund Ertragsgrößen bzw. Ausgaben und Einnahmen in verschiedenen Rechenverfahren benutzt, um die Auswirkungen der Investitionen auf das finanzielle Ergebnis der Unternehmung feststellen zu können. Ziel der einzelnen Verfahren ist es, in einer Ziffer einen Überblick über die finanzwirtschaftlichen Konsequenzen zu erhalten. Daraus wird deutlich, daß nur monetäre Größen in diese Berechnungen eingehen (eindimensionales Zielsystem). Durch die Investitionsrechnung selbst läßt sich kein Entscheidungsproblem lösen, sie ist vielmehr ein Hilfsmittel zur Entscheidungsfindung, so daß auch andere Beurteilungsmaßnahmen herangezogen werden. Für eine Beurteilung der Ergebnisse sind zwei Komponenten entscheidend: Erstens ist die Auswahl des Verfahrens zu erwähnen und zweitens werden innerhalb der einzelnen Verfahren bestimmte Annahmen über die Parameter bzw. Bestandteile der Rechenverfahren gemacht. Aus einer 1978 veröffentlichten empirischen Untersuchung ergab sich folgende Verteilung der zur Anwendung kommenden Wirtschaftlichkeitsrechnungen (Mehrfachnennungen möglich):2 1
2
Wöhe, G., Einführung in die allgemeine Betriebswirtschaftslehre. 11. Aufl. München 1975, S.878 ff. Budde, A., Die Organisationsstruktur von Investitionsentscheidungen in Unternehmen. Mannheim 1978.
214
Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
-
Rentabilitätsrechnungen: 58,2% Amortisationsrechnungen: 61,8% Dynamische Verfahren: 58,2% Sensitivitätsrechnungen: 36,4% Keine Rechnungen: 5,5%
Die verschiedenen Rechenverfahren werden üblicherweise in zwei Gruppen eingeteilt: 1.Statische Verfahren: a) Kostenvergleichsrechnung b) Gewinnvergleichsrechnung c) Rentabilitätsrechnung d) Amortisationsrechnung 2. Dynamische Verfahren:
a) b) c)
Kapitalwertmethode Interne Zinsfuß-Methode Annuitäten-Methode
Bei den statischen Verfahren werden die finanziellen Auswirkungen der Investitionen nur in einem bestimmten Zeitraum, in der Regel innerhalb eines Jahres betrachtet. Dabei unterstellt man, daß die damit erfaßten Bedingungen im gesamten Zeitraum ähnlich verlaufen. Demgegenüber werden bei den dynamischen Verfahren alle Einnahmen und Ausgaben, die mit einer Maßnahme verbunden sind, erfaßt und auf einen gemeinsamen Zeitpunkt bezogen. Im folgenden wollen wir die einzelnen Verfahren kurz beschreiben, um zumindest einen Überblick über die jeweiligen Charakteristika zu erhalten.1 Auf die Sensitivitätsrechnungen wird dabei am Ende dieses Abschnittes kurz eingegangen. Kurzbeschreibung der einzelnen Verfahren: Kostenvergleichsrechnung Vergleich der in einem bestimmten Zeitraum anfallenden Kosten für verschiedene Investitionsobjekte. Am günstigsten ist das Objekt mit den geringsten Kosten bei einer bestimmten Stückzahl, die vorher angegeben wird. Gewinnvergleichsrechnung Es werden neben den Kosten auch die Erlöse, die mit den verschiedenen Investitionsalternativen verbunden sind, mit in die Betrachtung einbezogen. Damit lassen sich die Gewinne, meist bezogen auf ein Jahr, vergleichbar machen. 1
Kern, W., Grundzüge der Investitionsrechnung. Stuttgart 1976, S. 37-63, 78 ff. ; Wöhe, G., Einführung in die allgemeine Betriebswirtschaftslehre. 11. Aufl. München 1975, S. 508-519.
A Arbeitsorientierte Theorie der Unternehmung
215
Rentabilitätsrechnung In seiner einfachsten Form werden die erwarteten Jahresgewinne der einzelnen Investitionsmöglichkeiten ermittelt und auf die erforderliche Investitionskapitalsumme bezogen. Dies führt zur Kennziffer der Rentabilität. Rentabilität:
Gewinn x 100 Kapital
Amortisationsrechnung Es wird danach gefragt, in welchem Zeitraum (Anzahl von Jahren, Monaten u.ä.) das investierte Kapital in das Unternehmen zurückfließt. Es gilt: Anschaffungsausgaben Jährlicher Einnahmeüberschuss Kapitalwertmethode Alle in der Gesamtzeit der Investitionen voraussichtlich anfallenden Ausgaben und Einnahmen werden erfaßt und auf den gemeinsamen Zeitpunkt unmittelbar vor Beginn der Investition bezogen. Hierbei bedient man sich der im Rahmen der Zinseszinsrechnung üblicherweise verwendeten Rechenmethode und setzt einen Zinssatz ein, der die gewünschte Mindestverzinsung angibt. Erreicht das Ergebnis (der Kapitalwert) zumindest den Wert 0, so wird die Mindestverzinsung durch die Investition gewährleistet. Interne Zinsfuß-Methode Ausgangspunkt der Überlegung ist zunächst die Erfassung aller Ausgaben und Einnahmen. Für diese wird dann ein Zinssatz errechnet, bei dem der Kapitalwert gleich Null ist. Dieser Zinssatz, der die Rentabilität der Investition angibt, muß dann mit einem Kalkulationszinssatz verglichen werden, um angeben zu können, ob der errechnete Wert den Erwartungen des investierenden Unternehmens genügt. Annuitäten-Methode Man errechnet für die Einzahlungen und Auszahlungen, die mit einer Investition verbunden sind, durchschnittliche Jahreswerte. Dieses Verfahren entspricht der Kapitalwertmethode, allerdings mit dem Unterschied, daß der Kapitalwert in gleichgroße jährliche Differenzbeträge zwischen Einnahmen und Ausgaben umgerechnet wird. Die Probleme bei der Anwendung der Ergebnisse von Wirtschaftlichkeitsrechnungen ergeben sich im Zusammenhang mit der Auswahl der Verfahren, den Informationserfordernissen über die Rechengrößen der Verfahren sowie den grundsätzlichen Problemen der Zurechnung von Kosten, Erträgen, Einnahmen,
216
Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
Ausgaben u.ä. Darüber hinaus gilt, daß alle Ergebnisse an das eindimensionale monetäre Zielsystem gebunden sind.1 Als Konsequenz aus der Struktur der Verfahren und ihrer Probleme folgt, daß es keine von Interessenstandpunkten freien Wirtschaftlichkeitsberechnungen gibt. Damit eröffnen sich auch Ansatzpunkte, die damit verbundenen Gestaltungsfreiräume von Arbeitssystemansprüchen bzw. der Verbesserung von Arbeitsbedingungen im Rahmen der einzelnen Investitionsverfahren interessenbezogen zu füllen. Als Ansatz für die Einbeziehung von Aspekten humaner Arbeitsgestaltung in die monetäre Bewertung von Investitionen stehen somit die interessenabhängige Veranschlagung von Parametern im Zusammenhang mit traditionellen Investitionsrechenverfahren zur Verfügung. Dabei läßt sich über sogenannte Sensitivitäts-Analysen angeben, in welchen Bandbreiten eine Veränderung der einzelnen Parameter zu unterschiedlichen Ergebnissen in der Wirtschaftlichkeitsberechnung führt. Es bleibt die Begrenzung bestehen, daß die zunächst qualitativen Größen, mit denen eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen angegeben wird (z.B. Lärmminderung, Erhöhung der Arbeitssicherheit, Lernfähigkeit der Beschäftigten), in den eindimensionalen Maßstab monetärer Größen umgewandelt werden müssen. Dies kann auch im günstigsten Falle nur für Teile von Wirkungen humaner Arbeit gelingen. Die finanzwirtschaftliche Vorteilhaftigkeit einer Investition ist im wesentlichen abhängig von: -
Kapitaleinsatz (Anschaffungskosten) Kalkulationszinsfuß wiederkehrenden Kosten (bzw. Ausgaben) wiederkehrenden Erlösen (bzw. Einnahmen) Nutzungsdauer Investitionsalternativen
Je nach dem Ansatz der einzelnen Werte verändert sich das Ergebnis. Im Rahmen einer Sensitivitätsanalyse lassen sich die Ergebnisänderungen in Beziehung zu der Variation einzelner Parameter bringen. So kann der »Sicherheitsspielraum« der in das Investitionsrechenverfahren eingehenden Größen ermittelt werden, bis zu dem einzelne Investitionsalternativen vorteilhaft bleiben. Dadurch wird nachweisbar, bei welcher Ausgabenerhöhung, Einnahmensenkung, Nutzungsdauerveränderung, Zinsfuß-Variation u.ä. eine Alternative monetär unwirtschaftlich wird. Durch das Benennen von Bewertungsproblemen und die Angabe von Bandbreiten ist eine verbesserte Grundlage für den Aushandlungsprozeß zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gegeben. 1
Kappler, E., Rehkugler, H., Kapitalwirtschaft. In: Heinen, E. (Hrsg.), Industriebetriebslehre. 4. Aufl. Wiesbaden 1975, S. 700 ff.
A Arbeitsorientierte Theorie der Unternehmung
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Von besonderer Bedeutung bleibt jedoch, daß in der Regel eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen mit finanziellen Mehrbelastungen verbunden ist. Dies wird in die Berechnung einbezogen, während die damit verbundenen Entlastungen indirekter Art (Rückgang von Krankheit, Unfällen, Fehlzeiten u.ä.) meist unberücksichtigt bleiben.1
3.3 Methoden der Erweiterung der Wirtschaftlichkeitsrechnung Eine Suche nach Möglichkeiten, die indirekten Kostenkomponenten einzubeziehen, ist daher erforderlich. Dies geschieht durch die Erweiterung der monetären Rechenverfahren. Als Ausgangspunkt dient die Tatsache, daß eine Investitionsvariante direkte und indirekte kostenwirksame Konsequenzen hat. In einem von Steffen2 entwickelten Schema wird versucht, auch jene Auswirkungen von Arbeitsstrukturierungsmaßnahmen zu erfassen, die ursprünglich nicht quantitativmonetär meßbar sind. Dies geschieht über eine Ursache-Wirkungskette, die sich wie folgt skizzieren läßt: Kennzeichnend für den Ansatz ist die Einbeziehung vier weiterer bedeutender Kostenkomponenten neben den unmittelbar produktionsbedingten Kosten (hier Lohnkosten): a) b) c) d)
Anlern-/Umlernkosten fluktuationsbedingte Kosten fehlzeitenbedingte Kosten Kosten zur Beseitigung von Produktionsfehlern.
Arbeitsstrukturierungsmaßnahmen determinieren eine neue Arbeitssituation. Die Durchführung der Strukturierungsmaßnahmen verursacht auf direktem Wege Anlern- bzw. Umlernkosten und bestimmte produktionsbedingte Lohnkosten, die z.B. von dem erforderlichen Qualifikationsniveau der neuen Arbeitsstruktur abhängen. Der Katalog der Beurteilungskriterien wird um »indirekt kostenwirksame Bestandteile« ergänzt. Die Arbeitssituation beeinflußt das Verhalten der von ihr betroffenen Menschen und damit Fluktuationsraten, Fehlzeiten und die Häufigkeit von Produktionsfehlern. Diese verhaltensrelevanten Auswirkungen von Arbeitsstrukturen sind laut Steffen von entscheidender kostenbegründender Bedeutung. Bei der Bewer1
2
Koubek, N. u.a., Einzelwirtschaftliche Investitionsentscheidungen und Arbeitssysteme: Zur Wirtschaftlichkeit und Bewertung von Investitionen in Unternehmen. Eggenstein-Leopoldshafen 1982 (Forschungsbericht des BMFT, HA 82-039), S.79 ff. Steffen, R., Die Berücksichtigung von Job rotation und teilautonomen Arbeitsgruppen in der betriebswirtschaftlichen Produktions- und Kostentheorie. In: Die Betriebswirtschaft. 38. Jg. Stuttgart 1978, S. 421 ff.
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Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
tung mehrerer Arbeitsstrukturierungsmaßnahmen ist daher zu untersuchen, ob nicht Alternativen, die beispielsweise höhere Anlern-, Umlern- und Lohnkosten auf Grund eines höheren Qualifikationsniveaus verursachen, auf der anderen Seite Senkungen der Fluktuations-, Fehlzeiten und Fehlerbeseitigungskosten bedingen. Die Einbeziehung dieser oder ähnlicher unternehmensspezifischer Kostenkomponenten in den Prozeß der Bewertung alternativer Arbeitsstrukturierungsmaßnahmen erlaubt eine umfassendere kostenmäßige Beurteilung der Gestaltungsvarianten. Die Aussagen des Ansatzes beziehen sich ursprünglich zwar nur auf Arbeitsstrukturierungsmaßnahmen, lassen sich sinngemäß aber auch auf andere Humanisierungsmaßnahmen und auf andere Humanisierungsbereiche übertragen.1 Abbildung 2: Transformation indirekt kostenwirksamer Auswirkungen von Arbeitsstrukturierungsmaßnahmen Arbeitsstrukturierungsmaßnahme determiniert Arbeitssituation wirkt auf Menschen Mensch vergleicht Arbeitssituationen mit seinen Bedürfnissen
direkt kostenwirksame Auswirkung
Vergleich bedingt
Indirekt Kostenwirksame Auswirkungen
Zufriedenheitsgrad
Verhaltensweisen des Menschen in Arbeitssituationen
Anlern-/ Umlernkosten (KAU)
prod. bedingte Lohnkosten (KP)
Fluktuationskosten
Kosten für Fehlzeiten
(KFL)
(KFE)
Kosten für Beseitigung von Prod.fehlern (KFB)
Arbeitsbezogene Gesamtkosten (KA)
1
Vgl. Koubek, N. u.a., Einzelwirtschaftliche Investitionsentscheidungen und Arbeitssysteme: Zur Wirtschaftlichkeit und Bewertung von Investitionen in Unternehmen. Eggenstein-Leopoldshafen 1982 (Forschungsbericht des BMFT, HA 82-039), S. 86 f.
A Arbeitsorientierte Theorie der Unternehmung
219
Positive Wirkungen einer nach Humanisierungskriterien gestalteten Investitionsvariante werden also im wesentlichen in dem Bereich „indirekt gegründete Zusatzkosten“ liegen. Negative Kostenwirkungen, d.h. Kostensteigerungen, werden überwiegend in dem Bereich „direkt gegründete Kosten“ liegen. Dabei handelt es sich bei Investitionsbewertungsverfahren in jedem Fall um Zukunftsgrößen. In den meisten Fällen lautet die Alternative bei der Auswahl von Investitionen unter Verwendung der erweiterten Wirtschaftlichkeitsrechnung somit: Kann bei einer nach arbeitswissenschaftlichen Gesichtspunkten gestalteten Investitionsvariante die Erhöhung der direkten Kosten durch eine entsprechende Senkung der indirekten Kosten kompensiert oder sogar überkompensiert werden? Die Prognose der durch einzelne Investitionsvarianten erfolgenden Veränderungen der monetären Größen läßt sich nicht interessenneutral vornehmen. Darüber hinaus ist eine Transformation der Änderungen des Arbeitsverhaltens in monetär quantifizierte Kostengrößen nur begrenzt möglich. Außerdem wird i. d. R. von gleichbleibenden Erlösen ausgegangen. Der Zwang zur exakten monetären Quantifizierung führt dazu, daß der Einsatz der Verfahren erst in einem relativ fortgeschrittenen Planungsstadium stattfinden kann. Erst hier ist die Konkretisierung so hoch, daß eine finanzökonomische Bewertung des Zusammenhangs „Arbeitssystem - Eigenschaften - Arbeitsbedingungen - kostenrelevantes Verhalten“ unter Gesichtspunkten der Wirtschaftlichkeit versucht werden kann. Auch müssen die Berechnungen auf der Basis hypothetischer Kostenverläufe erfolgen, in denen bei Humanisierungsmaßnahmen das Arbeitsverhalten zum Ausdruck kommt.
4
Formen stofflicher Wirtschaftlichkeit
Alle bisherigen Ausgestaltungen der Wirtschaftlichkeit blieben auf der Ebene von geldmäßig meßbaren Vorgängen, unabhängig davon, ob es leicht oder schwierig war, die entsprechenden Zahlenwerte zu ermitteln. Es ist aber unbestritten, daß in Geld nicht alle wesentlichen wirtschaftlichen Vorgänge ausdrückbar sind. Dies gilt insbesondere, wenn man die aus unterschiedlichen Interessenanlagen in der Gesellschaft resultierenden Ansprüche und Betroffenheiten einbezieht. In einer Marktwirtschaft bilden sich die geldmäßigen Größen (Preise) durch Angebot und Nachfrage, also durch Tausch. Hilfsweise treten auch Geldbeträge auf, die durch Staat, Behörden und Verbände festgelegt sind, z.B. für Abgaben, Steuern, Gebühren. Die Preise bilden sich auf der Grundlage von stofflichen Vorgängen im Wirtschaftsablauf, ohne deren Besonderheit zwingend zu berücksichtigen. Dies gilt für die Ausbringungsmengen, die Einsatzstoffe, die Materialien und Maschinen, die Arbeitskräfte und den Umweltverzehr. Dieser Begrenzung unterliegen auch die entsprechenden Wirtschaftlichkeitsberechnungen und die zu ihrer Erfassung eingesetzten Methoden. Damit werden jedoch der
220
Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
Nutzungsgrad der Maschinen, die Belastung der Arbeitnehmer, die Qualität der Produkte oder der Umweltverbrauch nur insoweit erfaßt, als sie jeweils in Geldgrößen widergespiegelt werden. Von daher lassen sich auch Formen der Wirtschaftlichkeit entwickeln, die auf die einzelnen stofflichen Größen unmittelbar Bezug nehmen. Bisher steht hier insbesondere der Nutzungsgrad der Maschinen und Anlagen im Vordergrund, wobei es um das Verhältnis von Einsatz- und Ausbringungsmengen geht. Orientiert man sich jedoch an der im Arbeitsprozeß ablaufenden Umwandlung von Einsatzstoffen, menschlicher Arbeitskraft und Naturstoffen, durch die Endprodukte erzeugt werden, so lassen sich hieraus insgesamt 4 stoffliche Wirtschaftlichkeitskennziffern ermitteln, die durch eigene Wertgrößen bestimmt sind, sich untereinander jedoch wechselseitig beeinflussen.1 Es handelt sich dabei um: 1 Ökologische Wirtschaftlichkeit 2 Soziale Wirtschaftlichkeit 3 Technologische Wirtschaftlichkeit 4 Produktbezogene Wirtschaftlichkeit. Eine unmittelbare Vergleichbarkeit dieser einzelnen Werte untereinander ist durch den Verzicht auf den gemeinsamen Faktor Geld nicht mehr gegeben. Vielmehr werden die einzelnen Ziffern in zahlreichen Gesetzen, Verordnungen und Tarifverträgen sowie durch spezifische Angaben festgelegt. Im folgenden sollen die vier Formen kurz erläutert werden. Dies führt dazu, daß die Probleme des menschlichen Arbeitseinsatzes, die mit der sozialen Wirtschaftlichkeit in Beziehung stehen, in den größeren Rahmen einer stofflichen Rationalität gestellt werden. Ein solches Vorgehen erscheint gerechtfertigt, wenn man den Zusammenhang von Mensch und Natur und die darauf einwirkenden Komponenten zum Ausgangspunkt der Analyse wirtschaftlicher Vorgänge macht.2
1
2
Vgl. Koubek, N., Arbeit und ökonomische Rationalität in der Wirtschaftspolitik. In: Krise der Wirtschaftspolitik, hrsg. v. H. Markmann/ D. B. Simmert, Köln 1978. S. 156 ff. Vgl. Freimann, J., Plädoyer für eine alternative ökonomische Rationalität. In: Arbeitsgruppe für angepasste Technologie (Hrsg.), Technik für Menschen. Frankfurt am Main 1982, S. 128-144; Haas, J., Lucas, R., Pfriem, R., Überlegungen zu einer auf Mensch und Natur bezogenen Betriebswirtschaftslehre. Wuppertal 1982 (Arbeitspapier des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaft der Gesamthochschule Wuppertal).
A Arbeitsorientierte Theorie der Unternehmung
221
4.1 Ökologische Wirtschaftlichkeit1 Ausgangspunkt jedes wirtschaftlichen Tuns ist die Inanspruchnahme von Naturstoffen. Geht man von den Bedingungen des ökologischen Kreislaufs aus, so läßt sich ökologische Wirtschaftlichkeit als Maßgröße beschreiben, bei der dieser Kreislauf möglichst wenig belastet wird. Dies bezieht sich auf die Inanspruchnahme von Luft, Wasser, Energiemengen, Rohstoffen sowie der Abgabe von Abgasen, Abwässern, Abfallprodukten u.ä. Als Kennziffer einer ökologischen Wirtschaftlichkeit ist somit angebbar: Ökologische Wirtschaftlichkeit =
Umweltbelastung Ausbringungsmenge
Dabei sind über verschiedene physikalische, chemische, biologische und technische Kennziffern die jeweiligen belastungs- bzw. verbrauchsspezifischen Werte zu ermitteln. Ziel dieser Art der Wirtschaftlichkeit muß es sein, die mit der Herstellung von Produkten verbundene Umweltbelastung bzw. den Verbrauch an Rohstoffen möglichst niedrig zu halten. 4.2 Soziale Wirtschaftlichkeit2 Jeder wirtschaftliche Vorgang ist mit dem Einsatz menschlicher Arbeitsleistung verbunden. Die Menschen erfahren auf Grund ihrer Konstitution durch das Arbeiten physische, psychische und mentale Veränderungen. Gleichzeitig werden sie auch durch den Umgang mit den erstellten Gütern und Dienstleistungen beeinflußt. Faßt man diesen Teil des wirtschaftlichen Handelns zusammen, so ergeben sich zahlreiche Darstellungsmöglichkeiten, in denen die Art der menschlichen Arbeit beschrieben wird. Diese Kennzahlen lassen sich als soziale Wirtschaftlichkeit umschreiben. Allgemein gilt: Soziale Wirtschaftlichkeit = Einflussfaktoren auf die menschliche Arbeit menschliche Arbeitsleistung
1
2
Vgl. Binswanger, H. C./ Geißberger, W./ Ginsburg, T., Wege aus der Wohlstandsfalle. In: NAWUReport: Strategien gegen Arbeitslosigkeit und Umweltzerstörung. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1980. Vgl. Matthöfer, H., Humanisierung der Arbeit und Produktivität in der Industriegesellschaft. 3. Aufl. Köln 1980.
222
Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
So lassen sich z.B. folgende Kennziffern bilden: Zahl der Arbeitsunfälle ; Verbesserungsvorschläge Anzahl der Arbeitsstunden Zahl der Beschäftigten Berufsfortbildungsmaßnamen ; Zahl der Beschäftigten
;
Zeitliche Dauer des Produktionsvorgangs Zahl der Beschäftigten
Ziel der hier beschriebenen Wirtschaftlichkeit ist es, die Belastungen durch die Arbeit möglichst gering zu halten bzw. die Beteiligungsrechte bzw. Möglichkeiten der Selbstverwirklichung zu steigern. Eine Vielzahl von Forschungsprojekten aus dem Programm »Humanisierung des Arbeitslebens« diente diesem Zweck. Im Mittelpunkt standen somit jeweils besondere Schwerpunkte der Verbesserung sozialer Wirtschaftlichkeit bzw. Humanität im Unternehmen. 4.3 Technologische Wirtschaftlichkeit1 Die technologische bzw. technische Wirtschaftlichkeit wird in der Literatur meist als Produktivität bezeichnet und ergibt sich aus dem Verhältnis von Ausbringungs- und Einsatzmengen. Die Definition lautet Technische Wirtschaftlichkeit =
Ausbringungsmenge Einsatzmenge
Technische Optimalität liegt dann vor, wenn die Nutzung eines Arbeitssystems hinsichtlich der Dauer, des Umfangs und der Intensität so gestaltet ist, daß der Materialaufwand, der Verschleiß, die Reparaturanfälligkeit o. ä. möglichst gering sind bzw. die Ergiebigkeit möglichst hoch ist. Über besondere Indikatoren zur Erfassung der einzelnen Verbrauchsstoffe und der Belastungen bestehen Möglichkeiten einer Operationalisierung. Dies wird in besonderen Produktions- bzw. Verbrauchsfunktionen zum Ausdruck gebracht, in denen die Beziehungen von Einsatz und Ausbringung in unterschiedlichen Mengen bzw. Leistungsstandards dargestellt sind. Kosiol schreibt hierzu:2 „Es kommt nun nicht darauf an, schlechthin möglichst viel an Ergebnis zu erreichen oder wenig an Aufwand hineinzustecken. Entscheidend ist das optimale Verhältnis beider Größen, d.h. ob ein Mehr an Ergebnis mit verhältnismäßig weniger Aufwand gewonnen werden kann oder ob ein Mehr an Aufwand zu einem verhältnismäßig größeren Ergebnis führt.“
1 2
Vgl. Gottl-Ottlilienfeld, F. v., Vom Sinn der Rationalisierung, Jena 1929. Kosiol, E., Die betriebswirtschaftlichen Aufgaben der Technik (1939). Wieder abgedruckt in: Ders., Bausteine der Betriebswirtschaftslehre. 1. Bd. Berlin 1973, S. 235.
223
A Arbeitsorientierte Theorie der Unternehmung
4.4 Produktbezogene Wirtschaftlichkeit1 Mit der Herstellung der einzelnen Produkte in Unternehmen und der Nutzung durch die Verbraucher sind bestimmte Vorgänge verbunden, die mit dem Gebrauchswert dieser Güter und Dienstleistungen zusammenhängen. Diese kommen in der Dauerhaftigkeit, der Sicherheit der Handhabung, der leichten Verfügbarkeit, der Reparaturfreundlichkeit, der zur Verfügung stehenden Mengen u.ä. zum Ausdruck. Eine Zusammenfassung dieser Vorgänge läßt sich bezeichnen als: Produktbezogene Wirtschaftlichkeit = Wartungs- bzw. Bedienungsumfang Nutzungsintensität Kennziffern dieser Art können sein: Störungen eines Gutes ; Dauer der Nutzung
Kundennetze ; Bevölkerungszahl
Stromverbrauch Leistungseinheiten
Eine Fülle von Beispielen für die Aufstellung entsprechender Kennziffern und Beurteilungskriterien stellen die Veröffentlichungen der Stiftung Warentest dar. Aber auch in den Gebrauchsbeschreibungen von langlebigen Gütern durch die Hersteller finden sich zahlreiche Angaben zu dieser Art der Wirtschaftlichkeit.
5
Sozialbilanzen und Gesamtwirtschaftliche Wirtschaftlichkeit
Eine besondere Form der Darstellung einzel- und gesamtwirtschaftlicher Vorgänge stellen die Sozialbilanzen bzw. die gesellschaftsbezogenen Rechnungsregelungen dar2 (betriebliche Sozialeinrichtungen und Sozialbilanzen). In diesen werden diejenigen Aktivitäten eines Unternehmens zusammengefaßt, die nicht in den herkömmlichen Rechnungswesen zum Ausdruck gebracht werden können. Im Mittelpunkt stehen die Beziehungen Unternehmen – Konsumenten, Unternehmen – physische Umwelt, Unternehmen – Gesellschaft/Staat. Es finden sich sowohl Angaben aus dem traditionellen Rechnungswesen als auch Vorgänge, die über besondere Indikatoren und Kennziffern abgebildet sind. Unabhängig von den zahlreichen methodischen und inhaltlichen Schwierigkeiten der Entwicklung derartiger Bilanzen weist allein schon deren Existenz auf die Notwendigkeit hin, über die Art der Wirtschaftlichkeit hinauszugehen, die in der finanziellen Rechnungsregelung zum Ausdruck kommt. Entsprechend der in diesem Beitrag verwendeten Begrifflichkeiten werden neben geldökonomischen 1
Vgl. Pöhlmann, H., Verbraucherpolitik. In: Handwörterbuch der Volkswirtschaftslehre. 2. Aufl. Wiesbaden 1980. 2 Vgl. Pieroth, E. (Hrsg.), Sozialbilanzen in der Bundesrepublik Deutschland. Düsseldorf, Wien 1978.
224
Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
Angaben auch die verschiedenen Formen der stofflichen Wirtschaftlichkeit und die hier zugrunde liegenden ökonomischen Vorgänge einbezogen. Ist die Diskussion um Formen der Sozialbilanzierung weitgehend einzelwirtschaftlich bezogen, so finden sich ähnliche Überlegungen auf gesamtwirtschaftlicher Ebene. Hier geht es zunächst um die Kritik des Sozialprodukts als Indikator gesamtwirtschaftlicher Wirtschaftlichkeit. Diese Kritik ist eng mit dem Nachweis verbunden, daß die gesamtwirtschaftlichen Folgekosten der Marktökonomie in den Maßstäben des Sozialprodukts weitgehend unberücksichtigt bleiben.1 Von daher ist eine Vielzahl von Sozialindikatoren und sozialen Kennziffern entwickelt worden, in denen wesentliche Tatbestände gesamtwirtschaftlicher Vorgänge dargestellt werden.2 Auch sind Versuche bekannt, die gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgekosten sozialer Vorgänge zu quantifizieren, z.B. für Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten, arbeitsbedingte Erkrankungen, Dequalifizierungen. Würden in den Unternehmen andere Arbeitsbedingungen durchgesetzt, könnten diese Folgekosten ganz oder teilweise entfallen. Nutznießer wären dabei in geldmäßiger Hinsicht jedoch nicht die einzelnen Unternehmen, sondern die gesamte Volkswirtschaft. Ähnliche Überlegungen werden seit einigen Jahren für den ökologischen Bereich vorgenommen. Bezüglich der technologischen Fragen geht die Diskussion in Richtung auf Verfahren der Technologie-Folgeabschätzung, um auf diese Weise die Zusammenhänge von technischen Systemen und ökonomischen Wirkungen besser erfassen zu können. Auch hinsichtlich der Produktprüfung finden sich Verfahren, durch die für besonders gefährliche Produktstoffe Prüfungen und Meßzulassungsbestimmungen erlassen werden, z.B. im Hinblick auf den Arzneimittelmarkt, den Lebensmittelmarkt. Auch die Elektrogeräte, bei deren Bedienung Gefahrenmomente entstehen können, unterliegen einer entsprechenden Prüfung. Zahlreiche gesamtwirtschaftliche Auswirkungen lassen sich somit geldmäßig gar nicht erfassen, weil es keine Preise für diese Vorgänge gibt. Hier sind die Grenzen einer gesamtwirtschaftlich ausgerichteten Wirtschaftlichkeit deutlich faßbar. Daher gilt, daß diese geldmäßigen Kennziffern in ihren verschiedenen Ausgestaltungsformen nicht zum alleinigen »Schiedsrichter« über die Berechtigung von Maßnahmen stofflicher Art gemacht werden können. Verzichtet man jedoch auf die Automatik des Zusammenhangs von Marktpreisen und Wirtschaftlichkeit, so steht man vor dem Problem der Bewertung der jeweiligen Vorgänge. In der Literatur wurde die entsprechende Diskussion im Rahmen der Fragen der Gemeinwirtschaftlichkeit geführt. Hier heißt es z.B.:
1 2
Vgl. Kapp, K. W., Volkswirtschaftliche Kosten der Privatwirtschaft. Tübingen/ Zürich 1958. Vgl. Deutsche Gesellschaft für Soziologie (Hrsg.), Soziale Indikatoren/Sozialstatistik. Jahresband 80. Bonn 1982.
A Arbeitsorientierte Theorie der Unternehmung
225
„Konkretisierung von Gemeinwirtschaftlichkeit zwingt immer zu einer gesellschaftspolitischen Stellungnahme. Aussagen über den Inhalt von Gemeinwirtschaftlichkeit sind nur unter Bezug auf gesellschaftspolitische Leitbilder möglich. Daher gibt es keine einheitliche Auffassung von Gemeinwirtschaftlichkeit“1.
Damit steht die Wirtschaftlichkeit nicht nur einzelwirtschaftlich sondern auch gesamtwirtschaftlich mit der Untersuchung von Interessen- und Machtstrukturen in enger Beziehung.2
1 2
Thiemeyer, Th.: Wirtschaftslehre öffentlicher Betriebe. Reinbek 1975, S. 42. Vgl. Projektgruppe im WSI, Grundelemente einer arbeitsorientierten Einzelwirtschaftslehre. Köln 1974 (WSI-Studium Nr. 23), S.92 ff.
B Unternehmenszyklen und Pionierunternehmer
B.1 Die Unternehmung III: Niedergang und Krise, Aufschwung und Boom*
1
Aussagen zur Krise in der Betriebswirtschaftslehre „Die Betriebswirtschaftslehre hat bisher keine geschlossene Theorie über den Konjunkturablauf und die Konjunkturstrategien entwickelt. Es existiert eine Reihe von Instrumenten aus verschiedenen Teilbereichen der betriebswirtschaftlichen Theorie, mit denen die Unternehmung auf Konjunkturlagen reagieren kann. Die Einsätze dieser Instrumente werden für partielle Konjunkturprobleme dargestellt.“1
Problemstellung Diese Feststellung, die auch heute, nach sieben Jahren in ihrem Grundgehalt Gültigkeit besitzt, ist insofern erstaunlich, als es Krisenerscheinungen und damit äußere Anlässe zu einer solchen Theorie seit Bestehen der marktwirtschaftlichen Produktion gibt, und dies umfaßt immerhin einen Zeitraum, der länger ist als derjenige der Betriebswirtschaftslehre als Wissenschaft. Ein Erklärungsgrund dürfte einmal darin liegen, daß Konjunkturbewegungen weitgehend als volkswirtschaftliches Problem gedeutet werden, zu dem die einzelne Unternehmung nicht Gestaltendes beitragen kann. Dies eröffnet dann jedoch die Möglichkeit, die Instrumente anzugeben, mit denen die Unternehmenspolitik an die Konjunkturschwankungen angepaßt werden muß.2 Damit ist die gesamte Palette von einzelwirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten umschrieben. Zum anderen wird damit – und dies ist ein gewichtiger Mangel – übersehen, daß es die Unternehmungen, insbesondere die Großunternehmungen und multinationalen Konzerne sind, die durch ihr Handeln die Bedingungen der Konjunkturschwankungen wesentlich prägen. Auch dies wäre in eine einzelwirtschaftliche Krisentheorie einzubeziehen.
*
1 2
Fernstudienlehrgang Arbeitslehre des DIFF: Die Unternehmung III, Tübingen 1979, S.227-237, 259-265, hier 227-237. Lücke (1972) , S. 197. Vgl. Wilkening (1975), S. 1138.
228
Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
Weiterführende Fragestellung Es stellt sich die Frage nach den Zielen, die über eine Unternehmungsanpassung in einer Wirtschaftskrise erreicht werden sollen. In den betriebswirtschaftlichen Modellen zur Anpassung der Unternehmungspolitik stehen dabei die finanzwirtschaftlichen Ziele von Rentabilität, Liquidität, Sicherung des Kapitalrückflusses, Kostenminimierung u.a. im Mittelpunkt. Diesen monetären Zielen sind alle anderen Maßnahmen untergeordnet. Ansatzweise gibt es auch andere Ausgangspositionen, z.B. die Erhaltung der Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten, die Sicherstellung einer regional ausgewogenen Wirtschaftsstruktur, was jedoch in die betriebswirtschaftliche Theorie bisher keinen Eingang gefunden hat.
1.1 Planungsstrategien der Unternehmung Problemstellung Ist eine Unternehmung in einer Krisensituation, so sind einerseits ein kurzfristiges Handeln zur Eindämmung der Krise und andererseits eine langfristige Sanierungstrategie erforderlich. Beides erfordert Planungskonzepte, in deren Rahmen es um die Abstimmung der gesamten Unternehmungspolitik auf das Ziel der Krisenüberwindung geht. Für die Unternehmungspolitik bedeutet dies somit nicht die Planung der Krise, sondern die Planung von Maßnahmen aus ihr heraus. Lösungsansatz In einem mehrjährigen Planungszeitraum bestehen Alternativen des unternehmerischen Handelns im Hinblick auf Umsatz, Gewinn, Beschäftigung, Technologie, Absatz- und Beschaffungsmärkte usw. Die Unternehmung kann daher versuchen, die für die Entwicklung dieser Größen wesentlichen unternehmensinternen und unternehmensexternen Faktoren zu erfassen, um sie in die Ausgestaltung der Unternehmungspolitik einzubeziehen. Hierzu gehört insbesondere die Abwehrstrategie gegenüber Wirtschaftskrisen. „Neben der oftmals entscheidenden Kategorie der unternehmensinternen Einflüsse können folgende Gruppen externer Determinanten der Unternehmensentwicklung unterschieden werden: Sozio-ökonomische Wandlungen, Technologische Entwicklung, Entstehung neuer und Verschwinden alter Märkte, Konkurrenzsituation.“1
Einschränkung Es wäre jedoch falsch, die Ursachen der Wirtschaftskrisen zu übersehen, die teils in Überproduktionen, teils in abrupten Nachfrageverschiebungen und ähnlichem liegen. Hierauf können sich die Unternehmungen in einer Wettbewerbswirtschaft
1
Aurich/ Schroeder (1977), S. 18.
B Unternehmenszyklen und Pionierunternehmer
229
mit Wahlfreiheit der Käufer und internationalen Wirtschaftsverflechtungen nur teilweise durch Planungsaktivitäten vorbereiten.
1.2 Absatzwirtschaftliche Maßnahmen Geht man von der in Abschnitt 5.21 benutzten Einteilung der Absatzwirtschaft aus, so lassen sich innerhalb dieses Bereiches jeweils Maßnahmen entwickeln, durch die das Unternehmen auf eine Krise reagieren kann. Dabei bietet die Werbung den offensivsten Versuch, auf Absatzrückgänge zu antworten; weiterhin sind Maßnahmen der Preisgestaltung, der Produktgestaltung und der Absatzmethoden denkbar. 1. Ansatz Werden Werbemaßnahmen zur Stabilisierung des Absatzes eingesetzt, so liegt ein antizyklisches Konzept vor. Inwieweit ein solches Vorgehen sinnvoll ist, hängt von mehreren Komponenten ab. Ist die Nachfrage nach den Produkten elastisch in bezug auf die Einkommensverwendung der Konsumenten, besitzt die Unternehmung die entsprechenden Finanzmittel, um bei sinkendem Absatz und Erlös die notwendigen Finanzmittel für die Werbeetaterhöhung aufzubringen, liegt eine hinlängliche genaue Kenntnis über den Werbeerfolg vor? Werden diese Fragen positiv beantwortet, so kann sich durch eine Verstärkung der verschiedenen Werbeaktivitäten eine Verbesserung der Absatzsituation ergeben. 2. Ansatz Bei dem zweiten Maßnahmenbündel, der Preisgestaltung und Konditionenpolitik ist die betriebswirtschaftliche Theorie sehr unbestimmt. Ob bei rückgängigem Absatz eine Unternehmung der Erlösschmälerung durch Preiserhöhungen oder durch Preissenkungen begegnen soll, wird weitgehend durch zwei Faktoren bestimmt: die Zahl der Anbieter und die Reaktionsweise der Nachfrager bei Preisänderungen. Problemzusammenhang Da sich der Umsatz eines Unternehmens als das Produkt von Menge und Preis ergibt, und aus diesem Umsatz die Aufwendungen gedeckt sowie der Gewinn erwirtschaftet werden müssen, stellt sich die Frage, ob bei Preissenkungen der Erlösrückgang pro Stück mindestens ausgeglichen werden kann durch eine Ver1
Hier nicht abgedruckt.
230
Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
kaufssteigerung. Da für die Gewinnermittlung neben den Erlösen auch die Kosten von Bedeutung sind und diese bei unterschiedlichen Produktionsmengen unterschiedlich anfallen, sind auch diese in die Betrachtung mit einzubeziehen. Mit den verschiedenen Produktionsmengen sind unterschiedliche Beschäftigungsmöglichkeiten gegeben, was insbesondere die Interessenlage der Arbeitnehmer berührt. Eine rein monetäre Optimierung kann hierauf keine befriedigende Antwort geben. Es hat sich gezeigt, daß gerade Großunternehmen häufig einen Erlösrückgang durch sinkende Absatzmengen dadurch ausgleichen, indem sie die Preise pro Stück erhöhen. Dies ist eine Strategie, die den klassischen ModellAnnahmen des Unternehmerverhaltens in der Marktwirtschaft diametral zuwiderläuft.1 Möglich wird eine solche, für die Unternehmung bequeme Strategie, wenn die anderen Unternehmungen in einem oligopolistischen Markt ähnliche Verhaltensweisen entwickeln. Graphisch lassen sich diese Zusammenhänge wie im folgenden Schaubild darstellen: Abb. 1: Preis-Absatz-Funktion der Unternehmung, nach Theorie atypisch Preis (p)
Angebotskurve der Unternehmung
p2
Umsatz 2 = p2 * x2
p1 Umsatz 1 = p1 * x1 x1
x2
Menge (x)
Abb. 2: Preis-Absatz-Funktion der Unternehmung, nach Theorie typisch Preis (p) Umsatz 1 = p1 * x2
Angebotskurve der Unternehmung
Umsatz 2 = p2 * x1
p2
p1
x2 1
Vgl. hierzu Kapitel 1 in Teil I. [hier nicht abgedruckt, N.K.]
x1
Menge (x)
B Unternehmenszyklen und Pionierunternehmer
231
3. Ansatz Eine dritte Strategie liegt bei der Produktgestaltung. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit bei einer Krise der Käufer auf billigere, qualitativ weniger anspruchsvolle Produkte ausweicht: ist dies der Fall, so wird über eine Änderung des Produktionsprogrammes der Absatzrückgang zumindest teilweise aufgefangen.1 Eine weit größere Bedeutung besitzt der Wechsel im Produktionsprogramm. Dieser Vorgang ist jedoch nur möglich, wenn eine entsprechende Palette verschiedener Produkte vorhanden ist, d.h. eine Diversifikation vorliegt. Mit ihr will eine Unternehmung erreichen, daß bei einem Absatzrückgang innerhalb einer Produktart oder eines Produktbereiches kurzfristig ein Wechsel auf andere Produkte, die von dem Rückgang nicht betroffen sind, möglich ist. Dahinter steht die Erkenntnis, daß es meist nicht zu einem gleichmäßigen, alle Produkte betreffenden Absatzrückgang kommt. Somit gewinnt eine Unternehmung durch eine Verbreiterung ihres Angebots an verschiedenen Produkten Elastizität auch in der Situation einer Wirtschaftskrise. Es leuchtet ein, daß wegen der finanzpolitischen, technischen, organisatorischen und absatzwirtschaftlichen Zusammenhänge einer Diversifikation besonders Großunternehmen und vor allem multinationale Konzerne hierin ein Anti-Krisen-Konzept sehen. 4. Ansatz Als letzter Maßnahmenkatalog sind Änderungen innerhalb der Absatzmethoden und der regionalen Absatzstruktur möglich. Diese umfassen einmal einen Wechsel bei den Vertriebswegen und Vertriebsorganen. Wegen der langwierigen Vorbereitung einer Umstellung dürfte die Möglichkeit in einer Wirtschaftskrise kurzfristig jedoch nicht durchführbar sein. Außerdem sind die hier zur Anwendung gelangenden Methoden häufig branchentypisch festgelegt (z.B. Verkauf über Groß- und Einzelhandel). Eine größere Wahlfreiheit besteht in dem Ausweichen auf neue Absatzmärkte. Da sich eine krisenhafte Wirtschaftsentwicklung meist auf einen nationalen Markt bezieht, ist ein Ausweichen auf Auslandsmärkte durch Exportsteigerungen denkbar und wird häufig praktiziert.
