Geoffrey Marks
Jäger der Nacht Version: v1.0
Manche Stadtteile in Moskau waren so heruntergekommen und ...
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Geoffrey Marks
Jäger der Nacht Version: v1.0
Manche Stadtteile in Moskau waren so heruntergekommen und verwahrlost, dass man sie eigentlich mit einer Planierraupe hätte in Schutt und Asche legen müssen – so jedenfalls sah Boris Karmanow die Sache. Er selbst wohnte in einem protzigen Palast in der Nähe des Kreml und empfand eine tiefe Abscheu für alles, was mit Armut, Elend und Schwäche zu tun hatte. All diese Attribute wurden nach seinem Dafürhalten aber in diesem schäbigen Stadtteil vereint, den aufzusuchen er in dieser Nacht gezwungen war …
Am liebsten hielt sich Boris in der Gesellschaft der Reichen und Wohlhabenden auf. Er liebte die pompösen Bälle, die in den Villen und Palästen Moskaus abgehalten wurden und redete dabei mit Vorliebe über die Kultur seines Landes – über die Komponisten, die Russland hervorgebracht hatte, über Dichter, Denker und besonders über die Maler. Um so unbehaglicher fühlte Boris Karmanow sich in diesem Moment, da er im Schatten dieses baufälligen Erkers stand, der über ihm aus der bröckeligen Fassade einer alten Mietskaserne ragte. Die schmale Straße, in der er sich befand, wurde auf beiden Seiten von in den nächtlichen Himmel ragenden Wohnblocks gesäumt. Sie sahen so schäbig und heruntergekommen aus, dass es Boris nicht gewundert hätte, wenn eines der Gebäude plötzlich unter lautem Getöse in sich zusammengestürzt wäre und all die armen Schlucker, die darin hausten, in den Tod gerissen hätte. Boris schüttelte sich. Aber nicht etwa, weil er unter seinem langen Cashmeermantel gefroren hätte, oder weil er wegen der Einsturzgefahr der baufälligen Häuser Mitleid für die Bewohner empfunden hätte. Vielmehr bereitete ihm die Vorstellung, durch einen dummen Zufall in dieser finsteren Gasse erkannt zu werden, erhebliches Unbehagen. Auf der nächsten Party würde man sich über ihn das Maul zerreißen, weil er in einem Stadtteil gesehen worden war, der von Prostituierten, Drogenabhängigen und Asozialen bevölkert wurde. »Was hat dieser Karmanow dort wohl zu suchen gehabt?«, würden sich die Leute hinter vorgehaltener Hand zu recht fragen. »Ob er eines dieser billigen Mädchen aufgesucht hat? Oder hat er sich etwa Drogen beschafft?« Boris schnaufte verächtlich. Natürlich wäre keines dieser Lästermäuler mit ihren beschränkten Vorstellungsvermögen in der Lage, sich auszumalen, was er wirklich in diesem Stadtteil wollte.
Er selbst hätte es auch nicht vermocht, das musste er unumwunden zugeben. Der Grund seines Aufenthalts in dieser engen, miefigen Gasse war so haarsträubend, dass er es selbst kaum glauben konnte, den Fuß unter diesen Voraussetzungen in den verhassten Stadtteil gesetzt zu haben. Und doch war er hier! Boris vergrub die rechte Hand in die Tasche seines Mantels und zog einen zerknüllten Notizzettel hervor. Eine Adresse war darauf notiert. Obwohl Boris die Notiz auswendig kannte, verglich er die Zahl auf dem Zettel mit der Nummer auf dem rostigen Emailleschild, das auf der anderen Straßenseite an der rissigen Fassade eines Wohnhauses angebracht war. Das Schild befand sich neben einer schwarz lackierten Tür im Souterrain. Ein paar ausgetretene Stufen führten dorthin. Die beiden Nummern stimmten überein. Auch die Straßennamen waren identisch! Boris Karmanow schüttelte grimmig den Kopf und fragte sich zum wiederholten Mal, warum keiner seiner Männer diese Adresse hatte finden können. Stattdessen waren sie, Stunden nachdem Boris sie losgeschickt hatte, in seinem Büro erschienen und hatten ihm mit niedergeschlagener Miene mitgeteilt, sie könnten das Haus mit der angegebenen Nummer nicht finden … Wütend presste Boris die Kiefer aufeinander und zerknüllte den Zettel in der Faust. Er hatte drei seiner besten Leute losgeschickt – und keiner von ihnen hatte dieses verlotterte Haus angeblich entdecken können, vor dem er nun stand! Wenn es ihm, Boris Karmanow, auf Anhieb gelungen war, das Haus ausfindig zu machen, warum war es dann seinen Leuten nicht geglückt? Hatten sie sich etwa gegen ihn verschworen? Bahnte sich in seiner Organisation eine Revolte an, ein Machtwechsel an der Spitze des Syndikats, das er vor fünf Jahren von seinem Vater übernommen
hatte … Boris hielt inzwischen alles für möglich. Trotzdem hatte er auf eine Bestrafung der drei Männer verzichtet. Dies aber nicht, weil er Verständnis gehabt hätte oder gar befürchtete, durch eine Strafaktion den Unmut seiner Leute hervorzurufen. Vielmehr waren es Thomas Lewkos seltsamen Worte gewesen, die ihn von einer Bestrafung abgehalten hatte. »Du musst Madame Chikolew schon persönlich aufsuchen, wenn du ihre Dienste in Anspruch nehmen willst, Boris«, hatte er erklärt und geheimnisvoll dabei gegrinst. »Sie gehört zu jenen seltsamen Geschöpfen, die sich im Schatten der religiösen Ignoranz der Sowjets im ganzen Gebiet der ehemaligen Sowjetrepubliken ungestört haben ausbreiten können und nicht selten übernatürliche Kräfte besitzen.« Boris hatte den Mann nur verständnislos angestarrt und sich gefragt, ob dieser fette Kerl, dessen sündhaft teurer Anzug über seinem Bauch und an den Oberarmen spannte, ihn veralbern wollte. Doch Boris kannte Thomas Lewkos seit vielen Jahren und wusste, er würde sich niemals über seine Geschäftspartner lustig machen. Thomas Lewkos musste tatsächlich von der Existenz dieser seltsamen Geschöpfe überzeugt sein, von denen Boris auch schon aus anderem Munde erfahren hatte. Bisher hatte Boris dieses Gerede über übernatürliche Wesen, die sich zu Sowjetzeiten unbemerkt in den Republiken etablieren konnten, aber für baren Unsinn gehalten. Dass nun ausgerechnet Thomas Lewkos von diesen mystischen Wesen sprach, gab Boris doch sehr zu denken. Doch der Dicke hatte nicht nur über diese Kreaturen geredet – er hatte ihm, Boris, sogar empfohlen, eines dieser Geschöpfe aufzusuchen und anzuheuern! Thomas Lewkos war ein Mann, an den man sich wandte, wenn man mit bestimmten Leuten bestimmte Probleme hatte. Diese Probleme lösten sich dann ziemlich rasch, weil derjenige, der sie heraufbeschworen hatte, plötzlich spurlos verschwand.
Manchmal – wenn der Kunde dies so wünschte – wurde die Leiche des Querulanten aber auch irgendwo in Moskau entdeckt. Und damit alle, die sich mit diesem Burschen eingelassen hatten, die Warnung auch verstanden, war die Leiche auf eine Art und Weise zugerichtet, die verriet, dass der Mann vor seinem Ableben höllische Qualen durchlitten hatte. Von so einem Mann – das wusste Boris mit unumstößlicher Sicherheit – waren keine halbgaren Behauptungen oder Witze zu erwarten. Wenn Thomas Lewkos sagte, Boris solle wegen seines Problems Madame Chikolew persönlich aufsuchen, meinte er das auch so. Und wenn er andeutete, bei dieser Frau würde es sich um ein seltsames Geschöpf handeln, entsprach das entweder der Wahrheit – oder verriet, dass Thomas Lewkos langsam anfing, den Verstand zu verlieren. Aus diesen Überlegungen heraus hatte Boris es vorgezogen, seine engsten Vertrauten loszuschicken, anstatt selbst mit Madame Chikolew Kontakt aufzunehmen. Außerdem war sein Widerwillen, den Stadtteil zu betreten, in dem diese Frau wohnte, so groß, dass er sie lieber zu sich in den Palast bringen lassen wollte – mochte sie nun ein Geschöpf sein oder nicht. Doch das war anscheinend nicht möglich. Boris hätte besser auf Thomas Lewkos gehört. Es war sein Fehler gewesen, dass seine Leute versagten und darum durfte er sie auch nicht bestrafen. Das verbot ihm seine Ehre … Missmutig wischte Boris Karmanow die lästigen Gedanken beiseite und versuchte, sich wieder auf seine Umgebung zu konzentrieren. In dieser klaustrophobisch engen Gasse stand keine einzige funktionierende Straßenlaterne, aber von oben sickerte ein fahles Schimmern in die Straßenzeile. Es rührte von den tief hängenden Wolken her, die von den Lichtern der Stadt erhellt wurden und wie flüssiges Blei aussahen, das zäh über den Himmel hinweg floss.
