Nr. 8
Kampf um die Felsenburg von Hugh Walker Seit dem großen Inferno, in dem die kontinentgroße Insel Atlantis, von F...
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Nr. 8
Kampf um die Felsenburg von Hugh Walker Seit dem großen Inferno, in dem die kontinentgroße Insel Atlantis, von Feuer, Lava und Erdbeben zerstört, fast zur Gänze in den Fluten des Meeres versank, sind rund zwei Jahrtausende verstrichen. Obwohl dies für die größtenteils primitiven und barbarischen Völker auf den übrigen Kontinenten der Erde eine lange Zeitspanne ist, lebt die Erinnerung an Atlantis noch fort. Legenden und Mythen gehen durch die Lande, Herren und Sklaven, Unterdrücker und Unterdrückte, Reiche und Arme wissen gleichermaßen vom »Goldenen Zeitalter« zu erzählen, in dem die »Götter« in ihren »Himmelswagen« durch die Lüfte reisten. Selbst ein echter Atlanter existiert noch auf der Erde - Dragon, genannt der »Schlafende Gott«. Ihn erweckte Amee, Prinzessin von Urgor, zu neuem Leben und neuen Taten. Aber Dragon, der aufgrund seiner langen Hibernation noch nicht im Vollbesitz seiner Erinnerungen ist, hat es schwer, gegen den Balamiter zu bestehen. Denn Cnossos, Dragons alter Gegenspieler und Hauptverantwortlicher für den Untergang von Atlantis, hat während seines unfreiwilligen 2000jährigen Exils Zeit genug gehabt, sich an vielen Orten der Erde als mächtiger Herrscher zu etablieren. So auch in Koroskhyr nordwestlich von Urgor. Diesen Stützpunkt des Cnossos auszuschalten, ist Dragons nächstes Ziel. Er sammelt ein Heer und führt es zum KAMPF UM DIE FELSENBURG.
Kampf um die Felsenburg
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Die Hautpersonen des Romans: Cnossos - Herr von Koroskhyr. Urak - Ein getreuer Diener des »Gottes der vielen Namen«. Dragon - Der Atlanter führt ein Heer gegen die Felsenburg. Romon - Oberhaupt der Weisen vom Ah'rath. Nabib - Der Händler von Sodok wird entführt. Manija - Eine Tote, die dennoch lebt.
1. Der Mann in der zerrissenen, einst schwarzen, nun von Staub und Schmutz graugefärbten Kutte der Dunklen Wächter blickte mit zusammengekniffenen Augen auf die Wildnis aus Stein, die ihn seit mehreren Tagen umgab. Er war mittleren Alters und von kleinem Wuchs. Wie er nun dastand, halb an den Fels gelehnt und halb auf das krumme Schwert gestutzt, wirkte er wie einer der Berggeister, von deren Bosheit die Menschen am Raxos an den Lagerfeuern berichteten. Die Gedanken des Mannes hingegen ließen keinen Zweifel an seinem Menschentum. Er war müde und hungrig und hatte wunde Füße - für Berggeister höchst ungewöhnliche Empfindungen! Er verfluchte den Augenblick, da sein Pferd sich das Bein gebrochen hatte, womit
dieses letzte Stück Weg nach Koroskhyr zu einem Alptraum geworden war. Drei Tage in dieser Einode spitzer Felsen, die das Schuhwerk schon nach einem Tagesmarsch durchscheuerten und das Gehen zur Qual machten. Das alles verdankte er letztlich diesem braunhaarigen Teufel! Dragon! Der mit den Mächten des Schicksals selbst im Bund schien! Wie hätte es sonst sein können, daß er der sicheren Falle entging? Dragon! Der Name war in diesen fünfzehn Tagen seiner beschwerlichen Flucht zum steten Fluchwort geworden - das einzige, das in diesen mühseligen drei letzten Tagen über seine Lippen kam. Aber jetzt war es fast geschafft. Der Berg des Gottes der vielen Namen lag vor ihm - ein Podest inmitten der ausgezackten,
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Hugh Walker
gleißenden Gipfel. Ein Podest für Koroskhyr die Burg des Geiers.
* Der Mann fuhr mit der Zunge über seine ausgetrockneten Lippen, während er den Berg beobachtete. Leise Zweifel kamen ihm mit einemmal. Sein Empfang würde nicht der herzlichste sein, denn er kam ohne Dragons Kopf Der Zorn des Gottes war ihm gewiß, und es war wohl möglich, daß er seine teure Haut nur gerettet hatte, um in Koroskhyrs Mauern ein Ende zu finden, wie es kein anderer so schnell fand. Aber er war zu sehr Priester seines Gottes und zu erschöpft, als daß er auch nur daran dachte, umzukehren Laßt also den Gott der vielen Namen entscheiden über seinen Achten Wächter. So oder so - es gab kein Entrinnen! Er war treu gewesen, aber zu schwach. Und wenn es stimmte, daß die Götter die Arme ihrer Getreuen lenkten, dann war Dragon mit mächtigeren Göttern im Bund … Rasch drängte er diesen frevlenschen Gedanken aus seinen Überlegungen. Es wurde nicht vor drei Stunden zu dunkeln be-
ginnen, und wenn er seine müden Knochen in Bewegung hielt, mochte er es noch schaffen. Eine weitere Nacht mit nagendem Hunger zwischen diesen Felsen war wenig verlockend. Er hatte genug gelitten in diesen letzten Tagen. Das mußten selbst die Götter einsehen. Er machte sich auf den Weg und klomm hügelan, das Schwert in der Rechten zum Teil als Stock benutzend. Trotz seiner Müdigkeit blieb er wachsam. Es gab Schlangen zwischen den Felsen, diese Erfahrung hatte er bereits gemacht. Als die Dunkelheit über das Land unter ihm fiel, hatte er die mächtigen Mauern fast erreicht. Obwohl er während seines Aufstiegs den Berg halb umrundet hatte, war er auf keine Straße und auf keinen Pfad gestoßen, der nach oben führte. Es erschien ihm seltsam, aber dann dachte er, daß wohl kräftige Schwingen seinen Gott über die Zinnen trugen. Aber wie sollte er die Burg betreten? Das letzte Stück zum Gipfel war steil und bot keinen Halt für Hände und Fuße. Wo immer auch das Tor in diesen Mauern sein mochte, er würde
Kampf um die Felsenburg es nicht erreichen, dessen war er nach einigen vergeblichen Kletterversuchen gewiß. Erschöpft begann er den einen Namen des Gottes der vielen Namen zu rufen, den er je erfahren hatte: Cnossos! Er legte den Kopf weit in den Nacken und schrie zu den himmelhoch anmutenden Zinnen hinauf. Die fernen Berge gaben ein dünnes Echo in der kühlen Abendluft. Aber sonst regte sich nichts. Schließlich zuckte er die Achseln. Die Nacht zwischen den Felsen schien ihm nicht erspart zu bleiben. Mißmutig, von Hunger und neuen Zweifeln erfüllt, begann er sich einen Lagerplatz zu suchen. Die Dunkelheit fiel rasch, und es hatte wenig Sinn, weiterzuklettern. Ein falscher Schritt konnte ihn in den Tod stürzen. Er mußte wohl oder übel bis zum Anbruch des Tages warten. Ein Geräusch ließ ihn erstarren! Das Schwert lag klamm in seiner Faust. Unendlich langsam hob er es. Er wagte nicht sich zu regen. Sein zerfetztes Schuhwerk bot nur - noch wenig Schutz gegen den raschen
5 Stoß einer Schlange. Erneut kam das Geräusch ein Rieseln von kleinen Steinen. Es kam von rechts. Das bedeutele ein Stück bergabwärts. Er versuchte die Dunkelheit zu durchdringen, vermochte aber kaum etwas zu sehen im düsteren Grau der rasch verlöschenden Dämmerung. Nur Felsen. Im nächsten Augenblick wurden sie lebendig. Schatten huschten aus der Nacht, lautlos fast und geisterhaft bis auf das leise Knirschen von Steinen unter ledernen Sohlen, das verriet, daß nichts Unwirkliches sich näherte, keine Dämonen aus dem Innern des Berges sondern Wesen aus Fleisch und Blut. Der Mann erkannte sofort, daß ihm hier keine Flucht half. Diesmal gab es keinen blitzschnellen Sprung auf ein Pferd wie unter dem Ansturm von Dragons Gefährten. Sie näherten sich ihm von drei Seiten. Die vierte war der Fels. Bei Cnossos mächtigen Schwingen - wenn sie ihm keine Chance zur Flucht ließen, dann sollten sie wenigstens seine Klinge spüren. Er fühlte eine Kälte in seinen Eingeweiden und Gewißheit in seinem Herzen, daß es der Tod war, der auf
6 ihn zukam. »Komm nur«, murmelte er grimmig. »Den letzten Weg werde ich nicht allein gehen …« Dann sah er verblüfft, daß die Gestalten mit leeren Händen auf ihn zuschritten. Ein leises Grauen beschlich ihn. Das waren nicht Dragons Männer, die ihm hartnackig auf der Spur geblieben waren. Angst schnürte ihm die Kehle zu, als er die bleichen Gesichter bemerkte, während sie mit ebenso fahlen Händen nach dem Rand der kleinen Felsenterrasse griffen, auf der er stand, und sich hochzogen. »Wer seid ihr …?« kam es krächzend aus seiner Kehle. Die Gestalten gaben keine Antwort. Der Mann sprang vor und zog die Klinge quer über die Kehle des ersten Angreifers, der eben auf die Beine kam. Es war ein guter Hieb, der die Kehle durchschnitt und den bleichen Schädel von den Schultern trennte. »Urak!« donnerte eine Stimme. Der Mann hielt mitten in der Bewegung inne, das gekrümmte Schwert zum zweiten Hieb erhoben. Auch die Angreifer hielten an. Er zitterte plötzlich. Das war Cnossos' Stimme gewesen!
Hugh Walker »Herr …?« kam es zögernd über seine Lippen. »Dein Gott wird es dir wenig danken, wenn du seine Geschöpfe erschlägst …!« dröhnte die Stimme erneut. Dem Mann in der schwarzen Kutte war nicht klar, woher sie kam. Es klang wirklich und dennoch unwirklich - als käme sie aus den Mündern der stummen Kreaturen um ihn und schwebte doch mitten in der Luft. Er schauderte. »Verzeih mir, Herr. Ich wußte nicht, daß es deine Geschöpfe sind. Es hätten deine Feinde sein können …« »Deine Feinde meinst du.« Es klang ein wenig spöttisch Urak fühlte kalten Schweiß an seinem Rücken. Jetzt war der Augenblick da, den er insgeheim gefürchtet hatte. »Sie hätten erklären sollen, wer sie sind«, widersprach Urak … Ich hätte keinen deiner Diener erschlagen. Das weißt du. Herr!« Einen Augenblick war Stille, dann fuhr Cnossos' Stimme fort: »Ich werde meinen Geschöpfen die Sprache wiedergeben. Es gefällt mir nicht, daß sie lautlos sterben!« Urak fröstelte bei diesen
Kampf um die Felsenburg Worten. »Ich werde mein Schwert nicht mehr gebrauchen, Herr.« »Folge den Untoten. Sie werden dich vor meinen Thron führen. Du hast viel zu berichten. Urak.« Es klang drohend. »Ja, Herr«, erwiderte Urak unsicher. Diesmal schwieg die Stimme. In die unheimlichen Gestalten kam Bewegung. Sie rappelten sich auf und winkten ihm zu folgen. Schaudernd gehorchte er. Schweigend geleiteten sie ihn eine kurze Strecke abwärts und in eine schmale Felsspalte, die in unergründliche Tiefen zu führen schien. Urak zählte ein Dutzend der schweigenden Gestalten, bevor die Finsternis des Berginnern jede Sicht unmöglich machte. Er tastete sich stolpernd voran. Der Gang war schmal und führte steil nach oben. Er geriet bald ins Keuchen. Vor und hinter sich vernahm er die Schritte seiner Begleiter. Sie schienen unermüdlich, denn aus ihren Mündern drang kein heftiger Atem. Er war im Gegenteil so unnatürlich still, als … Als atmeten sie überhaupt nicht! Urak fühlte wieder den kalten
7 Griff an seinem Herzen. Und daß er sie nicht sah, sondern ihre Gegenwart nur fühlte, vermittelte ihm den Eindruck, als schritten Dämonen mit ihm durch die Finsternis der Unterwelt. Nach langer Zeit hielt er erschöpft inne und rang nach Luft. Seine Beine drohten nachzugeben. Die Anstrengungen der letzten Tage hatten kaum noch Kräfte in ihm gelassen. Aber die nachfolgenden Diener Cnossos' ergriffen ihn an den Armen und trugen ihn halb eine schier endlose Flucht von Stufen hoch Dann wurde der Weg eben, und der modrige Geruch von großen Kellergewölben umgab ihn, als sie durch eine Tür eilten. Urak kam wieder auf die Beine. Es war ihm unheimlich, getragen zu werden und so die letzte Orientierung zu verlieren. Erneut ging es endlose Treppen hoch, und Urak stemmte sich gegen das rasche Tempo, aber sie schoben ihn und hoben ihn. Wütend stieß er sie von sich und ließ das Schwert zischend durch die Luft sausen. »Bleibt mir vom Leib! Ich brauche Rast!« keuchte er. Sie schienen zurückzuweichen vor
8 seinem Schwert, aber ein klagender Laut kam aus ihren Kehlen - erfüllt von unirdischer Angst. Dann, mit einem scharrenden, pfeifenden Laut, als hätten sie Jahrtausende lang nicht gesprochen, als wären ihre Kehlen verwachsen, kamen hastige, beinahe unverständliche Worte. »Wir müssen weiter, Herr! Rasch!« Und wurde weitergegeben von Kehle zu Kehle. »Rasch! Rasch!« »Warum in Cnossos' Namen …?« stieß Urak hervor. »Schhhhhh …!« Kaum verklang das ruheheischende Zeichen der Untoten, als ein anderer Laut kam … scheinbar aus unendlich fernen Gewölben. Ein Scharren und Kratzen und ein summender Laut, wie er von Bienenschwärmen kommt, vom raschen Vibrieren von Insektenflügeln. Nur sanfter … Urak war aufgesprungen, die Müdigkeit vergessen … Bei den Göttern!« entfuhr es ihm … Was ist …?« Eine eiskalte Hand preßte sich auf seinen Mund und erstickte die Frage. Einen Augenblick vermeinte er, sein Herz stünde still unter der Berührung. Aber dann erkannte er,
Hugh Walker daß es nur die Untoten waren, die ihn umklammerten und hochoben und mit fliegender Hast durch die Finsternis trugen. So lautlos geschah die Flucht trotz der Windeseile, daß er die fernen, unheimlichen Geräusche mit aller Deutlichkeit hörte. Und es war ihm als kämen sie rasch näher … als holten sie auf! Als griffen sie bereits mit dürren Spinnenbeinen nach ihm! Auch seine Träger schienen es zu fühlen, wenn sie solch eines Gefühls in ihren eisigen Leibern überhaupt fähig waren. Ihr Lauf wurde rascher. Doch trotz der steilen Treppen und der Anstrengung, die es sie kosten mußte, kam kein Keuchen, kein rascher Atem aus ihren Kehlen. Lautlos rasten sie durch die undurchdringliche Finsternis - unbeirrbar und unermüdlich. Plötzlich schrie einer hinter Urak auf. Ein schrecklicher Schrei, wie er nicht von Schmerz allein kam, sondern von der tiefen Qual des Wissens um ein grauenvolles Ende. Urak mußte an sich halten, um nicht einfach mitzuschreien. Er wollte sich losreißen, aber der Griff der Träger ließ seine Gliedmaßen
Kampf um die Felsenburg zu Eis erstarren. Etwas streifte seine Wange wie Spinnweben. Etwas griff nach seiner Wange mit winzigen Klauen und schlug kleine Zähne glühendheiß in sein Fleisch. Gleichzeitig wurde die Luft um ihn lebendig, erfüllt vom knisternden Geräusch leichter Schwingen. Füßchen krabbelten über seinen Hals. Er schüttelte sich verzweifelt und versuchte mit einer letzten Anstrengung seine Hände freizubekommen. Er stieß einen heiseren Schrei aus, der in ein ersticktes Gurgeln überging, als etwas in seinen Mund flatterte und sich in seiner Zunge verbiß. Der Schmerz und der Ekel betäubten ihn einen Augenblick, dann biß er zu und zermalmte einen haarigen Insektenkörper zwischen seinen Vorderbeinen und spie die zuckenden Teile halb gelähmt vor Übelkeit in die Finsternis. Einer seiner Träger fiel mit einem Schrei, der in den Gewölben ein schauriges Echo fand, und wie ihn nur eine gepeinigte Seele im ewigen Feuer auszustoßen vermag. Urak, halb wahnsinnig vor Grauen, bekam endlich eine Hand frei. Er fuhr an seine Kehle und sein Ge-
9 sicht, faßte flatternde Schwingen und riß sie mit wilden Bewegungen von sich. Der Schmerz brachte ihn zu sich. Es war, als risse er sich gekrümmte Nadeln aus der Haut. »Cnossos!« rief er in seiner Qual. »Gott der vielen Namen … hilf mir …!« Seine fahrige Hand bekam den Griff seines Schwertes zu fassen. Es schien ihm eine Endlosigkeit, bis er es aus dem Gürtel hatte. Befriedigt spürte er, wie es durch eine Reihe flatternder Körper schlug. Gleichzeitig brachen mehrere seiner Träger schreiend zusammen, und er kam auf die Beine. Er stand auf einer Treppe - allein in der Schwärze und dem schwirrenden Tod. Er zog die Kapuze seiner Kutte tief ins Gesicht. Er spürte, wie sie sich an dem Gewand festbissen, und dann an seiner Hand, mit der er sein Gesicht schützte. Er versuchte nicht mehr, sie herauszureißen. Eine Weile hielt sein Schwert den Ansturm auf, aber bald erlahmte sein Arm. Mit wimmernden Lauten kauerte er auf dem Boden und schlug mit Zähnen und Krallen in den übermächtigen Angreifer - wie eine in die Enge getriebe-
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Hugh Walker
ne Ratte. In sein rasch sinkendes Bewußtsein drang die Gewißheit, daß dies das Ende war … daß er hier sterben würde in den Gefilden seines Gottes, der blind und taub schien..
* Ohne daß es Urak bewußt wurde, begann eine sanfte Helligkeit das Gewölbe auszufüllen. Sie wurde kräftiger mit jedem Augenblick, und die gespenstischen Angreifer wichen vor ihr zurück. Sie ließen ab von ihrer Beute, flatterten geblendet hoch und glitten zuckend entlang der Treppe hinab in die dunklen Tiefen von Koroskhyr, während Dämmerlicht die gefallenen Untoten und den kauernden Urak einhüllten. Ein magisches Licht brannte hoch oben am Ende der Stufen ein schützender Schimmer. Von all dem merkte Urak nichts. Erschöpfung lähmte seine Glieder. Sein Geist hatte sich tief in sein Inneres zurückgezogen. Die Untoten erwachten wie auf ein Kommandowort gleichzeitig und hoben Urak auf. Schweigend stiegen sie mit ih-
rer Last die Stufen hoch und erreichten einen Korridor. Bevor sie aber mit ihrer Last weitereilten, schlossen sie die schwere, metallene Tür und schoben die mächtigen Riegel vor. Es war, als atmeten sie auf. Es mußte aus dem tiefsten Innern ihrer verlorenen Seelen kommen, denn ihre Lungen waren längst ohne Leben. Einmal wachte Urak auf, als sie ihn in ein Gemach trugen und auf eine Schlafstätte betteten. Eine Fackel brannte an der Wand und warf tanzende Schatten über den ganzen Raum. Zum erstenmal sah er die Diener des Gottes von Koroskhyr im Licht, und ihn schauderte. Er schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, war er allein. Die Fackel brannte noch mit kleiner Flamme. Er wußte nicht, was ihn erneut geweckt hatte. Der rauchige Brand der Fackel vielleicht, oder die Angst vor der nahenden Finsternis. Eine bleierne Müdigkeit drückte seinen Körper auf die Felle nieder. Seine Rechte schmerzte. Sein Blick wanderte seinen Arm entlang, der über den Rand des Bettes hing. Er sah, daß die Finger sich um etwas verkrampften …
Kampf um die Felsenburg Um ein Paar riesiger weißer Schwingen eines Schmetterlings. Ungläubig starrte er darauf. Seine Faust zerknitterte diese wunderschönen Flügel in erbarmungslosem Griff. Er hob den Arm, ohne seine Finger zu lösen, und sah mit Schaudern den mausgroßen Körper des Falters, der von ebensolch makelloser Weiße war. Die Augen waren glutrot, als leuchtete ein höllisches Feuer in ihnen, und aus der Mundöffnung ragten spitze, säbelartige Zähne, deren Weiß schwarzrot verkrustet schien. Blut! Bevor er noch in seinem Entsetzen den Griff lösen konnte, bewegten sich die hervorquellenden Augen und glühten ihn tückisch an. Die langen Fühler zuckten, krümmten sich seiner Faust entgegen, aber erreichten sie nicht. Angewidert ließ er los. Der gespenstische Falter fiel ohne einen Flügelschlag zu Boden, als lähmte ihn etwas. Seltsam! Seine Flügel waren wohl geknickt, aber nicht bewegungsunfähig. Auf dem düsteren Boden im Schatten des Bettes begann er zu kriechen - auf die volle Dunkelheit der Wand zu. Plötzlich wußte Urak, was
11 ihn lähmte. Das Licht! Er sprang vom Lager und nahm die Fackel aus der Halterung der Wand. Er näherte sich dem großen Insekt und sah, wie es im Licht des Feuers erstarrte. Dann senkte er die Fackel und sah mit Genugtuung, wie die Flammen nach den weißen Schwingen griffen und sie gierig fraßen, und wie der weiße Körper in der Glut verdorrte.
2. Als der Achte Wächter wieder erwachte, war heller Tag. Morgenluft und Kühle kamen durch eine fellverhangene Fensteröffnung und vertrieben die Benommenheit rasch. Nur seine Glieder waren steif, als er sich erhob, und schmerzten wie nach einem Kriegszug. Humpelnd kam er auf die Beine. Sein Hals und sein Gesicht brannten wie Feuer. Dann kam die Erinnerung mit einem Schlag, aber sie mutete wie ein Alptraum an, und er schauderte. Hatte er das alles wirklich erlebt? Sein Blick fiel auf den Boden, aber so genau er sich auch umsah, nirgends fand er die Überreste des weißen Falters. Entweder hatte jemand al-
12 les beseitigt, während er schlief, oder es war doch nur ein Traum gewesen. »Die Wege der Götter«, murmelte er und erkannte gleich darauf, daß in der Tat jemand hier gewesen war, denn auf einem kleinen Tisch stand eine Schüssel mit Früchten. Sofort stellte sich das nagende Hungergefühl ein, daß er \;ich rend des Kampfes vergessen hatte. Während des Kampfes? Nein, das war kein Traum gewesen. Zu deutlich stand es in seiner Erinnerung: Schmetterlinge! Wer hatte je von reißenden, blutsaugenden Schmetterlingen gehört, deren Flügel so groß wie zwei kräftige Männerhände waren? Der Bissen blieb ihm in der Kehle stecken. Konnte es sein, daß dies der einzige Ein - und Ausgang der Burg war? Und die flatternden Bestien so etwas wie Wächter, die über Eindringlinge herfielen? Entschlossen kaute er weiter. Was auch immer geschah, auf diesem Weg würde er die Burg nicht verlassen. Sein Gott mußte sich schon etwas anderes einfallen lassen, wenn er vorhatte, ihm neue Aufgaben zu stellen. Zwar wünschte er, daß er ein wenig Ruhe hatte und sich erholen könnte von der
Hugh Walker Hast und den Anstrengungen der letzten Tage, doch er wußte, daß es wenig Ruhe gab, solange Dragon lebte. Den Schlafenden Gott nannten sie ihn! Nein, ein Gott war er nicht, dachte Urak. Er hatte nur Glück gehabt - bis jetzt! Verdammtes Glück! Kaum die Hälfte einer Stunde später öffnete sich die Tür, und einer von Cnossos' Dienern trat ein. Er brachte eine neue Wächterkutte, Uraks Schwert und neue Stiefel. Urak beobachtete ihn, während er alles niederstellte. Sein Gesicht war außerordentlich weiß, die Haut wächsern, soweit sie bis zum Saum und den Achseln des grauen, knielangen Gewandes zu sehen war. Der Kopf war kahl, Zehen und Finger ohne Nägel, und als er aufblickte, sah Urak, daß die Augen schwarz waren - schwarz und stumpf. Er schauderte. Es kostete ihn Mühe zu sprechen, aber die Neugier überwog. »Wer bist du?« »Ein Uh-toth«, erklärte der andere mit unbeteiligter Stimme, als spräche nicht er selbst, sondern etwas Fremdes in ihm. »Ein Uh-toth?« erwiderte Urak verständnislos. »Das Wort
Kampf um die Felsenburg habe ich nie zuvor gehört.« »Es ist ein Wort der Sprache des Meisters, Herr«, fuhr der Uh-toth fort. »Es bedeutet, vom Tode verschont'…« »Du meinst, du bist ein Untoter«, sagte Urak, der endlich verstand. Der Uh-toth nickte. Als er gehen wollte, rief Urak: »Warte. Warst du einer von denen, die mich heute nacht in die Burg brachten?« »Ich war einer von ihnen, Herr.« »Wie viele sind umgekommen?« Der Uh-toth schüttelte den Kopf. »Wir Uh-toths sterben nur, wenn der Geist stirbt und wenn es dem Meister gefällt …« »Dem Meister …?« »Dem Gott der vielen Namen. Dem Herrn von Koroskhyr.« Urak nickte. Dann dachte er an das Auftauchen der dunklen Gestalten draußen in den Felsen, und er sagte: »Aber einer muß tot sein. Er starb durch dieses Schwert.« Er deutete auf die Klinge, die der Uh-toth gebracht hatte. »Wenn der Meister seiner nicht mehr bedarf …«
13 Urak fühlte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. »Aber nichts kann leben ohne den Kopf, ohne dem Schädel, in dem der Geist sitzt.« » »Hier gibt es nur einen Herrn über Leben und Tod. Er ist der machtigste der Götter.« »So wie keiner ohne Blut lebt«, fuhr Urak fort. Ein Lachen kam aus der Kehle des Uh-toth, und er sprach plötzlich mit Cnossos' Stimme. »Du zweifelst? Warum dienst du mir, wenn du meine Macht bezweifelst? Sollte nicht mehr als nur Furcht meine Priester an mich binden …? Sieh her, Wurm!« Der Achte Wächter war erstarrt bei diesen Worten. Er fühlte sein Herz wild schlagen. Der Zorn in der Stimme des Gottes verhieß nichts Gutes. Aber dann sah er fasziniert, wie der Uh-toth das Krummschwert nahm und mit der Schneide über seinen Arm zog, daß es tief einsank. Als er es aus der Wunde zog, sah Urak, daß das Fleisch grau war. Darunter schimmerte ebenso grau der Knochen Übelkeit würgte ihn. Kein Tropfen Blut sickerte aus dem Schnitt. Und dann geschah ein zweites Wunder: Das Fleisch wuchs zu-
14 sammen, die Wunde schloß sich. Einen Augenblick lang sah er eine weißliche Narbe, dann verschwand auch sie. Glatt spannte sich die marmorne Haut. »Oh, mein Gott!« brach es aus Urak hervor, und seine Stimme zitterte. Er fiel auf die Knie und vergrub den Kopf in den Armen. »Ich habe dir immer gedient. Du bist mein Gott …« »Ich weiß«, erwiderte die Stimme. »Aber ich weiß auch, daß du ein Schurke bist bis in die tiefsten Gründe deines jämmerlichen Herzens. Du würdest deiner eigenen Mutter den Dolch in den Rücken stoßen, um deinen Gott zu versöhnen. Das ist der Grund, warum ich dich schätze, trotz deiner Mißerfolge. Ehre, mein getreuer Urak, ist etwas für die Eitelkeit der Menschen, ein Fluch der Vergänglichkeit. Die Götter sind ewig und mächtig. Ihre Pläne und ihr Wirken sind erhaben über alle Makel der Sterblichkeit. Aber ihre Diener sind schwach. Die Welten jenseits des Lebens sind erfüllt von eitlen Narren, die ihren Göttern wenig nützten. Willst du einer von ihnen sein …?«
Hugh Walker »Nein, Herr«, erwiderte Urak zitternd. »Das ist gut. Denn ich habe Pläne mit dir. Jetzt kleide dich um und folge meinem Diener. Er wird dich zu mir führen. Dann wirst du mir berichten, wie es geschehen konnte, daß Dragon entkam!« »Ja, Herr.« Die Stimme schwieg. Als Urak verwundert aufblickte, sah er den Untoten noch immer vor sich stehen. Seine dunklen Augen blickten teilnahmslos. Seine Stimme war nicht mehr die Cnossos, als er sagte: »Eilt euch, Herr. Der Meister erwartet Euch!« Der Gott hatte seinen Diener verlassen. Welch ein Gefühl mochte das sein, erfüllt zu sein von seiner Gegenwart? Ihn - für den er stritt und tötete und seine Feigheit überwand. Rasch erhob er sich und zog die neue Kutte an. Vorsichtig steckte er das Schwert in den Gürtel, um das Gewebe nicht zu zerschneiden. Er hätte die Hülle nicht zurücklassen sollen, als er sein Pferd tötete. Aber sie war ihm zu gewichtig erschienen für die mühsame Wanderschaft. Dann zog er die neuen Stiefel über. Das harte Leder schmerzte ein wenig, aber trotzdem war es
Kampf um die Felsenburg ein gutes Gefühl, wieder in festem Schuhwerk zu stecken. Dann folgte er dem Uh-toth aus dem Gemach durch mehrere Gänge, über breite, mächtige Treppen, vorbei an gewaltigen Toren in eine riesige Halle. Ein Thron aus schwarzem Stein stand am jenseitigen Ende. Auf ihm bemerkte Urak eine große, aufrecht sitzende Gestalt. Cnossos! Nicht in der Gestalt des Geiers, sondern in menschlicher, gekleidet in einen schwarzen Umhang, der mit dem Thron verschmolz. Tief in sein Gesicht hing eine kapuzenähnliche Kopfbedeckung und hüllte es in Schatten. Das war nicht mehr die Gestalt Obads, des toten Oberpriesters, in der er Cnossos zuletzt gesehen hatte, als dieser mit der ältesten Tochter König Alacs im versteckten Lager der Priester erschienen war, um die Falle für Dragon vorzubereiten. Nein, sie war größer und beeindruckender; und die Züge … Da waren keine Züge, erkannte er mit leichtem Grauen, während er auf den Thron zuschritt. Unter dem schwarzen Schatten der Kopfbedeckung war … Schwärze … Nichts.