1.3 Personalwirtschaftliche Maßnahmen Problemstellung Die Nutzung menschlicher Arbeitskraft im Unternehmen ist stark von der Verkaufsfähigkeit der hergestellten Produkte, aber auch von den zur Anwendung 1
Vgl. Büschgen (1971), S. 109.
232
Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
kommenden Technologien abhängig. Wird aufgrund von Absatzrückgängen die Produktionsmenge gesenkt, so führt dies kurz- und mittelfristig zu Anpassungsmaßnahmen auf der Beschäftigtenseite. Dabei lassen sich z.B. Maßnahmen ohne Personalreduzierung, mit Personalreduzierung jedoch ohne Entlassung und mit Personalreduzierung durch Entlassungen unterscheiden1. Lösungsansatz In der folgenden Übersicht werden die beschäftigungspolitischen Instrumente in arbeitserhaltende und arbeitsbeschaffende Maßnahmen, Verringerung der Arbeitszeit, Personalabbau unterteilt und diesen die einzelnen Formen zugeordnet. Abb. 3: Betriebliche Anpassungsmöglichkeiten bei überschüssigem Arbeitsvolumen Arbeitserhaltende und arbeitsbeschaffende Maßnahmen – „Stabilisierungsmaßnahmen“ –
Verringerung der Arbeitszeit
(1) Ausweiten der Lagerhaltung (1) Vorziehen von Urlaub oder anderen Freizeitkontingenten (2) Vorziehen und/oder Auswei(z.B. von Blockfreizeiten bei ten von Instandhaltungskontinuierlichem Schichtbeund Erneuerungsarbeiten trieb – Chemie, Stahl) (3) Ausbau von Qualifizie(2) Gewähren von unbezahltem rungsmaßnahmen (v. a. beUrlaub (insbes. bei ausl. triebliche Weiterbildung) Arbeitskräften) (4) Rücknahme von Fremdauf(3) Einschränkung/Abbau der trägen Mehrarbeit - Abbau von (5) Übernahme von FremdaufSonderschichten trägen bzw. Marktinitiativen - Abbau von auf den alten und/oder neuen Produktmärkten Überstunden (Diversifikation) (4) Kurzarbeit (6) Abbau von Leiharbeitskräf(5) Dauerhafte Kürzung der beten triebsüblichen Arbeitszeit, z.B. auch durch Umwandlung von Vollzeit- in Teilzeitarbeitsverhältnisse Aufrechterhaltung des betrieblichen Arbeitsvolumens
Quelle: Ortmann (1978), S. 624.
1
Vgl. Hunold (1976).
Personalabbau
(1)
Einstellbeschränkungen (Nutzen der „natürlichen“ Fluktuation)
(2)
Nichterneuern von befristeten Arbeitsverträgen (Zeitverträge) Abbau von Aushilfskräften
(3)
Vorzeitpensionierungen
(4)
Altersunabhängige Aufhebungsverträge
(5)
Entlassungen unterhalb der meldepflichtigen Grenze
(6)
Massenentlassungen
eher vorübergehende Reduzierung eher dauerhafte Reduzierung des betrieblichen Arbeitsvolumens des betrieblichen Arbeitsvolumens
B Unternehmenszyklen und Pionierunternehmer
233
Folgerungen Durch diese Möglichkeiten ist die personalwirtschaftliche Elastizität der Unternehmungen vergrößert worden. Gerade unter Einsatz dieser Instrumente gelang es beispielsweise im Bergbau und in der Stahlindustrie, umfangreiche Reduzierungen der Belegschaft ohne Massenentlassungen durchzuführen. Diesem Vorteil stehen jedoch gewichtige Nachteile gegenüber, zu denen Ortmann schreibt: „Es hat sich ein umfangreiches empirisches Wissen über das riesige Arsenal betrieblicher Strategien angehäuft, ein Arsenal, das ständig und zügig weiterentwickelt wird und dessen hervorstechendes Merkmal die vollkommene Betriebsborniertheit ist. Das Problem der Beschäftigungsrückgänge und der Arbeitslosigkeit wird bedenkenlos von einem Betrieb zum nächsten, von einer Gruppe Betroffener auf die andere, von den entwickelten auf die strukturschwachen Regionen usw. verschoben und so beständig reproduziert und verschärft.“1
Parallel dazu vollzieht sich eine Spaltung der Beschäftigten in erstens eine leistungsstarke flexibel einsetzbare Stammbelegschaft und zweitens eine schnell aus- und abbaubare Randbelegschaft, die minderqualifizierte und sehr konjunkturabhängige Tätigkeiten ausübt. Mit kaum zu überbietender Klarheit wird dieser Vorgang in dem folgenden Zitat zum Ausdruck gebracht, hier als Handlungsempfehlung für Unternehmungsleitungen: „Gelegentlich
gibt die Rezession im Rahmen von Entlassungen die Gelegenheit, sich unerwünschter oder qualitativ ungeeigneter Mitarbeiter zu entledigen, um - eventuell mit einem time-lag - qualitativ geeignetere Mitarbeiter anzuwerben. Die personelle Anpassungspolitik wird aber in einer Rezession immer bedenken müssen, daß für den Aufschwung nach der Rezession ausreichend Stammpersonal zur Verfügung steht.“2
Es verwundert daher nicht, wenn von Seiten der Betroffenen, der Betriebsräte und Gewerkschaften diese neuen Möglichkeiten unter den Aspekten der Auswirkungen auf die Arbeitnehmer als Bedrohung von Arbeits- und Lebenschancen für viele gesehen werden und entsprechende Absicherungsstrategien und Alternativen vorgeschlagen werden.3 Hierzu gehören insbesondere die Beteiligung der Arbeitnehmer an der Konzipierung der verschiedenen Maßnahmen und die Einbindung der personalwirtschaftlichen Maßnahmen in eine langfristige Unternehmensplanung und Unternehmenspolitik mit entsprechender Berücksichtigung arbeitsorientierter Interessen.
1 2 3
Ortmann (1978), S. 623. Lücke (1974), S. 725. Vgl. IG-Metall (1976); Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (1977).
234
Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
1.4 Produktionsmittelbezogene Anpassung Parallel zu der Reduzierung der Beschäftigten vollzieht sich auch eine Senkung der Nutzung der Anlagen/Maschinen. Dabei werden verschiedene Anpassungsformen unterschieden, und zwar eine quantitative, eine zeitliche und eine intensitätsmäßige Anpassung. „Quantitative Anpassung liegt dann vor, wenn der Betrieb einen Teil seines Produktionsapparates stillegt, ihn entweder in Reserve hält oder endgültig veräußert. Ein Betrieb paßt sich dagegen zeitlich an, wenn er die Nutzungsdauer seiner Anlagen variiert, also z.B. zur Kurzarbeit übergeht. Unter intensitätsmäßiger Anpassung versteht man die Veränderung des Auslastungsgrades der Anlagen bei unveränderter Nutzungszeit.“1
Es hängt in zahlreichen Fällen von den spezifischen technologischen Bedingungen ab, inwieweit eine Unternehmung Wahlfreiheiten bei der Bestimmung der Anpassungsmaßnahmen hat. Hierzu liegen in der Betriebswirtschaftslehre umfangreiche Untersuchungen vor. Gleiches gilt für die kostenmäßigen Auswirkungen der einzelnen Möglichkeiten: da es je nach den Produktionsbedingungen zu unterschiedlichen Verläufen der Kosten für Materialverbrauch, Wartung, Energieeinsatz, Beschäftigung usw. kommt, liegen verschiedene Kostenverläufe bei den einzelnen Anpassungen vor. 1.
Ansatz
Die betriebswirtschaftlichen Aussagen hinsichtlich der quantitativen Anpassung beziehen sich insbesondere auf folgende Aspekte: wird z.B. in einem Betrieb nur mit einer kurzfristigen Unterbrechung der vollen Ausbringungsmenge gerechnet, so werden alle Anlagen betriebsbereit gehalten. Dabei treten zusätzliche kostenmäßige Belastungen auf, indem auf mögliche Stillegung von Anlagen verzichtet wird und Arbeitnehmer bezahlt werden, für die keine bzw. nur geringe Arbeitsmöglichkeiten vorhanden sind. Ein weiteres Untersuchungsfeld liegt vor, wenn die verschiedenen Anlagen in unterschiedlichem Zustand sind. Hier werden die Anlagen mit der geringsten Leistungsfähigkeit stillgelegt, so daß sich eine Rationalisierung ergibt. Man spricht auch von selektiver Anpassung, durch die in Verbindung mit Unterbeschäftigung eine Modernisierung des Produktionsapparates einhergehen kann.2 2.
Ansatz
Gegenüber einer quantitativen Anpassung bestehen über die zeitlichen und intensitätsmäßigen Formen wesentlich flexiblere Wege, auf den Zwang zur Produkti1 2
Gutenberg (1962), S. 254. Vgl. Büschgen (1971), S. 99.
B Unternehmenszyklen und Pionierunternehmer
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onseinschränkung zu reagieren. Dabei ergeben sich hinsichtlich der zeitlichen Anpassung Einschränkungen insofern, als es einerseits aus technischen Gründen kontinuierliche Zwangslauffertigungen geben kann, andererseits aus sozialen Gründen bei der Einführung von Kurzarbeit eine Zustimmung des Betriebsrates erforderlich ist. Eine Senkung der Produktionsmenge über eine Verringerung des Leistungsgrades unter Beibehaltung der Kapazität und Betriebszeiten ist in zahlreichen Fällen innerhalb bestimmter technischer Grenzen möglich. Problemzusammenhang Von besonderem Interesse ist die Kombination der verschiedenen Anpassungsformen. Hierdurch kann besonders auf die Branchen-, Auftrags-, Finanzierungsbedingungen der betreffenden Unternehmung Rücksicht genommen werden; gleichzeitig ergeben sich aber gerade unter dem Gesichtspunkt der Kostensenkung bzw. Gewinnsteigerung erhebliche Probleme in sozialer Hinsicht. So werden die Unsicherheit für die Beschäftigten hinsichtlich des Arbeitsplatzes bzw. die Furcht vor der Arbeitslosigkeit häufig dazu benutzt, um bei quantitativem Abbau des Produktionspotentials eine intensitätsmäßige Steigerung des menschlichen Arbeitseinsatzes und der technischen Anlagen durchzusetzen. Je mehr dies gelingt, um so stärker wird die Beschäftigungsreduktion sein müssen, damit als Ergebnis die beabsichtigte Senkung der Produktion entsteht. Mit diesen zuletzt genannten Aspekten der Arbeitsintensität werden bereits Themen angesprochen, die bisher in der betriebswirtschaftlichen Theorie kaum oder überhaupt nicht behandelt wurden. Man kann sogar sagen, daß die Schwerpunkte betriebswirtschaftlicher Theorie in ihrer Konsequenz für zahlreiche Beschäftigte zu einer Gefährdung der Sicherheit der Arbeitsplätze, der Einkommenshöhe bzw. der Arbeitsbedingungen werden (Arbeitsteilung, Unfallhäufigkeit, physische und psychische Belastung).1 Hier setzten in jüngster Zeit zahlreiche Maßnahmen zur Humanisierung des Arbeitslebens an.
1.5 Finanzwirtschaftliche Krisenaussagen Problemstellung Im Mittelpunkt der auf die Kapitaloptimierung hin ausgerichteten Krisenmodelle der Betriebswirtschaftslehre stehen die Analysen der wirtschaftlichen Auswirkungen auf die verschiedenen finanzwirtschaftlichen Kennzahlen der Unternehmung, die ihrerseits wiederum auf die Liquidität, den Gewinn bzw. die Kapitalrentabilität ausgerichtet sind. Dabei geht es um die Veränderung der Einzahlungen an die Unternehmung und der Auszahlungen an andere Unternehmen, den 1
Vgl. Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institutm (1977), S. 181.
236
Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
Staat, an die Beschäftigten u.a. Auf diese Weise läßt sich ermitteln, ob die Zahlungsbereitschaft auch in wirtschaftlichen Krisenzeiten gesichert ist. „Da zunächst die Aufrechterhaltung des finanziellen Gleichgewichts unterstelltes Ziel der zu konzipierenden Finanzpolitik ist, muß somit primär die mögliche Einwirkung des Konjunkturrückganges auf die Liquiditätslage interessieren.“1
Die dabei vorzunehmenden Einschätzungen werden in der Regel mit Unsicherheitsfaktoren behaftet sein, so daß zahlreiche Entscheidungsmodelle entwickelt wurden, um die Voraussetzungen für die finanzpolitischen Maßnahmen bei Krisenentwicklungen zu schaffen. Da bei sinkendem Absatz auf der einen Seite die Kosten und auf der anderen Seite die Erlöse durchaus nicht proportional fallen müssen, werden Untersuchungen über die Elastizitäten anzustellen sein: wie wirken sich die verschiedenen Maßnahmen bzw. vorhersehbaren Entwicklungen auf die Kosten- und Erlössituation aus? So besteht erstens die Möglichkeit, über eine Erhöhung der Stückpreise die Ertragssituation auch bei Absatzmengenrückgang zu stabilisieren. Zweitens lassen sich auch Maßnahmen zur Kosten- bzw. Aufwandsminderung entwickeln. Methoden In der Finanzanalyse und Finanzplanung werden die entsprechenden Ziele entwickelt und von hier aus erfolgen dann die weiteren Umsetzungsschritte in den einzelnen Teilbereichen. Dies wird deutlich bei der Behandlung des sog. cashflow, d.h. des Zahlungsüberschusses einer Wirtschaftsperiode, der sich als Summe von Jahresüberschuß, Ausgaben für Rücklagen, Wertberichtigungen, Rückstellungen sowie Abschreibungen und Abgang aus dem Anlagevermögen ergibt. Hier sind erstens Analysen über die Auswirkungen der Krise auf die einzelnen Ausgaben- und Einnahmenkategorien zu erstellen. Dabei geht es insbesondere um die den Jahresüberschuß beeinflussenden Einnahmen in Form von Umsatzerlösen sowie Ausgaben in Form von Personalkosten, Materialkosten, Kapitalkosten, Bauten, Maschinen, Steuern. Weiterhin sind die Entwicklung der Rückstellungen, Wertberichtigungen und Rücklagen sowie die Abschreibungen als Hauptposten des cash-flow zu behandeln. Bei diesen Analysen ist insbesondere die Unterscheidung der finanziellen Größen nach der Art ihrer Beeinflußbarkeit von Bedeutung. Im einzelnen gilt: - Ist die Unternehmung autonom, die einzelnen Maßnahmen festzusetzen und kann sie diese Autonomie auch nutzen (z.B. durch Senkung der Käufe von Material und Energie bei entsprechenden Abnahmeverträgen)?
1
Büschgen (1971), S. 115.
237
B Unternehmenszyklen und Pionierunternehmer
- Bestehen feste Belastungen (z.B. bei Zinsen für Fremdkapital) oder lassen sich gemeinsame Abmachungen mit anderen Unternehmungen treffen (z.B. Absprachen mit Konkurrenten über Preiserhöhungen der Endprodukte zur Verbesserung der Erlössituation)? Eine solche Analyse und Anpassung der Planung an den Wirtschaftsablauf wird als Vorbereitung für Entscheidungen benutzt, ob, in welchem Maß, in welcher Art und auf welche Weise zusätzliche Finanzmittel in die Unternehmung fließen müssen, um einen eventuell zu erwartenden finanziellen Engpaß zu überwinden. In dem folgenden Schaubild werden die im Rahmen einer solchen Finanzrechnung zu berücksichtigenden Faktoren überblicksartig wiedergegeben. Abb. 4: Finanzierungskomponenten Teile der Finanzrechnung
Finanzrechnungskomponenten Einzahlungen
Auszahlungen
Verkaufseinzahlungen (Sachprodukt-) Materialeinzahlungen Vermieteinzahlungen Energieeinzahlungen Personaleinzahlungen Rechteeinzahlungen Diensteeinzahlungen Informationseinzahlungen
Fremdbezugsauszahlungen (Sachprodukt-) Materialauszahlungen Anmietauszahlungen Energieauszahlungen Personalauszahlungen Rechteauszahlungen Diensteauszahlungen Informationsauszahlungen
Zinseinzahlungen Steuereinzahlungen Subventionseinzahlungen Dividendeneinzahlungen
Zinsauszahlungen Steuerauszahlungen Subventionsauszahlungen Dividendenauszahlungen
Betriebsmitteleinzahlungen Materialeinzahlungen
Betriebsmittelauszahlungen Materialauszahlungen
Darlehenstilgung oder -veräußerung Beteiligungstilgung oder -veräußerung
Darlehensgewährung
Außenfinanzierungsrechnung /definanzierungsrechnung
Darlehensaufnahme
Darlehenstilgung
Beteiligungsaufnahme
Beteiligungstilgung
Liquiditätsreserve
Zahlungsmittelanfangsbestand
Liquiditätssaldo = Zahlungsmittelendbestand
CashflowRechnung
Investitions-/ Desinvestitionsrechnung
Quelle: Hahn (1974), S. 389.
Beteiligungsgewährung
238 2
Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
Aufschwung und Boom in der Betriebswirtschaftslehre* „Industrielle Veränderung ist niemals harmonisches Fortschreiten, wobei alle Elemente des Systems sich tatsächlich in gleichem Schritt und Tritt bewegen oder die Tendenz einer sich im Gleichschritt vollziehenden Bewegung haben. Zu jedem gegebenen Zeitpunkt bewegen sich einige Industrien vorwärts, andere bleiben zurück; und die sich hieraus ergebenden Diskrepanzen sind ein wesentliches Element in den sich entwickelnden Lagen.“1
2.1 Langfristig-strategische und kurzfristig-operative Maßnahmen Begriffsklärung Steht eine Unternehmung in einer Phase der positiven Veränderungen der wesentlichen ökonomischen Kennziffern, so spricht man vom Wachstum dieser Unternehmung. Ist eine solche Tendenz auch bei der Mehrheit der anderen Unternehmungen der gleichen Branche oder gar der gesamten Volkswirtschaft feststellbar, so handelt es sich um einen allgemeinen Wirtschaftsaufschwung, eine Prosperitätsphase, einen konjunkturellen Boom usw. In einer wirtschaftlichen Umwelt, in der die Verschiebungen der menschlichen Bedürfnisse durch unterschiedliche Nachfrage auf dem Markt zum Ausdruck kommen, mit technischen Änderungen und mit Konkurrenten in Verbindung stehen, die bessere, billigere oder auch nur andere Produkte anbieten, kann es für ein bestimmtes Produktionsprogramm einer Unternehmung nur einen zeitlich befristeten Rahmen geben, in dem damit wirtschaftliche Erfolge erzielt werden. Betrachtet man den gesamten Zeitraum, in dem ein bestimmtes Produktionsprogramm hergestellt wird, so liegt die Erfolgsphase in den Abschnitten des Wachstums und der Marktsättigung. Diese Begriffe sind Bestandteil eines analytischen Konzeptes, das für die Herstellung eines bestimmten Produktes von einem Lebenszyklus mit insgesamt 4 Phasen ausgeht, die sich einteilen in Einführung, Wachstum, Marktsättigung, Degeneration2. Problemzusammenhang Innerhalb der Betriebswirtschaftslehre muß es somit im Zusammenhang mit Problemen des wirtschaftlichen Aufschwungs darum gehen, Maßnahmen vorzubereiten, um die Nutzung eines bestimmten Produktionsprogramms möglichst lange erfolgreich zu gestalten sowie den mit Sicherheit kommenden Wechsel innerhalb des Produktionsprogramms einschließlich der Änderung in der Technologie und der beruflichen Qualifikation der Beschäftigten vorausschauend zu gestalten. Dabei treten verschiedene Zielsetzungen auf, auf die sich die einzelnen Interessengruppen innerhalb der Unternehmung stützen und die in einem Pla* 1 2
Fernstudienlehrgang Arbeitslehre des DIFF (1979), S. 259-265. Schumpeter (1961) ,S. 109 f. Vgl. Heinen (1975), S. 470 f.
B Unternehmenszyklen und Pionierunternehmer
239
nungskonzept zum Ausgleich zu bringen sind. Eine wesentliche Komponente bezieht sich auf die Rentabilität des Kapitaleinsatzes, während andererseits die langfristige Sicherung von Arbeitsplätzen, Einkommensmöglichkeiten der Beschäftigten und Verbesserung der Arbeitsbedingungen als zentrale Komponenten der Beschäftigten anzusehen sind. Darüber hinaus können ökologische, produktbezogene und ähnliche Aspekte als Ziele hinzutreten. Es gibt in der Unternehmung nur die Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs, in der mit Ruhe und bei günstigen finanziellen Voraussetzungen an diesen Änderungen gearbeitet werden kann. Von daher ist die langfristige strategische Konzeption ein ganz wesentlicher Bestandteil betriebswirtschaftlicher Aussagen. Je besser die hier erforderliche Aufgabe gelöst wird, um so weniger stark wird eine Unternehmung von den krisenhaften Entwicklungen innerhalb einzelner Produktionsprogramme getroffen. Weiterführende Fragestellung Es wird die These vertreten, daß für die Unternehmungen, insbesondere sofern es sich um Groß- und Mittelunternehmungen handelt, die Möglichkeit besteht, die Wirtschaftsschwankungen weitgehend durch unternehmensinterne Maßnahmen auszugleichen. Soweit dies nicht gelingt bzw. aus gesamtwirtschaftlichen bzw. weltwirtschaftlichen Gründen nicht gelingen kann, steht als nächstfolgende Möglichkeit der Krisenbewältigung durch die Unternehmung das Handeln innerhalb der Krise selbst zur Verfügung.1 Als weitere, letzte Stufe vor dem Auflösen der Unternehmung als wirtschaftlich selbständige Einheit, als rechtlich selbständige Einheit bzw. vor dem Konkurs sind die staatlichen Hilfen (Bürgschaften, Subventionen u.a.) zu nennen. Die in den Phasen des Aufschwungs und Booms beginnende Absicherung gegen Krisen kann sowohl hinsichtlich des Beschäftigungs- als auch des Kapitalrentabilitätsziels nur auf der Basis absetzbarer Produkte und Dienstleistungen erfolgen. Zwar können einzelne Unternehmungen ihre besonderen Risiken dadurch vermindern, daß sie Kapitalanlagen in anderen Unternehmungen, Banken und staatlichen Organisationen tätigen oder Risikoversicherungen abschließen. Eine auf Warenproduktion und Dienstleistungen ausgerichtete Marktwirtschaft läßt sich jedoch nur über den Absatz der auf diese Weise hergestellten Produkte stabilisieren, so daß die zentralen Orientierungspunkte im Produktions- und Absatzbereich liegen.
1
Vgl. die Ausführungen in Abschnitt 1 dieses Beitrags.
240
Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
2.2 Produktionserweiterung, Kapitalintensivierung und Gesetz der Massenproduktion 1. Ansatz Die gleichsam klassische betriebswirtschaftliche These zur Frage der Reaktion der Unternehmung im Aufschwung besagt, daß die Produktion der gestiegenen Nachfrage im vollem Umfang angepaßt werden muß. Dabei lassen sich die positiven Effekte des sogenannten „Gesetzes der Massenproduktion“ ausnutzen, das 1910 von Karl Bücher formuliert wurde. Dieses besagt, daß bei steigenden Produktmengen und verbesserten Produktionsverfahren die auf jedes Produktionsstück entfallenden anteiligen Kosten sinken. Bücher selbst formuliert den Zusammenhang, der seither in der ökonomischen Diskussion steht, wie folgt: „1.
2. 3.
Das vollkommenere Produktionsverfahren zur Herstellung einzelner Exemplare angewandt, ist teurer als das unvollkommenere; die Produktionskosten sinken aber mit der zunehmenden Zahl der Exemplare und werden erst dann niedriger als die Produktionskosten des unvollkommenen Verfahrens, wenn die herzustellende Ware eine bestimmte (im Einzelfalle empirisch festzustellende) Masse nicht mehr unterschreitet. Die Grenze, von der ab es vorteilhaft zu werden beginnt, heiße die Nutzschwelle der Massenproduktion. Sie liegt um so höher, je größer der Anteil der konstanten Kosten an den Gesamtherstellungskosten ist. Von der Nutzschwelle ab vermindern sich die Produktionskosten weiter mit der Zunahme der Produktmasse. Diese Kostenminderung vollzieht sich im allgemeinen langsamer, als die Produktmasse steigt, und verlangsamt sich um so mehr, je größer die Masse wird. Schließlich wird eine Grenze erreicht, bei der eine weitere Steigerung der Masse keinen ökonomisch ins Gewicht fallenden Vorteil mehr bieten kann. Unmittelbar unter dieser Nutzgrenze liegt die Nutzhöhe der Massenproduktion. Das ist das Gesetz der Massenproduktion.“1
Schon Bücher erkannte, daß auf diese Weise die Anpassungsfähigkeit der Unternehmung sinkt, weil immer mehr Fixkosten (Fixkostenanteil) entstehen, d.h. Kosten, die bei Änderungen der Wirtschaftslage nicht entsprechend vermindert werden können. 2.Ansatz Dies war der Ansatzpunkt für eine zweite weitreichende Konzeption in der Betriebswirtschaftslehre, die von Schmalenbach formulierte Lehre von den wachsenden Fixkostenanteilen. Mit diesem 1928 formulierten Ansatz verbindet er den Niedergang der freien Marktwirtschaft. Im Zuge der auf die Wachstumsphase folgenden Krisenzeit verlieren die Unternehmungen wegen der hohen Kapitalkosten ihre Anpassungsfähigkeit, da sie sich von den nicht ausgelasteten Produktionsanlagen nicht trennen können. Er führt aus: 1
Bücher (1910), S. 14.
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„Die moderne Wirtschaft (ist) mit ihren hohen fixen Kosten des Heilmittels beraubt, das selbsttätig Produktion und Konsumtion in Einklang bringt und so das wirtschaftliche Gleichgewicht herstellt (...) es tritt die merkwürdige Tatsache ein, daß zwar die Maschinen selbst immer mehr mit automatischen Steuerungen versehen werden und so der menschlichen Hilfe entraten können; daß aber die Wirtschaftsmaschinerie im ganzen, die große Volkswirtschaft, ihr selbständiges Steuer verloren hat.“1
Als Ausweg aus dieser durch die Wachstumsdynamik entstehenden Krise sieht Schmalenbach die Kartellbildung, die Konzentration und die Zusammenarbeit mit dem Staat. Er fährt fort: „Ich bin überzeugt, daß wir in nicht zu ferner Zeit zu einem Zustand kommen müssen, den auch die Zünfte besaßen; die Monopolgebilde der neuen Wirtschaft müssen ihr Monopol vom Staate empfangen und auf der anderen Seite überwacht der Staat die Einhaltung der aus dem Monopol entspringenden Pflichten.“2
Zu dieser Entwicklung ist es in Deutschland wenige Jahre später, 1933, dann auch gekommen, doch dürfte dies sicher nur zum kleinen Teil auf den von Schmalenbach entdeckten Zusammenhang zurückzuführen sein.
2.3 Variationen zur Wirkung des Gesetzes der Massenproduktion und des steigenden Fixkostenanteils Überblick Es gibt eine ganze Reihe von Tendenzen, durch die die Unternehmungen ihre Elastizität im Zuge des Wirtschaftswachstums trotz der Ausdehnung der Massenproduktion und der Zunahme der Kapitalintensität wieder herzustellen versuchen. Im einzelnen sind zu nennen: -
technologische und personelle Elastizität Forschung und Entwicklung, Produktinnovation Diversifikation Organisationsstrukturen.
Die technologische und personelle Elastizität in der Produktion wurde trotz steigender Kapitalintensität im Zuge der Umorganisation des Arbeits- und Produktionsprozesses erreicht. Im Zusammenhang mit dem Einsatz von elektronischen Datenverarbeitungsanlagen, von prozeßgesteuerten Produktionsanlagen, der Erweiterung der Gruppenmontage und der Differenzierung des Produktionsprogramms bis zu kleineren Produktionsserien mit jeweils spezifischen Fertigungsvarianten gelangen die Unternehmen zunehmend in die Lage, kurzfristige Pro1 2
Schmalenbach; zit. nach Hundt (1977), S. 71. Ebenda, S. 73.
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duktionsumstellungen vornehmen zu können. Dabei eignen sich die einzelnen Maschinen bei relativ kurzfristigen Umstellungszeiten für verschiedene Produktionsprogramme und die flexibel einsetzbaren Kernbelegschaften in den Unternehmen bieten ihrerseits die personellen Voraussetzungen dazu. Diese Vorgänge werden in der Öffentlichkeit häufig unter den Begriffen von Humanisierung der Arbeitswelt, Arbeitsanreicherung, Arbeitserweiterung u.a. diskutiert. Sie besitzen aber im Kern gerade auch eine starke technisch bedingte Flexibilitätsperspektive.1 Forschung und Entwicklung, Produktinnovation Es besteht ein nachweisbarer Zusammenhang zwischen der Anzahl neu eingeführter Produkte und dem Forschungs- und Entwicklungsaufwand einer Unternehmung. Da andererseits das Wachstum einer Unternehmung und damit auch die Möglichkeit der Krisenvorbeugung mit dieser Produktinnovation parallel verläuft, kann eine systematische Forschungs- und Entwicklungspolitik als eine der Grundlagen für eine entsprechende Unternehmungsstrategie gewertet werden.2 Diversifikation Die systematische Suche nach einem Produktionsprogramm, das sich auf verschiedene Branchen und eventuell Regionen erstreckt, um von einzelnen Branchen bzw. nationalen Konjunkturen unabhängig zu werden, gehört zu den Hauptaufgaben zahlreicher Unternehmensleitungen. In der Betriebswirtschaftslehre sind verschiedene Modelle entwickelt worden, in denen Vorstellungen für eine solche Diversifikationsstrategie enthalten sind. „Diversifikation ist vielfach eine Form der Wachstums-, Risiko- bzw. Krisenpolitik der Unternehmung. Zuweilen dient sie auch der Absicherung gegen drohende Umsatzverluste, die sich daraus ergeben, daß bisher angebotene Produkte oder Produktgruppen auf erheblichen Marktwiderstand stoßen.“3
Dabei unterscheidet man zwischen horizontaler und vertikaler Diversifikation, je nachdem, ob die neuen Unternehmungstätigkeiten innerhalb der gleichen Wirtschaftsstufe stehen oder Vor- bzw. Nachbearbeitungsstufen umfassen.
1
Vgl. auch Metzger (1977) sowie mit kritischer Orientierung: Mendner (1975). Vgl. Kieser, Sp. 4308. 3 Bidlingmaier, S. 230. 2
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Organisationsstrukturen Problemzusammenhang Unternehmen sind weder Automaten zur Gewinnmaximierung noch konfliktfreie Herrschaftseinrichtungen der Kapitaleigentümer, sondern Organisationen, in denen ein erhebliches Maß an Sozialbeziehungen der Beteiligten stattfindet. Es dürfte einleuchten, daß die Wachstums-, Diversifikations-, Forschungsstrategien, die Rationalisierungs- und Automatisierungsvorgänge u.a. eine Vielzahl von sozialen Kontakten einerseits zerstören und andererseits neu schaffen. Es ist daher erforderlich, die Beziehungen zwischen den langfristigen marktbezogenen Unternehmungsstrategien und der internen Organisationsstruktur, dem Informationssystem der Unternehmung, den Beteiligungsrechten der Arbeitnehmer usw. zu untersuchen. Auf diesem Gebiet hat sich in den letzten Jahren eine neue betriebswirtschaftliche Forschungsrichtung ergeben, in deren Mittelpunkt Organisationen in ihren soziologischen und sozialpsychologischen Aspekten sowie in den Bedingungen der organisationalen Entwicklung stehen. Da auf diese Weise sowohl eine Verbesserung der mit dem Kapitalbesitz verbundenen Herrschaftsansprüche als auch eine Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten der Beschäftigten verbunden werden kann, ist der Inhalt dessen, was mit organisatorischer Veränderung bzw. Organisationsentwicklung gemeint ist offen und damit konfliktär. So schreibt Gebert: „‘Organisationsentwicklung’ ist ein zusammenfassender Begriff für die Bemühungen, zur Humanisierung der Arbeitsbedingungen sowie zur Steigerung der Flexibilität und Veränderungsbereitschaft einer Organisation beizutragen.“1
Neben diesen neueren Fragestellungen, bei denen es um die Verhaltensänderungen der Beschäftigten und des Managements geht (Führungsstil), stehen auch zahlreiche Probleme der Anpassung der Aufbau- und Ablauforganisation in der Unternehmung zur Lösung an, gerade bei einer Erweiterung des Produktionsprogramms einschließlich möglicher multinationaler Tätigkeiten. Gleichgültig, wo der Schwerpunkt gesetzt wird: eine langfristige Unternehmungsplanung und Strategie muß die Veränderung und Anpassung der eigenen organisatorischen Basis des unternehmerischen Handelns einschließen, um erfolgreich zu sein, denn auch hier schlägt Quantität (gemessen in Umsatz, Kapitaleinsatz, Beschäftigtenzahl, Zahl der Produkte u.a.) ab einer bestimmten Schwelle in neue Qualitäten um.2
1 2
Gebert (1974), S. 9. Weiterführende Literatur: Gebert (1974); Heinen (1975); Hundt (1977); Mendner (1975).
244
Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
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B Unternehmenszyklen und Pionierunternehmer
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B.2 Der Unternehmer – Gestalter von Veränderungen in einer komplizierter werdenden Welt*
Jede Epoche hat ihre Vor- und Leitbilder, ihre Konflikt- und Feindbilder. Dies ist im Wirtschaftsleben nicht anders als im Leben allgemein. An exponierter Stelle steht seit langem der Unternehmer, von welcher Seite man sich dem Wirtschaftsablauf und seinen Akteuren auch nähert. Ursächlich ist hierfür die dominierende Rolle, die dieser Personenkreis beim marktwirtschaftlich-kapitalistischen Aufbau der Wirtschaftsform besitzt, die in den Industriestaaten vorherrscht. Diese Wirtschaftsform gründet sich auf mehrere Prinzipien. Zu nennen sind: (1) die Freiheit von Privatpersonen, Fabriken gründen und auf eigene Rechnung betreiben zu können; (2) die Tätigkeit der Arbeiter und Angestellten auf der Grundlage von Arbeitsverträgen und ihre mehr oder weniger stark ausgebaute Beteiligung an Entscheidungen am Arbeitsplatz, im Betrieb und Unternehmen im Rahmen von Beteiligungsmöglichkeiten; (3) die Freiheit der Käufer, zwischen den angebotenen Produkten auswählen zu können; (4) die dominierende Rolle der Geldrechnungen für die Steuerung der Unternehmen; (5) die Beschränkung des staatlichen Einflusses, der nur Rahmenbedingungen erlassen und bestimmte Kontrollen durchführen darf. Betrachtet man den Zeitraum von rd. 700 Jahren, in dem es Unternehmer in unserem heutigen Sinne gibt, so waren es die oberitalienischen Stadtstaaten und später einige Regionen in West-und Mitteleuropa, in denen diese Art des Wirtschaftens entstand. Der große Durchbruch, gleichsam die welthistorische Stunde der Unternehmer, kam mit der industriellen Revolution, die zunächst ab 1750 in England und dann auf dem europäischen Kontinent und in Nordamerika in wenigen Jahrzehnten die Lebensverhältnisse ganzer Gesellschaften umwälzte. In schneller Folge entstanden neue Industrieregionen und Wirtschaftszweige. Als Stichworte seien genannt: Kohle und Stahl, später Elektroindustrie, Chemie, Automobilindustrie. Regional waren in Deutschland das sächsische, das oberschlesische und vor allem das rheinisch-westfälische Industriegebiet von Bedeutung. Diese Vorgänge vollzogen sich unter dramatischen politischen und sozialen Spannungen und Konflikten, die in der Wirtschaft- und Sozialge*
in: Wirtschafts-Sonderausgabe Remscheider General-Anzeiger v. 27.01.1988.
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Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
schichte gut dokumentiert sind. Im Prinzip läuft dieser Prozeß noch immer ab, wenn auch insgesamt unter geminderten Folgewirkungen für die direkt Betroffenen. Gerade in letzter Zeit zeigte sich, daß auch die kommunistisch geführten Länder in ihren Wirtschaften wieder stärker das unternehmerische Handeln betonen, nachdem es jahrzehntelang erklärte Absicht war, diesen Typus im Wirtschaftsleben auszuschalten.
1
Der Unternehmer in theoretischen Analysen
Nicht nur in der Realität, sondern auch in Untersuchungen und Veröffentlichungen der Wirtschaftswissenschaftler und Gesellschaftswissenschaftler nimmt der Unternehmer eine zentrale Rolle ein. Dabei zeigt ein kurzer Rückblick deutlich die Wandlungen im Bild des Unternehmers. Am Anfang steht die marktwirtschaftliche Theorie in der ökonomischen Klassik und Neoklassik im 19. Jahrhundert. Hier ist der Unternehmer der Vollstrecker des Gleichgewichts der Marktabläufe. Adam Smith, als Begründer der modernen Nationalökonomie, aber auch andere nach ihm, sahen in der Gesamtheit der Unternehmer die vom Wettbewerb getriebenen „homo oeconomicus-Menschen“, also Personen, die allein nach marktwirtschaftlichen Prinzipien der Gewinnmaximierung handeln. Von der gleichen stereotypen Vereinfachung geht auch Marx aus. Er hält die Unternehmer beim Aufbau, der Entwicklung und Vollendung des Kapitalismus für unerläßlich, integriert diese Überlegungen allerdings in seine gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Revolutionstheorien. Hiernach werden mit der Vollendung des Kapitalismus die Marktwirtschaft und der Unternehmer gleichermaßen überflüssig. Auch bei Marx geht es nur um den Typ, die Funktion als Unternehmer, nicht um die Einzelperson. In der Folgezeit werden zunehmend differenziertere Ansätze entwickelt. Zunächst sei auf die umfangreiche wirtschafts- und sozialhistorische Analyse von Sombart verwiesen, der Anfang dieses Jahrhunderts sein bahnbrechendes Werk „Der moderne Kapitalismus“ schrieb. Hierin wird der Unternehmer als eine der treibenden Kräfte betrachtet und in den Voraussetzungen, Lebensformen und Verhaltensweisen dargestellt. Eine funktionale Differenzierung wurde erreicht, als der Wandel der Unternehmer in der Großindustrie untersucht wurde. Es zeigte sich, daß zunehmend angestellte Manager tätig wurden. Der Amerikaner Burnham hat diese Entwicklung in seiner Untersuchung „The managerial Revolution“ (1941) (deutsch: Das Regime der Manager (1948)) besonders herausgearbeitet. Es ist nicht mehr der über Kapital verfügende Eigentümer, sondern der mit Verfügungsmacht und Verantwortung ausgestattete Manager in Großunternehmen, der zunehmend das unternehmerische Handeln bestimmt.
B Unternehmenszyklen und Pionierunternehmer
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Parallel dazu tritt die gestaltende und planende Aufgabe hervor. Besonders eindrucksvoll wird dies von Schumpeter dargestellt, der in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts auf die dynamische, innovative Funktion des Unternehmers hinwies. Nicht das Durchschnittliche, das Normale und Typische sind hiernach die Merkmale unternehmerischen Handelns, sondern die Pionierleistung, das Entwickeln und Durchsetzen des Neuen. Auf diese Weise entsteht ein Vorsprung vor den anderen, der mit besseren Marktchancen, größeren Wachstumsraten und einem Zusatzgewinn belohnt wird. Die Konkurrenten versuchen, diesen Vorsprung durch Imitation und Abwandlung des Vorbildes einzuholen, und allmählich wird das Besondere zum Normalen. Die Pioniere ziehen sich aus diesen Gebieten zurück und wenden sich neuen, erfolgversprechenderen Aufgaben zu. So entstehen Veränderungen, Strukturwandel, wirtschaftliche Dynamik. Aus dieser Übersicht ergeben sich einige wesentliche Merkmale zum Verständnis und zur Funktion des Unternehmers. Er hat als Eigentümer-Unternehmer oder als Manager-Unternehmer die Aufgabe, die Unternehmung unter marktwirtschaftlichen Bedingungen zu führen. Dies setzt einerseits Führungsqualitäten nach innen voraus, um die beteiligten Personen und Gruppen in einem zielgerichteten Handeln zusammenführen. Andererseits sind die Veränderungen in den Außenbeziehungen zu beobachten, auszuwerten und umzusetzen, damit die Unternehmung im Wandel bestehen und sich weiterentwickeln kann. Im Sinne der dynamischen Unternehmerfunktion ist es jedoch zu wenig, lediglich zu reagieren; vielmehr ist eine aktive Gestaltung der Veränderung notwendig. Dabei bildet sich die Rangfolge der Leistungsfähigsten erst im Wettbewerb heraus. Diese Aufgabe ist um so schwieriger, je mehr und je schneller sich die Voraussetzungen und Einflüsse im Innen- und Außenbereich der Unternehmungen ändern.
