LESLIE CHARTERIS
KENNEN SIE
DEN HEILIGEN?
Ein klassischer Kriminalroman aus dem Jahre 1935
WILHELM HEYNE VERLAG MÜ...
38 downloads
663 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
LESLIE CHARTERIS
KENNEN SIE
DEN HEILIGEN?
Ein klassischer Kriminalroman aus dem Jahre 1935
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE-BUCH Nr. 1935
im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der englischen Originalausgabe
THE SAINT CLOSES THE CASE
Deutsche Übersetzung von Ilse Adolph
Copyright © 1935 by Leslie Charteris
Copyright © der deutschen Übersetzung
by Sigbert Mohn Verlag, Gütersloh
Printed in Germany 1981
Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs & Schütz, München
Gesamtherstellung:
Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh
ISBN 3-453-10522-2
Ein Telegramm von Chefinspektor C. E. Teal von Scotland Yard setzt die Polizei von New York City in Alarmbereitschaft. Teal informiert darin seine amerikanischen Kollegen von der Tatsache, daß sich Simon Templar, genannt der »Heilige«, in den USA befindet. Und wo der »Heilige« auftaucht, gibt es Probleme – zuerst einmal für die anwesenden Gauner und nicht zuletzt auch für die Polizei, die allerdings meist nur mehr Aufräumungsarbeiten zu erledigen hat. Und wären da nicht auch noch einige attraktive Damen im Spiel, würde der »Heilige« seinem Namen keine Ehre machen. LESLIE CHARTERIS geboren 1907 in Singapur, schuf mit Simon Templar, dem »Heiligen«, eine der berühmtesten Detektivfiguren in der Kriminalliteratur. Simon Templar ist ein äußerst intelligenter Dandy, er liebt schöne Frauen und hat Humor, hilft den Wehrlosen und verfolgt und straft die Schurken. Charteris’ Bücher mit dem »Heiligen« als Titelhelden erreichten Millionenauflagen auf der ganzen Welt.
Vorspiel
Es wird behauptet, daß in unserer hektischen Zeit keine Zeitungsmeldung das Interesse der Öffentlichkeit länger als eine Woche beanspruchen könne. Journalisten und Redakteure altern daher rasch und werden vor der Zeit glatzköpfig und mies; Kegeln und Kniebeugen nützen da gar nichts. Jeden Tag muß eine neue Sensation her, und jede Sensation muß die vorhergehende übertreffen, bis sich dem Wörterbuch keine Superlative mehr entringen lassen und die Einfallskraft versagt, wenn es darum geht, für morgen eine Story zu finden oder zu erfinden, die phantastisch und ungeheuer genug ist, um das Meisterstück von gestern aus dem Feld zu schlagen. Daß es dem berüchtigten Abenteurer mit dem Namen der ›Heilige‹ gelang, nach seinem ersten Auftauchen in den Schlagzeilen drei Monate lang die Anteilnahme der Bevölkerung wachzuhalten und somit sämtliche Rekorde dieser Art zu zerfetzen, verdankte er ausschließlich seiner persönlichen Energie und seinem Unternehmungsgeist. Die geplagten Sensationsmacher in Londons Fleet Street hießen ihn mit offenen Armen willkommen. Endlich einmal konnte die fieberhafte Jagd nach Neuigkeiten eine Weile abgeblasen werden. Der ›Heilige‹ lieferte alles, was selbst der anspruchsvollste Redakteur sich immer wünschen konnte – ausgenommen, versteht sich, die krönende Sensation seiner eigenen Festnahme und Gerichtsverhandlung. Aber jedes seiner neuen Abenteuer war kühner als das letzte, und nie ließ er das von seinem letzten Auftreten geschürte Interesse ganz abklingen, bevor er sein verblüfftes Publikum mit einem noch verwegeneren Bravourstück überraschte.
Und diese unternehmungsfreudigen Ungesetzlichkeiten dauerten gut und gerne drei Monate an, und in dieser Zeit legte der ›Heilige‹ mit triumphalem Erfolg Hand an Person und Besitz einiger zwanzig Bösewichte. So geschah es, daß der ›Heilige‹ sich in diesen drei Monaten mit einer Aura von Furcht und Schrecken umgab, so daß Männer, die sich seit Jahren damit brüsteten, das Gesetz könne ihnen nichts anhaben, in Ängsten zu wandeln begannen; und das Zeichen des ›Heiligen‹, ein kurioses Männchen mit Strichleib und Strichgliedern – so wie Kinder es zeichnen –, aber über dem kahlen Rundkopf mit einem absurden Heiligenschein, wie Kinder ihn sich nur recht selten als Zusatz zu ihren Kunstübungen einfallen lassen – in einfachem Briefumschlag an der Haustür abgeliefert, erwies sich als ebenso verhängnisvoll wie das schärfste Urteil, das irgendein Richter einer Strafkammer jemals ausfertigen konnte. Was genau dem entsprach, was der ›Heilige‹ sich ersehnt hatte. Es amüsierte ihn beträchtlich. Meistens arbeitete er insgeheim und unsichtbar, und seine Opfer konnten der Polizei nichts Handfestes vorweisen, mit dessen Hilfe man ihm auf die Spur hätte kommen können. Aber manchmal ließ es sich nicht vermeiden, daß er dem Mann, an dessen Sturz er arbeitete, nicht unbekannt war; und in einem solchen Falle war das grimmige Schweigen der geschädigten Partei einer der überraschendsten Züge der ganzen geheimnisvollen Angelegenheit. Chefinspektor Teal hatte sich nach einer Reihe fruchtloser Versuche darein gefügt, die Aufgabe, Opfer des ›Heiligen‹ zur Aussage zu bewegen, als ein undankbares Geschäft aufzustecken. »Man könnte genauso gut versuchen, eine taubstumme Auster in einem Chloroformkanister zum Piepsen zu bringen«, sagte er zu seinem Vorgesetzten. »Entweder knöpft der ›Heilige‹ sich seinen Mann niemals vor, wenn er nicht außer
seinem Beweggrund noch einen zweiten Klagepunkt hat, mit dem er ihn zum Schweigen zwingen kann, oder aber er hat das Geheimnis entdeckt, wie man jemandem so überzeugend drohen kann, daß er es auch am nächsten Tag noch glaubt – und an allen nachfolgenden Tagen.« Teals Theorie war recht schlau und auch gut fundiert, aber sie wäre gewiß schlauer und besser fundiert und durchdacht gewesen, hätte er mehr Phantasie besessen. Aber Mr. Teal setzte wenig Vertrauen in Dinge, die er nicht sehen und festnehmen konnte, und er hatte niemals Gelegenheit gehabt, den ›Heiligen‹ in Aktion zu sehen. Es ergaben sich jedoch auch Fälle, in denen der ›Heilige‹ nicht zu Erpressung und Nötigung Zuflucht zu nehmen brauchte, um sich des Schweigens derer zu versichern, in deren Geschäfte er sich einmischte. Da war zum Beispiel der Fall eines Mannes namens Golter, eines Anarchisten und unverbesserlichen Unruhestifters, der sich damit großtat, daß er jedes Gefängnis in Europa von innen kannte. Er gehörte keiner politischen Gruppe an und hatte allem Anschein nach auch kein Evangelium zu offerieren außer seiner eigenen Zerstörungswut. Dabei war er alles andere als ein harmloser Verrückter. Er war der Anführer einer Vereinigung, die sich die Schwarzen Wölfe nannte. Fast jedes Mitglied der Vereinigung hatte bereits zu irgendeiner Zeit eine schwere Strafe für politische Vergehen verbüßt; Vergehen, die in der Regel aus Attentaten bestanden, gewöhnlich mittels Bombenwurf. Die Beweggründe solcher Vereinigungen und die Mentalität ihrer Mitglieder werden stets der Spekulation der Psychiater interessanten Spielraum bieten, aber es werden sich auch Fälle ergeben, wenn das Interesse an ihnen aufhört, rein geistige Zerstreuung der Wissenschaftler zu sein und zu einem
praktischen Problem für alle die wird, deren Aufgabe es ist, mit Hilfe der Gesetze die Ruhe im Lande aufrechtzuerhalten. Das Gesetz wurde dieses Umstandes inne und nahm gleichzeitig ziemlich erschrocken die Existenz der Schwarzen Wölfe zur Kenntnis, nachdem innerhalb einer Woche zwei Fabriken in Nordengland von Explosionen heimgesucht wurden, denen nicht wenige Menschenleben zum Opfer fielen, und die Kugel eines unentdeckt gebliebenen Heckenschützen wahrhaftig dem Innenminister über den Rücken pfiff, als er vor dem Unterhaus in seinen Wagen stieg. Das Gesetz fand Golter. Aber der Mann, der den Auftrag hatte, ihn zu beschatten und über seinen jeweiligen Aufenthalt Bericht zu erstatten, brachte es fertig, ihn an dem Nachmittag aus den Augen zu verlieren, an dem ein Kronprinz mit Staatsgepränge zu einem vom Bürgermeister veranstalteten Festessen durch die Straßen Londons fuhr. Der Festzug war so organisiert, daß er über den Strand und die Fleet Street in die City führte. Aus einem kleinen Büro, das er zu diesem Zweck in der Southampton Road gemietet hatte und von dem die Polizei nichts wußte, war Golter mit Leichtigkeit auf die Dächer der Häuser auf der Nordseite der Fleet Street gelangt. Da saß er in mehr oder weniger bequemer Haltung zwischen den Schornsteinaufsätzen, von denen er in die Straße hinunterblicken konnte, während bewaffnete Männer London nach einer Spur von ihm durchkämmten und ein besorgter Polizeipräsident ein doppeltes Aufgebot von Kriminalbeamten an die Straßen befahl, die der Festzug benutzte. Golter war ein vorsichtiger und bedachter Mann, und er besaß gute Grundkenntnisse in der Dynamik. Er wußte auf den Zentimeter genau, wie hoch über der Erde er saß, und er hatte genau berechnet, wie lange der Sprengkörper brauchen würde, um auf die Straße zu fallen. Der Zünder war demgemäß
eingestellt. Außerdem hatte er, ebenfalls in der Fleet Street, aber ein wenig weiter auf den Strand zu, die Entfernung zwischen zwei Laternenpfählen gemessen. Mit Hilfe einer Stoppuhr würde er feststellen, wie lange der Wagen an der Spitze benötigte, um von einem zum anderen zu fahren. Sodann würde er einen exakten Plan zu Rate ziehen, den er vorbereitet hatte, und mit seiner Hilfe ohne weitere Kalkulation feststellen können, in welchem Augenblick er die Bombe werfen mußte, damit sie genau auf den Rücksitz des Kronprinzenwagens fiel, wenn er unten vorbeifuhr. Golter war stolz auf die wissenschaftliche Präzision, mit der er jede Einzelheit ausgearbeitet hatte. Er rauchte eine Zigarette, trommelte mit den Absätzen leise auf dem Bleidach. In fünfzehn Minuten sollte der Festzug an dieser Stelle eintreffen, so war es im amtlichen Zeitplan vorgesehen, aber schon jetzt drängte sich unten in der Straße eine dichte Menschenmenge, die die Gehsteige überflutete und hinderliche Fühler in den Verkehrsstrom vorstreckte. Wie ein Ameisenhaufen sieht die Menschenmasse aus, mußte Golter denken. Bourgeoise Insekten. Er vergnügte sich mit dem Gedanken an das ameisenhafte Durcheinander, das dem Explodieren seiner drei Handgranaten folgen würde. »Ja, das müßte ein interessantes Schauspiel abgeben.« Golters Kopf fuhr herum, als habe ein unsichtbarer Draht mit einem Ruck daran gerissen. Er hatte den Mann nicht kommen hören, der nun über ihm stand und dessen sanfte, etwas schleppende Stimme zerschmetternder in seine Überlegungen hineingeplatzt war, als es eine Detonation vermocht hätte. Golter sah eine große, gutgewachsene, schlanke Gestalt in einem grauen Kammgarnanzug von unglaublicher Vollendung, dazu einen weichen grauen Filzhut, dessen breite Krempe liebenswürdige blaue Augen beschattete. Dieser Mann hätte Modell stehen
können zu jeder Illustration für das allerletzte und smarteste Erzeugnis aus Savile Row auf dem Gebiet eleganter Herrenkleidung – das heißt, wenn er zu überreden gewesen wäre, sich von der automatischen Pistole zu trennen, die man im allgemeinen nicht als unumgängliches Zubehör zu dem, »was der gutangezogene Mann in dieser Saison trägt«, betrachtet. »Außergewöhnlich interessant«, wiederholte der Unbekannte, und seine blauen Augen betrachteten geradezu träumerisch den Menschenstrom in dreißig Meter Tiefe. »Rein künstlerisch gesehen, ist es ein Jammer, daß wir nicht zuschauen können.« Golters rechte Hand glitt in Richtung seiner aufgebeulten Rocktasche. Der Fremde ermunterte ihn zu der Bewegung, indem er seine Automatische in trägem Schwung auf Golters Magengrube ansetzte. »Laß die Pinne drin, Süßer«, murmelte der Fremde, »und gib sie lieber her, eine nach der anderen… So ist’s brav!« Er nahm die Sprengsätze, die Golter ihm reichte, mit der linken Hand an und gab sie an jemanden weiter, den Golter nicht sehen konnte – einen zweiten Mann hinter einem Schornstein. Eine Minute verging. Golter stand da mit locker herabhängenden Händen und wartete auf eine Gelegenheit, nach der Kanone zu schnappen, die der Unbekannte mit solch betonter Nachlässigkeit in Anschlag hielt. Aber diese Gelegenheit ergab sich nicht. Statt dessen kam eine Hand hinter dem Schornstein hervor – eine Hand mit einer Eierhandgranate. Der Unbekannte nahm sie entgegen und gab sie Golter zurück. »In die Tasche stecken«, befahl er. Die zweite und dritte folgte, und Golter, dessen Jacke unter dem Gewicht wiederum aus der Fasson geraten war, stand da
und starrte den Fremden an, den er für einen Detektiv hielt – aber für einen Detektiv benahm er sich reichlich merkwürdig. »Was soll das denn bedeuten?« fragte Golter mißtrauisch. »Ich hab’ meine Gründe«, erwiderte der andere gelassen. »Ich werde nun gehen. Ist Ihnen das recht?« Mißtrauen – Angst – Verblüffung, alle diese Empfindungen huschten im Durcheinander über Golters unrasiertes Gesicht. Dann dämmerte Erleuchtung in seinen farblosen Augen auf. »Sie sind also gar kein Kriminaler?« Der Fremde lächelte. »Zu Ihrem Pech – nein. Vielleicht haben Sie schon von mir gehört. Ich bin der ›Heilige‹.« Seine linke Hand fuhr blitzschnell in die Rocktasche und wieder heraus, und Golter starrte, von plötzlichem lähmenden Entsetzen gepackt, wie hypnotisiert auf den Schornstein, an den der ›Heilige‹ sein groteskes Warnzeichen malte. Dann ergriff der ›Heilige‹ wieder das Wort. »Sie sind ein Unmensch. Sie sind ein Zerstörer – ein wahnsinniger Mörder ohne jegliche Rechtfertigung außer Ihrer eigenen Gier nach Blut. Hätten Sie irgendein Motiv, würde ich Sie vielleicht der Polizei übergeben, die in diesem Augenblick London nach Ihnen absucht. Es ist nicht meine Sache, über die Überzeugungen anderer Gericht zu halten. Aber für Sie gibt es keine Entschuldigung…« Er war schon verschwunden, als Golter sich nach ihm umdrehte, weil er sich wunderte, warum die Verdammung nicht weiterging; und das Dach lag verlassen da. Der Abgang war typisch für den ›Heiligen‹. Der Festzug näherte sich. Golter hörte, wie die Jubelrufe rasch lauter wurden – wie das Tosen großer Wassermengen, die plötzlich durch geborstene Schleusentore stürzten. Er spähte hinunter. Etwa hundert Meter entfernt sah er den Wagen
an der Spitze durch die Gasse der menschlichen Ameisen kriechen. Er zermarterte immer noch sein Hirn, das vergeblich zu begreifen versuchte, was den ›Heiligen‹ hierhergeführt hatte. Da hatte der ›Heilige‹ gestanden – anklagend; und dann war er gegangen, nachdem er Golter die Eierhandgranaten zurückgegeben hatte. Golter hätte sich einbilden können, das Opfer einer Halluzination zu sein. Aber die gespenstische Zeichnung am Schornstein lieferte den Beweis, daß er nicht geträumt hatte. Mit einer raschen, hysterischen Bewegung fuhr sein Ärmel über die Zeichnung; dann nahm er die Stoppuhr und die vorbereitete Zeittabelle aus der Tasche. Der Wagen an der Spitze war gerade eben an dem ersten der beiden Laternenpfähle angekommen, auf denen seine Berechnungen basierten. Er beobachtete ihn benommen. Der Kronprinz saß im dritten Wagen. Golter erkannte die Uniform. Der Kronprinz grüßte die Menge. Golter zitterte, als er die erste Handgranate aus der Tasche holte und den Knopf herauszog. Aber er warf sie in genau dem Augenblick, den ihm seine Stoppuhr und der Zeitplan vorschrieben.