15 Aber er sah auch nicht den Thron dahinter, nur ein schwarzes Loch, wo Fleisch, Wangen, Lippen, Ohren hatten sein müssen; Ein Abgrund, in den der Blick hineinfiel wie in die tiefen Gewölbe Koroskhyrs. Kr mußte seine Augen abwenden, so unerträglich war es ihm. Und dann hielt er mit einem leisen Aufschrei an, denn auch die Hände, die auf dem schwarzen Stein des Throns lagen, waren von der gleichen rauchigen Schwärze - undurchsichtig und doch leer, als könnte man hineingreifen in das Innere der Finger. »Herr«, flüsterte er mit gesenktem Kopf. »Laß mich nicht nähertreten … Ein leises Lachen kam vom Thron. »Die Menschen haben es noch nie ertragen, die Götter anzusehen. Mit welchem Recht fordern sie Unerträgliches von den Göttern …? Daß man ihr Flehen hört, ihr sinnloses Geplärr an den Altären dieser Welt …?« Urak schwieg bebend. »Ihr Menschen seid ein seltsames Pack. Für Nichtigkeiten werft ihr euer kostbares Leben in den Staub; und die großen Dinge lähmen euch den Ver-
16 stand - vor Angst. Dabei ist auch hier nicht mehr zu verlieren als das Leben …« Einen Augenblick herrschte Schweigen, und der kniende Priester preßte die feuchten Handflächen auf den steinernen Boden. Es war kalt im Raum. Der Boden, die Wände, die Fenster, der Thron und sein unirdischer Besitzer strömten Kälte aus, die wie Eis nach ihm griff. Dennoch war seine Haut naß von Schweiß. Er verstand nicht ganz, was sein Gott sprach. War er nicht hierhergekommen trotz der Angst? War es nichts Großes, vor seinen Gott zu treten? »Berichte mir jetzt«, kam Cnossos Stimme wieder. Urak blickte auf, wandte aber das Gesicht sofort wieder ab, als diese unwirkliche Schwärze ihm Schwindel verursachte. »Wir bereiteten die Falle vor, wie du es uns sagtest, Herr.« Der letzte der Dunklen Wächter zögerte. »Aber Dragon kam nicht allein, wie du es vorausgesagt hattest. Er war wohl ohne seine Gefährten, aber ein Hund begleitete ihn … eine wahre Bestie. Er hatte uns entdeckt, bevor der Schlafende Gott in die Falle …«
Hugh Walker Eine der schwarzen, gegenstandslosen Hände Cnossos' zuckte vor, überbrückte die zwei Manneslängen Entfernung mühelos und faßte Urak am Oberarm. Der erstarrte, gelähmt unter der Berührung. »Nenn ihn nie wieder Gott!« donnerte Cnossos Stimme. »Er ist nur ein Mensch, ein Wurm wie du. Und ich will ihn knien sehen hier in diesen steinernen Mauern vor dem einzigen wahren Gott. Ich will ihn jetzt lebend. Wer ihn tötet, wird Qualen erleiden, wie nie ein Mensch zuvor!« Als diese unheimliche Faust ihn losließ, fühlte er sich leer, als hatte etwas alle Kraft aus ihm gesogen. Er fiel schluchzend nach vorn auf das Gesicht und rang nach Atem und war dankbar für den hilfreichen Griff der kalten Hände des Uhtoth, der ihn aufzurichten versuchte. »Ein Hund, sagst du?« vernahm er Cnossos Stimme ein wenig gedämpft durch seine betäubten Sinne. »Ja, Herr«, stammelte er. »Obwohl die Falle nichts mehr nützte, gelang es uns schließlich, den braunhaarigen Teufel in die Enge zu treiben. Da ver-
Kampf um die Felsenburg schwand der Hund. Auch Dragon floh vor uns, und wir trieben ihn auf die Felsen des Uhmak zu. Er kannte sie nicht …« Urak zögerte. »Er scheint vieles nicht zu wissen. Tatsächlich begann er die Felswand hochzusteigen. Wir riefen ihm zu, umzukehren, aber er lachte nur. Er war furchtlos …« »Er wußte nicht, was ihn erwartete«, erwiderte Cnossos mit verächtlicher Stimme. »Als wir sicher waren, daß er nicht mehr umkehren würde, schleuderten wir große Felsen auf den Hang, deren Gepolter Uhm-äk weckte. Und während wir noch starrten, wie das Ungeheuer sich auf Dragon stürzte, fiel eine übermächtige Schar Angreifer über uns her. Ich war der einzige, der fliehen konnte. Aus sicherer Entfernung sah ich einen schwarzhäutigen Barbaren Dragon zu Hilfe eilen. Es gelang ihnen, Uhm-äk zu töten. Ich sah es mit eigenen Augen. Was immer sie auch zu deinen Feinden gemacht hat, und welches Schicksal du ihnen in weiser Voraussicht auch beschieden hast, es sind tapfere Männer …« Hohn war in Cnossos' Stimme, als er seinen knienden Priester unterbrach: »Du erkennst
17 die Tapferkeit also, wenn du sie siehst?« »Herr, verspotte mich nicht. Wenn du die Seelen deiner Diener kennst, dann weißt du, daß in meiner eine stete Angst frißt seit den Tagen meiner Kindheit. Ich habe gelernt, mit List und Verrat und Meuchelmord wettzumachen, was mir an Tapferkeit fehlt. Ich bin kein Kämpfer, aber ich beiße, wenn man mich schlägt. Und mein Biß ist nicht ohne Gift. Viele nennen mich eine Ratte, und obwohl mich vor diesen Tieren ekelt, weiß ich, daß ich ihr Leben führe in deinen Augen wie in meinen. Es ist nicht der Tod, den ich fürchte, sondern das Sterben …« »Wo ist der Unterschied?« »In den Augen der Götter vielleicht keiner. Ich wurde dir lieber tausend Jahre dienen, als zehn Atemzüge lang wissen, daß der Tod bevorsteht …« Der Gott der vielen Namen lachte ob dieser Worte. »Glaubst du? Hat die Angst dich je verlassen, seit du in Koroskhyr bist? Würdest du wahrhaftig tausend Jahre dieser Angst ertragen …?..Ja, Herr …«, erwiderte Urak. »Tausend Jahre und mehr …« Wieder lachte die Stimme.
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Hugh Walker
»Sieh dir Phelias an. Er dient mir seit mehr als fünfhundert Jahren …« Die schwarze Hand des Gottes deutete auf den Untoten an Uraks Seite. »Eines Tages kannst du ihn fragen, wie es ist, mir fünfhundert Jahre zu dienen und nicht zu sterben … das Fleisch faulen zu fühlen und nicht zu sterben … sterben zu wollen und nicht zu sterben … ah, mein treuer Priester, die Götter und die Welt sind nicht so einfach wie du sie dir denkst. Und es gibt mehr Höllen, als selbst die Götter wissen. Aber geh jetzt. Dragon ist nicht mehr in Urgor, und sein Kopf ist voller Pläne. Und meiner nicht minder …« Er lachte erneut und sagte zu Urak, der sich erhoben hatte: »Aber du hast recht. Er ist etwas Besonderes. Seit mehr als tausend Jahren gab es keinen wie ihn auf dieser Welt …«
3. »Mein Sohn, du weißt, daß der Geist mehr vermag als ein Schwert, mehr selbst als ein ganzes Heer …« Der Sprecher dieser Worte war ein mittelgroßer Mann, dessen fast kahlgeschorener Kopf und knöchellanges, weißes Ge-
wand ihn als einen der Weisen der Berge auswiesen. Seine dunklen Augen blitzten lebhaft in dem freundlichen Gesicht, das nun von Eifer erfüllt war. Er war nicht mehr jung, doch umgab ihn eine Aura von Zeitlosigkeit, die ihn fast jugendlich erscheinen ließ. Er trug einen Ring am Mittelfinger der rechten Hand, in dessen kunstvoll verzierter Siegelplatte winzige Zeichen eingeritzt waren, Buchstaben, deren Bedeutung niemand kannte. Nur einer trug solch einen Ring aus der alten Zeit, aus der Goldenen Epoche: Romon, der Oberste der Weisen des Ah'rath. Der mit Sohn Angesprochene, saß an dem breiten niedrigen Tisch, der den größten Teil des Raumes der kleinen Bibliothek ausfüllte. Sein braunes Haar fiel in Locken bis auf die Schulter. Seine blauen Augen ruhten zweifelnd auf den wertvollen alten Schriften. Die kräftigen Muskeln seiner Arme spannten sich, als er die Fäuste ballte. Eine umklammerte das handtellergroße Amulett, das an einer dünnen, goldenen Kette um seinen Hals hing, und seine Finger befühlten unbewußt den roten Stein im Zentrum des Sonnen-
Kampf um die Felsenburg bildnisses, das der Anhänger darstellte, als wollte er aus der Berührung neue innere Kraft schöpfen. »Seit ich erwacht bin«, murmelte er, »quälen mich ungreifbare Erinnerungen. Sie entschlüpfen meinen raschesten Gedanken. Dann wieder weiß ich plötzlich Worte und Namen. Sie sind fremd und vertraut zugleich. Atlantis ist eines dieser Worte. Was bedeutet es? Diese Schriften geben keine Hinweise, obwohl ich das Wort ein - oder zweimal las. Einige deiner Brüder nennen mich den Sohn von Atlantis …« »Sie wissen nicht, was es bedeutet. Niemand weiß es genau. Weit im Westen gibt es Stämme, die haben einen Gott dieses Namens, den sie verehren. Und ich weiß aus Berichten von Händlern, daß es Priester gibt, die Atlantis für einen Teufel halten, der die Welt vernichten wollte. Aber was es auch immer sein mag, wir wissen, daß es ein wesentlicher Bestandteil jener Epoche ist, die die Überlieferung das Goldene Zeitalter nennt - von dem auch du ein Teil bist, Dragon. Was liegt also näher in der Phantasie der Menschen, als dich, Sohn von Atlan-
19 tis zu nennen …« Dragon nickte nach einem Augenblick nachdenklichen Schweigens. »Auch wenn dieser Versuch, dein Gedächtnis wiederherzustellen, mißlungen ist«, fuhr Romon fort, »bleibst du der Schlüssel für alle unseren Hoffnungen auf ein neues Goldenes Zeitalter. Wir müssen nur Geduld haben. Du hast Jahrtausende in deinem gläsernen Schrein gelegen …« Die Spur eines Lächeln entspannte seine Züge für einen Augenblick und vertuschte die Resignation. »Zeit genug also, ein ganzes Leben zu vergessen. Daß du Erinnerungen in dir spürst, ist vielleicht ein gutes Zeichen. Mögen die Götter geben, daß es nicht Jahrtausende braucht, bis du sie wiedererhältst.« Dragon erwiderte das Lächeln. »Sie sind ganz nah. Ich fühle es. Und doch unerreichbar. Wenn ich diese alten Schriften lese, fühle ich eine seltsame Vertrautheit. Aber nichts weiter geschieht. Ich weiß, daß die Sterne am Himmel mehr bedeuten als nur Lichter, aber ich weiß nicht, was dieses Mehr ist. Und dann sind ja jene Dinge, die ich verstehe,
20 ohne sie erst mühsam erlernen zu müssen. So fällt es mir nicht schwer, mit dem Schwert umzugehen, obwohl ich manchmal glaube, daß eine leichtere Klinge besser in meiner Hand läge. Aber es gibt keine leichteren Klingen außer den Krummschwertern deiner Landsleute. Selbst der Hofschmied in Urgor, der alles kauft, was die Händler aus fernen Ländern bringen, um es auszuprobieren oder gar nachzuschmieden, weiß nichts von einem Degen. Und ich kann es ihm nicht erklären. Ich kenne wohl das Wort, aber nicht das Ding. Auch weiß ich mit dem Bogen umzugehen, besser als viele der Bogenschützen der Garde, und ich vermag zu reiten. Daß alles lernt man nicht im Schlaf …« Romon nickte zustimmend. »Du hast recht, Dragon. Das ist bereits ein Teil deiner Erinnerungen. Das gibt uns große Hoffnungen. Was wir brauchen, ist Zeit …« »Und die haben wir nur, wenn der Gott der vielen Namen ausgelöscht ist«, unterbrach ihn Dragon. »Du kennst seinen Schlupfwinkel. Was ich brauche, ist Gold, um ein Heer aufzustellen und das Nest aus-
Hugh Walker zuräuchern …« »Gegen einen Gott willst du zu Feld ziehen?« sagte Romon nachdenklich. »Du weißt ebenso gut wie ich, daß Cnossos kein Gott ist«, erwiderte Dragon heftig. »Aber er besitzt Kräfte wie einer - «, wandte Romon warnend ein. »Die besitzen viele deiner Brüder auch. Denke an Fairan, der Dinge schweben lassen kann, ohne sie zu berühren, oder das kleine Mädchen, das meine Gedanken lesen konnte. Glaubst du nicht, daß viele in Urgor bereit waten, ihnen einen Tempel zu bauen. Nicht nur einfache Menschen. Weisheit ist eine göttliche Eigenschaft, das ist wahr. Aber sie ist schwer zu erkennen, und noch schwerer nachzuprüfen, und die meisten verwechseln sie mit Schlauheit. Es genügt also schlau zu sein, und im Besitz von Kräften, die über das normale Maß hinausreichen, um als Gott zu gelten. Es scheint in der Natur der Menschen zu liegen, das Außergewöhnliche zu verherrlichen. So genießt der Scharlatan den gleichen Respekt wie der Weise. Cnossos ist ein Scharlatan.« Der Oberste der Weisen der
Kampf um die Felsenburg Berge schüttelte sein Haupt. »Du darfst nicht den Fehler begehen, ihn zu unterschätzen. Wir sind hier am Ah'rath sicher vor ihm. Wir haben Mittel und Wege gefunden, ihm und seinen Spionen das Eindringen in unser kleines Reich zu verwehren. Es gelingt uns oftmals sogar, von seinen Plänen zu erfahren, wenn er vermeint, uns zu belauschen. Aber du, mein Freund, du hast nur deinen starken Arm und deinen Verstand; das mag dich gegen einen Menschen schützen. Cnossos mag nichts Menschliches fremd sein, aber eines ist der Gott der vielen Namen sicher nicht: ein Mensch.« Dragon schüttelte verwundert den Kopf. »Irgendwie fühle ich, daß du recht hast. Es ist der Hauch einer Erinnerung.« Er schloß die Augen und berührte seine Stirn. Aber nach einem Augenblick zuckte er resigniert die Schultern. Er schob den Stuhl zurück und schritt wie ein gefangenes Tier auf und ab - gefangen in seinem eigenen Geist. Ein Toter, der plötzlich wieder erwacht war und nach seinem früheren Leben dürstete. Romon folgte ihm stumm mit den Augen. Er wußte, was in Dragon vorging. Sie fühlten es
21 alle hier am Ah'rath, umgeben von Zeugen der Vergangenheit von stummen Zeugen, die keine Antworten zu geben vermochten auf die tausend und abertausend Fragen, und die mit ihrer Gegenwart immer neue Fragen weckten. War dies nicht eine ähnliche unerfüllte Lockung wie die ungreifbaren Erinnerungen des Mannes, den sie den Schlafenden Gott nannten? Gewiß, die Männer von Ah'rath und ihre Gesandten überall im Land hatten einiges erreicht. Sie hatten in diesen Jahrhunderten vermocht, Kriege zu verhindern. Sie hatten Vernunft gepredigt und vor unheilvollem Fanatismus gewarnt. Sie hatten nach der Goldenen Vergangenheit gesucht und viele Anhänger gewonnen. Aber wenn man alle die Erfolge und Mißerfolge zusammenrechnete, war die Waagschale des Erfolges nur wenig schwerer. Und die Welt war barbarischer denn je - ein Tummelplatz für Magier und Scharlatane und falsche Götter, denen die Menschen für ihre eigennützigen Zwecke gute Diener waren. Aber nun gab es Dragon, der in diesen kurzen Monden seit seinem Erwachen bereits zu ei-
22 nem Gott geworden war, zu einem lange ersehnten, erlösenden Gott, in dem die Geheimnisse schlummerten, die die Welt zu verändern vermochten. Wenn er nur lange genug lebte, daß die Erinnerungen zurück in seinen Geist fluten konnten. Die - Gedanken der beiden Männer wurden jäh unterbrochen, als ein junger Weiser in den Raum stürmte. Er war außer Atem. »Mein Vater«, stieß er hervor. »Dilorn schickt mich mit der Nachricht, daß wir beobachtet werden …!« Romon fuhr herum. »Er weiß also, daß du hier bist.« Dragon nickte. »Ist Amee sicher?« Romon erwiderte beruhigend: »Keine Angst. Nichts kann ihr geschehen, solange sie sich innerhalb dieser Mauern befindet, selbst wenn er in Gestalt des Geiers kommt. Dilorns Gruppe wird ihm soviel Unbehagen bereiten, daß ihm alle Lust vergeht, am Ah'rath zu landen. Meist sind es ohnehin nur kleine Späherteile seines Körpers, die er aussendet. Dilorn und seine Gefährten sind die Wächter des Ah'rath. Sie lauschen ohne Unterlaß in die Ferne, und sie hö-
Hugh Walker ren weiter, als jedes menschliche Ohr es zu tun vermag. Aber komm! Obwohl ich keine Zweifel hege, daß es Cnossos ist, der um den Ah'rath streicht, wollen wir Dilorn aufsuchen. Es ist interessant, ihn bei der Arbeit zu beobachten. Du wirst sehen.« Als sie durch den Garten schritten, sagte Romon: »Ich werde dein Heer ausrüsten, Dragon. Mit mehr als nur Gold. Gold allein und die Schwerter, die du dafür kaufst, werden dem alten Geier nicht viel anhaben. Aber es gibt ein paar andere Mittel …«
4. Koroskhyr war gewaltig. Nach seiner ersten Audienz mit Cnossos und nachdem er sich von seiner instinktiven Angst vor der Fremdartigkeit seines Gottes hier in seinem eigenen Reich erholt hatte, verließ Urak sein Gemach und schlich durch die Gänge und Räume der riesigen Burg. Niemand hielt ihn auf. Nur die lautlosen Gestalten der Untoten begleiteten ihn unsichtbar. Wenn er sie auch nicht sah, so spürte er ihre Anwesenheit. Der Instinkt des Mörders sagte ihm, daß er nicht
Kampf um die Felsenburg allein war. So wie in früheren Zeiten in Urgor, wenn er durch das Labyrinth der unterirdischen Gänge schlich, die von Cnossos Tempel aus spinnenförmig die Stadt unterhöhlten, und in denen die Dunklen Wächter ihre Opfer schlugen. Ohne Ziel eilte er durch die Korridore, öffnete Türen im Drang einer wilden Neugier. Aber schon bald verlor er das Interesse, als er sah, daß die Räume meist leer waren, als warteten sie darauf, mit Dingen und Schätzen angefüllt zu werden, die der Herr von Koroskhyr in der Zukunft zu horten gedachte. Nach einer Stunde hatte er den Eindruck, die halbe Burg sei leer. Er dachte daran, umzukehren und erkannte, daß er sich verirrt hatte. Er versuchte zurückzufinden in die bekannte Gegend seines Schlafraums. Vielleicht dienten diese leeren Räume dem Aufenthalt der Untoten. Aber er verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Selbst Untote würden nicht in kahlen Räumen auf dem steinernen Boden schlafen. Unvermittelt stand er vor einer schweren, verriegelten Tür. Er kannte sie aus den wirren Traumbildern seiner ersten
23 Nacht auf Koroskhyr: Sie führte hinab in die Gewölbe der mörderischen Falter. Er schrak zusammen, als er plötzlich von einem dichten Ring von Untoten umgeben war. Sie blickten ihn stumm an und verwehrten ihm den Schritt zur Tür. Sie schienen ebensolches Grauen davor zu empfinden wie er selbst. Er war sehr erleichtert über ihr Auftauchen. Fast war es ihm, als hörte er den Flügelschlag der hungrigen weißen Höllengeschöpfe durch das dicke Metall der Tür. Schweigend brachten ihn die Uh-toth zu seinem Gemach zurück, wo Phelias auf ihn wartete - und ein Mädchen. »Unser Herr hat ein Geschenk für dich, Herr«, erklärte Phelias. »Er weiß um die Begierden der Menschen, so wie er um die Gesetze des Kosmos weiß.« »Des Kosmos?« wiederholte Urak verständnislos. »Der Kosmos ist seine Welt und die Welt aller wahren Götter«, beantwortete der Uh-toth die Frage gleichmütig. »Und wo ist dieser Kosmos?« »Das weiß Cnossos allein.« Als Phelias das Gemach verlassen hatte, betrachtete Urak
24 das Mädchen Ihr Anblick erregte ihn. Sie war wie eine Königin gekleidet, und wie eine Königin stand sie da, kalt und unnahbar, das weiße Gesicht verschlossen, einen Ausdruck in den Augen, den er nicht deuten konnte. Es war das erstemal, daß er einen Funken von Leben in den schwarzen Augen eines Uh-toth sah, und er schauderte unwillkürlich. Das Mädchen bemerkte es, und ein Lächeln öffnete ihre blutleeren Lippen. Der verschlossene Ausdruck verschwand aus ihrem Gesicht und macht einem anderen Platz: Hunger. Sie strich ihr schwarzes Haar von den Schultern. »Komm her!« sagte Urak und atmete schneller. Sie trat zu ihm und öffnete den bodenlangen Mantel aus schwarzem Samt. Uraks Blick ließ sie nicht los. »Wie heißt du?« »Manija. Herr«, erwiderte sie. Sie öffnete den Mantel und schüttelte ihn von den Schultern. Atemlos starrte Urak auf ihren makellosen weißen Körper. »Wahrhaftig das Geschenk eines Gottes«, murmelte er heiser. Sie lachte, als er sie in die
Hugh Walker Arme riß. Er erstickte ihr Lachen mit Küssen, und es währte eine ganze Weile, bis in seine Gedanken einsickerte, daß sein heißer Atem sie nicht zu erwärmen vermochte. Dazu kam noch die grausige Erkenntnis einer anderen Tatsache: Das Mädchen atmete nicht! Wie eine Tote, dachte er. Kalt und leblos. Es ist ein Teufel in ihr! Oh. Gott der vielen Namen, sie wird das Blut aus mir saugen wie deine Zü-ip. Und meine Kraft! Er versuchte sich loszureißen von ihr, doch ihre Arme umklammerten ihn mit überraschender Kraft und drückten ihn an ihren Leib. Aus seiner Leidenschaft wurde in wenigen Augenblicken pures Entsetzen. Er kämpfte verzweifelt, aber sie hielt ihn mit einer übermenschlichen Kraft, und er fühlte, wie sein eigener Körper selbst durch die Kutte hindurch kalt wurde. Er schrie, und die Untote lachte wieder. Als er glaubte, daß es mit ihm zu Ende ging, sprang die Tür auf, und Phelias stand im Raum. Die Arme des Mädchens gaben Urak frei. Mit einem Stöhnen sank er auf das Lager. Er
Kampf um die Felsenburg griff nach dem Schwert, aber es entfiel seinen klammen Fingern. Das Mädchen erhob sich. Die tödliche Leidenschaft war erloschen in ihren Augen. Abwesend, als wandelte nicht sie, sondern nur ihr Körper durch diese Räume, schritt sie aus dem Gemach. »Du mußt ihr verzeihen, Urak«, vernahm Urak Phelias Stimme aus weiter Ferne. »Es ist noch zuviel Leben in ihr.« Er erkannte dumpf, daß es Cnossos war, der mit der Stimme des Uh-toth zu ihm sprach. »Du mußt auch Phelias verzeihen. Er öffnete die falsche Kammer. Wie alle Untoten in diesem Haus haßt er dich, weil du lebst und mir dienst. Aber hab keine Furcht. Keiner wird die Hand gegen dich erheben. Sie sind Diener mit ihrem Leib und mit ihrer Seele. Sie sind für die Ewigkeit geschaffen, und es ist meine Kraft, durch die sie leben. Was sie fühlen und denken, weiß nur ich, wenn ich in ihre Schädel blicke. Sie selbst haben keine Gewalt über ihre Körper.« Langsam kehrte die Kraft in Uraks Glieder zurück. Er richtete sich auf und sah Phelias undeutlich vor sich, mit dessen Stimme Cnossos fortfuhr zu
25 sprechen. »Du solltest mir dennoch danken, denn du hast mit einer Königin das Lager geteilt. Wenn es auch« - Spott schwang in der Stimme -»über deine Kräfte zu gehen schien …« »Sie besaß die Kräfte eines Bären«, sagte Urak. »Sie besaß meine Kräfte«, wiedersprach Cnossos. »Sie war einst Königin über ein großes Reich weit im Westen, jenseits des Meeres. Aber sie verriet mich, ihren Gott, um eines Scharlatans willen, der sie lehrte, es wäre Sünde zu töten und Blut zu vergießen. Was meinst du, mein getreuer Urak, wäre es dir lieber, wenn ich dir befehlen würde, Dragon zu lieben, statt ihn zu töten?« »Dragon lieben?« fragte Urak benommen. Der Gott der vielen Namen lachte. »Ja, welch ein verrückter Gedanke Er paßt so recht zu den anderen Narreteien wie Ehre und Edelmut und dergleichen mehr. Ich zeigte der kleinen Närrin, daß Blutvergießen auch sein Gutes haben kann. Ich vergoß ihr Blut …« »Du hast sie getötet, Herr?« entfuhr es Urak. »Dann habe ich wirklich mit einer Toten …?«
26 »Nein. Es ist noch immer Leben in ihr, obwohl ich vor vier Jahrzehnten ihr gesamtes Blut aus ihren Adern entfernte. Den Körper aber hielt ich am Leben. Sie war sechzehn, als ich sie am Tage ihrer Krönung vor aller Augen aus dem Thron riß und nach Koroskhyr brachte. Sieht sie nicht immer noch aus wie sechzehn? Sie wäre jetzt mehr als ein halbes Jahrhundert alt, ihre Schönheit verdorrt, ihr Leben der eines alten Weibes im Schatten des Throns. So bleibt sie sechzehn Sommer und schön für alle Zeiten, die kommen. Und wenn ihr Leben erst erlischt, und sie zur Ruhe kommt, wie Phelias und die anderen, wenn sie das Fleisch nicht länger beherrscht, wird sie ein vollkommenes Geschöpf sein, ganz erfüllt von ihrem Gott. Das ist eines Tages auch dein Lohn …!« Urak erschrak bis auf den Grund seiner Seele. »Nein, Herr …!« »Sagtest du nicht selbst, du würdest mir tausend Jahre dienen, wenn du dafür nicht zu sterben brauchtest?« »Herr, lohne meine Treue nicht mit Schrecken!« rief Urak. »Ich war einem dieser kalten
Hugh Walker Leiber nah genug …!« Der Gott der vielen Namen lächelte spöttisch mit den kalten Lippen Phelias. »Ich kenne die Menschen. Ich weiß, daß du eines Tages kommen wirst …« Das Lächeln verschwand von Phelias Mund. Die Züge waren plötzlich ausdruckslos. Cnossos hatte den Uh-toth verlassen. Zitternd sank Urak auf das Lager zurück. In diesem Augenblick machte er eine entscheidende Erkenntnis: Er liebte diesen Gott nur aus Angst! Weil er sich fürchtete, ihn zu hassen. Weil er wußte, daß es vor der Rache eines Gottes keine Flucht gab.