2
Die aktuellen Aufgaben des Unternehmers
Geht man von dem bisher Gesagten aus, so ist es für eine Positionsbestimmung zunächst erforderlich, die gegenwärtig herrschenden und in Zukunft zu erwartenden Bedingungen für unternehmerisches Handeln zu erkennen. Nur so lassen sich das unternehmerische Anforderungsprofil sowie die Chancen und Risiken erkennen. Allgemein gilt, daß sich die technologischen Voraussetzungen in den letzten Jahren immer schneller ändern. Man spricht daher bereits von der dritten industriellen Revolution, die aus den Impulsen der Mikroelektronik, der Bio- und Gentechnologie, der neuen Werkstoffe und der Informationstechnologie erwächst. Damit verschieben sich die Produktionsprozesse und die Produkte, es entstehen umfangreiche Produkt- und Prozeßinnovationen, der Nutzungszeitraum bisheriger Verfahren und Produkte wird kürzer. Durch die wachsende Ver-
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Teil II: Arbeitsorientierung und Betriebswirtschaftslehre
flechtung der Produktion müssen sich die Unternehmer in den Zuliefererbetrieben eng an die Abnehmer anlehnen, bis hin zu simultanen Produktionsabstimmungen. Daneben lassen sich umfangreiche Verschiebungen in der Nachfragestruktur nach Waren und Dienstleistungen feststellen. Das reichhaltige Angebot führt zu differenzierteren Kundenwünschen, die Sättigung in einigen Märkten mit herkömmlichen, elementaren Produkten und das Wachstum des Einkommens lenken Teile der Nachfrage auf neue Märkte. Dabei ist diese Nachfrage schwerer als früher abzuschätzen, sie ist elastischer. Im internationalen Wettbewerb treten neue Anbieter auf, insbesondere aus dem aufstrebenden Wirtschaftsraum in Südostasien. Aus der Zunahme der internationalen Arbeitsteilung, der Integration in Europa und dem enormen Anwachsen der Finanzmärkte entstehen Schwankungen des Außenwerts der Währungen (Wechselkurse), so daß eine engere Zusammenarbeit zwischen Produktionsunternehmen, Banken und Notenbanken erforderlich ist. Im sozialen, politischen und gesellschaftlichen Umfeld wachsen die Anforderungen an die Unternehmenspolitik. Die in einem demokratischen Staat lebenden mündigen Bürger stellen auch als Arbeitnehmer höhere Anforderungen an die Berücksichtigung ihrer Interessen im Betrieb und Unternehmen, die gesellschaftliche Sensibilität im Bereich des Umweltschutzes und des Verbraucherschutzes ist stark gestiegen. Diese Bereiche werden durch staatliche Gesetze, Verordnungen, Tarifvereinbarungen und freiwilliges Handeln umgesetzt. Damit ist ein weites Feld an Einflüssen markiert, in dem das unternehmerische Handeln steht. Der Unternehmer ist weit mehr als früher aufgefordert und verpflichtet, dieses vielseitige Geflecht an Einflüssen von außen auf die Unternehmung und von der Unternehmung nach außen in ein fließendes und sich laufend veränderndes Gleichgewicht zu bringen. Er wird zum Experten für und Gestalter von Veränderungen in einer komplizierter werdenden Welt. Es wachsen aber nicht nur die Risiken, sondern auch die Chancen für eine erfolgreiche Unternehmenspolitik, doch wird der Ausleseprozeß, der Wettbewerb härter. So finden wir nebeneinander in der gleichen Branche Unternehmer, die Erfolg haben, solche, deren Geschäfte stagnieren und Unternehmer, die vom Markt verschwinden, also in Konkurs gehen. Parallel dazu entstehen seit einigen Jahren verstärkt zahlreiche neue Unternehmen, denn nicht alle Chancen können bzw. werden von den bisher wirtschaftlich Selbständigen genutzt. Man spricht geradezu von einer Gründerwelle.
Teil III Internationale Organisationen und Globalisierung
A
Internationale Unternehmen und Internationale Gewerkschaften
A.1 Multinationale Unternehmen*
1
Begriff
Bei dem Versuch einer Begriffsbestimmung der multinationalen Unternehmen (m. U.) treten Schwierigkeiten auf, denn erstens besteht kein allgemein anerkannter Kriterienkatalog und zweitens sind auch die Begriffe selbst umstritten. Hierauf wird jedoch nicht näher eingegangen. Für eine allgemeine Kennzeichnung dieses Konzerntyps erscheinen im Sinne eines pragmatischen Vorgehens folgende Merkmale als besonders geeignet: Ein m. U. liegt vor, wenn es innerhalb eines Konzerns zu ständigen grenzüberschreitenden Aktivitäten kommt, in mindestens zwei Staaten Niederlassungen aufgrund von Direktinvestitionen bestehen und die einzelnen Konzernbereiche (Teilkonzerne, Unternehmen, Betriebe) unter einheitlicher Zielsetzung und Leitung stehen. Mit dieser Begriffsbestimmung lassen sich die Tätigkeiten einzelner Unternehmungen in früheren Wirtschaftsepochen durchaus in die Reihe der m. U. eingruppieren. Je nach wirtschaftshistorischem Interesse kann man hierbei bis zu den phönizischen Handelsgesellschaften des Altertums zurückgehen, den Einschnitt bei den Handelshäusern der Renaissance machen oder die Auslandsaktivitäten der kapitalistischen Gesellschaften des 19. Jhdt.s zum Ausgangspunkt heranziehen. In keinem der genannten Zeiträume war diese Art der Unternehmenstätigkeit jedoch von dominierender Bedeutung. Die angeführte Definition schließt nicht aus, daß m. U. mit entsprechender Modifizierung auch in den kommunistischen Staatshandelsländern der Gegenwart Bedeutung erlangen können (durch Tochtergesellschaften in mehreren Staaten dieses Wirtschaftsraums, durch gemeinsame Gesellschaften mit westlichen Konzernen, durch Aktivitäten in Entwicklungsländern). Diese Zusammenhänge bleiben im folgenden zwar unberücksichtigt, weisen jedoch darauf hin, daß in den m. U. auch Entwicklungen zum Vorschein kommen, die auf die Grundzüge *
in: Handwörterbuch der Volkswirtschaftslehre, hrsg. v. W Glastetter u.a., Wiesbaden 1980, Sp. 895 -908.
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
von Industriegesellschaften allgemein zurückgehen, unabhängig von der Eigentumsform und der Abstimmung der Wirtschaftspläne.
2
Entstehung
Seit über zwei Jahrzehnten beschleunigt sich der wirtschaftliche Strukturwandel in den westlichen Wirtschaftsgesellschaften, wobei die Ursachen dieses Wandels im technischen, ökonomischen und politischen Bereich liegen. Als eines der herausragenden Merkmale fällt dabei das immer stärkere Auftreten der m. U. auf. Während dieser Prozeß lange Jahre fast ausschließlich von Seiten der USA und den dort ansässigen Konzernen getragen wurde, läßt sich seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre auch ein verstärktes internationales Vordringen von westeuropäischen und japanischen Konzernen feststellen. Es stellt sich die Frage, welche Antriebskräfte hinter diesem weltweiten Wirtschaftsprozeß stehen. Als kaum strittig sind folgende Gründe anzusehen: Erstens müssen entsprechende Überschüsse an Kapital vorhanden sein. Für diese Überschüsse werden dann zweitens im weltweiten Maßstab rentable Investitionsmöglichkeiten gesucht. Hierzu ist es drittens erforderlich, daß der Rahmen der Wirtschaftsordnung solche Entscheidungsfreiheiten enthält, durch welche weltweites Investieren, Produzieren und Verkaufen möglich ist. Die Entstehung der m. U. korrespondiert von daher eng mit einer auf internationale Arbeitsteilung, Handels- und Kapitalliberalisierung ausgerichteten Wirtschaftspolitik und der sich daraus ergebenden Faktorallokation. Im einzelnen zeigt sich ein sehr buntes Bild an Faktoren, die diesen Prozeß beeinflußt bzw. vorangetrieben haben. Hierbei sind – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – zu nennen; Entwicklung der Technologie (Verkehrs-, Nachrichten-, Transportwesen); Ausweitung der Absatzmärkte; Verlagerung der Produktion in kostengünstige Länder; Rohstoffsicherung; Konzentrationsstrategie der Konzerne zur Ausschaltung bzw. Abschwächung des Wettbewerbs; Erschließung, Sicherung und Erweiterung von Marktpositionen; nationale Strukturförderungsmaßnahmen; europäische Integrationspolitik; Liberalisierung im internationalen Waren- und Kapitalverkehr; Struktur des Weltwährungssystems.
3
Konsequenzen
Die m. U. werfen allein durch ihre Existenz zahlreiche Fragen auf, machen bisherige Lösungsansätze ungeeignet und führen zu Anpassungsreaktionen der beeinflußten sozialen Umwelt sowie zu Maßnahmen, die Konzerne ihrerseits zu beeinflussen. Diese Prozesse vollziehen sich auf mehreren Ebenen, wobei der einzelwirtschaftliche, der gesamtwirtschaftliche und der gesellschaftlich-poli-
A Internationale Unternehmen und Internationale Gewerkschaften
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tische Bereich unterschieden werden können. (vgl. Punkt 4). In einzelwirtschaftlicher Hinsicht sind damit neue Organisationsformen für die Planung, die Produktion und den Absatz von Gütern und Dienstleistungen verbunden, und es treten Veränderungen in den unternehmensinternen Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit auf. Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene zeigen sich die Konsequenzen in einem beschleunigten Strukturwandel, in neuen Formen der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung und der Weltwährungspolitik sowie in veränderten Bedingungen und Möglichkeiten der nationalen Wirtschaftspolitik. In gesellschaftlichpolitischer Hinsicht führt die Tätigkeit dieser Konzerne zu einem Aufweichen nationalstaatlicher Souveränität, ohne daß bisher wirksame supranationale Autoritäten geschaffen werden konnten. Dies bezieht sich v. a. auch auf die Beziehungen der Tarifparteien. Die m. U. lassen sich als Ausschnitt aus der sozioökonomischen Wirklichkeit darstellen, wobei hierdurch alle wesentlichen einzelwirtschaftlichen, gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme unter einer bestimmten Perspektive zusammengefaßt sind. Dabei ist ihre Beurteilung in hohem Maße vom gesellschaftspolitischen und theoretischen Standort des Betrachters abhängig. Dies bezieht sich z.B. auf Probleme der Anpassung der nationalen politischen Strukturen an die multinationalen Konzernstrukturen, der Notwendigkeit von Kontrollen, der Einschätzung von Wachstumseffekten, der Veränderung der internationalen Arbeitsteilung usw. (vgl. Punkt 5).
4
Stand der Entwicklung
Je nach der Kriterienwahl schwanken die Zahlen für alle m. U. zu Beginn der 70er Jahre zwischen 150 und über 7000 und ihr Anteil an dem Weltbruttosozialprodukt wird auf 20–25 v. H. geschätzt. Schwerpunktmäßig haben die m. U. ihre Aktivitäten sektoral in technologisch fortgeschrittenen, kapitalintensiven Branchen und regional innerhalb der westlichen Industriestaaten. Somit bestehen gegenseitige Produktionsverflechtungen zwischen diesen Staaten, die das Kernstück der neuen Wirtschaftsstruktur ausmachen. Dies schließt nicht aus, daß insbesondere in Rohstoff- und Agrarbereichen sowie im lohnintensiven verarbeitenden Gewerbe zahlreiche Niederlassungen in Staaten der dritten Welt vorhanden sind. Hinsichtlich der lohnintensiven Produktionsverfahren bezieht sich dies auch auf die Staatshandelsländer. Der Prozeß der Konzernbildung wird durch entsprechende Investitionen getragen, die annäherungsweise aus den Angaben über die Direktinvestitionen ablesbar sind. Dabei zeigt sich folgendes quantitatives Strukturbild:
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
(1) Eine eindeutige – wenn auch seit einigen Jahren rückläufige Dominanz besteht durch die US-Konzerne; 1972 entfielen von den Direktinvestitionsbeständen der Konzerne aus nur 7 Staaten (USA, Großbritannien, Frankreich, Bundesrepublik Deutschland, Schweiz, Japan, Kanada) allein 56,9 v. H. auf die USKonzerne. (2) In den genannten sieben Staaten haben über 80 v. H. aller m. U. ihren Hauptsitz. (3) 1972 entfielen auf die m. U. aus den sieben Staaten mit 533 Mrd. DM fast 90% aller entsprechenden Investitionsbestände. (4) 1971 konzentrierten sich die Bestände der von den m. U. aus den sieben Staaten getätigten Investitionen zu 55 v. H. in diesen Staaten selbst. (5) Die Direktinvestitionen verteilten sich zu Beginn der 70er Jahre im Verhältnis von 70 : 30 auf Industrieländer und Nicht-Industrieländer. (6) Die sektorale Aufteilung der von den m. U. dieser sieben Staaten getätigten Direktinvestitionen schwankt z.T. erheblich, und zwar sowohl in Industrieländern als auch in Nicht-Industrieländern. Dies dürfte insbesondere auf Handelsbeziehungen mit ehemaligen Kolonien, auf die Art der eigenen Rohstoffsicherung und auf die Stellung der einzelnen Mutterländer auf dem Weltmarkt zurückzuführen sein. (7) Der Kernbereich der durch die m. U. international verflochtenen Wirtschaftsstruktur besteht aus folgenden Branchen: Chemie, Straßenfahrzeugbau, Elektronik, Flugzeugindustrie, Elektroindustrie, Kautschukindustrie, Erdölindustrie, Rohstoffwirtschaft, Bankensystem. Gerade in diesen Sektoren sind meist nur jeweils knapp ein Dutzend Konzerne bzw. Konzerngruppen im internationalen Markt dominierend.
5
Theoretische Erfassung
Es gibt verschiedene theoretische Ansatzpunkte, die sich mit dem Aufkommen der m. U. auseinandersetzen. Zur Gewinnung eines Überblicks sollen diese im folgenden in fünf Kategorien zusammengefaßt werden.
A Internationale Unternehmen und Internationale Gewerkschaften
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5.1 Neoklassischer Ansatz Dieses auf der Gleichgewichtsökonomie beruhende Konzept besitzt zur Erfassung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen die im Rahmen der Außenhandelstheorie verwendeten preis- und markttheoretischen Instrumente ( Außenwirtschaftstheorie). Hierin ist für den Bereich der Güterproduktion die Bewegung von Produktionsfaktoren über die nationalen Grenzen hinaus zur Herstellung eines einheitlichen Endproduktes nicht vorgesehen, so daß dieses Charakteristikum der m. U. letztlich außer Betracht bleiben muß. Doch auch über die Theorie der internationalen Kapitalbewegung, durch welche die Tendenz zum Ausgleich der Grenzerträge des Kapitals erfaßt wird, wird kaum ein Erkenntnisfortschritt erreicht, da die Tätigkeiten der m. U. primär auf Kapitalbildung und nicht auf Kapitalanlage ausgerichtet sind. 5.2 Theorie der Unternehmensdynamik Hierunter lassen sich Analysen zusammenfassen, die sich auf Leistungen von Pionierunternehmern im Sinne von Schumpeter stützen. Kennzeichen dafür sind überlegenes technisches Wissen, vorteilhafte Anwendung der Großproduktion, unterschiedliche Marktvoraussetzungen und Einkommensstrukturen auf den Produktions- und Käufermärkten, unterschiedliche Finanzierungsmöglichkeiten u.ä.. Insbesondere der Vorsprung der US-Firmen in den vergangenen 25 Jahren läßt sich mit diesem Ansatz erklären, doch bleibt das Auftreten dieses weltweiten Konzerntyps selbst ungeklärt. 5.3 Theorie des internationalen Monopolkapitalismus Dieser im Rahmen der marxistisch-leninistischen Kapitalismustheorie entwickelte Ansatz stützt sich auf die von Marx entwickelte Kapitalismuskritik sowie die durch Luxemburg und Lenin vorgenommene Weiterentwicklung in Richtung auf den internationalen Imperialismus. In den m. U. werden die internationalen Monopole im Sinne einer höheren Stufe des kapitalistischen Weltsystems gesehen. Die Entstehung aus dem relativen Kapitalüberschuß bei sinkender nationaler Profitrate, verbunden mit zyklischen Überproduktionskrisen, führt damit zur neuen Erscheinungsform des Grundwiderspruchs zwischen Produktion und Kapitalverwertung. Die Kritik an diesem Monopolkapitalismusansatz ist analog der allgemeinen politökonomischen Kritik am Marxismus-Leninismus zu leisten. Hierunter fallen insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate, der Zwangsläufigkeit von ökonomischen und – hiervon abgeleitet – gesellschaftlichen Entwicklungen, der Staatstätigkeit im Sinne eines ideellen Gesamtkapitalisten.
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
5.4 Theorie der Industriegesellschaft In dem Aufbau eines weltweiten ökonomischen Systems wird der Beginn einer mondialen, transideologischen Industriegesellschaft gesehen. Hierbei fällt den m. U. die zentrale Antriebsfunktion zu, durch welche die aus- und angleichenden Kräfte, dargestellt in der Konvergenztheorie, übertragen werden. Die Konvergenz selbst ergibt sich weitgehend aus der Anpassung an die technologischen Zwänge. Zum Teil wird dieser Ansatz in Form des "Countervailing-powerKonzepts" ergänzt, indem davon ausgegangen wird, daß sich die einzelnen Konzerne bzw. Konzerngruppen gegenseitig kontrollieren. Mit diesem Ansatz erscheint ein Teilbereich, derjenige der Technologie, zum Hauptzweck sozioökonomischer Entwicklung zu werden. Die Möglichkeiten bzw. Notwendigkeiten, die m. U. gesellschaftspolitisch zu kontrollieren und in ihren Aktivitäten zu beeinflussen, werden demgegenüber vernachlässigt. 5.5 Theorie der mehrstufigen demokratischen Kontrolle Der Internationalisierungsprozeß der Kapitalstrukturen in Form der m. U. wird als irreversibel erachtet, kann jedoch durch neue Formen ökonomischer, sozialer und politischer Kontrolle allmählich eingeholt und steuerbar gemacht werden. Dies ergibt sich aus einem Zusammenspiel von gewerkschaftlichem, nationalem und übernationalem Handeln. Dieser Ansatz erscheint v. a. geeignet, im Rahmen des parlamentarisch-demokratischen Gesellschaftssystems Wege aufzuzeigen, die ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen aufeinander abzustimmen, wobei die einzelnen Kontrollansätze durchaus heterogen ausgestaltet werden können. Hierbei werden bisher sehr stark die verschiedenen Kontrollaspekte hervorgehoben, ohne daß damit eine einheitliche Analyse der m. U. verbunden ist. In dem Maß an Unverbindlichkeit in der Analyse der m. U. kommt einerseits die ideologische Offenheit zum Ausdruck, andererseits liegt darin jedoch auch eine Schwäche in der Ursachenerforschung.
6
Einflußfelder der multinationalen Unternehmen
Es sind erstens diejenigen Bereiche zu kennzeichnen, in denen die Aktivitäten der m. U. von Bedeutung sind und zweitens ist auf die hauptsächlichen Probleme und Konflikte hinzuweisen. Dabei wird die bereits in Punkt 3 verwendete Einteilung in Einzelwirtschaft, Gesamtwirtschaft und Gesellschaft aufgegriffen.
A Internationale Unternehmen und Internationale Gewerkschaften
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6.1 Multinationaler einzelwirtschaftlicher Bereich Die Tätigkeiten der m. U. sind formal mit dem gleichen Begriffsraster analysierbar wie diejenigen der nationalen Unternehmen und Konzerne. Somit ist zunächst auf die Theorieaussage der Betriebswirtschaftslehre zurückzugreifen. In diesem Ansatz sind die Interessen der Arbeitnehmer jedoch nicht bzw. nur sehr unvollständig enthalten, da hier Arbeit unter dem Aspekt des Objekt- bzw. Faktorcharakters zur Erhöhung der Kapitalrationalität verstanden wird. Dies macht es notwendig, neben die traditionellen, auf Rentabilitäts-, Umsatz-, Machtsteigerung für die Kapitaleigentümer bzw. deren Manager ausgerichteten Fragestellungen diejenigen der abhängig Beschäftigten zu setzen. Dies klingt bei der Darstellung der Kontrollmöglichkeiten in Punkt 7 an, da dort auch die Handlungsmöglichkeiten von abhängig Beschäftigten und Gewerkschaften behandelt werden. In diesem Übersichtsartikel können aus Raumgründen Funktionsbereiche der m. U. nach Inhalt und Ausgestaltung nicht skizziert werden. Im einzelnen wären hier zu untersuchen: Planung und Organisation, Rechnungslegung und Ermittlung der Wertschöpfung, Produktion und Investition, Beschaffung und Absatz, Finanzierung und Preise, Forschung und Entwicklung, Personalwirtschaft. 6.2 Nationaler gesamtwirtschaftlicher Bereich In den westlichen Ländern fällt nach dem derzeitigen Stand sozioökonomischer Machtverteilung den nationalstaatlichen Organen die Aufgabe zu, den ökonomischen Gesamtprozeß im wesentlichen durch Maßnahmen der Globalsteuerung zu lenken (globale Wirtschaftssteuerung). Dies setzt in jedem Fall voraus, daß diejenigen, welche hierdurch beeinflußt werden sollen – und dies sind v. a. die Unternehmen und Konzerne – überhaupt national steuerbar sind. Damit ist das Spannungsfeld zwischen m. U. und Staat in ökonomischer Hinsicht umrissen. Diese Konzerne lassen sich in ihren entscheidenden einzelwirtschaftlichen Aktionsparametern der Planung, Durchführung und Kontrolle national nicht mehr ausreichend erfassen, was eine vergleichende Analyse zwischen den einzelwirtschaftlichen multinationalen Funktionsbereichen der Konzerne und den gesamtwirtschaftlichen nationalen Wirtschaftspolitikbereichen der Staaten zeigt. Schwerpunktmäßig werden damit folgende staatliche Bereiche betroffen: Beschäftigungspolitik, Konjunkturpolitik, Strukturpolitik, Technologie, Handelsund Währungspolitik. Aus denselben Gründen wie hinsichtlich der einzelwirtschaftlichen Funktionsbereiche muß in diesem Übersichtsartikel eine Darstellung des Konflikts zwischen den m. U. und dem Nationalstaat innerhalb der einzelnen staatlichen Politikbereiche unterbleiben. Verwiesen sei auf die betreffenden Beiträge (Arbeitsmarkt, Konjunktur- und Wachstumspolitik, Regionalpolitik, Sektorale Wirtschaftspolitik, Welthandelssystem, Weltwährungssystem).
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
6.3 Nationaler gesellschaftlicher Bereich Das Spannungsverhältnis zwischen Nationalstaat und m. U. kennzeichnet nicht nur den wirtschaftlichen Bereich, sondern wirkt zwangsläufig auch auf die Gesellschaft als politisches System. Indem zentrale nationale wirtschaftliche Aktionsparameter zunehmend an Wirksamkeit verlieren, kommt es gewissermaßen zu einer Transformation des Nationalstaatensystems. Die leistungsfähigen Organisationen der m. U. mit ihren unter Zugrundelegung von politischen Maßstäben relativ einfachen Zielfunktionen, besitzen in einer Welt fehlender vergleichbarer Gegenmacht von ökonomisch und/oder politisch tätigen Organisationen allein aufgrund ihrer Existenz einen sehr großen Handlungsspielraum. Insbesondere in Entwicklungsländern wird diese Macht gelegentlich auch direkt sichtbar, wenn sie den ökonomischen Sektor überschreitet. Nicht zufällig wurde die Stellung der m. U. gegenüber den Nationalstaaten mit dem Verhältnis der weltweit handelnden römischen Kirche des Mittelalters gegenüber den damaligen Territorialfürsten im kleinstaatlichen Europa verglichen. Der Verlust nationalstaatlicher Souveränität in den Industriestaaten bzw. die Erschwerung der Bildung dieser Souveränität in den Entwicklungsländern führte zu Ansatzpunkten der Kontrolle der m. U. Die damit zusammenhängenden Fragen sollen im folgenden, abschließenden Teil kurz untersucht werden.
7
Zur Frage der Kontrolle von multinationalen Unternehmen
Analog zu den unterschiedlichen theoretischen Erklärungsansätzen ist auch in diesem Zusammenhang in der Literatur keine einheitliche Haltung festzustellen. Zu stark treten gerade bei diesen Fragen die verschiedenen gesellschaftlichen Wertesysteme hervor. Die verschiedenen Positionen werden im folgenden in vier Typen zusammengefaßt, womit nicht zum Ausdruck kommen soll, daß es sich in jedem Fall um Alternativen handelt. Im einzelnen sind dies: Verzicht auf Kontrollen, gewerkschaftliche Ansatzpunkte, nationalstaatliche Politik, internationale Politik. 7.1 Verzicht auf Kontrollen In dieser Position kommt, wenn auch in veränderter Form, die "invisible hand" im Sinne von Smith zum Vorschein. Es wird grundsätzlich die Notwendigkeit einer Kontrolle von außen verneint. Durch Bildung von neuen m. U., insbesondere im Bereich der japanischen und westeuropäischen Wirtschaft, soll es zu Gegenmachtbewegungen kommen, um eine Monopolposition einzelner Konzerne zu verhindern. Darüber hinaus wird eine freiwillige Selbstbeschränkung sowie eine intensive freiwillige Öffentlichkeitsarbeit der Konzerne als notwendig angese-
A Internationale Unternehmen und Internationale Gewerkschaften
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hen. Dieser Ansatzpunkt wird neben den Aktivitäten einzelner m. U. insbesondere von internationalen Unternehmensverbänden verfolgt, die in dieser Richtung bereits Vorschläge gemacht haben (z.B. Leitsätze für Auslandsinvestitionen von 1972 durch die Internationale Handelskammer). Die Vorschläge wirken, soweit sie auf die Bildung neuer m. U. abzielen, auf die Gesamtthematik gesehen problemverschärfend, sofern man davon ausgeht, daß diese Organisationen marktmäßig nicht hinreichend kontrollierbar sind. Demgegenüber dürfte in der freiwilligen Selbstbeschränkung, der freiwilligen besseren Öffentlichkeitsarbeit u.ä. nur sehr begrenzt ein wirksames Kontrollinstrument liegen, da sich gerade die Freiwilligkeit von Selbstkontrollen in Konfliktfällen ins Unverbindliche verflüchtigt. Zumindest besteht keine Gewähr dafür, daß dies nicht geschieht. 7.2 Gewerkschaftliche Maßnahmen Dieser Ansatz gründet sich auf die Tatsache, daß erstens die Arbeitnehmer von den Aktivitäten der m. U. am unmittelbarsten betroffen sind und schon von daher zu Gegenmaßnahmen bereit sind und daß zweitens die von Gewerkschaftsseite im nationalen Rahmen durchgesetzten Rechte und Einflußmöglichkeiten durch die m. U. teilweise wieder rückgängig gemacht werden können. Von daher haben sich in den vergangenen Jahren verschiedene Ansatzpunkte einer Gewerkschaftsstrategie entwickelt. An Instrumenten sind hierbei insbesondere zu nennen: Tarifpolitik, Verbesserung des Informationsstandes, Koordinierung gemeinsamer Aktionen (von der Abstimmung der Laufzeit der Tarifverträge bis hin zu internationalen Arbeitskampfmaßnahmen), Mitbestimmung in den Leitungsorganen der m. U., Stärkung der Gewerkschaftsorganisation, gewerkschaftliche Politikbeeinflussung auf nationaler und internationaler Ebene. An institutionellen Ansatzpunkten liegen vor: Weltkonzernausschüsse, Internationale Berufssekretariate, Weltgewerkschaftsbünde (Gewerkschaften, Mitbestimmung). Die hierin erkennbare Strategie läßt sich wie folgt umschreiben: Erstens wird die Arbeit durch die ideologische Spaltung der internationalen Gewerkschaftsbewegung in kommunistische und nicht-kommunistische Gewerkschaften beeinflußt; zweitens bestehen in zahlreichen Staaten gerade der Dritten Welt keine oder nur sehr schwache Gewerkschaftsorganisationen; drittens wird in zahlreichen Konfliktfällen die nationale Orientierung der Gewerkschaftspolitik gegenüber einer internationalen Strategie vorgezogen; viertens zögern die starken nationalen Gewerkschaften, allzu viel Macht an die internationalen Organisationen abzutreten. Aus den genannten und einigen weiteren, jedoch weniger grundsätzlichen Gründen ergibt sich, daß dieser Ansatzpunkt nicht als alleiniger Weg einer wirksamen Kontrolle in Frage kommt. Auch ist die Legitimation für gewerkschaftliches Handeln in hohem Maß mitgliederbezogen und stellt von daher nur einen Ausschnitt aus der gesellschaftlichen Realität dar.
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
7.3 Nationale Politik Im nationalen Rahmen lassen sich zwei völlig unterschiedliche Ansatzpunkte der Kontrolle feststellen. Erstens ist das liberale, wettbewerbsorientierte Konzept zu nennen. Durch Beseitigung der Multinationalität von Konzernen soll die Wirksamkeit nationaler Wettbewerbspolitik bzw. allgemeiner, nationaler Wirtschaftspolitik, erhöht werden. Erreicht werden soll dies z.B. durch multinationale Streuung der Kapitaleigentumsverhältnisse, Fusionskontrolle und Mißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen, Entflechtung von m. U., Kooperationen zwischen nationalen Regierungen, die mit Aktivitäten eines Konzerns konfrontiert sind, gehören gleichfalls zum Aktionskatalog dieser Orientierung (Ordnungspolitik, Wettbewerbspolitik). Insgesamt erscheint dieser Ansatz, zumindest wenn er isoliert angewendet wird, als wenig erfolgversprechend, da hier letztlich das Aufkommen der m. U. als Unachtsamkeit nationalstaatlicher Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik gedeutet wird. Mit diesem grundsätzlichen Vorbehalt soll jedoch nicht ausgeschlossen werden, daß in Teilbereichen nationale Kontrollen wirksamer eingesetzt werden können als bisher. Zweitens besitzen die nationalen Regierungen formalrechtlich die Souveränität, die Tochtergesellschaften der Konzerne ganz oder teilweise zu verstaatlichen. Dieser Weg wird zunehmend in Entwicklungsländern beschritten und steht in Zusammenhang sowohl mit der Zielsetzung dieser Länder, einen eigenen Weg der wirtschaftlichen Entwicklung zu finden als auch mit dem Souveränitätsanspruch über die nationalen Rohstoffquellen. In den westlichen Industriestaaten mit ihren anders gearteten sozioökonomischen Systemen wird in der Verstaatlichung nach herrschender Auffassung kein geeigneter Ansatz zur Lösung der anstehenden Probleme gesehen. 7.4 Internationale Politik Im internationalen Rahmen kam es in Wechselwirkung mit der wachsenden Bedeutung der m. U. zu einem Ausbau von Institutionen, die mit ihren Instrumenten zunehmend gegenüber diesen Konzernen aktiv werden. Hierbei haben die einzelnen Institutionen je nach ihrem Aufgabengebiet sehr unterschiedliche Ansatzpunkte für eine Konzernkontrolle entwickelt. In jedem der im folgenden genannten Gremien werden Probleme der Kontrolle von m. U. zumindest untersucht, in Einzelfällen zeichnen sich auch strategische Ansatzpunkte ab. (1) Europäische Gemeinschaft (EG): Durch Abstimmung der nationalen Politikbereiche und durch den Ausbau europäischer Formen für Konjunktur-, Industrie-, Regionalentwicklungs-, Wettbewerbs-, Unternehmensrechts-, Steuer-, Währungs-, Sozialpolitik u.ä. bestehen Kontrollmöglichkeiten von Aktionsparametern der m. U.. Hierbei sollten jedoch
A Internationale Unternehmen und Internationale Gewerkschaften
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die auftretenden Schwierigkeiten nicht übersehen werden. Im übrigen reichen die Aktivitäten der meisten m. U. weit über den Raum der EG hinaus (Europäische Gemeinschaft). (2) Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD): In den in diesem Gremium zusammengeschlossenen westlichen Industriestaaten haben alle bedeutenden m. U. ihren Sitz. Gegenüber den m. U. kann es von seiten der OECD jedoch lediglich zu Empfehlungen kommen. (3) Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen (GATT): Das Arbeitsgebiet des GATT bezieht sich auf die Beeinflussung des Welthandels durch die m. U.. Interessant ist der Vorschlag, neben dem bestehenden GATT (for trade) ein GATT (for investment) zu schaffen. (4) Internationale Arbeitsorganisation (ILO): Die durch die m. U. hervorgerufenen sozialen Auswirkungen (Beziehungen der Tarifparteien, Ausbildungs-, Lohnstrukturfragen usw.) sowie die arbeitsmarktpolitischen Konsequenzen aufgrund der Änderung der internationalen Arbeitsteilung sind Hauptgegenstand der im Internationalen Arbeitsamt behandelten Fragen. Ende 1975 wurden erste Ergebnisse in fünf Untersuchungsberichten vorgelegt. (5) Internationaler Währungsfonds (IWF): Im Rahmen des Internationalen Währungsfonds werden die währungspolitischen Konsequenzen der Tätigkeit der m. U. behandelt. Änderungen im System der internationalen Währungsreserven, der Wechselkurse, Beistandskredite bei Zahlungsbilanzungleichgewichten u.ä. sind die bisher erkennbaren Antworten auf die aufgeworfenen Probleme. (6) Welthandelskonferenz (UNCTAD): Aus der Notwendigkeit, die Interessen der Entwicklungsländer auf weltweiter Ebene stärker zur Geltung zu bringen, befaßt sich diese Unterorganisation der UNO auch mit den m. U.. Kein Konzern wird aus entwicklungspolitischen Motiven in diesen Ländern aktiv, so daß sich die Interessen der m. U. und der Entwicklungsländer nicht zwingend decken. Erkennbare Kontrollansätze liegen vor in Form von Richtlinien für Auslandsinvestitionen, Registrierungs- und Überwachungsmaßnahmen und gesetzlichen Bestimmungen gegen restriktive Geschäftspraktiken der Konzerne. (7) Wirtschafts– und Sozialrat der Vereinten Nationen (ECOSOC): ECOSOC hat sich in einer Arbeitsgruppe, die 1974 ihren Bericht vorlegte, mit den m. U. befaßt. Aus den gemachten Vorschlägen soll an dieser Stelle der „Ko-
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
dex des Wohlverhaltens" erwähnt werden, der eine bessere Überwachung der Geschäftstätigkeit der m. U. gestatten soll. Zur Ausarbeitung dieses Kodex sowie zur laufenden Datensammlung über die m. U. wurde das "Centre for Transnationale Corporations" (CTC) gegründet.
8
Gesamtbeurteilung
Die Entstehung der m. U. erscheint als unaufhebbarer Prozeß in der sozioökonomischen Entwicklung besonders der westlichen Industriestaaten. Die zunehmende politische Integration dieser Staaten ist einerseits Antwort auf die transnationale Struktur, andererseits Voraussetzung für weitere derartige Konzernbildungen. Von daher erscheint die Prognose durchaus realistisch, daß in ein bis zwei Jahrzehnten auf rd. 300 m. U. zwei Drittel der Industrieproduktion der westlichen Welt entfallen. Möglichkeiten zur Kontrolle dieser Konzerne werden sich über ein abgestuftes System von Eigen- und Marktkontrolle sowie gewerkschaftlicher, nationaler und internationaler Ansätze aufbauen lassen, wobei eine abrupte Änderung des Gesellschaftssystems außer Betracht bleibt. Besondere Kontrollnotwendigkeiten und -formen scheinen sich in den Entwicklungsländern herauszubilden, indem hier über Verstaatlichung bzw. gemischte Beteiligungsgesellschaften zunehmend nationale Einflußmöglichkeiten entstehen dürften.
Literatur Fröhlich, F.W. (1974), Multinationale Unternehmen. Entstehung, Organisation und Management, Baden-Baden 1974. Kebschull, D./Mayer, O.G. (Hrsg.) (1974), Multinationale Unternehmen. Anfang oder Ende der Weltwirtschaft?, Frankfurt am Main 1974. Kreye, 0. (Hrsg.) (1974), Multinationale Konzerne. Entwicklungstendenzen im kapitalistischen System, München 1974. Piehl, E. (1974), Multinationale Konzerne und internationale Gewerkschaftsbewegung, Frankfurt am Main 1974.
A Internationale Unternehmen und Internationale Gewerkschaften
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A.2 Internationale Unternehmen und Internationale Gewerkschaften*
1
Einführung
Betrachtet man die Wirtschaftsentwicklung der letzten Jahrzehnte unter dem Gesichtspunkt ihrer herausragenden Merkmale, so fällt das Augenmerk insbesondere auf die schnell anwachsende Bedeutung der international tätigen Unternehmen und der multinationalen Konzerne. Es sind vor allem die Produktions-, Umsatz-, Investitions- und Kapitalbedingungen, die auffallen und Schlagzeilen machen. Und doch werden mit diesen Strukturen simultan auch die Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Einkommens- und Beschäftigungsmöglichkeiten der Millionen von Arbeitnehmern in diesen Unternehmen entscheidend beeinflußt. Daher kann es nicht überraschen, wenn durch diese Veränderungen eine Reaktion auf seiten der Arbeitnehmer und Gewerkschaften erfolgt, zumal in vielen Fällen eine Gefährdung und kein Fortschritt der materiellen Lebensgrundlage der Beschäftigten verbunden ist. Damit sind die Gewerkschaften in ihren zentralen Aufgabengebieten und ihrem Selbstverständnis betroffen. Wie sehen diese Reaktionen aus und welche Schwierigkeiten treten bei der Herausbildung neuer gewerkschaftlicher Organisationsformen auf?
2
Phasen der Internationalisierung von Kapital- und Arbeitsstrukturen
Die Antwort auf die zuletzt aufgeworfenen Fragen wird einsichtiger, wenn sie eingebettet ist in die Betrachtung des historischen Ablaufs dieser beiden Bereiche der sozioökonomischen Wirklichkeit. Auf diese Weise werden auch die Bedingungen erkennbar, die zu dem Rückstand der Gewerkschaften in der Handlungskompetenz gegenüber den internationalen Unternehmen geführt haben.
2.1 Nationale Unternehmen und nationale Gewerkschaftspolitik im Rahmen des internationalen Kapitalismus und einer internationalen Gewerkschaftsprogrammatik Die Herausbildung der ersten überregionalen Gewerkschaften im neunzehnten Jahrhundert war Ausdruck des politischen Willens, eine soziale Antwort auf die Arbeitsbedingungen in der Frühphase des kapitalistischen Industrialisierungs*
in: Internationale Unternehmensführung. Managementprobleme international tätiger Unternehmen Festschrift für Eugen Sieber, hrsg. v. W.H. Wacker/ H. Haussmann/ B. Kumar, Berlin 1981, S. 395-404
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prozesses zu finden. Dem nationalen Zusammenschluß gingen lokale Vereinigungen voraus, in denen zunächst auf die unmittelbaren betrieblichen Probleme eine Antwort gesucht wurde.1 Da das Operationsfeld der Unternehmen zu dieser Zeit durch den Nationalstaat gekennzeichnet war, mußten die gewerkschaftlichen Organisationen diesem Rahmen folgen, wollten sie sich nicht auf die betriebliche Ebene beschränken und damit wesentliche Handlungs- und Einflußmöglichkeiten gleich zu Beginn ihrer Entwicklung preisgeben. Sehr schnell wurden jedoch die übernationalen Züge des neuen Industriesystems unter den Bedingungen von Lohnarbeit und internationalen Marktbeziehungen erkannt.2 Für die Arbeits- und Lebensbedingungen der abhängig Beschäftigten war es prinzipiell gleichgültig, ob sie in Deutschland, Frankreich, England oder den USA arbeiteten. Es waren zwar andere Unternehmen und andere „Kapitalisten“, doch fußten die mit dem Arbeitseinsatz verbundenen sozialen Probleme auf den gleichen Gesetzmäßigkeiten der Kapitalbewegungen. Von daher kam es im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts bereits zu einer grenzüberschreitenden Kooperation verschiedener Gewerkschaftsorganisationen und zur Proklamation gemeinsamer Ziele. Die internationale Durchsetzung des Tages der Arbeit am 1. Mai und die Forderung nach dem 8-Std. Tag sind herausragende Merkmale dieser Etappe.3 Dennoch darf diese Phase nicht darüber hinweg täuschen, daß die internationalen Aktivitäten der Gewerkschaften über weite Strecken auf das Programmatische und Theoretisch-Ideologische beschränkt blieben und von der täglichen Arbeit isoliert waren. Die Schwerpunkte lagen in den betrieblichen Auseinandersetzungen und – wachsend – auch im Vorfeld staatlicher Politikbeeinflussung. Die Herausbildung des Tarifvertragssystems Ende des neunzehnten Jahrhunderts und die Beteiligung an der durch die Bismarck’schen Sozialgesetze geschaffenen Gremien sowie das Engagement in der freiwilligen Arbeitslosenversicherung4 verdeutlichen dies. Diese Orientierung korrespondierte mit der nationalen Organisationsform der Unternehmerverbände.5 Es galt, mit diesen Personen und Institutionen über Auseinandersetzungen und Verhandlungen zu Vereinbarungen zu gelangen und nicht den Kampf mit der abstrakten internationalen Kapitalseite oder einer „ideellen Kapitalistenklasse“ zu führen. Damit waren die Weichen für Jahrzehnte gestellt und zwar auch dann noch, als sich die Organisationsformen der Unternehmen bereits in beträchtlichem Maße von dieser nationalen Begrenzung gelöst hatten.
1 2 3 4 5
Vgl. Schuster (1973), S. 9-23; Kendall (1975), S. 89-98; Limmer (1966), S. 8-31. Vgl. Abendroth (1969), S. 34 ff. Vgl. Gottfurcht (1962), S. 26 f. Vgl. Grebing (1970), S. 69, 102 f.; Fischer (1980), S. 111 ff. Vgl. Weber (1921), S. 197.
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2.2 Internationalisierung von Unternehmen und Gewerkschaftspolitik Nachhaltige politische Ereignisse in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts, aber auch der Ausbau des gewerkschaftlichen Einflusses innerhalb der nationalen Grenzen führten dazu, daß die internationalen Ansätze der Gewerkschaftspolitik in ihrer Bedeutung zurückgingen. Die programmatischen Gemeinsamkeiten verloren teils ihre verbindende Kraft, teils zeigten sich auch stärkere politische Unterschiede in der Gewerkschaftsarbeit (insbesondere zwischen den sozialdemokratischen, kommunistischen und christlichen Gewerkschaftsbewegungen). Zu keiner Zeit stand es jedoch im Belieben der Gewerkschaften, die Herausforderung durch die Internationalisierung der Unternehmen anzunehmen und nach Lösungsmöglichkeiten für die damit verbundenen neuen Probleme zu suchen. Vielmehr zeigte sich, daß hier Unternehmensstrukturen mit Planungs- und Entscheidungszentren entstanden, die errungene nationale Einflußbereiche der Gewerkschaften umgehen oder auflösen konnten. Da es keine zentrale Stelle gab, in der die Gewerkschaftsreaktionen auf die Internationalisierung der Unternehmen geplant und koordiniert wurden – und eine solche Einrichtung auch künftig nicht vorstellbar ist –, haben sich die Maßnahmen in der praktischen Arbeit herausgebildet. Dem gegenüber fand eine wissenschaftliche Auseinandersetzung über diesen Gegenstand in nennenswertem Umfang erst in den siebziger Jahren statt.1 Durch den gleichzeitig stattfindenden fortlaufenden Wandel auf der Unternehmensseite wurde diese Suche nach einem Konzept, das die Vielzahl von Einzelmaßnahmen umfaßt, zusätzlich erschwert.