»Die wahren Hintergründe dieses Vorfalls«, schrieb der Daily Recordern paar Tage später, »werden vermutlich für immer ein Rätsel bleiben, es sei denn, der ›Heilige‹ ließe sich eines Tages einfallen, sie aufzuklären. Bis dahin muß sich die Neugier der Öffentlichkeit mit dem zufriedengeben, was die Untersuchungskommission der Fachleute von Scotland Yard herausgefunden hat – daß nämlich der ›Heilige‹ sich an den Zündern der Eierhandgranaten, mit denen Golter seinen Anschlag auf das Leben des Kronprinzen durchs zuführen
beabsichtigte, mit dem Erfolg zu schaffen machte, daß die erste in dem Augenblick explodierte, als Golter sie abzog, und ihn somit in Stücke zerriß… Welche Meinungen auch immer vorgebracht werden mögen in bezug auf diesen arroganten Herrn, der sich anheischig macht, die Gerechtigkeit selber in die Hand zu nehmen, so kann man doch nicht leugnen, daß in diesem Falle sein Eingreifen unserem Könige liehen Gast das Leben gerettet hat. Und wenige werden leugnen wollen, daß der Gerechtigkeit Genüge getan wurde, wenn auch vielleicht einer Gerechtigkeit von solch poetischer Art, daß man sie wohl kaum allgemein als Vorbild anerkennen möchte.« Mit diesem sensationellen Höhepunkt, der dafür sorgte, daß jeder Mann und jede Frau in der zivilisierten Welt den Namen des heiligem im Munde führten, war das Ende eines klar umrissenen Kapitels seiner Lebensgeschichte erreicht. Die Sensation verblaßte, wie eben auch die erstaunlichsten Sensationen aus Mangel an neuer Reizzufuhr verblassen. In einem offenen Brief, der in jeder Zeitung in ganz Europa veröffentlicht wurde, sprach der Kronprinz dem Unbekannten seinen Dank aus und gelobte, seine Dankesschuld nicht zu vergessen, sollte der ›Heilige‹ irgendwann einmal der Hilfe höchster Kreise bedürfen. Die britische Regierung schloß sich dem fast augenblicklich an mit dem Angebot einer Amnestie für alle bisherigen Vergehen unter der Bedingung, daß der ›Heilige‹ sich stelle und einen Eid leiste, daß er fürderhin seine Energie und seinen Einfallsreichtum in gesetzlichere Bahnen lenke. Die einzige Antwort war ein wohlbedachter Brief, der den Empfang der Botschaft bestätigte, das Angebot jedoch mit Bedauern ablehnte. Er wurde gleichzeitig allen führenden Nachrichtenagenturen zugestellt. Unglücklicherweise (schrieb der ›Heilige‹) bin ich – und meine Freunde mit mir – überzeugt, daß es eine nicht zu
verantwortende Feigheit meinerseits wäre, wenn wir uns gerade in dem Moment trennten, in dem unser Feldzug sich in der Londoner Verbrechensstatistik zu rechtfertigen beginnt, und, was noch wichtiger ist, im Bereich jener subtileren Verstöße gegen die guten Sitten, über die es keine Statistik geben kann. Das bloße Versprechen unserer persönlichen Sicherheit wird uns nicht dazu vermögen, die Beweggründe zu verraten, die uns zusammengeführt haben. Das Spiel steht höher als der, der es spielt. Außerdem würde ich, was mich betrifft, ein anständiges Leben unerträglich langweilig finden. Es ist gar nicht so leicht, heutzutage aus dem allgemeinen Trott auszubrechen. Man muß Rebell sein und endet mit größerer Wahrscheinlichkeit auf dem Schindanger als in der Westminster-Abtei. Aber ich glaube, wie ich noch nie zuvor etwas geglaubt habe, daß ich auf dem rechten Wege bin. Was Wert hat, sind die allen gemeinsamen, ursprünglichen Dinge. Gerechtigkeit ist gut – wenn sie fanatisch durchgesetzt wird. Kämpfen ist gut – wenn das, wofür man kämpft, einfach und sinnvoll ist und man es liebt. Und Gefahr ist gut – sie hält einen wach und läßt einen zehnmal so bewußt leben. Und ganz gemeine Windbeutelei dürfte das beste von allem sein – denn sie steht stellvertretend für den großartigen Glauben an all diese Dinge, einen vortrefflichen Glauben an den romantischen Glanz, den unsere Zivilisation als Illusion und Fallstrick verächtlich machen will. Solange mir all diese Dinge von den lachhaften Gesetzen dieses Landes verweigert werden, werde ich diesen Gesetzen die Stirn bieten. Das Vergnügen, meine eigenen Heilmethoden auf die Pestbeulen der Menschheit anzuwenden, deren beständiges Eitern mich beleidigt, gehört zu denen, die ich mir nicht verwehren lasse… Und doch wartete merkwürdigerweise eine hochgespannte Öffentlichkeit vergeblich darauf, daß der ›Heilige‹ seinem erstaunten Manifest getreu handeln werde. Aber Tag um Tag
verging, und er rührte sich nicht, so daß alle die, die leisegetreten hatten in der Befürchtung, die unheimliche Allwissenheit des ›Heiligen‹ werde auch sie aufspüren, den Kopf wieder hoben und sich wachsender Zuversicht brüsteten. Der ›Heilige‹ habe Angst, sagten sie. Aus zwei Wochen wurde ein Monat, und der ›Heilige‹ verblaßte bereits zu einer vagen Legende vergangener Tage. Und dann verteilten an einem Nachmittag im Juni schreiende Zeitungsverkäufer ein Extrablatt des Evening Record in den Straßen Londons, und Frauen und Männer standen zu ungeduldigen Haufen geballt auf den Gehsteigen und lasen die erstaunlichste Story, die der ›Heilige‹ jemals der Presse geliefert hatte. Es war dies die Geschichte, die hier noch einmal erzählt wird, obwohl sie bisher bereits ein halbes hundertmal erzählt wurde. Aber diesmal wird sie aus einem anderen, einem intimeren Blickwinkel anvisiert, und einige Einzelheiten werden ans Licht geholt, von denen bisher nicht die Rede war. Es ist die Geschichte, die davon berichtet, wie Simon Templar, den viele als den ›Heiligen‹ kennen (einsichtigerweise seines Monogramms wegen, aber wahrscheinlicher wegen seiner heiligmäßigen Methode, höchst unheilige Dinge zu erledigen), aus purem Zufall einen Faden erwischte, der ihn zum verblüffendsten Abenteuer seiner Laufbahn führte. Und es ist außerdem die Geschichte Norman Kents, der sein Freund war und einen Augenblick lang bei diesem Abenteuer das Schicksal zweier Nationen, vielleicht sogar ganz Europas, in der Hand hielt; sie erklärt, wie er zu diesem hohen Amt kam und wie er an einem stillen Sommerabend ohne großes Aufhebens und falsches Heldentum in einem Haus an der Themse für eine Idee kämpfte und starb.
1 Simon Templar fährt aus, und es bietet sich ihm ein seltsamer Anblick
Simon Templar las nur selten eine Zeitung, und wenn er es doch einmal tat, überflog er die Seiten so rasch wie möglich und sammelte mit flinken Augen Informationen. Das meiste von dem, was ihm für seinen Kupfer geboten wurde, war auf ihn verschwendet. Politik interessierte ihn nicht im mindesten; die Bekanntmachung; daß die Frau eines Druckers in Walthamstown Vierlinge zur Welt gebracht habe, ließ ihn kalt; und Artikel wie »Der Mann gehört ins Haus« (von Anastasia Gowk, der brillanten Verfasserin von Heißes Herz in Pimlico) rührten ihn absolut nicht. Aber eine Viertelspalte mit Fotografie in einer Zeitung, die er eines Abends der Rennergebnisse wegen kaufte, zog per Zufall seinen schweifenden Blick auf sich und ließ sein Interesse milde aufflackern. Zwei Zufälle führten ihn von dieser im Vorbeigehen einverleibten Zeitungsmeldung auf eine glühheiße Fährte, deren Faszination für ihn alles andere als nur beiläufiger Art war. Der erste Zufall trat am nächsten Tag ein, als es ihm gegen ein Uhr in der Gegend des Ludgate Circus einfiel, dem Presseclub einen Besuch abzustatten in der Hoffnung, jemanden anzutreffen, den er kannte. Er fand Barney Malone vom Clarion und wurde prompt zum Mittagessen eingeladen – was genau dem entsprach, was er im Auge gehabt hatte.
Der Heilige hegte eine eingefleischte Abneigung dagegen, allein zu Mittag zu speisen. Das Gespräch verlief im allgemeinen während der ganzen Mahlzeit, von einem heiteren Zwischenspiel abgesehen. »Über den Heiligen gibt es wohl nichts Neues?« fragte Simon mit Unschuldsmiene, und Barney Malone schüttelte den Kopf. »Er scheint den Betrieb eingestellt zu haben.« »Ich mache nur einmal Pause«, versicherte Simon ihm. »Nach der Ruhe – der Sturm. Machen Sie sich auf die nächste Erstmeldung gefaßt.« Simon Templar sprach beharrlich von dem Heiligen als »Ich« – als sei er selber dieser unrühmliche Geächtete. Trotz all seiner Vertrautheit mit Simons exzentrischem Sinn für Humor neigte Barney Malone dazu, dieses Verstellspiel für eine besonders ziellose Albernheit zu halten. Eine halbe Stunde später, beim Kaffee, erinnerte der Heilige sich wieder der Viertelspalte, die seine Aufmerksamkeit erregt hatte, und stellte eine diesbezügliche Frage. »Sie dürfen ganz offen mit Onkel Simon reden«, sagte er. »Er kennt all die Tricks und Kniffe; Sie würden ihm daher keine Enttäuschung bereiten, sollten Sie ihm eröffnen, daß der Chefredakteur sich die ganze Geschichte aus den Fingern gesogen hat, um im letzten Moment Platz damit zu füllen.« Malon grinste. »Komischerweise irren Sie sich. Diese wissenschaftlichen Entdeckungen, über die man unter Schreckensüberschriften liest sind meistens Türken. Aber wenn es Ihnen nicht so maßlos an Bildung fehlte, hätten Sie von K. B. Vargan gehört. Verrückter Hund, aber als Wissenschaftler ist er ganz große Klasse.« »Es steckt also tatsächlich etwas dahinter?« fragte der Heilige.
»Vielleicht – vielleicht auch nicht. Diese Erfindungen haben gewöhnlich ihre Mucken, sobald man mit ihnen aus dem Laboratorium herausgeht und Versuche im großen Stil anstellt. So war vor Jahren zum Beispiel von Todesstrahlen die Rede, die angeblich auf zwanzig Meter Entfernung eine Maus töten konnten. Ich hab’ aber nie gehört, daß sie einmal auf fünfhundert Meter an einem Ochsen ausprobiert worden sind.« Barney Malone konnte einige weitere Einzelheiten der Varganschen Erfindung zum besten geben, die der Kopierstift des Redakteurs als unverständlich für den Laien gestrichen hatte. Sie waren kaum weniger unverständlich für Simon Templar, dessen wissenschaftliche Kenntnisse ein gutes Stück vor Einstein zu Ende gingen, aber er hörte aufmerksam zu. »Ulkig, daß Sie das erwähnen«, sagte Malone ein wenig später. »Ich hab’ den Mann gerade heute morgen interviewt. Er platzte gegen elf Uhr in die Redaktion, raste und tobte wie ein Irrer, weil man ihm nicht die erste Seite gegeben hatte.« Malone gab eine plastische Schilderung der Begegnung. »Aber was soll das Ganze?« fragte der Heilige. »In den nächsten paar hundert Jahren wird es doch keinen Krieg mehr geben.« »Glauben Sie?« »Habe ich gehört.« Malone zog die Augenbrauen hoch – wohlwollend, herablassend, so wie ein Journalist eben zuweilen die Augenbrauen hochzieht, wenn ein unwissender Außenseiter sich mit einer Meinung über internationale Angelegenheiten vorwagt. »Falls Sie in sechs Monaten noch leben«, sagte er, »rechne ich sehr damit, Sie in Uniform zu sehen. Oder werden Sie aus Gewissensgründen den Kriegsdienst verweigern?« Simon klopfte nachdenklich eine Zigarette auf seinem Daumennagel zurecht.
»Ist das Ihr Ernst?« »Mein voller Ernst. Wir sind näher dran an diesen Dingen als die übrige Öffentlichkeit; wir sehen zuerst, was kommt. In ein paar Monaten wird ganz England es kommen sehen. Eine ganze Menge komischer Sachen haben sich in letzter Zeit ereignet.« Simon saß abwartend da, plötzlich war sein Interesse geweckt. Barney Malone sog gedankenvoll an seiner Pfeife, dann redete er weiter: »Im vergangenen Monat sind drei Ausländer verhaftet, abgeurteilt und ins Gefängnis gesteckt worden. Verstoß gegen das Gesetz betreffend die Geheimhaltung militärischer Geheimnisse. Mit anderen Worten – Spionage. Zur selben Zeit wurde mit vier Engländern in verschiedenen Teilen Europas gleichermaßen verfahren. Die betreffenden ausländischen Regierungen haben sich von den Männern, die wir uns vorgeknöpft haben, distanziert. Aber da Regierungen ihre Spione stets verleugnen, sobald sie in eine Klemme geraten – aus Prinzip, glaubt keiner daran. Wir haben für die vier Engländer ebenfalls die Verantwortung abgelehnt, und natürlich glaubt uns auch keiner. Und trotzdem weiß ich zufällig, daß es stimmt, wir haben nichts mit ihnen zu tun gehabt. Falls Sie Geschmack finden an wirklich subtilen Witzen, dann denken Sie mal über diesen nach und lachen, wenn ich Ihnen das nächste Mal begegne.« Der Heilige ging in nachdenklicher Stimmung nach Hause. Er besaß ein Talent ganz eigener Art, eine geniale Vorstellungsgabe, mit der er eine Anzahl ganz gewöhnlicher Tatsachen, die alle nichts miteinander zu tun zu haben schienen und von denen keine für irgend jemanden außer ihm selber sehr bemerkenswert war, zusammenfaßte, so daß sie für ihn zu einem Wegweiser zu einer höchst mysteriösen Angelegenheit wurden. Abenteuer begegneten ihm weniger, weil er sie suchte, sondern weil er sie dreist erwartete. Er
glaubte, daß das Leben voller Abenteuer sei, und er ging seine Bahn, getragen und befeuert von diesem allesumfassenden Glauben. Von einem Mann, der Simon Templar sehr ähnelte, wurde gesagt, er sei »mit Trompetenklang in den Ohren geboren worden«; der Ausspruch hätte wohl ebensogut auf den Heiligen gepaßt, denn auch er hatte, wie Michael Paladin, den Klang der Trompete gehört und war fürderhin im Echo des Trompetenklangs gewandelt, umgeben von solch brausender Musik romantischer Abenteuerei, daß zumindest einer seiner Freunde sich gedrängt fühlte, ihn den letzten Helden zu nennen – im Scherz zwar, aber in einem verzweifelt ernsten Scherz. »›Beschütze uns, Herr, vor Kampf, Mord und plötzlichem Tod!‹« zitierte der Heilige einmal. »Wie kann man nur um so etwas bitten? Himmel, sie sind das tägliche Brot – sie sind das, was das Leben lebenswert macht! Bringe uns, Herr, Kampf, Mord und plötzlichen Tod! Stürze uns hinein bis zum Hals! Das sage ich…« Also sprach der Heilige, dieser Mann mit seiner unübertrefflichen Unbekümmertheit, seinem merkwürdigen Heldentum und seinen unmöglichen Idealen. Und er ging hin und bewies wie nur wenig andere seines Zeitalters, daß ein Mann, wenn nur der richtige Geist in ihm weht, in Mantel und Spazierstock mit ebensoviel Bravado leben kann wie irgendein Kavalier früherer Jahrhunderte in Umhang und Degen, und daß in einer von einem modernen Lachen beherrschten Szene nicht weniger Ritterlichkeit zu walten braucht als im Umkreis einer mittelalterlichen Lanze; daß wahrer Heldenmut und echtes Wagnis seine Erfüllung nicht so sehr finden dank der Welt, in die sie hineingeboren wurden, sondern durch das Herz, in dem sie leben. Aber selbst der Heilige hätte nie und nimmer erraten, in welch eine merkwürdige Affäre dieses sein Talent und seine Überzeugung ihn verwickeln würden.