Das graue Wolkenlicht spiegelte sich auf dem Blech der schrottreifen Fahrzeugen, die am Straßenrand parkten; es ließ die Müllsäcke, die sich neben den Eingängen der Mietshäuser stapelten, matt aufschimmern und verfing sich im Fell der Ratten, die sich an dem Unrat gütlich taten. Nur wenige der Fenster waren erleuchtet – sie stierten wie die Augen von unter Gelbsucht leidenden Patienten stumpf und nichts sagend aus den rissigen Fassaden. Von irgendwoher drang der scheppernde Klang einer billigen Musikanlage herüber. Ein Mann brüllte, eine Frau kreischte. In der Ferne bellte ein Hund. Dies alles wurde untermalt von den allgegenwärtigen Geräuschen des Stadtverkehrs, der in Moskau auch um diese nachtschlafende Zeit nicht ruhte. Außerdem hing ein bestialischer Gestank nach faulendem Müll und Schimmel in der Luft, der Boris fast den Atem raubte. Er spürte, dass er nicht länger zögern durfte. Wenn er noch eine Minute länger unschlüssig in dieser stinkenden Gasse herumlungerte, würde sein Ekel und seine Abscheu so übermächtig werden, dass er auf dem Absatz umkehren und sich eilig davonmachen würde. Ob er sich später noch einmal dazu überwinden könnte, den Stadtteil aufzusuchen, wagte er zu bezweifeln. Sein Problem musste er dann auf andere Weise lösen. Doch das war nicht möglich. Boris Karmanow hatte alles in seiner Macht stehende getan, um dieser Angelegenheit Herr zu werden – und es war ihm nicht gelungen. Umso wichtiger war es, dass er nun endlich in Aktion trat! Boris gab sich einen Ruck und überquerte hastig die Straße. Er eilte die drei ausgetretene Stufen zum Souterrain hinab und stand schließlich vor der Tür mit der Hausnummer sieben. Die Fenster, die zu Madame Chikolews Wohnung gehörten, waren von innen mit schwarzer Lackfarbe bemalt, doch der Anstrich war fahrig ausgeführt worden. Der Pinsel hatte Streifen in der
Lackschicht hinterlassen, durch die nun ein rötlicher Schimmer nach außen drang. Vergeblich suchte Boris nach einer Klingel. Schließlich ballte er die Faust und schickte sich an, gegen das Türblatt zu trommeln. In diesem Moment schwang die Tür mit lautem Knarren auf und ein kleinwüchsiger, krummbeiniger Mann stand vor ihm. Ein schräges, dreckiges Grinsen umspielte die Lippen des Gnoms. Er trug einen fleckigen braunen Kordanzug und darunter einen schwarzen Rollkragenpullover. Das halblange schmierige Haar hatte er sich hinter die Ohren gestreift, die fast rechtwinklig von seinem Kopf abstanden und eindeutig zu groß waren. »Haben Sie sich endlich dazu durchgerungen, uns mit Ihrem Besuch zu beehren?«, fragte er respektlos, wobei er das Kunststück vollbrachte, das dreckige Grinsen beizubehalten. »Sie wären nicht der Erste, der den Mut nicht aufbringt und unverrichteter Dinge wieder abzieht.« Boris starrte den Zwerg finster an. Anscheinend hatte dieser Bursche ihn beobachtet, während er unschlüssig im Schatten auf der anderen Straßenseite gestanden und seinen Gedanken nachgehangen war. »Ich möchte mit Madame Chikolew sprechen«, sagte Karmanow barsch. Das Grinsen auf dem Gesicht seines Gegenübers vertiefte sich noch. »Dass Sie keine Unterredung mit mir zu führen wünschen, hätte ich mir fast denken können.« Boris wollte zu einer scharfen Erwiderung ansetzten. Doch in diesem Moment winkte der Gnom ihn herein, wobei Karmanow befremdet feststellte, dass der Arm, mit dem der Mann gewunken hatte, viel länger als der andere war. »Kommen Sie rein«, sagte der Zwerg vergnügt und trat zur Seite. »Madame Chikolew erwartet Sie bereits.« Zögernd kam Boris der Aufforderung nach. Er bereute es, dass er
seinem Chauffeur und Leibwächter aufgetragen hatte, am Rand des Stadtviertels mit der Limousine auf ihn zu warten. Wenn dies ein Hinterhalt war, wäre er ganz auf sich allein gestellt. Unwillkürlich tastete er über seinen Mantel. Als er die Härte der Pistole in seinem Gürtelhohlster spürte, beruhigte er sich wieder. Misstrauisch ließ er den Blick durch das Zimmer schweifen, beäugte die hohen, schmiedeeisernen Kerzenständer, die im Raum verteilt standen. Sie waren mit dicken schwarzen Kerzen bestück, deren Flammen unruhig flackerten. Der Gnom schob sich an Boris vorbei auf einen Schreibtisch zu, der mit der Schmalseite an der Wand stand und so weit in den Raum hineinragte, dass er ihn in zwei Bereiche teilte. Umständlich zwängte sich der Gnom durch den schmalen Durchgang, der auf der anderen Seite zwischen dem Tisch und der Wand verblieben war, nahm hinter dem Schreibtisch auf einem Barhocker Platz und sah Boris mit seinen Glubschaugen erwartungsvoll an. »Was ist nun?«, blaffte Karmanow ungehalten. »Wollen sie mich nicht zu Madame Chikolew führen?« Der Mann schlug ein seltsam anmutendes Gästebuch auf und rückte es auf dem Tisch zurecht. »Wenn Sie sich zuvor hier bitte mit Ihrem Namen verewigen wollen«, sagte er mit übertriebener Höflichkeit. Boris trat zögernd vor den Schreibtisch hin und starrte das Buch misstrauisch an. Die aufgeschlagenen Seiten waren leer. Es schien sich bei den Bögen jedoch nicht um Papier, sondern eher um Pergament zu handeln, wie Boris leicht verwundert feststellte. Er glaubte sogar eine schwache Maserung auf den gelblichen Seiten zu erkennen, die ihn entfernt an die Fältchen auf der Haut eines Menschen erinnerte. Angewidert betrachtete er die Borsten, die von den Kanten des ledernen Einbandes abstanden.