* Zwei Tage ohne unliebsame Überraschungen vergingen auf Koroskhyr. Als Phelias, der Uhtoth, Urak erneut zu Cnossos führte, dachte der Dunkle Wächter kaum noch an das Grauen seines Einzugs in die Felsenburg. Es waren angenehme, wenn auch einsame Tage, doch Urak war auch die Einsamkeit angenehm. Auch während der langen Jahre als Dunkler Wächter im Tempel von Urgor war er im Grunde seines
Kampf um die Felsenburg kalten Herzens immer ein Einzelgänger geblieben. Vielleicht hatte er deshalb als einziger überlebt. Oder vielleicht, weil sein Gott mehr auf ihn achtete, so wie auch er auf seinen Gott mehr achtete als alle anderen. Aber solcherlei Gedanken waren es nicht, die Urak bewegten. Er dachte nie so tiefgründig über die Dinge nach, außer manchmal, wenn er über den Tod nachdachte - seinen eigenen Tod. Phelias war ihm augenscheinlich als Leibdiener zugeteilt worden, der mit einigen anderen Untoten für sein leibliches Wohl sorgte. Urak schätzte, daß sich etwa zweihundert dieser seltsamen Diener in der Burg befinden mußten. Er sah sie überall in Koroskhyr, und manchmal hatte er den Eindruck, daß sie ihn belauerten, was ihn trotz Cnossos' Versicherungen mit Unbehagen erfüllte. Er verstand nicht, warum sie ihn hassen sollten. Diente er nicht ebenso dem Gott der vielen Namen wie sie? Daß sie auf sein Leben eifersüchtig sein mochten, kam ihm nicht in den Sinn. Sein anfängliches Entsetzen vor ihren kalten, weißen Lei-
27 bern und ihren toten, nachtschwarzen Augen verlor er nie ganz, und daß sie nicht atmeten, erschreckte ihn immer wieder. Daß sie selbst nie das Wort ergriffen und nur sprachen, um ihm zu antworten, außer wenn sie eine Botschaft ihres Herrn brachten, und daß sie alle seine Befehle und Wünsche ohne Murren ausführten, gab ihm schon bald das Gefühl, wahrhaftig ein Herr zu sein, umgeben von willigen Sklaven. Verstärkt wurde diese Illusion noch dadurch, daß sie ihn, ebenso wie er seinen Gott, mit Herr anredeten. Eingedenk seiner Erfahrungen bei der ersten Audienz fiel er in sicherer Entfernung vom Thron auf die Knie. »Du hast mich gerufen, Herr?« »Ich habe eine Aufgabe für dich. Du wirst nach Urgor gehen …« »Herr«, warf Urak erschrocken ein. »Jedermann kennt mich dort. Sie werden mich erschlagen, sobald sie mich sehen …!« »Nachts sind alle Schurken gleich«, sagte Cnossos ungerührt. »Ein wenig Erde im Gesicht - und sie werden eher denken, einen Dämon vor sich zu
28 haben, als Urak, der erst vor wenigen Tagen mit knapper Not dem Tod entronnen ist und sicherlich Urgor meiden wird wie die Pest …« »Diese Menschen denken weise, oh, Herr«, wagte Urak einzuwerfen. »Und doch haben sie unrecht«, erwiderte Cnossos. »Aber ihr weises' Denken wird unseren Plan begünstigen. Auch wirst du nicht allein gehen. Vier meiner untoten Diener werden dich begleiten.« Urak dachte an die Kraft des Mädchens. Der Gedanke an vier solcher Kampfgefährten ließ ihn seine Furcht vergessen. Dennoch sagte er vorsichtig: »Es sind zu wenige, Herr, wenn ich Dragon überwältigen soll.« »Dragon weilt nicht in Urgor. Er hat die Weisen am Ah'rath aufgesucht, zusammen mit Alacs Tochter. Und es wäre unklug, ihn dort vor so vielen ungläubigen Zeugen …« »Aber Herr«, unterbrach ihn Urak verwundert. »Ich sah Amee in deiner Gewalt. Wie ist es möglich, daß sie mit Dragon am Ah'rath weilt …?« »Sie war nur der Lockvogel, der Dragon in die Falle locken sollte«, erklärte Cnossos ver-
Hugh Walker ächtlich. »Sie wäre eine Bereicherung deiner Untoten gewesen, oh, Herr …« »Um sie dir zum Geschenk zu machen?« lachte Cnossos. »Welch ein Gedanke! Vielleicht, eines Tages, wenn Dragon in meiner Gewalt ist …!« Urak hielt den Atem an. Die stolze Amee in seinen Armen! Die Tochter König Alacs seine Sklavin … Aber Cnossos' Stimme rief ihn in die Wirklichkeit zurück. »Kennst du Iwa, die Giftmischerin?« Natürlich kannte er Iwa. Sagten die Leute nicht, sie wäre einst Prinzessin Amees Amme gewesen? Was wollte sein Gott mit der Alten? »Ja, Herr«, antwortete er. »Bei ihr befindet sich ein Mädchen. Es ist Agrion, die ehemalige Sklavin König Alacs. Sie ist es, die ich will!« »Wie du es wünschst, Herr.« »Ihr werdet sie auf schnellstem Wege hierherbringen, und ihr werdet eine deutliche Spur hinterlassen, die es den Verfolgern leichtmachen wird, nach Koroskhyr zu finden!« »Wer könnten diese Verfolger sein?« fragte Urak. »Die für ein Sklavenmädchen ihr Leben
Kampf um die Felsenburg wagen?« »Einer, der sie liebt«, erwiderte Cnossos. »Der wichtigste Mann, der sich zur Zeit in Urgor befindet: Partho, der die Truppen für Dragons wahnwitzigen Plan vorbereitet, Koroskhyr zu stürmen …« Er lachte, daß es im Thronsaal wie Donner widerhallte. Schließlich fuhr er fort: »Es wird noch eine Weile dauern, bis Dragon nach Urgor zurückkommt. Der Ritt vom Ah'rath ist beschwerlich. Wenn wir Partho von seiner Pflicht ablenken, wird Dragon schwerlich eine wohlausgebildete Streitmacht vorfinden, besonders, wenn wir die Moral der Krieger während Parthos Abwesenheit noch ein wenig untergraben …« »Herr, wenn nun Dragon früher zurückkehrt …«, wandte Urak unsicher ein. Gewiß, der Gott der vielen Namen wußte vieles, und er war einer der mächtigsten Götter. Aber er war nicht allwissend und nicht allmächtig, wie die Vergangenheit gezeigt hatte. Auch Dragon schien ein paar recht ordentliche Götter auf seiner Seite zu haben. Denn wenn er wirklich mehr als tausend Jahre geschlafen hatte, wie die Gerüchte be-
29 sagten, hätte ihn sonst längst einer seiner Feinde im Schlaf erschlagen können! Und außerdem war es ihm gelungen, der Herrschaft des Gottes der vielen Namen in Urgor ein Ende zu machen. Auch wenn darüber noch nicht das letzte Wort gesprochen war. Dafür würde auch er, Urak, auf seine Art sorgen. »Genug der Furchtsamkeit!« rief Cnossos, und Urak zuckte zusammen. »Und genug des Zweifels an meiner Macht, du Mensch! Meine Späher beobachten den Ah'rath in diesem Augenblick, und durch ihre Augen sehe ich Dragon an der Seite Romons. Und ich sehe Urgor unter mir liegen und mehrere hundert von Parthos Krieger im Spiel gegen die Mauern der Stadt rennen. Sie sind nichts weiter als Ameisen. Und Ameisen werden Koroskhyr nie bezwingen, auch nicht mit Dragon an ihrer Spitze.« Er unterbrach seine Überlegungen. »Du brichst in einer Stunde auf. Morgen abend seid ihr in Urgor, und in zwei Tagen wieder zurück. Es gilt keine Zeit zu verlieren. Noch etwas: Du begleitest die Untoten und das Mädchen nicht mehr bis Koroskhyr
30 zurück. Eine Schar meiner Diener wird euch am Weg erwarten - mit einer Botschaft, die du auf schnellstem Weg nach Bo-gah bringst …« »In die Stadt der verlorenen Seelen …!« entfuhr es dem knieenden Priester. »Herr, kein Mensch vermag mehr als einen Augenblick in diesen Ruinen auszuhalten. Alle, die dort nach Schätzen suchten, kamen als stammelnde Narren zurück. Sicher kann es nicht deine Absicht sein, deinen Diener …« »Schweig!« rief Cnossos. »Du scheinst mir jetzt schon ein stammelnder Narr. Hier, nimm diesen Ring. Wenn du ihn trägst, werde ich dich immer zu finden wissen …« Urak wich vor der rauchigschwarzen Hand zurück und fing den Ring, den ihm diese zuwarf. Er schien aus Gold zu sein. Er schimmerte gelblich im Licht der Fackeln. Aber er trug keinen kostbaren Stein, nur eine kreisrunde, spiegelnde Fläche, in die seltsame Zeichen eingeritzt waren. Der Priester steckte den Ring an den Mittelfinger der rechten Hand. »Und er wird dich schützen vor übereilten Schritten meiner
Hugh Walker Diener, wer und wo sie auch sein mögen. Und jetzt mach dich bereit. Deine vier Begleiter warten bereits. Drei Wegstunden von hier ist Keoms Hof. Von ihm erhältst du Pferde, wenn du ihm den Ring zeigst. Die Uh-toths kennen den Weg.« »Dann müssen wir wieder durch die Gewölbe?« Cnossos nickte. »Es gibt keinen anderen Weg aus dieser Burg, außer für mich. Aber ich will deinen Mut nicht auf weitere Proben stellen, so ergötzlich es auch ist, mein Priester. Diese Falter, die nicht aus der Welt der Menschen kommen, liegen in tiefem Schlaf, und nur menschliche Laute wecken sie daraus. Wenn du schweigst, bist du sicher. Es sei denn, sie hören deinen Atem. Doch du wirst eine Fackel bei dir haben, und Licht lähmt sie, denn sie kommen aus einer dunklen Welt, auf der die Sterne das einzige Licht geben. Aber hüte dieses Geheimnis. Du bist der erste, der Koroskhyr betreten und wieder verlassen hat - lebend!« Die Audienz war beendet. Urak wagte nicht aufzublicken. Der Gedanke an die unbegreifliche Gestalt seines Gottes ließ ihn schaudern. Er erhob sich mit
Kampf um die Felsenburg gesenktem Kopf und folgte Phelias aus dem Thronsaal. Er atmete freier, als das mächtige Tor sich hallend hinter ihm schloß. Die unverhangenen Fenster des Korridors ließen das helle Sonnenlicht herein und verdrängten die gespenstische Atmosphäre der Audienz aus seinen Gedanken. Er betrachtete den Ring an seiner Rechten. Er gab ihm ein Gefühl der Sicherheit.
* Die vier Begleiter warteten bereits an der Tür zu den Gewölben, vier große Uh-toth, kräftige Gestalten mit Gesichtszügen, wie sie in dieser Gegend der Welt noch nie gesehen worden waren. Zwei von ihnen waren dunkelhäutig, der einst bronzene Glanz ihrer Haut nun ein fahles, blutloses Grau. Unbehaglich fingerte Urak an seinem Schwert. Ob er sich je an diese unheimliche Begleitung gewöhnen würde? Er wollte etwas sagen, aber rechtzeitig erinnerte er sich an Cnossos' Worte. Er mußte schweigen, wenn er lebend aus Koroskhyr kommen wollte. Den Untoten konnte nicht viel ge-
31 schehen. Sie hatten kein Blut mehr zu verlieren. Phelias schob den schweren Riegel zurück. Die Tür schwang knirschend auf, und ein kalter, feuchter Lufthauch fegte über die Flammen der Fackeln und ließ sie wild zucken. Ihr Götter! Laßt sie nicht verlöschen! dachte Urak in einem Anfall von Panik. Die Uh-toth standen abwartend. So wenig einladend der schwarze Schlund vor ihm auch war, es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als voranzugehen. Zögernd schritt er durch die Tür. Die Fackel erhellte die Finsternis nur spärlich. Lichtzungen tanzten über die Steinwand zu seiner Rechten und zuckten über die felsigen Stufen unter seinen Füßen. Als die Tür sich hallend schloß, unterdrückte er nur mit Mühe einen Aufschrei, weil er dachte, es wäre wiederum nur ein Trick Cnossos' gewesen und er stünde nun allein hier unten. Aber als er sich umwandte, sah er die vier gleichmütig hinter sich stehen mit hocherhobenen Fackeln, und er atmete auf. Zum erstenmal fühlte er unter dem starren Blick ihrer schwarzen Augen einen Hauch von Gebor-
32 genheit. Er winkte, und sie stiegen langsam hinab. Das Geräusch ihrer Schritte brach sich tausendfach in der Stille. Urak ignorierte die Gänsehaut, die seinen Rücken hinabkroch. Endlos schien der Abstieg. Es schien dem Priester, daß sie längst jene Stelle passiert haben mußten, an der der Ausgang war. Aber immer noch war kein Ende der Stufen abzusehen. Er wollte innehalten, doch die Uhtoth drängten ihn weiter, so daß ihm nichts übrigblieb, als tiefer hinabzusteigen. Die Feuchtigkeit und die Kälte nahmen zu. Bald gesellte sich auch ein Geruch hinzu, der ihm unbekannt war. Nach einer Stunde des Abstiegs wurde der Geruch betäubend. Das zuckende Licht der Fackeln erfaßte vereinzelte Falter, die an den Felsen hingen - reglos. Urak begann den Atem anzuhalten. Kalter Schweiß bedeckte seinen Körper, und sein Herz pochte so laut, daß er glaubte, jeden Augenblick würden die Bestien aufwachen und auf ihn losstürzen. Von Stufe zu Stufe wurde der Behang dichter. Bald gab es
Hugh Walker keine freien Stellen mehr, kein Fleckchen Fels, das nicht von weißen Leibern oder Flügeln bedeckt war. Nur die Stufen blieben frei. Immer wenn Urak glaubte, ersticken zu müssen und mit unendlicher Vorsicht Atem holte, war es ihm, als öffneten sich Augen träge unter weißen Lidern. Aber wenn es geschah, so erstarrten sie sofort wieder im gleißenden Licht der Fackel. Endlich, nach einer Ewigkeit, wurden die Schichten dünner. Da und dort sah man wieder Fels, und schließlich hingen nur noch vereinzelte Falter an den Wänden. Gleich darauf erkannte er auch, warum. Die Luft wurde frischer, erfüllt vom Duft der Außenwelt, und fegte Moder und Fäulnis hinweg. Urak hielt inne, als er einen vereinzelten Schmetterling an der niedrigen Decke über ihm gewahrte, einen letzten Vorboten des riesigen Schwarms. Rasch griff er nach den großen Flügeln und riß das Tier los. Als Tageslicht das Ende des Ganges ankündigte, und sie in die Sonne hinaustraten, hielt er den Falter hoch und beobachtete mit Triumph, wie die mondbleichen Flügel in seiner Hand
Kampf um die Felsenburg welkten, wie die weißen Lider vergeblich versuchten, die empfindlichen Augen zu schützen, wie die behaarten Beinchen blind zappelten, wie der kleine Rachen weit aufklappte, als wollte es diesen unerbittlichen Feind, diese glühende Kugel am Himmel verschlingen - und wie das Tier schließlich schlaff wurde in seiner Hand. Dann schleuderte er es von sich und atmete tief ein. Koroskhyr lag hinter ihm. Die Zeit der Demut und Furcht wurde vorbei sein, wenn er wieder unter Menschen war. Und er hatte einen Gott zur Seite.
5. Dragons Blick folgte Dilorns ausgestrecktem Arm. Gleich darauf sah er den Vogel mit ausgebreiteten Schwingen hoch über der Burg der Weisen. Er zog weite Kreise und schien dabei langsam tiefer zu gleiten. »Ein Adler«, sagte Dilorn. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Er war ein kleiner, untersetzter, freundlicher Mann, der in dem weißen Gewand der Weisen behäbig wirkte. »Ich entdeckte ihn bereits vor einem
33 halben Tag, als er sich langsam heranzupirschen begann. Da war er für das Auge noch nicht sichtbar. Fren hier hätte ihn wahrscheinlich noch früher entdeckt …« Er deutete auf einen Jungen von nicht mehr als vierzehn Sommern, der tief in sich versunken saß. Neben ihm kniete ein junges Mädchen auf dem Boden. Auch ihr Blick war abwesend, und die versunkene Stellung ihres Körpers sagte Dragon deutlich, daß ihr Geist mit anderen Dingen beschäftigt war. Soviel hatte er in diesen Tagen auf dem Ah'rath erkennen gelernt. Ein alter Mann befand sich noch in dem kleinen Raum des Turmes. Auch sein Blick war nach innen gerichtet. »Er ist stärker als ich«, fuhr Dilorn fort. »Und der Vogel ist Cnossos?« fragte Dragon, noch immer ein wenig ungläubig. »Darauf kannst du deine Haut verwetten«, lachte Dilorn. Er wischte den Schweiß von seinem Gesicht. »An einen gewöhnlichen Vogel würden wir keinen zweiten Blick verwenden. Das ist einer von Cnossos' Spähern …« »Woran erkennt ihr es?« »Dieser Vogel denkt«, erklär-
34 te Romon. »Und die Gedanken kann Dilorn und seine Gruppe auffangen …« »Denken wäre zuviel gesagt«, wandte Dilorn ein. »Aber er strahlt etwas aus, wie die Sonne Strahlen verschickt. Damit meldet er Cnossos, was er sieht. So wie du erkennst, was deine Hand tut.« »Aber meine Hand ist ein Teil meines Körpers«, widersprach Dragon. »Dies ist auch ein Teil von Cnossos' Körper«, erklärte Dilorn. Der Junge wachte plötzlich auf. Es wahrte einen Augenblick, bevor sein Blick sich klärte … Er ist sehr nah. Dilorn. Sollen wir zuschlagen?« Dilorn, Dragon und Romon blickten zum Himmel. Tatsächlich hatte sich der Adler weit herabgewagt. Sie konnten seinen scharfen Schnabel deutlich sehen. »Laßt ihn noch ein wenig näherkommen. Um so stärker können wir ihn treffen«, meinte Dilorn. Sie starrten atemlos. »Jetzt«, zischte Dilorn, und sein Geist wich gleichzeitig von ihm. Auch der Knabe sank in sich zusammen.
Hugh Walker »Was geschieht?« fragte Dragon. »Sie geben ihm ein paar unangenehme Gedanken ein«, gab Romon zur Antwort, ohne den Blick von dem Adler zu lassen. »Wir hatten Zeit genug, herauszufinden, daß er Feuer am meisten fürchtet. Feuer ist sein Erbfeind. Das Bild eines gerösteten Adlers dürfte nicht zu seinen Lieblingsvorstellungen gehören.« Dragon sah, Wie der Adler plötzlich wild mit den Flügeln zu schlagen begann und verzweifelt versuchte, Höhe zu gewinnen. Sein schriller Schrei drang deutlich zu den Beobachtern herab. Mit wahnsinniger Anstrengung arbeitete er sich hoch und verschwand schließlich in Richtung Westen, während noch mehrmals sein klagender Schrei ertönte. Dilorn und seine Freunde erwachten aus ihrer Starre. Der Junge und das Mädchen schienen zu platzen vor unterdrücktem Lachen. Auch Dilorn hatte Mühe, ein Lachen zu verbeißen. Nur der Alte blickte besorgt. Er wandte sich an Dragon. »Der Gott der vielen Namen weiß, daß du hier bist. Und er weiß auch um die Anwesenheit
Kampf um die Felsenburg der Prinzessin. Du mußt sehr vorsichtig sein. Der Ritt nach Urgor mag gefährlich sein …« »Keine Sorge«, unterbrach ihn Romon. »Wir werden eine kleine Karawane ausrüsten. Der Rat hat heute morgen beschlossen, Dragons Plan zu unterstützen …« Begeisterte Zurufe unterbrachen den Obersten Weisen. Er hob beschwichtigend die Hände. »Es erscheint mir kein Anlaß zu stürmischer Freude. Du, Fren, wirst die Karawane begleiten.« Er wandte sich an Dragon. »Der Junge kann euch rechtzeitig warnen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Cnossos sich für die Karawane interessiert.« Der Junge nickte aufgeregt. Es war zum erstenmal in seinem Leben, daß er den Ah'rath verlassen durfte. Daß es an Dragons Seite geschehen sollte, und daß er dazu noch eine wichtige Aufgabe für Dragon erfüllen durfte, ließ ihn in einen wahren Freudentanz ausbrechen, während ihn das Mädchen neidvoll beobachtete. »Du wirst gut auf ihn achtgeben?« sagte Romon eindringlich. »Er ist eines unserer besten Talente …« »Ich werde ihn wie Amee be-
35 hüten«, erklärte Dragon, »und sie beide nicht aus den Augen lassen. Du brauchst dich nicht zu sorgen.« »Das ist das Verteufelte an der Jugend«, murmelte der Alte, »daß sie so zuversichtlich ist …!« »Jugend?« fragte Dragon grinsend. »Das sagst du zu einem, der Jahrtausende auf dem Buckel hat …?« »Wann willst du aufbrechen?« fragte Romon. »Morgen in aller Frühe … das heißt, wenn die Karawane bis dahin bereit ist …« »Das ist keine Schwierigkeit. Warum so eilig, Dragon?« Dragon zuckte die Achseln. »Ich bin rastlos, das ist wohl der Hauptgrund. Zum anderen wüßte ich gern, wie die Vorbereitungen in Urgor vorangehen …« »Partho ist ein verläßlicher Mann«, warf Romon ein. »Ich weiß. Aber die Stadt ist nicht sicher, solange Cnossos wie eine ständige Drohung im Verborgenen lauert. Auch sind die Bewohner der Stadt noch zu wankelmütig. Jeder vermag sie aufzuwiegeln, und wenn auch Cnossos' Herrschaft in Urgor gebrochen ist, so hat er doch ei-
36 ne Menge unbekannter Freunde, die nur auf einen günstigen Augenblick warten. Urgor braucht eine feste Hand, und je früher die Krönungszeremonie für Amee stattfindet, desto besser …« Er schüttelte den Kopf. »Solange Cnossos in seinem Nest sitzt und finstere Pläne ausbrütet, ist an ein Krönungsfest in Urgor nicht zu denken. Die Stadt wäre hilflos wie ein Neugeborenes …« Er schloß die Augen und ballte die Fäuste. »Er hat ihr schon genug Schmach angetan. Es soll ein doppeltes Fest werden: die Krone für ihr Haupt und sein Tod als Krönungsgeschenk …« Romon seufzte. »Ich wünschte, es wäre nicht der Gedanke an Rache, sondern die Vernunft, die dich leitet …« »Es ist mehr Vernunft in mir, als du denkst«, erwiderte Dragon abwehrend. »Ich bezeuge es«, rief eine weibliche Stimme vom Eingang her. »Prinzessin.« Romon nickte grüßend, und die anderen folgten seinem Beispiel. Dragon eilte ihr entgegen. »Ah, Amee«, begrüßte er das Mädchen, das in die Turmkammer trat. Er legte einen Arm um sie und deutete
Hugh Walker auf die Versammelten. »Sage du diesen weisen Zauderern, daß ich besonnen bin …« »Sie wissen, daß du es bist, mein Leben«, erwiderte sie lächelnd. »Daß ich Tage und Nächte grüble …« »Auch das wissen sie …« »Aber daß jetzt endlich Zeit zum Handeln gekommen ist!« »Selbst daran zweifeln sie im Innersten ihrer Herzen nicht.« Das Lächeln vertiefte sich und funkelte in ihren meergrünen Augen. »Bist du sicher?« fragte Dragon. »Ganz und gar.« Er unterdruckte das Verlangen, sie zu küssen. Statt dessen sagte er grinsend: »Ihr seht, ich bin nicht ohne Unterstützung zum Ah'rath gekommen …« Das Mädchen errötete leicht. »Aber auch Urgor liebt seine lebenden Helden mehr als die Toten.« »Auch wir schätzen die junge Weisheit unserer Schwester«, ergriff Romon das Wort. »Der Beginn ihrer Regentschaft in Urgor ist ein Sieg für uns und ein großer Schritt vorwärts. Es bedeutet, daß eine lange dunkle Epoche ihr Ende finden wird,
Kampf um die Felsenburg denn Alac war schwach.« Seine Stimme wurde eindringlich. »Ihr Leben gilt es zu erhalten um jeden Preis …« »Ihr schätzt mich zu hoch ein, weiser Romon«, unterbrach ihn Amee. »Ich bin nicht weise. Wie konnte ich, mit kaum zwanzig Sommern? Ich sehe die Welt nur ein wenig klarer als mein Vater sie sah, und diese Klarheit sagt mir auch, daß viele der Dämonen, die sein Leben und seine Seele vergifteten, nur in der Vorstellung der Menschen bestehen, und daß nichts als unser Glaube sie zum Leben erweckt. Das verdanke ich Damos und euren Brüdern. Aber ich bin jung und unerfahren …« »Ihr glaubt an das Goldene Zeitalter. Prinzessin«, fiel ihr Romon erregt ins Wort »Darin liegt alle Kraft, die Ihr brauchen werdet. Aber kommt jetzt, ich will Euch zeigen, daß die Hilfe meiner Brüder nicht nur aus weisen Ratschlägen besteht …« Er verließ die Turmkammer und winkte Dragon und Amee, ihm zu folgen. Sie schritten die steile Wendeltreppe hinab in einen der zahlreichen Höfe, die die Burg in ein weitauseinandergezogenes Gefüge von Gebäuden und freien Flächen auf-
37 teilten, die nicht nur die über hundert Männer, Frauen und Kinder der Bruderschaft beherbergten, sondern auch Platz boten für kleine Viehherden und dem Anbau von Getreide und Feldfrüchten. Die Menschen auf den Feldern winkten ihnen freundlich zu. Der Raum, in dem Romon sie führte, war tief in den Fels gehauen. Ein großer metallener Kasten, mehr als eine Manneslänge hoch und fast fünf Schritte breit, nahm den größten Teil des Platzes ein. Dicke metallene Stränge führten daraus hervor und mündeten in der Felswand dahinter. Der Kasten war glatt und fugenlos und mattschimmernd im Licht der Fackeln. Nur an einer Seite befand sich eine Öffnung wie das Maul eines Untiers. Daneben ragten fünf Hebel gleich den Fingern einer Hand aus der metallenen Haut. Darüber bemerkte Dragon fünf stumpfe, gläserne Augen und wiederum darüber, gläsernen Brauen gleich, gekrümmte Öffnungen, in denen er hinter Glas eine Einteilung von Strichen und seltsamen Zeichen gewahrte, die ihn in jenen Zustand versetzten, da er den Druck der Erinnerungen gleich einer über-
38 mächtigen Last fühlte. Hier war etwas aus der Vergangenheit. Es war fremd und einzigartig und unbegreiflich. Von allem, das er bisher bewußt wahrgenommen hatte, war es am ehesten mit dem Schrein vergleichbar, in dem er aufgewacht war. Er entsann sich, auch dort diese gläsernen Augen, die Schriftzeichen und Knöpfe und Hebel gesehen zu haben. Erinnerungen glitten durch seinen Geist wie Funken, aber zu rasch, als daß er sie zu fassen vermochte … Dragon schüttelte verwirrt den Kopf. Er sah, daß Amees Blick mit Spannung und Besorgnis auf ihm ruhte und versuchte zu lächeln. Aber es gelang nur halb. »Dieses Ding …«, sagte er benommen, während Romon sich an den Hebeln zu schaffen machte, »es weckt eine Flut von Erinnerungen in mir … so nah, daß ich glaube, danach greifen zu können.« Er ballte die Fäuste. Mit dem letzten der fünf Hebel, die Romon geschäftig umlegte, flammten die gläsernen Augen auf - tiefrot, und glühten ohne Flackern. Gleichzeitig erfüllte ein Summen den Raum,
Hugh Walker als hätte jemand ein Wespennest in Aufruhr versetzt … »Strom …«, brach es aus Dragon hervor. Romon sah ihn verständnislos an. »Weiter, Dragon …«, drängte Amee, die fühlte, daß die Tür einen winzigen Spalt aufgebrochen war, die ihn von seinen Erinnerungen ausschloß. »Dieses Summen … es muß Elektrizität sein …«, kam es zögernd von Dragons Lippen. Romon sah ihn groß an. »Ja, Dragon, wir kennen das Wort! Du bist auf dem richtigen Weg! Was bedeutet dieses Wort …?« Aber die Funken der Erinnerung waren bereits entflohen. Dragon schüttelte bedauernd den Kopf. »Tut mir leid, Romon. Einen Augenblick dachte ich, ich verstünde dieses … Ding, und warum es summt und leuchtet … aber der Augenblick war zu kurz für mehr als nur ein Wort.« Er schüttelte die Enttäuschung ab. »Ein magisches Wort: Elektrizität …! Was es wohl bedeuten mag?« »Eines Tages wirst du es wissen«, sagte Amee zuversichtlich. Dragon nickte. Eines Tages würde er es wissen. Amees Zu-
Kampf um die Felsenburg versicht war auch die seine. Aber jetzt war keine Zeit zu grübeln. »Was ist mit dem Kasten?« fragte Dragon. »Wäre ich nicht einer der Weisen und hätte ich nicht meine berechtigten Zweifel an den Dämonen und Hexenkünsten so würde ich sagen, es ist reine Magie!« erklärte Romon und lächelte schuldbewußt. »Das ist der Kasten-der-alles-kann …« »Alles?« meinte Dragon erstaunt, während Amee zweifelnd dreinblickte. »Nun, nicht wirklich alles«, berichtigte der Oberste Weise wenig aufschlußreich. »Aber genug, daß sich Könige darum schlagen würden. Wir verwenden ihn sehr selten, weil wir fürchten, daß seine Kraft erlöschen könnte …« »Was tut er?« fragte Dragon ungeduldig. »Er frißt Erde und Gestein aus dem Berginnern …« »Das ist alles?« fragte Amee enttäuscht. »Nicht ganz«, sagte Romon geheimnisvoll. »Was in seinem Bauch damit geschieht, das ist das Entscheidende. Faßt Euch in Geduld, Prinzessin. Wir müssen einen Augenblick warten … Ah,
39 jetzt …!« Das Summen aus dem Innern des Kastens wurde tiefer und glich bald mehr dem Brummen eines großen Bären. Es klang drohend, und Amee und Dragon wichen einen Schritt zurück. Dragon griff nach dem Schwert, obwohl er ahnte, daß es ihm wenig nützen würde gegen eine Gefahr, die aus dem Kasten kam. »Habt keine Furcht«, beruhigte sie Romon. Er trat ein wenig zur Seite, als ein Rascheln ertönte. Er schob einen der großen Steinkrüge unter der metallenen Kinnlade zurecht - keinen Augenblick zu früh … Ein gleißender Strom schoß aus dem Maul des Kastens und ergoß sich mit lautem Getöse in den Krug. Amee und Dragon blinzelten geblendet im zuckenden Widerschein der Fackeln. »Rasch! Helft mir!« keuchte Romon, der einen zweiten Krug heranrollte. Dragon sah, daß sich der erste rasch füllte. Er sprang hinzu, und es kostete ihn seine ganze Kraft, den vollen Krug zur Seite zu rollen, während Romon den zweiten unter den goldgelben Strahl schob. Einen Augenblick
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Hugh Walker
prasselte es wie ein Regenschauer auf den felsigen Boden und tanzte wie Hagelkörner. Und dann erkannte Dragon mit angehaltenem Atem, was es war, das aus der metallenen Kinnlade strömte: Gold! »Amee!« rief er. Er nahm eine Handvoll und hielt sie ihr entgegen. »Darin werden wir Cnossos begraben …!« Dann starrten sie atemlos, während der brummende Kasten mit einem steten Strahl tanzender Körner zehn der großen Krüge füllte. Als Romon schließlich die Hebel wieder umlegte, das Brummen zu einem Summen wurde und der Hagelschlag des Goldes verklang, waren sie halb taub und von einer glitzernden Schicht Goldstaub bedeckt.