Aus dem, was er zufällig gelesen und was Barney ihm erzählt hatte, baute der Heilige in Gedanken einen Turm von Möglichkeiten, dessen überwältigende Größe ihm schließlich selber unheimlich war. Da er aber außerdem die unbezahlbare Gabe besaß, die Produkte seiner lebhaften Phantasie nach ihrem praktischen Wert zu beurteilen, packte er sein Hirngespinst als interessante Kuriosität weg und dachte nicht weiter darüber nach. Zu viel nüchternes Denken ist manchmal gefährlich. Diese Hirngespinste machten Simon Templar verlegen. Es war der einzige Punkt, der ihn in Verlegenheit bringen konnte, und darum hütete er sie als ein Geheimnis, das niemand bei ihm vermutet hätte. Die ihn kannten, sagten, daß sein Leichtsinn bis zur nichtsnutzigen Tollkühnheit reichte. Aber sie hätten nicht heftiger daneben tippen können. Wenn er sich darüber ausgelassen hätte, würde er wohl betont haben, daß sein Stil ganz im Gegenteil unter zu großer Vorsicht litt. Aber im vorliegenden Fall wurde alle Vorsicht beiseite gefegt, und die Phantasie behauptete sich triumphal dank dem zweiten der beiden Zufälle. Dieser ereignete sich drei Tage später, als nämlich der Heilige des Morgens aufwachte und feststellte, daß das Nieselwetter, das seit einer Woche über England gehangen hatte, einem wolkenlosen blauen Himmel und strahlendem Sonnenschein Platz gemacht hatte. Er beugte sich zu seinem Schlafzimmerfenster hinaus und schnupperte mißtrauisch in die Luft, konnte aber keinen Regen riechen. Also entschied er, daß er die lästigen Verbrecher mit gutem Grund ein wenig vernachlässigen könne, während er sich in seinen Wagen setzte und auf dem Lande Entspannung suchte. »Pat, mein Herzblatt«, sagte der Heilige, »es wäre ein Verbrechen, einen solchen Tag nicht zu nutzen!« »Simon, mein Herzblatt«, jammerte Patricia Holm, »du weißt, wir sind bei den Hannassays zum Essen angesagt.«
»Pat, mein süßes Herzblatt«, sagte der Heilige, »wie schrecklich enttäuscht werden sie sein, wenn sie hören, daß wir gestern abend plötzlich beide krank geworden sind.« Also fuhren sie los, und der Heilige erfreute sich seines Urlaubs in der behaglichen Überzeugung, daß er ihn verdient habe. Später speisten sie in Cobham, und danach saßen sie lange Zeit bei Zigaretten und Kaffee und Gesprächsstoff intimerer Art, dessen Schilderung hier keinen Platz hat. Es war elf Uhr abends, als der Heilige die lange Nase seines Furillacs auf den Heimweg setzte. Patricia war herrlich müde, aber der Heilige fuhr auch mit einer Hand ganz gut. Sie waren noch knapp zwei Kilometer von Esher entfernt, da sah der Heilige plötzlich ein Licht. Nachdenklich hielt er den Wagen an. Simon Templar litt unter dem Fluch – oder erfreute sich des Segens – unersättlicher Neugier. Sobald er irgend etwas entdeckte, das auch nur um Millimeterbreite die Grenze des rein Normalen und Alltäglichen überschritt, befeuerte ihn der Wunsch, den Grund für solch launenhaftes Benehmen herauszufinden. Und zugegeben, das Licht war kein gewöhnliches Licht. Der gewöhnliche Sterbliche wäre zweifellos ein wenig betroffen weitergefahren, hätte in den nächsten paar Tagen ein vages, irritierendes Gefühl der Verwirrung nicht loswerden können und den ganzen Zwischenfall schließlich vergessen. Simon Templar hat später in nüchternstem Ernst überlegt was sich wohl ergeben hätte, wäre er in jenem Augenblick ein gewöhnlicher Sterblicher gewesen. Und er hat entsetzt innegehalten vor dem Bild des Grauens, das sich ihm bei diesem Gedanken bot.
Aber Simon Templar war kein gewöhnlicher Sterblicher, und die Gabe, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, war bei seiner Erschaffung vergessen worden. Er schaltete den Rückwärtsgang ein und rollte behutsam etwa dreißig Meter bis an die Einmündung eines Weges zurück, der von der Hauptverkehrsstraße abzweigte. Ein Stück diesen Weg hinunter ragte zwischen den Bäumen die Silhouette eines gegiebelten Hauses schwarz gegen den mit Sternen überpuderten Himmel empor. In einem der oberen Fenster dieses Hauses hatte der Heilige im Vorbeifahren das Licht gesehen. Nun zündete er sich geschickt mit einer Hand eine Zigarette an und blickte den Weg hinunter. Das Licht war auch jetzt noch da. Der Heilige betrachtete es schweigend, unbeweglich wie ein spähender Indianer, bis sich ein blonder verschlafener Kopf an seiner Schulter regte. »Was ist los?« fragte Patricia. »Das möchte ich eben gerne wissen«, antwortete der Heilige und zeigte mit dem glühenden Ende seiner Zigarette voraus. Die Vorhänge waren zugezogen hinter dem Fenster oben am Haus, aber das Licht war deutlich durch sie hindurch zu sehen – ein Licht von erstaunlicher Helle, ein blendendweißes Licht, das in regelmäßigem Rhythmus aufflammte und verlöschte wie eine Folge zuckender Blitze. Die Nacht war so still wie ein Traum, und in diesem Augenblick herrschte kein Verkehr auf der Straße. Der Heilige langte nach dem Zündschlüssel und schaltete den Motor des Furillacs aus. Dann horchte er – und der Heilige hatte Ohren von ungewöhnlicher Empfindlichkeit –, horchte in solch eine vollkommene Stille hinein, daß er sogar das Rascheln von Patricias Ärmel hörte, als sie ihren Arm bewegte. Aber die Stille war nicht eigentlich völliges Schweigen, sie bestand lediglich aus der Abwesenheit irgendeines
bestimmten, abgelösten Geräusches. Ein Klang war zu hören – ein solch schwacher, einlullender Klang, daß er nicht mehr als den Hintergrund zur Stille abgab. Man hätte ihn ein leises Summen nennen können, aber er war so leise, daß er vielleicht aus nichts mehr als einem ganz ganz schwachen Vibrieren der Luft bestand. »Ein Dynamo«, sagte der Heilige, und schon öffnete er die Tür des Wagens und stieg aus. Patricia griff nach seiner Hand. »Wo willst du hin, Heiliger?« Simons Zähne blitzten weiß. Er lächelte sein Heiligenlächeln. »Ich werde Nachforschungen anstellen. Vielleicht betreibt ein vollkommen normaler Bürger dieses Landes einen Dynamo, um seinen eigenen Strom herzustellen – wenn dieser Dynamo sich auch mächtig schwerer anhört als der Typ, den man gewöhnlich als Hausaggregate verwendet. Aber ich bin überzeugt, daß kein normaler Bürger seinen Dynamo dazu benutzt, um elektrische Funken von solcher Größe rein zum Spaß für seine Kinder zu produzieren. Das Leben ist in letzter Zeit ziemlich zahm gewesen, und man kann nie wissen…« »Ich komme mit.« Der Heilige zog ein Gesicht. Patricia Holm, pflegte er zu sagen, hatte ihm für jeden Tag, den er sie kannte, zwei weiße Haare verschafft. Seit jenem denkwürdigen Tag in Devonshire, an dem er ihr zum erstenmal begegnete, und seit den nachfolgenden hektischen Tagen, während der sie mit ihm zusammen den Mann mit dem Namen »Der Tiger« jagte, versuchte der Heilige sich zu der Einsicht zu zwingen, daß es ein hoffnungsloses Beginnen war, dieses Mädchen aus vertrackten Situationen herauszuhalten. Mittlerweile hatte er sich ein wenig damit abgefunden. Patricia handelte nach ihrem eigenen Gesetz. Sie war aus einem Stoff gewirkt, der sie grundsätzlich von jedem anderen Mädchen
schied, von dem der Heilige je geträumt hatte; so fein und doch so rassig war ihr Temperament, daß er – wäre sie nicht so paradox weiblich gewesen – geschworen hätte, sie müsse ein Mann sein. Sie war – nun, sie war Patricia Holm, mehr gab es da nicht zu sagen… »O.K. Kleine«, sagte der Heilige ergeben. Sie stand schon neben ihm. Achselzuckend kletterte der Heilige auf seinen Sitz zurück und setzte den Wagen ein halbes Dutzend Schritte zurück, damit man die Scheinwerfer vom Haus her nicht sehen konnte. Dann gesellte er sich an der Ecke des Weges wieder zu ihr. Zusammen gingen sie den Weg hinunter. Das Haus stand in einem von einer Hecke umgebenen und dicht mit Bäumen bewachsenen Garten. Vorsichtig nachforschend, fand der Heilige die Alarmanlage am Tor, unterbrach die Leitung mit geübter Hand; dann erst hob er den Riegel und ließ Patricia auf den Rasen schlüpfen. Vom Rasen aus konnten sie, wenn sie hochschauten, das eigentümlich nackte Licht auch jetzt noch oben hinter den Vorhängen des Fensters blitzen sehen. Die Vorderfront des Hauses war in völlige Dunkelheit getaucht, die Fenster im Erdgeschoß waren geschlossen und offenbar verriegelt. Der Heilige verschwendete keine Zeit auf sie, denn er hatte die Werkzeuge, die man zum Aufbrechen eines Fensters brauchte, nicht bei sich, und er wußte, daß Haustüren stets recht massiv sind. Hintertüren hingegen sind, wie er ebenso genau wußte, oft sehr verletzlich, denn die weise Voraussicht des ehrbaren Hausbesitzers macht häufig vor der Einsicht Halt, daß selbst ein Einbrecher bester Kreise sich gelegentlich dazu herabläßt, den Dienstboteneingang zu benutzen. Demgemäß umrundete der Heilige das Haus, und Patricia folgte ihm.
Sie gingen über Gras, das immer noch feucht und schwammig war von dem Regen, der in den letzten sechs Tagen das Land überschwemmt hatte. Das Summen des Dynamos war nun ganz deutlich zu hören, und dazu vernahm man nun das Brummen und Surren des Motors, der ihn antrieb. Einmal hörte es sich so an, als dringe das Geräusch von unten zu ihnen herauf. Dann bogen sie um die zweite Ecke, und der Heilige blieb so jäh stehen, daß Patricia ihm plötzlich zwei Schritte voraus war. »Na, so ein Spaß!« flüsterte der Heilige. Dabei wäre es bei Tageslicht ein vollkommen gängiger Anblick gewesen. Viele Häuser auf den Land haben ihre Gewächshäuser, und es ist sogar denkbar, daß ein begeisterter Gartenfreund seinem Besitz ein Treibhaus von einigen fünfundzwanzig Metern Länge einverleibte und einer solchen Höhe, daß auch ein großer Mann noch gute sechs Handspann Platz über seinem Kopf hatte. Aber wenn ein solches Gewächshaus um halb zwölf in der Nacht hell erleuchtet ist, hört der Anblick auf, gängig zu sein. Und das Phänomen wird noch ungewöhnlicher – für ein neugieriges Gemüt wie das des Heiligen –, wenn die Gemüsesorte, der man solch eine vortreffliche Illuminierung verschafft, den Augen der Öffentlichkeit durch dicht unter dem Glas zugezogene dunkle Vorhänge vorenthalten wird. Für Simon Templar bedurfte es keiner Ermunterung, weiter in die mysteriöse Angelegenheit vorzudringen, und das Mädchen war an seiner Seite, als er sich an einen handbreiten Spalt in den Vorhängen heranstahl. Einen Augenblick später spürte er Patricia Holms Hände an seinem Arm. Sie umklammerte ihn mit einem ganz schwachen Zittern. Das Innere des Gewächshauses enthielt keine Töpfe und keine Pflanzen. Vier Fünftel des Raumes enthielten überhaupt
nichts. Der Boden war von rauhem Beton, und der Beton reichte etwa einen Meter an den Kanten hoch, so daß eine Art Trog entstand. Und an einem Ende des Troges war eine Ziege angebunden. Am anderen Ende des Gebäudes standen auf einer von Betonpfeilern getragenen Bühne vier Männer. Der Heilige sah sie sich an. Drei von ihnen standen in einer Gruppe zusammen – ein kleiner Dicker mit einer Glatze und horngefaßter Brille, ein langer Dünner mit hoher schmaler Stirn und eisengrauem Haar und ein jüngerer Mann mit einem Zwicker und einem Notizbuch. Der vierte Mann stand ein wenig abseits vor einer komplizierten Schalttafel, auf der hier und dort Birnen glühten, die Radioröhren glichen. Der Mann war von mittlerer Größe, und sein Alter durfte zwischen sechzig und achtzig Jahren liegen. Sein Haar war schneeweiß und seine Kleidung schlampig und schmutzig und abgetragen. Aber es war weder Mensch noch Tier, worauf sich die Augen des Heiligen nach diesem ersten raschen Überblick hefteten. Da war noch etwas auf dem Betonboden zwischen den vier Männern und der Ziege am anderen Ende. Es kräuselte und wälzte sich träge, lag dicht über dem Boden und hob sich nicht; und doch – obwohl es an der Oberfläche wollig und leblos ausschaute, schien sein Inneres zu wirbeln und zu pochen, als wolle sich eine zu unwirksamem Aufruhr gefesselte ungeheure Kraft entladen. Wie eine Wolke war es, aber solch eine Wolke hatte es noch an keinem Himmel gegeben. Es war eine Wolke, wie sie noch kein vernünftiger, leuchtender Himmel gesehen hatte, eine blaßviolette Wolke, eine Höllenwolke. Und hier und dort sah es aus, als schössen kleine Funken und Feuerschweife wie winzige Kometen durch das dunstige Violett, flammten einen Augenblick lang auf und verlöschten wieder, so daß die Wolke sich bewegte und glühte, als phosphoresziere sie in ihrem Inneren.