3
Voraussetzungen einer internationalen Gewerkschaftsstrategie
3.1 Unterschiedliches Selbstverständnis Die Voraussetzungen für ein gewerkschaftliches Handeln im internationalen Rahmen waren aus mehreren Gründen denkbar ungünstig.2 Zunächst ist festzustellen, daß die unterschiedlichen Sozialstrukturen in den verschiedenen Industriestaaten sehr nachhaltig mit den gewerkschaftlichen Organisationsformen und Handlungsmöglichkeiten verbunden sind. Dies zeigt sich in ideologischen und strategischen Divergenzen, die auch zu einer organisatorischen Zersplitterung führen. So lassen sich idealtypisch drei Leitbilder eines gewerkschaftlichen Selbstverständnisses unterscheiden:3 1 2 3
Vgl. u. a. Levison (1972); Jungnickel/ Matthies (1973); Tudyka (1974). Vgl. Koubek (1978), Sp. 904 f. Vgl. Jung u. a. (1971); Piehl (1974), S. 229 ff.
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1. das an klassenkämpferischen Modellen orientierte Handeln, wie es insbesondere in den romanischen Ländern Süd- und Südwesteuropas vorherrscht; 2. die pragmatische, stärker betriebsbezogene angelsächsische Gewerkschaftsarbeit; 3. die legalistische Ausprägung im vorwiegend deutschsprachigen mitteleuropäischen Raum. Hieraus leiten sich gerade im Hinblick auf die Gewerkschaftsstrategie unterschiedliche Konzepte ab, die an dieser Stelle lediglich mit den Begriffen „Arbeiterkontrolle“, „industrial democracy“, „Mitbestimmung“ umschrieben sein sollen. Von nachhaltiger Wirkung ist die organisatorische Spaltung der Weltgewerkschaftsbewegung in drei, zumindest aber zwei große Blöcke. In der Folge der Herausbildung kommunistischer Staaten entstanden staatssozialistische Gewerkschaften mit einem spezifischen Auftrag und Selbstverständnis, die in einem internationalen Gewerkschaftsverband zusammenarbeiten. Hieran sind auch die kommunistischen Gewerkschaften der westlichen Staaten beteiligt. Dem steht eine Mehrheit an Gewerkschaftsorganisationen gegenüber, die teils sozialdemokratische Traditionen haben, teils an christlichen Soziallehren orientiert sind. Gerade zwischen den beiden zuletzt genannten Richtungen verschwinden die Unterschiede zunehmend, und es gibt bereits eine große Anzahl gemeinsamer Maßnahmen und Einrichtungen, insbesondere vor dem Hintergrund der Aufgabenverschiebung durch das Auftreten internationaler Unternehmen. In Italien wird seit einigen Jahren auch eine Zusammenarbeit aller drei Gewerkschaftseinrichtungen versucht. Es ist einsichtig, daß die Breite der geschichtlich verankerten gewerkschaftlichen Unterschiede nicht allein dann additiv zusammengefaßt werden kann, wenn sich auf der Kapitalseite internationale Großunternehmen bilden und in diesem Zusammenhang auch Betriebe mit unterschiedlichen Gewerkschaftsrichtungen einbezogen werden.
3.2 Organisatorische und finanzielle Hindernisse Neben den programmatischen Schwierigkeiten beim Aufbau einer grenzüberschreitenden Gewerkschaftsstrategie lassen sich noch zahlreiche praktische Hindernisse ausmachen. So bilden die unterschiedlichen kulturellen Gegebenheiten und Sprachen bei all denen ein Hindernis, die ihre Erfahrungen und Sprachkenntnisse bisher nur auf ein Land auszurichten brauchten. Dem gegenüber enthält der Typus des gewerkschaftlichen Weltbürgers mit proletarischer Vergangenheit eine Kombination aus persönlichen und sozialen Eigenschaften mit hohem Seltenheitswert. Erschwerend kommt hinzu, daß zu Beginn der internationalen Gewerkschaftsarbeit für diese Zwecke nur geringe finanzielle Mittel zur
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Verfügung gestellt wurden. Dies lag teils an den unterschiedlichen Organisationsstrukturen und Finanzierungsmöglichkeiten der einzelnen nationalen Gewerkschaften und teils an dem Konflikt zwischen basisnaher Betriebsarbeit und Notwendigkeit des Aufbaus von leistungsfähigen internationalen Gewerkschaftsorganisationen, deren Erfolge zunächst mehr Hoffnung als Realität waren.
3.3 Gewerkschaften und die Länder der Dritten Welt Die aufgezeigten Probleme werden in dem Augenblick nochmals potenziert, in dem das Verhältnis der Industrieländer zu den Ländern der Dritten Welt auch als Gewerkschaftsfrage auftaucht. In den zuletzt genannten Ländern finden sich in der ersten Phase des Aufbaus von internationalen Unternehmen zum Teil überhaupt keine oder nur sehr zaghafte Ansätze einer Gewerkschaftsbewegung.1 Gleichzeitig sind in vielen Fällen jedoch die sozialen Probleme bezüglich der Entlohnung, der Arbeitsbedingungen, der sozialen Sicherung u.a. sehr groß. Standards und Vereinbarungen zur Regelung dieser Sachverhalte, wie sie in den Industriestaaten als gesichert gelten, werden häufig in den Zweigniederlassungen von internationalen Unternehmen in der dritten Welt außer acht gelassen, selbst wenn man als Maßstab wegen der anderen Sozialstruktur eine landesspezifische Abschwächung zu Grunde legt. Damit beginnt in vielen Fällen die soziale Auseinandersetzung auf dem Niveau des neunzehnten Jahrhunderts in Europa.
4
Organisationsformen internationaler Gewerkschaftsarbeit
Die Vielzahl der Einzelaktivitäten läßt sich unter Zugrundelegung der historischen Entwicklung in drei Bereiche einteilen. Zusammenschluß von Fachgewerkschaften zu internationalen Berufssekretariaten, Aufbau von internationalen gewerkschaftlichen Dachverbänden, Bildung von Welträten bzw. Weltkonzernausschüssen für einzelne internationale Unternehmen und Konzerne. Geht man von den Handlungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer und Gewerkschaften in internationalen Unternehmen aus, so sind zunächst die Weltkonzernausschüsse vorzustellen, gefolgt von den Fachverbänden. Im weiteren wird schwerpunktmäßig auf die Gewerkschaftsstruktur eingegangen, die im Rahmen des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften (IBFG) als dem größten gewerkschaftlichen Dachverband vorliegt. Da in diesem Beitrag nur die groben Linien nachgezeichnet werden können, gilt manches auch für die beiden anderen internationalen Gewerkschaftsbünde, den Christlichen Weltverband der Arbeit und den kommunistischen Weltgewerkschaftsbund. Wie 1
Vgl. Ridell (1974), S. 211 ff.
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
bereits kurz erwähnt, arbeiten die einzelnen Richtungsgewerkschaften in bestimmten Fällen zusammen.
4.1 Welträte und Weltkonzernausschüsse Mit der Herausbildung der internationalen Unternehmen entstand ein weites Feld der Abstimmung innerhalb der Arbeitnehmerschaft dieser Konzerne. Zu denken ist dabei etwa an die Arbeitsbedingungen, das Arbeitstempo, die Lohnhöhe, die Lohnstruktur und die Sicherheit der Arbeitsplätze. Da diese Fragen eng mit der langfristigen Strategie und Planung im gesamten Konzern zusammenhängen, muß es das Ziel der Vertreter der Arbeitnehmer aus den einzelnen Konzernteilen sein, auch Kenntnisse und Einflußmöglichkeiten auf diese Entscheidungen zu gewinnen. Als geeigneten Ansatzpunkt für ein solches gewerkschaftliches Handeln hat sich die Bildung von sogenannten Welträten oder Weltkonzernausschüssen gezeigt.1 Hierin arbeiten unter organisatorischer und finanzieller Betreuung der jeweils zuständigen internationalen Fachgewerkschaften die Arbeitnehmerrepräsentanten aus den einzelnen Konzernteilen zusammen. Dies bezieht sich zunächst auf den Austausch von Informationen. Es ist in vielen Fällen nicht übertrieben zu sagen, daß außer der Zugehörigkeit zu einer Unternehmensgruppe und der Tatsache des Lohnarbeitsverhältnisses keine weiteren Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Arbeitnehmergruppen bekannt sind. Häufig mangelt es zahlreichen Beschäftigten sogar an der Kenntnis des multinationalen Charakters, in den der jeweilige Betrieb eingebunden ist. Komplizierter gestalten sich die gewerkschaftlichen Vermittlungsschritte bei der Vorbereitung und Durchführung gemeinsamer Aktionen in einem Konzern. Die Notwendigkeit hierzu ist jedoch unbestritten, wenn man bedenkt, daß eine gewerkschaftliche Beschränkung der Auseinandersetzungen auf einen Teilbereich des Konzerns in zahlreichen Fällen die Erfolgschancen zugunsten der Kapitalseite verbessert und zwar durch Verlagerung der Produktionsprogramme in diejenigen Betriebe, die von dem Konflikt nicht betroffen sind. Andererseits ist es jedoch auch nur in Extremfällen denkbar, daß die Gewerkschaften aktive Solidaritätsmaßnahmen im internationalen Ausmaß durchführen, unabhängig von der jeweiligen nationalen Konfliktgrundlage. Dies ist rechtlich zum Beispiel bei laufenden Tarifverträgen oder sonstigen Regelungen häufig nur unter dem Risiko einer Vertragsaufkündigung möglich, was gegebenenfalls Schadensersatzansprüche nach sich ziehen kann. So bietet sich in diesen Fällen meist die Verweigerung von Überstunden und Produktionsausweitungen als legales Mittel
1
Vgl. Tudyka u. a. (1978), S. 110 ff.
A Internationale Unternehmen und Internationale Gewerkschaften
269
einer internationalen Arbeitnehmersolidarität an, eine Strategie, die bereits mehrfach angewendet wurde. Auf dieser betriebsnahen Ebene verwischen sich die im ideologischpolitischen Bereich vorhandenen gravierenden Unterschiede im gewerkschaftlichen Selbstverständnis und in der gewerkschaftlichen Zielsetzung, so daß es hier häufig über gewerkschaftsorganisatorische Grenzen hinweg zur Zusammenarbeit kommt. Diese wird von der Erkenntnis getragen, daß in jedem der einzelnen nationalen Organisationsbereiche eines Konzerns die Notwendigkeit einer Unterstützung durch ausländische Arbeitnehmer entstehen kann, gleichgültig, bei welcher Gewerkschaftsgruppe die anderen organisiert sind. In den letzten Jahrzehnten wurden in den stark internationalisierten Branchen jeweils Konzernausschüsse oder Welträte gebildet. So bestehen z.B. in der Automobilbranche in allen großen Automobilkonzernen Welträte. Zahlreiche Gremien dieser Art finden sich auch in den Sektoren der Elektroindustrie, chemischen Industrie, pharmazeutischen Industrie, Nahrungs- und Genußmittelindustrie sowie im Versicherungs- und Handelssektor und im Transportwesen.
4.2 Internationale Berufssekretariate In den internationalen Berufssekretariaten1 wird gewerkschaftlicherseits die Arbeit der jeweiligen nationalen Industrie- bzw. Berufsgewerkschaften auf internationaler Ebene formuliert und koordiniert. Einige der 16 Organisationen dieser Art sind bereits um die Jahrhundertwende gegründet worden, so z.B. der Internationale Gewerkschaftsbund im Jahre 1904 und die Internationale Föderation von Chemie- und Fabrikarbeiterverbänden im Jahre 1907. Dennoch läßt sich feststellen, daß ihre Arbeit erst in den letzten beiden Jahrzehnten eine nennenswerte Intensität erreichte. Es lassen sich zwei Tätigkeitsschwerpunkte erkennen. Auf Betriebs-, Unternehmens- und Konzernebene stehen der Aufbau und die Betreuung der Weltkonzernausschüsse/ Welträte im Vordergrund, während bei der Formulierung und Durchsetzung von Arbeitnehmerzielen der jeweiligen Branche internationale branchenspezifische Organisationen als Adressaten auftreten. In bestimmten Weltregionen wurden spezifische regionale Gruppierungen gebildet, so z.B. in Europa der Europäische Metallarbeiterbund. Dieser betreut die Weltkonzernausschüsse der Metallkonzerne mit Sitz in Europa und koordiniert die Aktivitäten gegenüber der Industrie- und Forschungspolitik der europäischen Gemeinschaften einschließlich des Eisen- und Stahlsektors gemäß den Bestimmungen des Montanvertrages.
1
Vgl. Internationaler Bund Freier Gewerkschaften (1979), S. 80.
270
Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
4.3 Internationale Gewerkschaftsbünde Vergleichbar den nationalen Organisationsstrukturen der Gewerkschaften mit einzelnen Berufs- oder Industriegewerkschaften und einem Zusammenschluß in einem Dachverband erfolgt die Zusammenarbeit im internationalen Rahmen. Hier gibt es neben den Berufssekretariaten den internationalen Dachverband. Dabei ist auf Weltebene vor allem der 1949 gegründete „Internationale Bund Freier Gewerkschaften“ (IBFG) zu nennen. In ihm sind mittlerweile 122 nationale Gewerkschaftsfachverbände mit rund 60 Millionen Mitgliedern zusammengeschlossen. Zu den Hauptaufgaben dieser Organisation gehört es, in internationalen Gremien eine koordinierte gewerkschaftliche Politik zur Geltung zu bringen. Im Hinblick auf die internationalen Unternehmen sind zunächst die Aktivitäten in den Vereinten Nationen und ihren Sonderorganisationen zu nennen. „Die UNO ist während der 70er Jahre zunehmend das zentrale Forum bei der Suche nach einer internationalen Kontrolle der MNK-Aktivitäten geworden.“1 An den von seiten der Vereinten Nationen initiierten Untersuchungen und Vorschlägen waren auch Vertreter des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften beratend tätig. Die UNO-Aktivitäten führten insbesondere 1974 zur Gründung einer Kommission für Transnationale Gesellschaften sowie eines UNO-Zentrums für Transnationale Gesellschaften. 1980 soll der UNO-Verhaltenskodex für multinationale Unternehmen verabschiedet werden, an dessen Zustandekommen die Gewerkschaften sehr interessiert sind. Weitere Maßnahmen des IBFG lassen sich innerhalb des internationalen Arbeitsamtes feststellen, wo es in diesem Zusammenhang insbesondere um Fragen der Einhaltung internationaler sozialpolitischer Normen und der Beeinflussung der Beschäftigungswirkungen durch multinationale Konzerne geht.2 Hervorzuheben ist hier besonders die 1977 angenommene dreigliedrige Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik. Ein weiteres bedeutsames Feld der internationalen Gewerkschaftsarbeit liegt in diesem Zusammenhang innerhalb der Aktivitäten der OECD, d.h. der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Hier besteht im Rahmen des gewerkschaftlichen Beratungsausschusses bei der OECD ein internationales Gewerkschaftsgremium, das zu den Aktivitäten der multinationalen Unternehmen Stellung nimmt und den OECD-Ausschuß für internationale Investitionen und multinationale Unternehmen berät. Dies gilt vor allem auch bezüglich der 1976 verabschiedeten „Leitsätze für multinationale Unternehmen.“3 1
2 3
Wilms-Wright (1979), S. 738; vgl. auch Internationaler Bund Freier Gewerkschaften (1979), S. 720. Vgl. Engelen-Kefer (1977), S. 52 ff. Vgl. OECD-Leitsätze für Multinationale Unternehmen, abgedruckt in: Internationaler Bund Freier Gewerkschaften (1979), S. 72-79.
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Abschließend soll der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) als die besondere internationale Organisationsform des gewerkschaftlichen Dachverbandes in Europa erwähnt werden. Von dieser Einrichtung aus werden auch die gewerkschaftlichen Maßnahmen in den europäischen nichtkommunistischen Ländern zu Fragen der multinationalen Unternehmen formuliert und koordiniert,1 wobei die Aktivitäten gegenüber den Einrichtungen der Europäischen Gemeinschaft besonders zu erwähnen sind. Mitglieder dieses Bundes sind jedoch auch Gewerkschaften aus Ländern, die nicht zur EG gehören. Zur Diskussion stehen dabei insbesondere Probleme der Rechnungslegung und Information, der sozialen Konsequenzen bei Unternehmenszusammenschlüssen, der Besteuerung von Unternehmensgewinnen und der Industrie-, Regional- und Forschungspolitik. So waren z.B. bei der langjährigen Diskussion um den Status einer Europäischen Aktiengesellschaft von Anfang an Probleme der Mitbestimmung in den Leitungs- und Kontrollorganen einer der großen Konfliktpunkte. Hier zeigte sich sehr früh, daß es erhebliche programmatische Unterschiede innerhalb der europäischen Gewerkschaften gibt, die jedoch letztlich unter dem Anspruch, die Wirtschaftsdemokratie voranzutreiben, kompromißfähig sind.
5
Zusammenfassung
Die Darstellung hat gezeigt, daß mit dem Vordringen der internationalen Unternehmen allmählich eine Veränderung der gewerkschaftlichen Politik einhergeht und zwar sowohl hinsichtlich der Organisationsstrukturen als auch der Ziele. Dabei lassen sich drei Schwerpunkte erkennen: -
die Bildung von Weltkonzernausschüssen, der Aufbau und Ausbau internationaler Berufssekretariate, die Stärkung des internationalen gewerkschaftlichen Dachverbandes.
Bei dieser Zusammenarbeit geht es über weite Strecken nicht so sehr um eine Angleichung der Gewerkschaftsprogrammatik sondern vielmehr um eine praktische Kooperation gegenüber internationalen Kapitalstrukturen. Deutlich wird dabei der Zwang sowohl zur Zusammenarbeit der Arbeitnehmer und Gewerkschaften innerhalb der Konzerne als auch die Wahrnehmung von Einflußmöglichkeiten in internationalen Organisationen. Erst wenn beides aufeinander abgestimmt ist, können die Gewerkschaften das Maß an Einfluß gegenüber den internationalen Unternehmen erreichen, das sie in jahrzehntelanger Auseinandersetzung auf nationaler Ebene durchzusetzen in der Lage waren. Die besonderen 1
Vgl. Braun (1978), S. 349 ff.
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Schwierigkeiten dieser „Doppelstrategie“ liegen in der Tatsache, daß der Aufbau auch einer weltweiten gewerkschaftlichen Arbeit für die einzelnen Mitglieder in den Betrieben als Notwendigkeit erkennbar wird und in seiner Ausrichtung durchsichtig und beeinflußbar bleiben muß.
Literatur Abendroth, W. (1969): Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung. 6. Aufl., Frankfurt am Main 1969. Braun, W. (1978): Die „Multinationalen“ – ein inzwischen vergessenes Problem? In: Gewerkschaftliche Monatshefte, 1978, S. 349–355. Engelen-Kefer, U. (1977): Gewerkschaften und multinationale Unternehmen. In: Gewerkschaftliche Monatshefte 1977, S. 52–59. Fischer, C. (1980): Institutionelle Probleme staatlicher Arbeitsförderungspolitik. Diss. Wuppertal 1980. Grebing, H. (1970): Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. München 1970. Gottfurcht, H. (1962): Die internationale Gewerkschaftsbewegung im Weltgeschehen. Köln 1962. Internationaler Bund Freier Gewerkschaften (Hrsg.) (1979): Die Gewerkschaften und die Transnationalen. Brüssel 1979. Jung, V./ Koubek, N./ Piehl, E./ Scheibe-Lange, I. (1971): Aspekte der Gewerkschaftspolitik in Westeuropa. In: WWI-Mitteilungen 1971, S. 292-303. Jungnickel, R./ Matthies, K. (1973): Multinationale Unternehmen und Gewerkschaften. Hamburg 1973. Kendall, W. (1975): The Labour Movement in Europe. London 1975. Koubek, N. (1978): Multinationale Unternehmen. In: Handwörterbuch der Volkswirtschaft, Wiesbaden 1978, S. 895-908. Levison, C. (1973): International Trade Unionism. London 1972 (dt: Gewerkschaften, Monopole, Konzerne. Köln 1973). Limmer, H. (1966): Die deutsche Gewerkschaftsbewegung. München 1966. Piehl, E. (1974): Multinationale Konzerne und internationale Gewerkschaftsbewegung. Köln 1974. Ridell, J. (1974): Zur Situation der Gewerkschaften in der Dritten Welt. In: Multinationale Konzerne und Gewerkschaftsstrategien, hrsg. von Kurt P. Tudyka, Hamburg 1974, S. 211–215. Schuster, D. (1973): Die deutsche Gewerkschaftsbewegung. 4. Aufl Düsseldorf 1973. Tudyka, K. P. (Hrsg.) (1974): Multinationale Konzerne und Gewerkschaftsstrategie Hamburg 1974. Tudyka, K. P./ Etty, T./ Sucha, M. (1978): Macht ohne Grenzen und grenzenlose Ohnmacht. Frankfurt am Main/ New York 1978. Weber, A. (1921): Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in Deutschland. 3. u. 4. Aufl., Tübingen 1921. Wilms-Wright, C. (1979): Die Regelung der MNK-Aktivitäten in der UNO und ihren Sonderorganisationen. In: Die Neue Gesellschaft 1979, S. 737-743.
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A.3 Entwicklung der Geschäftsfeld-Organisation in Unternehmen der Chemischen Industrie im internationalen Vergleich*
Die folgenden Ausführungen stützen sich auf das Ergebnis eines internationalen vergleichenden Forschungsprojekts, das Ende 1995 abgeschlossen und zwischenzeitlich unter dem Titel „Unternehmensstrategien in der Triade“ veröffentlicht wurde.1 Zur ausführlichen Befassung mit dem Thema sei auf diese Literatur verwiesen. Daher beschränke ich mich im folgenden auf einige Kernaussagen, die jeweils abschließend durch Abbildungen visualisiert werden.
1
Merkmale der Chemischen Industrie
In diesem Wirtschaftssektor vollzieht sich z. Zt. sowohl national als auch international ein tiefgreifender Strukturwandel. Maßgeblich hierfür ist das Entstehen neuer Produkte, neuer Märkte, neuer Produktionstechnologien sowie die Verschiebung der Wettbewerbsbedingungen im internationalen Rahmen. Gerade die deutsche chemische Industrie hat in den letzten Jahren durch starke Rationalisierung bei den heimischen Standorten sowie den Ausbau internationaler Positionen insbesondere in Ost-Asien diesen Wandel mitgestaltet. Auch in Zukunft ist mit entsprechenden Veränderungen zu rechnen, wobei sich der auffällig starke Personalabbau in den Jahren 1993/94 in Deutschland zwischenzeitlich stark verlangsamt hat. Im internationalen Zusammenhang fällt auf, daß sich die Struktur des Weltchemiemarktes mit einem heutigen Anteil europäischer Produktion von 45%, nordamerikanischer Produktion von 25% sowie japanischer und südostasiatischer Produktion von 20% grundlegend verändern wird. Bereits im Jahre 2000 ist davon auszugehen, daß das größte Produktionsvolumen in Asien konzentriert sein dürfte. Auch die Staaten des Nahen Ostens werden ihre Weltmarktanteile, und hier insbesondere im Bereich der Petrochemie, ausbauen. Der europäische Chemiemarkt wird trotz weiterer Entwicklungschancen relativ an Bedeutung verlieren. Aus ökonomischer Sicht ist es deshalb notwendig, die starke EuropaOrientierung der deutschen Chemie-Industrie abzubauen und die Geschäftsbasis
*
1
in: Die Auswirkungen der divisionalen Unternehmensstrukturen auf das Personalmanagement und die Arbeitnehmervertretung, hrsg. v. N. Koubek/ H. Gester/ H.M. Stindt, Wuppertal 1996, S. 9-35. Vgl. Koubek, N./ Cleff, Th./ Pierotti, Ch./ Schafmeister, S.: Unternehmensstrategien in der Triade. Internationalisierung und Wertkettenoptimierung am Beispiel der Chemischen Industrie, BadenBaden 1996 und die dort angegebene Literatur.
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zu internationalisieren. Diese Notwendigkeit schlägt sich einerseits im Personalabbau und andererseits in stark steigenden Auslandsinvestitionen nieder. Betrachtet man den gesamten rd. 150 Jahre umfassenden Zeitraum dieser Branche, so lassen sich tiefgreifende Veränderungen nachweisen. So fand zunächst die Produktion ausschließlich in den Industrieländern statt, und zwar schwerpunktmäßig mit grundchemikalischen Produkten, während Spezialitäten, spezialisierte Industrieprodukte und Feinchemikalien nur mit einem relativ geringen Anteil vertreten waren. In einem zweiten Schritt wurden die sog. Schwellenländer in Europa, Amerika und Asien in die Produktion einbezogen. Wegen der damit verbundenen Wettbewerbsvorteile dieser Länder bei Grundchemikalien verlagerte sich ein Teil der Produktion dorthin, gleichzeitig baute man in den Industrieländern die übrigen Chemieproduktionen aus. Dieser Prozeß, der bis Ende der 70er Jahre dieses Jahrhunderts dauerte, wurde zwischenzeitlich abgelöst durch die Verlagerung von grundchemikalischen Produkten in Entwicklungsländer, dem Ausbau von sonstigen Chemieproduktionen in Schwellenländern und einem nochmaligen Rückgang grundchemikalischer Produkte in den Industriestaaten. Bis zum Jahr 2000 wird sich diese Tendenz mit hoher Wahrscheinlichkeit fortsetzen. Abbildung 1: Strategietypen in der Chemischen Industrie Ländergruppen
Grundchemie
Entwicklungsländer Sonst. Chemie Grundchemie
Schwellenländer
Sonst. Chemie Industrieländer
Grundchemie
Sonst. Chemie 1850
Grundchemie Sonst. Chemie 1925 Jahre
Grundchemie Sonst. Chemie Grundchemie Sonst. Chemie
2000
Der geschilderte Wandel hat gerade für die deutsche Chemie-Industrie besonders nachhaltige Auswirkungen, da dieser Wirtschaftssektor historisch bedingt in hohem Maße in einer sog. Verbundproduktion organisiert war. Damit kommt zum Ausdruck, daß man von der Verarbeitung des Rohstoffes bis zum differenzierten
A Internationale Unternehmen und Internationale Gewerkschaften
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Endprodukt den gesamten Produktionsprozeß standortbezogen konzentrierte, mit den Vorteilen entsprechender Synergie-Effekte und den Nachteilen relativ geringer Flexibilität. Durch die Verlagerung von Teilen der Fertigung an neue, kostengünstige Standorte ist dieser Produktionszusammenhang zwischenzeitlich in allen Großunternehmen aufgelöst worden. Dem Unternehmen bieten sich damit zahlreiche strategische Optionen der Produktoptimierung nach Geschäftsfeldern und internationalen Standorten. Maßgeblich ist hier einerseits die Orientierung an Märkten, wobei man von dem Triadenkonzept der Weltwirtschaft ausgeht. Hier werden die Wirtschaftsräume Nordamerika, Westeuropa und Ostasien mit jeweils angelagerten Peripherieräumen unterschieden. Eine zweite Orientierung findet anhand der Wertkettenoptimierung statt. Damit ist die Verteilung der Produktion von dem Verarbeiten des Rohstoffes bis zum Erstellen des Endproduktes anhand der international jeweils günstigsten Standorte und Produktionszusammenhänge gemeint. In den beiden Begriffen der Triadenorientierung und der Wertkettenoptimierung kommen die wesentlichen Parameter des derzeitigen Strukturwandels in der chemischen Industrie zum Ausdruck.
2
Analyse der Unternehmensstrategien zwischen Internationalisierung und Wertkettenoptimierung
Zur näheren Untersuchung empirischer Verläufe von Unternehmensstrategien wurden sechs internationale Konzerne in den drei Weltregionen der Triade ausgewählt. Dabei handelt es sich um Bayer in Deutschland, Ciba in der Schweiz, ICI in Großbritannien, Rhône-Poulenc in Frankreich, DuPont in den USA und Mitsubishi in Japan. Diese sechs Konzerne repräsentieren rd. 1/10 des Weltchemiemarktes. Die Unternehmensangaben stützen sich auf die Interviews mit Vertretern des Managements und der Arbeitnehmer in den sechs Niederlassungen in Deutschland sowie weitgehend auch mit Vertretern der Unternehmensleitungen in den Konzernzentralen. Außerdem konnten umfangreiche schriftliche Unterlagen in Form von Geschäftsberichten, Veröffentlichungen in Fachzeitschriften sowie Publikationen der Unternehmen ausgewertet werden. Im folgenden werden die bilanzierten Daten für die Jahre 1988 - 1994 nach den Merkmalen weltregionale Umsatzverteilung, weltregionale Konzentration der Investitionen sowie weltregionale Beschäftigungskonzentration zusammengestellt und interpretiert, und zwar anhand der Verteilung nach dem GiniKoeffizienten. Hiermit wird das Maß der Schiefverteilung bzw. Gleichverteilung der einzelnen Merkmale darstellbar, wobei der ermittelte Koeffizient zwischen den Werten 0 und 1 schwankt. Nimmt der Koeffizient den Wert 1 an, so liegt ei-
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
ne vollständige Konzentration des untersuchten Merkmals auf eine Weltregion vor. Andererseits repräsentiert der Wert 0 eine völlige Gleichverteilung zwischen den drei Weltregionen Amerika, Europa und Asien. Unter diesem Gesichtspunkt zeigt die Abbildung 2 die weltregionale Umsatzverteilung der Unternehmen. Hierbei liegt die höchste Konzentration für Mitsubishi vor, während auf der anderen Seite ICI einer weltregionalen Gleichverteilung der Umsatzaktivitäten am nächsten kommt, und dies mit fortschreitender Tendenz. Die übrigen Unternehmen sind im Mittelfeld plaziert, wobei Ciba seit Anfang der 90er Jahre eine Zunahme der Konzentration auf den europäischen Wirtschaftsraum aufweist. Für Bayer, DuPont und Rhône-Poulenc zeigen sich Tendenzen zu einer stärkeren Gleichverteilung des Umsatzes, d.h. der Anteil Europas bzw. Amerikas geht zugunsten der beiden anderen Weltregionen allmählich zurück.
Gini-Koeffizient
Abbildung 2: Regionale Umsatzverteilung der Unternehmen 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0
Bayer Ciba DuPont ICI Mitsubishi RP 1988
1989
1990
1991
1992
1993
1994
Bezüglich der weltregionalen Konzentration der Investitionen gelten ähnliche Ergebnisse wie im Fall der Umsatzanalyse. Da für Mitsubishi keine Daten vorliegen, konnte dieses Unternehmen nicht direkt ausgewertet werden, doch deuten alle Angaben in den Geschäftsberichten darauf hin, daß die Verteilung der Investitionen nicht wesentlich von denen der Umsätze abweicht. Bei ICI zeigt sich eine starke Tendenz zur weltregionalen Gleichverteilung der Investitionen, mit einem Gini-Koeffizienten von 0,05 für 1994. Die drei Unternehmen Bayer, Ciba, Rhône-Poulenc liegen in einem mittleren Korridor, wobei Bayer und Rhône-Poulenc eine Tendenz zur stärkeren Gleichverteilung aufweisen, während sich bei Ciba auch bei den Investitionen eine Zunahme der regionalen Konzentration ergibt. Für DuPont lassen sich keine Investitionsangaben aus den Veröffentlichungen ermitteln.
277
A Internationale Unternehmen und Internationale Gewerkschaften
Gini-Koeffizient
Abbildung 3: Regionale Konzentration der Investitionen der Unternehmen 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0
Bayer Ciba ICI RP 1988
1989
1990
1991
1992
1993
1994
Von den drei untersuchten Merkmalen weist die Beschäftigungskonzentration die geringste Internationalisierung auf, doch auch hier ist ein Trend zu einer stärkeren Gleichverteilung während des Untersuchungszeitraums feststellbar. Es kann unterstellt werden, daß die Werte für Mitsubishi noch höher liegen als dies beim Umsatz der Fall ist. ICI zeigt auch beschäftigungsbezogen die stärkste weltregionale Gleichverteilung, gefolgt von Ciba. Die Angaben für Bayer, DuPont und Rhône-Poulenc liegen relativ dicht beisammen in dem Korridor von 0,5 bis 0,6 des Koeffizienten.
Gini - Koeffizient
Abbildung 4: Regionale Beschäftigungskonzentration der Unternehmen 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0
Bayer Ciba DuPont ICI RP 1988
1989
1990
1991
1992
1993
1994
Geht man von diesen Daten des Gini-Koeffizienten aus, so lassen sich drei Strategietypen der Unternehmen ableiten. Bei der als Typ A bezeichneten Strategie läßt sich eine hohe Konzentration in einer Weltregion ermitteln und der Koeffizient bewegt sich zwischen den Werten 1,0 und 0,6. Ein mittlerer Typ B ist nachweisbar, wenn die Internationalisierung mit einem weltregionalen Schwerpunkt vorliegt. Dies gilt sowohl für die europäischen als auch das untersuchte
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
amerikanische Unternehmen, wobei Ciba bereits dem dritten Strategietyp zuneigt. Es liegt jeweils eine eindeutige Konzentration der Parameter auf die Heimatweltregion vor, wobei sich die Unternehmen bemühen, die beiden anderen Regionen in Zukunft stärker zu berücksichtigen. Der Gini-Koeffizient liegt in dem Bereich zwischen 0,6 und 0,2. Als dritte Form, hier Typ C genannt, kann die Internationalisierung mit globaler Orientierung unterschieden werden, die in vollem Umfange für ICI gilt. Ciba ist in Teilen vertreten, doch weisen die Tendenzen der letzten Jahre daraufhin, daß man sich wieder dem Typ B annähert. Bei diesem Strategietyp ist die Globalisierung am weitesten vorangeschritten, mit entsprechenden Konsequenzen für die Unternehmenspolitik. Abbildung 5: Weltregionale Strategietypen Gini – Koeffizient 1,0
Weltregionale Strategietypen Typ A: Konzentration in einer Weltregion
Unternehmen Mitsubishi Chemical ?
0,6 Typ B: Internationalisierung mit weltregionalem Schwerpunkt 0,2 0,0
Typ C : Internationalisierung mit globaler Orientierung
Bayer, DuPont, Rhône – Poulenc ? ICI, CIBA ?
Abbildung 6: Merkmale der Strategietypen A, B, C Strategietyp A: (Mitsubishi Chemical) x Starke weltregionale Konzentration aller Unternehmensaktivitäten x Internationalisierung über den eigenen Wirtschaftsraum nur in Ansätzen Strategietyp B: (Rhône – Poulenc, DuPont und Bayer) x Ausbau der Internationalisierung mit offenem Ende x Ausgangspunkt ist eine Weltregion (weltregionaler Schwerpunkt) Strategietyp C: (ICI und CIBA) x Gleichgewichtig internationalisierte Unternehmensaktivitäten in der Triade
In analoger Weise lassen sich Strategietypen bei der Wertkettenoptimierung nachweisen. Als Ausgangspunkt der Analyse werden die einzelnen Produktionsstufen in den untersuchten Konzernen nach den Schwerpunkten ihrer Aktivitäten anhand der Wertkette eingeteilt, wobei sich ebenfalls drei Strategietypen zeigen. ICI und Ciba sind in ihren Aktivitäten eindeutig auf Endprodukte konzentriert, während Vor- und Zwischenprodukte nur in geringem Umfang im Produkt-
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A Internationale Unternehmen und Internationale Gewerkschaften
Portfolio vertreten sind. Dies wird als Typ 1 bezeichnet. Demgegenüber liegt bei Bayer, DuPont und Rhône-Poulenc (in Teilen auch Ciba) die als Typ 2 definierte Strategie vor, bei der es innerhalb der gesamten Wertkette zu starken Aktivitäten kommt. Beim Strategietyp 3, dem Mitsubishi Chemical und in Teilen DuPont zugeordnet sind, ist der Schwerpunkt im Bereich der Vorprodukte feststellbar. Diese Strukturen der Produktions- und Absatzaktivitäten sind das Ergebnis der Verschiebungen der letzten Jahrzehnte und lassen den Spezialisierungsgrad der einzelnen Unternehmen erkennen. Abbildung 7: Strategietypen der Wertkettenoptimierung Strategietyp 1 Ciba, ICI
Strategietyp 2 Bayer, DuPont, Rhône - Poulenc, (Ciba)
Strategietyp 3 Mitsubishi Chemical, (DuPont)
Endprodukte
Wertkette
Vorprodukte
3
Geschäftsfeld-Organisation als unternehmensstrategische Neuorientierung
Eine detailliertere Analyse der Strategien der Wertkettenoptimierung zeigt für alle Konzerne, daß die schematische Darstellung nur einen ersten Eindruck vermittelt. Hinter der angegebenen Gesamtpositionierung stehen zum Teil sehr unterschiedliche Strategien innerhalb der verschiedenen Geschäftsfelder oder Produktbereiche. So gibt es in allen Fällen endproduktorientierte Aktivitäten ohne Rückbezug auf Vor- und Zwischenprodukte aus eigener Produktion. Aber auch durchgängige Produktionslinien entlang der Wertkette innerhalb des Konzerns sind nachweisbar, ebenso wie die Konzentration auf Vor- und Zwischenprodukte. Damit eröffnet sich den Konzernen die Möglichkeit, sehr geschäftsfeldspezifisch vorzugehen, wodurch sich in letzter Konsequenz eine einheitliche Konzernstrategie über alle Geschäftsfelder nicht mehr darstellen läßt. Diese wird zugunsten einer Orientierung an den jeweiligen Märkten und Produkten aufgegeben.
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
Abbildung 8: Strategietypen der Wertkettenoptimierung auf der Geschäftsfeldebene Strategietyp 1 Ciba, ICI
Strategietyp 2
Strategietyp 3
Bayer, DuPont, Rhône - Poulenc, (Ciba)
Mitsubishi Chemical, (DuPont)
Endprodukte
Wertkette Vorprodukte
In einem weiteren Schritt lassen sich die jeweils ermittelten Strategietypen nach weltregionalen Merkmalen und nach der Wertkettenoptimierung kombinieren. Dabei zeigt sich, daß der Strategietyp A (Konzentration auf eine Weltregion) mit dem Strategietyp 3 (Optimierung am Vorprodukt) korrespondiert. Diese Kombination läßt sich bei Mitsubishi Chemical nachweisen. Der Strategietyp B (Internationalisierung bei weltregionalem Schwerpunkt) entspricht dem Strategietyp 2 (Optimierung der Wertkette über dem Gesamtverlauf vom Vorprodukt bis zum Endprodukt). Repräsentativ hierfür sind Bayer, DuPont und Rhône-Poulenc. Abbildung 9: Internationalisierung und Wertkettenoptimierung auf Gesamtunternehmens- und Geschäftsfeldebene
Weltregionale Strategietypen
ICI, CIBA ?
Strategietyp C: Internationalisierung mit globaler Orientierung Strategietyp B: Internationalisierung mit weltregionalem Schwerpunkt
Bayer, DuPont, Rhône-Poulenc ?
Strategietyp A: Konzentration in einer Weltregion
Mitsubishi ?
Strategietyp 3: Strategietyp 2: Strategietyp 1: Optimierung Optimierung der Optimierung am Endprodukt am Vorprodukt ges. Wertkette Strategietypen der Wertkettenoptimierung
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A Internationale Unternehmen und Internationale Gewerkschaften
Der Strategietyp C (Internationalisierung mit globaler Orientierung) läßt sich mit dem Strategietyp 1 (Optimierung am Endprodukt) verbinden. ICI und in Teilen Ciba entsprechen dieser Positionierung. Die aufgezeigten Kombinationsmöglichkeiten zwischen den Strategien der Internationalisierung und Wertkettenoptimierung auf Geschäftsfeldebene führen zu einer starken Erweiterung der Optionen in den Unternehmen. Es verwundert daher nicht, wenn in jedem der untersuchten Fälle eine Konzentration auf Kerngeschäfte als strategische Neuorientierung festgestellt werden kann. Hierdurch versuchen die Unternehmen, eine Eingrenzung ihrer Optionen und damit eine Bündelung ihrer Potentiale zu erreichen, wobei zahlreiche Kombinationen zur Verfügung stehen. Eine erste Möglichkeit liegt im Ausbau der Marktführerschaft. Je nach Produkt- und Wettbewerbssituation läßt sich idealtypisch eine Strategie zur Erlangung der Kostenführerschaft und der Produktführerschaft unterscheiden. Im ersten Fall handelt es sich um Wettbewerbspositionen, bei denen der Preis von ausschlaggebender Bedeutung ist, während im zweiten Falle innovative Produkte in neuen Anwendungsfeldern im Vordergrund stehen. Der Aufbau eigener Strategien ist in jedem Fall mit einer Bereinigung des Produktprogramms verbunden. Zur Erlangung von Stärken in Kerngeschäftsfeldern bieten sich als Optionen die Stillegung bzw. Erweiterung von Produktionskapazitäten, der Verkauf bzw. die Akquisition sowie die Kooperation in verschiedenen Formen an. In allen untersuchten Unternehmen wird die Eigenverantwortung der Geschäftsfelder bzw. Sparten ausgebaut, um den internationalen Ressourceneinsatz und die Marktbetreuung zu verbessern. Dabei kommt es zu einer Verlagerung von Zentralfunktionen für die einzelnen Unternehmensaktivitäten in die Geschäftsfelder, außerdem werden zur Kompetenzabgrenzung innerhalb der Konzerne die einzelnen Produkte eindeutig verschiedenen Sparten zugeordnet. Abbildung 10: Strategische Neuorientierung: Konzentration auf das Kerngeschäft Strategische Neuorientierung Konzentration auf das Kerngeschäft
Marktführerschaft
Bereinigung des Produktprogramms
Neuorientierung in der Spartenorganisation
x Kostenführerschaft x Produktführerschaft
x Stillegung/ Erweiterung x Verkauf/ Akquisition x Kooperation
x Eigenverantwortung der Sparten x Verlagerung von Zentralfunktionen x Klare Zuordnung von Produkten in die Sparten
282
Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
Im Zuge dieser Gesamtstrategie in den Konzernen lassen sich innerhalb der einzelnen Funktionen weitreichende Veränderungen feststellen. Im weiteren sei, dem Tagungsschwerpunkt entsprechend, das Personalmanagement näher betrachtet. Die Auswirkungen einer Internationalisierung bei gleichzeitiger Geschäftsfeldorganisation zeigen sich in allen Bereichen des Personalmanagements. So ist die Organisationsstruktur anzupassen, da festzulegen ist, welche Personalaktivitäten auf der Ebene des Gesamtkonzerns verbleiben und welche in die einzelnen Geschäftsfelder übertragen werden. Damit im Zusammenhang steht die Frage, in welchem Umfang die einzelnen Geschäftsfelder voneinander abweichende Personalstrategien entwickeln können bzw. wo das Maß an Gemeinsamkeiten im Konzern liegt. Eine weitere wesentliche Auswirkung wird bei der Rekrutierung der Führungskräfte feststellbar sein. Indem die einzelnen Geschäftsfelder globale Verantwortung für ihre Produkte und Ergebnisse bekommen, liegt es nahe, die entsprechenden Planungs- und Entscheidungsgremien international zusammenzusetzen. Hieraus leiten sich wiederum zahlreiche Fragen zur internationalen Führungskräfteentwicklung und zum Führungskräftetransfer ab. Durchgängig läßt sich eine stärkere Differenzierung und Vielfalt der personalpolitischen Aktivitäten innerhalb der Konzerne konstatieren. Nach diesen Grundprinzipien werden alle Funktionsbereiche des Personalmanagements überprüft. Genannt seien beispielhalft die geltenden Entlohnungsformen in den Konzernen bzw. in den einzelnen internationalen Standorten der jeweiligen Geschäftsfelder, die als erforderlich angesehenen Qualifizierungsstrategien, die Öffnung bzw. Abschließung der konzerninternen Arbeitsmärkte, die Arbeitsorganisation sowie der Personalführungsstil. Abbildung 11: Personalmanagement auf Geschäftsfeldebene
Personalmanagement auf der Geschäftsebene x Grundprinzipien: - Organisationsstruktur - Grad der Autonomie - Internationalität der Führungskräfte - Differenzierung und Heterogenität x Auswirkung auf einzelne Fuktionsbereiche - Entlohnung - Qualifizierung - Arbeitsorganisation
A Internationale Unternehmen und Internationale Gewerkschaften
283
Bei den aufgezeigten Veränderungen der allgemeinen Konzernstrategie sowie derjenigen des Personalmanagements ergeben sich vielfältige Auswirkungen auf die Arbeitnehmer und ihre Vertretungsorgane. Dies umfaßt zunächst den nationalen Rahmen, in dem sich mit der Geschäftsfeldorientierung bisherige Vertretungsstrukturen verändern. Als Beispiel sei die mehrfache Zuordnung einzelner Standorte zu den Geschäftsfeldern genannt. Aber auch durch die unterschiedlichen rechtlichen und informationsmäßigen Bedingungen für Arbeitnehmer in den verschiedenen Ländern sowie die historisch unterschiedlich gewachsenen Arbeitsbeziehungen zwischen Management und Arbeitnehmervertretern entsteht ein Zwang zur Neuorientierung. Eine der entscheidenden Veränderungen gegenüber dem national bezogenen Unternehmenstyp der Vergangenheit liegt in der sparten- bzw. geschäftsfeldbezogenen Gliederung der Konzerne. Die Arbeitnehmervertretung, die z.B. in Deutschland an dem standortbezogenen Betriebsrat-Konzept orientiert ist, kann nicht unverändert bleiben, wenn wesentliche Managementfunktionen von den einzelnen Standorten zu den international operierenden Geschäftsfeldern verlagert werden. Als Stichwort einer Neuorientierung sei an dieser Stelle der sog. „Sparten-Betriebsrat“ genannt, dessen Aufgabenbereich international auszurichten wäre. Abbildung 12: Arbeitnehmer-Vertretung bei internationaler Geschäftsfeld-Organisation der Konzerne
Arbeitnehmer – Vertretung Aus geschäftsfeldbezogener Ausrichtung der Unternehmensund Personalpolitik folgt: x x
Arbeitnehmer müssen entsprechende nationale und internationale Vertretungsstrukturen aufbauen („Sparten – Betriebsrat“) Sicherung der Informations- und Einflußmöglichkeiten im Rahmen rechtlicher und unternehmenskultureller Gegebenheiten
284 4
Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
Zusammenfassung
Im Voranstehenden wurden zunächst die Ursachen und Auswirkungen des derzeitigen Strukturwandels des Weltchemiemarktes skizziert. Hieran schloß sich die Beschreibung der wesentlichen Ergebnisse einer empirischen Untersuchung in sechs Chemiekonzernen an, die einerseits einen starken Ausbau der Internationalisierung, andererseits eine Neubestimmung wesentlicher Teile der Wertketten ergab. Als durchgängiges Prinzip zeichnet sich eine Konzentration auf Kerngeschäfte in ausgewählten Geschäftsfeldern ab, die im Zuge einer organisatorischen bzw. rechtlichen Verselbständigung zu den eigentlichen Trägern der künftigen Konzernpolitik werden. Das Personalmanagement ist in vielfältiger Weise von diesen Veränderungen betroffen, und daraus abgeleitet lassen sich auch weitreichende Auswirkungen auf die Arbeitnehmer und Arbeitnehmervertretungen feststellen. Im weiteren Verlauf der Tagung werden die personalwirtschaftlichen Fragen des Managements und der Arbeitnehmervertretung im Mittelpunkt stehen, wobei sowohl theoretische als auch empirische Schwerpunkte gesetzt werden.