* Gegen Abend kreisten die Becher, und fröhliche Stimmen erschollen aus den Privatgemächern Romons. Die zehn Weisen des Rates waren anwesend und saßen an der langen Tafel. Dragon und Amee genossen dieses kleine Abschiedsfest, das man ihnen zu Ehren gab.
Die zwanzig Männer, die Dragon, die Prinzessin und Fren auf dem Ritt nach Urgor begleiten sollten, waren ausgewählt. Für die Goldkrüge hatte man verstärkte Lastgestelle angefertigt, die den Pferden den Transport erleichtern sollten. Zwei weitere, kleinere Metallbehälter, deren Verschluß Dragon so kunstvoll erschien, wie er nur aus der alten Zeit stammen konnten, den er aber zum Erstaunen aller sofort zu öffnen vermochte, enthielten ein Pulver, das nach Aussagen der Weisen selbst starke Mauern zum Einsturz bringen konnte, und das sie »Donnerpulver« nannten, und eine übelriechende Flüssigkeit, die mit einer Fackel entzündet, ein unlöschbares Feuer ergeben würde. Götterfeuer nannten sie es, aber Dragon schien es mehr ein Höllenfeuer umso mehr, als es für einen Höllenfürsten bestimmt war. Vierhundert wagemutige Krieger, die für guten Sold selbst die Pforten der Hölle einrennen würden, ein Donnerpulver, das Mauern einriß und ein Götterfeuer, das Cnossos zu Asche schmoren würde … Und das Herz Amees! Was
Kampf um die Felsenburg konnte ein Mann noch vom Leben erwarten, der mehr als tausend Jahre geschlafen hatte? Ein Rausch von Wein und Macht ließ ihn einstimmen in die alten Lieder Urgors, die die Weisen sangen. Er hielt Amee fest im Arm und sah tausend Jahre Glück vor sich. Wahrlich - hatte das Goldene Zeitalter nicht bereits begonnen? Der Stein an seinem Amulett begann zu pulsieren und brachte Dragon aus den weinseligen Träumen in die Wirklichkeit zurück. »Dragon!« erklang es aus weiter Ferne. Mehr noch, Dragon schien der einzige, der es hörte, denn keiner kümmert sich um das Rufen. Nur Romon, der Dragon gegenübersaß, bemerkte das Leuchten des roten Steins an Dragons Brust und sah ihn fragend an. Auch Amee wurde aufmerksam. Hastige Schritte erklangen vor der Tür, und Fren stürmte herein. »Dragon! Ein Drache fliegt den Ah'rath an und brüllt sich die Seele aus dem Leib nach dir …!« »Das muß Hot-chi sein«, rief Amee erfreut.
41 »Rasch, Dragon«, rief Fren. »Du mußt ihm sagen, daß unser Turm ein schlechter - Landeplatz ist …! Und auch die Äcker der Paradiesäpfel … von den Ställen ganz zu schweigen …!« »Ja, rasch«, drängte auch Romon. »Den Schreck würden die Pferde nicht überleben …!« »Dragon!« kam die Stimme des Amuletts wieder. »Zweibeiner-Freund, ich komme!« Dragon versuchte die Nebel des Weins abzuschütteln. Er sprang auf und torkelte ein wenig. »Hot-chi, ich komme!« rief er laut, besann sich aber darauf, daß der Drache die Menschensprache nicht verstand, und begann mit Hilfe des Amuletts in der Drachensprache zu reden ein wenig leutselig, wie ihm selbst schien. Aber das war unter den gegebenen Umständen nicht zu ändern. Mit dem Kelch in der Hand lief er nach draußen; Amee besorgt hinter ihm her, gefolgt von Romon und Fren und ein paar anderen der Zecher, die mitbekommen hatten, daß draußen etwas Ungewöhnliches geschah. »Hot-chi, mein Teurer!« rief Dragon und suchte den dämmernden Himmel ab.
42 »Dort!« entfuhr es Romon, der den heranbrausenden Retter Amees entdeckt hatte. »Dragon, edler Zweibeiner!« kam sofort die Antwort und hallte wider in Dragons benebeltem Kopf. »Vorsicht! Der Turm!« rief Dragon und sprang in Deckung. Aber der erwartete Krach blieb aus. Statt dessen fegte ein Windstoß über die Beobachter, als Hot-chi über sie hinwegsegelte. Der würdige Romon, Oberster der Weisen, geriet plötzlich in Bewegung und lief schreiend auf ein Gebäude zu, hinter dem Hot-chi eben verschwand. »Nein! Nicht im Weingarten …!« »Hot-chi!« rief Dragon. »Ah, hier ist ein Platz zum Landen!« kam Hot-chis Stimme befriedigt. »Welch saftiges Laub zum Wälzen …!« »Nein, Hot-chi!« Dragon sah verzweifelt, daß Romon seinen Weingarten fast erreicht hatte. Wenn der Drache landete und ihn in dem schlechten Licht bemerkte, wurde Romon zerquetscht. »Nicht landen, Hotchi!« »Dragon, edler Freund. Mir ist übel wie beim Anblick eines Geiers. Ich muß landen …!«
Hugh Walker »Ein Stück noch!« bat Dragon inständig. »Will's versuchen!« Der mächtige Körper des jungen Drachen stieg noch einmal hoch, aber er schaffte das hohe Gebäude nicht mehr ganz. Sein schuppiger Schwanz streifte das Dach, und ein Regen von Holz und Schindeln ergoß sich auf Romon, der im Weingarten stand und das Wunder nicht fassen konnte. Dann bebte die Erde. Hot-chi war gelandet! »Dragon, er hat sich weh getan!« rief Amee erschreckt. Dragon lief bereits. Hinter sich hörte er das Getrappel weiterer Füße. Als er um das Gebäude herumkam, rülpste der Drache. »Puh! Ist mir schlecht!« »Aber die Landung hat geklappt, oder?« fragte Dragon. »Auf dem Bauch … Wenn das mein Vater erfährt … Du schweigst doch, Zweibeiner?« »Ich bin doch dein Freund, Kleiner …«, erwiderte Dragon. Der »Kleine« riß seinen Rachen auf. Er schnaubte. Ein Zischen ertönte. Das war alles. Er hechelte mit heraushängender Zunge. »Hot-cha!« brüllte er kläglich.
Kampf um die Felsenburg »Das wird deinem Vater auch nicht besonders gefallen, wenn du bei jeder Kleinigkeit nach deiner Mama rufst«, sagte Dragon tadelnd. »Er ist krank, der Kleine!« sagte Amee besorgt und ging mit Dragon zu ihm. Die Weisen hielten sich zurück. Zwar hatten sie bei Dragons und Amees Ankunft bereits gesehen, daß eine Freundschaft zwischen den Menschen und den Ungetümen bestand, aber so ganz trauten sie der Sache doch nicht. Nur Fren wagte sich zögernd näher. »Ihm ist schlecht«, erklärte Dragon. »Schlecht? Frag ihn, was er gefressen hat?« meinte Amee. Bevor Dragon etwas sagen konnte, stöhnte Hot-chi. »Oooooochch … ist mir schlecht … als hätte ich drei Geier im Bauch statt eines Adlers …« »Einen Adler?« fragte Dragon alarmiert. »Ich habe auf dem Weg einen Adler gerupft. Aber geschmeckt hat er wie ein Geier … und jetzt ist mir fürchterlich schlecht …« Es klang jammervoll. Aber Dragon war stocknüchtern. Er fühlte die Gefahr. Rasch blickte er sich nach Amee um.
43 Sie stand noch hinter ihm. »Geh zurück, Amee! Fren, du auch, und gib gut auf die Prinzessin acht …!« »Dragon«, stotterte der Junge, »hier stimmt etwas nicht …« »Da magst du recht haben«, erwiderte Dragon grimmig. Dann wandte er sich wieder an den Drachen. »Hast du den Adler gefressen, Hot-chi?« »Nur gekostet, Zweibeiner. Es schmeckte so eklig, daß ich den größten Teil wieder ausspie …« »Kannst du nicht erbrechen?« Der junge Drache krümmte sich. Er sperrte den Rachen weit auf fuchtelte wild mit der Zunge, aber außer einem neuerlichen Rülpsen kam nichts. »Es geht nicht«, stöhnte er. »Romon!« Dragon winkte dem Obersten Weisen, der zögernd näherkam. »Er hat ein Stück des Adlers verspeist, den deine Männer so erfolgreich in die Flucht geschlagen haben. Kannst du ihm helfen zu erbrechen?« Romon nickte nach einem Augenblick des Überlegens. »Wir haben Kräuter. Wenn du sie ihm eingibst …«
44 »Das will ich gern.« »Aber er muß sie mit einer Flüssigkeit zu sich nehmen«, erklärte der Weise. »Wir geben ihm einen Schluck Wein«, meinte Dragon. »Einen Schluck!,« entfuhr es Romon. »Ihr Götter, der braucht ein ganzes Faß …!« »So mischt ihn mit Wasser. Aber heute zu dieser Vorfeier unseres Sieges soll keiner Wasser allein trinken! Der Kleine ist mein Gast!« Kopfschüttelnd machte sich Romon auf den Weg, um das Gewünschte herbeizuschaffen. Einige Männer begleiteten ihn. »Dragon!« jammerte Hot-chi. »Gedulde dich einen Augenblick«, redete Dragon ihm zu. »Die Zweibeiner hier wissen, wie sie dir helfen können. Sie brauen ein Getränk, das dir helfen wird.« »Es ist, als risse mir jemand den Bauch auf!« klagte der Drache. Dragon nickte. Wenn seine Vermutung richtig war, und sich wirklich ein Stück von Cnossos im Magen des Drachen befand, mochte es schon sein, daß dieser sich gewaltsam einen Weg ins Freie bahnte. Er atmete auf, als er Romon und einige Weise
Hugh Walker mit einem großen Kessel anmarschieren sah. Sie stellten den Kessel vor den ächzenden Drachen. »Trink!« befahl Dragon. Hot-chi erhob sich mühsam, hing seinen Rachen in den Kessel, daß die Flüssigkeit überschwappte und begann schlürfend das heilende Getränk einzunehmen. Bald jedoch wurde das Schlürfen heftiger, abgelöst von weithin schallendem Geschmatze. »Hmmmmm … schmackhaft in der Tat«, hörte Dragon den Kleinen murmeln. »Was ist das. Zweibeiner-Freund?« »Wein«, erklärte Dragon. »Ein Faß vom besten«, klagte Romon halblaut hinter ihm. »Wie das?« fragte Dragon. »Wir haben nur mehr vom besten«, meinte einer der Weisen neben Romon grinsend. Als der Kessel leer war, rappelte der Drache sich hoch, sank aber gleich wieder stöhnend zusammen. »Du mußt erbrechen«, erinnerte ihn Dragon. »Aaaaarrrrggg …!« setzte Hot-chi an - aber alles, was kam, war ein gewaltiger Rülpser. »Es geht nicht …!« röhrte er.
Kampf um die Felsenburg »Denk an etwas Scheußliches«, legte ihm Dragon nahe. »An was?« gurgelte Hot-chi. »Versuch es mit dem Hinterteil eines Geiers …« Das schien Wunder bei dem geierfeindlichen Kerl zu wirken, denn im nächsten Augenblick ergoß sich ein Schwall eines übelriechenden Gemisches von Wein und halbverdauten Mahlzeiten aus dem Rachen, vor dem die Zuschauer zur Seite flüchteten. »Eine Fackel!« schrie Dragon. Irgend jemand drückte ihm eine in die Hand, und Dragon watete in das Erbrochene. Er stolperte über eine noch deutlich erkennbare halbe Gemse, stocherte mit dem Schwert an ein paar bereits ziemlich verdauten Kaninchen herum, und vermeinte schon, sich geirrt zu haben, als ein armdicker Wurm sich durch das Gras zu schlängeln begann. Als er mit dem Schwert danach stach, zerfiel der Wurm in Ratten, die in alle Richtungen davonstoben. Dragon versuchte vergeblich, mit der Fackel danach zu stoßen, die Tiere waren zu rasch. »Das war Cnossos' Späher!« rief Romon, der die Verwandlung aus nächster Nähe gesehen
45 hatte. »Tut mir leid, er war zu flink«, sagte Dragon entschuldigend. »Dein Schwert hätte kaum etwas gegen ihn vermocht, mein Sohn. Aber Dilorn und seine Gefährten werden leicht damit fertig. Holt mir Dilorn!« Ein lautes Hick! erklang von Hot-chi und löste eine Welle von Gelächter aus. »Besser?« fragte Dragon. »Viel besser.« Hick! Seine »Stimme« klang schläfrig. »Ihr habt seltsame Heiltränke, ihr Zweibeiner … Wenn das Hotch wüßte …« Er ließ es dahingestellt, in welcher Beziehung er das meinte. Dragon merkte, daß der Kleine eingeschlafen war. Er legte den Finger an die Lippen, aber diese zur Ruhe gemahnende Geste war überflüssig. Die einzigen, die in dieser Nacht auf dem Ah'rath schliefen, waren Hot-chi und Dragon. Alle anderen taten kaum ein Auge zu. Das Schnarchen des jungen Drachen klang, als würde jemand den Berg an der Wurzel ansägen.
*
46 Kurz vor Mitternacht sprach Hot-chi zu Dragon. Er wachte auf durch das pulsierende Amulett. Langsam sickerte die Stimme in seinen erwachenden Geist. Die »Stimme« des Drachen klang trunken. »Dragon, unschuppiger und trotzdem ansehnlicher Zweibeiner … Wir sollten diesen Geier rupfen!« Hot-chi kicherte. Und es war das erstemal, daß Dragon einen Drachen kichern hörte. Es klang irr. Und war zudem ansteckend. Er ertappte sich dabei, wie er selber laut kicherte. »Hot-chi!« rief er in der für Menschen unhörbaren Sprache der Drachen. Aber der »Kleine« hörte ihn nicht. Er hatte wohl nur geträumt. Plötzlich öffnete sich die Tür. Eine Fackel badete das Gemach in Licht. Ein Gesicht erschien dahinter: Romons verwirrtes Gesicht. »Dragon, was ist?« flüsterte er. »Stimmt etwas nicht? Wir hörten Geräusche …« Der ganze Türrahmen füllte sich mit Weisengesichtern, zum Teil höchst unwürdig von den Kapuzen ihrer Nachtgewänder verdeckt - ein Anblick, der ihm den letzten Rest von Beherrschung raubte. Dragon platzte laut heraus. Er
Hugh Walker wälzte sich vor Lachen. Und schlief ein.. Als er wieder erwachte, diesmal durch Fren, der in sein Gemach kam und ihn weckte, war der erste Hauch der Morgendämmerung am östlichen Himmel. Er fühlte sich frisch, und die Erinnerung an seltsame Träume schwand rasch. »Wach auf, Dragon.« »Fren?« »Ja, Dragon. Du mußt mitkommen. Es sieht aus, als bekämen wir noch mehr Drachenbesuch …!« »Schläft Hot-chi noch?« Es war eine überflüssige Frage. Das Schnarchen war deutlich zu hören. Fren sah übernächtigt aus. »Wie viele?« »Zwei«, berichtete Fren. »Rasch. Sie kommen ziemlich hastig näher …« Dragon nickte. Er ahnte, wer die Ankömmlinge waren. Hotch und Hot-cha, die Eltern des Kleinen. Vermutlich war er ausgerissen. Seit seinem Kampf mit Cnossos fühlte er sich schon als harter Bursche. Na, das gestrige Erlebnis würde seine Selbsteinschätzung wieder ein wenig dämpfen. Er warf seinen Umhang über die Schultern und folgte Fren fröstelnd zum Beob-
Kampf um die Felsenburg achtungsturm. Noch auf dem Weg begann er in der Drachensprache zu rufen. Sein Amulett, oder das dritte Auge, wie es die Drachen nannten, begann wieder zu leuchten. »Hotch! Hot-cha!« »Zweibeiner!« kam es donnernd zurück. »Wo ist mein Sohn!« Jetzt erst entdeckte sie Dragon im Nordosten gegen den spärlich erhellten Himmel. Hastig sagte er: »Hot-chi ist hier und wohlauf. Du kannst sein Schnarchen hören!« Einen Augenblick war Stille, dann kam dröhnend die Antwort. »Wahrhaftig!« Es klang friedlich, und Dragon atmete auf. »Gibt es einen Platz, wo wir unsere müden Schwingen falten können, ZweibeinerFreund?« »Ein freies Stück Wiese werdet ihr sicher finden. Aber seid leise …« Es war Dragon fast, als schüttelte Hotch den Schädel. »Die Zeiten haben sich geändert, Cha, meine Schöngeschuppte, seit dieser Zweibeiner mit dem dritten Auge die Erde tritt. Früher erzitterten sie, wenn einer von uns erschien. Jetzt bitten sie uns, daß wir sie nicht im Schlaf
47 stören! Wahrscheinlich wird er uns sogar wieder bitten, ihn mitzunehmen …!« »Stimmt!« rief Dragon. »Ihr kommt wie gerufen!« Dragon beobachtete die Landung. Der Windstoß trieb die Weisen aus den Häusern. Dragon grinste. An diesen seinen Besuch würden sie sich noch lange erinnern. Er wandte sich an Fren. »Sage den Männern, die Romon für die Karawane ausgewählt hat, daß es keiner Karawane mehr bedarf …« Fren sah ihn groß an. »Du fliegst wieder mit den Drachen?« Dragon nickte. Der Junge senkte enttäuscht das Gesicht. »Du kommst natürlich mit, wenn Romon es gestattet. Ich glaube nicht, daß Hot-chi etwas einzuwenden hat …« Er grinste über die Begeisterung des Jungen. »Du meinst, Hot-chi wird mich wirklich …?« »Ich werde mit ihm reden«, versprach Dragon. Dann galt ihre Aufmerksamkeit der Landung der beiden riesigen Tiere, die eine Menge Staub aufwirbeln und den Roden erzittern ließ.