Sie hatte still dagelegen, als der Heilige sie zum erstenmal erblickte, aber nun rührte sie sich. Sie breitete sich nicht ziellos über den Boden aus; sie kroch mit Bestimmtheit dahin, als sei sie von Leben erfüllt. Hinterher beschrieb der Heilige sie so: Ein großer, gespenstischer, glühender Wurm, der sich seitwärts vorwärtsbewegte. Zu einem langen Streifen ausgestreckt, der die ganze Breite des Gewächshauses einnahm, wälzte sie sich in kleinen wirbelnden Schüben weiter, und die lebendige Kraft in ihrem Innern schien immer heftiger zu brennen, bis der Strudel des augenversengenden Violetts in ihrem Kern die Wolke mit einem schwach glühenden Schimmer umgab. Anfangs schien sie dahinzuschleichen, aber dann merkte der Heilige, daß der Eindruck ihn getäuscht hatte. Die Wolke kroch nun mit der Geschwindigkeit eines laufenden Menschen dahin und es war klar, daß sie nur ein Ziel im Auge hatte. Die Ziege am anderen Ende des Troges drängte sich in die äußerste Ecke. Starr vor Entsetzen stand sie da und stierte wilden Blicks auf die Wolke, die mit der Unbarmherzigkeit einer Flutwelle auf sie zurollte. Der Heilige blickte blitzschnell zu der Bühne hinüber, und er ahnte, wenn er es auch nicht verstand, warum die Wolke so entschieden vorrückte. Der weißhaarige Mann hielt ein schimmerndes Metallgerät vom Aussehen eines kleinen, runden elektrischen Heizofens in der Hand, das er auf die Wolke richtete und von einer Seite zur anderen bewegte. Aus diesem Gerät schien die Schubkraft zu stammen, die die Wolke wie ein gesteuerter Wind antrieb. Dann beobachtete der Heilige wieder die Wolke. Und in diesem Augenblick berührte ihr vorderster Saum die wie versteinert dastehende Ziege. Der Heilige draußen konnte keinen Laut hören. Aber mit einem Mal explodierte die in der Wolke gefangengehaltene Kraft mit schrecklichem Feuerbrausen, und wo die Ziege
gestanden hatte, war nichts weiter zu sehen als der Umriß einer Ziege, scharf nachgezeichnet von schaudernden orangefarbenen Flammen. Nur einen Augenblick lang, den Bruchteil einer Sekunde dauerte sie, diese Vision eines blendenden Glühens in Gestalt einer Ziege. Und dann wurde die Gestalt schwarz, als sei die Kraft verpufft, die die Vision hervorgerufen hatte. Der schwarze Schemen stand eine Sekunde lang da, dann brach er langsam zusammen und fiel auf den Beton. Ein wenig schwarzer Staub hing in der Luft, und ein kleiner Kranz von bläulichem Rauch stieg dachwärts. Die violette Wolke entknäuelte sich faul und schmierte flockig über den Boden in einem sich ausbreitenden Tümpel von Dunst. Aber ihre Kraft war alles andere als verraucht – diese Illusion wurde Lügen gestraft durch die zuckenden Lichter, die immer noch wie ein Schwarm winziger Leuchtkäfer aus ihr hervorschimmerten. Die steuernden Strahlen waren nur von ihr abgelenkt worden. Als Simon sich von neuem umsah, bemerkte er, daß der Mann mit den weißen Haaren das glitzernde Gerät, mit dem er die Wolke kontrolliert hatte, weggelegt hatte und sich an die drei Männer wandte, die der Vorführung beigewohnt hatten. Der Heilige stand da wie im Traum. Dann zog er Patricia unter leisem, geradezu wahnwitzigem Lachen mit sich fort. »Komm, nichts als weg hier!« sagte er. »Für eine Nacht haben wir genug gesehen.« Aber da hatte er sich geirrt, denn das Abenteuer sollte mit überraschender Fixigkeit seine Fortsetzung finden. Als der Heilige sich umdrehte, schoß er fast in den Riesen hinein, der über ihnen stand, und nach Lage der Dinge war Simon Templar nicht nach einem Disput zumute. Er handelte instinktiv, womit der Riese nicht gerechnet hatte. Wenn
jemand mit dem Revolver auf einen anderen zeigt, dann gibt es dem Brauch gemäß zunächst einen kleinen Wortwechsel über die Lage, bevor man zum Handeln schreitet. Aber der Heilige hatte für solche Bräuche nur Verachtung übrig. Überdies glaubte der Heilige, daß er, wenn er einem bewaffneten Mann gegenüberstand, der doppelt so groß war wie er selber, keine Entschuldigung brauche für die Anwendung eines jeglichen schadenwirkenden Fouls, das man im Kampf von Mann zu Mann kennt, nicht einmal für das Anbringen einer Spezialität eigener Erfindung. Seine linke Hand schlug die Schußhand des Riesen beiseite, und gleichzeitig trat er mit einem eisenbeschlagenen Fuß und reinem Gewissen zu. Eine Sekunde später jagte er davon, Patricias Hand in der seinen. Vor dem Haus war ein Wagen geparkt. Simon hatte ihn unter den Bäumen nicht bemerkt, als er um das Haus herumgegangen war. Aber nun sah er ihn, weil er nach ihm suchte. Daraus erklärte sich auch die untersetzte Gestalt in Stiefelhosen und Schirmmütze, die aus dem Schatten beim Tor vordrang und den Weg zu sperren versuchte. »Tut mir leid, mein Junge«, sagte der Heilige mit Überzeugung und stieß die Gestalt mit einigem Wumm zur Seite. Dann flog er an der Seite des Mädchens den Weg entlang, und das Geräusch des sie verfolgenden angeschlagenen Chauffeurs lag zu weit hinter ihnen, als daß es sie hätte beunruhigen können. Der Heilige warf sich in den Furillac und landete mit einem Fuß auf dem Starter und dem anderen auf der Kupplung. Sobald Patricia ihren Platz neben ihm eingenommen hatte, ließ er die ganzen achtundneunzig PS los, die dem Sportwagen zur Verfügung standen, wenn man ihm hart zusetzte.
Sein Fuß blieb auf dem Gashebel, bis sie in Putney einfuhren, und er war überzeugt, daß jeder Verfolgungsversuch weit hinter ihnen aufgegeben worden sein mußte. Aber selbst während der gesetzteren Fahrt durch London war er ungewöhnlich schweigsam, und Patricia hütete sich, ihn zum Sprechen zu bringen, wenn er sich in solch einer Stimmung befand. Aber sie studierte, als habe sie es noch nie gesehen, sein gespanntes, lebhaftes, gesammeltes Profil und sagte sich, daß sie ihn noch nie so verschlossen und gleichzeitig von solch wilder, vorwärtsstürmender Entschlossenheit gepackt erlebt hatte wie jetzt, da er den jagenden Wagen durch die Nacht steuerte. Aber selbst sie, die ihn besser kannte, als sonst jemand in der Welt, hätte nicht zu erklären vermocht, was es war, das sie an ihm verspürte. Schon oft war sie Zeuge seiner genial-sprunghaften Einfälle gewesen, aber sie konnte nicht wissen, daß sich sein Genius diesmal zu dem allerkühnsten Flug seines ganzen bisherigen Lebens hochgeschwungen hatte. Und sie schwieg. Erst als sie in die Brook Street einbogen, sprach sie einen Gedanken aus, der ihr seit einer Stunde schon auf der Seele lag. »Ich kann mir nicht helfen – ich habe einen dieser Männer schon einmal gesehen. Oder ein Bild von ihm.« »Welchen?« fragte der Heilige ein wenig grimmig. »Den jungen Dachs von Sekretär – oder Professor K. B. Vargan – oder Sir Roland Haie oder Mr. Lester Hume Smith, Staatssekretär im Kriegsministerium Seiner Majestät?« Er bemerkte ihre Verwirrung, als er sich ihr zuwandte und ihr in die Augen schaute. Patricia Holm sah wundervoll aus in diesem Augenblick, und der Heilige liebte sie. Und in diesem Augenblick würgte es ihm in der Kehle, als er ihren Liebreiz betrachtete. Er umschlang sie mit einem Arm und zog sie dicht an sich.
»Heiliger«, sagte sie, »du bist neuem Ärger auf der Spur. Ich kenne die Anzeichen.« »Mehr als das, Liebe«, erwiderte der Heilige leise. »Heute nacht habe ich eine Vision gehabt. Und wenn das eine echte Vision war, dann bedeutet es, daß ich gegen etwas Entsetzlicheres ankämpfen werde als jemals zuvor. Und der Name dieses Entsetzlichen könnte durchaus der sein, den der Teufel trägt.«
2 Simon Templar liest die Zeitung und begreift, was nicht darin steht
An dieser Stelle ließe sich eine unter den »Letzten Meldungen« vom nächsten Morgen gedruckte Nachricht zitieren. Wie der Clarion aus amtlichen Kreisen erfährt, wohnten in der vergangenen Nacht zu später Stunde der Staatssekretär im Kriegsministerium Mr. Lester Hume Smith und der Direktor der chemischen Forschungsabteilung im Kriegsministerium Sir Roland Hale einer Vorführung von Professor K. B. Vargans »Elektronenwolke« bei. Die Vorführung war geheim, und Einzelheiten werden nicht bekanntgegeben. Wie ferner verlautet, wird das Kabinett heute morgen zu einer Sondersitzung zusammentreten, um Mr. Hume Smiths Bericht entgegenzunehmen und, falls erforderlich, über die Einstellung der Regierung zu beraten. Simon Templar las die Meldung recht beiläufig, denn sie enthielt nicht mehr als eine Bestätigung und Erweiterung dessen, was er bereits wußte. Es war dies um zehn Uhr – zu ungewöhnlich früher Stunde für den Heiligen, und doch war er bereits auf und angezogen. Denn an diesem Tag hatte er sich früh erhoben, um mit seinem uralten Brauch zu brechen und jede Seite in jeder Zeitung zu lesen, die sein Diener ihm beschaffen konnte.
Plötzlich war er von einem außerordentlichen Interesse für Politik besessen. Die Nachricht, daß ein englischer Tourist aus Manchester, der sich des Namens Pinheedle erfreute, verhaftet worden war, weil er einem Polizisten in Wiesbaden die Nase eingeschlagen hatte, faszinierte ihn. Nur Artikel wie »Warum Großmutter aus dem Haus geht« (von Ethelred Sapling, dem brillanten Autor von Liebe in Leeds) ließen ihn weiterhin eiskalt. Aber er mußte auf eine Frühausgabe des Evening Record warten, bis er einen Bericht über sein eigenes Abenteuer lesen konnte. …Den Fußabdrücken nach zu urteilen, die man heute morgen in dem weichen Boden fand, müssen drei Personen daran beteiligt gewesen sein, darunter eine Frau. Einer der Männer, der offensichtlich von außergewöhnlicher Statur war, scheint auf der Flucht gestolpert und hingeschlagen zu sein und sich dann in entgegengesetzter Richtung von seinen Kumpanen davongemacht zu haben, die schließlich im Auto entkamen. Mr. Hume Smiths Chauffeur, der diese beiden festzunehmen versuchte und von dem Mann niedergeschlagen wurde, kam zu spät zu sich, um rechtzeitig die Straße zu erreichen und die Nummer ihres Wagens zu notieren. Dem Klang des Auspuffs nach nimmt er an, daß es sich um einen starkmotorigen Sportwagen handelte. Er hatte sein Kommen nicht gehört und auch nicht bemerkt, daß die drei in den Besitz eindrangen, und er gibt zu, daß er, als er den Mann und die Frau zum ersten Mal erblickte, gerade aus einem Nickerchen aufwachte. Es wird angenommen, daß der zweite Mann, dessen Spur über zwei Felder hinter Professor Vargans Haus hinweg verfolgt werden konnte, von seinen Helfershelfern weiter unten an der Straße mitgenommen wurde. Seine Existenz wurde erst
bekannt, als heute morgen die Kriminalbeamten aus London eintrafen. Chefinspektor Teal, dem der Fall übertragen wurde, erklärte einem Vertreter des Evening Record gegenüber, daß die Polizei bisher keine Vermutung habe, was die Spione zu ihrem eiligen und gewalttätigen Aufbruch veranlaßt haben könne. Man glaubt jedoch, daß sie in der Lage waren, das Ende des Experiments zu beobachten… Und so weiter, und alles das in großer Aufmachung über die zwei Mittelspalten auf der ersten Seite hinweg. Es kam mit Roger Conway hereingeschneit, einem sehr lieben Bekannten des Heiligen, der in den frühesten Morgenstunden angerufen und zu einer Besprechung beordert worden war und das Blatt unverzüglich Simon Templar vorlegte. »Warst du gestern abend in England los?« fragte er vorwurfsvoll. »Es gibt gewisse Gerüchte«, murmelte der Heilige, »in dieser Richtung.« Mr. Conway setzte sich in seinen gewohnten Sessel und holte Zigaretten und Streichhölzer hervor. »Wer war der Kumpel – der Geländelaufexperte?« fragte er ruhig. Der Heilige schaute zum Fenster hinaus. »Niemand, den ich kenne«, erwiderte er. »Er hat sich uns gewissermaßen aufgedrängt. Die ganze Geschichte hörst du gleich. Ich habe Norman angerufen, unmittelbar nachdem ich dich angerufen habe. Vor ein paar Sekunden ist er über die Zugbrücke geritten.« Die Türglocke schlug an und verkündete, daß Norman Kent den Eingang zu der Wohnung erreicht hatte, und der Heilige ging hinaus, um ihn einzulassen. Mr. Kent hatte eine Nummer des Evening Record bei sich, und seine
ersten Worte bewiesen, daß er die Eskapaden des Heiligen durch und durch begriff. »Wenn ich wüßte, daß du gestern abend irgendwo in der Nähe von Esher gewesen bist…« »Du bist hierher bestellt worden, um eine Ansprache über dieses Thema mit anzuhören«, antwortete der Heilige. Er wies Norman einen Sessel zu und setzte sich selber auf die Kante eines vollbepackten Tisches, auf dem Patricia Holm so etwas wie Ordnung herzustellen versuchte. Sie trat neben ihn, und er schlang einen Arm um ihre Taille. »Es war so«, sagte er. Und er stürzte sich ohne jede Vorrede gleich in die Geschichte, denn die Zeit, die man noch Vorreden benötigte, lag nun längst hinter den vieren. Und auch die Beweggründe für seine Handlungsweise brauchte er nicht zu erklären. In kurzen, jargongespickten, ruhigen und doch lebhaften Sätzen erzählte er, was er im Gewächshaus der Villa in der Nähe von Esher gesehen hatte; und die beiden Männer hörten ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen. Dann hielt er ein, und es entstand einen Augenblick lang Stille. »Das ist wahrhaftig eine phantastische Erfindung«, meinte Roger Conway schließlich und strich sich sein blondes Haar glatt. »Aber was ist es?« »Der Teufel.« Conway schloß die Augen, öffnete sie wieder. »Erklär dich bitte.« »Der Clarion hat sie so genannt«, sagte der Heilige. »Es ist etwas, das wir mit einfachen Worten nicht beschreiben können. Der Wissenschaftler wird so tun, als verstehe er das Ganze, aber ob er es wirklich tut, steht auf einem anderen Blatt. Er kann uns auch nicht mehr sagen, als daß der Trick darin besteht, die Struktur eines Gases dergestalt zu verändern, daß es dazu gebracht werden kann, eine gewaltige elektrische
Ladung aufzuspeichern, nach dem Beispiel einer Gewitterwolke – ohne daß es jedoch eine Gewitterwolke ist. Es hat außerdem etwas mit Strahlen zu tun, aber Strahlen sind es eigentlich auch wieder nicht. Es ist etwas vollkommen Unmögliches, wenn man es so will – aber es beliebt zu existieren. Und dieses Gas bildet nicht mehr als einen hingehauchten Schwamm in der Atmosphäre, und Vargan kann die Poren dieses Schwammes mit Millionen von Volt und Ampere komprimierter Blitze aufladen.« »Und als die Ziege in die Wolke geriet…« »Passierte das gleiche, als wäre sie in ein Netz von elektrischen Leitungsdrähten gestolpert. Den Bruchteil einer Sekunde lang brannte die Ziege wie ein Brocken Kohle in einem Hochofen. Und dann zerfiel sie zu Asche. Hübsch, was?« Norman Kent, der dunkle, finstere, wandte den Blick von der Decke. Lächeln lag ihm nicht, und er sprach wenig, dann aber stets zur Sache. »Lester Hume Smith hat zugesehen«, sagte er. »Und Sir Roland Haie. Wer sonst noch?« »Engelsgesicht«, erwiderte der Heilige. »Engelsgesicht hat es gesehen. Der Mann, von dem unser Freund Mr. Teal annimmt, daß er zu uns gehört habe – schließlich hat er ihn nicht mit seinem Colt vor meiner Nase herumfuchteln sehen. Ein süßes Tierchen, eine Art Kreuzung zwischen Boxweltmeister und einem hochgeschossenen Gorilla, aber nicht allzu flink mit seinem Abzugfinger – sonst wäre ich vielleicht nicht mehr. Für welches Land er jedoch arbeitet, ist noch nicht heraus.« Roger Conway runzelte die Stirn. »Denkst du etwa…« »Häufig«, erwiderte der Heilige. »Aber um mir das zurechtzudenken, brauche ich keinen kalten Umschlag um den Kopf. Vargan mag zwar geglaubt haben, ihm sei bitter Unrecht