Literatur Koubek, N./ Cleff, Th./ Pierotti, Ch./ Schafmeister, S. (1996): Unternehmensstrategien in der Triade. Internationalisierung und Wertkettenoptimierung am Beispiel der Chemischen Industrie, BadenBaden 1996 und die dort angegebene Literatur.
B Länder und Weltregionen
B.1 Der Pazifik – das Mittelmeer des 21. Jahrhunderts? Wirtschaftshistorische und wirtschaftspolitische Betrachtungen*
1
Einleitung
Zunächst stellt sich die Frage: Wie kommt man auf den Gedanken, so gänzlich unterschiedliche Regionen wie das Mittelmeer und den Pazifik in Beziehung zu setzen? Um dies erklären zu können, muß man nach geographischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Zusammenhängen suchen, die im Begriff des Mittelmeeres zuerst ihre Ausprägung gefunden haben. Dabei ist jeweils auch auf die geschichtlichen Zusammenhänge einzugehen, in denen die Aussagen stehen. Im Folgenden wollen wir uns erstens einige geographische Zusammenhänge in Erinnerung rufen, zweitens wird die geschichtliche/wirtschaftsgeschichtliche Bedeutung des Mittelmeeres und daraus abgeleitet des Mittelmeerbegriffs betrachtet, drittens läßt sich die Übertragung des Mittelmeerbegriffs auf den Atlantischen Raum nachweisen, viertens ist zu fragen, ob und unter welchen Bedingungen der Pazifik als Mittelmeer des 21. Jahrhunderts auftreten kann und fünftens ist abschließend der Mittelmeerbegriff auf seine künftigen Anwendungsmöglichkeiten unter Einschluß der Region, aus der er kommt, zu untersuchen.
2
Das Mittelmeer
Im Folgenden geht es zunächst um geographische Zusammenhänge, bevor anschließend der historisch gewachsene Begriff des Mittelmeers in seinen verschiedenen Dimensionen erläutert wird.
*
Vortrag im Leibniz-Gymnasium, Remscheid, 24.03.2003, bisher unveröffentlicht.
286
Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
2.1 Geographie Betrachtet man die beiden geographischen Räume Mittelmeer und Pazifik, so gibt es wenig Gemeinsames und zahlreiche Unterschiede. Gemeinsam ist beiden, daß es sich um Wasserflächen handelt, deren Küsten teils dicht besiedelt sind und teils aus Wüsten/ Eiswüsten bestehen, in denen jeweils ab und zu Vulkane ausbrechen, Erdbeben vorkommen und zahlreiche Inseln verstreut im Meer liegen. Beide Räume sind mehr oder weniger abgrenzbar durch die angrenzenden Landmassen. Für Europäer ist die Weltkarte so gestaltet, daß Europa optisch in der Mitte liegt, mit der Welt-Standardzeit auf dem Greenwich-Längengrad. Demgegenüber ist der Pazifik geteilt, und zwar liegt die an Amerika grenzende Hälfte im Westen und die asiatische Hälfte im Osten. (Siehe Anhang, Karte 1: Weltkarte, europazentriert nach Staaten) Diese Sicht ist korrigierbar, und so finden wir in einer am Pazifik orientierten Weltkarte eine deutliche Verschiebung der Perspektive. Hierbei ist Europa in seiner Anhängselfunktion an die eurasische Landmasse deutlich erkennbar. Das Mittelmeer ist größenmäßig kaum zu identifizieren. (Siehe Anhang, Karte 2: Weltkarte, pazifikzentriert nach Staaten) Das Mittelmeer läßt sich bei Änderung des Maßstabs geographisch und regional politisch im folgenden Schaubild darstellen: (Siehe Anhang, Karte 3: Karte des Mittelmeerraumes) Beginnen wir die nähere Betrachtung mit dem Begriff „ Mittelmeer“ oder italienisch „Mediterraneo“, was übersetzt bedeutet: Mittelpunkt der Erde. Damit ist eine Selbstwahrnehmung der Bewohner dieses Raumes gemeint, die nur abstrakt-gedanklich verstanden werden kann. Geographisch läßt sich dies nicht rechtfertigen, denn zu Recht schreibt Braudell: „ Auf der Weltkarte ist das Mittelmeer nichts weiter als ein Riß in der Erdkruste, eine schmale Spindel, die sich von Gibraltar bis zum Isthmus von Suez und zum Roten Meer erstreckt.“1 In seiner größten Ost-West-Ausdehnung umfaßt es rund 3500 km und über die Ausbuchtung des Schwarzen Meeres sind es rund 3700 km. In Nord-SüdRichtung liegen zwischen Genua und Tripolis in Libyen rund 1200 km und nur 500 km trennen Barcelona von Algier.
1
Braudell, in: Braudell/ Duby/ Aymard (2000), S. 13.
B Länder und Weltregionen
287
Die Fläche bedeckt rund 2,5 Mio. qkm. (zum Vergleich: der Pazifik umfaßt rund 180 Mio. qkm oder die 72 -fache Fläche des Mittelmeeres). An seinen Ufern leben z.Zt. rd. 140 Mio. Menschen in Europa, 130 Mio. in Nordafrika und 100 Mio. in Asien, insgesamt demnach rd. 370 Mio. Die Bedeutung des Mittelmeeres kann somit nur kulturell und geschichtlich erfaßt werden, nicht geographisch und auch nicht demographisch.
2.2 Mittelmeer als „Mitte der Erde“ Das Thema bekommt dann seine ganze Farbigkeit, auch im Weltmaßstab, wenn wir uns mit den Ergebnissen und Lebensformen beschäftigen, die an seinen Ufern entstanden sind und die über das Meer ausgetauscht wurden. Wir wollen hier keinen Schnellgang durch die Weltgeschichte machen, sondern den Akzent auf wirtschaftliche Vorgänge legen. Dennoch ist die Faszination des Begriffs „Mittelmeer“ nur in der Gesamtheit der Impulse zu sehen, die von hier ausgegangen sind und bei denen das wirtschaftliche immer nur ein Teil, wenn auch ein zentraler, war. So erklärt sich die Architektur und Kultur Venedigs nicht aus den Einnahmen des venezianischen Handels, doch ohne diese Einnahmen wäre diese Stadt so nicht gestaltbar gewesen. Ähnliches gilt für zahlreiche andere Beispiele. In diesem Sinn sollen stichwortartig folgende Lebensbereiche genannt werden, die von hier aus in alle Staaten Europas, dann in die westliche Welt und heute in Ansätzen und Teilen global verwendet werden:1 Religion/ Ethik: Herausarbeitung des Monotheismus in Ägypten, Israel, Griechenland, Arabien durch Judentum, Christentum und Islam. Philosophie/ Wissenschaft: Entstehung der Philosophie und Herausbildung nichtreligiöser Einzelwissenschaften, Entdeckung des Individuums in Griechenland und Wiederentdeckung in der Renaissance. Politik/ Kriegskunst: Entwicklung und Systematisierung von Regierungsformen, von der Tyrannis über die Oligarchie, das Kaisertum bis zur Demokratie. Entstehung von Kolonialreichen bis zu den Weltreichen des 16. Bis 20. Jahrhunderts.
1
Vgl. Zeit-Raum-Schema des Mittelmeerraumes und des angrenzenden Vorderen Orients in: Wagner (2001).
288
Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
Literatur/ Schrift: Entwicklung des Alphabets und der darauf aufbauenden Schrift, Herausbildung einer umfassenden Literatur als Form der Vermittlung und Weitergabe historisch und geistig zentraler Aussagen. Kunst/ Musik: Von der Entstehung der Plastizität der Figuren bei den alten Griechen bis hin zur Entdeckung der Perspektive und des Subjekts in der Renaissance; Entwicklung polyphoner Musik und des Theaters. Wirtschaft/ Handel: Entwicklung des Münzwesens und des Handels im gesamten Mittelmeerraum, Aufbau von effizienten Arbeitsorganisationen in der Landwirtschaft, dem Bergbau, dem Transportwesen. Entstehen einer umfassenden Militärwirtschaft, Entwicklung des Systems der doppelten Buchhaltung und der Grundzüge der Marktwirtschaft. Die einzelnen Bereiche wurden in dem Zeitraum zwischen 2500 v.Chr. und 1500 n.Chr., d.h. in rund 4000 Jahren aufgebaut und weiterentwickelt. Dies ist die Epoche, in der sich die mit dem Mittelmeer verbundenen zentralen Bereiche in unterschiedlichen Kulturen und regionalen Schwerpunkten bildeten. Es gibt weltweit nur ein weiteres Zentrum, in dem, historisch gesehen, die „Mitte der Erde“ formuliert wurde und zwar das Chinesische Reich, das nicht umsonst von seinen Bewohnern als „Reich der Mitte“ bezeichnet wurde und wird.
3
Globalisierung der Prinzipien des Mittelmeers
Seit der Entdeckung Amerikas (1492) erfolgte eine Ausdehnung der geistigen, politischen und wirtschaftlichen Grundlagen des Mittelmeeres, das mit dem Auftreten des Islam im 7. Jahrhundert in eine nördlich-christliche und eine südlichislamische Hälfte zerfiel. Diese Verbreitung fand in mehreren Wellen und insgesamt über einen Zeitraum von rd. 500 Jahren statt. Maßgeblich war und ist der nördlich-abendländische Teil, während der südlich-islamische Bereich zunehmend zurückfiel und bis heute noch zurückfällt. (Siehe Anhang, Karte 4: Machtzentren im 16. Jahrhundert) Parallel dazu vollzog sich der Niedergang Chinas, das um 1500 machtmäßig, kulturell, technisch und wirtschaftlich weiter entwickelt war als insbesondere der nördliche Teil des Mittelmeers, d.h. der europäische Raum.
B Länder und Weltregionen
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Wir werden im Zusammenhang mit dem Pazifik die zentrale Rolle Chinas wiederfinden, das nach Jahrhunderten des Niedergangs weltwirtschaftlich und weltpolitisch möglicherweise vor einem Wiederaufstieg steht. Die Eroberung der Welt durch die zentral aus dem europäischen Mittelmeerraum geprägten Lebens- und Wirtschaftsformen ist politisch, militärisch und wirtschaftlich über Jahrhunderte in Konkurrenz europäischer Mächte erfolgt. Dabei haben sich die Kolonisierung, anschließende Revolution und souveräne staatliche Konstitution der Vereinigten Staaten von Amerika als die mit Abstand folgenreichsten Ereignisse herausgestellt. Der auf diese Weise entstandene atlantische Raum führte zur Herausbildung und Durchsetzung der parlamentarischen Demokratien und der dazu gehörenden kapitalistischen Marktwirtschaft, sei es in der angelsächsischen oder der kontinentaleuropäischen Prägung. Nach den Kämpfen des 20. Jahrhunderts ist dieses ursprünglich transatlantische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell das einzig funktionierende Konzept im Weltmaßstab und hat gerade in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu den verschiedenen Formen der Globalisierung geführt. Das Mittelmeer als „Mitte der Erde“ ist räumlich bedeutungsleer geworden, die Metapher jedoch ist geblieben. Im westlichen Sinne, auch und gerade in der wirtschaftlichen Bedeutung, war hierfür die atlantische Gemeinschaft prägend. Die Frage stellt sich, ob sich die „Mitte der Erde“ im 21. Jahrhundert in den Pazifik verlagern wird. Hierzu wollen wir uns zunächst den pazifischen Raum in einigen zentralen Merkmalen näher ansehen.
4
Der Pazifik am Beginn des 21. Jahrhunderts
4.1 Geographie und Entdeckung In geographischer Hinsicht handelt es sich um eine Wasserfläche von rd.180 Mio. qkm mit einer Küstenlinie auf asiatischer, australischer, arktischer, antarktischer und amerikanischer Seite. Die Entfernungen der einzelnen Orte zwischen den Küsten erreichen eine Länge von bis zu 18.000 km. Alle Kontinente der Erde lassen sich rein rechnerisch in diesem Raum aneinander fügen und danach bleibt immer noch eine Fläche von der dreifachen Größe Europas übrig. Der Name „Pazifik“ leitet sich von dem ersten Weltumsegler Magellan ab, der das ruhige Meer nach dem stürmischen Atlantik im November 1520 „El Pacifico“ nannte. In alten deutschen Atlanten ist alternativ auch die Bezeichnung „Stiller Ozean“ üblich gewesen. Die Entdeckung im Einzelnen vollzog sich seit Anfang des 16. Jahrhunderts von Amerika und von Asien aus und wurde im Inneren Australiens erst im 19. Jahrhunderts abgeschlossen.
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
Die größte Entdeckungsleistung vollbrachte dabei der Engländer James Cook auf seinen drei Pazifikreisen zwischen 1768 und 1779, bevor er im letztgenannten Jahr auf Hawaii von Eingeborenen ermordet wurde. An den Rändern dieser Fläche, die ein Drittel der gesamten Erdoberfläche umfaßt, liegen sehr unterschiedliche Staaten, mit stark voneinander abweichenden Gesellschaften, Völkern, Rassen, Kulturen und Religionen. Allen gemeinsam ist heute die Ausrichtung auf das westlich geprägte Wirtschaftsmodell der globalisierten Marktwirtschaft, während wesentliche institutionelle, kulturelle und religiöse Unterschiede bisher bestehen geblieben sind.
4.2 Asia-Pacific-Economic-Cooperation (APEC) Besonders anschaulich wird die Entstehung einer pazifischen Gemeinschaft im Rahmen der APEC-Organisation. Die „Asia-Pacific-Economic-Cooperation“ ist der Zusammenschluß aller wesentlichen Anrainer-Staaten des Pazifik und umfaßt im Jahr 2002 genau 21 Mitglieder. Diese Organisation wurde 1989 gegründet, wesentlich angeregt durch den damaligen australischen Ministerpräsidenten Hawks und den US-Präsidenten George Bush, sen.. Dabei werden die einzelnen Länder in die Gruppen „Western-Hemisphäre“, „North-East-Asia“; „South-East-Asia“, „Oceania“ sowie „Russia“ eingeteilt. Wie stark verflochten diese Länder bereits derzeit sind zeigt die Tatsache, daß in diesem riesigen Wirtschaftsraum im Jahr 2001 fast Dreiviertel aller Handelsströme innerhalb der einzelnen Mitgliedsstaaten von APEC abgewickelt wurden. (Siehe Anhang, Tabelle 1: APEC-Mitgliedsstaaten) Die Bevölkerungszahl innerhalb der APEC-Staaten liegt bei über 2,5 Mrd. Menschen und entspricht damit 42 % der Weltbevölkerung. Einige der Staaten sind geographisch und wirtschaftlich gleichzeitig mit dem atlantischen Großraum verbunden, und zwar die USA, Kanada, Mexiko und Rußland. Dennoch ist es sinnvoll, sich den pazifischen Raum als Einheit näher anzusehen. Hier liegen die Wachstumsraten des Sozialprodukts gerade in den asiatisch-ozeanischen Ländern mäßig stark über denen der Weltwirtschaft, stark über denen in Europa und besonders stark über denen in Deutschland. Dabei ist die Basis dieses Wachstums in Europa selbstverständlich viel höher als in den meisten asiatischen APEC-Staaten, aber über Jahrzehnte würde diese Entwicklung nicht ohne Folgen für die weltwirtschaftliche Machtverteilung und auch für die allgemeinen politischen Strukturen bleiben. In den asiatischen Ländern gibt es eine starke Orientierung der politischen Ziele an den Bedingungen des Wachstums in globalisierten Marktwirtschaften. Für die ozeanischen und amerikanischen Länder gilt dies in gleichem Maße. Nur
B Länder und Weltregionen
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Japan ist nach Jahrzehnten der Dynamik seit 1990 in eine strukturelle Schwächeperiode gekommen, die hausgemacht und durch Reformstau entstanden ist. (Siehe Anhang, Tabelle 2: Welt-Wettbewerbsjahrbuch des IMD 2002) Die Schwäche der asiatischen Länder liegt insbesondere in Defiziten der politischen Infrastruktur und Demokratisierung, der lückenhaften politischen und wirtschaftlichen Abstimmung zwischen den einzelnen Staaten, in der Korruption, in möglichen ethnischen und kulturell-religiösen Konflikten sowie in einer insgesamt unsicheren politisch-militärischen Zusammenarbeit. Als Beispiele seien hier aus der letzten Zeit China bzgl. der Korruption, Indonesien bzgl. der kulturell-religiösen Konflikte und Nordkorea bzgl. der politisch-militärischen Bedrohung genannt. Auch lassen sich erhebliche Defizite bei sozialen und ökologischen Aktivitäten feststellen, wobei eine entsprechende Korrektur sehr kostspielig wäre, indem z.B. Wasser- und Luftreinigungsprogramme, soziale Mindestabsicherung gegen Krankheit, Arbeitslosigkeit und Unfälle aufgebaut werden müßten. Dennoch sollte man sich hüten, einfach europäische Maßstäbe zu übertragen. Die Tradition in diesen Ländern ist über einen langen Zeitraum auf anderen als den europäischen Normen gewachsen. Die Weiterentwicklung im Pazifik wird auf der östlichen Seite von den USA bestimmt, deren asiatische Orientierung seit langem besteht und die als Weltmacht dort gerade auch wirtschaftliche Interessen hat und diese Position ist auf lange Zeit stabil und kalkulierbar. Demgegenüber ist auf der Westseite der wirtschaftliche Erfolg in China trotz der beeindruckenden Leistungen seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts noch immer gefährdet. Es ist vor allem die größer werdende Schere zwischen Reich und Arm, zwischen Stadt und Land sowie zwischen Berufstätigen und Arbeitslosen. Dabei handelt es sich immer um mehrere Hundertmillionen Menschen, die in ihren Lebensformen und Lebensmöglichkeiten betroffen sind. In einem Artikel der FAZ hieß es unter dem Titel „Chinas Aufstieg“ hierzu vor kurzem: „Die Antwort auf die Frage, was ist, wenn „es die Chinesen packen“, kann also nur heißen, daß die Anforderungen für den Rest der Welt steigen. Das wird immer deutlicher gesehen. Vor einer anderen Frage indes verschließt nicht allein die Wirtschaftswelt gerne die Augen: Was ist, wenn die Chinesen „es nicht packen“? Wenigstens soviel ist klar: Auch dann wird China die Weltwirtschaft verändern.“1
1
Frankfurter Allgemeine Zeitung (2003)
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
Die Zukunft von „Mitte der Erde“ oder vom Begriff „Mittelmeer“
Auch nach dem Zurückfallen des geographischen Mittelmeerraumes auf die Bedeutung eines europäischen Südmeers mit hoher Attraktivität im Tourismus und als Verbindung zur arabischen Welt Nordafrikas und des Nahen Ostens bleibt die Bedeutung des Mittelmeeres als Begriff des Zentrums erhalten. Hier wurde in 4000 Jahren das Modell entwickelt, in dem alles enthalten ist, was ein geographischer Raum benötigt, wenn der sich als „Mitte der Erde“ versteht. China konnte diesem Anspruch am Beginn er Neuzeit offensichtlich nicht genügen, und so wurde aus dem „Reich der Mitte“ faktisch eine Kolonie des Westens. Zwischen 1500 und der Gegenwart ist statt dessen die Atlantische Welt der sog. Alten und Neuen Welt, also Europa und Amerika ein erfolgreicher und leistungsstarker Nachfolger des mediterranen Raumes geworden und hat die Strukturen der Welt nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht maßgeblich gestaltet. Es ist offen, welche Bedeutung dieser Raum künftig haben wird. Der jetzige Krieg im Irak und die weiteren Konsequenzen des „Kampfes gegen den Terrorismus“ werden hierüber ebenso mitentscheiden wie die Reformwilligkeit und Reformfähigkeit der angrenzenden Völker und Regierungen, die Konsequenzen der Globalisierung in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht anzunehmen und umzusetzen. Der pazifische Raum steht als „Neues Mittelmeer“ grundsätzlich bereit, den atlantisch – westlichen Raum als „Mitte der Erde“ abzulösen. Um dieses zu erreichen, sind die hohen Anforderungen zu erfüllen, die an ein solches Zentrum gestellt werden, und die im Vorangegangenen in ihren Grundzügen herausgearbeitet wurden. Hierzu gehören neben der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auch die politische Herrschaftssicherung unter mehrheitlich akzeptierten Bedingungen sowie die technologische und kulturelle Dominanz. Ein wesentliches Merkmal dieser Dominanz in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts wird dabei die Integrationsfähigkeit unterschiedlicher Kasten, Rassen, Klassen und Religionen sein, um nicht nur friedlich nebeneinander zu leben, sondern gemeinsam große Leistungen zu vollbringen. Europa ist im 20. Jahrhundert daran fast zugrunde gegangen. Vielleicht gibt es künftig mehr als ein Mittelmeer, und zwar neben dem Atlantik den Pazifik als neuen Raum. Sollte sich die arabisch-islamische Welt mit den Kernstaaten Ägypten, Saudi-Arabien, Irak, Persien, Pakistan und Bangladesh endlich den Herausforderungen der Moderne stellen und ihre Gesellschaften reformieren, so ist im Verbund mit Indien und den ostafrikanischen Staaten ein weiteres „Mittelmeer“ am Indischen Ozean denkbar. Aber vielleicht ist dies schon der Blick ins 22. Jahrhundert.
B Länder und Weltregionen
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Teil III: Internaationale Organisaationen und Globaalisierung
Anhan ng1 1 Weltkarte, europazentrier e rt nach Staateen Karte 1:
Quelle: http://wiki-comm h mons.genealogy.neet/Datei:Weltkartte.svg (2010).
2 Weltkarte, pazifikzentrie p ert nach Staateen Karte 2:
Quelle: www.mygeo.info w o (2010).
1
Die Karten K 1,2,3 wurden wegen der bessseren drucktechn nischen Wiederggabe am 01.03.2010 aktualisiert..
B Ländder und Weltregioonen
Karte 3: 3 Mittelmeer
Quelle: http://commons.w h wikimedia.org/wiiki/File:MedU.png (2010).
4 Machtzentrren im 16. Jahrrhundert Karte 4:
Quelle: Kennedy K (1994), S. 31.
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296
Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
Tab. 1: APEC-Staaten Australia Chile Indonesia Malaysia Peru Russia Thailand
APEC Asia-Pacific Economic Cooperation Brunei Darussalam Canada People´s Republic of China Hong Kong, China Japan Korea Mexico New Zeeland Papoa New Guinea Philippines Singapore Chinese Taipei United States of America Viet Nam
Quelle: http://www.apecsec.org.sg/.
Tab. 2: World Competitiveness Yearbook: Ranking of Nations Country
2002
2001
2000
1999
1998
USA Finland Luxemburg Netherlands Singapore Denmark Switzerland Canada Hong Kong Ireland Austria Australia Germany U.K. New Zeeland Taiwan Malaysia Korea Japan China Thailand Philippines Mexico Russia Indonesia
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 13 14 15 16 19 24 26 27 30 31 34 40 41 43 47
1 3 4 5 2 15 10 9 6 7 14 11 12 19 21 18 29 28 26 33 38 40 36 45 49
1 4 6 3 2 13 7 8 12 5 15 10 11 16 18 20 27 28 24 30 35 37 33 47 44
1 5 3 4 2 9 7 10 6 8 18 11 12 19 17 15 28 41 24 29 36 31 35 46 47
1 6 3 4 2 10 9 8 5 7 24 12 15 13 17 14 19 36 20 21 41 32 34 43 40
Quelle: www.imd.ch.
B Länder und Weltregionen
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B.2 Indien im weltwirtschaftlichen Wettbewerb*
Indien befindet sich seit den Reformen 1991 auf dem Weg, ein weltwirtschaftlich und politisch starker Partner zu werden. Dies zeigt sich an der Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, ausgedrückt z.B. im Ranking des World Competitiveness Yearbook, im Outsourcing von IT-Aktivitäten der internationalen Konzerne, aber auch in dem Kauf von westlichen Unternehmen durch indische Unternehmer. In den nächsten Jahren müssen aber auch sehr große Herausforderungen bewältigt werden, vor allem in den Bereichen Infrastruktur, Zurückdrängen der Korruption und Schaffung von einfachen Arbeitsplätzen. Für deutsche Unternehmer bietet der indische Markt vielfältige Möglichkeiten zu einem Unternehmensengagement, die wegen der Risiken auf diesem großen und kulturell verschiedenen Land fallspezifisch gründlich bewertet werden müssen.
1
Indien – Ein Land im Aufbruch
Erleben wir zurzeit das Erwachen eines zweiten politischen und wirtschaftlichen Riesen, diesmal im Gewand des Elefanten als Symboltier Indiens1 und nachfolgend dem Drachen als Zeichen Chinas? Vieles deutet auf diese Interpretation hin: Die Größe des Landes, ihre Bevölkerungszahl mit einem hohen Anteil junger Personen, aber auch die Entwicklung der Wachstumsraten in den letzten 10 Jahren sowie der politische Wille, die sich bietende Gelegenheit im Rahmen der Globalisierung zu nutzen. Durch die Globalisierung haben der Subkontinent und seine Bewohner die in dieser umfassenden Form nicht vorhersehbare Chance zur Teilnahme an der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung, verbunden mit steigender politischer und militärischer Macht. Dies ist für Indien eine historische Perspektive, zumal dabei erstmals seit dem Großreich Ashokas im dritten Jahrhundert v.Chr. der ganze Subkontinent vom Norden bis zur Südspitze und von den Westprovinzen am Indus bis zu den östlichen und nordöstlichen Regionen am Golf von Bangalen und südlich des Himalaya unter indischer Souveränität erfaßt wird. Die Landmasse Indiens beträgt rund 3,2 Mio. km2 mit einer Bevölkerung von zurzeit rund 1,1 Mrd. Menschen, die sich bis zum Jahr 2050 auf voraussichtlich auf 1,6 Mrd. erhöhen wird. *
1
in: Strategien deutscher Unternehmen in Indien, hrgs. v. Koubek, N/ Krishnamurthy, G.R., Frankfurt am Main, 2006, S. 3-23. Vgl. als Beispiele für die Stimmungslage im Frühjahr 2006 das Titelblatt des Economist „Can India Fly?“. Vgl. o.V. (2006a) sowie in der gleichen Ausgabe des Special „A survey of business in India“, S. 1-16; Kuroda (2006), S. 1-7.
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
Die etwa 4500 Jahre alte schriftlich dokumentiere Geschichte Indiens läßt sich in vier große Epochen einteilen.1 Es sind dies erstens die frühen Reiche am Indus um 2500 v.Chr. und die sich aus der arischen Invasion ab der Mitte des 2. Jahrtausends v.Chr. ableitenden Regionalherrschaften. Lediglich unter dem Herrscher Ashoka (274-232 v.Chr.) kam es zu einer mit Ausnahme des Südens ganz Indien umfassenden Herrschaft. In diesem langen Zeitraum bildeten sich die hinduistische Religion sowie politisch das Kastenwesen mit seinen vier Hauptkasten der Adligen und Krieger, Priester, Großgrundbesitzer sowie leibeigenen Bauern und Handwerker. Hinzu kamen noch die sog. Unberührbaren oder ScheduledCasts als unterste soziale Schicht, wobei diese ihrerseits in zahlreiche Subkasten unterteilt sind. Letztlich ist der in Nordindien um 500 v.Chr. entstandene Buddhismus an seinem Gleichheitsideal aller Menschen und der Ablehnung des Kastenwesens in seinem Ursprungsland gescheitert und wurde in die weiter östlich gelegenen asiatischen Länder abgedrängt, während in Indien selbst der Hinduismus und die von ihm geprägten gesellschaftlichen Strukturen die Jahrtausende überlebten. Die zweite Epoche ist islamisch geprägt und verlief über mehrere Eroberungs- und Einwanderungswellen. Ab dem 11. Jahrhundert n.Chr. kamen zunehmend vom Norden islamische Stämme türkisch-afghanischer Herkunft, die in den folgenden Jahrhunderten den Norden, Westen und Osten beherrschten und im 16./17. Jahrhundert im sog. türkisch-persischen Mogulreich einen kulturellen, künstlerischen und architektonischen Höhepunkt erlangten. Das Taj Mahal in Agra ist das bekannteste und spektakulärste Symbol dieser Epoche. Der indische Süden blieb davon weitgehend unberührt, auch die Sozialstrukturen unterlagen nicht der kolonialen Veränderung, wie dies im Norden der Fall war und noch bis heute nachwirkt. In der dritten Epoche wird Indien zunehmend Teil der europäischen Kolonialreiche, die ab 1500 entstanden und ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhundert erreichten, als ganz Indien Teil des britischen Kolonialreiches war. Historisch gab es auch niederländische, französische und portugiesische Einflußlosen, letztlich wurde dieses Land jedoch von der angelsächsischen Herrschaft geprägt, was z.B. zur Übernahme des Englischen als allgemeiner Verkehrssprache, des Common Law als Grundlage der Rechtsordnung, des Cricketspiels als Volkssport und der entsprechenden schulischen und universitären Strukturen im Bildungswesen führte, wobei der zuletzt genannte Punkt gerade in der entstehenden Wissensgesellschaft einen bedeutenden internationalen Vorteil darstellt. Zu Beginn der vierten Epoche erfolgt die Unabhängigkeit Indiens im Jahre 1947 durch den Rückzug der Briten und gleichzeitig findet die Teilung des Landes nach religiösen Merkmalen statt. Pakistan, das seinerseits ursprünglich aus 1
Vgl. Stang (2002), S. 36-57.
B Länder und Weltregionen
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Westpakistan und Ostpakistan (heute: Bangladesh) bestand, vereint die muslimische Bevölkerung, während sich Indien aus den hinduistischen Bevölkerungsmehrheiten zusammensetzt, allerdings mit weiterhin erheblichen religiösen Minderheiten. So leben trotz der Teilung z. Zt. etwa 100 Mio. Inder muslimischen Glaubens in Indien. Die politischen Folgen der Trennung sind bis heute erkennbar, sei es im politischen Streit um die endgültige Grenze in Kashmir, die Auseinandersetzung mit dem muslimischen Fundamentalismus und Terrorismus sowie dem wirtschaftlichen Niedergang Westbengalens und insbesondere Kalkuttas durch den Verlust des wirtschaftlich so entscheidenden Landesteils, aus dem sich Bangladesh bildet. Die kulturell, religiös und geschichtlich tief geprägte Bevölkerung, von der politisch-geistigen Führung bis zu den unteren sozialen Schichten, ist sich der historischen Dimension des Eintritts in die Weltpolitik und Weltwirtschaft als Aufbruch und Seitenwende durchaus bewußt, ähnlich wie dies in China der Fall ist, wobei dieser nordöstliche Nachbar einerseits eine sehr viel homogenere und in hohen Maßen eigenständige Geschichte über Jahrtausende besitzt, andererseits aber über keine pluralistische oder gar demokratische Tradition und Struktur verfugt. Gerade diese Voraussetzungen können in einer sich modernisierenden Gesellschaft für die Konfliktlösung bei heterogenen Interessen von großer Bedeutung sein. Als mentalitätsmäßige Besonderheit ist bis hin zum Alltagsleben die tiefe Religiosität weiter Teile der Gesellschaft erkennbar, wobei über 82% dem Hinduismus angehören, rund 12% dem islamischen Glauben zuzurechnen sind und weitere 6% auf Christen, Siks, Buddhisten, Jains und Juden entfallen. Damit dominiert der Hinduismus, obwohl gerade im wirtschaftlichen und kulturellen Bereich die nichthinduistischen Bevölkerungsteile einen überdurchschnittlichen Einfluß und Wohlstand besitzen. Für das Selbstverständnis der indischen Gesellschaft, seinen Lebensrhythmus sowie die Fähigkeit, durch Toleranz und Assimilierung andere Geistesströmungen anzuerkennen bzw. zu integrieren, ist die Berücksichtigung der hinduistischen Glaubensprinzipien unerläßlich.1 In den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit bis zu Beginn der 90er Jahre zeichnete sich die indische Gesellschaft weitgehend durch eine politisch erzwungene sozialistisch-wirtschaftliche Autarkie aus, obwohl das Land als parlamentarische Demokratie mit einem Mehrparteiensystem und Pressefreiheit in dieser Phase des kalten Krieges eher den westlichen Staaten zugeordnet werden konnte. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entfiel einer der Hauptbündnispartner der indischen Politik und das beginnende erfolgreiche Beispiel der chinesischen Wirtschaftsreformen führte seinerseits dazu, die bisherigen Prinzipien zu überdenken. So kam es im Jahr 1991 zu einer tief greifenden Reform der Wirtschaftspolitik, indem insbesondere die Modernisierung und die 1
Vgl. z.B. die knappe Zusammenfassung des Hinduismus bei Hattstein (1997), S. 6-21 sowie allg. Michaels (1998).
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
Öffnung zu den Weltmärkten angestrebt wurde. Federführend war der damalige Finanzminister und heutige Ministerpräsident Mannohan Singh, ein in Oxford und Cambridge ausgebildeter Wirtschaftswissenschaftler mit internationaler Reputation. Nach über 10 Jahren sind die ersten Ergebnisse dieser zwischenzeitlich trotz aller Rückschläge beibehaltenen Strategie erkennbar bzw. zeichnen sich in ihren Ergebnissen erstmals umrißartig ab. Hierzu zählen die Zurückdrängung der Bürokratie, die Privatisierung staatlicher Unternehmen, die Modernisierung bzw. der Ausbau aller wesentlichen Teile der verkehrsmäßigen und energiebezogenen Infrastruktur sowie die sozialen und gesellschaftlichen Änderungen in den städtischen Ballungszentren und ansatzweise auch in der stark hinduistisch-agrarisch geprägten Bevölkerungsmehrheit mit ihren rund 700 Mio. auf dem Lande lebenden und arbeitenden Menschen. Der Inhaber der größten indischen Leiharbeitsagentur, Manish Sabharwal, äußert sich zu den Chancen der indischen Entwicklung geradezu euphorisch, wenn er sagt: „Not once in a decade: Not once in a millenium, it’s once in the lifetime of a country“, und diese Einschätzung wird zurzeit von vielen indischen Führungskräften geteilt.1 Es gibt jedoch auch kritische Stimmen, die meist auf die Probleme der Beschäftigung von vielen Millionen Menschen hinweisen, für die das jetzige Wachstum und die damit verbundenen Anforderungen keine Perspektiven eröffnen.2 Die Unterschiede zwischen den urbanen Zentren insbesondere in dem großen nordindischen Dreieck der Metropolen Delhi, Mumbai (Bombay) und Kolkata (Kalkutta) mit jeweils zwischen 14-18 Mio. Menschen, sowie dem kleinen Dreieck im Süden um Chennai (Madras), Hyderabad und Bangalore mit jeweils 5-7 Mio. Menschen und den ländlichen Lebensräumen werden durch das Wirtschaftswachstum in den Ballungszentren zurzeit größer. Dies wird von der politischen und gesellschaftlichen Elite sowie dem sich zunehmend herausbildenden Mittelstand akzeptiert, denn es wächst die Überzeugung, daß das Potential vorhanden ist, zu einem der führenden Wirtschaftsräume der Zukunft aufzusteigen.3 Unter diesen Bedingungen entstehen Visionen, Pläne, Strategien von Unternehmen, nationalen und internationalen politischen Institutionen, um herauszufinden, welche Auswirkungen mit diesem sich abzeichnenden Aufstieg verbunden sein können und wie man selbst davon betroffen sein wird bzw. profitieren kann. Gerade auch für Deutschland als einer der weltweit führenden Exportnationen und damit für die dahinter stehenden Unternehmen werden diese Vorgänge nicht ohne Folgen bleiben. Dabei ist es kein Neubeginn, denn seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt es ein Engagement deutscher Unternehmen in Indien, das sich vom Export von Fertigprodukten bis hin zur Gründung rechtlich selbständiger Unternehmen erstreckt. Die dabei zu treffenden Ent1 2 3
Vgl. o.V. (2006a), S. 3. Vgl. Felipe/ Hasan (2006). Vgl. Schaffer/ Mitra (2006), S. 1-19; Asuncion-Mund (2005), S. 1-18.
B Länder und Weltregionen
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scheidungen bedürfen einer gründlichen und die verschiedenen Risiken abwägenden Vorbereitung und Bewertung, zumal das Zielland Indien nicht nur sechs bis acht Flugstunden von Deutschland entfernt liegt, sondern auch in wesentlichen Teilen einem anderen Kulturkreis zuzurechnen ist. Dies soll im Folgenden zunächst über die Bewertung Indiens als Wirtschaftsstandort geschehen, dem sich die Darstellung verschiedener Pläne und Aktivitäten in Indien anschließt, gefolgt von Schlußfolgerungen für deutsche Unternehmen.
2
Indische Standortbewertung
Das verstärkte Interesse an Indien hängt mit Veränderungen der Standortbedingungen im internationalen Wettbewerb zusammen, wobei sich die Frage stellt, wie man diese Bedingungen und ihre Veränderungen erfassen kann.1 Bei einem Land von der Größe Indiens bedarf es einer sehr komplexen Vorgehensweise, um die relevanten Veränderungen festzustellen. In der Wissenschaft befassen sich mehrere Disziplinen mit dieser Thematik, wobei in unserem Zusammenhang die Wirtschaftsgeographie sowie die Volks- und Betriebswirtschaftslehre von vorrangigem Interesse sind.2 Hierbei werden eine Vielzahl von geographischen, historischen, politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Merkmalen qualitativ und quantitativ erfaßt, beschrieben bzw. in Durchschnittswerten zum Ausdruck gebracht. Darüber hinaus gibt es in der Literatur zu internationalen Unternehmen bestimmte Modelle, in denen die Kennzeichnung einzelner Länder in mehreren Dimensionen abgebildet werden.
2.1 Systemtheoretischer Ansatz Aussagefähige und häufig benutzte Konzepte beziehen sich auf mehrdimensionale Darstellungen von Politik, Kultur, Technologie, Bildung und Ökonomie, in denen die einzelnen Dimensionen durch verschiedene Kriterien und Merkmale abgebildet werden.3 Ein häufig verwendeter Ansatz stützt sich auf die vier von Skinner im Rahmen des systemtheoretischen Ansatzes benutzten Dimensionen, in denen sich auch die Umweltbedingungen einzelner Länder wie folgt darstellen lassen:
1
2 3
Vgl. zur grundsätzlichen Diskussion über Standortfaktoren die Beiträge von Dülfer (1992), S. 471495; Engelhard (1998), S. 367-384 und Krystek/ Walldorf (1992), S. 341-366. Vgl. Stang (2002); Wamser (2005); Kaufmann et al. (2006). Vgl. Skinner (1964), S. 125-136; Fayerweather (1989), Sp. 928-938; Dülfer (1999), S. 191-196; Kutschker/ Schmidt (2002), S. 920-931.