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6. Als Ubali aus Thorinas Schenke trat, stand er einen Augenblick schwankend auf der mondhellen Straße und versuchte die wogenden Nebel zu durchdringen, die der »Hünentrunk« oder wie sie das Zeug nannten, in seinem Kopf in Bewegung hielt. Verdammtes Zeug! Erst brannte es wie Feuer in der Kehle, dann war es wie heißes Blei im Leib. Er schüttelte sich und setzte seine massige, schwarze Gestalt in Bewegung. Es war zu früh, um schon in den Palast zurückzukehren. In den meisten der Häuser brannten noch Fackeln und Ölfunzeln, und die Stadt war hell wie ein Kriegerlager in Shi-but. Diese hellhäutigen UrgorBewohner waren schon ein komisches Völkchen vergruben sich in diesen Mauern, als ob sie einen Schutz gegen die Götter gewähren könnten. Und die Weiber blühten sorgsam und gehegt im verborgenen. Wenn nicht gerade ein Fest war, das die ganze Stadt in einen Taumel stürzte, verschwanden die Mädchen vor Einbruch der Dunkel-
heit von den Straßen und Plätzen. Nur in Thorinas Schenke und ein paar anderen konnte man bis zum frühen Morgen eine der willigen Hetären kaufen, oder auch zwei - das kam auf den Münzbeutel an. Aber heute fühlte er sich nicht mehr kräftig genug. In Mlmau, seinem Heimatdorf, würde er jetzt in den Fluß springen, um in der kühlen Flut diese Nebel aus seinem Kopf zu waschen. Aber hier? Hier konnte er nur in eines jener Bäder gehen, in denen sie Wasser über heiße Steine gossen und im Dampf badeten. Er schüttelte sich, als er an sein erstes Erlebnis in dieser Richtung dachte … Er sehnte sich nach der Freiheit von Zainus Lager. Er war kein Pflastertreter, wie er die Bewohner Urgors insgeheim nannte. Er zog den weichen Boden der Wildnis vor. Aber ohne einen Herrn war er ein Geschöpf ohne Ziel. An Dragons Seite war sein Platz. Doch Dragon würde erst in ein paar Tagen vom Ah'rath zurück sein. Bis dahin stand er auf seinen eigenen Beinen in einer fremden Stadt, unter Menschen einer anderen Hautfarbe, ein Riese unter
Kampf um die Felsenburg ihnen - aber so wie er sie an Körpergröße überragte, türmten sich hoch über ihn ihre Gebräuche, die er nicht kannte. Die Menschen blieben ihm fremd. Nur in den Gebräuchen der Liebe stellte er keinen großen Unterschied fest. Iwa und Nabib berichteten ihm vieles, das ihm in diesen Tagen in Urgor sehr nützlich war. Meist ging er Partho zur Hand. Die Ausbildung der Krieger für den kommenden Angriff auf die Felsenburg des Gottes der vielen Namen war etwas, das Urgor in Atem hielt. Ein Gefühl von Sicherheit zog ein und trieb Schaulustige weit vor die Stadttore, selbst Frauen und Kinder - wie es schon seit vielen Jahren nicht mehr geschehen war. Diese Kampfspiele der Krieger waren etwas lang Entbehrtes, das nach der langen Dürre, der Pest und der ständigen Drohung durch die Diener des Gottes der vielen Namen, den Muskel der Stadt wieder stärkte. Eine gepeinigte Stadt begann aufzuatmen, und seit Tagen war das Hämmern und Klingen in den Schmieden nicht mehr verhallt. Als Ubali die Straße erreich-
49 te, die zum Westtor führte, hatte die kühle Abendluft bereits einen Großteil der Schleier vor seinen Augen verweht. »Hünentrunk«, murmelte er. »Heißt wohl so, weil er auch einen Hünen umwirft. « Dann starrte er erstaunt auf eine Gruppe von fünf Reitern, die vom Tor her kamen. Sie waren in schwarze Umhänge gehüllt und hatten auch die Gesichter tief verhüllt, was Ubali seltsam erschien, denn es war eine außergewöhnlich laue Nacht. Auch fiel ihm auf, daß vier von ihnen sehr groß waren - zu groß, als daß sie aus der Gegend Urgors stammen konnten. Ihr Wuchs glich mehr dem Ubalis und der Stämme in Shi-but und südlicheren Ländern. Nur ihr Anführer war kleiner. Er schien sich auch in der Stadt auszukennen, denn er führte seine Begleiter zielbewußt in eine der engen Seitengassen. Ubali folgte ihnen in einiger Entfernung. Die Kerle schienen ihm nicht geheuer. Wer nachts vermummt durch die Straßen schlich, hatte etwas zu verbergen. Und wer in Urgor etwas zu verbergen hatte, war interessant für Partho, der die Überzeugung
50 hegte, daß die Macht des Gottes der vielen Namen in Urgor noch nicht gebrochen war, auch wenn es nach außen hin den Anschein hatte. Es konnte nicht schaden, wenn er die Augen offenhielt soweit das mit dem Hunentrunk möglich war. Er spähte vorsichtig in die Gassenmundung. Es war eine der dunkleren Gassen Urgors. Vor Porax' Schmiede brannten noch die Fackeln, und Klirren von Hammer und Amboß klang heraus. Das Gebäude dahinter mit den glatten Marmorsäulen und dem achteckigen Spitzdach war Yesurs Tempel, eines der ältesten Häuser Urgors und eines der verlassensten. Es war nicht der erste Tempel des uralten Gottes Yesur, den Ubali gesehen hatte In den Küstenstädten im Westen sah man sie häufiger, alle mehr oder minder verfallen. Niemand huldigte Yesur mehr in diesen Tagen. Es gab keine Priester, die von ihm kündeten. Und ein Gott ohne Priester ist wie ein Baum ohne Wurzel. Er fällt und verdorrt, und seine Weisheit wird vergessen wie seine Macht. Ganz hinten, am Ende der Häuserreihe stand Iwas Haus. Dort brannte noch Licht, das be-
Hugh Walker deutete, daß sie noch Kundschaft hatte. Iwas Kunden kamen spät und verstohlen, und wenn es auch nicht Gift war, das sie kauften (wie gehässige Zungen behaupteten), sondern Liebestränke und allerlei Salben und Säfte, die verschönerten und verjüngten, so zogen sie doch vor, diese heiklen Geschäfte ungesehen zu erledigen. Ubali sah, daß die Reiter die Schmiede passierten und direkt auf Iwas Haus zuritten. Er schüttelte verwundert den Kopf. Seltsame Kundschaft! Er hatte keine Waffen an den Reitern bemerkt, aber sie mochten unter den weiten Umhängen stecken. Vorsicht konnte nicht schaden. Er huschte am verräterischen Fackelschein der Schmiede vorbei und schmiegte sich abwartend in den Schatten der Säulen von Yesurs Tempel, die Hand am Griff des Dolches in seinem Gürtel. Es fiel kaum Mondlicht in die schmale Gasse, und er hatte Mühe, die schwarzen Gestalten in der Finsternis auszumachen. Der Anführer und zwei seiner Begleiter stiegen ab. Die beiden anderen nahmen die Zügel der Pferde. Ubali beobachtete verwun-
Kampf um die Felsenburg dert, wie die drei vor Iwas Tür anhielten. Der Anführer lauschte mit dem Ohr an die Tür gepreßt. Und dann sah er in der Hand des Lauschenden Metall blitzen in dem spärlichen Licht, das von der Schmiede kam. Ubali zuckte zusammen. Seine Verwunderung schwand und machte einer Gewißheit Platz: Die Vermummten hatten ein Verbrechen vor. Iwa befand sich in Gefahr! Oder galt es ihrem späten Besuch? Was tun? Sie waren fünf. Jeder von den vier Begleitern mochte leicht Ubalis Kräfte besitzen. Selbst wenn die Überraschung ihm half, zwei zu erledigen, bevor die anderen eingreifen konnten, standen die Chancen noch schlecht. Mit einem Dolch allein war nicht viel auszurichten. Ubali zögerte. Der Anführer sprang plötzlich zur Seite und winkte seinen Begleitern, die ebenfalls in die Dunkelheit der Hausmauern glitten. Ubali verließ den Schutz Her Säulen und huschte lautlos auf Iwas Haus zu, hielt aber überrascht an, als sich die Eingangstür öffnete und eine dickliche Gestalt lachend ins Freie trat. Einen Augenblick sah Uba-
51 li das Gesicht im Schein des Lichtes, das aus dem Raum fiel. Er grinste unwillkürlich. Der späte Besucher war Nabib, der Händler, und ihn trieben nicht geschäftliche Dinge in Iwas Haus. Nabib schien die Gestalten rechts und links der Tür nicht zu bemerken. Seine Augen waren noch voll vom Licht. Noch immer lachend kam er an den Pferden vorbei, streifte die beiden Reiter mit einem Blick, ging ein paar Schritte, schaute zurück auf die höchst eigenartige Gruppe von zwei Reitern und drei leeren Pferden, schüttelte verwundert den Kopf, hielt nach ein paar weiteren Schritten an, als ihm zu dämmern schien, daß sie direkt vor Iwas Haus standen und warteten. Als er sich anschickte, umzukehren, glitt Ubali auf ihn zu, faßte ihn mit raschem Griff, wirbelte ihn herum und preßte die Linke mit der Kraft einer Zange um seinen Mund, bevor er einen Laut ausstoßen konnte und verschwand mit ihm im Dunkel des Tempels. Hatte man ihn gesehen? Ubali stand atemlos. Die Männer vor Iwas Haus verhielten in Reglosigkeit. Sie wollten si-
52 chergehen, daß Nabib weit genug war. Ubali drehte den Händler herum und brachte sein Gesicht ganz nah vor seines. »Still!« flüsterte er. »Erkennst du mich?« Nabib nickte heftig und gab seine Gegenwehr auf. »Ubali«, stieß er hervor, als der Schwarze vorsichtig seinen Mund freigab. »Der Schreck in der Abendstunde, wahrhaftig. Ihr habt seltsame Bräuche in Shi-but …« »Schhhhh!« Ubali drückte die Hand wieder auf seinen Mund. »Kennst du den Weg durch Yesurs Tempel?« Nabib nickte, und Ubali gab ihn frei. »Hinter dem großen Kreuz ist der Ausgang in die Straße der Bettler. Von dort ist es nicht weit zum Palast. Bring Partho und Soldaten zu Iwas Haus! Rasch!« Er schob den verblüfften Händler in das Tempelinnere. »Rasch, wenn dir an Iwa etwas liegt …« Erleichtert hörte er Nabibs rasche Schritte, die im Tempel verhallten. Ein anderes Geräusch richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Iwas Haus. Der Anführer pochte an der Tür. Ubali huschte über die Gasse. Die Tür öffnete sich. Iwa wich
Hugh Walker erschrocken vor dem Anführer zurück, der mit den beiden Begleitern ins Innere stürmte. Die Tür fiel zu, bevor Ubali sie erreichte. Die beiden Reiter sahen ihn erst, als er bereits den Eingang erreicht hatte. Ein Aufschrei erklang drinnen. Das war nicht Iwa. Ubali versuchte verzweifelt, die Tür zu öffnen, aber sie war von innen verriegelt worden. Fluchend warf er sich dagegen und rief mit lauter Stimme: »Diebe! Mörder!«, daß es die halbe Stadt hören mußte. Der Rückzug würde den Schurken schwerfallen. Iwas Stimme schrie etwas, daß er nicht verstand. Im nächsten Augenblick hatte er keine Zeit mehr, sich um die Umgebung zu kümmern. Ein scharfes Kommando ertönte. Die beiden Reiter glitten von ihren Pferden und kamen auf ihn zu. Ubali wartete nicht. Er sprang auf den ersten los, als dieser die Hand aus dem Umhang riß und einen Dolch zum tödlichen Stoß hob. Er bekam den Dolcharm zu fassen und unterlief ihn mit vollem Schwung. Ein Knirschen ertönte, als sich der Arm aus der Schulter drehte, aber der Mann gab keinen Schmerzenslaut von sich. Der zweite war heran, und Ubali
Kampf um die Felsenburg hatte Mühe, seinem Messer auszuweichen. Aber noch in der Bewegung des Ausweichens stieß er selbst zu und spürte, wie sein Dolch eindrang und zwischen die Rippen glitt. Mit einem befriedigten Knurren riß er seinen Arm zurück. Entsetzt bemerkte er, daß sein Gegner sich scheinbar unverletzt erneut auf ihn warf. Das Entsetzen lähmte für einen Moment. Er merkte zu spät, daß sein zweiter Gegner in seinen Rücken gelangte. Wohl vermochte er das herabstoßende Messer abzufangen. Aber in dem Augenblick legte der zweite, der eigentlich längst hätte tot sein sollen, die Arme um Ubalis Oberkörper und hielt ihn mit solch gewaltigem Griff, daß Ubali vermeinte, alle Knochen würden ihm im Leib zerbrochen. Halb betäubt vernahm er Tumult hinter sich und den spitzen Schrei eines Mädchens, der unvermittelt abbrach. Dann Hufgetrappel. Dann sah er mit hilflos an den Leib gepreßten Armen, wie sein zweiter Gegner mit dem Dolch auf ihn eindrang. Er schüttelte sich wild, vermochte aber den unbarmherzigen Griff der Arme nicht zu lösen. Eine unirdische Kälte
53 fühlte er in seinen Körper strömen, wo der andere ihn hielt, wie sie nur die »Lebenden Toten« besaßen, von denen die Legenden seiner Heimat berichteten, die Zom-bys. Bevor der tödliche Stoß kam, sah Ubali das Gesicht seines Gegners. Entsetzt bemerkte er das bleiche, blutlose Gesicht, die schwarzen, toten Augen … und wußte, daß er keinen menschlichen Gegner vor sich hatte. Er fürchtete den Tod nicht, aber nun jagte Angst durch seine abergläubische Seele, denn der Glaube seiner Väter und seines Stammes sagte ihm, daß die Menschen zu Zom-bys wurden, wenn Dämonen sie befielen, und für alle Ewigkeiten die Halbwelt der »Lebenden Toten« beschreiten mußten. Der tödliche Stoß blieb aus. Eine Gestalt tauchte hinter dem Dämon auf. Ein mattes Schimmern von Metall kam herab auf seinen verhüllten Schädel und zerschmetterte ihn. Während der Dämon fiel, sah Ubali den Schmied vor sich stehen, den mächtigen Hammer halb zum zweiten Hieb erhoben. Ubali, der wußte, daß er den Griff um seine Brust nicht lösen konnte, ließ sich nach vorn fal-
54 len, um seinem Helfer ein gutes Ziel zu geben. Er schlug hart auf und fühlte seine Sinne schwinden. Es war ihm, als vernähme er einen dumpfen Schlag. Gleich darauf lockerte sich der Griff. Er bewegte mühsam seine Arme und vermochte die Hände an seiner Brust zu erreichen. Unter Aufbietung der letzten Kraft löste er die ineinander verklammerten Finger, die kalt waren wie die eines Toten. Er kam frei und rollte heftig atmend zur Seite. Hilfreiche Hände halfen ihm auf die Beine. Die Stimme des Schmieds dröhnte in seinen Ohren, während er taumelnd dastand. »Bist du nicht einer von Dragons Männern?« Ubali nickte. »Wußt ich's doch! War ein guter Kampf!« Er klopfte dem schwarzen Riesen auf die Schulter. »Hättest mich früher holen sollen, dann wären uns die anderen nicht entwischt …« Die anderen! Mit einem Schlag fiel die Benommenheit von ihm ab. Er stürmte auf Iwas Haus zu. Die Tür war offen. Drinnen lagen ein paar Stühle auf dem Boden, als hätte ein Kampf stattgefunden. Dann ent-
Hugh Walker deckte er Iwa, ebenfalls am Boden. Aus einer klaffenden Wunde am Kopf sickerte Blut. Rasch drehte er sie herum, horchte an ihrem Körper und fühlte nach ihrem Herzen. Sie lebte noch. Aufatmend erhob er sich und legte die Frau auf das Lager aus Fellen im Nebenraum. Verwundert sah er sich um. Was hatten die Kerle gesucht? Irgend etwas, das Iwa verkaufte? Wo blieb Partho so lange? Ubali fühlte sich unbehaglich. Er war nicht gewohnt, eigenmächtig zu handeln. Er war gewohnt zu gehorchen; Zainus selbstsüchtigen Befehlen früher ebenso wie nun Dragons besonnenen Anordnungen. Daß Dragon ihn mehr wie einen Gefährten behandelte, hob sein Selbstbewußtsein gewaltig - aber Jahre der Sklaverei ließen sich nicht einfach abschütteln. Die Unsicherheit des freien Lebens versetzte ihn oftmals mehr in Schrecken, als es ein gefährlicher Feind konnte. Aber die Tatsache, daß es in Urgor nur wenige Sklaven gab, ließ ihn sich freier fühlen. Freier noch als in Zainus Lager, nun, da sein Herr nicht in der Stadt weilte. Ein plötzlicher Tumult vor dem Haus ließ ihn aufhorchen.
Kampf um die Felsenburg Er trat ins Freie und erkannte aufatmend Partho, der mit einer Abteilung der Palastgarde von den Pferden stieg. Viele Schaulustige hatten sich inzwischen eingefunden und lauschten dem Bericht des Schmieds. Einige hatten sich über die beiden Toten gebeugt. Ubali eilte Partho entgegen, als einer einen Schreckensruf ausstieß. Die Männer sprangen von den Toten zurück, als wären sie giftige Schlangen. Partho zog sein Schwert und trat verwundert näher. »Eine Fackel!« Einer der Umstehenden hielt eine Fackel nahe an die reglosen Körper. Entsetzensrufe kamen von den vorderen der Menge. Partho wurde bleich. Unter den schwarzen Kapuzen grinsten ihn tote Schädel an, deren Fleisch nur noch stellenweise an den Knochen hing. Ein Geruch von Fäulnis breitete sich aus, wie ihn die Bewohner Urgors noch zu gut aus der Zeit der Seuche in Erinnerung hatten. Die Menschen wichen zurück, von Furcht erfüllt. Nur der Schmied behauptete seinen Platz, auf den schweren, langstieligen Hammer gestützt. Und die Soldaten standen abwartend.
55 »Ubali!« rief Partho. »Wo ist Ubali?« »Hier, Herr!« erwiderte Ubali, der etwas abseits stand und den Blick nicht von den beiden Leichen wenden konnte. »Wer sind … wer waren diese Männer?« »Ich weiß nicht, Herr!« Er riß sich von dem Anblick los. »Sie waren fünf, und sie sahen aus wie Kerle, die nichts Gutes im Sinn hätten, so folgte ich ihnen. Als sie vor Iwas Haus anhielten …« »Fünf, sagst du?« sagte Partho scharf. »Ja, fünf, Hauptmann …« »Wo sind die anderen drei …?« »Fortgeritten, Hauptmann«, erklärte der Schmied. »Ist ihnen wohl zu mulmig geworden, als ich mit meinem Hammer ankam, um dem Schwarzen Luft zu verschaffen …« Ubali grinste und entblößte seine weißen Zähne. Wahrhaftig, »Luft verschaffen« waren die rechten Worte. »Mit vier Pferden?« rief Partho. Tatsächlich stand nur noch eines auf der Straße. Der Schmied zuckte die Achseln. »Hab's nicht gesehen, nur gehört. War keine Zeit …« Partho ließ ihn nicht ausreden. Er stürmte in das Haus. Ubali und der Schmied folgten
56 ihm. Iwa lag noch immer ohne Bewußtsein. Nabib, der Händler, saß bei ihr und tupfte ihr mit einem nassen Tuch das Blut aus dem Gesicht. Als die drei eintraten, meinte er: »Die alte Hexe hat ihre Schutzgeister. An der hat sich schon mancher Vampir die Zähne ausgebissen!« Aber man hörte deutlich die Erleichterung aus der Stimme. »Vampir?« fragte Partho. »Nur so eine Redensart, mein lieber Hauptmann. Was ist geschehen, Ubali? Was haben die Schurken gewollt?« Während Ubali in kurzen Worten berichtete, sah sich Partho in den Räumen um. Er begab sich auch in das Obergeschoß. Als er mit polternden Schritten zurückkam, regte sich Iwa und stöhnte leise. »Wo ist Agrion?« fragte Partho. »Wahrscheinlich oben«, meinte Nabib. Partho schüttelte den Kopf. »Oben ist niemand …« Der Händler sah entsetzt hoch. »Aber sie war hier, als ich ging …« »Sie haben sie mitgenommen«, knirschte Partho. Mit einer heftigen Bewegung schob er
Hugh Walker sein Schwert in die Hülle. Ubalis Augen wurden weit. Das braunhäutige Sklavenmädchen hatten sie mitgenommen. Ihr Schrei war es gewesen, den er gehört hatte … »Wir müssen hinterher!« knurrte Partho. »Agrion in den Händen dieser … Teufel …!« Er ballte die Fäuste. »Ich komme mit. Herr«, sagte Ubali. »Ich auch, wenn es dir recht ist, Hauptmann«, meinte der Schmied. »Mich interessieren Kerle, die gleich verfaulen, wenn man mal ordentlich zuhaut …« Partho schüttelte den Kopf. »Zu gefährlich. Wir können keinen Schmied entbehren. Die königliche Rüstkammer ist leer, und viele meiner Männer haben noch keine Waffen …« »Meine Gehilfen kommen ein oder zwei Tage ohne mich zurecht. Deine Männer können so lange warten. Sie müssen auf dich ebenso warten …« »Nimm ihn mit. Herr«, sagte Ubali. »Sein Hammer mag uns nützen. Ich stieß einem das Messer ins Herz. Er spürte es gar nicht …« Die Erinnerung ließ ihn schaudern. »Sie sind Zom-bys. In meiner Heimat
Kampf um die Felsenburg heißt es, man muß ihnen die Köpfe abschneiden, um ihr Nichtleben zu beenden. Aber der Hammer des Schmiedes scheint mir auch eine brauchbare Waffe …« »Also gut«, stimmte Partho zu. »Wie heißt du?« »Cheiros. Hauptmann.« Der Schmied grinste. In seinem rauchgeschwärzten Gesicht leuchtete das Weiß semer Augen. »Kannst du reiten?« »Sicher, Hauptmann.« »Dann geh und sag deinen Gehilfen Bescheid. Du kannst das Pferd des Toten nehmen. Aber eil dich!« Während Cheiros in seine Schmiede verschwand, wählte Partho drei Bogenschützen aus der Garde, die ihn begleiten sollten. Einen Boten schickte er zu Damos, um ihn von den Vorfällen zu unterrichten und auch davon, daß seine Abwesenheit nur von kurzer Dauer sein wurde. Das hoffte er wenigstens. Aber er wußte, daß er entschlossen war, die Flüchtigen nicht entkommen zu lassen, wie weit sie auch immer flohen. Zombys, hatte Ubali gesagt! Er zweifelte nicht an Ubalis Worten, im Gegenteil, er schätzte
57 dessen barbarische Instinkte. Der Gedanke an Agrion in ihren fauligen Händen ließ ihn in stummer Wut die Fäuste ballen. Barscher als beabsichtigt befahl er den restlichen Männern, die Leichen fortzuschaffen und zu verbrennen. Einen seiner Soldaten hieß er absitzen, da er ein Pferd für Ubali brauchte. So schien alles geregelt, nur der Schmied ließ noch auf sich warten. Ungeduldig stürmte Partho in den Raum. »Ubali, fertig?« »Ja. Herr.« Nabib winkte Partho. »Warte noch. Iwa erwacht jeden Augenblick. Vielleicht weiß sie etwas …« »Was sollte sie wissen …?« begann Partho, hielt aber inne, als er sah, daß sich die Frau tatsächlich regte und mit einer fahrigen Bewegung ihrer Hand nach dem Kopf griff. Ein Stöhnen folgte der Berührung. Iwa schlug die Augen auf. Es wahrte einen Moment, bevor sie zu erkennen schien, was um sie vorging. Der Schmied erschien in der Tür. »Fertig. Hauptmann. Nun wollen wir …!« Aber Partho winkte ihm zu schweigen. Dann schien Iwa sich zu erin-
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Hugh Walker
nern. Ein Ausdruck des Entsetzens verzerrte ihre Züge. »Ihr müßt sie retten«, sagte sie mühsam und lehnte sich halb auf. Nabib versuchte sie zu beruhigen, aber sie schüttelte seine Arme ab. »Ihr müßt sie zurückholen, sonst wird ihr Schreckliches geschehen …!« Partho nickte. »Das wollen wir. Iwa. »Hast du einen der Schurken erkannt?« Sie sank erleichtert zurück. »Und ob ich einen erkannt habe. Urak, einer der Dunklen Wächter. Er war es auch, der mich niedergeschlagen hat …« Sie sank erschöpft zurück. »Urak«, knirschte Partho. »Er ist uns schon einmal entwischt. Aber diesmal werde ich ihn fassen. So wahr mir die Götter helfen, es war seine letzte Schandtat. Und es wird auch nicht schwer sein, ihn zu finden. Sicher steckt Cnossos dahinter. Das bedeutet, daß er die Beute zur Burg in die Berge bringt. Aber er wird nicht so weit kommen. Ubali! Cheiros! Auf die Pferde. Sie können noch nicht weit sein …!«
* Mit dem Ziel vor Augen war
es ein leichtes, auf der Spur zu bleiben. Sie ritten die ganze Nacht und gönnten den Pferden nur kurze Verschnaufpausen. Am Morgen waren sie bereits tief in den Bergen. Der Boden war steinig, und Partho fürchtete schon, von der Spur abgekommen zu sein. Aber alle Anzeichen hatten die ganze Zeit über darauf hingewiesen, daß die Flüchtigen zur Felsenburg wollten. Es genügte also wenn er die Richtung hielt. Früher oder später mußte er wieder auf die Spur stoßen. Groß konnte ihr Vorsprung nicht sein. Eine Stunde vielleicht, wenn sie nicht gerastet hatten. Zom-bys, so hatte er inzwischen von Ubali erfahren, brauchten keine Rast und keinen Schlaf. Ihr Körper lebte nicht, er wurde nur von einer dämonischen Kraft getrieben: und Partho ahnte, welche Kraft Uraks Schergen weitertrieb und Urak selbst wohl auch: Cnossos' Wenn Parthos Männer Müdigkeit fühlten, so ließen sie es nicht merken. Als Soldaten waren sie Gewaltritte gewöhnt. Es war nicht mehr als ein kleiner Vorgeschmack auf den Sturm auf das Nest des Gottes der vielen Namen, der bevorstand, wenn Dragon und Amee
Kampf um die Felsenburg vom Berg der Weisen zurückkehrten. Ubali genoß den Ritt. Endlich war er wieder in der Wildnis. Endlich wieder weit fort von Pflaster und Mauern. Zwar war er nicht sicher, ob Dragon das alles besonders schätzen wurde, wenn solcherart ihre Pflichten in Urgor vernachlässigt wurden. Aber dafür trug Partho die Verantwortung. Cheiros, der Schmied, war weniger ausdauernd. Doch was ihm an Zähigkeit fehlte, ersetzte sein Abenteuerhunger. Er hatte sich nicht Zeit zur Reinigung genommen, und in seinem Gesicht mischten sich Ruß und Schweiß. Sein Pferd ertrug ihn und seinen Hammer mit dem Gleichmut der Kreatur. Partho schließlich wurde nur von einem Gedanken getrieben, nein beflügelt: Agrion, dieses Geschöpf der Götter, das in seinem Herzen einen tieferen Eindruck hinterlassen hatte, als er selbst wußte, diese Agrion in Händen Uraks und seiner unmenschlichen Helfer; und letztlich in den Klauen des Geiers, wenn es ihm nicht gelang, sie zu befreien. Sein Herz und sein Gesicht blieben verschlossen während des ganzen Rittes. Un-
59 barmherzig trieb er seine Gefährten an. Zwei Stunden nach Sonnenaufgang hatten sie die Spur wieder. Sie stießen auf ein Lager, in dessen Feuerstelle noch Glut war. Partho gönnte ihnen keine Rast. Aber trotz der Hast blieb er vorsichtig. Eine Stunde später sah er Uraks Gruppe zum erstenmal vor sich. Das langgezogene Tal, dem sie nun schon geraume Weile folgten, verengte sich zu einem schmalen Paß. Das Land war öd, eine Wildnis von Steinen, in der es kaum ein Verbergen gab, wenn man sich bewegte. Und Uraks Gruppe hatte es eilig. Partho und seine Gefährten entdeckten sie auf halber Höhe zum Paß. Ihre schwarzen Umhänge waren deutlich sichtbar in der gleißenden Steinlandschaft. Schwerer war das Mädchen zu erkennen, deren gelblich-weißes Kleid, kaum von den Felsen abstach. Urak schien die Verfolger bemerkt zu haben, denn er winkte seine Männer ungeduldig vorwärts. Auch schien er das Pferd des Mädchens am Zügel zu führen, denn die beiden Gestalten entfernten sich kaum voneinander, obwohl das unebene, ge-
60 fährliche Gelände genug Anlaß dazu gab, wie sie an den beiden Begleitern Uraks sehen konnten. Partho brauchte seine Männer nicht anzutreiben. Mit dem Ziel vor Augen gaben sie selbst bereits das Äußerste her. Und nach einer weiteren Stunde war es deutlich, daß sie aufholten. Sie befanden sich bereits in Bogenschußweite, doch Partho war das Risiko zu groß. Er fürchtete das Mädchen zu treffen, obwohl er seine besten Schützen ausgewählt hatte. Die Sonne brannte auf Pferde und Reiter herab, je mehr es dem Mittag zuging, und der Wiederschein von den Felsen verstärkte die Glut. Beide Gruppen kamen nur langsam vorwärts. Die Pferde waren am Zusammenbrechen, und Partho sah ein, daß es wenig Sinn hatte, sie zuschanden zu reiten. Hungrig und müde stiegen die Männer ab. Der Schmied war der einzige, der sich in der Eile des Aufbruchs mit dem Nötigsten versehen hatte - und das reichlich. Er teilte sein Dörrfleisch mit den Gefährten. Die Wasserbeutel der Soldaten waren fast leer, nachdem sie auch den Pferden von dem lauwarmen Wasser gegeben hatten.
Hugh Walker Kurz nachdem sie abgestiegen waren, bemerkten sie, daß auch Urak und seine Männer Rast machten. Sie schienen ebenfalls erschöpft zu sein. Wenigstens Urak und die Pferde. Die beiden Zom-bys würden kaum so etwas wie Müdigkeit verspüren, denn es gab nichts, das sie fühlten. Die dämonische Kraft, die sie leitete, erlahmte nicht. Partho ruhte nicht lange. Er trieb die Gefährten an. Als sie losritten, bemerkte er zu seiner Verwunderung, daß man in Uraks Lager keine Anstalten zum Aufbruch machte. »Vorsicht!« warnte er. »Sie führen etwas im Schilde …« »Sie stellen sich zum Kampf«, meinte Cheiros. »Es sieht so aus«, stimmte Ubali zu. Die beiden Begleiter Uraks kamen hinter den Pferden hervor und verharrten reglos. Und dann sah Partho den Plan hinter dem seltsamen Verhalten. Die gleißenden Felsen hatten eine genaue Beobachtung unmöglich gemacht. Aber nun war es deutlich zu sehen: Außer den beiden Zom-bys und ihren Pferden war niemand da. Urak hatte sich mit dem Mädchen aus dem Staub
Kampf um die Felsenburg gemacht. Und der einzige Weg, ihm zu folgen, führte über die Paßhöhe - vorbei an den beiden Zom-bys, die offenbar den Auftrag hatten, die Verfolger aufzuhalten. Partho fluchte. Sie ritten bis auf hundert Schritt an die verhüllten Gestalten heran, dann winkte Partho seine Soldaten vor, die ihre Bogen spannten. Die beiden Zombys begannen auf Parthos Gruppe zuzureiten. Die Schüsse saßen. Die schwarzen Gestalten schwankten unter dem Aufprall der Pfeile, die sich in ihre Körper bohrten. Aber es hielt sie nicht auf. Sie schritten stur weiter. Partho fühlte sein Schwert in der Rechten, ohne daß ihm bewußt wurde, daß er es gezogen hatte. Er sah die gefiederten Schäfte der Pfeile aus den Leibern ragen, sah die Dolche in ihren weißen Händen, die bleichen Gesichter mit den gnadenlosen schwarzen Augen. Ubali griff nicht nach seinem Messer. Er hatte bereits erfahren, daß er damit gegen diese unheimlichen Feinde nichts auszurichten vermochte. Aus den Augenwinkeln sah er Cheiros den Hammer heben. Der
61 Schmied schien keine Angst zu haben. Seine Waffe war die wirksamste. Er wartete auf die Gelegenheit für einen guten Hieb. Und den wollte ihm Ubali verschaffen. Die Soldaten warfen ihre Bogen fort und griffen nach den Dolchen. Entsetzen war in ihren Gesichtern, und allein die Tatsache, daß Partho und Ubali an ihrer Seite nicht zurückwichen, hielt sie von panischer Flucht ab. »Wirf den Dolch weg. Er nützt nichts!« flüsterte Ubali seinem Nebenmann zu »Wir müssen dem Schmied eine Chance geben …« Er sah nicht mehr, was der Soldat tat, denn der Gegner war heran. Ubali duckte sich blitzschnell und umklammerte die Beine des Angreifers. Ein Faustschlag traf ihn am Rücken, der ihn taumeln ließ. Ein Aufschrei folgte, und Ubali merkte befriedigt, daß der Zom-by über ihn fiel. Er versuchte sich aus dem Weg zu rollen, kam aber nicht frei und krümmte sich in der lähmenden Erwartung von Cheiros heransausendem Hammer. Aber der Schmied verstand mit dem mächtigen Instrument
62 seines Gewerbes umzugehen. Er sah den Soldaten neben Ubali verzweifelt den Dolch des Angreifers abwehren, und während der Schwarze sich an die Beine des Zom-bys klammerte, ging der Soldat zu Boden, das Messer tief in seiner Brust vergraben. Der Soldat schrie. Der Zom-by fiel über ihn und über Ubali und landete mit dem Gesicht im Staub vor Cheiros' Füßen. Dessen Hammer kam herab und traf den Schädel voll. Ubali sprang auf die Beine. Er sah zwei Soldaten an den Armen des zweiten Zom-by hängen und ihn festhalten, während Partho sein Schwert immer wieder in den Leib stieß, ohne daß der Widerstand des Zom-bys erlahmte. Cheiros stand hilflos dabei. Sein Hammer war nutzlos. Zu leicht konnte er einen der Gefährten erschlagen. »Den Schädel!« schrie Ubali, und Partho verstand ihn sofort. Das Schwert beschrieb einen kurzen Bogen und trennte den Kopf von Rumpf. Die Männer taumelten mit dem plötzlich erschlafften Rumpf zurück. Voll Grauen sahen sie, daß kein Tropfen Blut aus dem Nackenstumpf kam. Der Kopf lag mit dem Ge-
Hugh Walker sicht nach oben und begann sichtbar zu zerfallen. Aber in den schwarzen Augen loderte ein Feuer des Hasses. Der Mund öffnete sich und formte Worte. »Ihr Narren! Seht ihr nicht, daß es Cnossos ist, gegen den ihr eure nutzlosen Waffen richtet? Fürchtet ihr nicht meine Rache? Hat Dragon, dieser einfältige Narr, euch so verblendet, daß ihr die Macht des Gottes der vielen Namen vergessen …!« Die Soldaten und auch Partho und Ubali waren voll Entsetzen zurückgewichen, als der Schädel zu sprechen begonnen hatte. Nur der Schmied blieb unbeeindruckt. Sein Hammer kam herab und beendete die Rede des Gottes mit einem dumpfen Schlag. Der Bann fiel von den anderen.
* Partho befahl den beiden Soldaten, zurückzubleiben und ihren toten Kameraden zu begraben. Auch die beiden Zom-bys sollten sie begraben, denn auch sie waren ja einst Menschen gewesen. Danach sollten sie mit den Pferden nach Urgor zurückkehren.