geschehen, als man ihn von der ersten Seite verdrängte, aber so viel Reklame, daß ein hellwacher ausländischer Agent neugierig wurde, hat man immer noch für ihn gemacht.« Er klopfte sich mit leichten Bewegungen eine Zigarette auf dem Daumennagel zurecht und zündete sie mit übertrieben langsamer Bedachtsamkeit an. In solchen von nebensächlicher Pantomime angefüllten Augenblicken schwangeren Schweigens pflegte er darauf zu warten, daß der Samen, den er gesät hatte, spontan im Hirn seiner Zuhörer aufging. Conway sprach als erster. »Falls es Krieg geben sollte…« »Wer wartet auf eine Gelegenheit, einen Krieg vom Zaun zu brechen?« fragte Norman Kent. Der Heilige griff nach einer Auswahl von Zeitungen, in denen er gelesen hatte, bevor die anderen gekommen waren, und reichte sie hinüber. Seite um Seite war von Kopierstiftstrichen zernarbt. Der Heilige hatte viele seltsam zusammenhanglose Dinge angestrichen – eine Proklamation Mussolinis, die Rede eines französischen Delegierten vor dem Völkerbund, den Bericht über die Auflösung eines Öltrusts, die die Verlagerung von zweihundert Millionen Pfund Kapital zur Folge hatte, die letzten Manöver von Kriegsschiffen, die Ankündigung einer gewaltigen Fusion innerhalb der chemischen Industrie, die Meldung vom Ausbruch eines Aufstandes in Indien und noch so manches mehr, in dem er erstaunliche Sinnfälligkeit entdeckt hatte – bis hinunter zu der Verhaftung eines englischen Touristen aus Manchester, der sich des Namens Pinheedle erfreute und einem Polizisten in Wiesbaden die Nase eingetrimmt hatte. Roger Conway und Norman Kent lasen und wollten es nicht glauben. »Aber niemand will doch so bald schon wieder einen Krieg«, sagte Conway. »Jedes Land rüstet ab…«
»Alles Bluff. Jeder hofft, daß der andere eines Tages darauf ‘reinfällt«, sagte der Heilige. »Und jedes Land hat einen Heidenbammel vor allen anderen und kann im Handumdrehen wieder aufrüsten. Das Volk macht niemals Krieg und will auch keinen Krieg – die Staatsmänner mit der Wirtschaft hinter sich stellen es vor vollendete Tatsachen, und irgend jemand schreibt einen ›Wir-wollen-euch-nicht-verlieren-aber-jetzt geht-mal-ran‹-Marsch für die Blasmusik, und Millionen von armen Narren ziehen aus und sterben den Heldentod, ohne jemals genau zu wissen, um was es überhaupt geht. Alles schon mal dagewesen. Warum soll es da nicht noch einmal passieren?« »Das Volk«, sagte Norman Kent, »hat vielleicht aus der Vergangenheit gelernt.« Simon winkte ungeduldig ab. »Lernen Leute wirklich aus der Vergangenheit? Die Männer, die sie unterweisen könnten, gehören nun einer vergangenen Generation an. Wie viele sind übrig, die jung genug sind, unsere Generation zu überzeugen? Und selbst die Tatsache, daß wir auf einer hohen Woge von Literatur schwimmen, die die Schrecken des Krieges darstellt, macht wohl nicht den geringsten Eindruck. Ich kann euch nur sagen, ich hab’ bis zum Überdruß zugehört, wenn Menschen in unserem Alter über diese Bücher und Theaterstücke diskutiert haben – und ich weiß, daß sie keinen Eindruck machen. Es wäre ein Wunder, wenn sie es täten. Gesunde junge Männer sind einfach zu optimistisch. Der geringste Hinweis auf zu erringenden Ruhm ruft sie auf den Plan, und es fällt ihnen schrecklich leicht, ganze Meere des Grauens zu vergessen. Und noch etwas kann ich euch sagen…« Und er erzählte ihnen, was er von Barney Malone gehört hatte.
»Ich hab’ euch die Tatsachen vorgelegt«, sagte er. »Nun einmal angenommen, ihr sähet einen Mann mit verzerrtem Gesicht die Straße entlangrennen. Er brüllt wie am Spieß, Schaum steht ihm vor dem Mund, und er fuchtelt mit einem langen Messer herum, von dem Blut tropft. Wenn man es vorzieht, ein Narr zu sein, kann man sich einreden, daß es denkbar sei, daß sein Gesicht darum verzerrt ist, weil er ein faules Ei zu verschlucken versucht; daß er schreit, weil ihm jemand auf sein liebstes Hühnerauge getreten hat; daß sein Mund schäumt, weil er soeben ein Stück Seife verspeist hat, und daß er gerade ein Huhn geschlachtet hat und nun zu seiner Tante eilt, um mit ihr darüber zu plaudern. Andererseits ist es einfacher und auch sicherer anzunehmen, daß der Mann Amok läuft. Daraus folgt, daß ihr, falls ihr euch weigert, den Zusammenhang von Dingen zu sehen, deren Zusammenhang mir vollkommen klar ist, auf der Stelle nach Hause gehen könnt.« Roger Conway schwang ein Bein über die Seitenlehne seines Sessels und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Also«, sagte er, »müssen wir wohl jetzt Hänschen-Klein finden und dafür sorgen, daß er nicht die Erfindung klaut, während das Kabinett noch darüber befindet, was mit ihr anzustellen sei?« Der Heilige schüttelte den Kopf. Diesmal war es Roger Conway, der dem Heiligen seit jeher in jeder Beziehung am nächsten stand, nicht gelungen, dem Gedankengang seines Chefs zu folgen. Und es war Norman Kent, der verschlossene und schweigsame, der den atemberaubenden genialen – oder wahnsinnigen – Einfall aussprach, der acht Stunden zuvor Simon Templars Kopf entsprungen war.
»Das Kabinett«, sagte Norman Kent hinter einem Schleier aus Zigarettenrauch, »könnte mit seiner Entscheidung zu spät kommen – auch ohne das Eingreifen Hänschen-Kleins…« Simon Templar blickte von einem zum anderen. Einen Augenblick lang befiel ihn das seltsame Gefühl, daß er den anderen drei erneut zum erstenmal begegnete – als Fremden. Patricia Holm schaute zum Fenster hinaus zu dem blauen Himmel über den Dächern der Brook Street hinauf, und wer wußte schon, was dort oben vor ihren Augen entstand? Roger Conway, der fröhliche, flotte, wartete schweigend, während der Rauch seiner Zigarette ihm die Finger verfärbte. Und auch Norman Kent wartete, ernst und tief in Gedanken. Der Heilige blickte zu dem Gemälde über dem Kaminsims auf und sah es nicht. »Wenn wir lediglich Hänschen-Klein das Handwerk legen«, sagte er, »besitzt England eine Waffe, die unermeßlich zerstörerischer ist als die Waffen jeder anderen Nation. Angenommen, wir stehlen sie weg – man könnte dagegen einwenden, daß früher oder später ein anderes Land etwas nicht weniger Tödliches entdecken wird, und dann würde England im Nachteil sein.« Er hielt einen Augenblick inne, dann fuhr er in demselben ruhigen Tonfall fort. »Aber es gibt Hunderte Hänschen-Kleins, und wir können sie nicht alle beiseite räumen. Ein Geheimnis wie dieses ist niemals sehr lange ein Geheimnis geblieben, und im Falle eines Krieges könnte es sehr gut geschehen, daß der Gegner mit unseren eigenen Waffen gegen uns antritt.« Wieder machte er eine Pause. »Ich denke an all die Männer, die in diesem nächsten Krieg kämpfen werden, und all die Frauen, die sie lieben. Wenn ihr einen Mann ertrinken seht, würdet ihr euch weigern, ihn zu
retten, nur weil ihr wißt, daß ihn in ein paar Jahren ein sehr viel schrecklicherer Tod ereilen könnte?« Wieder trat Schweigen ein und während dieses Schweigens schien der Heilige sich aufzurecken und stärker zu werden und zu wachsen, als versammele sich etwas um ihn, das jeden Winkel des Zimmers erfüllte und ihn gewaltig dastehen ließ wie einen absurd normalen Riesen. Und als er dann fortfuhr, war seine Stimme so sanft wie immer, aber sie schien widerzuhallen wie ein Trompetenstoß. »Es sind hier versammelt«, sagte er, »drei etwas angeschmuddelte Musketiere – und ein reiner Engel. Den reinen Engel ausgenommen, haben alle von uns im Laufe unseres jungen Lebens gegen die Hälfte der Zehn Gebote und die meisten Gesetze zahlreicher Länder verstoßen. Und doch ist es uns irgendwie gelungen, uns gewisse lächerliche Ideale heil zu bewahren, die unserem pervertierten Gemüt als die Rechtfertigung unserer Sünden erscheinen. Und Kämpfen ist eins dieser Ideale. Kampf und plötzlicher Tod. Eigentlich sollten wir die allerletzten in dieser weiten Welt sein, die die Vorbereitungen zu einem hübschen, handfesten Krieg zu durchkreuzen versuchen. Denn persönlich müßten wir einen solchen Krieg doch begrüßen – zu unserem eigenen Privatvergnügen. Aber es gibt nicht viele wie uns. Zu viele – viel zu viele – sind völlig anders. Männer und Jungen, die keinen Krieg wollen. Die nicht für den Kampf, den Mord und einen plötzlichen Tod leben. Die nicht glücklich wären als Krieger und weiß Gott nicht lärmend und singend und protzend in die Schlacht zögen. Die wie stumpfes Vieh zur Schlachtbank getrieben würden, berauscht von einem erbärmlichen, fruchtlosen Heldentum, auf das sie blindlings ein paar Tage ekelhaften Leides durchstehen und dann im Schmutz verrecken. Lauter unschuldige junge Leben, die nichts mit unseren barbarischen Schlachtgöttern zu schaffen
haben. Und wir sind über die Pläne für das nächste Opfer gestolpert – teils durch einen glücklichen Zufall, teils unserer brillanten Kombinationsgabe wegen. Und da stehen wir nun. Wir scheren uns den Teufel um irgendein Risiko und irgendwelche Gesetze. Würdet ihr mich für total verrückt halten, wenn ich behauptete, daß vielleicht, durch Gottes unerforschlichen Ratschluß, drei schäbige, höllenstürmende Musketiere…« Er beendete den Satz nicht, und ein paar Sekunden lang sprach niemand. Dann schreckte Roger Conway hoch. »Was hast du gesagt?« fragte er. »Ich sagte«, antwortete der Heilige, »daß dies unsere Nummer ist. Wir haben es immer gewußt – oder nicht? Unbewußt haben wir gespürt, daß der Tag für unsere ganz große Vorstellung kommen mußte. Dies nun ist unser Stichwort. Es hätte uns auf dutzenderlei verschiedene Weise zugeflüstert werden können, aber es hat nun eben einmal diesen Weg gewählt. Ich fasse zusammen…« Er zündete eine neue Zigarette an und rutschte weiter auf den Tisch hinauf. Er saß vorgebeugt, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, und das scharfgeschnittene, höllenverachtende Gesicht, das sie alle so gut kannten und so sehr liebten, schien geradezu übernatürlich schön im Licht einer heiteren Tollkühnheit, die sie so an ihm noch nicht erlebt hatten. »Ihr habt die Story gelesen«, sagte er. »Zugegeben, sie liest sich wie ein Dreißig-Pfennig-Roman. Aber darum steht sie doch da und grinst euch an. Mit einem Mal tun sich gleichzeitig in England und Amerika merkwürdige Dinge in der chemischen und Stahl- und Ölindustrie. Die Summen, die in diesen drei Großkonzernen festliegen, müßten genügen, um das Kapital jeglicher anderen Industriegruppen wegzuschlucken. Wir wissen nicht genau, was vorgeht, aber
wir wissen, daß die Großen, die heimlichen Herrscher über die Wall Street und die Londoner Börse, die fetten Vögel mit der dicken Zigarre, die mit den Finanzen dieser schieläugigen Welt jonglieren, einen ganz bestimmten Plan verfolgen. Und dann seht euch die Sächelchen an, mit denen sie unterwegs sind. Eisen und Öl und chemische Erzeugnisse. Wenn einer mir drei andere Interessengruppen nennen kann, die mehr Rahm abschöpfen können in einem wirklich erstklassigen Krieg, dann will ich mich gern belehren lassen… Dazu dann noch Barney Malones Bericht über Spione. Ist euch noch nicht aufgegangen, wie empfindlich Staaten sind und wie leicht es sein muß, Mißtrauen zu säen? Und Mißtrauen bedeutet früher oder später Krieg. Selbst das wohlmeinendste, friedfertigste Land, das ständig Spione einer anderen Nation aufgreift, die in seinen Sperrgebieten herumschnüffeln, wird auf die Dauer nicht stillhalten. Bis jetzt hatte es sich noch niemand einfallen lassen, die Geschichte in großem Stil zu betreiben, das heißt, zu versuchen, zwei europäische Mächte mittels eines sorgfältig hingemogelten Zanks aufeinanderzuhetzen, und doch ist die Sache wunderbar einfach. Und nun ist es geschehen – oder es geschieht doch gerade… Und hinter allem steckt der einzige Mann der Welt, der das für die Erfindung eines solchen Komplotts erforderliche Hirn besitzt und den Einfluß und die Fähigkeiten, es erfolgreich durchzuführen. Ihr wißt, wen ich meine. Den Mann, den sie den ›mysteriösen Millionär‹ nennen. Den Mann, der dem Vernehmen nach bereits ein halbes Dutzend Kriege eingefädelt hat – von geringerem Ausmaß, aber ebenfalls im Interesse der Hochfinanz. Ihr habt seinen Namen in diesen Zeitungen an jeder Stelle, an der er auftaucht, rot angestrichen gesehen. Er paßt ein verdammtes Stück zu oft, das läßt sich einfach nicht leugnen. Dr. Rayt Marius…« Norman Kent schleuderte seine Zigarette plötzlich ins Feuer. »Dann paßt Golter vielleicht auch.«
Conway sagte: »Aber der Kronprinz ist doch Marius’ Kronprinz!« »Würde das einem Mann wie Marius irgend etwas bedeuten?« fragte der Heilige ruhig. »Würde es ihm nicht vielmehr alles sehr viel leichter machen? Angenommen…« Der Heilige hielt inne, und dann begann er noch einmal, diesmal jedoch mit seltsam sanfter, träumerischer Stimme. »Angenommen, Marius packt den Kronprinzen bei seiner Eitelkeit? Der König ist alt; und es geht das Gerücht, die junge Nation verlange nach einem jungen Führer. Und der Prinz hat Ehrgeiz. Angenommen, Marius wäre in der Lage, zu ihm zu sagen: ›Ich kann dir eine Waffe verschaffen, mit der du die Welt erobern kannst. Und zu keinem anderen Preis als dem, daß du sie gebrauchst…‹« Es verschlug ihnen den Atem; verwirrt, fasziniert saßen sie da. Sie versuchten, die Vision hinwegzulachen; sie zu zerschlagen, zu zerreiben, auszulöschen mit den großen wirbelnden Hämmern eines auf nüchterne Überlegung gegründeten Zweifels. Aber sie fanden nichts zu sagen. Die Uhr tickte bleierne Sekunden in die Ewigkeit. Patricia sagte atemlos: »Aber er kann doch nicht…« »Er kann!« Simon Templar war vom Tisch gesprungen. Sein rechter Arm flog hoch in wilder Gebärde. »Hier liegt der Schlüssel!« rief er. »Dies ist die Lösung des Rätsels! Es mag nicht schwer sein, Mißtrauen zwischen Völkern künstlich zu nähren, aber die daraus resultierende Spannung ist längst nicht so gefährlich wie echter internationaler Haß. Sie braucht einen sehr viel größeren Zündfunken, um zu explodieren. Und der Kronprinz und sein Ehrgeiz – und Vargans Erfindung – würden diesen Zündfunken abgeben. Sie sind Marius’ Trumpf. Wenn er mit
ihnen nicht zum Zuge kommt, könnte sein ganzer großer Plan in die Binsen gehen. Ich weiß, daß das stimmt.« »Der Mann in dem Garten«, flüsterte Patricia, »wenn er einer von Marius’ Leuten war…« »Es war Marius!« Der Heilige griff nach einer Zeitung auf dem Tisch und riß und knüllte sie auf, damit sie die Fotografie sehen konnte. So schlecht das Licht auch gewesen war, als sie dem Original gegenüberstanden – dieses Gesicht würde man niemals mit einem anderen verwechseln können; diese häßliche, ungeschlachte, alptraumhafte Ausdruckslosigkeit. Wie das in Stein gehauene Bild eines heidnischen Götzen. »Es war Marius…« Roger Conway stand aus seinem Sessel auf. »Wenn du dich nicht irrst, Heiliger – ich nehme nicht an, daß du in der vergangenen Nacht geträumt hast.« »Ich irre mich nicht!« »Und wir leiden nicht plötzlich allesamt an Gehirnerweichung, aber wenn man deinen furchtbaren, verrückten Schlüssen zuhört…« »Bei Gott, ich bin in meinem Leben noch nicht einer Sache so sicher gewesen.« »Dann…« Der Heilige nickte. »Wir beanspruchen für uns, daß wir eine Art Gerechtigkeit üben«, sagte er. »Was folgt daraus in diesem Fall?« Conway antwortete nicht, und der Heilige wandte sich um und blickte Norman Kent in die nachdenklichen Augen. Und dann wußte er, daß sie darauf warteten, ihre eigene Entscheidung aus seinem Mund zu hören. Noch nie hatten sie den Heiligen so streng gesehen.