»Sie brauchen keine Angst zu haben«, ließ sich der Gnom vernehmen. »Ihre Daten werden bei uns vertraulich behandelt. Kein Mensch wird erfahren, dass Sie hier waren.« Gewaltsam riss sich Boris von dem Anblick des seltsamen Buches los. »Und wozu soll ich dann meinen Namen eintragen?« »Weil Madame Chikolew Sie sonst nicht empfangen wird«, erwiderte der Gnom und grinste entwaffnend. Boris atmete tief durch. Wenn er nicht so arg in Bedrängnis gewesen wäre, hätte er dem kleinwüchsigen, unverschämten Burschen jetzt die Faust ins Gesicht gerammt und wäre gegangen. So aber musste er das skurrile Spiel, das der Gnom mit ihm trieb, wohl oder übel mitspielen. Er schickte sich an, seinen Mantel zu öffnen, um seinen goldenen Füller aus der Innentasche hervorzuziehen. »Das ist nicht nötig«, wehrte der Gnom ab, zog eine Schublade auf und holte eine altertümliche Schreibfeder hervor. Es handelte sich um eine lange, geschwungene, rabenschwarze Vogelfeder. An ihrem Ende war mit einem Bindfaden eine Art Kralle angebracht. »Strecken Sie die Hand aus«, forderte der Gnom. In dem Glauben, der Gnom wollte ihm die Schreibfeder überreichen, hielt Karmanow ihm die Hand hin – und schrie auf, als ihm der Gnom die Spitze der Feder tief in den Handballen trieb. »Haben Sie den Verstand verloren!«, rief Boris erbost und wedelte mit der verletzten Hand herum, als hätte er sich verbrannt. Er war drauf und dran, die russische Armeepistole zu ziehen, um dem Gnom eine Kugel in seinen hässlichen Schädel zu jagen. Aber der seltsame Bursche grinste nur und hielt Boris die Feder hin, an dessen Spitze nun ein dicker Blutstropfen hing. »Schreiben Sie!« Verärgert riss Boris dem Mann die Feder aus den Fingern und kritzelte seinen Namen auf die leere Seite. Das trockene Kratzen und
Schaben, das dabei entstand, ließ ihn innerlich erschauern. Die Angelegenheit kam ihm plötzlich mehr als nur idiotisch vor. Er warf die Feder auf die Schreibtischplatte und starrte den Gnom wütend an. »Und jetzt will ich Madame Chikolew sehen!« »Selbstverständlich«, erklärte sein Gegenüber geflissentlich. Er katzbuckelte und deutete dann wie ein Zirkusdirektor auf eine Tür hinter ihm. »Madame Chikolew wird Sie jetzt empfangen.« Boris schob sich durch den Spalt zwischen Wand und Schreibtisch und folgte dem Gnom, der ihm humpelnd vorauseilte und seine langen, dürren Finger schließlich auf die Türklinke legte. »Sie dürfen Madame Chikolew nicht zu nahe kommen«, mahnte er und hob den Zeigefinger. »Bleiben Sie mehrere Schritte von ihr entfernt.« Er grinste dreckig. »Diese Maßnahme dient zu Ihrer eigenen Sicherheit. Hüten Sie sich also, Madame Chikolew zu berühren. Das wäre Ihr Ende.« »Quatschen Sie nicht so lange«, blaffte Boris, dem die Sache allmählich zu bunt wurde. Langsam bereute er, hierher gekommen zu sein – und er nahm sich vor, dem Gnom von seinen Leuten eine Abreibung verpassen zu lassen, sollte sich herausstellen, dass der Besuch in dieser verwahrlosten Souterrainwohnung die Mühe nicht wert gewesen war. In diesem Moment öffnete sich die Tür vor Boris und er blickte in einen düsteren großen Raum. Ein seltsamer herber Moschusgeruch strömte ihm entgegen und benebelte seine Sinne. Auch in diesem Zimmer standen hohe Kerzenständer. Doch das Licht der schwarzen Kerzen breitete sich kaum aus, so dass nur wenige Einzelheiten zu erkennen waren. Dass er die Schwelle der Zimmers bereits übertreten hatte, bemerkte Boris erst, als die Tür hinter ihm plötzlich ins Schloss fiel. Ein rascher Blick über die Schulter verriet ihm, dass der Gnom ihm
nicht gefolgt war, was ihm nur recht war. Es hätte ihm ganz und gar nicht behagt, vor diesem seltsamen Burschen von den Problemen zu sprechen, die in seiner Organisation aufgetreten waren. Boris Karmanow richtete seine Aufmerksamkeit nun wieder nach vorn. Angestrengt versuchte er, das seltsame Halbdunkel, das in dem Zimmer herrschte, mit Blicken zu durchdringen. Schließlich entdeckte er ein großes rundes Bett, das genau in der Mitte des Raums stand, etwa drei Schritte von ihm entfernt. Doch das Bett schien leer zu sein. Was er anfangs für einen Körper gehalten hatte, entpuppte sich bloß als ein Dutzend bunter Kissen, die verstreut auf der Decke lagen. Sie waren teilweise mit kleinen runden Spiegeln bestickt, die das trübe Kerzenlicht widerspiegelten. Obwohl Boris’ Augen sich langsam an das seltsame Licht gewöhnten, vermochte er doch nirgendwo eine Gestalt zu erblicken. Er stellte aber fest, dass das runde Bett der einzige Einrichtungsgegenstand in diesem Zimmer war. Von der Decke – die viel höher war, als die in dem Raum, in dem ihm der Gnom empfangen hatte – hing ein schwarzes seltsames Stoffgebilde herab. Boris vermutete, der wie ein schlaffer Wetterballon von der Decke herabhängende Stoff wäre der Himmel des runden Bettes. Wahrscheinlich, so überlegte er, ließ sich der Stoff wie ein Baldachin aufspannen, so dass das ganze Bett schließlich davon überwölbt wurde. Boris grinste, als er an die ausgefallenen Bettkreationen denken musste, die er in den Schlafzimmern der reichen Damen gesehen hatte, die er hin und wieder mit seiner Aufmerksamkeit beglückte. Gegen diese aufwändigen Installationen war dieser nachtschwarze, zusammenklappbare Baldachin eher lächerlich zu nennen. Plötzlich zuckte er zusammen – und die Erinnerung an die delikaten Schlafzimmereinrichtungen seiner Geliebten stoben wie aufgeschreckte Krähen davon. Aus dem unteren Teil des schlaffen Ballons starrte ihm das bleiche
Gesicht einer Frau entgegen. Das Gesicht stand auf dem Kopf und wirkte wegen des es umgebenden schwarzen Stoffes und der grellrot geschminkten Lippen so weiß wie das Antlitz einer Toten. Doch die Augen der Frau blickten nicht starr und tot ins Nichts – sie waren unverwandt auf Boris gerichtet und schienen ihn mit ihren Blicken sezieren zu wollen. Karmanow schluckte und taxierte den von der Decke herabhängenden Stoff genauer. Nun, da er wusste, dass eine Frau kopfüber in diesem schlaffen Ballon steckte, glaubte er die weiblichen Konturen deutlich zu erkennen, die sich unter dem schwarzen Stoff abzeichneten. Wie es aussah, hatte Madame Chikolew ihre Füße irgendwo an der Decke untergehakt und schwebte mit dem Kopf etwa einen Meter über dem Bett. Was der Zweck dieser ungewöhnlichen Turnübung war, vermochte Boris nicht zu sagen. Er vermutete aber, dass Madame Chikolew mit ihrem Tun den Rat irgendeiner abgedrehten Schönheitsberaterin folgte. Vielleicht glaubte diese Frau, ihre Gesichtshaut würde länger jung erscheinen, wenn sie eine Stunde am Tag kopfüber an der Decke hing. Als Boris’ Frau noch lebte, hatte sie ähnliche verrückte Dinge unternommen, um sich ihr jugendliches Aussehen zu bewahren. Doch all die schmerzhaften Jogaübungen und auch die Gurken und Avocadoscheiben in ihrem Gesicht hatten Mirka Karmanow nicht vor dem Krebsleiden bewahren können, das sie schließlich kurz vor ihrem vierzigsten Geburtstag dahinraffte. »Was führt dich zu mir, Boris Karmanow«, ließ sich die Frau in dem seltsamen Stoffballon plötzlich vernehmen. Ihre Stimme klang dünn und leise. Trotzdem konnte Boris sie deutlich verstehen. »Ich … ich hoffe, ich komme nicht ungelegen«, stammelte er. Madame Chikolew warf den Kopf in den Nacken und lachte meckernd, was in ihrer seltsamen Körperhaltung auf Boris mehr als
skurril wirkte. »Kommt ganz darauf an, was du von mir willst«, antwortete sie. Boris sah sich verstohlen um. »Ich … bin in einer äußerst delikaten Angelegenheit zu Ihnen gekommen«, erklärte er schließlich zögernd. »Das klingt viel versprechend.« Boris wusste nicht, ob dieser Einwurf aufmunternd oder frivol gemeint war. »In meiner Organisation scheint es einen Verräter zu geben«, wurde er deshalb gleich konkreter. »Jemand beraubt mich.« Die Frau lächelte sardonisch. »Boris Karmanow, ein Ganove, dessen Organisation sich auf Kunstraub und Hehlerei spezialisiert hat, wird selbst bestohlen?« Boris maß die Frau mit einem prüfenden Blick. Obwohl ihre Worte spöttisch geklungen hatten, hatte er nicht das Gefühl, als wollte sie sich über ihn lustig machen. Madame Chikolew wusste beunruhigend viel über ihn und seine Organisation, wie er fand. Boris konnte sich aber nicht vorstellen, dass sie dieses Wissen von Thomas Lewkos bezogen hatte. Dieser galt als äußerst verschwiegen und loyal und würde sich selbst von einer so exzentrischen Frau wie Madame Chikolew nicht zum Plaudern verleiten lassen. »Ich bin mit meinem Latein am Ende«, gestand Boris, der beschlossen hatte, vorerst nicht nachzuforschen, warum Madame Chikolew so viel über ihn wusste. »Mir wurde gesagt, Sie könnten mir bei der Behebung dieses Problems helfen.« »Was genau soll ich denn tun?«, erkundigte sich Madame Chikolew vorsichtig. »Finden Sie denjenigen, der mich beklaut – und machen Sie ihm den Garaus!«, erwiderte Boris hart. Die Frau riss den Mund plötzlich auf und stieß ein schrilles Kreischen aus.