Kampf um die Felsenburg Er, Ubali und der Schmied nahmen die Verfolgung Uraks und des Mädchens wieder auf. Urak hatte einen beachtlichen Vorsprung errungen, und die Verfolger sahen eine langwierige Jagd vor sich, wenn auch ihre Pferde ausgeruhter waren. Die Sonne stand am höchsten Punkt des Himmels, als sie Urak und Agrion weit vor sich sahen. Sie kamen nur langsam voran, denn der Weg war steil und der Boden trügerisches Geröll, das den Hufen der Pferde nicht immer Halt bot. Als das Pferd des Mädchens fiel und Uraks Tier fast mit zu Boden riß, schrie Partho auf und jagte sein Pferd vorwärts, ungeachtet der Gefahr. Er sah, wie das Mädchen aus dem Sattel sprang, während das Tier sich überschlug, und Urak mühevoll um Halt kämpfte. Ihre Hände waren auf den Rücken gebunden, und ein Sturz mochte ihren Tod bedeuten, dennoch sprang sie leichtfüßig die Geröllhalde hangabwärts auf die Verfolger zu. Plötzlich fiel ein Schatten über die Felsen. Die Männer blickten zum Himmel und hatten Mühe, ihre scheuenden Pferde zu beruhigen.
63 Ein riesiger Geier senkte sich herab auf die Verfolger. Alle drei wußten sie in diesem Augenblick, wen sie vor sich hatten: Cnossos - den Gott der vielen Namen! »Auseinander!« schrie Partho und jagte auf das Mädchen zu, das stehengeblieben war und entsetzt auf den gewaltigen Vogel starrte. Sie merkte nicht, daß Urak auf sie zulief. Einen Augenblick zögerte der Geier, als die Gefährten auseinanderstoben, als könne er sich nicht entscheiden, auf wen er sich zuerst stürzen solle. Und dieser Augenblick brachte ihn um seine Beute. Ein Brüllen ertönte, das schauerlich von den Felswänden widerhallte, gefolgt von einem zweiten, und dann von einem dritten, das aber weit weniger fürchterlich klang. Ein Schlag von mächtigen Flügeln schleuderte den Vogel zu Boden. Er kam kreischend auf die Beine und stieg taumelnd auf. Er sah sich drei der mächtigen Drachen gegenüber, von denen der kleinste ihm vor einiger Zeit bereits arg zugesetzt hatte. Und er sah noch etwas: auf ihren Rücken saßen Menschen.
64 Und einer von ihnen war Dragon! Auch die Gefährten erkannten Dragon und Amee und eine dritte Gestalt auf den mächtigen Flugechsen und jubelten begeistert auf, als der Geier verzweifelt Abstand zu gewinnen versuchte. Er konnte wenig gegen die Kolosse ausrichten, aber er war behender als sie. Als er unvermutet im Tiefflug auf Agrion zustieß, schrie Partho auf. Dragon lenkte Hotch hinterher. Aber er wurde zu spät kommen. Wenn der Geier das Mädchen ergriff und im Flug fallen ließ, kam jede Hilfe zu spät. Aber es war nicht das Mädchen, auf das es Cnossos abgesehen hatte. Es war Urak, der wie gelähmt stehengeblieben war, als die Drachen auftauchten. Ihn faßten die Fange des Geiers und rissen ihn im Flug hoch. Sie hörten ihn schreien, als sein Gott mit ihm in den Himmel stieg, wobei seine Schwingen gewaltig arbeiteten. An eine Verfolgung war nicht zu denken. Der Geier war zu flink für die massigen Drachen. Es wäre eine sinnlose Vergeudung von Kraft gewesen. Eine unnötige Vergeudung von Kraft, die man in wenigen
Hugh Walker Tagen besser einsetzen konnte beim Sturm auf das Nest. So blickten sie ihm nach, bis er über den Bergen verschwand. Nur zwei hatten keine Augen für den fliehenden Cnossos. Eine war Agrion, die in Parthos Arme stürzte. Der andere war Partho, der ihre Fesseln löste und zärtliche, beruhigende Worte stammelte und sie nicht mehr aus seinen Armen ließ.
7. Den ganzen Tag über war Nabib, der Händler, auf den Beinen. Goldmünzen klimperten in einem prallen Beutel an seinem Gürtel und sangen ihm ein Lied, dem er mit Freuden lauschte. Seit dem Verlust seiner Karawane durch Obad, den Oberpriester, war sein Leben an der Seite Dragons und seiner Gefährten wohl recht abenteuerlich gewesen - aber ohne Musik! Und für einen Händler wie Nabib, der die meisten Dinge nach ihrer Gewinnspanne beurteilte, gab es nur eine Musik: die des klingenden Goldes! Amee, die zukünftige Königin, hatte ihn reichlich für seine Dienste und seinen Verlust entschädigt, und der erste Schub
Kampf um die Felsenburg der Münzen, die aus dem Gold der Weisen geprägt wurden, wanderte in Nabibs Beutel. Sein Dank war überschwenglich - besonders, da sich nun die langersehnte Möglichkeit ergab, nach Sodok, seiner Heimatstadt an der Weißen Küste, zurückzukehren und nach dem Rechten zu sehen. Er hatte bisher immer Glück gehabt mit den Verwaltern seines Hauses und Geschäftes. Aber die Not des besitzenden Mannes ist die Angst vor dem Verlust, wie ein altes Thinayder Sprichwort sagt, und es drängte ihn wieder einmal nach Hause, obwohl ihm der Abschied von den Freunden und Gefährten der letzten Monde schwerfiel. Aber er wurde zurückkommen - mit einer Karawane, mit Sklavinnen und exotischen Geschmeiden, mit kostbaren Waffen und Dingen, wie sie noch niemand in Urgor gesehen hatte - um Iwa zu beweisen, daß er niemals, auch nicht in seinen kühnsten Reden unter dem Einfluß des Weins, seinen Mund zu voll genommen hatte. Das Weib sollte sehen, welche Talente in ihm steckten wenn er nur Gold in die Finger bekam. Handel war ein Kunst-
65 handwerk. Aber das wollte niemand wahrhaben … Da er es eilig hatte, verzichtete er auf die Ausrüstung einer Karawane. Er konnte es sich aber doch nicht verkneifen, wenigstens ein Packpferd mit allerlei Waren aus Urgor zu beladen, und ein nicht geringer Teil dieser Dinge, für die er gutes Gold ausgab und noch besseres Gold zu machen hoffte, waren Iwas Mixturen und Tränke, von denen Nabib steif und fest behauptete, daß sie selbst ihn verwirrt hatten Wie anders hätte er es sonst so lange in Iwas fragwürdiger Gesellschaft ausgehalten? Worauf Iwa trocken erwiderte, sie habe ihre duftenden Säfte nur versprüht, um dem widerlichen Geruch des billigen Weines und der ebenso billigen Mädchen zu entgehen, der ihm allzu stark anhaftete. In vier Tagen hoffte er Zunt zu erreichen - eine Küstenstadt in fast nördlicher Richtung. Dort wollte er ein Schiff finden, das ihn weiter nach Norden brachte. Das Abschiedsfest, das am Vorabend seiner Abreise in Iwas Haus stattfand, hätte einem bedeutenden Würdenträger Urgors alle Ehre gemacht. Nabib
66 war tief gerührt und vergaß den größten Teil des Abends über Iwa mit spitzen Bemerkungen herauszufordern, ein Spiel, das sie in den letzten Tagen immer heftiger getrieben hatten. Und eines hatte sich der Händler eingestanden: Iwas Mundwerk war eine Kostbarkeit an Scharfsinn, Witz und auch Derbheit, wenn er sie herausforderte - etwas, das er an Frauen ungemein schätzte. Prinzessin Amee, dieses wunderschöne Geschöpf wie langweilig mußte das Leben an ihrer Seite jedoch sein; nicht ein einziges Mal hatte er gehört, daß sie Dragon widersprach, den sie begehrte. Und Agrion. Welche Sanftmut! Die Jahre der Sklaverei hatten keinen Funken Temperament in ihr gelassen. Und die Weiber in Dalacs Haus …? Pah! Sie wußten, was dem Körper eines Mannes in Glut versetzte. Aber den Geist, den rührten sie nicht. Und je mehr er es überdachte, um so mehr schätzte er Iwa. Aber er wußte auch, warum er trotz dieser offensichtlichen Zuneigung lieber die Flittchen Dalacs in Kauf nahm: Sie kosteten ihn ein paar Münzen. Iwa würde ihn mehr kosten: einen guten Teil seiner Freiheit. Wenn
Hugh Walker er erst in ihren Fängen war, gab es kein Entrinnen mehr. Das wußte er. Und darum war er auch sicher, daß er wiederkommen würde. Eines Tages … Alle hatten sich zu dem Fest eingefunden. Amee, die zukünftige Königin, für deren Krönung bereits die ersten Vorbereitungen getroffen wurden; Prinzessin Ada, ihre Schwester, gerade sechzehn Sommer alt; Bruder Damos, der während Amees Abwesenheit Urgor verwaltet hatte; Partho, dessen Blicke nur selten von Agrion wichen; Ubali, der kaum zu bewegen war, von Dragons Seite zu weichen, und mit einem Appetit, der seinem riesigen Körper entsprach, den Bärenanteil des dampfenden Hammelfleisches verzehrte; Fren, der Junge vom Ah'rath, der zum erstenmal einen Drachen geritten hatte, und der mit seiner besonderen Gabe Prinzessin Adas Gedanken zu lesen versuchte, was ihn mehrmals an diesem Abend erröten ließ; und schließlich Cheiros, der Schmied, für den sowohl Ubali als auch Partho ein Wort eingelegt hatten. Iwas Wunde war fast verheilt, dank der Salben, mit denen sie sich selbst behandelte. Auch
Kampf um die Felsenburg Agrion vergaß ihr schreckliches Abenteuer rasch. Es war ein großartiges Fest und währte bis spät in die Nacht hinein. Es gab Speisen und Getränke, wie sie nicht jeden Tag auf den Tisch kamen. Man war guter Dinge. Es gab keinen Grund, warum man es nicht sein sollte. Die Staatskasse war voll. Das Volk liebte Amee. Die Soldaten wurdenunter Parthos Führung gute Krieger. Der Tag rückte näher, da es Cnossos ein für allemal an den Kragen ging. Wenn den Göttern nur ein wenig am Geschick der Menschen lag, würde dieser Dämon, der das Land jahrhundertelang unter seiner teuflischen Herrschaft gehalten hatte, endgültig vernichtet werden. Der Glaube an ihn war geschwunden. Es galt nur noch seine Macht zu brechen.
* Als Nabib am frühen Morgen aufbrach und aus der Stadt ritt, die ihm so vertraut geworden war, dachte er an den theatralischen Abschied von Iwa: Er hatte sie doch tatsachlich in die Arme genommen, hatte irgendein wirres Zeug geredet und hatte sie geküßt, bis sie ihn sanft
67 aus der Haustür geschoben hatte. Sie hatte ihn gar nicht festzuhalten versucht! Höchst seltsam! Das würde ihm den ganzen Ritt über zu denken geben. Vielleicht würde er früher zurückkehren, als er vorhatte … Sechs Männer der Palastgarde ritten mit ihm. Sie sollten ihn bis zum Abend begleiten und dann zur Stadt zurückkehren. Das war Dragons Anordnung, der fürchtete, daß Cnossos, der sicherlich Urgor beobachtete, den Händler aufhalten könnte, um nähere Pläne zu erfahren. Hotch und Hot-cha flogen in einiger Entfernung über der Gruppe, und ihnen war es wahrscheinlich zu verdanken, daß weder Cnossos noch einer seiner Späherteile am Himmel zu sehen waren. Mit dem Einbruch der Dunkelheit kehrte sein Begleitschutz um. Nabib aber ritt weiter. Er hatte vor, die Nacht durchzureiten und den folgenden Tag in einem Versteck zu verbringen. Dann hoffte er, bereits zu weit nördlich zu sein, um Cnossos noch länger fürchten zu müssen. Als aber der Morgen zu dämmern begann, und er müde nach einem Versteck suchte, tauchte
68 plötzlich eine Schar von Reitern vor ihm auf. Er kannte diese schwarzen Umhänge gut genug, um sofort zu wissen, wen er vor sich hatte. Er machte einen sinnlosen Versuch zu fliehen. Sie holten ihn nach wenigen Augenblicken ein, nahmen ihn in die Mitte und geleiteten ihn einem bestimmten Ziel entgegen. Und Nabib ahnte, was dieses Ziel sein würde: Das Nest des Geiers - die Felsenburg in den Bergen. Angst griff nach ihm mit kalten Fingern. Mehrmals versuchte er auszubrechen, doch die schwarzen Gestalten waren immer rascher. Er zählte ein Dutzend, als das Licht des Morgens kräftiger wurde. Sie ritten schweigend neben ihm, weckten in ihm die Illusion, als kümmerten sie sich nicht um ihn. Aber immer, wenn er den Augenblick für gekommen hielt, einen Fluchtversuch zu wagen, da handelten sie wie ein Mann - als dächte ein Geist für sie. Sie waren tief verhüllt. Der Händler sah kaum etwas von ihren Gesichtern, und er war ganz froh darüber. Mehrmals warf er verzweifelte Blicke zum Himmel, aber die Drachen waren nicht zu sehen.
Hugh Walker Sie mußten längst wieder in Urgor sein. Schließlich ergab sich Nabib in sein Schicksal. Er hatte erkannt, daß er es nicht zu ändern vermochte. Partho hatte mit Ubali und drei Soldaten alle Mühe gehabt, zwei dieser Zombys zu erledigen. Wie sollte er, Nabib, es gegen ein Dutzend dieser dämonischen Geschöpfe aufnehmen? Das Schicksal wiederholt sich, dachte er. Er besaß Reichtum und eine Karawane. Er kam in eine Stadt der Seuche, erkrankte und fiel einem Mann in die Hände, der ihn einkerkern ließ und die Karawane konfiszierte. Und nun, da er wieder einige Tage in Wohlstand verbracht hatte, schien ihm etwas Ähnliches bevorzustehen! Die Aussicht, das Cnossos in Kürze dafür bezahlen wurde, tröstete ihn nur wenig. Bis dahin mochte er, Nabib, längst unter den Toten weilen.
* Auf dem großen marmornen Thron vor den Toren des Palastes saß Amee, die meergrünen Augen halb geschlossen, das Haar aufgesteckt mit goldenen
Kampf um die Felsenburg Kämmen - hoheitsvoll. Sie trug ein bodenlanges Kleid von der Farbe des Himmels, das an der Brust von einer goldenen Spange gerafft war. Sonst trug sie keinen Schmuck, außer dem Ring mit dem Siegel der Stadt. Neben dem Thron stand Dragon, sein braunes, schulterlanges Haar flatterte im Wind, der von den Bergen kam. Er trug den knielangen Waffenrock der Garde von der Farbe des Ockers, darüber ein feinmaschiges Kettenhemd, Beinkleider aus Leder und einen ebenfalls knielangen, hellblauen Umhang, den er um das Schwert zurückgeschlagen hatte. An der Brust gleißte das Amulett in der hellen Sonne. Ein feines Lächeln war auf seinen Lippen, und ein Ausdruck der Ungeduld in seinen Zügen. Partho stand auf den Stufen vor dem Thron, gekleidet in den zeremoniellen Harnisch und Helm des Gardehauptmanns. Sein Gesicht war angespannt. Unten am Rand der breiten Straße standen die Menschen dicht gedrängt. Ihre Stimmen drangen brausend zum Thron hoch. Hände und bunte Tücher winkten unaufhörlich. Der ganze Marktplatz war ein wirbeln-
69 der Teich von Menschen bis an das jenseitige Ende, vor die rauchgeschwärzten Tore des nun verlassenen Tempels des Gottes der vielen Namen. Ihm galt diese Parade der neuen Kraft Urgors ebenso wie der Königin und Dragon. Aber für Cnossos war es eine Verhöhnung, ein endgültiges Abwenden von den alten Schrecken. Das Volk berauschte sich an dem bevorstehenden Sturm auf Cnossos' Festung. Aller Sympathien waren auf Seiten Dragons, dem Drachenreiter, dem Schlafenden Gott, dem Sohn von Atlantis, dem Günstling der Königin, der auch Günstling des Volkes war, wie es noch nie einen zuvor in Urgor gegeben hatte. Aller Köpfe wandten sich dem Trompetensignal zu, das die Straße heraufschallte und vom Spätsommerwind davongetragen wurde, wie auch das rhythmische Stampfen der Schritte. Während die Bläser in ihren blauen Wämsern vor den Stufen des Throns vorbeimarschierten, schwoll der Stimmenlärm der Menge. Ein Blumenregen fiel von den Dachterrassen der Häu-
70 ser auf die Parade. Der schrille Stoß der Hörner peitschte die Menschen auf. Den Bläsern folgte die Palastgarde in den ockerfarbenen Waffenröcken, den schimmernden Brustharnischen und den dichtgeflochtenen ledernen Helmen. Die blau-silbernen Schilde blitzten in der prallen Sonne. Die krummen Schwerter pendelten rhythmisch, und ihr Schritt war gleichmäßig wie der Schlag der Trommler, die in zwei Viererreihen der Garde folgten. Nach den Trommlern kamen fünfundzwanzig Viererreihen von Parthos stolzester Truppe: Lanzenkrieger nach dem Vorbild des alten Urgor-Heeres, das vor mehr als eineinhalb Jahrhunderten den Angriff südlicher Stämme abgewehrt hatte. Sie trugen ihre langen Spieße senkrecht an den gepanzerten Leib gepreßt in ledernen Schlingen. Danach folgte eine schier nicht enden wollende Reihe von vier Hundertschaften von Berittenen in gleicher Kleidung und Bewaffnung, wie sie die Garde voran präsentiert hatte. Nicht eines der Pferde scheute, als die Menge in einen Begeisterungssturm ausbrach.
Hugh Walker Das Geklapper von Hufen wurde erneut durch den Schritt von Fußtruppen abgelöst: die Bogenschützen, für die Urgor weithin berühmt war. Mehr als zwei Hundertschaften schritten an dem steinernen Thron vorbei, die großen Bogen in der Linken, die gefiederten Pfeile in den erdfarbenen Köchern über den tanngrünen Gewändern. Ihnen folgten eine weitere Hundertschaft in gleicher Ausrüstung, aber beritten - die gefährlichste und rascheste von Parthos Truppen. Wiederum zwei Viererreihen von Trommlern bildeten den Schluß der Parade, doch ihr Rhythmus ging im Rasen der Menge unter, die das Gefühl der Macht nach all dem Grauen und den Entbehrungen genoß. Auch Dragon fühlte sie, diese Macht. Sie war es, die ihn schneller atmen ließ. Noch war es nicht der einzelne, individuelle Tod, den er sah - dazu war er noch zu jung in dieser Welt. Er sah nur, daß es seine Hand war, auf deren Zeichen diese Krieger warteten, daß es sein Wille war, nach dem es geschehen würde, daß er auch ohne seine Erinnerungen Cnossos nun gewachsen war.
Kampf um die Felsenburg Als zwei Schatten für einen Augenblick die Sonne verdunkelten, schien sich die Begeisterung der Menge noch zu steigern. Dragon wurde aus seinen Gedanken gerissen. Hotch und Hot-cha, die beiden Drachen, flogen tief und mit gewaltigen Schlägen ihrer mächtigen Flügel über die Menschen und die Parade hinweg. Dragons Amulett pulsierte. »Gilt das uns, Zweibeiner?« kam Hotchs Stimme, nur für Dragon hörbar. »Ja, Freunde«, erwiderte Dragon in der lautlosen Drachensprache, in die das Amulett seine Gedanken umwandelte. »Das gilt euch. Seit sie wissen, daß ihr mir helfen werdet, die Festung des Gottes der vielen Namen zu stürmen, seid ihr zu einem Symbol des Sieges geworden in dieser Stadt.« »Du weißt, warum wir dir helfen, Zweibeiner-Freund?« »Ja«, erwiderte Dragon. »Um Hot-chis willen.« »Unser Sohn ist aus einem guten Ei«, warf Hot-cha ein, und es klang ein wenig vorwurfsvoll. »Aber er hat anstrengende Freunde.« Dragon grinste. Er kannte die ein wenig griesgrämige Art der
71 beiden Wesen inzwischen gut genug und maß ihr wenig Bedeutung bei. Sie würden helfen, das war alles, was zählte. Die Parade hatte die Gemüter der Urgoriten zum Sieden gebracht. Es gab nur wenige Zweifler und Miesmacher, ein paar Überängstliche, und ein paar, die noch immer glaubten, daß der Gott der vielen Namen einer der mächtigsten Götter sei und Dragon zermalmen werde. Die große Mehrheit wartete nur auf Dragons Zeichen, auf Amees zustimmendes Nicken, auf Parthos Befehle. Am Nachmittag des gleichen Tages kamen die Späher zurück. Amee, Partho, Dragon, Damos und Ubali befanden sich in der Beratungskammer, als Ticom, der Anführer des Spähtrupps in den Palast stürmte - einen ganzen Tag zu früh. »Hoheit«, sagte er und verbeugte sich tief vor Amee, die Dragon fragend ansah. Ticom war ein kleiner, drahtiger Typ mit flinken Augen und einem wilden, schwarzen Haarschopf. »Dragon, Herr!« sagte er. »Ich bringe wichtige Nachricht …« Er zögerte. »Sprich ruhig«, forderte Dragon ihn auf. »Sie mögen es alle
72 hören.« Ticom nickte. »Cnossos' Späher sind Tag und Nacht am Himmel. Es war sehr schwer, in Sichtweite an die Felsenburg heranzukommen …« »Seid ihr entdeckt worden?« unterbrach ihn Dragon. »Das ist schwer zu sagen«, meinte Ticom. »Es deutet nichts darauf hin, aber man kann nie wissen … Aber hört das wichtigste. Was die Weisen sagen, stimmt: Es gibt keinen Weg ganz nach oben. Es gibt auch kein Tor. Wenn er seine Gestalt in einen Geier verwandeln kann, der höher als die Wolken fliegt, wozu sollte er dann einen Pfad oder ein Tor brauchen …« »Ist das nur deine Überlegung, oder hast du es gesehen?« »Wir fanden keinen Weg, Herr, und kein Tor. Aber wir entdeckten etwas anderes: Vor zwei Tagen brachten ein Dutzend Männer solche Kreaturen, wie sie Ubali als Zom-bys bezeichnete … einen Gefangenen zur Burg …« »Konntet ihr erkennen, wer es war?« fragte Dragon hastig. War es möglich, daß Nabib trotz aller Vorsicht in Cnossos' Hände gefallen war? »Nein, wir konnten ihn nicht
Hugh Walker genau sehen. Sie hatten ihn in ihrer Mitte und verschwanden rasch zwischen den Felsen. Aber wir sahen etwas anderes, viel Wichtigeres. Der Berg besitzt einen Eingang, der mit größter Sicherheit zur Burg führt. Sie verschwanden am Fuß des Berges in einer Felsspalte und erschienen nicht wieder, obwohl wir mehrere Stunden warteten …« »Könnt ihr die Stelle jederzeit wiederfinden?« »Ja, Dragon. Meine Männer beobachten sie noch. Ich kehre noch heute zu ihnen zurück. Wir bleiben, bis das Heer eintrifft …« Dragon nickte nachdenklich. »Du denkst, daß der Händler der Gefangene ist?« meinte Partho. »Es wäre wohl möglich …« »Was hast du vor?« fragte Amee. »Wir werden früher aufbrechen …!« »Früher?« entfuhr es ihr. »Das Heer ist bereit«, versicherte Partho. »Und das Volk wartet ungeduldig darauf, warf Damos ein. »Warum länger warten?« »Damos!« rief Amee entsetzt. »Siehst du nicht die Gefahr?«
Kampf um die Felsenburg »Sie wird nicht kleiner durch das Warten, Schwester …« »Aber es ist nicht gleich, ob der Tod einen Tag früher oder später kommt!« rief sie aufgebracht. Dragon nahm sie lächelnd in die Arme. »Du bist mir eine schöne Königin. Streust Angst in die Herzen deiner Heerführer, statt ihnen Mut und dein schönstes Lächeln zu schenken …« Sie entwand sich seinen Armen. »Du kannst gehen, Ticom. Behaltet den Eingang im Auge, aber bleibt verborgen. Das Heer wird morgen früh aufbrechen und in drei Tagen am Fuß der Burg stehen. Dann erwarte ich deinen Bericht.« Ticom verschwand grüßend. »Diese Nachricht ist sehr günstig für deinen Plan, nicht wahr?« meinte Partho. »Sehr sogar«, erwiderte Dragon nachdenklich. »Wir brauchen diesen verdammten Berg nicht zu erklimmen. Das war es, was mir am meisten Kopfzerbrechen bereitete, trotz deiner Versicherung, daß die Männer es schaffen würden, die schweren Leitern über diese unwegsamen Hänge zu schleppen …« »Wir wissen nicht, wie es mit
73 diesem Eingang in den Berg wirklich aussieht. Vielleicht führt er nur in eine Höhle, die keine Verbindung zur Burg selbst hat. Es erscheint mir unwahrscheinlich, daß im Berginnern ein Weg bis zum Gipfel führen sollte«, meinte Partho warnend. »Wir werden ihn untersuchen, wenn wir dort sind«, stellte Dragon fest. »Ticom und seine Männer konnten das in der Zwischenzeit tun«, erklärte Partho. Aber Dragon schüttelte den Kopf. »Das ist zu gefährlich. Ich möchte vermeiden, daß Ticom und der ganze Spähertrupp in Cnossos' Hände fällt. Wenn erst das ganze Heer am Fuß des Berges lagert, können wir uns gefahrloser umsehen.« Partho nickte. Dragon war umsichtiger, als er dachte. Wahrhaftig, Dragon war ein Mann geworden, wie es für Urgors Thron keinen besseren gab. Weisheit gepaart mit einem kräftigen Arm. Und das Volk lag ihm zu Füßen wie einem Gott! Vielleicht war er wirklich einer, trotz aller menschlichen Züge! Vielleicht war er wahrhaftig ein größerer Gott, als alle ahnten. Der Sohn von Atlantis -
74 es klang nicht vollkommen irdisch, wenn man seine Gedanken schweifen ließ. Vielleicht hatten auch die Weisen unrecht, und das Goldene Zeitalter, von dem sie sprachen, war nur eine Zeit der besseren und mächtigeren Götter. Es war auch nicht menschlich, Jahrtausende in einem metallenen und gläsernen Sarg zu schlummern … Er schüttelte die Gedanken ab. Die Zukunft würde es weisen. Und sie sah vielversprechend aus. Amee schwieg während der Kriegsberatung. Sie verstand diesen Eifer der Männer nicht ganz. Sie kannte Gefahr und Tod in reichem Maß. Dieses Jahr hatte Urgor genug Tod beschert. Es gab keinen, der ihn nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Und jetzt bereiteten sie sich darauf vor, in einen neuen Tod zu ziehen. Viele wenigstens. Und mit welcher Ungeduld sie es taten! Aber sie wußte, daß es in der Hauptsache ihre Liebe zu Dragon war, die sie plötzlich mit den Dingen hadern ließ. Seit fast einem Mond sah sie die Vorbereitungen, sah Urgor aufleben und fühlte manchmal selbst einen vagen Triumph. Sie wußte auch, daß sie nur ein
Hugh Walker Schattenkönigreich regierte, solange die Drohung einer Rache des Gottes der vielen Namen über den Menschen lag. Selbst die Weisen unterstützten Dragons Plan. Cnossos - sie schauderte bei der Erinnerung an seine Geierkrallen, in deren Griff sie hilflos gehangen hatte, und auch bei dem Gedanken an die Falle, die Dragon fast das Leben gekostet hatte - mußte vernichtet werden. Und je mehr sie diese Notwendigkeit in ihr Bewußtsein rief, desto ruhiger wurde sie - wenn auch die Angst blieb. Die Angst, diesen Schlafenden Gott zu verlieren, der seit vielen Jahren in ihren Träumen war, und den ihr das Schicksal schließlich wahrhaftig beschert hatte.