302 •
•
•
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
Wirtschaftliches System: Arbeitslöhne, Material, Verwaltung, Kapital, Ausstattung, Verfügbarkeit von Krediten, Steuern, Inflationsrate, zyklische Schwankungen, Vorhersehbarkeit, Devisenkurse, Wettbewerb, Tarife, Vertriebsnetz, Kommunikationstechnologie. Politisches System: Regierungsstabilität, staatliche Aufsicht, gesetzliche Vorschriften, Wirtschaftsrecht, Integrität der Staatsbeamten, Regierung, Einstellung der Regierung zu Wirtschaft und Arbeit, Machtzentren, Außenpolitik, Auslandsinvestitionen, Gesetzesverfahren, Durchführungsbestimmungen. Technisches System: Produkte, Prozesse, Ausstattung, Qualität, Investitionen, Qualitätskontrolle, Erfindung, Beschaffung, Wartung, Produktivitätsstandards. Kulturelles System: Werte, Glauben, Traditionen, Beziehungen, Motivation, Statussymbole, Gewohnheiten, soziale Institutionen, soziale Mobilität, Bildung, Klassen-Schichten, Alphabetisierung.
Im vorliegenden Fall müßte man die in Indien vorhandenen Bedingungen in diese Dimensionen einsetzen und käme dann zu einer Zustandsbeschreibung für einzelne Jahre, und durch den Vergleich der länderspezifischen Informationen für mehrere Jahre läßt sich dieser Ansatz dynamisieren. Weitere Darstellungen dieser Art finden sich im sog. CIA-Länderreport, der mit hoher Aktualität und auf alle Länder bezogen veröffentlicht wird und im Internet verfügbar ist.1 In Deutschland findet man über den deutschen Außendienst eine ähnliche Zusammenstellung, die ebenfalls im Internet verfügbar ist.2 Für eine Verwendung dieser Angaben als Grundlage von Standortentscheidungen muß ein zusätzlicher Faktor hinzutreten, um als Planungs- und Entscheidungsgrundlage für unternehmerische Engagements in Indien dienen zu können. Es ist dies der Vergleich mit alternativen Standorten weltweit, und damit ergibt sich die Notwendigkeit, eine Vielzahl von quantitativen und qualitativen Angaben einzelner Länder zu erfassen und in Beziehung zu setzen. Dies leistet das im Folgenden näher erläuterte „World Competitiveness Yearbook“.
2.2 World Competitiveness Yearbook Seit einigen Jahren gibt es mehrere Ansätze, die mit jährlicher Aktualität Vergleichszahlen für wirtschaftlich relevante Merkmale der wesentlichen Länder der Erde abbilden. Als älteste und am weitesten verbreitete Veröffentlichungsmethode ist das seit 1989 jährlich vom International Institute for Management Development (IMD) in Lausanne im April jeden Jahres erscheinende „World Compe1 2
Vgl. CIA (2006). Vgl. Auswärtiges Amt (2006).
B Länder und Weltregionen
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titiveness Yearbook“ (WCY) zu nennen. In dem neuesten, im April 2006 erschienenen Yearbook werden 56 Länder und 5 bedeutende Wirtschaftsregionen über einen Datensatz von jeweils mehr als 300 Kriterien beschrieben und miteinander verglichen.1 Methodisch werden dabei die einzelnen Kriterien in vier Hauptgruppen eingeteilt, wobei es sich teils um qualitative und teils um quantitative länderspezifische Angaben handelt. Dabei erhält das jeweils am besten ermittelte Land den Wert 100 und alle anderen Länder werden an dieser Benchmark unter Punktabzug gemessen. Die Kriterien selbst werden sowohl über objektive Daten als auch über subjektive Bewertungen erfaßt und ergeben so ein differenziertes Bild, das auch über die Zeitachse dargestellt werden kann und somit den Aufstieg bzw. den Abstieg einzelner Länder in ihren jeweiligen Kriterien erfaßt. Den Kriterien in den 4 Hauptgruppen sind ihrerseits jeweils 5 „Subfactors“ zugeordnet. Alle auf diese Weise sich bildenden 20 Unterpunkte werden mit jeweils 5% am Gesamtergebnis gewichtet. Als Hauptgruppen gelten dabei: Economic Performance - Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Government Efficiency - Regierungseffizienz Business Efficiency - Unternehmenseffizienz Infrastructure - Infrastruktur Am Beispiel Indien soll dieses Verfahren näher dargestellt werden, und zwar mit den für das Jahr 2006 veröffentlichten Ergebnissen, die ihrerseits mit den Ergebnissen des Jahres 2001 verglichen werden. In Einzelfällen soll sich dieser Vergleich auch auf frühere Jahre beziehen. So gewinnt man einen Einblick in die Veränderungen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Länder und im besonderen Fall von Indien. Indien erhält in der Gesamtbewertung 2006 unter allen 61 untersuchten Ländern und Regionen den Rang 29, wobei dieses Ergebnis auf der Basis durchaus unterschiedlicher Positionen in den 4 Hauptgruppen zustande kommt. Es liegt damit 2005 mit 8,1% Wirtschaftswachstum des Bruttosozialprodukts an 6. Stelle weltweit, bezüglich der staatlichen Regulierung ergibt sich im Bericht 2006 ein Ranking auf Platz 24, bezüglich der Economic Performance wird Platz 7 erreicht, bei der Government Efficiency Platz 35, bei Business Efficiency Platz 19 und bei Infrastructure Platz 54. Im Folgenden sollen erstens die Entwicklungen über mehrere Jahre und zweitens die Hauptfaktoren nach ihren wesentlichen Einzelbestandteilen näher beleuchtet werden.
1
Vgl. International Institute for Management Development (2006).
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
Betrachtet man das Gesamtranking seit 1997, also über einen Zeitraum von 10 Jahren, so fällt auf, daß zwischen 1997 und 2001 nur geringfügige Veränderungen stattgefunden haben. So lag 1997 Indien unter 49 Ländern auf Platz 41 und 2001 unter ebenfalls 49 Ländern unverändert auf Platz 41, wobei in den dazwischen liegenden Jahren geringfügige Schwankungen festgestellt werden können. Einen deutlichen Abstieg gab es 2003, als lediglich der 50. Platz von 61 Ländern und Regionen erreicht wurde, wobei für diesen starken Platzverlust wahrscheinlich die politischen Unruhen verantwortlich sein dürften. Besonders auffällig ist die Verbesserung um 10 Plätze von 2005 zu 2006. Im Folgenden sollen die einzelnen Haupt- und Unterfaktoren zum WCY 2006 erläutert werden.1 Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit (Economic Performance) steigt zwischen 2005 und 2006 um 5 Plätze auf den 7. Platz, im Jahr 2001 lag Indien hier an 23. Stelle. Die Schwächen bei dieser Positionierung liegen im Pro-Kopf Einkommen, den Investitionswerten und dem defizitären Außenhandel, die Stärken zeigen sich bei der Ansiedlung von Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten, bei Dienstleistungen und Produktion sowie den Lebenshaltungskosten und der Stabilität des wirtschaftlichen Aufschwungs. Die Regierungseffizienz (Government Efficiency) verbessert sich im Ranking um 4 Werte auf Platz 35, während Indien hier 2001 den Platz 43 erreichte. Die jetzige Positionierung entstand vor allem durch die Einflüsse einer persönlichen Einkommenssteuer, der Beiträge der Beschäftigten und Arbeitgebern zu sozialen Sicherungssystemen, der staatlichen Finanzplanung und dem Aufbau von Währungsreserven. Die Schwächen liegen unverändert in den Bereichen Korruption, Unternehmenssteuersätze, Defizit des Staatshaushalts, Bewertung des Landes durch die internationalen Rating-Agenturen sowie einer Vielzahl von arbeitsfreien Tagen in der öffentlichen Verwaltung. Die Unternehmensleistungsfähigkeit (Business Efficiency) verbessert sich zwischen 2005 und 2006 um 4 Plätze auf Platz 19, während Indien hier 2001 lediglich Platz 39 erreicht hatte. Insbesondere die Bedingungen des Arbeitsmarktes sowie das Arbeitsverhalten und die Arbeitsmoral sind auch im internationalen Vergleich besonders positiv zu bewerten. Die Werte für die Bedingungen des Managements und die Einflußfaktoren auf die Finanzierungen liegen leicht über dem Durchschnitt, während die Kennziffern für Produktion und Effizienz lediglich im unteren Drittel liegen. Mit der Infrastruktur (Infrastructure) ist der zentrale Schwachpunkt der indischen Wirtschaft auch für das Jahr 2006 benannt. Hier wird von 61 Ländern/Regionen nur Platz 54 erreicht, gleich bleibend zu 2005. In welchem Maße die Infrastruktur durch das zwischenzeitlich erreichte Wirtschaftswachstum überlastet ist, zeigt ein Vergleich mit dem Jahr 2001, als Indien noch Platz 45 erreichen konnte. Die 5 Subfaktoren beziehen sich dabei auf die Basis-Infrastruktur, 1
Vgl. International Institute for Management Development (2006), S.162 ff.
B Länder und Weltregionen
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die technologische Infrastruktur, die wissenschaftliche Infrastruktur, die Gesundheit und die Umwelt sowie das Erziehungswesen. Besonders gut werden die Verhältnisse bei Mobiltelefonkosten sowie der Verfügbarkeit qualifizierter Ingenieure (jeweils Platz 1) und der wissenschaftlichen Unterrichtung in Schulen und dem allgemeinen Interesse Jugendlicher an der Wissenschaft (Platz 2) eingestuft. Die fünf Merkmale mit den schlechtesten Werten beziehen sich alle auf bevölkerungsbezogene Sachverhalte in Bildung, Medizin und Computerausstattung. Für zwei spezifische Fragestellungen werden gesonderte Werte der 61 untersuchten Länder/Regionen vorgelegt, in denen man auch die Bedeutung Indiens erkennen kann. So belegt Indien im Jahr 2006 im Ranking der asiatischpazifischen Länder (Peergroup Rankings) Platz 9, also gerade in der Weltregion mit dem höchsten gegenwärtigen und vorhersehbar auch künftigen Wirtschaftswachstum. In der Gruppe der Länder ab 20 Mio. Einwohner wird Indien auf Platz 10 gesetzt. Zum Vergleich: Deutschland liegt hier auf Platz 9. Die Darstellung des umfangreichen empirischen Materials zu Indien hat gezeigt, daß dieses Land gerade auch im internationalen Vergleich deutlich stärker geworden ist, wobei die zentralen Schwachpunkte „Government Efficiency, Infrastructure“ als die beiden großen Herausforderungen in der kommenden Entwicklungsphase gelten. Aber auch die anderen genannten Merkmale bedürfen weiterer Verbesserungen, da auch die Wettbewerbsländer und -regionen versuchen, ihre Profile jeweils zu verbessern.
3
Pläne und Aktivitäten in Indien zur Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit für Unternehmen
Aus der bisherigen Analyse haben sich zahlreiche Ansatzpunkte ergeben, die in Indien gestaltet und verbessert werden müssen, wenn das Land im vorgesehenen Umfang zu einem weltwirtschaftlichen Schwerpunktland entwickelt werden soll. Diese Veränderungen lassen sich nur durch eine aufeinander abgestimmte Vorgehensweise staatlicher Stellen, gesellschaftlicher Institutionen sowie nationaler und internationaler Unternehmen erzielen. Als besonderes Merkmal zeigt sich einerseits die demokratische Grundstruktur des Staates mit einer Vielzahl von Parteien, Interessengruppen und Zuständigkeiten. Dies führt teilweise zu einer Verlangsamung, teils zu einer Blockierung von Vorgängen, zumindest ist dies in der Vergangenheit feststellbar gewesen, doch sollen diese Restriktionen in Zukunft deutlich geringer werden.1 Beispiele aus den Bereichen der Infrastruktur lassen sich an dem Verzögern des Ausbaus von Flughäfen, Straßen und Gewerbegebieten in zahlreichen Regi1
Vgl. o.V. (2006c).
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onen des Landes finden. Auf der anderen Seite eröffnet diese Grundstruktur des Landes neue Möglichkeiten zu regionalen Entwicklungen und privatem Engagement über Stiftungen, soziale Einrichtungen und Bürgerengagement. Hierfür eignen sich insbesondere die Bereiche Gesundheit, Bildung und Sozialwesen, um Defizite staatlichen Handelns zu mindern bzw. auszugleichen. Außerdem läßt sich feststellen: „Indien zählt zu den zufriedensten Nationen der Welt.“1 Neben diesen sozialstrukturellen Bedingungen zeichnet sich für den indischen Subkontinent eine regionale Schwerpunktbildung in der wirtschaftlichen Entwicklung ab.2 Dies sind die Metropolregionen im Norden um Delhi, im Westen um Mumbai (Bombay) sowie die Region Gujerat, im Osten um Kolkata (Kalkutta), im Süden um Chennai (Madras), Hyderabad und Bangalore sowie das von Wamser eigenständig benannte Hindi-Herzland. Letzteres wird in anderen Übersichten auf die Regionen Nord, West und Ost aufgeteilt. In einer weiteren Spezifizierung lassen sich innerhalb dieser Großräume die beiden Dreiecke zwischen Delhi, Mumbai und Kolkata im nördlichen Indien und Hyderabad, Chennai und Bangalore im südlichen Indien weiter differenzieren. Im Folgenden sollen die zurzeit erkennbaren Schwerpunkte des Umbaus des Landes in den vier vom IMD benutzten Dimensionen Economic Performance, Government Efficiency, Business Efficiency sowie Infrastructure dargestellt werden, beginnend mit der besonders kritischen Dimension der Infrastruktur, durch die die materielle Basis der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung bestimmt wird und die maßgeblich über den Erfolg der wirtschaftlichen Entwicklung in Indien entscheiden wird.3
3.1 Infrastrukturmaßnahmen Die Defizite der indischen Infrastruktur sind allgemein bekannt und werden als eines der Haupthindernisse für eine Modernisierung des Landes betrachtet. Kürzlich wurde von einer „Investment Commission“ unter Leitung des Unternehmers Ratan Tata vorgeschlagen, für den Zeitraum der nächsten 5 Jahre ein Investitionsvolumen von US$ 550 Mrd. umzusetzen, insbesondere zum Ausbau der Infrastruktur. Dabei sollen US$ 30 Mrd. in den Ausbau des Straßennetzes, US$ 140 Mrd. in den Ausbau des Energiesektors, US$ 40 Mrd. in die Modernisierung des Kohlesektors und US$ 22 Mrd. in den Ausbau der Telekommunikationseinrichtungen fließen. Weitere Sektoren sind die zivile Luftfahrt, die Textil-
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o.V. (2006b), S. 7. Vgl. Wamser (2005), S. 142 ff. Vgl. o.V. (2006a), S. 12-14.
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industrie, Automobilkomponentenherstellung, der Immobiliensektor, Brückenbauten, der Tourismus sowie die Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie.1 Ein erster Schritt ist mit dem Aufbau eines landesweit vierspurigen Autobahnnetzes gemacht worden, das 2006/2007 fertig gestellt werden soll. Es wird dann die drei Nordmetropolregionen mit den Südzentren verbinden und neben den Küstenregionen auch eine Magistrale im Landesinneren von Nord nach Süd einschließen. Zweitens beginnt 2006 der Bau neuer, internationalen Standards genügenden Großflughäfen in Delhi, Mumbai, Kolkata, Bangalore und Chennai, und zwar weitgehend in Verbindung mit ausländischen Partnern und ausländischem Kapital.2 Drittens steht der Ausbau der großen Häfen an der West- und Ostküste bevor, um den Anstieg des indischen Handels am Welthandel technisch und organisatorisch möglich zu machen. Viertens ist das Energienetz, insbesondere das Stromnetz, im jetzigen Zustand ein großes Hindernis für die Entwicklung des Landes. Es ist weder von der Leistungsfähigkeit her mit genügender Kapazität ausgestattet noch dauerhaft stabil im Energieangebot. Neben den Leitungsnetzen ist die Primärenergieerzeugung zu entwickeln, wobei neben Kohle, Gas und Öl verstärkt auch auf den Einsatz von Atomkraftwerken sowie die Nutzung alternativer Energiequellen (Windenergie, Solarenergie) zurückgegriffen werden soll.3 Indiens Nadelöhr ist die Infrastruktur, denn das Wirtschaftswachstum läßt sich nur halten, wenn Straßen, Häfen, Flugplätze und Energieversorgung auf- und ausgebaut werden. Fünftens ist der Aufbau einer leistungsfähigen und hygienisch einwandfreien Wasserversorgung zu nennen, da sowohl in den Metropolen des Nordens jeweils Millionen von Menschen keinen gesicherten Zugang zu Trinkwasser haben als auch die Bedingungen im ländlichen Raum unbefriedigend sind. Sechstens zeigen zahlreiche Immobilien in den Metropolen deutliche Verschleißspuren, und neue Wohnungen sowie Büros werden im Zuge der Entwicklung ganzer Industrien und Dienstleistungszentren in hohem Maße benötigt.
3.2 Wirtschaftliche Effizienz Die indische Wirtschaft ist bisher international vor allem durch ihre Dienstleistungsstärke im IT-Bereich und zunehmend im Pharma- und biotechnologischen Bereich im eigenen Land hervorgetreten. Aber auch im Automobilsektor zeigen sich im unteren Segment für bestimmte Länder Wettbewerbsvorteile; ähn1
2 3
Vgl. Gupta (2006). Vgl. auch die Aktivitäten der Asian Development Bank (2005), S. 87-89, bei der insb. die Infrastrukturmaßnahmen im ländlichen Bereich gefordert werden. Vgl. Seli (2006), S. 28-30; Germund (2006), S. B6. Vgl. Singh (2006); o.V. (2006c).
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liches gilt für den Bus- und LKW-Sektor. Künftig müssen diese industriellen Ansätze durch den verstärkten Aufbau einer leistungsfähigen Industriestruktur stabilisiert werden. Daneben entwickeln sich einige Firmen zu „Global Players“, die auch auf westlichen Märkten mit eigenen Niederlassungen erfolgreich sind.1 Für alle Aktivitäten gilt jedoch: Ein Land kann sich nicht von der Agrar- zu einer Dienstleistungsgesellschaft entwickeln, ohne eine leistungsfähige Industriestruktur zu besitzen. Das 3-Sektoren Modell von Fourastié beschreibt die Strukturverschiebungen in hoch entwickelten Wirtschaftsgesellschaften, auf die Versorgung mit Industriegütern in aufsteigenden Ländern ist es daher nicht direkt übertragbar.2 Vielmehr ist für ein so großes und sich in der Entwicklung befindliches Land wie Indien der Aufbau einer funktionierenden technischen Infrastruktur in Verbindung mit Industriegütern eine unverzichtbare Notwendigkeit, um einen zuverlässigen und langfristig ökonomischen Wachstumspfad zu sichern. Ein Zahlenvergleich soll dies deutlich machen: China produzierte im Jahr 2005 rund 380 Mio. Tonnen Stahl, Indien brachte es bei einer nur um 20% geringeren Bevölkerung lediglich auf 38 Mio. Tonnen Stahl, also 10%. Dabei ist es in diesem Zusammenhang unerheblich, daß Mittal-Steel als der tonnenmäßig größte Stahlkonzern der Welt kapital- und managementmäßig der indischen Unternehmerfamilie Mittal gehört. In der Sektoralverteilung des indischen Bruttosozialproduktes in Höhe von rd. US$ 726 Mrd. in 2005 entfällt ein Anteil von rd. 20% auf Agrargüter und 26% auf Industriegüter, während 54% den Dienstleistungen zugerechnet werden.3 Hier kommt vor allem der starke Ausbau der IT-Branche zur Geltung. Die Zentren dieser Entwicklung liegen in den bereits genannten drei großen Metropolregionen des Nordens, Ostens und Westens sowie der Region im kleinen Dreieck des Südens, die ergänzt werden durch Wachstumszonen in den kleineren, mittleren und mittelgroßen Städten zwischen 100 Tsd. und 3 Mio. Einwohnern, selbst wenn im Durchschnitt die Dynamik hier geringer ausfällt als in den großen Zentren. Daneben gibt es noch die dörfliche und kleinstädtische Struktur, die aus etwa 627.000 ländlichen Gemeinden besteht, in denen fast drei Viertel der indischen Bevölkerung lebt.4 Selbst bei der als längerfristig unterstellten Toleranz der indischen Bevölkerung werden die Modernisierung und das Wachstum in Zukunft auch in diesen Landesteilen den Bedarf an Erneuerung und Verbesserung der Lebensverhältnisse wachsen lassen. Allerdings wird es bei der immer noch beachtlich hohen Analphabetisierungsrate von rd. 50% und fehlen-
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Vgl. Germund (2006), S. B2; o.V. (2006d), S. 6. Vgl. Fourastié (1954). Vgl. Asian Development Bank (2006), S. 2 f. Vgl. Stang (2002), S. 144.
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der beruflicher Qualifikationen zu nicht unerheblichen Anpassungsprozessen kommen.1
3.3 Regierungseffizienz Die jahrzehntelange Ausrichtung der indischen Bürokratie am staatssozialistischen Modell des sog. Nehrusozialismus hat zu langfristig wirkenden Verhaltensweisen geführt. Daneben ist die technische Ausstattung der staatlichen Behörden in vielen Fällen noch dem klassischen Modell eines überbürokratisierten Entwicklungslandes zuzuordnen, in das die kommunikativen und elektronischen Organisationsformen erst allmählich Eingang finden. Dabei werden die Mängel bei der technischen Ausstattung und die verhaltensorientierten Komponenten bei bürokratischen Abläufen ergänzt und zusätzlich erschwert durch die zumindest inoffiziell weiterhin bestehende Bedeutung der Kastenzugehörigkeit, die z.B. in ungleichen Bildungschancen oder unterschiedlicher Rechtsanwendung zum Ausdruck kommt.2 Schließlich ist das in Indien nach wie vor bestehende erhebliche Maß an Korruption beim Umgang mit staatlichen Stellen zu nennen3, wofür die zum Teil sehr geringe Bezahlung einer der Erklärungsgründe sein kann. Für alle angesprochenen Probleme sind Lösungen nur bei entsprechendem politischem Willen der Parteien und der Regierung möglich, wobei die technischen Ausstattungsfragen leichter lösbar sein werden als die soziostrukturellen Merkmale. Von großer Bedeutung ist weiterhin die Reduzierung des Staatsdefizits, was wegen der enormen ökonomischen und sozialen Mangellage bei Hunderten von Mio. Menschen, der Notwendigkeit zur noch immer ausstehenden flächendeckenden Einführen der Schulpflicht und dem Ausbau der Gesundheitsfürsorge sowie dem zügigen Ausbau der Infrastruktur mit großen Schwierigkeiten verbunden sein dürfte. Bei der unterdessen eingeführten allgemeinen Umsatz- und Einkommensteuer in Verbindung mit dem Wirtschaftswachstum kann es hierbei erstens zu höheren Steuereinnahmen kommen und zweitens sollen zahlreiche Projekte über sog. Public-Private Partnership-Modelle finanziert werden. Neben den öffentlichen Finanzen ist die Deregulierung staatlicher Vorschriften von entscheidendem Einfluß für eine Verstetigung und Verstärkung des Wirtschaftswachstums. Zahlreiche Vorhaben wurden bereits verabschiedet oder sind in Planung4, entscheidend wird dabei allerdings die Umsetzung sein. 1 2 3 4
Vgl. UNESCO (2005). Vgl. o.V.(2006c). Vgl. die Aussagen in der empirischen Erhebung bei Kaufmann et al. (2006), S. 23. Vgl. allg. Wirtschaftswoche (2006), S. 44-61.
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
3.4 Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Die hier einzuordnenden Projekte zur Erneuerung bzw. Verbesserung des Landes beziehen sich auf die fünf Subfaktoren „Domestic Economy, International Trade, International Investment, Employment, Prices“. Nur über ein hohes Wachstum lassen sich die Pro-Kopf Kennziffern für wesentliche ökonomische Größen steigern, z.B. bei Konsum, Investition, Bildungsausgaben, wobei neben den Durchschnittswerten die Verteilungsstruktur auf verschiedene Bevölkerungsgruppen von Bedeutung sein wird. Das ökonomische Wachstum soll nach Aussagen von Experten1 und Politikern deutlich gesteigert werden und zwar insbesondere durch einen Anstieg der Investitionsquote auf 30 bis 35%. Im internationalen Handel ist der Abbau der Zahlungsbilanzdefizite vorgesehen und der Einstieg in höherwertige Exportprodukte und -dienste. Außerdem kommt langfristig auch der Export von Landwirtschaftsgütern in Betracht, bei denen Indien einen Produktionsüberschuß erwirtschaftet. Im Tourismussektor gibt es zahlreiche Prognosen, die eine deutliche Steigerung für möglich und wahrscheinlich halten, denn bisher ist Indien in diesem Wachstumsmarkt trotz seiner reichhaltigen und über das ganze Land verteilten touristischen Höhepunkte an Gebäuden, Landschaften, Kunstschätzen und Stränden im internationalen Maßstab sehr unbedeutend. Ein Schwerpunkt der vorgesehenen Förderung dient dazu, ausländische Investitionen verstärkt nach Indien zu holen2, wobei Indien im weltweiten FDI Confidence-Index von AT Kearney3 nach China und den USA auf Platz 3 liegt. Im Jahr 2004 betrug die Summe der aus dem Ausland stammenden Investitionen rd. US$ 5 Mrd., davon kamen lediglich rd. 150 Mio. aus Deutschland. Dies ist ein Engagement, das der Bedeutung Indiens in keiner Weise gerecht wird, wie auch ein Vergleich mit anderen westlichen Ländern zeigt. Es ist daher damit zu rechnen, daß sich in naher Zukunft die Investitionen deutscher Unternehmen in Indien deutlich erhöhen werden. Bezüglich der Beschäftigung und der für internationale Produktionen notwendigen Integration indischer Arbeitskräfte zeigt sich die Bedeutung der Qualifikation. Das jetzige Ausbildungssystem führt im IT- und Ingenieurbereich deutlich an die Kapazitätsgrenze, so daß verstärkt die Infrastruktur im Bildungssektor ausgebaut werden muß, um weitere Wachstumsraten zu ermöglichen.4 In Teilen wird Indien demnächst möglicherweise Importland für qualifizierte Arbeitskräfte werden (Reverse Brain Drain), ein Vorgang, an dem man
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3 4
Vgl. Wilson/ Purushothaman (2003). Hierzu kritisch Asian Development Bank (2006), S. 13. Vgl. Asuncion-Mund (2005), S. 4-16; Asian Development Bank (2006), S. 9, 13; Kundu (2005), S. 1-16. Vgl. AT Kearney (2004). Vgl. Suchanti (2006), S. 50-52; Sheth (2006), S. 57-60.
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sich gerade vor dem Hintergrund der Greencard-Diskussion in Deutschland im Jahr 2000 noch gewöhnen muß. Die Reformprogramme der „Government Efficiency“ dürften bei einem Gelingen dieses Vorhabens in nicht geringen Maßen zur Freisetzung von Arbeitskräften aus Verwaltungen und Unternehmen führen. Auf das besondere Problem der Diskriminierung von Frauen von der Grundschulausbildung bis zur Berufsqualifizierung sei nur allgemein hingewiesen, ebenso wie auf die Diskussion um die soziale und kastenmäßige Öffnung der Universitäten.
4
Schlußfolgerungen für deutsche Unternehmen
Indien ist im Jahr 2006 in Deutschland als Wirtschaftsmacht entdeckt worden, nachdem in den vorangegangenen 10 Jahren von den großen „Schwellenländern“ das Interesse ganz auf China bezogen war. Hinter dieser Änderung der Sichtweise in Politik, Medien, Wissenschaft und Wirtschaft steht die Erkenntnis, daß Indien in den nächsten Jahrzehnten gute Voraussetzungen hat, sich neben den USA, China und der Europäischen Union zur größten Wirtschaftsmacht der Welt zu entwickeln. Grundlage ist eine Bevölkerung von zurzeit 1,1 Mrd. Menschen, die mehrheitlich relativ jung, intelligent und lernbegierig ist. Seit Jahrhunderten hat Indien, ähnlich wie China, wissenschaftlich, politisch und wirtschaftlich erstmals die Chance, im Weltmaßstab eine entscheidende Rolle zu übernehmen und diese Perspektive beflügelt dieses Land zumindest in den Teilen, die sich international orientieren. Zurzeit gibt es etwa 630 deutsch-indische Joint-Venture-Gesellschaften, von denen etwa 30% als hundertprozentige Tochtergesellschaften deutscher Unternehmen geführt werden.1 Das gesamte Investitionsvolumen deutscher Unternehmen in Indien belief sich in den letzten 20 Jahren auf rund € 1,5 Mrd., was daraufhin deutet, daß selbst unter den asiatischen Ländern bisher Indien insgesamt eine nachrangige Rolle im Promillebereich aller deutscher Direktinvestitionen einnimmt (zwischen 0,2-0,4% pro Jahr). Mit dem jetzigen Investitionsvolumen rangiert Deutschland damit auf Platz 6 der Länder, die in Indien investieren und zwar nach den USA, China, Japan, Großbritannien und den Niederlanden. Dabei eignet sich Indien sowohl für die großen „Global Players“ als auch für leistungsstarke mittelständische Unternehmen als Standort für Produktionen im Niedriglohnbereich, bei Aktivitäten zum Business Process Outsourcing (BPO) und – in Zukunft zunehmend – als Standort für Knowledge Process Outsourcing (KPO). Die bei einem solchen Engagement zu berücksichtigenden wirtschaftspolitischen und kulturellen Faktoren werden an anderer Stelle des Buches 1
Vgl. Kundu (2005), S. 6.
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
ausführlich dargestellt. Hier soll nur generell auf die besonders attraktiven und wachstumsintensiven Branchen IT, Pharma, Maschinenbau, Infrastruktur, Automobilindustrie, Chemie, Landwirtschaft, aber auch Tourismus, Banken, Versicherungen, Wohnungs- und Büroausstattungen sowie öffentliche Einrichtungen hingewiesen werden. Indien ist ein Land mit zurzeit rund 50 Mio. Personen in der Oberschicht und 250-300 Mio. Personen in der „neuen“ Mittelschicht, während etwa 350 Mio. Menschen pro Tag weniger als US$ 1 zur Verfügung haben. Mit einem angestrebten langfristigen Wirtschaftswachstum von 8-10% p.a. besteht erstens bei allen guten und wettbewerbsfähigen Gütern und Diensten ein großer Nachholbedarf, sofern man die gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Besonderheiten des Landes beachtet. Die Kenntnisse der gegenüber Deutschland andersartigen Rahmenbedingungen sind für Investoren neben der Beschaffung von Markteintrittsinformationen, Wettbewerbsanalysen und Marktstrukturen von wesentlicher Bedeutung. Gerade in einem Land mit so reichhaltiger kultureller und historischer Vergangenheit sind langfristige Markterfolge nur unter Beachtung dieser Parameter zu erzielen.1 Nach der grundsätzlichen Entscheidung, ggfs. auf dem indischen Markt unter den dort bestehenden Bedingungen aktiv zu werden, geht es in einem zweiten Schritt um die Klärung der Frage nach Art und Umfang des Engagements. Hier gibt es eine breite Palette von Möglichkeiten, beginnend beim Export von Fertigprodukten und dem Verkauf durch indische Agenturen über Joint-Ventures bis hin zu der Gründung eigenständiger Tochterunternehmen nach indischem Recht. Dabei sinkt stufenweise die Verwendung von Ressourcen im Stammland zugunsten des Aufbaus von Ressourcen in Indien. Drittens bildet die jeweils spezifische Zielsetzung des Unternehmens für den indischen Markt ein wichtiges Kriterium, wobei man sich an den positiven und negativen Kriterien eines Standortes in Indien orientieren kann. Die fünf wichtigsten Vorteile eines Unternehmensengagements in Indien sind nach Kaufmann et. al.: Niedrige Lohnkosten, Mitarbeiterqualifikation, Grundstückskosten, Nähe zu Zulieferern sowie hohes technisches Know-how, während als Nachteile gelten: Unzureichende Infrastruktur, Korruption, Bürokratie, geringer Schutz geistigen Eigentums sowie unzureichendes Lieferantennetzwerk2. Die Unternehmensentscheidung für ein Engagement in Indien und damit auf einem der Zukunftsmärkte der Weltwirtschaft bleibt dennoch mit Risiken behaftet, da das generelle Wachstum keine Garantie für das individuelle Produktportfolio, den konkreten Standort und die spezifischen Wettbewerbsbedingungen enthält. Es ist im klassischen Sinn eine Aufgabe des Schumpeterschen dynamischen Unternehmers, diese Risiken zu bewerten und gegebenenfalls positiv zu entscheiden. 1 2
Vgl. allg. Kutschker/ Schmid (2002), S.662, 686 ff. Vgl. Kaufmann et al. (2006), S. 24.
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Dies gilt aber auch umgekehrt, wenn indische Unternehmen in westliche Ländern expandieren, wie dies in letzter Zeit vor allem im IT-Bereich, der Pharmaindustrie und bei der Stahlproduktion der Fall war und ist. Für deutsche Unternehmen ist der Gedanke sicher gewöhnungsbedürftig, in indischen Unternehmen gleichberechtigte Partner zu sehen, hier ist die Wirklichkeit vor Ort (z.B. in und um Delhi, Mumbai, Bangalore) der Wahrnehmung in Europa bzw. Deutschland trotz der nicht zu leugnenden Probleme deutlich vorausgeeilt. Die Ergebnisse der zu Beginn des Artikels ausführlich referierten IMD-Länderstudie Indien aus dem „World Competitiveness Yearbook 2006“ haben dies eindrucksvoll belegt.
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
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B.3 EU and ASEAN/ASEAN+3: World Region Developments, FDI and Multinational Corporation Strategies*
1
Historical Background
The contacts between the European Union (EU) and the ASEAN member countries or the EU and the ASEAN +3 (Japan, China, South Korea) member countries respectively can be seen under the aspect of increasing international cooperation. New political and economic structures have developed, through which new forms of cooperation between the two world regions have emerged. Due to existing historical constellations the unification process in Europe has begun shortly after the Second World War and is characterized by intensive as well as political and economic rules. This is clearly expressed through the current form of the EU and its supporting institutions. This also includes the development of international contacts between the world regions. Altogether the European integration has been aligned politically, but the individual steps clearly proceeded following the economic characteristics of the harmonisation process (especially the customs union, the single market, the monetary union). In the political area, the cooperation in the ASEAN region initially set in on a rather low level in 1967. The more intensive internal and external coordinations in this world region have only developed in course of the economic dynamism in East- and South-East-Asia since the 1980s. Here, the economic level evidently follows the political level which itself is only increasingly successful through a strong economic impuls. Comprehensive improvements in the area of cooperation between countries and ASEAN +3 are therefore planned for 2005. Meanwhile it can be observed that in both centres an approach is pursued which embraces the rest of the world and in which an extended cooperation with Japan, China and South Korea is aimed at within the ASEAN group. Depending on the perspective, a look on the world map shows two different possible perceptions: On the one hand there is the „Global View by Europeans” which Europeans are typically accustomed to and on the other hand there is the „Global View by East-Asian-Pacific People” that clearly shows a different perception.1 For a realistic examination it has to be considered that both economic areas have close contacts to the United States of America as the third and most dominant large area of world-economic trade which is also expressed institutionally. Therefore one speaks of the „Transatlantic Partnership” when Eastern and West*
1
in: Welfens, P.J.J./ Knipping, F./ Chirathurat, S./ Ryan, C.: Integration in Asia and Europe, BerlinHeidelberg 2009, pp. 267-276. See Annex.
316
Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
ern neighbouring states of the Atlantic are meant. In contrast to this, the pacific area with its East American as well as West East-Asian neighbouring states is emerging especially in the 21st century. The so-called APEC-group (AsiaPacific-Economic Cooperation) currently counts 21 members and was founded in 1989 by the initiation of the then Australian and US-American presidents. There, the single countries are classified into the following groups: „Western Hemisphere”, „North-East-Asia”, „Oceania” and „Russia”. The fact that in 2001 three-quarters trade-flow in this enormous economic area have been conducted within the individual APEC member states shows how strongly interwoven these countries already are. The population of the APEC states amounts to about 2.4 billion people which is 40 percent of the world population. At the same time some of the states, namely the USA, Canada, Mexico and Russia are connected with the wider atlantic area. In different respects it is useful to have a closer look at the pacific area as one unity. Especially here in the asian-oceanic countries the growth rates of the national product only moderately exceed those of the world economy but strongly outgrow those in Europe, especially in Germany. At the same time, the basis of this growth is naturally much higher than in most of the Asian APEC states. Over decades though, this development would not stay without consequences for the worldeconomic distribution of power and general political structures. In the Asian countries there is a strong orientation of political goals at the growth conditions in globalised market economies. To the same extent this is also applicable for the Oceanic and American countries. Only Japan, from 1993 to 2003, after decades of dynamics got itself into a structural period of weakness which was homemade and caused through reform blockage. In any case, a new world economy centre is evolving. If it is the dominating one of the 21st century though is not yet decided.
2
Competition of Nations and World Competitiveness Report
The annual „World Competitive Report” from the „Institute for Management and Development” (IMD) in Lausanne gives a first hint about the processes and consequences which emerge from the two world regions. Based on 320 competitiveness criteria from four main competitiveness factors (Economic Performance, Government Efficiency, Business Efficiency and Infrastructure) this report „analyzes and ranks the ability of nations to create and maintain an environment that sustains the competitiveness of enterprises”1 and provides an objective benchmark. Focussing further on the ASEAN and ASEAN+3 states and the members 1
IMD (2004), p. 742.
317
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of the EU, the following ranking can be determined for selected countries for the years 2003 and 2004: Chart I: World Competitiveness ranking USA Singapore Canada Australia Iceland Hong Kong Denmark Finland Luxembourg Ireland Sweden Taiwan Austria Switzerland Netherlands Malaysia ... Germany Japan China Mainland Thailand Philippines Indonesia
2004 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
2003 1 4 6 7 8 10 5 3 2 11 12 17 14 9 13 21
21 23 24 29 52 58
20 25 29 30 49 57
Source: IMD World Competitiveness Ranking
A comparison with the situation ten years ago, around 1993 and ‘94, shows the scale of change: at that time only Japan, Hongkong, Singapore and Taiwan as East-Asian states were ranked among the first 25 countries. In the ascent of the South-East-Asian countries the increasing world economic weight and the successes of the economic development in this region are illustrated.
3
FDI between the EU and ASEAN-ASEAN+3
A substantial part of economic relations is based on the exchange of capital, goods and services. At the beginning, the trade with goods, in particular the export, is to the fore which in the continuous development is then succeeded by commitment of direct production in the foreign marketplace. In 1972, the European Economic Community (EEC) was one of the first partners to initiate informal contacts with ASEAN which were then officially established in 1980
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through the EC-ASEAN agreement. From the 1990s on, certain fundamental economic linkages had emerged through this cooperation. Such trade relations and economic development have been intensifying since then and both partners were able to significantly increase their market share in each other’s region. In 2003, EU-ASEAN trade flows increased by 6 percent and accounted for about 5 percent of all world trade. GDP growth of ASEAN+3 is expected to even rise to up to 6 percent in 2004. The EU still is the third largest trading partner of ASEAN, only the United Stated and Japan have larger trade flows with this region. In detail, the following empirical data can be found: Between 1980 and 2002 the volume of trade between the EU and the ASEAN countries developed as follows: Chart II: EU Trade with South East Asia
Source: Eurostat
In general, this significant increase can be observed in more or less all trade sectors. In terms of value, ASEAN exports to the EU in the past few years have been especially lead by machinery and manufactured goods (€29.1 bn), textiles and apparel (€6.1 bn), agricultural products (€6.1 bn) and chemicals. The largest value of ASEAN imports from the EU also came from product sections like machinery and manufactured products (€18.3 bn), chemicals (€5.4 bn) and transport material (€3.2 bn). While more than 30 percent of world GDP and 50 percent of international trade are still accounted for by Europe, Asia was able to more than double its share of world GDP and trade – it did so at the expense of North America as well as the developing and transitional countries respectively. This development not only shows the rapid outpace of Asian exports, but more crucially the increase of importance of the Asian region in world economy. Many European enterprises have therefore already recognized the ASEAN region their future growth market and as a gateway to the wider Asian Pacific area.
B Länder und Weltregionen
319
An essential characteristic for the depiction of the closer growing economic relations between the two large regions is shown through the analysis of the development of the FDI. In 2003, FDI to ASEAN grew by 48 percent to €16.8 bn. With €5.9 bn the EU accounted for 35 percent of all FDI in that year. Although the EU already is the third strongest investor in ASEAN, there are still possibilities to increase this share as the sums of investment from the two leading states Japan and America show. This becomes particularly evident when the two former colony powers, which claim the largest volume of FDI, are treated separately. In detail these are Great Britain with regards to Singapore, Thailand, Malaysia as well as the Netherlands with regards to Indonesia. With around $19 bn, the trade flows between ASEAN and Germany remained relatively low. Particularly remarkable is the drastic decline of 86 percent of FDI flows from Germany into ASEAN in 2003; especially as Germany had been one of the top ten investors of FDI in 2002 in this region. One possible explanation for this development is the growing attractiveness of China as the fastest growing market in the world for many products and as a new manufacturing centre. While from 1997 to 2001 FDI from China into the Asian region declined by 56 percent, investment flows into China rose by 6 percent in the same period.