Boris wich erschrocken zurück. Er glaubte, zwei Reihen spitzer Stummelzähne hinter den grellrot geschminkten Lippen der Frau erkannt zu haben. Ein Beben und Zittern ging durch den schlaffen Stoffbeutel. Madame Chikolew warf den Oberkörper so heftig hin und her, als hätte sie in ihrem seltsamen Kokon plötzlich Raumangst bekommen. Dabei stieß sie schrille spitze Schreie aus, die in Boris’ Ohren so befremdlich klangen, dass er nicht zu sagen vermochte, ob sie nun Schmerz oder Lust ausdrücken sollten. Plötzlich breitete Madam Chikolew die Arme aus – und das, was Boris für einen Sack gehalten hatte, öffnete sich. Überrascht stellte er fest, dass Madame Chikolew unter dem schwarzen Stoff nackt war. Ihre verkehrt herum herabhängenden bleichen Brüste boten zwar ein ungewöhnliches Bild, wirkten auf Boris in ihrer befremdlichen Pose aber dennoch sehr anziehend und reizvoll. Boris erhielt keine Gelegenheit, den schlanken Leib der jungen Frau länger anzustarren. Im nächsten Moment stürzte Madame Chikolew mitsamt ihrem schwarzen Cape auf das Bett hinab. Dies geschah jedoch in einer sehr elegant anmutenden Bewegung. Der schwarze Stoff rauschte, während die Frau im Sturz einen halben Salto beschrieb und rittlings auf dem nachfedernden Bett landete. Mit einer flinken Bewegung wirbelte Madame Chikolew auf ihrem Bett zu Boris herum und schleuderte das schwarze Cape dabei mit ausgestreckten Armen empor. Wie ein aufgebauschtes Segel flatterte der nachtschwarze Stoff durch die Luft und schmiegte sich im Hinabsinken wie ein Mantel um den zierlichen Körper der Frau. Boris war so verblüfft und perplex, dass er nur dastand und staunte. Für einen Moment hatte er den Eindruck gehabt, bei dem Cape würde es sich eher um eine Art Poncho handeln, der an den zierlichen Handgelenken, am Rücken und den Fußfesseln der Frau befestigt war. Auch schien dieses ungewöhnliche Kleidungsstück
viel weniger aus Stoff, denn aus dünnem, geschmeidigem Leder zu bestehen … »Du willst also, dass ich jemand für dich töte?«, fragte Madame Chikolew plötzlich mit ruhiger, gelassener Stimme. Sie saß im Lotossitz aufrecht auf dem Bett und blickte Boris mit ihren dunklen Augen unverwandt an. Ihr Haar war rabenschwarzes und dicht, wie Boris erst jetzt erkannte. Es war jedoch zu einer seltsamen Frisur aufgetürmt, die ihn an einen altertümlichen Dutt erinnerte. Nur, dass Madame Chikolews Haar zu zwei Dutts aufgetürmt war, die zu beiden Seiten schräg vom Kopf abstanden, so dass der Eindruck von großen, abstehenden Fledermausohren entstanden war. Boris nickte abgehakt. »Ja – Sie sollen diesen verfluchten Langfinger für mich ausfindig machen und erledigen.« »Und es gibt für dich keinen anderen Weg?«, hakte die Frau nach. »Wäre ich sonst hier?«, erwiderte Boris gereizt. Doch dann besann er sich wieder. »Ich bewahre besonders wertvolle Gemälde in einem versteckten Safe in meinem Palast auf«, erklärte er. »Nur ich kenne die Zahlenkombination. Der Tresor ist außerdem an einer Stelle versteckt, die ich bisher für sicher und unauffindbar gehalten hatte.« »Und dieser Safe wurde nun entdeckt und geknackt?«, hakte Madame Chikolew nach. Boris schnaubte verächtlich. »Wenn es so simpel wäre, brauchte ich Ihre Hilfe nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist weitaus komplizierter. Wer immer sich dieser kostbaren Gemälde bemächtigte, die meine Leute während spektakulärer und sehr kostspieliger Aktionen aus einer Reihe europäischer Museen stahlen, geht bei diesem erneuten Diebstahl äußerst raffiniert vor. Der Safe wurde nicht etwa aufgebrochen oder auf andere Art gewaltsam geöffnet.« Er ballte die Fäuste. »Diese Person muss den komplizierten Kode geknackt haben, mit dem der
Schließmechanismus aktiviert wird. Dieser Bursche öffnete meinen Safe, als würde es sich bloß um eine gewöhnliche Sparbüchse handeln. Er entnahm die Gemälde, schloss die Safetür sorgfältig wieder und verschwand – und dies, ohne dass die Alarmsysteme ausgelöst wurden oder irgendetwas Verdächtiges auf den Videobändern der Überwachungskameras aufgezeichnet worden wäre.« »Klingt, als wäre da ein Spezialist am Werk gewesen«, merkte Madame Chikolew an. »Es dürfte auf der ganzen Welt nur einige wenige Personen geben, die so etwas zuwege bringen können. Du wirst diese Leute vermutlich alle kennen.« Boris lachte verächtlich – und bemerkte, dass es ihm plötzlich danach gelüstete, sich dem Bett und der jungen Frau zu nähern. »Ich weiß, worauf Sie hinaus wollen«, sagte er rau. »Ich bin mir aber sicher, dass keiner der mir bekannten Diebe für diese Tat in Frage kommt. Nicht nur, dass diese Leute es nicht wagen würden, bei mir einzubrechen. Um an die Informationen heranzukommen, die sie für diesen Coup benötigten, hätten sie mit einer ganzen Reihe von Männern und Frauen zusammenarbeiten müssen, die mein absolutes Vertrauen genießen.« Boris machte eine hilflose Geste und vergrub die Hände anschließend in den Manteltaschen. Er fragte sich plötzlich, wie es wohl wäre, den Körper dieser rätselhaften Frau zu berühren. Er wollte ihr Haar lösen und die Finger darin vergraben. Er wollte ihren Kopf zurückziehen und ihr seinen Mund auf ihre feuerrot geschminkten Lippen pressen … »Finden Sie diesen mysteriösen Dieb und schalten Sie ihn aus«, sagte er gepresst. »Er hat mich vor meinen Leuten bloßgestellt – und mir eine Menge Probleme eingebracht. Die Kunden, die die gestohlenen Gemälde kaufen wollten, sind ziemlich sauer. Mein guter Ruf steht auf dem Spiel …« Boris verstummte. Er fand, er hatte genug gesagt. Jetzt war
Madame Chikolew am Zug. Die junge Frau schien das genauso zu sehen. Doch was sie jetzt tat, versetzte Boris so sehr in Erstaunen, dass er nur mit offenem Mund dastehen und sich wundern konnte. Madame Chikolew reckte den Hals, spitzte die Lippen und spukte aus. Ein glitzernder Speichelfaden verließ ihre Lippen und flog im hohen Bogen auf eine der brennenden Altarkerzen zu. Es zischte und trödelte, als der Speichel die Flamme traf. Doch anstatt zu erlöschen, loderte die Flamme auf und veränderte die Farbe. Grünes, waberndes Licht erfüllte das Zimmer. Schwarzer, ätzender Rauch stieg über der Kerze empor. Er kräuselte sich und bildete seltsame, schwebende Muster. Ein unergründliches Lächeln umspielte Madame Chikolews feucht schimmernde Lippen, während sie den kräuselnden Rauch aufmerksam betrachtete. Als sie Boris wieder das Gesicht zuwandte, war ein kalter, mordlüsterner Ausdruck in ihre Augen getreten. »Betrachte dein Problem als erledigt«, sagte sie kurz angebunden. Boris blinzelte verwirrt. »Soll das heißen, Sie nehmen den Auftrag an?« Madame Chikolew nickte. »Die erste Person, die dir nach deiner Heimkunft in deinen Palast über den Weg läuft, ist der Dieb deiner Gemälde«, erklärte sie. »Diese Person wird noch in dieser Nacht den Tod finden – wie du es verlangt hast, Boris Karmanow!« Eine zierliche Hand schob sich unter dem Poncho hervor. Die Fingernägel waren fast so lang wie die Finger selbst, leicht gekrümmt und giftig‐gelb. »Verschwinde jetzt!«, befahl Madame Chikolew und winkte verächtlich mit der Hand, als wollte sie einen streunenden Hund vertreiben. »Ich muss mich auf die bevorstehende Aufgabe vorbereiten!«
Boris starrte lüstern zu der Frau hinüber und er fragte sich, ob sie sich wohl darauf einlassen würde, sich mit ihm zu vergnügen, ehe sie ihn von diesem lästigen Dieb befreite. Doch bevor er sich der Frau nahem konnte, fasste ihn plötzlich jemand am Arm. Verärgert fuhr Boris herum und blickte zornig auf den Gnom hinab, der lautlos hinter ihm aufgetaucht war. »Ihre Anwesenheit ist nicht länger erwünscht.« Der Gnom grinste schräg, während er dies sagte. »Entfernen Sie sich jetzt bitte. Meine Herrin benötigt dringend Ruhe, um sich auf das Bevorstehende vorzubereiten.« Boris’ erster Impuls war, die gichtkrumme Hand des Mannes abzuschütteln und ihn von sich zu stoßen. Er wollte Madame Chikolew besitzen – und zwar jetzt! Doch etwas in dem Blick des kleinwüchsigen Mannes brachte ihn wieder zu sich. Es lag etwas Lauerndes, Drohendes in den dunklen Augen. Etwas, das es Boris für angeraten erscheinen ließ, die Worte des Gnom zu befolgen und sich aus dem Staub zu machen. Andernfalls würde er die Chance verspielen, dass der mysteriöse Dieb endlich aus dem Weg geräumt wurde. Boris nickte abgehackt und wandte sich noch einmal dem Bett zu. Er wollte sich wenigstens von Madame Chikolew verabschieden. Doch die hatte sich inzwischen vollständig in ihren seltsamen Poncho gehüllt. Anscheinend hatte sie die Arme über dem Kopf ausgestreckt, denn der Poncho, der vorne gänzlich geschlossen war, ragte nun eine Armlänge über Madame Chikolews verhüllten Kopf hinaus und lief oben spitz zusammen. Nur die langen, krummen Fingernägel lugten oben aus der Spitze hervor und muteten wie breite Grashalme an, die aus der Kuppe des zeltförmigen Gebildes hervor wuchsen. Der Gnom zog Boris am Arm aus dem Zimmer und schloss die Tür leise hinter sich.