8. Als die Zom-bys ihn in den Felsspalt und dann den rasch dunkler werdenden Gang entlangschoben, wußte Nabib, daß er seine Chance verpaßt hatte falls er je eine hatte. Diese untoten Wächter hatten ihn wie die Geier beobachtet - aber sie waren ja auch Sklaven eines Geiers, und Wesenszüge färben ab. Daß Cnossos ihn lebend ha-
Kampf um die Felsenburg ben wollte, beruhigte ihn ein wenig. Vielleicht konnte man mit diesem Gott der vielen Namen handeln. Aber er hatte sich wahrend der letzten Stunden des Rittes vergeblich darüber den Kopf zerbrochen was er diesem Cnossos für sein Leben anbieten konnte. Daß ihm das Gold nicht bleiben würde, schien ihm eine schmerzliche Gewißheit. Seine Vermutung wurde bestätigt, als sie kurz vor der Burg einen einsamen Hof erreichten, wo die Pferde und ein Teil des Goldes als Belohnung zurückblieben. Zwei der Zom-bys hielten ihn plötzlich fest. Mehrere Fackeln wurden entzündet. Er schauderte unter der kalten Berührung. Er schrie auf, als sich eine dieser eiskalten, harten Hände um seinen Mund preßte, doch der feste Griff erstickte den Schrei. Völlig wehrlos mußte er es geschehen lassen, daß sie seine Hände auf den Rücken fesselten und ihn mit solcher Sorgfalt knebelten, daß er selbst auf einer myranischen Folterbank keinen Laut herausgebracht hätte. Er nahm es mehr mit Verwunderung als Angst zur Kenntnis. Jede Gegenwehr war sinnlos. Er mußte seine Kräfte für einen besseren Augenblick aufsparen
75 - falls es einen solchen gab. Dann schoben sie ihn rasch vorwärts, eine erst schmale, dann immer breiter werdende Treppe hoch, die offenbar zur Burg hinaufführen mußte. Die Fackeln enthüllten unbehauenen Fels rechts und links der Stufen, in den dunkle Öffnungen führten, deren Inneres die Schwärze verbarg. Nach wenigen Schritten schon sah er etwas anderes, das ihn schaudern ließ. Da und dort an den Wänden hingen riesige weiße Falter mit Körpern von Mausgroße. Sie schienen vor dem Licht der Fackeln zurückzuweichen, aber der starre Blick ihrer glühenden Augen jagte ihm Eiseskälte den Rücken hinab. Entsetzt nahm er wahr, daß die Tiere mehr wurden, je höher sie stiegen. Bald war der Fels übersät von ihren weißen Flügeln, und schließlich hingen sie einer neben dem anderen, daß kaum noch ein Stück Fels zu sehen war. Entsetzen schnürte Nabib die Kehle zu, so daß er auch ohne den Knebel nur schwerlich einen Laut hervorgebracht, hatte. Nur ein Gedanke hämmerte in seinem Kopf: Wenn sie er-
76 wachten! Ihr Götter, wenn sie erwachten! Aber sie erwachten nicht. Im Gegenteil, sie schienen im Licht zu erstarren. Nabib konnte den Blick nicht abwenden. Sie erschreckten ihn nicht nur, sie faszinierten ihn auch. Noch nie hatte er solche ungeheuerlichen Schmetterlinge gesehen. An jedem Hof würde man ihm ein Vermögen dafür bezahlen. Vielleicht gelang es ihm, ein Paar zu ergattern, bevor Dragon die Burg erstürmte. Wenn er so lange lebte, fügte er seinen Gedanken hinzu. Unwillkürlich verlangsamte er seine Schritte. Die Arme seiner Begleiter faßten ihn und schoben ihn vorwärts, als wären sie erpicht darauf, diese Schmetterlingsgesellschaft möglichst rasch hinter sich zu lassen. Was Nabib ihnen nicht verdenken konnte. Er fühlte sich selbst nicht gerade behaglich unter dieser Masse weißer Leiber, und er atmete auf, als er merkte, daß ihre Dichte abnahm und sie schließlich ganz ausblieben. Ein anderer Gedanke beschäftigte ihn eine Weile - Er mußte versuchen, Dragon vor diesen Gewölben zu warnen. Wenn diese Falter erwachten, mochten ihre kleinen, scharf-
Hugh Walker zahnigen Rachen nicht ungefährlich sein. Vielleicht saugten sie Blut wie die Vampire Und in dieser riesigen Anzahl waren sie ein ernstzunehmender Gegner, der auf Cnossos' Seite stritt. Der Gedanke an Warnung ließ seine Fluchtgedanken wieder aufleben. Als ein dunkler Stollen zu seiner Rechten auftauchte, sprang er zurück und stieß zwei seiner Begleiter mit aller Kraft die Stufen hinab. Bevor ihn jemand halten konnte, schnellte er in die schwarze Öffnung. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die beiden stürzenden Zom-bys zwei weitere mitrissen und die steilen Stufen hinabstürzten. Seltsamerweise stieß keiner einen Schrei aus. Sie fielen lautlos. Auch die anderen gaben keinen Laut von sich. Nur ihre hastigen Schritte vernahm er und wußte, daß sie hinter ihm hereilten. Ohne Licht war das Vorwärtsstürmen in dem engen Stollen ein lebensgefährliches Unterfangen. So sehr er auch sich abmühte, er bekam seine Hände nicht frei, und der dichte Knebel ließ ihn schon nach wenigen Schritten heftig keuchen. Er blieb stehen und drückte sich eng an die rauhe Wand.
Kampf um die Felsenburg Lichtschein tauchte hinter ihm auf. Rasch blickte er sich um. Der Gang verlief geradlinig, soweit er sah - und das war nicht weit. Zwei Schritte weiter schien ein Seitenarm abzuzweigen. Er sprang hinein, bevor das Licht der ersten Fackel grell in den Gang fiel. Er kam nicht weit. Er schlug gegen die Felswand. Halb betäubt von Schmerz rollte er sich zur Seite und stieß auch hier gegen die Wand. Pech! dachte er resigniert. Das war nur eine Nische. Er drückte sich eng an die Wand. Jeden Augenblick mußten sie ihn entdecken. Fackellicht fiel zuckend in die Nische, als der erste Verfolger herankam. Er hielt den Atem an. Eine kleine Krümmung in der Wand bot nur wenig Schutz vor dem grellen Schein. Er schloß geblendet die Augen. Jetzt! dachte er … Aber der Zom-by eilte vorbei. Und so taten es die übrigen. Wie eine Herde, dachte Nabib. Er zählte acht. Demnach waren vier in die Tiefe gestürzt. Oder sie lauerten auf ihn in der Dunkelheit. Er wartete, bis der Lichtschein in der Ferne verschwand und lauschte auf die verklingen-
77 den Schritte. Dann versuchte er am Fels den Knebel abzustreifen, der ihn fast erstickte. Nach einer Weile gab er es atemringend auf. Er zerrte an seinen Fesseln, aber die Kerle hatten ihr Handwerk verstanden. Die Knoten lockerten sich nicht. Er ließ sich langsam auf den Boden nieder und mühte sich eine Weile ab, die Arme nach vorn zu bringen. Tatsächlich gelang es ihm, das Gesäß zwischen die gefesselten Arme zu zwängen, indem er seinen Rücken weit über seine übliche Beweglichkeit krümmte. Dabei verfluchte er das Gewicht, um das er in diesen letzten Schlemmertagen in Urgor zugenommen hatte. Im Augenblick wünschte er sich nichts sehnlicher, als noch einmal so schlank zu sein wie in jener unseligen Zeit im Kerker. Daß er hier in wenigen Tagen vermutlich ebenso abgemagert sein wurde, beruhigte ihn nicht besonders. Der Gedanke an die weißen Falter weiter unten im Gewölbe jagte ihm kalte Schauet durch den schwitzenden Körper. Einmal mußten sie ja aufwachen, und er besaß nicht einmal eine Fackel. Er saß hilflos hier, und sie mochten über sein
78 Gesicht kriechen, ohne daß er viel dagegen tun konnte. Diese Vorstellung trieb ihn zu erneuter Anstrengung. Er stöhnte erstickt. Er hatte sich selbst festgeklemmt. Die Arme wollten nicht weiter um die Gesäßbacken herum. So sehr er sich auch krümmte. Der Schmerz war unerträglich. Entweder die Handgelenke oder die Schultern mußten jeden Augenblick aus ihren Gelenken schnappen. Oder sein Rückgrat brechen. Keinen Moment länger war diese Krümmung zu ertragen. Panik trieb ihm Tränen in die Augen. Mit einem Ruck riß er sich vom Boden hoch und ließ sich fallen. Zuerst glaubte er, seine Hände wären gebrochen. Er wartete nicht, bis der Schmerz nachließ. Ein weiterer Ruck brachte seine Arme über die Schenkelknochen. Die Angst, erneut stecken zu bleiben und vielleicht nicht mehr genug Kraft zu haben, stachelte ihn zu einem neuen Versuch an. Und diesmal glitten die gefesselten Arme bis in die Kniekehlen vor. Sein Rücken entspannte sich. Nabib sank zitternd an die Wand. Er rang nach Luft. Wenn nur der verdammte Knebel erst
Hugh Walker fort war. Aber bis dahin war noch ein weiter Weg. Die Füße durch die Arme zu ziehen, war eine erneute Qual. Erneut bemächtigte sich Panik seiner. Er preßte mit aller Gewalt, glaubte zu ersticken und bekam den einen Fuß mit einem verräterischen Knacken der Zehen durch. Erschöpft hielt er inne. Seine Brust wollte zerspringen. Sein Herz schlug wie ein Schmiedehammer. Und sein Schädel dröhnte wie ein Gong. Aber der Fuß war durch. Die Aussicht, diesen verdammten Knebel vom Gesicht zu reißen, rückte in greifbare Nähe, und das spornte ihn erneut an. Mit einem Ruck bekam er die Ferse zwischen die zusammengeschnürten Handgelenke und rammte sich das Knie gegen die Zähne. Er spürte Blut über seine Lippen rinnen. Irgendwo in der Dunkelheit ertönte ein Schrei, und Nabib erstarrte. Der Widerhall in den Gewölben war schauerlich und hätte wohl auch tapferen Männern das Blut in den Adern gefrieren lassen. Die Stille, die folgte, als die letzten Echos verklangen, war erfüllt von einem Geräusch wie ein Hauch - als atmete der
Kampf um die Felsenburg Berg! Es stachelte Nabib zu rasender Eile an. Es klang wie der Flügelschlag einer ganzen Wolke von Vögeln, wenn sie aus dem Schilf aufsteigen - nur leichter … leichter … Die Falter waren aufgewacht! Gleichzeitig sah er einen Lichtschimmer näher kommen. Die Zom-bys kamen zurück. Einen Augenblick vermeinte er, er würde hilflos hier liegenbleiben, mit dem Fuß festgeklemmt zwischen den Handgelenken. Aber dann war er durch und riß wild an seinem Knebel. Er zerrte ihn von den Lippen und spie den großen Knäuel Tuchwerk aus. Dann atmete er keuchend und gab sich der grenzenlosen Erleichterung hin. Aber nur einen Moment ließ er dieses Gefühl einwirken. Die Fackeln kamen rasch näher. Er riß an seinen Fesseln. Sie schienen gelockert, aber sie hielten. Es blieb keine Zeit für weitere Befreiungsversuche. Das mußte er später versuchen. Er war längst nicht mehr so hilflos, nun da er seine Arme vorn hatte. Er konnte sie durch die Dunkelheit tasten, ohne sich den Schädel einzurennen, und er konnte sich wehren.
79 Er drückte sich flach an den Stein und wartete mit klopfendem Herzen. Die Zom-bys warfen keinen Blick in die Nische, in der er sich verborgen hielt. Sie eilten vorüber. Nabib zählte die vorüberhuschenden Bündel von Helligkeit. Er brauchte eine Fackel, wie groß das Risiko auch immer war. Ohne Licht würde er nie aus den Gewölben finden. Als der siebente seiner Verfolger vorüber war, spannte er seine schmerzenden Muskeln, und als der achte herankam, sprang er hinaus aus seinem Versteck, stellte dem Zom-by ein Bein, entriß ihm die Fackel, noch während er fiel, und eilte in entgegengesetzter Richtung in den Stollen. Es währte eine Weile, bevor er meinte, Schritte weit hinter sich zu hören. Das spornte ihn zu größerer Eile an. Er wechselte mehrmals die Richtung, wenn Seitenstollen die Möglichkeit boten. Der ganze Berg schien ein Gewirr von Gängen und Stollen zu sein. Die Götter mochten wissen, welche Schrecken sich noch in dieser Finsternis verbargen. Die Fackel war ein Geschenk
80 der Götter, und er wußte, daß er sein gesamtes Gold dafür gegeben hätte dort drinnen in seiner Nische. Das ließ ihn den Verlust leichter ertragen. Nach einiger Zeit wurde es ganz still um ihn. Er vernahm keine Geräusche von Verfolgern mehr. Nur noch sein eigener Atem klang laut und verräterisch in der klammen Luft. Er lauschte - reglos, mit angehaltenem Atem … Ganz fern hörte er ihn - den Ton Tausender weißer Flügel; irgendwo tief unten in den Gewölben. Er setzte sich nieder, nahm die Fackel zwischen die Füße und hielt die Lederriemen über die Flamme. Das gab er aber bald wieder auf, da seine Hände und Arme mehr darunter litten, als die Riemen. Schließlich machte er sich mit den Zähnen über die Knoten her. Als seine Hände frei waren, schien ihm die Fackel bereits viel kleiner zu brennen. Neue Furcht erfüllte ihn. Rasch sprang er auf und rannte durch den feuchten Stollen, der immer steiler nach oben führte. Zur Burg wahrscheinlich. Aber wollte er das? Nicht unbedingt. Er wollte ins Freie. Die Fackel
Hugh Walker würde nicht mehr lange genug für den Rückweg brennen - immer vorausgesetzt, daß er den Rückweg fand, nach dieser kopflosen Flucht durch die Stollen. Selbst wenn er ihn fand die Falter schienen erwacht und versperrten den Weg. Er mochte ebensogut erfahren, was sich am Ende dieses Ganges befand. So lange wenigstens würde die Fackel noch brennen. Er eilte weiter und zählte über tausend Schritte, bis er das Ende des Stollens vor sich sah: eine Tür! Sie war schmal und aus Metall - und verschlossen! Der Drang zu pochen kam über ihn, aber er unterdruckte ihn rasch. Da oben war niemand, der ihm helfen würde. Er mochte wohl jemanden herbeirufen - aber nicht zu seiner Hilfe. Erschöpft ließ er sich nieder. Er mußte überlegen, was zu tun war. Dragons Angriff wurde erst in einer Woche erfolgen. Bis dahin war er hier verhungert oder wenigstens fast. Er besaß ja einiges Fett, von dem er zehren konnte.. Wie rasch sich die Werte umkehren, dachte er schläfrig.
Kampf um die Felsenburg Noch vor weniger als die Hälfte einer Stunde hatte er dieses Fett verwünscht. Aus den Augenwinkeln, halb im Hinübergleiten in den Schlummer, sah er eine Bewegung. Sein Kopf ruckte hoch! Als sein Blick sich klärte, sah er sie in einiger Entfernung … Sie schimmerten weiß und waren in quirlender Bewegung nicht mehr als zwanzig Schritte unter ihm. Eine weiße Wand, die sich beharrlich näher schob, je kleiner die Flamme der Fackel wurde. Sie fürchten das Licht! dachte Nabib in diesem Augenblick des Entsetzens. Solange die Fackel brannte, war er vor ihnen sicher. Aber sie würde nicht mehr lange brennen. Verhungern würde er hier nicht, das wurde ihm in diesem Augenblick nur allzu klar. Die Feinde da oben hinter dieser Tür konnten nicht gnadenloser sein als die Glut in den Augen der weißen Bestien, die nur auf das Verlöschen des Lichtes lauerten. Er sprang auf und trommelte verzweifelt gegen die Tür. Das gab einen dumpfen, weithin schallenden Ton. Die Laute schienen sie zu locken. Es
81 mochte aber auch nur Einbildung sein, die den erschöpften Händler Gespenster sehen ließ. Als er schon glaubte, sein Pochen wäre vergeblich, war es ihm, als hörte er Schritte. Tatsächlich machte sich jemand an der Tür zu schaffen. Gleich darauf schwang sie knarrend auf. Mit einem Stöhnen der Erleichterung zwängte sich Nabib durch. Ein rasches Schlagen von Schwingen erklang hinter ihm, das ihm kalten Schweiß aus den Poren trieb. Dann schlug die Tür dumpf hinter ihm zu. Ein Riegel wurde vorgeschoben. Die Erleichterung, die er in diesem Augenblick verspürte, war fast körperlich. Er hob die Fackel, und die spärliche Flamme fiel auf eine zierliche Gestalt ein Mädchen. Sie war nicht mehr als fünfzehn oder sechzehn Sommer alt. Ihr Gesicht war von einer Ebenmäßigkeit, wie er selten ein Mädchengesicht gesehen hatte. Ihr schwarzes Haar fiel lang über ihre Schultern. Den Körper verhüllte ein schwarzer Mantel von solcher Kostbarkeit, wie ihn nur Königinnen oder edle Damen des Hofes besitzen können. Ihre Augen waren dunkel, fast schwarz und bildeten einen
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wirksamen Kontrast zu den bleichen Zügen. Sie sah ihn unverwandt an. Er lächelte, aber das Lächeln erstarb auf seinen Lippen, als er sah, daß sie nicht atmete. Als er erkannte, daß er keiner Lebenden gegenüberstand …
* Das vier Hundertschaften starke Heer Dragons wälzte sich einem langen Wurm gleich durch die felsige Landschaft. Erst die Kundschafter - weit gefächert. Sie ritten eine Stunde vor der Hauptmacht her, die ein halbes Hundert der berittenen Bogenschützen anführte, gefolgt von zwei Hundertschaften der Reiter mit Schwert und Schild, der eigentlichen Hauptmacht des Heeres. Dahinter kamen ein halbes Hundert der Lanzenkrieger, nun ebenfalls beritten. Den Abschluß bildeten wiederum Bogenschützen, die den Schutz der Packpferde und der Versorgungsabteilung übernommen hatten. Am Nachmittag des dritten Tages nach ihrem Abmarsch aus Urgor sahen sie den Berg vor sich, auf dem die Felsenburg thronte - uneinnehmbar,
wie es schien. Und manchem wurde bang ums Herz, und er fragte sich, ob Dragon wahrhaftig solche Macht besaß, daß er mit dieser kärglichen Anzahl von Kriegern solch ein Bollwerk erstürmen könnte. Hoch oben am blauen Himmel sahen sie einen Vogel. Sie vermochten nicht zu erkennen, welcher Art er war, aber sie wußten, daß der Gott der vielen Namen sie beobachtete. Partho ließ ein Lager errichten am Fuß des Berges, ließ es gut bewachen und gönnte den Männern Rast nach dem beschwerlichen Ritt. Es war eine ausgiebige Rast. Die Männer aßen und schliefen und warteten. Sie warteten, bis die Dunkelheit kam. Und selbst dann blieb das große Heerlager für den Beobachter am Himmel reglos. Nur eine kleine Gruppe von Kriegern huschte unter Ubalis Führung im Schutz der Dunkelheit auf den Eingang zwischen den Felsen zu und verschwand in der noch tieferen Schwärze des Berginnern …
* Das Mädchen legte warnend
Kampf um die Felsenburg den Finger an die Lippen. Nabib von Thinayda unterdrückte den Wunsch zu laufen. In der Stille fühlte er sein Herz laut pochen. Gab es keinen normalen Menschen auf diesem Teufelsschloß? Sie winkte ihm zu folgen und gebot ihn erneut zu schweigen. Irgend etwas an ihr erschien ihm anders als bei den Zombys, die ihn hierhergebracht hatten. Wenn nur diese verdammte Müdigkeit nicht gewesen wäre. Gleich darauf wurde der Korridor heller, und Tageslicht fiel durch eine große Fensteröffnung. Die Schläfrigkeit fiel von ihm ab. Die Sonne war eine Offenbarung. Er hatte nicht erwartet, sie so schnell wiederzusehen. Das Mädchen sah sich mehrmals um, ob er folgte, und führte ihn in ein kleines Gemach. Sorgfältig schloß sie die Tür hinter sich. Nabib wollte sprechen, aber sie verschloß ihm mit einer herrischen Geste den Mund. Der Blick ihrer nachtschwarzen, unmenschlichen Augen wurde abwesend, als blickte sie in sich hinein oder in irgendeine Welt jenseits der Wirklichkeit. Nabib fröstelte. Die Fackel
83 erlosch und begann zu rauchen. Er stampfte sie aus. Der Gedanke an die Schmetterlinge ließ ihn schaudern. Jetzt war der Augenblick, da sie über ihn hergefallen wären. Oder vielleicht auch schon ein wenig früher. Ein paar Schläge dieser großen Flügel hätten die Flammen längst zum Verlöschen gebracht. Die Stimme des Mädchens riß ihn aus seinen Gedanken. »Ich bin Manija, die rechtmäßige Königin von Magassa. Seit vier Jahrzehnten bin ich in dieser verfluchten Burg und werde bald eine Uh-toth sein …« »Eine Uh-toth?« fragte Nabib verständnislos, aber nicht ohne Mitgefühl. »Eine Untote - und seine Sklavin für alle Zeiten«, sagte sie voller Haß. »Seit vier Jahrzehnten?« entfuhr es Nabib. »Dann seid ihr mehr als ein halbes Jahrhundert …?« Sie lächelte freudlos. »Die ewige Jugend. Akkratos Geschenk an seine Geschöpfe. Aber was nützt sie in diesen Mauern? Was nützt sie, wenn das Herz nicht schlägt, das Blut nicht in den Adern rinnt und die Brust nicht atmet? Wenn der
84 Hunger ungestillt bleibt, weil das Eis der Hände Schrecken und Entsetzen hervorruft und alle Leidenschaft zum Erlöschen bringt? Was nützt die Jugend und Schönheit, wenn sie nicht Erfüllung findet?« Sie öffnete ihren Mantel und befahl dem Händler: »Berühre mich!« Eine seltsame Regung überkam ihn, als er diesen jugendlichen Körper vor sich sah, der älter als ein halbes Jahrhundert war. Zögernd streckte er die Hand aus und berührte das weiße Fleisch. Es war kalt und fest. Er blickte sie an und sah, daß sie die Augen geschlossen hatte und den bleichen Mund halb geöffnet, als wollte sie atmen oder wäre gefangen in der Erinnerung erregten Atmens. Ihre Hände faßten nach seinen und drückten sie fest an ihre eisige Haut. In ihren Augen loderte die Glut dieser verlorenen Jahre, und Mitleid erfüllte Nabib. Aber trotz der Kälte, die sie ausströmte, und trotz der Müdigkeit spürte er eine seltsame Erregung bei ihrem Anblick. Er schob den Mantel über ihre Schultern. Dann nahm er das eisige Geschöpf in seine Arme und versuchte, ihm von seiner
Hugh Walker Wärme und seinem Feuer zu geben. Es war, als ob er einen geschmeidigen Stein liebte. Nur die Worte, die wie ein steter Strom aus ihrem Mund kamen, waren voll Feuer. Sie erregten ihn so, daß er die Kälte vergaß. Danach fiel er in einen traumlosen Schlaf.
* Eine rüttelnde Hand und eine Stimme weckten ihn. Als er die Augen öffnete, sah er die Königin über sich gebeugt. »Wach auf, Nabib, mein Freund. Du mußt fort! Rasch!« Ihre Züge waren angespannt, als kämpfte sie gegen etwas in ihr. Der Händler sprang auf. »Königin …?« »Still. Akkratos ist in mir. Er hört alles, was du sagst …« »Wer ist Akkratos?« fragte Nabib und mühte sich, die Schlaftrunkenheit abzuschütteln. Es war noch immer hell. Oder schon wieder? Wie lange hatte er geschlafen? Welch ein Leichtsinn, überhaupt zu schlafen. »So nennt mein Volk auf Ma-
Kampf um die Felsenburg gassa diesen falschen Gott, der nur Tod und Entsetzen über die Menschen bringt …!« Ihr Gesicht verzerrte sich in stummer Abwehr und erstarrte zu einer reglosen Maske. Als der Mund erneut sprach, war es wohl die Stimme Manijas, aber die Worte entströmten einem anderen Geist: Cnossos! »Tod, sagst du, kleine Königin eines kleinen Inselreiches? Lebst du nicht immer noch? Bist du nicht jung und schön, soweit ihr Menschen das vermögt? Hatte ich nicht Geduld mit dir, mehr als deine anderen Götter je hätten? Ließ ich dir diesen Narren nicht als Liebhaber, als du ihn begehrtest? Warum verrätst du deinen Gott? Soll ich dich zerbrechen …?« Aber das Mädchen konnte nicht antworten. Cnossos gab sie nicht frei. Nur Nabib saß erstarrt da und sagte tonlos: »Ist sie nicht schon längst zerbrochen?« Ein dröhnendes Lachen folgte diesen Worten. »Wie es ist, wenn ich einen Menschen zerbreche, Nabib von Thinayda, das wirst du sehr bald sehen, wenn Dragon in meiner Hand ist! Und du, mein Freund, wirst der Köder sein, mit dem
85 ich ihn fange …« »Niemals«, würgte Nabib hervor. Erneut lachte Cnossos aus dem Mund des Mädchens. »Als ob eines von euch albernen, eitlen, nutzlosen Geschöpfen mir widerstehen könnte …!«
9. Spat am Abend, als die Dunkelheit vollkommen war, trafen Dragon und die beiden Drachen im Heerlager ein. Partho erstattete Bericht. Dann sah er besorgt zu den Zinnen hoch. »Er hat Späher am Himmel. Meinst du nicht, daß er die Ankunft der beiden Drachen bemerkt hat?« »Das schadet nichts«, erklärte Dragon. »Er weiß nichts von der kostbaren Ladung, die sie bringen …« Er lächelte, als er Parthos erstauntes Gesicht sah. »Ladung …?« »Nur Amee und ich wußten davon, Freund Partho. Und die Weisen vom Ah'rath, denn von ihnen stammt sie …' »Aber Dragon, warum …?' »Glaube mir, mich bewog kein Mißtrauen zu dieser strengen Geheimhaltung. Aber Cnossos' Schritte sind nicht voraussehbar. Er durfte
86 keinesfalls davon erfahren. Es ist nicht seine Burg, die wir zerstören wollen, sondern er selbst. Er darf nicht mehr Zeit haben zu fliehen …« »Was haben dir die Weisen gegeben.« »Ein Pulver, das sie Donnerpulver nennen, und das Steinmauern auseinanderzureißen vermag. Und eine Flüssigkeit, die besser brennt als Öl, und die niemand zu löschen vermag. Sie nennen sie Götterfeuer. Und diesem Namen wird sie heute nacht alle Ehre machen«, fügte Dragon hinzu. »Bereite deine Männer darauf vor, damit sie nicht erschrecken, wenn das Donnern ertönt. Es ist gewaltig. Es genügt, wenn sie wissen, daß es nicht die Götter sind, die in den Kampf eingreifen …« Partho nickte stumm. »Wenn Cnossos fallt, wirst du ihr Gott sein!« Dragon grinste. »Ein sehr menschlicher Gott …« »Danach wird niemand fragen«, erwiderte Partho. »Und niemand …« Er brach ab, als ein Tumult am Rand des Lagers ausbrach. Gleich darauf schritten Ubali und ein Dutzend Männer auf das Beratungszelt zu.
Hugh Walker »Herr!« rief Ubali erfreut, als er sah, daß Dragon eingetroffen war. Dann warf er etwas vor den Männern auf den Boden, das zuckend umherflatterte und schließlich im Schein der Fackeln erstarrte: ein riesiger Falter! Partho und Dragon starrten gebannt auf das ungewöhnliche Tier. »Ticom hatte recht«, erklärte Ubali. »Es ist der Eingang in die Burg. Wir drangen ein paar Schritte ein und stießen auf eine breite Treppe, die nach oben führte. Es war niemand zu sehen, darum wagten wir uns ein ganzes Stück weiter, als wir sollten. Weiter oben führen Stollen überall in den Berg. Und dann fanden wir diese Biester. Sie hängen überall an den Wänden. Manchmal sieht man den Fels nicht mehr. Das Licht schien ihnen nichts auszumachen, aber unsere Stimmen weckten sie aus dem Schlaf. Und als die ganze Höhle zu flattern anfing, machten wir kehrt. Pelchis bissen zwei im Genick. Sie schlagen diese krummen Zähne in die Haut, und es ist schwer, sie wegzureißen. Das gibt Wunden wie von scharfen Krallen. Es sind sehr viele da drinnen …«
Kampf um die Felsenburg Dragon überdachte Ubalis Bericht. »Aber sie fürchten das Licht, nicht wahr?« »Es scheint so, Herr«, erwiderte Ubali. »Wir konnten sie uns mit den Fackeln vom Leib halten. Aber schließlich waren so viele aufgewacht, daß wir befürchteten, der Wind von ihren Flügeln würde die Fackeln zum Verlöschen bringen …« Dragon nickte. Partho sagte: »So werden wir mit soviel Feuer eindringen, wie wir tragen können …« »Und wenn wir den ganzen Berg in Flammen setzen«, ergänzte Dragon. »Wir werden dieses Nest ausräuchern!« Ubali grinste beifällig, und seine weißen Zähne blitzten im Fackelschein. »Ich brauche zwanzig Männer«, fuhr Dragon fort. »Am besten Freiwillige, die nicht Angst davor haben, auf einem Drachen zu reiten. Schick sie gleich zu den Drachen. Sie mögen dort auf mich warten. Ubali, du bleibst bei mir. Sind Ticom und seine Beobachter noch hier?« Partho nickte. »Laß sie die Zinnen beobachten von allen Seiten. Sie mögen Signal geben, wenn irgend etwas außer den Drachen die Zin-
87 nen oder den Berg verläßt. Cnossos darf nicht entkommen. Nur er ist wichtig!« Partho neigte zustimmend den Kopf. »Laß einen Boten Nachricht zu mir bringen, wann du zum Angriff bereit bist. Gib Ticoms Männern einige deiner Bogenschützen zum Schutz mit und für den Fall, daß Cnossos fliehen sollte. Noch Fragen?« »Nein, Dragon.« »Wann wirst du bereit sein?« »Kurz nach Mitternacht«, erklärte Partho. »Es wird eine Weile dauern, das Brennwerk heranzuschaffen …« »Gut. Ich werde Hotch und Hot-cha Bescheid sagen. Sie brennen darauf, den Geier zu erwischen, der ihren Sohn damals fast getötet hat. Sie hatten Mühe, den Kleinen zu beruhigen, als er erfuhr, daß er in der Stadt bleiben sollte …« Partho grinste. »Dragon hatte ebenfalls Mühe mit unserer Prinzessin …« Dragon erwiderte nichts. Er erinnerte sich, wieviel Überredungskunst es gekostet hatte, Amee davon abzuhalten, mitzukommen. Als er aufblickte, hatte Partho das Zelt verlassen. Nur Ubali
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stand abwartend neben dem Ausgang. Draußen kam Bewegung in das Lager.