»Die Erfindung muß aufhören zu existieren«, sagte Simon Templar. »Und das Gehirn, dem sie entsprungen ist, muß ebenfalls aufhören zu existieren. Es ist notwendig, daß ein Mann für viele Menschen stirbt…«
3 Simon Templar kehrt nach Esher zurück und beschließt, noch einmal wiederzukommen
Es geschah dies am 24. Juni, etwa drei Wochen nach der Antwort des Heiligen auf das Amnestieangebot. Am fünfundzwanzigsten widmete keine der Morgenzeitungen mehr als eine unauffällige Meldung der Nachricht, die am Tage zuvor die gesamte Nachmittagspresse gefüllt hatte; und fürderhin schwieg die Presse überhaupt über die ungeladenen Gäste bei Vargans Vorführung, und auch die nachfolgende Sondersitzung des Kabinetts wurde nur flüchtig erwähnt. Der Heilige, der Tag und Nacht nur von einem einzigen Gedanken besessen war, erblickte in dieser unerwarteten Zurückhaltung etwas, das gefährlich nach amtlicher Zensur aussah, und Barney Malone, an den er sich wandte, war so wenig mitteilsam, daß der Heilige seine bösen Ahnungen bestätigt fand. Dem Heiligen schien eine merkwürdige Spannung in die Frühsommerluft über London gekrochen zu sein. Dieses sein Gefühl war, das wußte er wohl, völlig subjektiv; aber es gelang ihm nicht, es mit einem Lachen abzutun. An einem Tag war er durch die Straßen spaziert, sich sorglos der Luft erfreuend, die frisch und mild den nahen Sommer ankündigte, unter Menschen, die rascher und glücklicher und bewegter ausschritten. Aber schon am nächsten Tag hatte der Himmel schwer über der Stadt gelastet, voller Angst vor einem schrecklichen
Gewitter, und eine zum Untergang verdammte Generation schlich ängstlich ihrer Wege. »Du solltest dir Esher ansehen«, sagte er zu Roger Conway. »Ein Tag ohne Stammkneipe würde dir guttun.« Sie fuhren in einem geliehenen Wagen hinunter, und hier draußen entdeckte der Heilige weitere Omen. Sie aßen im »Bären« zu Mittag, und hinterher spazierten sie die Portsmouth Road entlang. Zwei Männer standen am Anfang des Weges, an dem Professor Vargan wohnte, und diese beiden Männer brachen ihr Gespräch jäh ab, als Conway und der Heilige von der Hauptstraße abbogen und unter den Bäumen an ihnen vorbeischlenderten. Weiter unten lehnte ein dritter Mann an einem Gartentor und rauchte ein Pfeifchen. Simon Templar führte seinen Freund an dem Haus vorbei, ohne auch nur einen einzigen Blick darauf zu werfen, und setzte seine Ausführungen über die wahrscheinlichen Gewinner bei den morgigen Rennen fort. Aber sein sechster Sinn verriet ihm, daß die Augen des Mannes an dem Gartentor ihnen den Weg hinunter folgten, nicht anders als die Augen der beiden Männer an der Ecke. »Hast du gesehen«, murmelte der Heilige, »wie peinlich sie jedes Aufsehen vermeiden? Um Gottes willen keine Aufmerksamkeit erregen. Hübsch ruhig auf dem Posten, sonst nichts. Aber wir sollten auch nur irgend etwas Verdächtiges anstellen, und schon würden wir hübsch leise und vorsichtig ins nächste Kaschott befördert. Das Ganze nennt sich Organisation.« Ein paar hundert Schritte weiter blieb der Heilige im Schutz einer Ecke stehen. »Spaziere so lange weiter, wie du brauchst, um ein paar Verse zu verfassen, die bei Gesellschaften genehm sind, zu denen man dich nie einladen wird«, ordnete er an. »Und dann komm zurück. Ich werde an dieser Stelle sein.«
Conway zockelte gehorsam weiter. Aus den Augenwinkeln sah er noch gerade den Heiligen sich durch ein Loch in der Hecke auf das Feld zur Rechten schlängeln. Mr. Conway war kein Dichter, aber er ging auf den Vorschlag des Heiligen ein und liebäugelte müßig mit den lyrischen Möglichkeiten einer jungen Dame aus Hongkong, die pfiff, wo immer sie longgong. Nachdem er mehrere Minuten mit dem Problem gerungen hatte, dieses Meisterwerk zu einem zufriedenstellenden Abschluß zu bringen, gab er es auf und kehrte um. Und der Heilige kehrte durch die Hecke zurück – – ein verblüffend makelloser Anblick, wenn man bedachte, daß er von einer Hecke umrahmt war, und mit einer Pünktlichkeit kam er, derzufolge man annehmen mußte, daß er Mr. Conways poetisches Talent mit furchterregender Genauigkeit eingeschätzt hatte. »Bei den ersten fünf Löchern habe ich den Ball einfach nicht ‘reingekriegt«, sagte der Heilige traurig und beschrieb dann eine gänzlich erfundene Runde Golf, bis sie die Hauptverkehrsstraße wieder erreicht hatten und die Posten an der Ecke außer Sicht waren. Dann kam er wieder zur Sache. »Ich wollte ein bißchen hinter dem Haus herumkundschaften, um herauszufinden, wie zuverlässig die Verteidigungsanlagen sind. Ich stieß auf einen zweieinhalb Zentner schweren Schutzengel in Hemdsärmeln, der so tat, als arbeite er im Garten, und ein zweites Flaumfederchen, das in einem Liegestuhl unter einem Baum saß und Zeitung las. Der gute alte Teal selbst sitzt vermutlich als Anhaltspunkt verkleidet im Badezimmer. Die gehen kein Risiko mehr ein!« »Mit anderen Worten«, sagte Conway, »wir werden entweder sehr schlau oder sehr gewalttätig vorgehen müssen.« »So ungefähr«, erwiderte der Heilige.
Er war in Gedanken und schwieg während des restlichen Rückweges zum »Bären«. Er überdachte die Aufgabe, die er sich selber gestellt hatte. Er hatte allen Grund, tief in Gedanken zu sein – obwohl ihm das Knacken harter Nüsse eigentlich nichts Neues war. Es war nicht die Tonne höchst amtlicher, majestätischer Hindernisse zwischen ihm und seinem unmittelbaren Ziel, die ihm zu schaffen machte. Der Heilige hätte gut und gerne Weltmeister im Mittelgewicht werden können, hätte er nur seine Aufmerksamkeit auf zünftige Weise ganz dieser Aufgabe zugewandt, und er hielt nicht sehr viel von der Fixigkeit und Schlagtechnik der Polizisten. Und außerdem besaß er, was dieses Hindernis anging, grenzenloses Vertrauen in seine einfallsreiche List beim Umgehen solch massiver Streitkräfte. Und auch die Tatsache, daß er in das Schicksal von Nationen eingriff, ließ ihn nicht innehalten: er hatte einmal im Verlauf seiner quixotischen Abenteuereien mit Erfolg ganz alleine Revolution in Südamerika gemacht und hätte, wäre es ihm eingefallen, eine vollanerkannte Exzellenz in Operettenuniform werden können. Aber dieses Problem, seine Unermeßlichkeit, die ungeheuren Kräfte, die hineinspielten, die Millionen von Tragödien, die sich ergeben könnten, sollte ihm nur ein Fehler bei dem Unternehmen unterlaufen. Die Überlegung spannte die Muskeln um das Kinn des Heiligen. Das Schicksal ließ ihn in jenen Tagen nicht zur Ruhe kommen. Sie fuhren in Kingston ein mit der bescheidenen Geschwindigkeit, die sich aus dem Leihwagen herausholen ließ, da schnurrte eine gelbe Limousine ohne jede Anstrengung an ihnen vorbei. Bevor sie noch vor ihnen wieder in den Verkehr einspurte, hatte Conway das tierische, affenmäßige Gesicht unauslöschlich seinem Gedächtnis eingeprägt, das sie
mit der Starrheit einer steinernen Skulptur durch die Rückfenster anglotzte. »Hübsch, was?« murmelte der Heilige. »Wie Valentino«, stimmte Conway zu. Ein Lächeln zuckte um Simon Templars Lippen. »Uns bekannt«, sagte er, »als Engelsgesicht oder HänschenKlein – ganz nach Wahl. Die Welt kennt ihn als Rayt Marius. Er hat mich erkannt, und er hat sich die Nummer dieses Wagens gemerkt. Er wird uns aufspüren über die Garage, von der wir den Wagen geliehen haben, und innerhalb vierundzwanzig Stunden hat er unsere Namen und Adressen und unser Führungszeugnis vom Christlichen Verein Junger Männer. Ich kann mir nicht helfen, aber in der nächsten Zukunft ist was los.« Und am nächsten Tag ging der Heilige in Roger Conways Begleitung gegen Mitternacht zu Fuß zur Brock Street zurück. Da blieb er plötzlich stehen und blickte mit nachdenklicher Miene zum Himmel auf, als sei ihm etwas wieder eingefallen, dessen er sich trotz größter Konzentration nicht hatte erinnern können. »Zank dich mit mir, Bruderherz«, bat er eindringlich. »Zank dich über alle Maßen und fuchtel mit den Händen und sieh so wild aus, wie es deine himmlische Wählscheibe dir eben erlaubt. Aber erhebe um Gottes willen nicht die Stimme.« Sie gingen die letzten paar Schritte bis zur Haustür des Heiligen, allem Anschein nach in wütendstem Disput. Mr. Conway ließ sich, wie angewiesen, mit leiser Stimme und leidenschaftlicher Beredsamkeit über die Nachteile des neuen Ford aus. Der Heilige antwortete ihm mit zornigem Gestikulieren. »Eine Beulenpest mit Melone läuft schon einen halben Tag hinter mir her. Der Kerl ist jetzt etwa ein Dutzend Schritte hinter uns. Ich möchte ihn mir gerne mal ansehen, aber wenn
wir ihm nachjagen, läuft er uns weg. Er kommt todsicher jetzt näher, weil er unsere Zankerei hören möchte, um herauszufinden, um was es geht. Wenn wir tätlich werden, müßte er eigentlich auf Reichweite herankommen. Dann schnappst du ihn dir, und ich sperr die Haustür auf.« »Die Hinterachse!« knurrte Mr. Conway böse. Sie waren nun vor dem Haus des Heiligen angekommen, und der Heilige hielt an, drehte sich jäh herum, legte Conway die Hand mitten auf die Brust und schubste ihn. Conway fand sein Gleichgewicht wieder und langte aus. Der Heilige ließ sich an der Schulter treffen und taumelte überzeugend echt zurück. Dann tigerte er wieder vor und versetzte Mr. Conway äußerst behutsam einen Schlag unters Kinn. Mr. Conway übte Vergeltung, indem er eine Handbreit neben der Nase des Heiligen die Luft zerschmetterte. Bei dem ungewissen Licht sah es nach einer wilden Schlägerei aus, und mit Genugtuung bemerkte der Heilige, daß die Melone nur ein paar Schritte entfernt um den Ring schlich – ein interessierter Zuschauer. »Genau hinter dir«, sagte der Heilige leise. »Stolpere vier Schritte zurück, wenn ich dir jetzt eine klebe.« Zärtlich legte er seine Faust auf Conways Magengrube und trennte sich dann von ihm, ohne das Ergebnis abzuwarten. Aber er wußte, daß sein Adjutant bestens eingespielt war. Simon fand gerade noch Zeit genug, den Schlüssel hervorzuholen und die Haustür zu öffnen. Eine Sekunde später schloß er die Tür bereits wieder hinter Conway mit seiner süßen Last. »Sauber hingekriegt«, sang der Heilige anerkennend. »Jetzt die Treppe hinauf mit dem lieben Kleinen, Roger.«
Der Heilige ging ins Wohnzimmer voran, und Conway setzte die Melone ab und nahm die Hand vom Mund des kleinen Mannes. »Pssst!« sagte Conway schockiert und hielt sich die Ohren zu. Der Heilige spähte durch einen Vorhangspalt. »Ich glaube nicht, daß uns jemand gesehen hat«, sagte er. »Wir haben Glück. Hätten wir die Geschichte geplant, hätten wir wahrscheinlich Jahre warten müssen, bis Brook Street einmal menschenleer ist.« Er wandte sich vom Fenster ab und beugte sich über den Gefangenen, der immer noch mit der Faust unter Conways Nase herumwedelte und gotteslästerlich um sich spuckte. »Nun mal Schluß damit, Kleiner«, bedeutete der Heilige ihm frostig. »Durchsuch seine Taschen, Roger.« »Wenn ich ‘n Polizei finne«, begann die Melone zitternd. »Oder wenn ein Polizist findet, was von dir noch übrig ist«, murmelte Simon freundlich. »Was dann?« Die Durchsuchung brachte nichts Interessantes ans Tageslicht als drei neue Fünf-Pfund-Noten – ein Vermögen, das man bei solch einem schäbig aussehenden kleinen Mann niemals vermutet hätte. »Dann müssen wir also kleine Maßnahmen ergreifen«, erklärte der Heilige milde und schloß behutsam beide Fenster. Er kam zurück mit den Händen in der Tasche und einem sehr heiligmäßigen Blick in den Augen. »Kannst du sprechen, Rattengesicht?« fragte er. »Wa? Wieso sprechen? Immer die Kleinen…« »Sprechen«, wiederholte der Heilige geduldig. »Den Mund öffnen und Laute von dir geben, von denen du annimmst, daß wir sie auch verstehen. Du hast dich den ganzen Tag an mich gehängt, und das paßt mir nicht.«