»Wir – haben noch gar nicht über die Bezahlung verhandelt«, sagte Boris verwirrt, während der Gnom ihn an dem Schreibtisch vorbei auf die Haustür zuschob. »Machen Sie sich keine Gedanken«, erwiderte der Zwerg und langte an Boris vorbei nach dem Türgriff. »Alles Nötige wurde bereits getan. Gehen Sie jetzt!« Der Gnom drängte Karmanow ins Freie und warf die Tür krachend hinter ihm ins Schloss. Boris blieb zögernd stehen. Er hatte plötzlich ein ungutes Gefühl und er fragte sich, ob er etwas übersehen oder gar einen Fehler gemacht hatte. Doch im nächsten Augenblick schüttelte er den Kopf und blickte auf seine goldene Armbanduhr. Es war kurz vor elf Uhr. Die Nacht würde zeigen, ob Madame Chikolews rätselhaften Ankündigungen wirklich etwas taugten. Wenn nicht, konnten sie und dieser Wicht sich auf etwas gefasst machen! Boris stieg die Stufen empor und da es angefangen hatte zu regnen, schlug er den Kragen seines Mantels hoch und machte sich eilig auf den Weg zu seiner Limousine …
* Die Fahrt ins Kreml‐Viertel verlief schweigend und ruhig. Jewgenij, Karmanows Fahrer und Leibwächter, lenkte die schwere Limousine gelassen durch die Straßen von Moskau und warf seinem Chef durch den Rückspiegel hin und wieder einen stummen Blick zu. Aber Boris verspürte nicht die geringste Lust auf ein Gespräch. Stattdessen hing er seinen düsteren Gedanken nach, die sich um Madame Chikolew und ihren abstoßenden Angestellten drehten. Erst jetzt wurde ihm richtig bewusst, wie skurril das Treffen mit
Madame Chikolew gewesen war – und wie absurd ihre Worte und Ankündigungen geklungen hatten. Diese Frau ist völlig irre! Zu diesem Schluss wäre Boris Karmanow gerne gekommen, wenn es da nicht noch diese andere Erklärung für das ungewöhnliche Verhalten der Frau gegeben hätte. War Madame Chikolew etwa tatsächlich eines jener merkwürdigen Geschöpfe? Besaß sie Fähigkeiten und Talente, die sich ein normaler Mensch unmöglich aneignen konnte? »Die erste Person, die dir nach deiner Heimkunft in deinen Palast über den Weg läuft, ist der Dieb deiner Gemälde.« Diese von Madame Chikolew ausgesprochenen Worte erhielten für Boris unter diesem Gesichtspunkt ein viel größeres Gewicht. Konnte es tatsächlich sein, dass der erste Mensch, der ihm gleich in seinem Palast begegnete, der mysteriöse Dieb war, der ihm in den letzten Wochen das Leben zur Hölle gemacht hatte? Boris krauste die Stirn. Wenn ihm der Dieb in seinem eigenen Haus gegenübertreten würde, bedeutete das wahrscheinlich, dass er zu seinen engsten Vertrauten zählte. Grimmig ballte er die Fäuste. Wer immer ihm in seinem Palast als Erster gegenübertrat, würde sein blaues Wunder erleben! Nun konnte er es kaum noch erwarten, endlich in seinem Palast anzulangen. Schon wollte er sich vorbeugen, um Jewgenij zu befehlen, schneller zu fahren, als er überrascht feststellte, dass sie die Einfahrt zu seinem Grundstück soeben erreicht hatten. Das schmiedeeiserne Tor glitt lautlos auf und Jewgenij lenkte die Limousine über den mit Kies bestreuten Weg, der in sanften Windungen durch den Baum bestandenen Garten auf den mit Scheinwerfern hell angestrahlten Palast zuführte. Als die Limousine kurz darauf vor dem Säulenportal stoppte, wies Boris seinen Leibwächter an, den Wagen in die Tiefgarage zu fahren und einen Ölwechsel vorzunehmen.
Auf diese Weise wollte Boris gewährleisten, dass Jewgenij, der sonst nicht von seiner Seite wich, ihm in den nächsten Minuten nicht in die Quere kam. Er wäre untröstlich gewesen, wenn sich herausgestellte, dass Jewgenij der Verräter war. Beklommen verließ Boris die Limousine und wartete, bis sein Chauffeur davongefahren war. Erst jetzt näherte er sich dem protzigen Portal. Dass ihm der Regen dabei ins Gesicht peitschte, störte Boris nicht im Geringsten. Seine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf den Moment, da er seinen Palast betreten würde. In seinem Gedächtnis spulte er eine Liste von Personen ab, die ihm gleich in seinem Palast entgegentreten könnten – sein Butler oder ein Dienstmädchen, aber auch sein Buchhalter oder seine neue Geliebte … Seine Hand zitterte leicht, als er nun nach der Türklinke griff. Im nächsten Moment riss er den schweren Türflügel mit einem entschlossenen Ruck auf – und blieb wie angewurzelt stehen. Eine eiskalte Hand griff nach seinem Herzen. Nur wenige Schritte entfernt von ihm stand eine junge, blonde Frau. Sie trug eine Jeanslatzhose und darunter ein einfaches weißes T‐Shirt. Ihr Haar glänzte seidig im Licht des Kronleuchters, der in der Mitte der Eingangshalle von der Decke hing. »Papa!«, rief die Frau, nachdem sie ihren Schrecken überwunden hatte, der sie überfallen hatte, als die Eingangstür so unverhofft und heftig auf gestoßen worden war. »Da bist du ja endlich!« Freudestrahlend und mit ausgebreiteten Armen kam sie auf Boris Karmanow zu, um ihn in ihre Arme zu schließen …
* »Anja«, kam es rau über Boris’ Lippen, während er die Umarmung
seiner Tochter zögernd erwiderte. Er schob sie von sich und blickte verwirrt in ihr schönes Gesicht, das ihn so sehr an seine verstorbene Frau erinnerte. »Was … was hast du hier in Moskau verloren? Ich … ich dachte, du wärst in Paris!« Anja krauste die Stirn und machte einen Schmollmund. »Freust du dich denn gar nicht, mich zu sehen?« »Nein!«, rief Boris verzweifelt aus. »Doch! Schon …«, beeilte er sich dann hinzuzufügen, als er Anjas gekrängten Gesichtsausdruck bemerkte. »Es ist nur – dein Auftauchen kommt für mich sehr überraschend.« Anja lächelte glücklich. »Ich habe ja auch eine tolle Neuigkeit für dich«, verkündete sie. »Aber die wollte ich dir lieber persönlich mitteilen.« Plötzlich verzerrte sich ihr Gesicht. Stöhnend wich sie von ihrem Vater zurück und presste eine Hand auf den Magen. »Was hast du?«, erkundigte sich Boris besorgt und wollte auf Anja zugehen. Doch seine Tochter hob abwehrend die Hand. »Es … es wird bestimmt gleich wieder gut«, sagte sie gepresst. Doch plötzlich beugte sie sich mit einem leisen Aufschrei vor. Ein Schwall Erbrochenes quoll aus ihrem Mund und klatschte auf den Mosaikboden. »Anja!«, rief Boris voller Sorge. Mit einem raschen Schritt war er bei seiner Tochter und legte ihr fürsorglich einen Arm um den gebeugten Rücken. Wieder erbrach sich Anja, sie hustete und spukte. Endlich wischte sie sich mit dem Handrücken verlegen über die Lippen und richtete sich auf. Ihr Gesicht war nun leichenblass, dunkle Ringe lagen unter ihren Augen und auf ihrer Stirn perlte der Schweiß. »Entschuldige, Paps …«, setzte sie an und grinste verunglückt.