* Die drei Tage seines Eingeschlossenseins kamen Nabib wie ein Alptraum vor. Er hungerte. Er fror. Er schlief auf dem nackten Stein. Er befand sich allein in dem Gemach mit Manija. Aber sie saß starr in der Nähe des Eingangs und beobachtete ihn unablässig. Sie war besessen von Cnossos. Sie schlief nicht. Sie sprach nicht. Ihr Blick war nur stumm auf ihn gerichtet und blieb unberührt von den Qualen, die er litt. Nur wenn er sich der Tür näherte oder der Fensteröffnung, kam Bewegung in sie. Dann versperrte sie ihm den Weg. Anfangs hatte Nabib versucht, mit Gewalt an ihr vorbeizukommen. Doch sie besaß Kräfte, die ihn erstaunten. Er erkannte schließlich, daß es nicht ihre Kräfte sein konnten, sondern Cnossos Macht. Am dritten Tag war ihm ein rascher Blick aus dem Fenster gelungen, und der Anblick am Fuß der Burg hatte sein Herz
höher schlagen lassen. Da unten hatte Dragons Heer ein Lager aufgeschlagen. Das erfüllte ihn mit ungeduldiger Erwartung, die ihn seinen Hunger und die anderen Mißlichkeiten vergessen ließ. Aber er fühlte sich schwach. Die kärglichen Früchte, die einer der Zom-bys jeden Morgen gebracht hatte, stillten nur den geringsten Teil seines Hungers und Durstes. Sie schmeckten abscheulich. Mochten die Götter wissen, in welchem Hexengarten sie wuchsen! Die Zeit bis zum Abend schien ihm wie eine Ewigkeit. Alle seine weiteren Versuche, das Fenster zu erreichen, schlugen fehl. Schließlich war er so schwach, daß die Wände sich um ihn drehten, wenn er sich erhob. Als die Dunkelheit fiel, regte sich noch immer nichts, und Nabib glaubte das Warten nicht mehr langer ertragen zu können. Er versank in dumpfes Brüten. Kurz vor Mitternacht wurde das Mädchen endlich lebendig. Sie kam auf ihn zu und sagte: »Steh auf. Der Meister wünscht uns zu sehen.« Er folgte ihr mühsam. Sie stützte ihn, als sie aus dem Gemach schritten. Es war ihre
Kampf um die Felsenburg Stimme, die sprach. Es waren auch ihre Worte, dennoch fühlte er, daß sie nicht frei war von Cnossos Geist. Sie schritten durch lange, nachtdunkle Gänge, und Nabib war dankbar, daß sie ihn führte, auch wenn ihr Griff kalt war. Er mußte Dragon warnen! Die einstige Königin von Magassa führte ihn in einen großen Saal, in dem ebensowenig ein Licht brannte, wie auf den Gängen. Nirgends in diesem Schloß schien ein Licht zu brennen. Es lag im Schoß der Finsternis selbst. Nur schwaches Sternenlicht fiel durch mehrere gewaltige Fensteröffnungen. Von irgendwo aus dem schwarzen Hintergrund des Saales kam Cnossos Stimme: »Geh ans Fenster, Krämer!« Trotz seiner instinktiven Furcht fuhr Nabib herum. Krämer war ein Schimpfwort für ihn, das schon mancher bereut hatte. Die Wut richtete ihn auf. Er vermochte sogar die Fäuste zu ballen, selbst wenn er dabei zitterte. »Du sollst den Angriff dieser Narren mit eigenen Augen sehen. Ich werde Dragon wissen lassen, daß du hier bist und was dir geschieht, wenn er bewaff-
89 net den Fuß in dieses Haus setzt. Aber ihre Bemühungen interessieren mich. Ich möchte wissen, welchen Plan sie haben. Dragon hat Verstand - oder er wäre längst tot. Ich will sehen, was dieser Verstand ausgebrütet hat, bevor ich ihn vernichte.« Manija führte Nabib zu einem der Fenster. Er blickte hinab und bekämpfte den Schwindel, der ihn befiel. Ein mehr von flackernden Lichtern funkelte dort unten in der Finsternis der Landschaft heller als der sternenübersäte Himmel. Wenn er nun sprang, war alles in einem langen Augenblick vorbei. Er würde nur einer der Gefallenen sein, die der Morgen sah. Wie viele fielen wohl heute nacht in dem erbarmungslosen Kampf - während er hier auf schwachen Knien stand und nichts dazu beitrug, außer Dragon in einen Gewissenskonflikt zu bringen … Er holte tief Atem. Iwas Bild war einen Moment lang in ihm. Sie lächelte. Er spannte die kraftlosen Muskeln … Manijas kalte Hände ergriffen ihn und hielten ihn fest - nicht mehr mit der Kraft Cnossos'; nur mit ihrer eigenen, aber sie reichte aus. Nabib sank schluch-
90 zend zurück und ließ es zu, daß sie ihn umklammerte und an sich drückte und mit kalten Armen festhielt. Nicht mit Gewalt - sondern zärtlich … Er spürte, daß etwas in ihr vorging. Es war schwer, ihr Gesicht zu sehen in dem vagen Licht. So schlang er ebenfalls die Arme um sie, und es war ein süßes Gefühl, so zu stehen. Er spürte nicht einmal die Kälte ihres Leibes. Aber er spürte etwas anderes: aus irgend einem verborgenen Quell schöpfte er Kraft, nun da er nicht länger diese quälende Angst fühlte. Instinktiv erkannte er, daß das Mädchen in diesem Augenblick den Bann abgeschüttelt hatte. Er ahnte auch, warum. Cnossos' Aufmerksamkeit galt anderen Dingen. Die Fackellichter tief unten setzten sich in Bewegung. Einer langen Schlange gleich kamen sie ein Stück den Berg herauf und verschwanden zwischen den Felsen. Cnossos lachte leise. »Sie versuchen es wahrhaftig durch das Gewölbe …!« Die Falter, dachte Nabib und schauderte. Wußten die Männer, was sie erwartete? »Ah, und die beiden Dra-
Hugh Walker chen«, kam erneut Cnossos' Stimme. Er lachte wieder. »Sie dürsten nach Rache, weil ich ihrem Balg in die Quere kam … Wir werden sie gebührend empfangen …! « Im nächsten Augenblick wurde der Saal lebendig. Gestalten eilten beinahe lautlos quer durch und besetzten die Zinnen jenseits: Zom-bys, oder Uh-toth, wie Manila sie bezeichnet hatte. Dragons Männer würden es nicht leicht haben. Es gab keinen Menschen auf dieser mörderischen Burg, den ein einfacher Schwertstreich erledigen konnte. Aber er wußte auch, daß Dragon ein Narr wäre, wenn er dies nicht bedacht hatte nach all den Erlebnissen der letzten Monde. Schweigen war eine lange Zeit, während der Fackelwurm im Berginnern verschwand. Von den Drachen, die Cnossos erwähnt hatte, sah Nabib keine Spur. Das Mädchen erstarrte plötzlich in seinen Armen. Er wußte, daß Cnossos wieder in ihr war. Dennoch kam aus der Finsternis des Saales seine Stimme. »Berichte unserem blinden Freund, was du siehst!« Das Mädchen begann zu
Kampf um die Felsenburg sprechen. In ihrer eigenen Stimme und mit ihren eigenen Worten. Sie beschrieb Bilder, die Cnossos sie mit einem magischen inneren Auge sehen ließ … »Ich sehe viele Krieger in den Gewölben unter uns. Ihre Fackeln geben ein Licht, wie es diese Wände da unten noch nie gesehen haben. Ihre Stimmen hallen wider. Sie wecken die Falter von Khyrs aus ihrem Schlaf. Sie wecken ihren Hunger …« Ihre Stimme zitterte vor Furcht. »Das Gewölbe ist erfüllt vom Wind der Flügel und von den stummen Schreien der Schmetterlinge, denen der näherkommende Glanz die Kraft aus den Körpern frißt. Die Untoten stürmen voran. Sie müssen helfen. Sie tauchen hinein in die weiße flatternde Wand … spitze Zähne schlagen zu … wir … sind bedeckt von weißen Leibern … in ihrem Hunger unterscheiden sie weder Freund noch Feind. Wir fallen … wir sind frei. Brandgeruch erfüllt die Höhle. Viele der Falter ersticken … Wir liegen im Staub und immer wieder schlagen spitze Zähne in unser Fleisch …
91 Der wogende Vorhang wird dünner. Alles weicht zurück vor dem Glanz des Lichtes, das große Flammen verbreiten. Salven von Feuerpfeilen singen uns entgegen und erhellen selbst den letzten Winkel des Gewölbes. Das stumme Schreien der Falter ist teuflisch in unseren Schädeln. Wahnsinnigen gleich springen wir den Angreifern entgegen, die auf langen Spießen einen wahren Feuervorhang die Stufen heraufschieben. Wir versuchen sie ihnen aus den Händen zu reißen. Aber das Feuer verbrennt unser Fleisch. Selbst die Pfeile, die uns durchbohren, bringen unser unsterblich gewordenes Fleisch zum Schmelzen … Wir töten viele in diesem ersten Ansturm. Aber sie haben gelernt! Sie stoßen ihre Schwerter nicht länger in unsere Leiber, wo sie nutzlos wären, weil das Fleisch sich wieder schließt. Sie haben gelernt, uns zu töten! Mit ihren krummen Klingen schlagen sie uns die Köpfe ab … oh, Cnossos!… das ist nicht mehr wie in alten Zeiten, als wir mächtig waren durch deine Macht …!« Ein unartikulierter Aufschrei
92 folgte, der Nabib erzittern ließ. Dann - Schweigen. Ein ferner Lärm bebte durch die mächtigen Mauern. Das Schreien und Kämpfen von Männern. Erleichterung war in Manijas Stimme. »Keines von deinen unsterblichen Geschöpfen lebt mehr da unten, Herr.« »Das Feuer wird verlöschen. Dann kommt die Stunde der Falter«, erwiderte Cnossos. »Hundert meiner Untoten sind mehr wert als tausend von Dragons Kriegern. Aber das Spiel hat lange genug gewährt. Jetzt wollen wir Dragon …« Cnossos' Stimme brach ab. Kampflärm scholl von den Zinnen herein in den Saal, begleitet vom mächtigen Brüllen der Drachen. Schwerter klirrten und trafen dumpf, gefolgt von Schreien. Da war ein langgezogener Schrei, der in der Tiefe verstummte. Ein erneutes Brüllen der Riesenechsen. Die Mauer erbebte. Steine polterten hinab. Das Gespenstische war, daß von der Seite der Verteidiger kein Laut erscholl. Cnossos war in jedem der Kämpfer. Ein Blitz zuckte über den Nachthimmel. Ein gewaltiger Donner ließ die Wände erzit-
Hugh Walker tern. Aus dem Fenster sah Nabib, wie große Steine und Mauerteile in die Tiefe stürzten. Wieder ein Blitz, und der Donner fast gleichzeitig. Der Saal schien zu bersten. Die Mauer wölbte sich nach innen, klaffte auf. Eine gewaltige Faust riß Nabib und das Mädchen zu Boden. Das Prasseln und Poltern von Trümmern löschte alle anderen Geräusche aus. In der nachfolgenden Stille, in der Nabib voll Verwunderung erkannte, daß er noch lebte, sprangen mehrere Gestalten durch ein riesiges Loch in der Wand, allen voran ein schwarzer Teufel, der in der linken Hand eine Fackel, in der Rechten einen langen Dolch schwang. Seine Augen und seine Zähne leuchteten im Widerschein der Flammen und ließen ihn wie einen rächenden Dämon erscheinen. Manija schrie auf, als sie ihn sah. Aber Nabib hielt sie fest. »Ubali!« rief er schwach. Die Fackel des Schwarzen fuhr herum und beleuchtete die Gestalten am Boden. »Händler Nabib!« rief er und grinste begeistert. Dann sah er das Mädchen an seiner Seite kauern. Sein Grinsen schwand. »Eine Zom-ba!« knurrte er.
Kampf um die Felsenburg Er faßte nach ihrem Haar, riß den Kopf hoch, ungeachtet der schreckgeweiteten Augen, und senkte den Dolch herab zu einem raschen Schnitt über die Kehle. Nabib warf sich mit einem Aufschrei dazwischen. »Nein, Ubali! Sie ist keine Zom-ba!« »Keine Zom-ba?« wiederholte Ubali verständnislos. Dann zuckte er die Schultern. »Kannst du gehen, Händler Nabib?« »Ja, Ubali«, seufzte Nabib erleichtert. »Jetzt kann ich sogar laufen, wenn es sein muß …« Der Schwarze grinste, winkte mit dem Dolch und schloß sich drei oder vier Soldaten an, die ins Innere der Burg stürmten. Das Licht ihrer Fackeln zeigte Nabib, daß der Saal leer war. Cnossos war verschwunden. Er warf einen wachsamen Blick auf Manija - aber Cnossos schien andere Sorgen zu haben, als sich um eine widerspenstige Untote zu kümmern. Er zerrte sie auf die Maueröffnung zu. Einer der Drachen tauchte eben über die Zinnen empor mit gewaltigem Flügelschlag. Ein halbes Dutzend Männer sprangen von seinem Rücken und kamen auf die beiden zu. Nabib hielt sie an.
93 »Wir müssen die Tore zu den Gewölben öffnen!« rief er. »Manija, du kennst den Weg?« Das Mädchen nickte. Sie eilte voran. Nabib hinter ihr her. Die anderen folgten. Nabib erbat eine der Fackeln. Er kam bald ins Keuchen. Aber der Tatendrang, der ihn mit dem Hereinstürmen der ersten Eroberer erfaßt hatte, stritt erfolgreich mit seiner Erschöpfung. »Bist du nicht Nabib, der Händler?« fragte einer der Soldaten. »Der bin ich«, keuchte Nabib. »Wie kommst du hierher?« »Das erzähle ich dir in Dalacs Schenke - wenn wir hier heil wieder herauskommen …« Der andere lachte. Als sie die schweren Türen zu den unterirdischen Gängen aufrissen, hörten sie den Kampflärm aus den Gewölben herauf. Nabib hatte alle Mühe, die sechs Männer davon zu überzeugen, daß sie zu schwach waren, dem flatternden Feind in den Rücken zu fallen. Aber als die ersten der weißen Schmetterlinge durch die Tür kamen und mit ihren tückischen Augen in den Fackelschein starrten, begannen sie es einzusehen.
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»Wir müssen Dragon finden. Rasch!« rief ihr Anführer. »Wo ist Cnossos?« fragte Nabib das Mädchen. Sie zögerte einen Augenblick. Dann sagte sie: »Entweder ist er gleich geflohen, oder er hat sich verkrochen und wartet auf eine günstige Gelegenheit dafür …« Plötzlich aber schien ihr ein anderer Gedanke in den Sinn zu kommen. »Es gibt noch einen Ort, wo er sein könnte. Es ist ein Raum in dieser Burg, den vermag nichts zu zerstören. Darin verwahrt er wertvolle Dinge.« »Die Schatzkammer!« rief einer der Soldaten. Die einstige Königin nickte. »So könnte man es nennen.« »Schatzkammer?« entfuhr es Nabib. Er hatte es plötzlich sehr eilig. Sein verlorener Reichtum kam ihm in den Sinn, und neue Kräfte erfüllten ihn. »Worauf warten wir noch? Mich hat immer schon interessiert, welche Schätze Götter zusammentraten …!«
* Nachdem die beiden Krüge mit Donnerpulver ein großes Loch in das große Mittelgebäu-
de der Burg gerissen hatten, stürmte er mit seinen Männern ins Innere - voran Ubali, der es nicht erwarten konnte, Dragons Leben in der Schlacht zu schützen. Dragon verstand diese Ergebenheit nicht. Er hatte den Schwarzen in Zainus Lager besiegt und war gewohnt, vom Unterlegenen eher Haß als Liebe zu erwarten. Aber er schätzte Ubali als Kämpfer, der keine Angst hatte und mit seinen nackten Armen oder einem Dolch wirksamer und umsichtiger handelte, als die meisten mit Schild und Schwert. An der Mauer hielt Dragon inne. Die Chance, daß Cnossos irgendwo ins Freie schlüpfte, war groß. Hot-cha würde mit dem Transport der Krieger allein zurechtkommen. Er rief Hotch und bat ihn, über der Burg zu kreisen und alles erbarmungslos anzugreifen, das die Burg auf dem Luftweg zu verlassen versuchte. Dann eilte er seinen Männern nach. Im Fackelschein sah er, daß der Saal leer war. Nur an einem der Fensteröffnungen lag ein Toter in einem schwarzen Mantel. In einem schwarzen Mantel? Das war seltsam. Neugierig trat er näher und beugte
Kampf um die Felsenburg sich über die reglose Gestalt. Er drehte sie herum. Es war ein Mädchen von großer Schönheit. Und sehr jung. Ihr Gesicht war weiß unter dem Schleier des schwarzen Haares. Sie war tot. Aber Dragon erkannte auch, daß sie bereits seit langer Zeit nicht mehr gelebt hatte. Ihr Körper unter dem kostbaren schwarzen königlichen Mantel war der einer Untoten. Daß ihr Körper noch nicht zu verwesen begonnen hatte, erstaunte ihn. Aber jetzt war keine Zeit, darüber nachzudenken. Er fand den Ausgang aus dem Saal und eilte den Korridor entlang. Gleich darauf stieß er auf seine Männer, die auf ihn warteten, den verschlossenen Krug mit dem Götterfeuer vorsichtig aus der Reichweite der Fackeln gestellt. »Keine Spur von Cnossos oder seinen Untoten?« »Nein, Dragon. Der Saal war leer, als wir hineinstürzten …« »Nur Ubali fand jemanden!« erklärte ein anderer. »Es war Nabib, der Händler, Herr!« meinte Ubali und schüttelte nachträglich verwundert den Kopf. »Er hatte eine Zomba bei sich und erklärte mir, sie
95 wäre keine Zom-ba …« »Ein junges Mädchen?« fragte Dragon. »In einem schwarzen Mantel?« Ubali nickte eifrig. »Er warf sich dazwischen, als ich sie töten wollte. »Sie ist tot«, erklärte Dragon. »Ich sah sie liegen. Nabib allerdings ist verschwunden …« »Das bedeutet«, warf einer ein, »daß es einen anderen Ausgang aus der Halle gibt, denn hier ist er nicht vorbeigekommen …« »Das wollen wir uns ansehen.« Dragon wandte sich an Ubali. »Warum hast du ihn nicht mitgenommen?« »Ich fragte ihn, ob er gehen könne. Er sagte ja. Aber er war so um das Mädchen besorgt und schien es nicht eilig zu haben, sich uns anzuschließen. Er sah nicht aus, als ob er Hilfe brauchte …« Dragon nickte. »Suchen wir den Ausgang.« Sie fanden ihn gleich darauf in der Nähe des Fensters. Steile Treppen führten hinab. Sie folgten eine Weile, nicht ohne am Eingang eine Wache zurückzulassen, die den nachfolgenden Männern den Weg weisen sollte.
96 Als sie tiefer hinabkamen, vernahmen sie den Kampflärm aus dem Berggewölbe. Dragon begann zu zweifeln, ob sie den richtigen Weg gewählt hatten. Er beschleunigte seinen Schritt und fand sich plötzlich vor einer offenen Tür, aus der unzählige der weißen Falter quollen. Das mußte der Weg in das Gewölbe sein. Er wollte zurückweichen, als er merkte, daß sein Amulett pulsierte. Das konnte nur bedeuten, daß Cnossos nahe war. Sicher nicht im Gewölbe, wo Parthos Streitmacht heranrückte. »Weiter!« befahl er. Mit schwingenden Fackeln und Schwertern liefen sie durch den flatternden Vorhang weißer Schwingen und fanden jenseits eine Treppe, die nach oben führte. Sie behielten die schnelle Gangart bei. Dragon bemerkte, daß sein Amulett stärker pulsierte. Sie mußten sich demnach auf dem richtigen Weg befinden. Bald vernahmen sie Stimmen voraus, die mit jedem Schritt deutlicher wurden. Dragon gab seinen Männern ein Zeichen und legte den Finger an die Lippen. Er gab dem nächsten seine
Hugh Walker Fackel und schlich allein in den dunklen Gang. Ein enger Korridor kreuzte ihn, und dann noch einer. Aus diesem kamen die Stimmen. Vorsichtig wagte Dragon einen Blick. Verwundert erkannte er einen Teil seiner Männer, die nach ihm auf den Zinnen gelandet sein mußten; daneben Nabib, den Händler, und das Mädchen in dem schwarzen Mantel. Sie machte sich an einer Tür zu schaffen. Die Anwesenheit des Mädchens verwirrte ihn. Gab es einen kürzeren Weg aus der Halle hierher? Wenn nicht, dann lag sie noch immer dort oben, und dies war … Sein Amulett pulsierte so kräftig, als wäre Cnossos in seiner unmittelbaren Nähe. Keine zehn Schritte entfernt wie das Mädchen! Dragons Gedanken rasten. Cnossos konnte viele Gestalten annehmen, das hatte er bereits selbst gesehen. Rasch schlich er zu einem seiner Männer zurück. Für ihn gab es keinen Zweifel mehr: Das Mädchen mußte Cnossos sein, der im Schutz Nabibs aus der Falle zu schlüpfen hoffte. »Rasch, das Götterfeuer!«
Kampf um die Felsenburg zischte er seinen Männern zu. »Wir haben ihn. Leise.« Während er seinen Männern voraneilte, öffnete er den Verschluß des uralten Kruges. Die Flüssigkeit roch stark, und er wendete sich angewidert ab. Dragon spähte in den Seitenkorridor und sah, daß das Mädchen, beziehungsweise Cnossos, die Tür geöffnet hatte und ins Innere schlüpfte. Bevor sie zufallen konnte, zwängte sich Nabib hinterdrein, mit einer Hast, die Dragon verwunderte. Was gab es da drinnen zu sehen? Einerlei! Jetzt war der ersehnte Augenblick! »Zur Seite!« rief er und sah befriedigt, wie seine Männer aus dem Weg sprangen. Auch Nabib drehte sich um und erkannte Dragon. Dann stand Dragon in der Tür, sah die weit aufgerissenen Augen des Mädchens. Er hob den Krug. Nabib schien mit einemmal zu erfassen, was Dragon vorhatte. Er sprang auf ihn los, erkannte, daß er zu spät kommen wurde, und wandte sich dem Mädchen zu. Dragon warf. Ein Schatten schnellte an ihm vorbei in den Raum und faßte den entsetzten Händler Der Krug traf das Mäd-
97 chen in der Körpermitte und ergoß die Flüssigkeit über sie. Noch bevor die Fackel fiel, begann sich der Körper zu verändern. Mantel und Leib verschmolzen und Gefieder sproß. Dann traf die Fackel den Boden vor der Gestalt. Ein Feuervorhang loderte auf und lullte den Raum mit heller Glut, vor der Ubali mit Nabib am Arm auf die Tür zueilte. Bereits war die Glut selbst am Korridor kaum mehr zu ertragen, aber die Männer vermochten sich nicht loszureißen von dem infernalischen Schauspiel. Da tanzte mit schrillen Schreien ein Geier in den Flammen. Seine Gestalt schrumpfte, verschwand. Eine breiige Flüssigkeit griff mit langen Fingern über den Boden der seltsamen Kammer, der weder Fugen noch Ritzen besaß. Und überallhin folgte das Feuer. Dann wurde alles still und reglos. Nur noch die Flammen wogten mit leisem Donner, und die heiße Luft nahm den Männern den Atem. »Vorbei«, murmelte Dragon, während er vor der Glut zurückwich. »Sie war eine Königin«, murmelte Nabib. Dragon schüttelte den Kopf.
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»Sie nicht, Freund Nabib. Deine Königin liegt oben im Saal. Ich fand sie … tot.« Und grimmig fügte er hinzu: »Das war sein letztes Werk. Der Gott der vielen Namen ist getilgt vom Antlitz dieser Welt!«
* Auf dem Weg zurück zu den Zinnen begegneten sie den ersten von Parthos Männern, die aus dem Gewölbe stiegen - rußgeschwärzt und aus vielen Wunden blutend. Als sie erfuhren, daß Cnossos tot war, stimmten sie ein Geschrei an, das Ticom und seinen Männern am Fuß des Berges eisige Schauer über den Rücken jagte, wie sie Monde später noch jedermann berichteten. Auf diesem Weg begegneten sie vielen toten Zom-bys in den Gängen, von denen nur die wenigsten im Kampf gefallen waren. Es schien keine andere Erklärung dafür zu geben, als daß an das Verlöschen von Cnossos' leitender Kraft, an seinen Tod auch ihr Tod geknüpft war - und sie Erlösung fanden von dieser dämonischen Sklaverei. Ihre Leiber verwesten, und die Burg war erfüllt von Fäulnis. Doch da
und dort schlug die reinigende Gewalt des Feuers durch. Unter all den faulenden Leibern der Untoten blieb einer seltsam rein: der der jungen Königin, der noch vor dem Fenster lag. Nabib betrachtete ihn stumm. Dann sagte er mit rauher Stimme: »Ubali, leih mir dein Messer …« Er nahm es und schnitt eine Strähne des schwarzen Haares ab - eine Erinnerung an die Königin, die er geliebt hatte in der verzweifeltsten Nacht seines Lebens … Als er einen Blick zurückwarf, während die Gefährten auf die Zinnen liefen und auf die Rücken der Drachen kletterten, sah er, daß ihr Gesicht seltsam leuchtete unter dem hellen Schein des Feuers, das sich in die Halle fraß. Ihr wunderschöner Körper würde nun nicht länger kalt sein, dachte er. Der Glut des Feuers konnte sich nichts verweigern. Es war ein tröstlicher Gedanke.
* Dragons Heer strömte aus dem Berg, begleitet vom Donnern der schweren Steinlawi-
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nen, welche die einstürzenden Burgmauern auf ihrem Weg in die Tiefe auslösten. Der gesamte Berg schien einem Vulkan gleich von innerem Feuer erfüllt. Die Burg war eine mächtige Fackel, die ein stolzer Gott hoch in den nächtlichen Himmel hielt. Das ganze Tal war hell wie unter der Mittagssonne, und die gleiche Hitze machte den erschöpften Männern das Atmen schwer. Dragon trieb sie zur Eile an. Das Schauspiel war gewaltig, aber er wollte es aus sicherer Entfernung sehen. Der Berg drohte sie alle zu erschlagen. Als sie das Lager abgebrochen hatten und nach Osten ritten, sank der Berg hinter ihnen zusammen, und das Land erbebte. Ein gutes Omen, dachte Dragon und lächelte. Die Anspannung der letzten Stunden löste sich. Amee, das ist mein Geschenk zur Krönung … meine geliebte Königin. Wir alle atmen wieder frei!
Ubali erschien neben ihm. »Herr, ist es ein Zeichen der Götter, das nichts Gutes ahnen läßt, wie in meiner Heimat? Ich sah zwei ungewöhnlich große Raben über der Spitze unseres Heeres kreisen, als wir aufbrachen …« »Raben?« erwiderte Dragon, verstimmt über die Unterbrechung seiner Gedanken. »Du mußt dich irren, Ubali. Raben meiden die Nacht!« »Nur die gewöhnlichen, Herr«, antwortete Ubali ernst. »Nicht die der Götter. Das ist ein altes Wort meines Volkes.« Dragon gab keine Antwort. Der Adler am Ah'rath kam ihm in den Sinn. Der Späher! Und dann Dilorns Worte: »Dies ist auch ein Teil von Cnossos' Körper!« Er ritt sehr nachdenklich in dieser Nacht.
ENDE
Die Felsenburg, das mächtige Bollwerk des Cnossos, in dessen Mauern sich jahrhundertelang schreckliche Dinge zutrugen, ist nicht mehr. Auch der Balamiter selbst ist so schwer angeschlagen, daß
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viele ihn bereits für tot halten. Doch noch existieren Helfershelfer des Balamiters in der Nähe von Urgor, und sie arrangieren den RAUB DER PRINZESSIN … RAUB DER PRINZESSIN so heißt auch der nächste DragonBand. Autor des Romans ist Peter Terrid, der Verfasser vieler TERRA-ASTRA-Bände.