4
Multinational Co-operations as Central Participants
Below the level of macro branches and regional data, multinational cooperations (MNCs) can be determined as the main protagonists of economic relations between the two regions. MNCs in particular have characteristically influenced trade relations and FDI-activities. The exchange of products often takes place within an enterprise or at least within a production network where the scale and direction of such activities is fixed by organisational objectives. For a more detailed depiction of these processes there are several economic models which can be applied. Two of them will now be explained briefly. These are 1 the Triad-Model by Ohmae 2 the Value-Chain strategy model by Porter
4.1 The Triad-Model In this model the world economy is divided into three main areas, which in the 1980s referred to the USA, Western Europe or the EU at that time and Japan. In connection with the world regional dynamics of the past 20 years one nowadays
320
Teil III: Internaationale Organisaationen und Globaalisierung
rather refers to Norrth America, the European n Union and East and Souuth-East Asia. b also parts of medium, globally g tradinng enterprises are enLaarge MNCs, but deavouured to be actiive in each off the three worrld economic regions, in paarticular with thheir own prodduction sites inn order to serve markets frrom there and for being ablle to claim loccal resources. The actual arrrangement thhough dependss on the individdual enterprisees and market conditions. Chart IIII: Triad model annd internationalisaation
V appproach 4.2 Value-Chain The deecision about how to exactly allocate thee locations off individual acctivities can deepicted througgh the „value--chain concep pt”. There, inddividual stepss of the producction of goods and servicees from raw material m to inntermediate annd final produccts are registerred and allocaated to severall locations of the t own enterrprise or on those of supplierrs. In individuual cases this may includee worldwide ddistribuwn that especiially European n enterprises in several casses find tion. Itt can be show attractiive conditionss of production in countriies of the AS SEAN or ASE EAN+3 group and a make corrresponding FD DI. The objecctives and deccisions about llocation vary juust as much as a the actual activities a which are exportted or outsourrced regardingg their producction. Inn the followinng chart the diifferent possib bilities for thee distribution of economic functions arre mentioned which proceeed from a national n refereence to wide distributiion and up to strategically optimised o locaations. worldw
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B Länder und Weltregionen Chart IV: Fundamental options for the design of value-chain strategies Endproduct
Valuechain
Raw materials
Concentration on pre-products
Concentration on end products
Distribution indifferent to the value-chain
Source: Koubek et al. 1996
5
Relevance of Innovations for Development and Dynamics
By using several indicators, economic relations and FDI can be identified through corporate strategies. In the past as well as in the present impulses have been released extensively from outside into the east-asian region. In particular cases though there currently already is an opposite development as the purchase of the British Rover-group by the Chinese Shanghai Car Corporation in 2004 shows. In the future it will be increasingly important that the economic development can be carried independently from the individual countries and regions. Here, the emphasis is placed on innovations and knowledge activities. In this respect it is interesting to read that R&D expenses are remarkably increasing in the East-Asian countries and occasionally exceed those of the European countries. Additionally, there are comprehensive educational reforms in several East-Asian countries, of which especially Singapore has to be mentioned as it aims to be the turntable of academic education and advanced training.1 In doing so, some of the ASEAN/ ASEAN+3 countries not only succeeded in managing the step from being a so-called „Catching-up-country” to being an „Endogenous-growth-country”, but have already become a major world competitor that successfully exports its own local brands (e.g. the Chinese brand Haier) 1
Frankfurter Allgemeine Zeitung (2005).
322
Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
which begin to threaten the position of established international brands. The EU has reacted to this shift in world competitiveness towards Asia amongst other things by forming a strategic partnership with members of this region.
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B Ländder und Weltregioonen
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World Map: Global View by Eastt-Asian-Pacifiic People
Source: www.mygeo.info w o (2010).
323
324
Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
B.4 BRIC-Staaten – Ein neues Zentrum der Weltwirtschaft
1
Einleitung
Im Jahr 2001 hat der Chef-Volkswirt der amerikanischen Investmentbank Goldmann Sachs, Jim O`Neill eine geniale Idee, um den Verkauf von Wertpapieren zu steigern. Er faßt die vier Schwellenländer Brasilien, Rußland, Indien, China zu einer Ländergruppe zusammen, nimmt jeweils den ersten Buchstaben der Ländernamen und bildet daraus das Akronym BRIC. Mit dieser Geburt der BRIC-Staatengruppe sind die vier Schwellenländer erfaßt, die sich durch geographische Größe, Bevölkerungszahl, Rohstoffreichtum und Wachstumsintensität auszeichnen, verbunden mit spektakulären Prognosen für die kommenden Jahrzehnte.1 Allein die Vorhersage, daß diese vier Schwellenländer im Jahre 2039 ein größeres aggregiertes Sozialprodukt haben werden als das der gegenwärtig sechs größten Industriestaaten der Welt, sorgt für weltweite Aufmerksamkeit. Seither haben sich die Diskussionen und Veröffentlichungen explosionsartig vervielfältigt und dies gilt auch für die entstandenen zahlreichen Finanzprodukte der Kapitalanleger in der großen Bandbreite zwischen hochspekulativen und relativ sicheren Varianten. Die folgenden Ausführungen stützen sich einerseits auf die in der grundlegenden wissenschaftlichen Literatur sowie in aktuell wirtschaftlichen und politischen Veröffentlichungen enthaltenen Argumentationen, andererseits auf die Erfahrungen, Eindrücke und Erlebnisse während der vier Studienreisen des Autors in die BRIC-Staaten, und zwar 2006 nach Indien, 2007 nach Rußland, 2008 nach China und 2010 nach Brasilien. An diesen Exkursionen nahmen Mitarbeiter des Lehrstuhls, Lehrbeauftragte, Doktoranden und Studierende teil, wobei auf dem Programm jeweils Besichtigungen und Besuche in Universitäten, Unternehmen, wirtschaftsnahen Organisationen standen, ergänzt um landesspezifisch kulturelle Programme.2 Eine vergleichende Assoziation bezieht sich auf die historischen, architektonischen, stadtsoziologischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen in den besuchten Metropolen. In jedem der vier Länder liegt eine Zweiteilung der Städtetypologie vor, indem einerseits die durch Macht, Dominanz, Strenge und etwas grobe Härte geprägten Metropolen bestehen (Delhi, Moskau, Peking, Sao Paulo) und andererseits entwickelten sich die stark kulturell orientierten, architektonisch ins Dekorative gehenden, musischen und geographisch jeweils am Meer liegenden Zentren (Bombay, St. Petersburg, Shanghai, 1 2
Vgl. Wilson/ Purushothaman (2003), p. 3. Vgl. Otto (2006), S. 11 zu Indien; Otto (2007), S. 14 zu Russland; Hilgenberg (2008), S. 61 zu China; Koubek (2010) zu Brasilien.
B Länder und Weltregionen
325
Rio de Janeiro). Geht man einen Schritt weiter und nimmt die in der chinesischen Philosophie vorhandenen Prinzipien Yang und Yin, die auch für männlich und weiblich stehen, so lassen sich die beiden Typologien der Metropolen in dieses Schema übertragen.
2
Stellenwert der BRIC-Staatengruppe in der Weltwirtschaft
Die unter den Schwellenländern von ihrem Potential her herausragenden vier in der BRIC-Gruppe zusammengefaßten Länder Brasilien, Rußland, Indien, China haben sich zu wirtschaftlich und politisch potenten Staaten entwickelt. Dies gilt für zahlreiche relevante Indikatoren, von denen im Folgenden die Flächen in km², die Bevölkerungszahlen, die Sozialprodukte, die jährlichen Wachstumsraten sowie die ausländischen Direktinvestitionen in die Untersuchung einbezogen werden. Aber auch herausragende einzelne Merkmale sind zu nennen, die sich sowohl aus einer historischen Perspektive als auch durch besondere Kriterien der Gegenwart ergeben. Die seit 2009 stattfindenden jährlichen Treffen der Staatspräsidenten dieser Länder und die Einrichtung einer eigenen Organisationsstruktur sind Ausdruck dieser gestiegenen Bedeutung und Selbstwahrnehmung. Bezogen auf die Fläche entfallen auf die vier BRIC-Staaten mit 38,5 Mio. km² rund 25% der Landmasse aller Staaten der Erde. Ein noch größerer Anteil ergibt sich bei der Bevölkerung, indem im Jahr 2008 in den BRIC-Staaten mit 2,81 Mrd. Menschen rund 42% der Weltbevölkerung von insgesamt 6,7 Mrd. Menschen lebten. Hier dominierten die beiden asiatischen Staaten China und Indien eindeutig, auf die allein ein Weltbevölkerungsanteil von rund 37% entfiel. Von der Altersstruktur her besitzen Indien und Brasilien die jüngsten Bevölkerungen, gefolgt von der durch die Ein-Kind-Politik allmählich alternden chinesischen Gesellschaft, während in Rußland seit dem Zusammenbruch des Kommunismus im Jahre 1990 die Geburtenraten extrem stark gefallen sind, so daß sich hier eine stark überalterte und schrumpfende Bevölkerung entwickelt.1 Fragt man nach der regionalen Verteilung der Bevölkerung in den einzelnen Ländern, so zeigt sich eine starke Tendenz zur Verstädterung. So lebten 2005 in China mit 532 Mio. Menschen rund 40% in Städten, in Indien waren es mit 317 Mio. Personen knapp 30%, in Rußland betrug der Anteil 73% von 146 Mio. Einwohnern und in Brasilien erreichte dieser Wert sogar 86% von rund 190 Mio. Einwohnern. Weltweit überschritt im Jahr 2008 die Zahl der Menschen, die in städtischen Siedlungsgebieten lebten, erstmals die 50% Grenze und dieser Anteil wird weltweit in den kommenden Jahrzehnten stark steigen.
1
Vgl. UN: World Population Report To 2300 (2004).
326
Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
Eine zumindest für die Gegenwart deutlich geringere Bedeutung der BRICStaaten ergibt sich bei der Gewichtung des Anteils am Weltsozialprodukt1. Hier lag für 2007 in USD (US-Dollar) die Absolutzahl der BRIC-Staaten bei 8.760 Mrd. und weltweit bei 60.600 Mrd., was einem Anteil von 14,5% oder einem Siebtel entsprach. Auf der Basis der Purchasing Power Parity (PPP) betrug der Anteil im Jahr 2007 jedoch bereits rund 22%, da die Kaufkraft in den BRICStaaten auf Dollarbasis deutlich höher lag als in den entwickelten Ländern.2 Wegen der in den BRIC-Staaten überdurchschnittlichen Wachstumsraten wird in den kommenden Jahrzehnten ein starker Anstieg des Anteils dieser Ländergruppe am Welt-BIP erwartet. In der die BRIC-Diskussion auslösenden Studie von Goldman Sachs vom Oktober 20033 sind folgende BRIC-Anteile am Welt-BIP prognostiziert: für 2020 (28%); für 2030 (39%); für 2040 (50%); für 2050 (60%). Selbst wenn es im tatsächlichen Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung zu deutlichen Korrekturen kommen sollte, so sind die epochalen Verschiebungen in der Struktur und Verteilung des Weltsozialprodukts evident und tiefgreifend. Seit der Veröffentlichung der Studie im Jahr 2003 zeigen die Abweichungen sogar eine noch stärkere bzw. zeitlich schnellere Verschiebung zugunsten der BRIC-Staaten, wobei dies bereits vor der Finanzkrise 2008 erkennbar war. Ein etwas anderes Bild zeigt sich, wenn das Sozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung ermittelt wird. Auf USD-Basis verdoppeln sich in diesen Prognosen zwischen 2010 und 2050 die Werte in den entwickelten Volkswirtschaften, während sich diese in den BRIC-Staaten in den kommenden 40 Jahren um folgende Faktoren erhöhen sollen: Brasilien (7,8), Rußland (8,3), Indien (21,6), China (14,0). Eine wesentliche Ursache für den Aufstieg der BRIC-Staaten liegt neben den strukturellen Wirtschaftsreformen in dem starken Anstieg der ausländischen Direktinvestitionen (Foreign Direct Investments - FDI´s), durch die einerseits für die Unternehmen aus den entwickelten Ländern neue Märkte und Gewinnchancen erschlossen werden, es andererseits aber auch zu einem in der weltwirtschaftlichen Entwicklung bisher beispiellosen Transfer von Technologien, Know-how und Wissen kommt. Dieser Prozeß wird durch den Austausch von Personen und Informationen im wissenschaftlichen Bereich der akademischen Ausbildung noch verstärkt. Auf diese Weise entstehen langfristige Vernetzungen auf allen wesentlichen sozioökonomischen Ebenen einer künftigen globalen Weltwirtschaftsordnung, die dann ihrerseits neue Optionen für den Wettbewerb um die Innovationen auf breiter Basis zwischen den einzelnen Ländern und Kontinenten hervorbringen werden. 1
2 3
Im Folgenden werden die Ausdrücke Welt-Bruttoinlandsprodukt (Welt-BIP) bzw. englisch World Gross Domestic Product (World-GDP) verwendet. Vgl. Deutsche Bank Research (2008), p. 7. Vgl. Wilson/ Purushothaman, (2003), p. 4.
B Länder und Weltregionen
327
In Zahlen ausgedrückt ergibt sich für 2008 ein in zweifacher Hinsicht bemerkenswertes Bild: Zunächst ist festzustellen, daß sich der Abstand zwischen den BRIC-Staaten im Zufluß an FDI-Beträgen gegenüber früheren Jahren deutlich vermindert hat. Dies gilt insbesondere im Bezug auf China, das z.B. 1995 rd. 80% aller Direktinvestitionen in die BRIC-Staaten erhielt. Nach einem Rückgang auf rund 50% im Jahr 2000 lag der chinesische Anteil 2005 wieder bei über 70%, während 2008 nur noch rund 37% der in die BRIC-Staaten geflossenen Direktinvestitionen im Gesamtumfang von rund 250 Mrd. USD auf China entfielen. Weiterhin sei erwähnt, daß von den globalen FDI-Mitteln im Jahr 2008 im gesamten Umfang von rund 1.700 Mrd.USD auf alle BRIC-Staaten knapp 15 % entfielen.1 Als zweite Tendenz ist die zunehmende Bedeutung von FDI-Kapitalexporten aus den BRIC-Staaten als Ausdruck der wachsenden Verflechtung der Weltwirtschaft auf Unternehmensebene zu nennen. So ergab sich für 2008 ein Gesamtbetrag von fast 142 Mrd. USD, wovon auf China und Rußland je 52 Mrd., auf Brasilien 20,5 Mrd. und auf Indien 18 Mrd. USD entfielen. Diese Mittel flossen vor allem in die Energie- und Rohstoffsektoren, spezielle industrielle Weiterverarbeitungssektoren und Branding-Marken im Konsumsektor.2 Betrachtet man die wirtschaftlichen Schwerpunkte der einzelnen BRICStaaten, so zeigen sich historisch bedingt deutliche Unterschiede. Diese lassen sich einem Bonmot entsprechend wie folgt bezeichnen: 3 x x x x
Brasilien ist die Rohstoff- und Agrozentrale der Welt Rußland ist die Zapfsäule der Welt Indien ist die Denkfabrik der Welt China ist die Fabrik der Welt
Überhebliche, kritische, realistische oder auch nur böse Zungen behaupten in diesem Zusammenhang noch: Europa ist das Museum der Welt.
3
Sozioökonomische Strukturen und Unternehmen in den BRIC-Staaten
Zum Verständnis jedes Landes gehört neben der aktuellen Strukturübersicht auch ein Minimum an historischen Kenntnissen. Daher folgt nach einer kurzen sozioökonomischen Einführung für jedes der vier Länder eine kurze historische Betrachtung, der sich die Analyse zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit anschließt. Hierzu wird das jährlich vom International Institute for Management 1
2 3
Vgl. UNCTAD (2009), pp. 3-5, 49-54, 64-68, 72,76, 79-86; Deutsche Bank Research (2008), pp. 10-12. Vgl. UNCTAD (2009), ebenda. Vgl. Wirtschaftwoche (2007), S. 49 sowie in ähnlichem Sinn: Hirn (2007) S. 83-169.
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
Development (IMD) in Lausanne herausgegebene „World Competitiveness Yearbook“ ausgewertet, wobei der Schwerpunkt auf 2009 liegt. Darin enthalten sind sehr differenzierte qualitative und quantitative Beschreibungen von fast 60 Ländern unter Einfluß der vier BRIC-Staaten, indem für jedes Land rund 300 Kriterien ausgewertet werden. Die Einzelkriterien werden in vier Hauptgruppen mit einem Gewichtungsfaktor von jeweils 25 % zusammengefaßt, und zwar in die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit (economic performance), Regierungseffizienz (government efficiency), Unternehmenseffizienz (business efficiency) und Infrastruktur (infrastructure). In einer Übersicht erfolgt eine Zusammenstellung verschiedener Unternehmen aus den jeweiligen BRIC-Ländern, die auf dem Weg zu international leistungsfähigen Organisationen sind, sofern sie diese nicht bereits erreicht haben. Mit dieser sowohl theoretischen als auch empirischen Spurensuche in den BRIC-Staaten werden die Grundlagen für die anschließende Bewertung der Themenstellung gelegt, in wieweit und warum in diesem Teil der Welt geographisch, politisch und wirtschaftlich ein neues Zentrum entsteht. Damit sind die methodischen Voraussetzungen geschaffen, die Länder nach einheitlichen Kriterien zu skizzieren und miteinander zu vergleichen. Im Anschluß an die jeweiligen Landesbiographien erfolgen einige Angaben zu repräsentativen, auch international wettbewerbsfähigen Unternehmen aus den jeweiligen BRIC-Staaten. Gerade das auf einzelwirtschaftlicher Ebene feststellbare Potential bei den Produkten und dem Absatz von Gütern und Dienstleistungen sowie der Fähigkeit zur Innovation in Produkte, Prozesse, Organisationsformen, soziale und ökologische Nachhaltigkeit enthält die prägenden Merkmale eines sich abzeichnenden weltwirtschaftlichen Strukturwandels mit weitreichenden Konsequenzen gerade für die entwickelten Länder des Westen
3.1 Brasilien Wirtschaftsstruktureller Überblick Brasilien war im Jahr 2008 mit seinen knapp 200 Mio. Einwohnern und einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von rd. 2.000 Mrd. USD in Kaufkraftparitätseinheiten (PPP) das bevölkerungsmäßig fünftgrößte Land und das nach der Wirtschaftsleistung in PPP zehntgrößte Land. Das BIP im Maßstab der offiziellen Wechselkursparität lag bei rd. 1.600 Mrd. USD. Die jährliche Wachstumsrate im vergangenen Jahrzehnt schwankte mit steigender Tendenz zwischen 2 und 6 %, die Wirtschaftsstruktur, gemessen an der Verteilung des BSP ergab für 2008 einen Anteil des Agrarsektors von 6,7 %, des Industriesektors von 28% und des Dienstleistungssektors von 65,3%. Dahinter verbirgt sich eine zweigeteilte wirtschaftliche Wirklichkeit: Einerseits gibt es in hohem Maße Kleingewerbe im Ag-
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rar-, Industrie-, Handwerks- und Dienstleistungssektor, andererseits stützt sich die brasilianische Wirtschaft im internationalen Handel und Wettbewerb auf zahlreiche auch branchenmäßig breit gestreute leistungsfähige Groß- und Mittelstandsunternehmen. Gerade in den letzten Jahren und auch in der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise ist deren Bedeutung sichtbar geworden, wobei insbesondere die großen Unternehmen der Agroindustrie, Rohstoff- und Energiewirtschaft, im Flugzeug- und Automobilbau sowie im Maschinenbau zu nennen sind.1 Von besonderer Bedeutung für die weitere Entwicklung des Landes sind neben den schon bekannten hohen metallurgischen Rohstoffreserven die erst kürzlich entdeckten und auch im weltweiten Maßstab umfangreichen Offshore Öl- und Gasvorkommen vor der Atlantikküste. Historische Entwicklung Das flächenmäßig fünftgrößte Land der Erde hat eine relativ kurze schriftlich festgehaltene Geschichte von rund 500 Jahren.2 Vor der Entdeckung durch die Portugiesen im Jahre 1500 bestanden im Gebiet des heutigen Brasilien einzelne regionale Herrschaftsräume mit unterschiedlichen Ethnien und verschiedenen Naturreligionen bei einer einfachen agrarisch-manufakturbezogenen Wirtschaftsweise, die teilweise noch vor der mit der Seßhaftigkeit verbundenen agrarischen Revolution lag. Die Zahl der Einwohner lag um 1500 bei geschätzten 1 Mio. Personen. Bereits kurz nach der Entdeckung Amerikas 1492 durch Kolumbus einigten sich die Könige von Spanien und Portugal unter Vermittlung des Papstes im Jahre 1494 über die Aufteilung der Welteinflußzonen und Portugal begann, Brasilien von der Küste her zu kolonisieren. Alle Versuche der anderen europäischen Kolonialmächte scheiterten, eigene Stützpunkte in Brasilien aufzubauen. In den folgenden Jahrhunderten bis 1822 wurden zur Bearbeitung der Plantagen in den küstennahen Regionen zunächst einheimische Indios als Sklaven eingesetzt, die aber zunehmend durch die kräftigeren afrikanischen Sklaven ersetzt wurden. Man schätzt die Zahl aller nach Brasilien bis 1870 aus Afrika verschleppten Sklaven auf rund 1,5 Millionen, die insbesondere in den Haushalten und im Gewerbe, aber vor allem auf den Zuckerrohr-, Mais-, Obst-, Kaffee- und Gummiplantagen sowie ab dem 17. Jhdt. in den Gold- und Metallminen eingesetzt wurden. Im Zuge der Napoleonischen Kriege in Europa verlegte der portugiesische König 1808 seinen Sitz vorübergehend von Lissabon nach Rio de Janeiro und kehrte 1815 nach Portugal zurück. Der vor allem von der britischen Krone militärisch und logistisch unterstützte Befreiungskampf von Simón Bolívar gegen die 1 2
Vgl. Busch (2009); CIA-The World Factbook (2009), part: Economy. Vgl. Bender (2007), S. 19 ff.
330
Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
spanischen und portugiesischen Kolonialmächte führte 1822 zur Unabhängigkeit Brasiliens in Form eines eigenen Kaiserreichs. Im 19. und 20. Jhdt. wechselten sich Diktatoren und Zivilregierungen in regelmäßiger Reihenfolge ab, die Sozialstruktur war sehr hierarchisch gegliedert und wurde von einer zahlenmäßig geringen weißen Oligarchie dominiert, die Wirtschaftsaktivitäten waren eng mit der westlichen Industrialisierung in Europa und den USA verbunden und die Sklaverei wurde rechtlich bis Mitte des 19. Jahrhunderts und faktisch bis 1888 beibehalten. Die Integration in die Weltwirtschaft war sehr selektiv und von unterschiedlichem Erfolg, wobei insgesamt der angelsächsische Einfluß dominierte. Diese Bedingungen begannen sich erst gegen Ende des 20. Jhdts. zu ändern, als sich durch das starke Wachstum der zunehmend globaler werdenden Wirtschaftbeziehungen und der Ausweitung der Produktion gerade auch in den neuen Schwellenländern die Nachfrage nach Rohstoffen und Nahrungsmitteln bei steigenden Preisen deutlich erhöhte und die bereits erwähnten bedeutenden Öl- und Gasvorkommen entdeckt wurden. Gleichzeitig setzte sich über mehrere Wahlperioden ein demokratisch abgesichertes Regierungssystem durch, das erstmals in der brasilianischen Geschichte das Land bei wirtschaftlich zunehmend konsolidierten Bedingungen international in eine starke Position brachte. Als Höhepunkte dieser veränderten politischen und wirtschaftlichen Bedingungen kann man die in den Jahren zwischen 2010 und 2016 geplanten internationalen Großveranstaltungen in Brasilien nennen. So findet 2010 das zweite Gipfeltreffen der BRIC-Staatengruppe in Brasilien statt, 2014 lädt dieses Land zur Fußballweltmeisterschaft ein und 2016 werden die Olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro ausgetragen. Internationale Wettbewerbsfähigkeit Brasilien nimmt 2009 unter 57 Ländern in dem World Competitiveness Yearbook1 insgesamt den Platz 40 ein. Dies ist in der Rangfolge seit 2005 die beste Plazierung, wobei 2007 lediglich Platz 49 erreicht wurde. Bei den vier Hauptgruppen des Ranking ergeben sich für 2009 folgende Positionen: Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit (31), Regierungseffizienz (52), Unternehmenseffizienz (27), Infrastruktur (46). Daraus erfolgt eindeutig, daß sowohl die Effizienz der Regierungen auf Zentral-, Regional- und Lokalebene zu verbessern ist als auch die Infrastruktur den neuen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen nicht mehr genügen kann. In beiden Kategorien ist in dem genannten Zeitraum der letzten fünf Jahre sogar eine leichte Verschlechterung festzustellen.
1
Vgl. IMD (2009), pp. 48-49.
B Länder und Weltregionen
331
Vor dem Hintergrund der 2008 entstandenen Weltfinanz- und davon abgeleitet Weltwirtschaftskrise verlief die Entwicklung in Brasilien relativ günstig. Weder gab es nennenswerte Probleme im Finanzsektor noch brach der Konsum in größerem Umfang ein. Auch die Rohstoff- und Nahrungsmittelmärkte sind erstaunlich stabil geblieben und im Energiesektor waren keine Engpässe zu erkennen. Dies führte z.B. 2009 zu einer starken Aufwertung des brasilianischen Real gegenüber dem US-Dollar (+70%) und dem Euro (+35%), wobei der Real als weltweit stärkste Währung an den Devisenmärkten gehandelt wurde. Das unterdessen wieder erreichte starke Wirtschaftswachstum von vier bis fünf Prozent p. a. führte seit Anfang des neuen Jahrtausends zu einem deutlichen Anwachsen einer neuen Mittelschicht. Damit verringerte sich die Schiefverteilung bei den Einkommen geringfügig und bei zahlreichen Familien verbesserten sich die Lebensbedingungen. Die großen Probleme des Landes liegen einerseits im Ausmaß von Gewalt und Kriminalität in den großen Metropolen, auf der anderen Seite bei der überbordenden staatlichen Bürokratie bis hin zu Korruption. Brasilien ist von der Staatsform her eine westliche Demokratie mit christlicher Kultur und verbindet als einziges Land in der BRIC-Staatengruppe diese Merkmale. Von daher bleibt der Erfolg des brasilianischen Entwicklungsweges im Wettbewerb mit den anderen Gesellschaftsmodellen der BRIC-Staaten und der sonstigen Schwellenländer nicht ohne Konsequenz für die weltweite Akzeptanz des westlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells.1 Brasilianische Unternehmen Die Unternehmensstruktur der brasilianischen Wirtschaft ist breit gestreut nach Branchen, Größe der Unternehmen und dem Grad der Internationalisierung. Wie im IMD-Yearbook 2009 festgestellt wurde, ist die „Business Efficiency“ gut entwickelt, es gibt vom Markt und der Nachfrage her, von der technologischen Neuerung und Innovationsfähigkeit sowie auf Seiten der Finanzierung international wettbewerbsfähige Bedingungen, die sich durch die Reformen Mitte der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts allmählich herausgebildet haben. Vor allem die Mischung aus Staatskonzernen einerseits sowie privaten Großunternehmen und leistungsstarken Familienunternehmen in allen Sektoren der Wirtschaft andererseits zeigten eine auch international beachtliche Wettbewerbsfähigkeit. In einem auf den Weltmarkt bezogenen Vergleich der bedeutendsten Unternehmen finden sich erstaunlich viele brasilianische Namen, von denen hier die 10 Folgenden aufgeführt werden.
1
Vgl. Busch (2009), S. 4.
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung x x x x x x x x x x
Brasil Foods (weltweit größter Produzent von Geflügel und einer der größten Nahrungsmittelkonzerne) CBMN (Weltmarkt Monopolanbieter für das Metall Niob) Cosan (einer der weltweit größten Agrar-Konzerne) Embraer (weltweit drittgrößter Flugzeugbaukonzern) Grupo Andrè Maggi (weltgrößter Sojaproduzent) InBev ( weltgrößter Braukonzern) JBS-Friboi (weltgrößter Rindfleischexporteur) Petrobras (weltweit börsenkapitalmäßig neuntgrößter Konzern) VALE (weltweit zweitgrößter Bergbaukonzern) WEG (einer der drei Weltmarktführer für Elektromotoren)
Diese und andere Unternehmen zeichnen sich häufig durch eine flexible Organisationsstruktur, durch eine starke Betonung der identitätsstiftenden Unternehmenskulturen sowie hohe Wachstumsraten, verbunden mit überdurchschnittlichen Umsatzsteigerungen und Rentabilitätskennziffern aus. Die Fertigungstiefe ist meist höher als in europäisch-nordamerikanischen Unternehmen und die brasilianischen Unternehmen operieren auf den Märkten sowohl der entwickelten Länder der OECD als auch in Schwellen- und Entwicklungsländern. Damit sind sie gut vorbereitet, im Sinne von Prahalad auch am „Bottom of the Pyramid“ mit einem Durchschnittseinkommen von rund 1 USD pro Tag zu expandieren und nicht nur an der Spitze mit relativ hochpreisigen Produkten.1
3.2 Rußland Wirtschaftsstruktureller Überblick In Rußland lebten 2008 rund 145 Mio. Menschen, das Bruttoinlandsprodukt betrug in Kaufkraftparitäten (PPP) 2.270 Mrd. USD und in Nominalwerten auf der Basis der offiziellen Wechselkurse rund 1.680 Mrd. USD. Dies entsprach der neuntgrößten Bevölkerungszahl und dem siebtgrößtem Bruttoinlandsprodukt (in PPP) weltweit. Nach den großen wirtschaftlichen Problemen in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kam es in diesem Jahrzehnt zu einem starken Wirtschaftswachstum von bis zu 8% p.a.. Die Mitte 2008 ausgebrochene weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise hat Rußland von allen BRIC-Staaten am stärksten getroffen, so daß das Sozialprodukt 2009 um rund 8% gesunken ist und gleichzeitig der Staatshaushalt in Finanzprobleme geriet, der in hohem Maße von den Rohstoff- und Energiemarktpreisen abhängt.
1
Vgl. Wirtschaftswoche (2007), S. 49 ff.
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Die Wirtschaftsstruktur zeigt rein quantitativ eine postindustrielle Sektorenverteilung, wobei das BIP 2008 zu 4,7% im Agrarsektor, zu 37,6% im Industriesektor und zu 57,7% im Dienstleistungssektor entstanden ist.1 Insgesamt liegt eine extrem einseitige Ausrichtung der Wirtschaft auf den bereits international vernetzten Rohstoff- und Energiesektor vor, während fast alle übrigen Branchen sowie die Infrastruktur einen hohen Modernisierungsbedarf aufweisen. Historische Entwicklung Die rund 1000-jährige, in Schriftform vorliegende historische Entwicklung Rußlands2 zeigt sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zur nord-, mittel-, süd- und westeuropäischen Geschichte, was auch zum gegenwärtigen Verständnis dieses Landes und seiner gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen von erheblicher Bedeutung ist. Die Anfänge einer großflächigeren regionalen Herrschaftsform entstanden im 9. Jhdt., als skandinavisch-normannische Volksstämme zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer zahlreiche Handelsniederlassungen errichteten, von denen die in Kiew ansässigen RUS den bedeutendsten Einfluß erlangten. Um 1000 erfolgte von Byzanz aus die Christianisierung und damit wurde das Land an dem orthodoxen Zweig des Christentums ausgerichtet. Hierdurch war Rußland kulturell-religiös von den westlich-römisch-abendländischen Teilen des Kontinents getrennt, die später in den Epochen der Renaissance, Reformation und Aufklärung das wissenschaftlich-rationale Weltbild, die Industrialisierung und demokratische Herrschaftsformen hervorbrachten. Die Gräben zum Westen wurden durch die 150-jährige Mongolenherrschaft zwischen Mitte des 13. und Ende des 14. Jhdts. noch vertieft, als sich despotische Gesellschafts- und Sozialstrukturen durchsetzten, die im übrigen Europa unbekannt waren. Mit der Befreiung von dieser Fremdherrschaft rückte Moskau als neues Zentrum in den Mittelpunkt eines auf absoluter und zum Teil auch absolutistisch-schrecklicher Herrschaft aufgebauten Staates unter Iwan dem IV. (auch Iwan der Schreckliche genannt). Peter der Große verlegte um 1700 den Regierungssitz in die neu gegründete und nach Westen orientiere Hauptstadt St. Petersburg an die Ostsee. Sowohl wirtschaftlich als auch sozial blieb die Mehrheit der Bevölkerung agrarisch orientiert und in Leibeigenschaft abhängig, die erst Mitte des 19. Jhdts. gesetzlich und gegen dessen Ende faktisch aufgehoben wurde. Dennoch wurde Rußland ab dem 18. Jhdt. ein zentraler Partner auf der europäischen politischen Bühne und die Oberschicht sowie die Kulturträger waren eng mit den mittel- und westeuropäischen Dynastien und Zentren verbunden. 1 2
Vgl. The CIA World Factbook (2009) pp. 8-9. Vgl. Nolte (2003); Bender (2007), S. 74 ff.
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
Nach Süden und Osten baute Rußland ein eurasisches, transkontinentales Imperium vom Kaukasus über die mittelasiatischen Städte und Länder, über Sibirien bis zu den Grenzen Chinas und des Pazifik aus, das in seiner größten Ausdehnung Anfang des 20. Jahrhunderts mit rund 22,4 Mio. km² fast ein Sechstel der Erdoberfläche umfaßte und sich über 11 der 24 Zeitzonen der Erde erstreckte. Es war das größte jemals geschaffene zusammenhängende Land in der Geschichte der Menschheit. Entscheidend waren für die Weiterentwicklung des Landes die tiefgreifendenden Ereignisse im 20. Jhdt. mit dem Sturz des Zarentums und der Oktoberrevolution 1917 durch Lenin, der Gewaltherrschaft durch Stalin, dem Zweiten Weltkrieg mit seinen fast 30 Mio. Toten auf sowjetischer Seite, dem anschließenden Kalten Krieg, dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft in den Jahren 1989/90 sowie der Auflösung der Sowjetunion 1991. Im Übrigen wurde 1918 die Hauptstadt von St. Petersburg wieder nach Moskau zurück verlegt. Die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion folgenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwandlungen in Rußland führten in den 90er Jahren zu erheblichen Veränderungen im Zuge der Privatisierung weiter Teile der Staatswirtschaft, der unkoordinierten wirtschaftlichen Liberalisierung ohne entsprechende politisch-institutionelle Strukturen mit einem zeitgleichen Rückgang des Sozialproduktes in wenigen Jahren um fast 50%, bei gleichzeitiger Meinungsfreiheit auf der einen Seite und Massenarbeitslosigkeit und dem Entstehen einiger privater, extrem reicher Oligarchen andererseits. Dieser wirtschaftliche Niedergang änderte sich seit Ende der 90er Jahre mit der von Putin und seiner Partei entwickelten und zunächst autoritär gestalteten „gelenkten Demokratie“ bei stark eingeschränkter Pressefreiheit und dem Fortbestehen einer hohen privaten und staatlichen Korruptionsrate. Internationale Wettbewerbsfähigkeit1 Rußland wurde in dem 2009 veröffentlichtem World Competitiveness Yearbook des IMD unter den 57 Ländern auf Platz 49 positioniert, nach Platz 47 im Jahre 2008 und 45 im Jahr 2005. Bei den vier Hauptgruppen der Bewertung ergaben sich folgende Positionen: Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit (49), Regierungseffizienz (39), Unternehmenseffizienz (54), Infrastruktur (38). Mit dieser Bewertung nimmt Rußland von allen vier BRIC-Staaten den letzten Platz ein. Vor allem fällt die extrem schlechte Plazierung der Unternehmenseffizienz auf, was darauf hindeutet, daß die Voraussetzungen für unternehmerisches Handeln sowohl von Seiten des Managements als auch der staatlichen Rahmen1
Vgl. IMD (2009), pp. 48-49; CIA - The World Factbook, Russia (2009), part: Economy
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bedingungen sehr schlecht sind. In den beiden anderen Kategorien der Regierungseffizienz und der Infrastruktur zeigen sich deutlich bessere Positionen. Die russische Wirtschaft steht in den kommenden Jahren vor hohen Belastungen im Hinblick auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit, wobei als eine der Folgen der Renationalisierung von Teilen der Wirtschaft das staatliche Handeln durch den erneuten Aufbau von dominanten Staatskonzernen in politisch ausgewählten Schlüsselbranchen von entscheidendem Einfluß sein wird. Die Modernisierung der bis zum Ende der Sowjetunion stark mechanisch geprägten Industrie in allen wesentlichen Bereichen außerhalb der Rüstungs- und Weltraumindustrie steht als Priorität für künftiges Handeln ebenso fest wie die Zurückdrängung der Korruption im Umgang mit Behörden und privaten sowie öffentlichen Geschäftspartnern. Auch zeigt das Rechtssystem erhebliche Defizite, gemessen an rechtsstaatlichen Maßstäben. Die eindeutigen Schwerpunkte der Wirtschaftsstrukturen Rußlands liegen weiterhin auf den Gebieten der Rohstoff- und Energiepolitik. Hier sind Ende 2009 zwei wichtige Vorgänge anzumerken: Erstens ist der Bau der OstseeGaspipeline von St. Petersburg nach Deutschland endgültig beschlossen worden und mit einer Aufnahme der ersten Gaslieferungen wird 2011 gerechnet und zweitens wurden im Dezember 2009 der neue Pazifikhafen in der ostsibirischen Stadt Kosmino eröffnet und die erste Etappe der 2.700 km langen Ölpipeline freigegeben. Damit soll der Zugang zu den ostasiatisch-pazifischen Abnehmern erleichtert und die Abhängigkeit von den bisher politisch störanfälligen Lieferungen nach Westeuropa vermindert werden.1 Russische Unternehmen Die Unternehmen in Rußland sind in ihrer großen Mehrheit weiterhin in Staatseigentum bzw. vom Wohlwollen staatlicher Organe abhängig. Eindeutig dominierend sind die großen Konzerne und Konglomerate, während eine mittelständische Wirtschaft, verbunden mit Neugründungen in zukunftsfähigen Sektoren, kaum wahrnehmbar ist. Damit ist auch die Innovationspolitik in neue Produkte, Prozesse und Organisationsformern weiterhin stark auf staatliche Institutionen fixiert, mit entsprechend negativen Auswirkungen bezüglich der erforderlichen Kreativität und Flexibilität in den Unternehmen. Im Folgenden wird eine Auswahl von 10 russischen Unternehmen gegeben, die staatlich oder privat in den letzten Jahren oder Jahrzehnten als Leistungsträger der russischen Wirtschaft in Erscheinung getreten sind und die auch in Zukunft auf den nationalen und internationalen Märkten verstärkt auftreten werden.2 1 2
Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung (2009). Vgl. Pelle (2007), pp. 175-178.
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung x x x x x x x x x x
Atomenergoprom (größter Nuklearenergiekonzern) EPAM ( Softwareentwicklungsunternehmen) Gazprom (weltweit größter Gasproduzent) Lukoil (großer Erdölkonzern) MMC Norilsk Nickel (Nichteisenmetall-Konzern) Rosneft (größter staatlicher Erdölkonzern) Rusal (Weltgrößter Aluminiumhersteller) Severstal (Stahlkonzern) SOK-Gruppe (Kfz-Zulieferungsunternehmen) Sukhoi (Flugzeugsbaukonzern)
Im Zuge der Modernisierung werden die russischen Unternehmen und Konzerne in einer wachsenden Anzahl zu Kooperationen mit westlichen Unternehmen, aber zunehmend auch mit wettbewerbsstarken Unternehmen aus anderen Schwellenländern übergehen, um die Lücken in der Markterschließung, der Technologieentwicklung und des modernen Managements zur Führung großer Unternehmen zu schließen.
3.3 Indien Für wesentliche Darstellungen des BRIC-Staates Indien kann auf den 2006 erschienenen und in Teil III dieser Veröffentlichung wiedergegebenen Artikel des Autors1 „Indien im weltwirtschaftlichen Wettbewerb“ verwiesen werden, wobei hier vor allem eine Aktualisierung des damals vorgelegten Materials erfolgt. Wirtschaftstruktureller Überblick Der Aufstieg der indischen Wirtschaft seit den grundlegenden Reformen von 1991 hat sich auch in den letzten Jahren fortgesetzt, erreichte vor der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2006 eine Wachstumsrate von rd. 10% und noch im Jahr 2008 wurden beachtliche 7,4% erzielt. Mit einer Einwohnerzahl von rund 1,1 Mrd. Menschen im Jahre 2008 hatte Indien nach China die zweitgrößte Bevölkerung weltweit. Das Bruttoinlandsprodukt betrug in Kaufkraftparitätseinheiten (PPP) rund 3.300 Mrd. USD, was den fünften Platz im weltweiten Ranking bedeutete, während die Daten des BSP auf der Basis des offiziellen USD-Wechselkurses etwa 1.200 Mrd. USD ergaben. 60% der Erwerbstätigen arbeiteten 2008 in der Landwirtschaft, 12% in der Industrie und 28% im Dienstleistungssektor. Das BSP setzte sich jedoch deutlich abweichend von diesen Beschäftigungszahlen zusammen, und zwar entfielen auf
1
Vgl. Koubek (2006), S. 3-23.
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den Agrarsektor 17%, den Industriesektor 29% und den Dienstleistungssektor 54%.1 Aus diesem Zahlenvergleich wird erkennbar, wie stark die indische Gesellschaft sozial von der Landwirtschaft und wirtschaftlich bei relativ geringem Industrieanteil vom Dienstleistungssektor abhängig ist. Für das weitere Wachstum der indischen Wirtschaft mit ihren riesigen Nachfrage-Potentialen sind nach wie vor der zügige Ausbau der Infrastruktur auf allen Ebenen und in alle Richtungen, die Zurückdrängung der staatlich-bürokratischen Hürden und vor allem auch der Korruption von entscheidender Bedeutung. Historische Entwicklung Indien blickt auf eine 5000 - 6000 Jahre alte Geschichte zurück, die sich in vier große Epochen einteilen läßt. Zunächst sind in der ersten Epoche um 2500 bis 2000 v. Chr. die Hochkulturen am Indus zu nennen, gefolgt von der aus Mittelasien kommenden arischen Invasion ab Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr., die bis heute im religiösen Schrifttum und in der faktisch immer noch vorhandenen Kasteneinteilung nachwirkt. Eine erste und über viele Jahrhunderte auch einmalige Zusammenfassung fast des gesamten indischen Subkontinents fand zwischen 274 und 232 v. Chr. durch König Ashoka statt, der mit Ausnahme des äußersten Südens ganz Indien in seine Herrschaft einbezog. Eine zweite Epoche entstand im Zusammenhang mit der Ausdehnung des Islam von Norden und Westen aus in den indischen Subkontinent. Ab dem 11. Jhdt. fanden von Norden her türkisch-afghanische Stämme die Möglichkeit, ihren Herrschaftsanspruch in diesem Land auszudehnen und dort die Oberschicht zu stellen, während die Bevölkerungsmehrheit weiterhin hinduistisch geprägt blieb. Die Höhepunkte dieser Entwicklung lagen im 16. und 17. Jahrhundert, als die sogenannten türkisch-persischen Mogulherrscher regierten und die kulturellen, künstlerischen und architektonischen Höhepunkte schufen, von denen insbesondere das Taj Mahal als bleibendes und überwältigendes Denkmal zu nennen ist. Die dritte Epoche ergab sich aus der Kolonialherrschaft westlicher Staaten, beginnend bei Portugiesisch-Indien an der Westküste und Französisch-Indien an der Ostküste sowie insbesondere ab dem 18. Jhdt. mit der alles dominierenden britischen Herrschaft über den gesamten indischen Subkontinent, genannt Britisch-Indien. Aus dieser letztgenannten Periode entstammen die nach wie vor vorhandene einheitliche Verkehrssprache Englisch in Indien, die maßgeblichen Gesetze, Verordnungen und Institutionen und bis heute weite Teile der technischen Infrastruktur.
1
Vgl. CIA-The World Factbook, India (2009), part: Economy.