»Wieso?« fragte der kleine Mann unwillig. »Wieso an Sie gehängt?« Der Heilige seufzte und griff nach den Rockaufschlägen des kleinen Mannes. Eine halbe hektische Minute lang rüttelte und schüttelte er den kleinen Mann wie ein Terrier, der eine Ratte geschnappt hat. »Sag was«, sagte der Heilige gleichmütig. Aber die Melone öffnete den Mund nur zu einem Fluch oder Schrei, und dem Heiligen mißfiel beides. Er klopfte dem kleinen Mann munter auf den Bauch und erfuhr somit nicht, welches von beidem – Fluch oder Schrei – in der Absicht des kleinen Mannes gelegen hatte, denn was es auch immer gewesen sein mochte, es erstarb in einem würgenden Gurgeln. Dann nahm der Heilige sich das Männchen von neuem vor. Es sah tatsächlich sehr unfair dem kleinen Mann gegenüber aus, aber Simon Templar war nicht nach sentimentalen Anwandlungen zumute. Es mußte sein, und er erledigte es mit kühler Präzision. Es dauerte fünf Minuten. »Sag was«, forderte der Heilige das Männchen nach den fünf Minuten erneut auf, und der plärrende Spürhund gelobte zu sprechen. Simon packte ihn beim Genick und ließ ihn wie einen Sack Erdnüsse in einen Sessel fallen. Was sie nun hörten, führte allerdings nicht viel weiter. »Sein’ Namen kenn’ ich nich’. Hab’ ihm vor sechs Monaten inner Kneipe hinter Oxford Street getroffen. Hab’ was für ihn erledigt. Jetzt’ arbeit’ ich hin und zu für ihm, geh’ so hinter Leute her und find’ was ‘raus. Er zahlt immer gut, war auch kein Risiko dabei…« »Jedenfalls bis heute nicht«, sagte der Heilige. »Wie hältst du denn Verbindung mit ihm, wenn er dir seinen Namen nicht gesagt hat?«
»Er schreibt mich, wenn er mich brauch’, und ich treff ihm irgendwo inner Kneipe und er sagt mich, was ich tun soll. Dann sag’ ich ihm, was los is; per Telefon. Ich hab’ seine Nummer.« »Und die wäre?« »Westminster neunundneunzig neunundneunzig.« »Vielen Dank«, erwiderte der Heilige. »Gutaussehender Mann, was?« »Nich’ die Bohne! Krich jedesmal ‘ne Gänsehaut. Als ich ihn das erstemal sah…« Der Heilige drückte sich mit der Schulter vom Kaminsims ab und langte nach seiner Zigarettenschachtel. »Geh jetzt lieber ganz schnell nach Hause, Rattengesicht«, sagte er. »Du interessierst uns nicht weiter. Zeig ihm die Tür, Roger.« »Watt denn«, winselte die Melone. »Ich hab’ ‘ne Frau und vier Kinder…« »Das«, sagte der Heilige mit Zartgefühl, »muß wirklich schrecklich für sie sein. Grüß sie von mir, ja?« »Ich bin überfallen worden. Angenomm’ ich geh’ nach ‘n Polizei – « Der Heilige gab ihm einen kühlen blauen Blick. »Du kannst die Treppe hinuntergehen«, bemerkte er leidenschaftslos, »du kannst aber auch von dem Herrn, der dich hinaufgetragen hat, hinuntergeschmissen werden. Ganz wie du willst. Und wenn du gerne ein bißchen Schmerzensgeld für unsere kleine Konversation haben möchtest, wendest du dich am besten an deinen hübschen Freund. Erzähl ihm, wir hätten dich mit glühenden Eisen gefoltert, aber keinen Piep aus dir herausgekriegt. Vielleicht glaubt er es, wetten möchte ich allerdings nicht darum. Und wenn du gerne einen Polizisten zu Rate ziehen möchtest – an der Ecke steht einer. Ich kenne ihn
ziemlich gut, und ich bin sicher, er wird sich sehr für das interessieren, was du ihm zu sagen hast. Gute Nacht.« »Und so was nennt sich feiner Mann!« knurrte der Spürhund höhnisch und böse. »Sie!« »‘raus!« sagte der Heilige ruhig. Er zündete seine Zigarette an und sah nicht einmal auf, aber im nächsten Augenblick hörte er unten die Tür ins Schloß fallen. Vom Fenster aus beobachtete er den Mann, der nun die Straße entlangwankte. Der Heilige war bereits am Telefon, als Conway zurückkehrte, der den Abzug überwacht hatte, und er lächelte träge zur Antwort auf die Frage seines bevorzugten Adjutanten. »Ja, ich werde Hänschen-Klein mein Grüße ausrichten… Hallo, ist da Westminster neunundneunzig neunundneunzig? – Wunderbar. Wie sieht’s aus, Engelsgesicht?« »Wer ist da?« kam es vom anderen Ende der Leitung. »Simon Templar«, antwortete der Heilige. »Vielleicht haben Sie schon von mir gehört. Ich glaube, wir – hm – sind uns kürzlich begegnet.« Er grinste über den unterdrückten Fluch, der schwach aus dem Hörer drang. »Ja, es ist ganz bestimmt eine angenehme Überraschung. Ganz überwältigend angenehm. Weshalb ich anrufe? Ich mußte leider gerade einem Ihrer Amateurdetektive ein paar unangenehme Minuten bereiten. Er ist jetzt auf dem Heimweg. Das nächste Mal, wenn einer Ihrer Freunde auf meinem Schatten spazierengeht, werde ich den Krankenwagen rufen müssen. Der Tip kommt direkt aus dem Stall. Schlaf gut, Süßer!« Er legte den Hörer auf, ohne auf eine Antwort zu warten. Dann sprach er mit der Auskunft. »Können Sie mir bitte Namen und Adresse von Westminster neunundneunzig neunundneunzig geben? Wie bitte? – Ha, und das läßt sich nicht irgendwie feststellen? – Jaja, das weiß ich.
Aber aus gewissen Gründen kann ich nicht einfach anrufen und fragen. Meine Frau ist nämlich gestern mit dem Klempner durchgebrannt, und sie sagte, wenn ich wirklich möchte, daß sie zu mir zurückkommt, soll ich sie unter dieser Nummer anrufen. Aber einer der Hähne über der Badewanne tropft, und – na, schön. Vielen Dank. Schönen Gruß an den Chef.« Er legte auf und drehte sich um. Conway hatte fragend die Augenbrauen hochgezogen. Der Heilige zuckte die Achseln. »›Es tut mir leid – wir dürfen Namen und Adressen von Teilnehmern nicht angeben‹«, äffte er die Telefonistin nach. »Wußte ich, aber ein Versuch konnte ja nicht schaden. Macht aber nichts.« »Vielleicht hättest du«, meinte Conway, »im Telefonbuch nachschlagen können.« »Natürlich. Besonders da ich weiß, daß Marius nicht in England lebt und Westminster neunundneunzig neunundneunzig daher höchstwahrscheinlich nicht unter seinem Namen eingetragen ist – oh, selbstverständlich.« Conway zog ein Gesicht. »Gut. Dann setzen wir uns also hin und überlegen, was Hänschen-Klein sich wohl als nächstes einfallen läßt.« »Mitnichten«, widersprach der Heilige vergnügt. »Denn das wissen wir. Entweder Blausäure morgen früh in der Milch oder ein Schuß aus einem vorbeifahrenden Wagen, wenn ich das nächste Mal das Haus verlasse. Darauf können wir unsere Hemden setzen und dann stillhalten und auf die Dividende warten. Aber einmal angenommen, wir warteten nicht!« Die lebhafte Entschiedenheit seiner ersten Worte dämpfte sich zu der sanften, träumerischen Redeweise, die Conway nur allzu gut kannte. Es war das Anzeichen dafür, daß die Gedanken des Heiligen seiner Zunge Meilen vorausgeeilt waren, während er nur noch mechanisch eine Rede zu Ende führte, die schon längst keine Bedeutung mehr hatte.
Dann schwieg er eine Weile. Die Zigarette hing ihm schräg zwischen den Lippen, sein schlanker Körper nahm etwas Unbewegliches, Lauerndes an, und in seinen Augen tanzte blau und hell die Verwegenheit. Einen Augenblick lang hockte er ruhig und angespannt da wie ein Leopard, der sich zum Sprung anschickt. Dann entspannte er sich, richtete sich auf und lächelte. Und sein rechter Arm fuhr hoch in einer dieser großartig romantischen Gebärden, die nur dem Heiligen so völlig ohne jede Theatralik gelangen. »Aber warum sollten wir warten?« fragte er herausfordernd. »Allerdings – warum wohl?« echote Conway ungewiß. »Aber…« Simon Templar hörte nicht zu. Er war bereits wieder am Telefon und rief Norman Kent an. »Hol deinen Wagen ‘raus, tank auf und komm sofort in die Brook Street. Und steck eine Kanone ein. Wird eine wilde Nacht geben!« Wenige Minuten später hatte er Verbindung mit seinem Bungalow in Maidenhead – zu dem er gemäß unerforschlichem Ratschluß seiner sämtlichen Götter erst am Tage zuvor seinen Diener hinausgeschickt hatte, damit er das Haus für den Sommer vorbereite, der niemals so eintreten sollte, wie Simon Templar es sich vorgestellt hatte. »Bist du da, Orace? – Gut. Ich rufe nur an, um dir zu sagen, daß Mr. Kent in den frühen Morgenstunden mit einem Gast eintreffen wird. Ich möchte, daß du den Keller für ihn fertig machst – für den Gast, meine ich. Kapiert?« »Jawohl«, erwiderte Orace ungerührt, und der Heilige legte auf. Es gab nur einen Orace – er war Feldwebel bei der Marineinfanterie gewesen und diente nun Simon Templar als sein getreuester Diener. Hätte Simon Templar ihm angekündigt, daß der Gast der entführte Präsident der
Vereinigten Staaten sei, wäre Oraces Antwort ebenfalls nicht mehr als dieses schroffe, nüchterne »Jawohl!« gewesen, und er wäre hingegangen und hätte seinen Befehl ausgeführt. Roger Conway kletterte aus seinem Sessel und zerdrückte den Rest seiner Zigarette in einem Aschenbecher. »Und was soll das werden, wenn es fertig ist?« fragte er. »Wenn wir jetzt nicht handeln, wird entweder a) Vagan sein Geheimnis den Fachleuten der Regierung entdecken oder b) Marius wird es einsacken – oder Vargan einsacken – oder beides. Und dann stehen wir da. Wir haben nur eine Chance, solange Vargan der einzige Mensch auf der ganzen Welt ist, der diese Erfindung des Teufels unter seinem Hut spazierenführt. Und je länger wir warten, desto sicherer findet Hänschen-Klein Gelegenheit, vor uns einzusteigen!« Gonway blickte mit gerunzelter Stirn Patricia Holms Bild auf dem Kaminsims an. Dann wies er mit dem Kopf zu ihm hin. »Wo ist sie?« »Verbringt ein paar Tage bei den Mannerings in Devonshire. Die Luft ist ganz rein. Ich bin froh, daß sie nicht dabei ist. Sie wird morgen abend zurückkommen, das kommt genau richtig aus. Wir bringen Vargan heute nacht nach Maidenhead, holen unseren ehrlich verdienten Schlaf morgen nach und fahren dann gemütlich zurück, um sie abzuholen. Dann fahren wir alle zusammen zum Bungalow hinaus – und nichts kann uns passieren. Wie hört sich das an?« Conway nickte wieder langsam. Seine Stirn war immer noch gefurcht, als ob ganz hinten im Hirn ihm etwas zu schaffen mache. Schließlich kam er damit heraus. »Ich war nie Primus in der Schule«, sagte er, »und deswegen möchte ich eins wissen. Wir sind uns darin einig, daß Vargan, stellvertretend für gewisse Finanzkreise, darauf aus ist, einen Krieg zu beginnen. Bringt er es fertig, sitzen wir mitten drin in
der Tinte. Sitzen wir immer. Der arme kleine Engländer wird immer in anderer Leute Zankerei hineingezogen… Nun, wir wünschen gewiß nicht, daß Vargans kleine Scheußlichkeit gegen uns eingesetzt wird, aber würde es uns nicht eine ganze Menge Mühe sparen, wenn wir sie selber benutzten?« Der Heilige schüttelte den Kopf. »Falls Marius Vargan nicht einsacken kann«, sagte er, »wird es wohl kaum zu dem Krieg kommen. Auf jeden Fall haben wir ihm zunächst einmal Schach geboten – und eine ganze Menge kann passieren, bevor er die Karre wieder in Gang bringt. Und die Waffe selber benutzen – nein, Roger, ich bin nicht dafür. Darüber haben wir uns bereits eingehend unterhalten. Sie würde nicht bei uns verbleiben. Und selbst, wenn das gelänge: weißt du, Roger, ich glaube trotzdem, daß die Welt ohne sie ein gutes Stück besser und sauberer dastünde. Auch ohne sie gibt es noch genug Scheußlichkeiten in der Rüstkammer. Und ich sage, es soll nicht sein.« Conway blickte ihn ein paar Sekunden lang unbeweglich an. Dann sagte er: »Vargan wird also nach Maidenhead reisen. Du wirst ihn nicht heute nacht noch umbringen?« »Nur wenn ich muß«, erwiderte der Heilige ruhig. »Ich hab’ es mir genau überlegt. Ich weiß nicht, wie sehr wir darauf hoffen dürfen, daß ein Appell an sein menschliches Mitgefühl Wirkung zeitigt, aber solange diese Hoffnung noch besteht, hat er ein Recht zu leben. Wie groß die Hoffnung ist, das werden wir herausfinden. Sollte ich aber feststellen, daß er sich nicht bewegen läßt…« »Verstehe.« Als Norman Kent zehn Minuten später eintraf, stellte der Heilige dem dritten Musketier den Sachverhalt noch einmal dar, und Normans Antwort war nur um ein geringes weniger knapp als Rogers. »Dann ist es vielleicht nötig«, sagte er.
Sein dunkles Gesicht war noch ernster als gewöhnlich, und er sprach sehr leise, denn obwohl Norman Kent einmal einen Bösewicht ins Jenseits befördert hatte, war er der einzige von den dreien, der noch nie einen Menschen hatte sterben sehen.