Mehr brachte sie nicht über die Lippen. Im nächsten Moment verdrehte sie die Augen und brach ohnmächtig zusammen. Boris fing seine Tochter gedankenschnell auf. Verzweifelt blickte er sich in der Eingangshalle um. Es war aber weit und breit niemand zu sehen. »Kane!«, rief er mit durchdringender Stimme nach seinem Butler. »Wo stecken Sie, verdammt?« Hastig lud er sich seine bewusstlose Tochter auf den Arm und strebte auf eine der reich verzierten Türen zu, die von der Eingangshalle abzweigten. In diesem Moment eilte Kane herbei. Sein Gesicht wurde so grau wie sein schütteres Haar, als er sah, was vorgefallen war. »Was ist mit Anja?«, nahm er sich heraus zu fragen. »Das geht Sie nichts an!«, blaffte Karmanow. »Rufen sie einen Arzt – schnell!« Der Butler verschwand wieder und Boris trug Anja zu einem Kanapee hinüber. Das Zimmer war reich mit antiken Möbeln ausgestattet und wirkte so gediegen und elegant wie das Empfangszimmer eines Fürsten. Als Boris seine Tochter auf das Kanapee legte, stöhnet sie benommen und warf den Kopf kraftlos hin und her. Beklommen starrte Boris auf sie hinab – und er wünschte sich, es wäre Kane gewesen, der beim Öffnen der Haustür vor ihm erschienen war. Warum musste es ausgerechnet sein einziges Kind treffen? Anja studierte in Paris Kunstgeschichte. Sie steckte mitten im Examen. Niemals hatte er damit gerechnet, dass sie Paris verlassen würde. Boris presste die Zähne zusammen. Er kannte die Antwort auf diese Frage: Seine eigene Tochter war der geheimnisvolle Dieb! Aber warum hatte sie das getan? Sie wusste doch gar nichts über seine verbrecherischen Aktivitäten. Er hatte sie stets in dem Glauben
gelassen, er würde sein Geld mit Börsengeschäften verdienen. Boris war es plötzlich egal, warum Anja ihn bestohlen hatte. Er wollte diese verfluchten Gemälde nicht wiederhaben, wenn er dadurch seine Tochter retten konnte! Ein Gedankenblitz durchzuckte ihn. Er musste Madame Chikolew aufsuchen und ihr mitteilen, dass er seinen Auftrag, den Dieb zu töten, wieder zurückzog. Gehetzt blickte er auf Anjas blasses, verschwitztes Gesicht. Er war sich sicher, dass ihr plötzlicher Schwächeanfall von Madame Chikolew hervorgerufen worden war. Sie hatte begonnen, den Mordauftrag auszuführen – auf eine Art und Weise, wie es nur ein seltsames Geschöpft zu tun vermochte. Boris musste sie unbedingt stoppen! Gerade wollte er losstürmen, als Anja plötzlich die Augen aufschlug. Blinzelnd sah sie sich um und als ihr Blick auf ihren Vater fiel, schlich sich ein dünnes Lächeln auf ihre Lippen. Eine unbändige Wut ergriff plötzlich Besitz von Boris. »Warum?«, rief er voller Zorn und starrte seine Tochter durchdringend an. »Warum hast du mich bestohlen?« Anja krauste verwirrt die Stirn – und für einen flüchtigen Moment stieg in Boris die Hoffnung auf, das der fürchterliche Verdacht sich zerschlagen und Madame Chikolews Worte sich bloß als Humbug herausstellen würden. Doch Anja zerstörte diese Hoffnung endgültig, als sie sagte: »Wie … wie hast du herausgefunden, dass ich die Gemälde an mich gebracht habe?« Boris hatte das Gefühl, jemand würde einen Kübel eiskaltes Wasser über ihn ausgießen. Es stimmte also doch. Anja war der geheimnisvolle Dieb! Madame Chikolews Ankündigung hatte sich bewahrheitet! Benommen wich Boris von dem Kanapee zurück. »Ich … ich
verstehe nicht …« Anja streckte ihre Hand aus. Als sie ihren Vater aber nicht erreichen konnte, ließ sie den Arm kraftlos wieder sinken. »Ich habe es für dich getan«, sagte sie müde. »Man wird dich für viele Jahre ins Zuchthaus sperren, wenn die Gemälde bei dir gefunden werden.« »Wer sollte diese Gemälde bei mir finden?«, fragte Boris perplex. »Und woher weißt du überhaupt …?« Das müde Lächeln auf den bleichen Lippen seiner Tochter ließ ihn verstummen. »Ich bin bei weitem nicht so naiv, wie du denkst. Ich weiß, was hier gespielt wird – und welche Position du in der Moskauer Unterwelt hast. Ich bin schließlich nicht dumm.« Ihr Lächeln vertiefte sich noch. »Eigentlich solltest du stolz auf deine Tochter sein. Oder kennst du einen anderen Dieb, der es fertig gebracht hätte, allein in deinen Palast einzudringen, deine Sicherheitssysteme zu überlisten und den Kode deines geheimen Safes zu knacken?« Boris war wie vor den Kopf geschlagen. »Wo sind die Gemälde jetzt?« »Auf dem Weg nach Europa«, erwiderte Anja mit fester Stimme. »Sie werden den Museen zurückgegeben.« »Bist du von Sinnen?«, rief Boris. »Hast du eine Vorstellung, wie viel Geld, Mühe und Arbeit es mich gekostet hat, diese Bilder …« Anja setzte dem Redefluss ihres Vaters mit einer fahrigen Armbewegung ein Ende. »Europol ist dir auf den Fersen«, sagte sie rau. »Sie kleben schon viel dichter an dir dran, als du glaubst. Es wird in den nächsten Tagen ein ganzes Einsatzkommando bei dir einrücken und deinen schönen Palast auf den Kopf stellen.« »Woher weißt du das?«, fragte Boris entgeistert. Er hatte sich in seiner Position bisher immer sicher und unantastbar gefühlt.
Ein verklärtes Lächeln umspielte Anjas Lippen. »Ich weiß es von Lee Johnson«, sagte sie mit weicher, veränderter Stimme. »Er gehört dem Einsatzteam an, das bei Europol wegen der Einbrüche in den Europäischen Museen gebildet wurde.« Plötzlich verzerrte sich Anjas Gesicht wieder. Sie krümmte sich zusammen, ließ ihren Kopf seitlich über die Kante des Kanapees fallen und erbrach sich erneut. Boris schnürte es bei dem bejammernswerten Anblick, den seine Tochter bot, das Herz zusammen. Madame Chikolew ließ Anja elendig zugrunde gehen. Das musste er verhindern! In diesem Moment betrat Kane den Salon. Sein Gesicht wirkte erschrocken und besorgt zugleich. »Der Arzt wird gleich eintreffen«, sagte er mitfühlend. »Kümmern Sie sich um meine Tochter, bis der Arzt da ist!«, befahl Boris und schickte sich an, den Salon ohne weitere Erklärungen zu verlassen. »Wo willst du denn hin?«, rief Anja gepresst. Ihr Gesicht war schweißbedeckt, ein Speichelfaden hing ihr vom Mundwinkel. Boris blieb in der Tür stehen. »Ich muss dein Leben retten, Anja!«, sagte er rau. »Kane und ein Arzt werden sich inzwischen um dich kümmern. Bitte – halte durch … Die Schmerzen werden bald vorbei sein!« Er stürmte los, rannte quer durch die Eingangshalle. Dabei betätigte er das kleine Kommunikationsgerät, das er immer für Notfälle bei sich trug und Jewgenij in Alarmbereitschaft versetzen würde …
* Jewgenij scherte den Sportwagen in eine enge Kurve, ohne die Geschwindigkeit dabei zu drosseln. Die Reifen radierten
quietschend über den regennassen Asphalt und Boris wurde auf dem Beifahrersitz gegen die Tür geschleudert. Trotzdem wies er seinen Chauffeur nicht an, langsamer zu fahren. »Das dauert zu lange!«, rief er Jewgenij über das Heulen des hochtourig laufenden Motors hinweg zornig zu. »Hol alles aus dieser verdammten Kiste raus!« Der Chauffeur nickte grimmig und trat das Gaspedal bis zum Bodenblech durch. Die Scheibenwischer huschten wie Schatten über die Windschutzscheibe. Den steten Film aus fließendem Regenwasser vermochten sie dennoch nicht zu durchbrechen, so dass die Straßen und Häuser sich im Licht der Straßenlaternen nur als undeutliche Schemen hinter der Scheibe abzeichneten. Fast hätte Jewgenij ein Straßenschild gerammt, als er in eine enge Gasse bog. Der Kotflügel streifte einen Stapel Müllsäcke. Es gab einen dumpfen Schlag und der Abfall spritzte nach allen Seiten weg. »Hier muss es irgendwo sein!«, rief Boris und hob die Hand. Jewgenij bremste abrupt ab und ließ den Wagen langsam durch die Gasse rollen. Ein Blitz zuckte quer über den Himmel. Boris sah instinktiv nach oben – und glaubte für einen flüchtigen Augenblick eine geflügelte Gestalt am Himmel zu erkennen. Sie zeichnete sich deutlich vor den vom Blitz erhellten Wolken ab. Im nächsten Moment war die Gestalt wieder verschwunden und Boris war sich nicht mehr sicher, ob er nur einer Sinnestäuschung erlegen gewesen war. »Stopp!«, rief er hastig, als er neben dem Wagen die Treppe bemerkte, die zu Madame Chikolews Souterrainwohnung hinabführte. Durch die schwarz angemalten Scheiben sickerte noch immer das rötliche Licht der Kerzen. Boris stieß die Beifahrertür auf und rannte geduckt durch den prasselnden Regen.