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
Mit der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947 und trotz der gleichzeitig erfolgenden Abspaltung der muslimisch beherrschten Teile Pakistan im Westen und dem heutigen Bangladesh (früher Ostpakistan) im Osten erreichte das verbliebene hinduistische Indien nach Jahrtausenden erstmals wieder seine politische Selbständigkeit. Dabei blieben jedoch vor allem einige Grenzprobleme ungelöst, insbesondere diejenigen mit Pakistan bezüglich Kaschmir und mit China im Hinblick auf einige Himalaya-Regionen, die in den letzten Jahrzehnten zu mehreren Kriegen führten. In den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit orientierten sich die formal parlamentarisch-demokratischen Regierungen Indiens stark an den staatlichen Planungskonzepten der damaligen Sowjetunion, während China als großer östlicher Rivale Pakistan als Partner unterstützte. Seit Anfang der 90er Jahre werden durch umfassende Reformen diese „Altlasten des Kolonialismus bzw. des Kalten Krieges“ beseitigt und Indien entwickelt sich von innen zu einer leistungsstarken Volkswirtschaft und in den Außenkontakten werden die Konflikte zu den umliegenden Nachbarländern zunehmend abgebaut.1 Internationale Wettbewerbsfähigkeit Die Aktualisierung der in diesem Abschnitt enthaltenen Angaben um die Jahre 2007 bis 2009 führt zu folgenden Aussagen: Im Gesamtranking lag Indien in dem im „World Competitiveness Yearbook 2009“ enthaltenen Werten auf Platz 30 gegenüber Platz 27 in 2006.2 Die einzelnen Kategorien für die beiden Jahre 2009/2006 im Vergleich führen zu folgenden Ergebnissen: Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit (12/7), Regierungseffizienz (35/30), Unternehmenseffizienz (11/18), Infrastruktur (57/47). Damit liegt bis auf die Kategorie der Unternehmenseffizienz eine durchgängige Verschlechterung der Positionierung im internationalen Ranking vor und bezüglich der Infrastruktur belegt Indien unterdessen den letzten Platz von allen 57 untersuchten Ländern. Dies drückt auf dramatische Weise den Flaschenhals der Entwicklungsperspektive Indiens aus und bedarf kurzfristig einer gründlichen Veränderung. Seit einigen Jahren bestehen umfangreiche staatliche Programme zum Ausbau der Infrastruktur, die teilweise bereits realisiert sind, demnächst abgeschlossen werden oder in Planung sind. Indische Unternehmen Nicht zufällig enthalten die in dem Kriterium „Unternehmenseffizienz“ zusammengefaßten Merkmale die Bestnote im Ranking. Hieran ist die aus etwa 1000 Großfamilien stammende indische Managerelite maßgeblich beteiligt, die an 1 2
Vgl. Koubek (2006), S. 3-7 sowie die dort angegebene Literatur. Vgl. IMD (2009), pp. 48-49.
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hervorragenden nationalen und internationalen akademischen Einrichtungen ausgebildet ist, Englisch als Muttersprache beherrscht, weltoffen, dynamisch und innovativ denkt sowie über internationale Netzwerke verfügt. Im Übrigen spiegeln diese indischen Großclans auch einen erheblichen Teil der Jahrtausende alten Geschichte dieses Landes wider. Die indische Gesellschaft ist jedoch trotz der faktisch noch vorhandenen Kastenschranken im wirtschaftlichen Bereich auch für Aufsteiger relativ offen. Es überrascht daher nicht, daß in Indien der weltgrößte Stahlkonzern Mittal, die größten Pharma- und Solarenergieunternehmen und vor allem die weltweit zu den Großen der Softwareentwicklung gehörenden Unternehmen Infosys, Wipro und Tata-Systems beheimatet sind. Aber auch breit gestreute Mischkonzerne mit einem international diversifizierten Portfolio sind vorhanden. Insgesamt 10 führende Unternehmen sind in der folgenden Auswahl beispielhaft genannt:1 x x x x x x x x x x
Bajaj (Automobilunternehmen) Bharat Force (Kfz-Zulieferungsunternehmen) Dr. Reddy; S Labs ( Pharmaunternehmen) Infosys-Technologies (Softwareunternehmen) Larsen & Toudro (größter Maschinen- und Anlagenbauer Indiens) Mittal-(weltgrößter Stahlkonzern) Ranbaxy (Pharmaunternehmen) Reliance ( Mischkonzern) Tata (größter Mischkonzern) Wipro (Softwreunternehmen)
Es gibt in der indischen Wirtschaft auch eine beachtliche Auswahl von leistungsfähigen Klein- und Mittelstandunternehmen sowie zahlreiche innovative StartUp‘s. Darüber hinaus soll auf den Gesundheitssektor hingewiesen werden, in dem auch international wettbewerbsfähige Unternehmen mit einer großen Dynamik engagiert sind und Patienten aus der ganzen Welt zu sehr günstigen Preisen bei hoher medizinsicher Qualität versorgen.
3.4 China Wirtschaftstruktureller Überblick Den stärksten Aufstieg unter den BRIC-Staaten verzeichnet China, das mit knapp 10 Mio. km² flächenmäßig das viertgrößte und bevölkerungsmäßig mit über 1,3 Mrd. Menschen das größte Land der Erde ist. Das Bruttoinlandsprodukt in Kaufkraftparitäten zum USD lag 2008 bei rund 8.000 Mrd. USD, was dem drittgrößten Wert nach der EU und den USA entspricht. Auf Wechselkursbasis 1
Vgl. Pelle (2007), pp. 175-178.
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zum USD ergab sich ein BIP von rd. 4.300 Mrd. USD, dies bedeutete weltweit nach der EU und den USA den dritten Rang. Ein Vergleich der BIP-Zahlenwerte über die letzten vier Jahrzehnte auf der Basis der jeweils offiziellen Wechselkurse des chinesischen Renminbi-Yuan zum USD macht den wirtschaftlichen Aufstieg dieses Landes seit Beginn der Reformen mit der Marktöffnung 1978 besonders deutlich. Zwischen dem 2009 entstandenen BIP in China von rd. 4.300 Mrd. USD, und dem 1980 erwirtschafteten BIP von 309 Mrd. USD bzw. dem von 1990 in Höhe von 388 Mrd. USD ergibt sich eine Steigerung in 40 Jahren um den Faktor 15 und in 30 Jahren um den Faktor 12. Seit 2000 liegt nominal in 10 Jahren eine Steigerung um das fast Vierfache von 1.200 Mrd. USD auf 4.700 Mrd. USD vor. Selbst unter Berücksichtigung der 2008 bei knapp 6% liegenden Inflationsrate und einem leichten Bevölkerungswachstum von knapp 0,7% p.a. ergibt sich eine starke Erhöhung der realen Wirtschaftsleistung pro Kopf, die auch durch mehrfach hohe Inflationsraten von bis zu 24 % in 1994 nicht geschmälert werden. Nach Sektoren betrachtet besitzt die chinesische Wirtschaft eine stark agrar- und industriebezogene Verteilung, die bei den Arbeitskräften 2006 für den Agrarsektor 43%, für die Industrie 25% und für den Dienstleistungssektor 32% betragen haben. Bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt ergaben sich 2008 für die drei Sektoren die Anteile von 11,3%, 48,6% und 40,1%.1 Mit dem hohen Industrieanteil an der Wertschöpfung verbindet sich auch die Kennzeichnung Chinas als „Fabrik der Welt“. Das Wirtschaftswachstum ist mit einem starken Ausbau der technischen Infrastruktur verbunden, woraus sich die extrem hohe Rate der Bruttoinvestitionen von rund 40% am BSP ergibt. Da mit dem Ausbau der Infrastruktur jeweils ein hoher Einsatz von Eisen- und Stahlprodukten verbunden ist, überrascht es nicht, wenn der gegenwärtige Anteil Chinas an der gesamten Weltstahlerzeugung 2009 von rd. 1,2 Billionen Tonnen bei fast 50% liegt, wobei diese Menge weitestgehend im eigenen Land verbraucht wird. Historische Entwicklung China besitzt eine eigenständige und durchgängige 5000 bis 6000 Jahre alte Geschichte, die sich in zahlreichen Facetten in der Bevölkerung und insbesondere in den Führungsschichten eingeprägt hat und bis heute oftmals demonstrativ gepflegt wird. Bei der Größe des Landes und der topographischen Heterogenität verwundert es nicht, daß häufiger Teilungen und Absplitterungen auftraten, bevor diese in der über 2000 jährigen durchgängigen Zeit des Kaiserreichs immer wieder überwunden wurden.2 1 2
Vgl. CIA - The World Factbook, China (2009), part: Economy. Vgl. zum Folgenden: Fischer/ Lackner (2007), Teil B (S. 101-178); Hirn (2006), S. 14-31; Bender (2007), S. 207 ff.
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Erstmals entstand um 200 v. Chr. unter der Qin-Dynastie ein einheitliches chinesisches Reich. Der in Indien entstandene Buddhismus gelangte in mehreren Wellen in den ersten Jahrhunderten n. Chr. über die Seidenstraßen nach China und im 7. und 8. Jahrhundert entstand während der Tang-Dynastie ein auch buddhistisch geprägter kultureller Höhepunkt, der weltweit seinesgleichen suchte. Insgesamt kann man feststellen, daß China zwischen dem 7. und 17. Jhdt. als das fortschrittlichste Land der Erde galt. Dennoch begann die Wende für einen über 500-jährigen Abstieg, der zeitlich mit dem Aufstieg der westlichen Welt zur beherrschenden Macht einherging, bereits 1433 mit dem Ende der siebten und letzten Flottenexpedition in die westlichen Weltmeere bis nach Arabien und Afrika durch den chinesischen General und Seefahrer Zheng He. 1436 wurden aus innenpolitischen Gründen das kaiserliche Verbot für den Bau von ozeantauglichen Schiffen erlassen und gleichzeitig die Auslandshandelsstützpunkte im Mittleren und Nahen Osten sowie an der Ostküste Afrikas geschlossen. Von dieser Entwicklung bis zum Opiumkrieg, der Besetzung von Shanghai und Peking im 19. Jhdt. durch die Westmächte und zu den militärischen Niederlagen Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zieht sich ein durchgängig roter Faden, der in China präsent ist und im Ausbildungssystem vermittelt wird. Vor allem der Rückzug auf das eigene Land aufgrund einer überheblichen Einschätzung der eigenen Stärke bei gleichzeitiger Verhinderung von Neuerungen in Wissenschaft, Politik, Technik und Wirtschaft außerhalb der staatlichen Befehlsgewalt führten zu einem schleichenden Verfall der Macht. Damit konnten den im Zuge der industriellen Revolution durch die wirtschaftliche und militärische Macht gestärkten westlichen Staaten im 19. Jhdt. und bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs kein wirkungsvoller Widerstand entgegengestellt werden. 1905 dankte der letzte chinesische Kaiser nach mehr als 2000 Jahren erzwungenermaßen ab, dem nach einer Zwischenphase in den 20er Jahren die autoritäre nationalchinesische Kuomintang-Regierung folgte. Im Bürgerkrieg ab 1941, vor allem von 1945 bis 1949 besiegten die Kommunisten unter dem Führer Mao Zedong die nationalchinesische Armee und riefen 1949 die Kommunistische Volksrepublik China aus, wobei Mao bis zu seinem Tode 1976 Vorsitzender aller wichtigen politischen und militärischen Funktionen wurde und blieb. Positiv hervorzuheben an dieser Revolution sind die Durchsetzung der Gleichheit der Geschlechter, der Ausbau eines elementaren Gesundheits- und Bildungswesens sowie die Beseitigung der kolonialen ausländischen Einflüsse auf die Gestaltung des Landes. Dem stehen große politische Verfolgungen, die völlig mißlungene Industrialisierungspolitik der Jahre 1959 bis 1961 mit rund 20 bis 30 Mio. Hungertoten sowie die zwischen 1966 und 1976 ausgerufene Kulturrevolution mit mehreren Millionen Todesopfern entgegen, die das Land außen-
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Teil III: Internationale Organisationen und Globalisierung
und innenpolitisch, kulturell und vor allem auch wirtschaftlich an den Rand des Zusammenbruchs führten. Auf dieser Basis entstand nach den Machtkämpfen in der kommunistischen Partei 1978 der Modernisierungsbeschluß unter Deng Xiao Ping, der mit einer mehrjährigen Unterbrechung nach dem Massenaufstand und dem Massaker 1989 auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ in Peking verstärkt wieder ab 1992 aufgenommen wurde und seither zu meist zweistelligen Wachstumsraten führte. Dabei wurde die zentrale Planwirtschaft stufenweise durch marktwirtschaftliche Steuerungselemente ersetzt, so daß heute das Modell einer sozialistischen Marktwirtschaft bzw. das eines Staatskapitalismus unter Leitung der kommunistischen Einheitspartei entstanden ist.1 Als markante Punkte der letzten Jahre sind die Aufnahme Chinas in die Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 2001, die Durchführung der Olympischen Sommerspiele 2008 in Peking und die Ausrichtung der Weltausstellung in Shanghai 2010 zu nennen. Treffend beschreibt der Journalist Wolfgang Hirn die durch den chinesischen Aufstieg weltweit veränderten Bedingungen wie folgt: „Dem Historiker Paul Kennedy ist die Weltgeschichte ein Kommen und Gehen von mächtigen Nationen. Eine wichtige Erkenntnis Kennedys in seinem Werk Aufstieg und Fall der großen Mächte war, daß bisher keine der gefallenen Nationen zurückgekommen ist. Die Chinesen, die sich im Mittelalter auf eigenen Wunsch zurückgezogen hatten und später von den Ausländern gedemütigt wurden, also fast 600 Jahre eine eher untergeordnete Rolle am Rande der Weltgeschichte spielten, sind die Ersten, die sich zurückmelden. Wir leben deshalb in einer historischen Zeitenwende: Das größte Volk der Erde kehrt als Weltmacht zurück - mit gravierenden Folgen für uns alle.“2
Internationale Wettbewerbsfähigkeit Der wirtschaftliche Aufstieg Chinas in den vergangenen Jahrzehnten läßt sich auch an seiner Positionierung im internationalen Ranking der Länder erkennen. 2009 erreichte China den Rang 20 in der Liste des „World Competitiveness Yearbook 2009“,3 wobei es 2006 sogar auf Platz 15 und 2008 auf Platz 17 positioniert wurde. Stärken und Schwächen werden bereits grob bei einem Blick auf die vier Hauptgruppen erkennbar, für die 2009 folgende Positionierungen ermittelt wurden: Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit (2), Regierungseffizienz (15), Unternehmenseffizienz (37), Infrastruktur (32). Die chinesische Regierung hat 2008/09 mit hohen öffentlichen Ausgabenprogrammen einen wesentlichen Beitrag zur Überwindung der weltweiten Finanzund Wirtschaftskrise geleistet, und dies nicht nur mit Wirkung auf Ostasien. Das 1 2 3
Vgl. Fischer/ Schüller (2007), S. 236 f. Hirn (2006), S. 31. Vgl. IMD (2009), S. 48-49.
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Wirtschaftswachstum 2009 lag bei 8,5%, mit einer Erwartung für 2010 von über 9%.1 Der Spielraum zum Ausbau des internationalen Einflusses durch verschiedene Programme wird in China dadurch stark erleichtert, daß in diesem Land ein bisher weltwirtschaftlich einmalig hoher Devisenbestand von über 2.000 Mrd. USD zur Verfügung steht. Gerade im internationalen Rahmen lassen sich damit zahlreiche Aktivitäten entwickeln, von der Finanzierung von Unternehmensübernahmen im Ausland bis zur Vergabe von günstigen Krediten an Entwicklungs- und Schwellenländer im Zuge der Sicherung der eigenen Rohstoff- und Energieversorgung in den Ländern Asiens, Afrikas und Südamerikas. Als jüngstes Projekt ist der Aufbau eines rd. 1,9 Mrd. Menschen umfassenden asiatischen Wirtschaftsraumes mit den Erweiterungsmöglichkeiten um Indien, Australien und Neuseeland zu nennen.2 Im Zuge des weiteren Wachstums der Wirtschaft sollen erstens die starken regionalen Differenzen zwischen den gut entwickelten Küstenregionen im Osten und den westlichen Landesteilen abgebaut werden, zweitens sind die unterdessen aufgetretenen Überkapazitäten in den stark exportabhängigen Sektoren der Industriegüter und dem Bausektor zurück zu fahren, drittens sollen die zunehmenden wirtschaftlichen und sozialen Spannungen in der Gesellschaft wegen der extrem hohen ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung vermindert werden, viertens werden Änderung der bisher stark umwelt- und ressourcenverbrauchenden Industrialisierung angestrebt, fünftens wird der Übergang zu innovativeren, werthaltigeren Gütern und Dienstleistungen angestrebt und sechstens steht die Zurückdrängung der Korruption im Staatsapparat und in der Privatwirtschaft auf der Tagesordnung. Im politischen Raum sind einerseits Anzeichen einer Pluralismusdiskussion erkennbar, andererseits gibt es Maßnahmen zur Verhinderung dieser Absichten, wie die zum Jahreswechsel 2009/10 feststellbare Verschärfung der Kontrollen des Internets deutlich machen, auch „Great Firewall“ genannt. Chinesische Unternehmen Trotz des hohen Engagements einer Vielzahl von ausländischen Unternehmen, die sich im Zeitraum von 1995 bis 2006 auf den Betrag von rund 700 Mrd. USD an Direktinvestitionen kumulierten und zu denen in jedem Fall auch die Spitzengruppe der weltweit tätigen Multinationalen Konzerne angehört, ist in den Jahrzehnten des Wirtschaftswachstums auch eine Gruppe von erfolgreichen staatlichen und privaten Unternehmen und Konglomeraten entstanden. Hierbei waren nicht selten auch Exilchinesen aus Taiwan, Hongkong, Singapur und den USA beteiligt. 1 2
Vgl. Financial Times Deutschland (2010a). Vgl. Financial Times Deutschland (2010b).
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Im Mittelpunkt stehen dabei Industrieunternehmen, von denen hier die folgenden 10 ausgewählt werden.1 x x x x x x x x x x
Baosteel (größter chinesischer Stahlkonzern) China Mobil (weltweit größter Mobilfunkanbieter) Cosco ( einer der weltweit größten Redereien Haier (größtes chinesisches Haushaltsgeräteunternehmen) Huawei Technology (größtes chin. Telekommunikationsausrüstungsunternehmen) Lenovo (weltweit viertgrößter PC-Produzent) Qingdao Brewery (größter chinesischer Brau- und Getränkekonzern) SAIC (größter chinesischer Automobilkonzern) Sinopec (größter asiatischer Petrochemiekonzern) Wanxiang (größtes chinesischer Automobilzuliefererunternehmen)
In Zukunft werden sich die westlichen Konsumenten, aber auch die Konkurrenten an diese zum Teil noch weitgehend unbekannten neuen Namen ebenso gewöhnen wie dies für die Champions aus den übrigen BRIC-Staaten gilt.
4
Wirtschafts- und unternehmensstrategische Konsequenzen
Es zeigt sich, daß in jedem der untersuchten BRIC-Staaten bereits jetzt einige nationale leistungsstarke, auf den Weltmärkten erfolgreich operierende Unternehmen vorhanden sind, die maßgeblich auch die jeweiligen inlandsbezogenen Entwicklungen mitgestalten. Dieser Kreis von multinationalen Unternehmen aus Schwellenländern wird deutlich wachsen und damit auch auf den verschiedenen Märkten bis hin zur Entwicklung neuer Technologien, Prozesse und Produkte sowie gegenüber den internationalen Wirtschaftsorganisationen an Einfluß gewinnen. Das globale Netzwerk wird damit ressourcen- und marktorientiert differenzierter und es entstehen neue Strategien und operative Maßnahmen, die in Teilen deutlich von denen abweichen dürften, die in den westlichen Managementlehrbüchern zu lesen und in der Unternehmenspraxis vorhanden sind. Daher wird die Hypothese abgeleitet, daß sich mit dem Auftreten der Unternehmen aus den BRIC-Staaten nicht nur neue Wettbewerber, Lieferanten und Kunden zeigen werden, sondern dies auch Auswirkungen auf den Aufbau und die Ausrichtung der bisher eindeutig westlich geprägten Unternehmen mit dem jeweiligen Sitz in den entwickelten Ländern haben wird. Die sich abzeichnenden Einflüsse nach unternehmenspolitischen Schwerpunkten stellen sich wir folgt dar:
1
Vgl. Pelle (2007), S.175-178.
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4.1 Neue Absatzmärkte Die Integration der Schwellen- und Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft erweitert die Absatzmärkte durch potentielle neue Käufergruppen, deren verfügbares Einkommen im Durchschnitt jedoch deutlich unter demjenigen der bisherigen Kunden in den entwickelten Ländern liegt. Damit sind sowohl neue Vertriebswege, Finanzierungsmodelle als auch einfachere und billigere Technologien und Produkte zur Verfügung zu stellen. Prahalad1 spricht in diesem Zusammenhang in seinem Buch „The Bottom of the Pyramid“, in deutsch „Der Reichtum der Dritten Welt“, von einem Markt von Milliarden von Menschen, der bisher nicht im Blickwinkel westlicher Konzerne stand. Unternehmen aus den Schwellenländern, insbesondere gerade auch aus den BRIC-Staaten sind hier strategisch breiter ausgerichtet und haben zum Teil bereits eigene Erfahrungen und Erfolge in der Wahrnehmung und Umsetzung der entsprechenden Gegebenheiten.
4.2 Hohe Infrastrukturinvestitionen Mit dem Aufbau von wirtschaftlichen Aktivitäten in den Kerngeschäften der Unternehmen in Entwicklungs- und Schwellenländern werden unterstützende Aktivitäten für den Ausbau der technischen Infrastruktur, des Gesundheits- und Bildungswesens sowie des Wohnungsbaus verbunden sein. Hier übernehmen die Unternehmen vollständig oder in Teilen die Aufgaben, die in den entwickelten Ländern seit Jahrzehnten weitgehend von öffentlichen oder privaten Einrichtungen außerhalb der Wirtschaft wahrgenommen werden. Dabei sei hier an das frühere Engagement von westlichen Unternehmen im Zuge der Industrialisierung erinnert, z.B. an die Programme von Krupp, Bosch, Thyssen, Zeiss sowie zahlreicher mittelständischer Unternehmen in Deutschland und vergleichbar auch in anderen westlichen Ländern. Im 21. Jahrhundert entstehen in diesem Zusammenhang jedoch weltweit weitergehende, quasi öffentliche Aufgaben für private und staatliche Unternehmen, wenn entsprechende staatliche Institutionen nicht oder nicht ausreichend vorhanden bzw. arbeitsfähig sind. Das in seinen Auswirkungen vor Ort z.T. umstrittene Engagement chinesischer Unternehmen in Teilen Afrikas ist hier ebenso ein Beispiel wie die umfangreichen gesellschaftspolitischen und sozialen Aktivitäten einiger indischer und brasilianischer Unternehmen im eigenen Land. Dem haben sich zwischenzeitlich ansatzweise bereits einige westliche Konzerne in diesen Ländern angeschlossen. Sofern Unternehmen aufgrund ihrer Größe bzw. wettbewerbs- und produktmäßigen Ausrichtung nicht in der Lage sind, dieses 1
Vgl. Prahalad (2006).
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erweiterte Aufgabenspektrum zu übernehmen, bietet sich der Aufbau von internationalen strategischen Allianzen an. Im Zusammenhang mit diesen Veränderungen werden die sogenannten weichen Faktoren der internationalen Unternehmenspolitik zunehmen. Neben den klassischen verhaltensbezogenen Variablen treten die Elemente verschiedener Landeskulturen und der damit verbundenen Organisationkulturen stärker in den Blickpunkt. Nur so lassen sich die z.T. heterogenen Bedingungen in den verschiedenen Regionen eines globalen Marktes erfassen und in die Unternehmensstrategien einbinden. Im Rahmen der Corporate Social Responsibility (CSR) werden diese Themen z. Zt. international intensiv diskutiert.1
4.3 Differenzierung der Produktangebote und Technologien Es zeichnet sich ab, daß Produkte und Technologien parallel und zeitgleich in unterschiedlichen Graden der Neuheit, Komplexität, Kosten- und Preisstruktur angeboten werden, um verschiedene Käuferschichten mit teilweise stark voneinander abweichenden Lebensformen zu erreichen. Damit werden z.B. bei Premiumprodukten die Käufer in den entwickelten Ländern sowie die einkommensstarken Schichten in Schwellenländern und in Teilen auch in den Entwicklungsländern beliefert, während gleichzeitig preiswerte und einfache „Dritte Welt Produkte“ für Käufer mit niedrigem Einkommen vor allem in den Entwicklungsund Schwellenländern, zunehmend aber auch in den entwickelten Ländern zur Verfügung stehen. Beides wird in Zukunft innerhalb eines Konzerns angeboten, wie Beispiele aus Brasilien, Indien und China zeigen oder es treten neue, auf diese Märkte und Produkte spezialisierte Unternehmen und Konzerne auf.2 Als Ergebnis ist festzuhalten, daß sich die Wertkettenstruktur der global operierenden Unternehmen einerseits durch die Entstehung leistungsfähiger Unternehmen aus den Schwellenländern/ BRIC-Staaten und andererseits durch das Eintreten in bisher nicht bediente Märkte deutlich verschieben wird. Dabei zeichnet sich auch ab, daß die Kundennähe und das in zahlreichen Schwellenländern auch vorhandene qualifizierte Arbeitskräftepotenzial zu einer modifizierten Verteilung von Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten führen werden. Aus diesen Sachverhalten folgt, daß die Anforderungen an das Zielsystem und die Steuerung von Unternehmen vorhersehbar wachsen werden, weil sich die Anzahl und Komplexität der Variablen erhöht, da neben den finanziellen Größen zunehmend auch eine Vielzahl sozialer, ökologischer, technologischer, produktbezogener, politischer und kultureller Elemente einfließen wird. 1 2
Vgl. Curbach (2009); Scherer/ Picot (2008); Schwalbach (2008). Vgl. Pelle (2007), pp. 37, 111-125; Prahalad (2006), bes. Kap. 1,2,3 sowie Fallstudien in T.II; Wirtschaftwoche (2007), S. 49 ff.
B Länder und Weltregionen
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Ob hierdurch die bisher in den demokratischen Staaten marktwirtschaftlich herausgebildeten institutionellen Teilungen bei den Aufgaben zwischen den Subsystemen Politik und Wirtschaft weiter bestehen bleiben, erscheint zumindest diskussionswürdig. Die Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen wird künftig maßgeblich vom Umfang des Erfolges der konkurrierenden Unternehmenskonzepte und Landeskulturen aus den verschiedenen Weltregionen abhängen. Auch dies ist ein Zeichen für das wahrscheinliche Ende der Vorherrschaft des weißen Mannes im westlichen Selbstverständnis der letzten Jahrhunderte und den Übergang in eine sozioökonomisch und kulturell multipolare Welt.1
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Vgl. zu der z.T. kontrovers geführten Diskussion Scholl-Latour (2009); Jacques (2009); Hutton (2008); Pelle (2007).
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Prahalad, C. F. (2006): Der Reichtum der Dritten Welt, München 2006. Scherer, G./ Picot, A. (Hrsg.) (2008): Unternehmensethik und Corporate Social Responsibility - Herausforderungen an die Betriebswirtschaftslehre, zfbf-Sonderheft 58/08, Düsseldorf 2008. Schwalbach, J. (Hrsg.) (2008): Corporate Social Responsibility, ZfB - Special Issues 3/2008, Wiesbaden 2008. Scholl-Latour, P. (2009): Die Angst des weißen Mannes. Ein Abgesang, Berlin 2009. United Nations (2004): World Population To 2300, New York 2004. United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD) (2009): World Investment Report 2009, New York and Geneva 2009. Wilson, D./ Purushothaman, R. (2003): Dreaming with BRICs: The Path to 2050, in: Goldman Sachs Global Economics Paper No: 99, October 2003. Wirtschaftswoche (2007), v. 29.01.2007.
Ausblicke Im Folgenden geht es darum, von den verschiedenen realen Prozessen bei Institutionen, Ländern und Weltregionen begrifflich so weit zu abstrahieren, daß sie sich auf wenige Kategorien, Dimensionen und Grundprinzipien reduzieren lassen. Dabei fällt zunächst die institutionelle und kulturelle Vielfalt auf, die in den einzel- und gesamtwirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Abläufen im globalen Maßstab feststellbar sind und es entsteht daraus die Frage, ob es weiterhin ein einheitliches Grundmuster für optimales ökonomisches Handeln von Unternehmen bzw. allgemeiner von Institutionen in den verschiedenen Ländern und Weltregionen geben kann und geben wird. Möglicherweise folgt der realen Wahrnehmung über die Machtverschiebungen zu Lasten der westlichen Welt in einer zweiten Runde auch eine Auseinandersetzung darüber, ob die bisher dominanten sozioökonomischen Regelungswerke den neuen komplexen Aufgaben gewachsen sind und ob sich das im Westen entwickelte Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell als Blaupause für alle Länder und Weltregionen zu Regulierung und Lösung sehr unterschiedlicher Probleme eignet und durchsetzen läßt. In der Verlängerung dieses Gedankens stellt man dann fest, daß es global gesehen offensichtlich keine lineare, parallele Weiterentwicklung von Veränderungen, von Fortschritt und von Entwicklungsprozessen geben muß. Vielmehr drängt sich der Gedanke nach einer zunehmenden Gleichzeitigkeit von Ungleichem auf, nach einer Parallelentwicklung innerhalb von Gesellschaften, Ländern und Märkten, um die unterschiedlichen Gegebenheiten, Zielsetzungen, Rationalitäten und Interessen auszugleichen und durchzusetzen. Damit verbunden ist die Erkenntnis, daß das im Westen beim Aufbruch in die Moderne entstandene Fortschrittsdenken zunehmend zu kurz greift und sich daher das Denken und Handeln künftig stärker an zyklischen Bewegungen und der Integration von oberflächlich als Gegensätze erscheinenden Phänomenen orientiert, was geistesgeschichtlich zu einem neuen, stärker asiatisch geprägten Weltbild führen würde. In abstrakt gesellschaftlich-ökonomischen Bezügen ausgedrückt führen diese Fragen zur Reflexion über die Rationalität als gesellschaftliche und hier im Vordergrund stehend als sozioökonomische Kategorie und in diesem Sinne dürfte sich eine zunehmend mehrdimensionale Rationalität entwickeln. Von dieser Betrachtung aus ist es dann lediglich noch ein kleiner Gedankenschritt zu den wissenschaftlichen und literarischen Auseinandersetzungen, die in den eigenen Arbeiten in den 70er Jahren im Vordergrund standen und die in der Entwicklung einer mehrdimensionalen sozioökonomischen Rationalität auf der Basis der Kategorie Arbeit zum Ausdruck gekommen waren. Hinter dieser Rationalitätsdifferenzierung standen und stehen die stofflichen Kategorien von Natur und Mensch, von Technik und Produkt sowie die finanzökonomische Kategorie der Rationali-
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tät des eingesetzten Kapitals unter den jeweils herrschenden institutionellen Bedingungen gesellschaftlicher Strukturen und Wirtschaftsverfassungen der Organisationen im allgemeinen und der Unternehmen im besonderen. Die Art der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur wird in ökologischer und sozialer Dimension1 gerade auch in globalem Maßstab angesichts der Herausforderungen bei Umwelt, Rohstoffen, Wasser, Energie, bei Klimabeeinflussung und Entsorgung, aber auch bei der Urbanisierung und dem Bevölkerungswachstum, der Ernährung und medizinischen Versorgung, der Bildung und Ausbildung, der sozialen Sicherung sowie vor allem der Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen und Einkommenschancen erkennbar. Definiert man diese Auseinandersetzung als Arbeit, dann führen die genannten Themen zu einem inhaltlich veränderten Arbeitsbegriff bzw. weltweit zu einer Differenzierung unterschiedlicher Arbeitsinhalte. Diese Differenzierung findet im gleichen Land, in der gleichen Stadt und zum Teil auch bei den gleichen Personen statt. Bezüglich der technologischen Dimension lassen sich ebenfalls gravierende Veränderungen feststellen und in Zusammenhang mit den vorausgegangenen elementaren Kategorien von Mensch und Natur stellen. Die Änderungen im Arbeitsprozeß sind ohne Modifikationen in den Technologien nicht möglich. Zur Erklärung dieser Zusammenhänge soll allgemein auf die sog. Kondratieff-Zyklen2 und die damit in Verbindung stehenden Innovationen verwiesen werden. Darin wird erkennbar, daß in den vergangenen rund 250 Jahren seit dem systematischen Beginn des Aufbaus marktwirtschaftlichkapitalistischer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen jeweils tiefgreifende Veränderungen, Innovationen genannt, stattfanden und dies auch künftig zu erwarten sein wird. So zeichnen sich in der gegenwärtigen Phase der Entwicklung mehrere großtechnische Systemwechsel ab, die auch zu weitreichenden Änderungen in den sozioökonomischen Strukturen führen werden. Zu nennen sind hier erstens die Energieversorgung für den gesamten globalen Wirtschaftsraum mit der allmählichen Abkehr von den fossilen und atomaren Brennstoffen hin zu erneuerbaren Energiequellen von der Geothermie über die Ausnutzung von Wasser, Wind, Gezeiten und Biomasse bis hin zur Solarenergie. Damit verbunden ist die Umstellung der Verbrennungsmotoren für Heizungen und Antriebssysteme einschließlich des Personen- und Güterverkehrs. Auf die revolutionären Änderungen bei der Materialerzeugung, der Biound Gentechnologie sowie der Nanotechnologie und der Informations- und Kommunikationstechnologie sei an dieser Stelle nur kurz hingewiesen. In diesem Zusammenhang spricht man auch von der Notwendigkeit der Entwicklung sogenannter „Clean Technologies“. Gleichzeitig werden zahlreiche einfache und 1 2
Vgl. Pfriem (1995); Freimann (1989). Vgl. zur aktualisierten Konzeption der Kondratieff-Zyklen Nefiodow (2001) und zur Namensgebung der Theorie der langen Wellen der Wirtschaftsentwicklung Schumpeter (2008/ 1961) S. 179.
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preiswerte Technologien entstehen, die sich stärker an den Lebensbedingungen von rund zwei Dritteln der Weltbevölkerung orientieren, die wirtschaftlich auf der untersten Stufe der Pyramide1 stehen. Als vierte stoffliche Dimension des hier verwendeten Arbeitsbegriffs ist die Produktebene zu erwähnen, die sich auf Güter und Dienstleistungen bezieht. Im Zusammenhang mit den tiefgreifenden sozialen, ökologischen und technologischen Veränderungen werden zahlreiche neue Produkte auf den verschiedenen Märkten der einzelnen Länder und Weltregionen in Abhängigkeit von den dort jeweils vorhandenen Gegebenheiten entwickelt werden, mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die übrigen Dimensionen des Arbeitsbegriffes. Auch hier wird die Bandbreite zwischen technologisch führenden Innovationen an der Spitze und derjenigen am Boden gegeben sein, um den weltwirtschaftlich heterogenen Bedingungen zu entsprechen. Geht man im Sinne der finanzökonomischen Dimension von der Annahme aus, daß die Durchsetzung des Geldes als einheitlichem Kalkulations- und Tauschmaßstab eine kulturelle Leistung von großer Bedeutung in arbeitsteiligen Gesellschaften war und ist, so folgt daraus jedoch nicht zwingend eine einheitliche weltweite Umsetzung der damit verbundenen Abläufe. Einerseits werden staatlich und weltregional verschiedene Regulative sowie geldähnliche Verrechnungssysteme (Barter, Countertrade)2 die konkrete Ausgestaltung dieser monetären Steuerungsinstrumente stark beeinflussen und daher wird dies zu unterschiedlichen Wirkungen führen. Andererseits zeigen sich gerade in wirtschaftlich weniger leistungsfähigen und einkommensmäßig schwächeren sozialen Gruppen der Gesellschaft teilweise fortdauernde und teilweise wieder eingeführte Wirtschaftszonen mit regionalen Ersatzwährungen3 auf der Ebene des direkten Tausches von Gütern, Dienst- und Arbeitsleistungen. Dabei entstehen unterschiedliche Tauschrelationen und Verrechungsformen zwischen den einzelnen Angeboten an Produkten und Dienstleistungen und ihrer Nachfrage. Mit diesen Veränderungen werden sich auch die Unternehmen in ihren Strategien, Strukturen, kulturellen Prägungen und Kooperationen ändern. Es kann erwartet werden, daß sich parallel zur Differenzierung der Märkte auch differenzierte Unternehmen herausbilden werden, die unterhalb der Ebene einer globalen Vernetzung nach unterschiedlichen Maßstäben und Zielen handeln werden.4 Diese skizzenhaften Andeutungen lassen zunächst erahnen, wie vielfältig und zum Teil gegenläufig die weltwirtschaftlichen Institutionen und Rationalitäten sind und in noch stärkerem Umfang in Zukunft sein werden. Daher läßt sich folgende Hypothese formulieren: Auf dem Wege zur globalen Gleichzeitigkeit 1 2 3 4
Vgl. Prahalad (2006). Vgl. Kunze (2005), Kennedy/ Lietaer (2004). Vgl. Bode (2005). Vgl. Prahalad (2006), S. 159 ff. mit Fallstudien, u.a zu neuen Absatz- und Finanzierungsmodellen.
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treten auch Ungleichheiten und teilweise Gegenläufigkeiten hervor, die mit dem linearen Fortschrittsdenken nicht vereinbar sind. Der Fortschritt durch technologisch anspruchsvolle Innovationen steht daher nicht in Widerspruch zum Beibehalten des Bestehenden oder gar zum Rückschritt, vielmehr können sich zeitlich befristete Parallelwelten mit dynamischen Diffusionen und permanenten Anpassungen herausbilden. Dies läßt sich unter dem ökonomischen und gesellschaftlichen Begriff der Rationalität als Gleichzeitigkeit verschiedener Rationalitätsausprägungen kennzeichnen. Unter Verwendung des Arbeitsbegriffs, von dem in Teil II unterschiedliche Rationalitätsformen abgeleitet sind, ergeben sich raumzeitlich unendliche Kombinationsmöglichkeiten der Dimensionen, vergleichbar der Faktor- oder Prozeßsubstitutionen bei Produktionsfunktionen. Diese Aussagen stützen sich gleichermaßen auf die Beiträge zu Institutionen, Arbeitsorientierung und Globalisierung. Der Wettbewerb der Unternehmen, Nationen und Weltregionen läßt sich in diesem Zusammenhang und mit dieser Sichtweise auch als Konkurrenz unterschiedlicher Ausprägungen der sozioökonomischen Rationalität verstehen, die sich kategorial ihrerseits aus dem Verhältnis des/der Menschen zur Natur und damit aus der Arbeit ableiten lassen. So ergibt sich nach Jahrzehnten der sehr unterschiedlichen und auf verschiedene Gebiete bezogenen Wahrnehmung und Untersuchung von realen Prozessen und ihrer wissenschaftlichen Verarbeitung eine ganz überraschende Rückbeziehung auf die elementare Kategorie der Arbeit und ihrer in der arbeitsorientierten Theorie der Unternehmung entwickelten Begrifflichkeiten zur ökonomischen Rationalität. Unbestritten lassen sich auch andere theoretischen Zugänge zu den aufgeworfenen Fragen und möglichen Lösungen finden, in der hier vorgelegten Perspektive besteht für den Verfasser jedoch ein sozialphilosophisch verankerter, institutionenökonomisch und interessenmäßig differenzierter sowie in Einzelteilen operationalisierter Rationalitätsbegriff als Bezugsrahmen, durch den sich auch die gegenwärtig in den Vordergrund drängenden globalen, internationalen und interkulturellen Ebenen in der ökonomischen Analyse und bei entsprechendem Handeln begrifflich fassen lassen. Literatur Bode, S. (2005): Regionale Währungen für entwicklungsschwache Regionen - Möglichkeiten für eine regionale Ökonomie, in: Zeitschrift für Sozialökonomie, 42. Jg., 144. Folge (2005), S. 3-10. Freimann, J. (1989): Instrumente sozial-ökologischer Folgenabschätzung im Betrieb, Wiesbaden 1989. Kennedy, M./ Lietaer, B.A. (2004): Regionalwährungen, München 2004. Kunze, V.R.C. (2005): Countertrade als strategisches Managementinstrument, Aachen 2005. Nefiodow, L.A. (2001): Der sechste Kondratieff, 6.Auflage, St. Augustin 2001. Pfriem, R. (1995): Unternehmenspolitik in sozialökologischen Perspektiven, 2. Aufl. Marburg 1995. Prahalad, C. F. (2006): Der Reichtum der Dritten Welt, München 2006. Schumpeter, J.A. (2008): Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses, Göttingen 2008.
Quellennachweis Im Folgenden werden die aus Büchern, Zeitschriften und Zeitungen entnommenen Beiträge mit Literaturangaben und den betreffenden Verlagen bzw. Hinweisen auf Erstveröffentlichungen genannt. Es handelt sich ausschließlich um Einzelveröffentlichungen des Autors. In diesem Zusammenhang bedanke ich mich vielmals bei den Verlagen für die freundliche Zustimmung zum Wiederabdruck. Die Nachweise folgen der Gliederung dieses Buches: Teil I A.1 Die zeitliche Dimension der Ausgaben im modernen Budget, Dissertation, Frankfurt am Main. 1969, veröff. 1970, S. 1-10: 132-156. A.2 Das Wettbewerbssystem im Rahmen volkswirtschaftlicher Steuerungssysteme, in: WWI-Mitteilungen, 23. Jg., H.11/1970, S. 328-336. A.3 Konzentration in der Bundesrepublik Deutschland, in: Das Nein zur Vermögenspolitik, hrsg. v. K.H. Pitz, Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek 1974, S.68-106. B.1 Universitätsmodelle: Von der Ordinarien- zur Dienstleistungsuniversität, in: Controllingbeiträge im Spannungsfeld offener Problemstrukturen und betriebspolitischer Herausforderungen, hrsg. v. M. Pütz/ Th. Böth/ V. Arendt, Festschrift für Winfried Matthes, Josef Eul Verlag GmbH, LohmarKöln 2008, S. 419-438. B.2 Executive Higher Education as a Challenge for Universities, Beitrag zur Konferenz „Beratung und die Wirksamkeit der Hochschulbildung - Guidance and Counselling and the Efficacy of Higher Education”, Wuppertal, 25. September 2009, organisiert von Gerhart Rott, Erstveröffentlichung. Teil II A.1 Plädoyer für eine ökonomische Anthropologie auf der Grundlage von Interessen, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. LX (1974), S. 327-352. A.2 Grundelemente einer Arbeitsorientierten Einzelwirtschaftslehre, in: WSIMitteilungen, 26. Jg., H. 5/1973, S. 166-181. A.3 Arbeitsorientierte Rationalität und Arbeitnehmerinteressen, in: Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung (ZfbF), 29. Jg. H. 1/1977, S. 31-43. A.4 Arbeit und ökonomische Rationalität in der Wirtschaftspolitik, in: Krise der Wirtschaftspolitik, hrsg. v. H. Markmann/ D. B. Simmert, Bund-Verlag GmbH, Köln 1978, S. 147-165.
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