Jewgenij beeilte sich, seinem Boss zu folgen. Die Hand ruhte dabei auf dem Griff seiner russischen PSM Pistole. »Aufmachen!«, befahl Boris und deutete mit einer Kopfbewegung auf die schwarz lackierte Eingangstür. Jewgenij legte an, verpasste dem Türschloss eine Kugel und gab dem Türblatt anschließend einen derben Tritt. Die Tür flog auf und krachte gegen die Wand. Das Kerzenlicht flackerte und der Gnom, der hinter seinem Schreibtisch gesessen und Eintragungen in dem seltsamen Kondolenzbuch vorgenommen hatte, sprang aufgebracht von seinem Stuhl auf. »Was wollen Sie?«, rief er mit seiner keifenden schrillen Stimme und trat hinter dem Schriebtisch hervor. »Madame Chikolew wird nicht erfreut sein, wenn sie …« Weiter kam der Mann nicht, denn Boris hatte mit einem raschen Blick in Jewgenijs Richtung sein Schicksal besiegelt. Die Waffe in dessen Hand bellte trocken auf. Der kleinwüchsige Mann taumelte getroffen zurück und brach zusammen. Ein hässliches Loch klaffte in seiner Stirn. Boris stieg über den Toten hinweg und stieß die Tür von Madam Chikolews Schlafzimmer auf. Gehetzt blickte er sich in dem von Kerzenlicht schummerig beleuchteten Raum um. Aber von Madame Chikolew war weit und breit nichts zu sehen. Weder lag sie in ihrem Bett, noch hing sie in ihrem seltsamen Poncho verkehrt herum an der Decke. »Sie ist nicht da!«, rief Boris alarmiert, nachdem er auch unter dem Bett nachgesehen hatte. Entsetzt wirbelte er zu seinem Leibwächter herum, der mit schussbereiter Waffe in der Tür stehen geblieben war. Das Bild der geflügelten Gestalt, die er vor wenigen Minuten am Himmel über der Gasse erspäht hatte, stand Boris nun wieder in aller Deutlichkeit vor Augen. Was er für die Ohren dieses
geflügelten Wesens gehalten hatte, war in Wahrheit Madame Chikolews hoch toupiertes Haar gewesen! Ein Schwindelgefühl erfasste Boris, als er zu verstehen begann. Madame Chikolew hatte sich auf ihre ganz eigene Art aufgemacht, seinen Mordauftrag auszuführen! Sie war mit ihrem seltsamen Poncho los geflogen, um den Dieb mit den eigenen Händen töten. Anjas Unwohlsein hatte einen ganz anderen Grund! Verzweifelt schlug sich Boris mit der flachen Hand gegen die Stirn. Natürlich!, schoss es ihm wie ein Stromstoß durch den Kopf, als er den Grund für Anjas Unwohlsein erkannte. Mirka, seine dahingeschiedene Frau, hatte ähnliche Symptome gezeigt, als sie mit Anja schwanger gewesen war! »Was jetzt, Boss?«, erkundigte sich Jewgenij in seiner einfältigen Art. »Wo ist die Schlampe, nach der Sie suchen?« »Auf dem Weg in den Palast!«, rief Boris rau und gab sich einen Ruck. »Wir müssen zurück – und diesmal fährst du, als wäre der Teufel hinter dir her!« Jewgenijs Gesichtsausdruck war deutlich anzusehen, dass er die Aufregung nicht verstand. Trotzdem rannte er zum Hauseingang zurück. Boris folgte ihm, blieb dann aber überrascht stehen, als er bemerkte, das die Leiche des Gnom verschwunden war. Auch das seltsame Gästebuch war fort! »Verdammt!«, knurrte er und setzte sich wieder in Bewegung. »Ist bei diesen Geschöpfen denn nichts normal?«
* Auf dem Weg zurück zum Kremlviertel suchte Boris den nächtlichen Himmel unentwegt ab. Er musste sich auf dem
Schalensitz des kleinen Flitzers dabei ziemlich verrenken, aber das war ihm egal. Außerdem hatte er sein Handy gezückt und hielt es sich ans Ohr gepresst. Doch außer dem entnervenden Klingelzeichen war nichts zu hören. In seinem Palast ging niemand an den Apparat, was Boris Sorge bis zur Unerträglichkeit aufpeitschte. Auch die geflügelte Gestalt war nirgendwo zu entdecken. Lediglich ein paar Blitze züngelten über den nächtlichen Himmel und beleuchteten die Wolkenberge über Moskau. Endlich hatten sie den beleuchteten Palast erreicht. Boris kam es wie eine Ewigkeit vor, bis das schmiedeeiserne Tor endlich aufgeglitten war. Der Kies spritzte unter den Reifen zu den Seiten weg, als Jewgenij den Sportwagen in hohem Tempo über den verschlungenen Pfad jagte. Der Wagen war noch nicht ganz zum Stehen gekommen, da sprang Boris auch schon ins Frei und stürmte auf das Portal zu. Dass die doppelflügelige Tür sperrangelweit offen stand, ließ die schlimmsten Befürchtungen in ihm aufsteigen. Da drangen Kampfgeräusche an sein Ohr und er wusste, dass Madame Chikolew schneller gewesen war als sein Sportflitzer. Mit wenigen Sätzen ließ er die Treppe hinter sich und stürmte in die Eingangshalle. Wie vom Donner gerührt blieb er stehen. Kane, sein Butler, lag blutüberströmt in der Mitte der Halle. Nur wenige Schritte entfernt stand Madame Chikolew. Sie hatte sich Anja über die Schulter geworfen und wehrte die Attacken eines jungen Mannes ab, den Boris noch nie zuvor gesehen hatte. Der Fremde hatte eines der Krummschwerter an sich gebracht, die die Wände der Eingangshalle zierten. Er hielt die Waffe mit beiden Händen gepackt und hackte auf Madame Chikolew ein. Dabei achtete er peinlich genau darauf, dass er Anja, deren Oberkörper vor Madame Chikolews Brust hing, nicht verletzte. Doch das Geschöpf wich den Schwerthieben geschickt aus.
Obwohl es das Gewicht der bewusstlosen Frau auf seiner Schulter behinderte, wirkten seine Bewegungen doch wesentlich agiler und geschmeidiger als die des jungen Mannes. Dieser führte erneut einen Schwerthieb gegen Madame Chikolew. Doch sie wich mit einem tänzelnden Schritt zurück – schoss im nächsten Augenblick blitzschnell wieder nach vom und verpasste dem jungen Mann einen Schwinger mit der krallenbewehrten Hand. Der Hieb riss den Mann glatt von den Beinen. Er verlor das Schwert, stürzte rittlings zu Boden und blieb benommen liegen. Sein Hemd hing nur noch in Fetzen über seiner Brust. Vier blutige Schnittwunden zeichneten sich deutlich auf seinem breiten Brustkasten ab. Boris hob die Arme und trat Madame Chikolew entschlossen entgegen. »Stopp!«, rief er mit durchdringender Stimme. »Lassen Sie meine Tochter in Frieden!« Madame Chikolew blickte spöttisch auf den Verbrecherboss. »Ich habe einen Auftrag zu erfüllen.« »Das ist nicht länger nötig. Die ganze Angelegenheit hat sich als Irrtum herausgestellt.« »Das interessiert mich nicht«, erwiderte Madame Chikolew ungerührt. »Du hast mich beauftragt zu töten – und dieses Vergnügen werde ich mir nicht nehmen lassen!« Mit diesen Worten packte sie Anja bei den Haaren und riss ihren Kopf zurück, so dass deren schlanker, graziler Hals entblößt wurde. Blitzschnell grub Madame Chikolew ihrem Opfer die angespitzten Zahnstummel in die Kehle. »Nein!«, rief Boris voller Grauen. Der Anblick seiner auf der Schulter des Geschöpfs hilflos zappelnden Tochter, raubte ihm fast den Verstand. Auch Jewgenij, der neben Boris aufgetaucht war und mit seiner Pistole auf Madame Chikolew zielte, wusste nicht, was er im Angesicht dieses Grauens
tun sollte. Doch der junge Mann hatte sich inzwischen wieder auf die Beine gekämpft. Er schrie wie ein Berserker und packte das Schwer, das neben ihm auf dem Boden gelegen hatte. Mit hassverzerrtem Gesicht hob er die Klinge und trieb sie dem Geschöpf mit einem kraftvollen Hieb von hinten in den Nacken. Er hatte Madame Chikolew den Kopf glatt vom Rumpf getrennt. Dunkles Blut sprudelte hervor und rann den ledernen Poncho hinab. Aber noch immer hing der Kopf mit den Zähnen an Anjas Kehle fest. Die beiden Frauen stürzten zu Boden und blieben nebeneinander liegen. Der Unbekannte packte Madame Chikolews Kiefer und löste die schrecklichen Zähne vorsichtig aus Anjas Hals. Angewidert schleuderte er den Kopf von sich, der mit einem dumpfen Laut über den Boden rollte und direkt vor Boris’ Füßen liegen blieb. »Man muss diesen Kreaturen den Kopf abtrennen – anders sind sie nicht umzubringen«, rief der Mann Boris zu, als wäre er ihm eine Erklärung schuldig. »Wer sind Sie?«, fragte Boris misstrauisch und kam zögernd näher. »Lee Johnson«, antwortete der Mann und kniete sich neben Anja auf den Boden. Besorgt tätschelte er ihr die Wange und rief sie zärtlich beim Namen. »Lee Johnson?«, echote Boris gedehnt. Der junge Mann tastete plötzlich mit fliegenden Fingern Anjas blutbesudelten Hals ab. »Sie arbeiten für Europol«, erinnerte sich der Verbrecherboss. Der junge Mann, Lee Johnson, ignorierte ihn. Stattdessen strich er Anja mit einer zärtlich anmutenden Geste über die weit geöffneten, starr blickenden Augen. Tränen standen ihm im Gesicht, als er nun
zu Boris aufblickte. »Sie ist tot. Dieses Scheusal hat sie umgebracht!« Boris taumelte benommen zurück und schüttelte den Kopf. »Nein!«, stieß er gehetzt hervor. »Das … das darf nicht sein!« Plötzlich schraubte sich Lee in die Höhe. Er packte Boris bei den Oberarmen und starrte ihn durchdringend an. »Haben sie diesem Geschöpf etwa erlaubt, in Ihren Palast einzudringen?« Lee nickte, als er die Antwort in Boris’ verzerrtem Gesicht erkannte. »Ohne eine derartige Aufforderung können diese Kreaturen ein Haus nicht betreten!«, sagte er rau. »In dieser Beziehung sind sie wie die Vampire in unseren Legenden.« Lee ließ Boris los und blickte verbittert auf die tote Anja hinab. »Sie war von mir schwanger«, kam es flüsternd über seine Lippen. »Das war es, was Ihre Tochter Ihnen heute mitteilen wollte – und dass wir beabsichtigten zu heiraten.« Er kniete ein letztes Mal neben Anja nieder, schnitt ihr mit dem Schwert eine Locke ab und steckte sie in die Brusttasche seines zerfetzten Hemdes. Ohne Boris oder seinem Leibwächter noch eines Blickes zu würdigen, schickte er sich an, den Palast zu verlassen. »Seien Sie gewiss, dass Sie sich in mir heute einen erbitterten Feind gemacht haben!«, rief er, ohne sich umzudrehen. »Ich werde Ihnen die Hölle heiß machen, Karmanow. Ich werde nicht eher ruhen, bis Europol Sie hinter Gittern gebracht hat!« Jewgenij warf seinem Boss einen fragenden Blick zu und hob demonstrativ die Pistole. Doch Boris schüttelte resigniert den Kopf. »Kümmere dich um die Toten«, sagte er, nachdem Lee das Haus verlassen hatte. Ein rascher Blick in den Salon hatte ihm gezeigt, dass es außer der Leiche des Butlers und der beiden Frauen auch noch die des Arztes zu entsorgen galt. Er lag mit zerfetzter Kehle halb über das Kanapee gesunken da und starrte Boris mit weit aufgerissenen todesstarren Augen an.
Karmanow konnte den Anblick der Toten plötzlich nicht mehr ertragen und wandte sich ab. Auf keinen Fall wollte er seiner toten Tochter noch einmal ins Gesicht blicken. Er wollte ihr Antlitz als schön und makellos in Erinnerung behalten und in seinen Albträumen nicht von dieser Fratze verfolgt werden, die der Tod aus ihrem einst so liebreizenden Gesicht gemacht hatte …
* Als Boris kurz darauf sein Arbeitszimmer betrat, bemerkte er einen kühlen Lufthauch. Verwundert stellte er fest, dass das Fenster einen Spalt breit offen stand. Verärgert trat er auf das Fenster zu, um es wieder zu schließen. Als er jedoch an seinem Schreibtisch vorbeikam, blieb er erschreckt stehen. In dem Ledersessel vor seinem Schreibtisch kauerte der Gnom. Das Buch lag aufgeschlagen vor ihm auf der Arbeitplatte. Boris Karmanows Namenszug war auf der Seite zu sehen. »Sie haben für die Dienste Madame Chikolews noch nicht bezahlt«, erklärte der Gnom spöttisch und grinste schräg. Dabei spielte er lässig mit der seltsamen Schreibfeder, mit der Boris seinen Namen geschrieben hatte. »Der Umstand, dass meine Herrin bei der Durchführung des Auftrags ums Leben kam, treibt den Preis natürlich gewaltig in die Höhe.« Verstohlen betrachtete Boris die Stirn des Kobolds. Doch das Einschussloch war verschwunden. Stattdessen trug der Gnom nun ein dunkles Mal auf der Stirn. »Hören Sie«, setzte Karmanow an und tastete unwillkürlich nach der alten Armeepistole, die noch immer in dem Gürtelhohlster steckte. »Ich kann Ihnen das alles …«
Boris Karmanow kam weder dazu, seinen Satz zu vollenden, noch schaffte er es, die Pistole zu ziehen und auf den Gnom zu richten. Mit einer beiläufig wirkenden Handbewegung hatte der Kobold die Schreibfeder in Boris’ Richtung geschleudert. Wie ein Geschoss raste sie mit der Kralle voran auf ihr Ziel zu und bohrte sich tief in ein entsetzt aufgerissenes Auge. Ein höllischer Schmerz explodierte im Kopf des Gangsters, der steif nach hinten kippte und der Länge nach auf den Boden schlug. Der Gnom lächelte zufrieden. Er nahm das Buch an sich, kroch umständlich aus dem Sessel und trat neben Boris Karmanows Leiche. Ohne Regung zog er die Schreibfeder aus dem geplatzten Auge des Russen und setzte die Kralle der Feder auf das Blatt, auf dem Boris Karmanows Name stand. Eine dunkle Flüssigkeit floss plötzlich aus der Feder und ergoss sich auf das seltsam gemaserte Papier. Wie von Geisterhand gezeichnet, bildete sich das Antlitz von Boris Karmanow aus dem zuvor unförmigen Tintenklecks. Doch es war ein grausam verzerrtes Gesicht, in dem sich all die Qualen widerspiegelten, die Boris’ in dem Kondolenzbuch gefangene Seele in diesem Moment durchlebte. Zufrieden klappte der Gnom das Buch wieder zu und ließ die Schreibfeder in der Innentasche seines Kordanzuges verschwinden. Während er den Fensterflügel aufdrückte und auf die Brüstung kletterte, pfiff er eine schräge Melodie. Er sprang in den Garten und tauchte geduckt in die Schatten der Nacht ein … ENDE