4 Simon Templar verliert ein Auto und gewinnt einen Disput
»Die uralte Kunst des Generalstabs«, sagte der Heilige, »besteht darin, daß man sich in die Lage des Gegners versetzt. Also: wie würde ich Vargan beschützen, wenn ich so fett wie Chefinspektor Teal wäre?« Sie standen etwa anderthalb Kilometer von Esher entfernt auf der Portsmouth Road zusammen. Hier hatten sie die Wagen angehalten, mit denen sie von London herübergefahren waren. Für die Fahrt hatten sie sich getrennt, da der Heilige unter allen Umständen seinen Furillac und Norman Kents Hirondel mitnehmen wollte – falls es zu Zwischenfällen kam. Und er hatte sich geweigert zuzugeben, daß man vor dem Aufbruch noch Zeit zum Plänemachen habe. Darum werde er sich unterwegs kümmern, hatte er erklärt, und somit eine halbe Stunde sparen. »Fünf Männer waren da, als wir gestern hier waren«, sagte Conway. »Falls Teal nicht sehr viel mehr für die Nachtschicht herangeholt hat, müßten sie eigentlich mehr oder weniger so verteilt sein, wie wir sie gesehen haben – Vorposten auf dem Weg, im Vorgarten und im Garten hinter dem Haus, und eine Garnison im Gewächshaus und im Haus selber. Anzahl ungewiß, aber wahrscheinlich jeweils nur Doppelposten.« Die unvermeidliche Zigarette des Heiligen glühte wie ein heruntergefallener Stern in der Dunkelheit.
»So ungefähr habe ich es mir auch gedacht. Und auf der Basis habe ich mir in groben Zügen einen Angriffsplan zurechtgelegt.« Er skizzierte ihn kurz. Es war nicht weiter schwierig, denn von einem Plan konnte kaum die Rede sein. Er bestand aus wenig mehr als einer Anleitung zu verzweifelt blitzschnellem Handeln. Ein absolutes Verlassen auf das Überraschungsmoment, das war alles. Der Heilige hatte die heitere Angewohnheit, gewisse Dinge nach dieser Fasson anzupacken, und sie gelangen ihm sogar. Aber bei dieser Gelegenheit sollte sich auch das geringste Plänemachen noch als überflüssig erweisen. Ein paar Minuten später waren sie wieder unterwegs. Der Heilige führte. Conway saß neben ihm in dem Furillac. Norman Kent folgte in etwa fünfzig Meter Abstand mit dem Hirondel. Norman wurde, sehr zu seinem Mißfallen, im Anfangsstadium des Unternehmens nicht als aktiver Teilnehmer benötigt. Er sollte seinen Wagen ein wenig von der Ecke des Weges entfernt anhalten, wenden und mit laufendem Motor warten, bis entweder Conway oder der Heilige mit Vargan auftauchte. Die Einfachheit dieser Vereinbarung machte ihren großen Reiz aus, aber es gelang ihnen einfach nicht, Norman dazu zu bringen, dies einzusehen – was, so sagten sie, an seinem stumpfen, zänkischen Gemüt lag. Wenn jedoch diese Einschränkung ihrer beweglichen Streitmacht nicht zufällig zu dem flüchtig entworfenen Feldzugsplan des Heiligen gehört hätte, wäre das Abenteuer wohl sehr viel anders verlaufen. Als Simon genau vor der Einmündung des Weges bremste, warf er flugs einen Blick über die Schulter zurück und sah den Hirondel bereits zum Wenden auf der Straße kurven. Dann hörte er den Schuß. »Beim Zeus!«
Die Anrufung ging dem Heiligen bei angehaltenem Atem von den Lippen. Er war gerade dabei, aus dem Wagen auszusteigen, und er beendete die Placierung seines zweiten Fußes auf der Straße mit außerordentlicher Umsicht. Als er sich mit derselben starren Behutsamkeit aufrichtete, stand Conway schon neben ihm. »Hast du das gehört?« Conways knappe, halb ungläubige Frage. »Und wie!« »Engelsgesicht?« »Genau!« Simon Templar stand da wie ein Fels. Conway in seiner Ungeduld schien es, als habe er seit einer Ewigkeit so dort gestanden – als habe er plötzlich den Verstand verloren. Und doch waren nur ein paar Sekunden verstrichen, und das Hirn des Heiligen hatte mit wilder Präzision Purzelbaum geschlagen, um die nötigen Schlüsse aus der neuen Situation zu ziehen. Also war Engelsgesicht ihnen um eine Nasenlänge voraus – mehr als eine Nasenlänge konnte es kaum sein. Und da sie es nun einmal nicht anders gewollt hatten, saßen sie mitten drin im Schlamassel. Auf ein Treffen mit dem Gesetz hatten sie sich gefaßt gemacht. Nun hieß es gleichzeitig gegen Gesetz und Gesetzlosigkeit antreten, und beide Parteien waren sich zumindest in einem Punkt einig: nämlich K. B. Vargan für sich zu behalten. Wenn sie sich auch in jedem anderen Punkt bekriegten… »Also gewinnen wir, ohne eine Hand zu rühren«, sagte der Heilige leise und verwundert. »Haben wir ein Glück!« »Glück nennst du das?« »Aber natürlich! Hätten wir zu einem besseren Zeitpunkt eintreffen können? Wenn beide Parteien sich aneinander gerieben haben – und zu Schaden gekommen sind – und
Hänschen-Kleins Freunde die schmutzige Arbeit für uns erledigt haben…« Er wurde von einem zweiten Schuß unterbrochen, dann erklang noch einer. Dann drei oder vier durcheinander. »Unser Stichwort!« sagte der Heilige knapp, und Roger Conway war neben ihm, als er in langen Sätzen den Weg hinunterstürmte. Die Wächter waren nicht zu sehen, aber ein Mann kam ihnen schwerfüßig und keuchend aus dem Dunkeln entgegen. Der Heilige schubste Conway zur Seite und streckte gerade rechtzeitig sein Bein aus. Der Mann schlug der Länge nach hin, und Simon stürzte sich auf ihn und knallte seinen Kopf mit aller Macht auf die Straße. Dann riß er den völlig Benommenen hoch und schaute ihn sich genauer an. »Wenn das kein Polizist ist, dann bin ich ein patagonischer Indianer«, sagte der Heilige. »Ein geringfügiger Irrtum, Roger.« Der Mann antwortete mit einem wilden Schwinger, und der Heilige schlug ihm bedauernd auf die Kinnspitze, so daß er zu einem schlaffen Haufen zusammensackte. »Und jetzt?« fragte Conway, und als Antwort prasselte eine zweite Salve aus der Nacht herüber. »Ein sehr lautes Fest«, klagte der Heilige. »Sorgen wir dafür, daß es noch wilder wird!« Er riß eine automatische Pistole aus der Tasche und schoß zweimal in die Luft. Die Antwort kam prompter als er erwartet hatte: zwei kleine Feuerzungen spuckten sie in einiger Entfernung aus der Dunkelheit an, und zwei Kugeln sangen ihnen um die Ohren. »Jemand liebt uns«, bemerkte der Heilige seelenruhig. »Hierher!« Er wollte vor Conway her den Weg hinunterlaufen.
Plötzlich jedoch blendeten wie zwei ungeheure Augen die Scheinwerfer eines Autos in der Dunkelheit auf. Eine Sekunde lang standen Conway und der Heilige wie erstarrt in der gleißenden Helle, die wie mit einem gigantischen Greifer einen gewaltigen Trog Licht aus der Nacht herausgeschürft hatte. So plötzlich und so verwirrend war das unerwartete Aufleuchten, daß ein kostbarer Augenblick nahezu verhängnisvoll verstrich, ehe die beiden merkten, daß die Lichter nicht stillstanden, sondern sich auf sie zu bewegten, und zwar mit der Beschleunigung eines anrollenden D-Zuges. »Hei!« sprach der Heilige, und seine Stimme überlappte mit dem giftigen Rat-rat-rat einer weiteren unsichtbaren Schnellfeuerpistole. Im selben Moment warf er sich herum und bückte sich mit dem Tempo einer angreifenden Schlange. Er packte Conway bei den Knien und schleuderte ihn über die niedrige Hecke am Wegesrand mit einer Genauigkeit und einer Eile, die einem hartgesottenen, alterfahrenen Fußballspieler zur Ehre gereicht hätten. Überrascht und wackelig rappelte Conway sich hoch, da landete auch schon der Heilige neben ihm. Conway sah gerade noch die dunklen Umrisse einer Limousine im Kielwasser des augenversengenden Scheinwerfergleißens vorbeisausen – so dicht, daß Kotflügel und Trittbrett einen ganzen Schwarm knackender Zweige von der Hecke rissen. Und ihm wurde klar, daß es rettungslos um sie geschehen gewesen wäre auf dem schmalen Weg, hätte der Heilige nicht blitzschnell gehandelt. Vielleicht hätte er sich dazu äußern sollen. Üblichem Herkommen gemäß wäre es angebracht gewesen, seinem Retter mit erstickter Stimme zu danken. Sie hätten einander die Hände schütteln und eine Weile weinen sollen. Aber Conway hatte das unbestimmte Gefühl, daß jetzt nicht die Zeit für solche Artigkeiten war. Überdies hatte der Heilige den
Zwischenfall im Nebenbei erledigt; inzwischen war er höchstwahrscheinlich längst seinem Gedächtnis entglitten und in der trüben Rumpelkammer ferner Erinnerungen untergetaucht, so daß er vermutlich sehr überrascht gewesen wäre, hätte man ihn zu diesem Zeitpunkt daran erinnert. An irgendeinem friedlichen, faulenzenden Kaminfeuer, wenn er dereinst alt und klapprig war – vielleicht. Aber in der unmittelbaren Gegenwart kümmerte ihn nur die unmittelbare Zukunft. Er blickte sich nach dem Haus um. Hinter einigen der Fenster war noch Licht; ein überaus heiterer, Ruhe atmender Anblick, wäre nicht das Mißgetön der immer wieder aufflackernden Knallerei gewesen, die nichts weiter als ein kindliches Feuerwerk am Guy-Fawkes-Tag hätte sein brauchen, wäre es der Guy-Fawkes-Tag gewesen. Aber auch solche Überlegungen kratzten den Heiligen nicht. Er betrachtete forschend die Schatten an der Toreinfahrt, und plötzlich erspähte er einen tieferen, wuchtiger aussehenden Schatten unter den anderen Schatten – einen Dickwanst von Schatten. Krach! Eine kleine sprühende Flamme züngelte aus dem dickwanstigen Schatten auf, und sie hörten das Klirren zerspringenden Glases. Aber die fliehende Limousine war nun nur noch wenige Meter von der Hauptverkehrsstraße entfernt. Conway rüttelte den Heiligen bei den Schultern. »Sie kommen davon!« lallte er. »Heiliger, warum schießt du nicht?« Mechanisch hob der Heilige die automatische Pistole, obwohl er wußte, daß seine Chance, einen Treffer zu landen, bei dem Licht kaum mehr als eins zu hundert betrug – und als Pistolenschütze hatte der Heilige noch nie der Meisterklasse angehört.
Einen Augenblick später ließ er die Kanone wieder sinken und hielt den Atem an. Seine linke Hand umklammerte Conways Arm mit mörderischem Griff. »Sie schaffend nicht!« rief er. »Ich habe den Wagen genau vor der Wegmündung stehen sehen, und zum Wenden haben sie keinen Platz!« Und, fasziniert in die Nacht starrend, sah Roger Conway den schlanken blauen Furillac im Kegel der flüchtigen Scheinwerfer aufleuchten, und vor dem krachenden Zusammenstoß hörte er noch das unwirksame Kreischen der gemarterten Reifen auf der Straße. Dann verlöschten die Lichter in splitterndem Knall. Dunkelheit trat ein, und einen Augenblick lang herrschte Stille. »Wir haben sie!« frohlockte der Heilige. Der Dickwanst von Schatten hatte sich von der Toreinfahrt gelöst und kam schwerfällig den Weg hinunter auf sie zu. Wie eine Katze setzte der Heilige über die Hecke und landete leichtfüßig unmittelbar vor Teal, und der Detektiv sah ihn zu spät. »Tut mir leid«, murmelte der Heilige, und es war ehrlich gemeint. Aber er setzte jedes Gramm seines hundertsechzigpfündig geballten Kampfgewichts hinter den Schlag, den er gegen Teals Magengrube landete. An und für sich verspürte der Heilige ehrliche Hochachtung vor der Polizei im allgemeinen und vor Chefinspektor Teal im besonderen, aber in dieser Nacht hatte er keine Zeit für mehr als die allerlakonischsten Höflichkeitsbeweise. Überdies trug Inspektor Teal eine Pistole bei sich, und den Umständen gemäß war es durchaus denkbar, daß er erst geschossen und dann Fragen gestellt hätte. Und schließlich und allerletzt hatte der Heilige seine eigenen Vorstellungen und Pläne, was die Rettung Vargans aus den Händen des Überfallkommandos anging, und sie schlossen weder die Mitarbeit noch das
Dazwischentreten des Gesetzes ein. Diese drei zwingenden Argumente faßte er in dem einen Rammstoß gegen Teals dritten Westenknopf zusammen, und der Detektiv sank mit schmerzlichem Grunzen zu Boden. Dann wandte der Heilige sich um und jagte hinter Roger Conway her den Weg hinunter. Er hörte jemanden hinter sich rufen, und wieder bellte eine Pistole wütend durch die Nacht. Der Heilige spürte den Flugwind der Kugel wahrhaftig seine Wange streifen. Zumindest noch ein weiterer Vertreter der Polizei mußte also Marius’ Überfall beobachtet haben, aber Simon entschied, daß weitere Dispute mit dem Gesetz fürs erste aufgeschoben werden konnten. Er schlug Haken wie ein Hase und raste weiter, wohl wissend, daß nur der glücklichste – oder unglücklichste – von aufs Geratewohl abgefeuerten Schüssen ihm bei dem schlechten Licht so nahe hatte kommen können, und war daher ohne Furcht, einem zweiten könne dasselbe Geschick beschieden sein. Es schien, daß der Detektiv, der hinter Teal aus dem Garten aufgetaucht war, ebenso dachte, denn er stellte das Feuer ein. Aber als der Heilige bei der gelben Limousine eintraf, die nun unlöslich mit dem Wrack des zusammengedonnerten Furillac verklammert war, hörte er den Mann mit hämmernden Schritten aus der Dunkelheit näher kommen. Conway öffnete die Wagentür, und es war ein Wunder, daß seiner Laufbahn nicht an dieser Stelle durch die Kugel aus dem Inneren des Autos, die an seinem Ohr vorbeischnarrte, ein Ende bereitet wurde. Aber es gab keinen Knall – nur ein kehliges Flupp eines sehr wirksamen Schalldämpfers –, und er begriff, daß alle Schüsse, die sie gehört hatten, von den Kriminalpolizisten abgegeben worden sein mußten. Das Überfallkommando hatte nicht so lärmend gearbeitet, wie der Heilige ihm vorgeworfen hatte.
Im nächsten Augenblick hatte Simon Templar eine Tür auf der anderen Seite der Limousine aufgerissen. »Du Nichtsnutz!« sagte Simon Templar vorwurfsvoll. Mit seinem langen Arm fuhr er dem Kunstschützen über die Schulter, und seine sehnige Hand umklammerte die Pistole gerade rechtzeitig und drehte sie hoch, so daß der nächste Schuß statt Conways Gehirn das Wagendach durchschlug. Dann schraubte der Heilige die Kanone so weit herum, daß sie sich dem Mann in die Rippen rammte. »Jetzt darfst du schießen, Süßer«, ermunterte der Heilige ihn. Aber der Mann saß ganz still da. Er saß auf dem Rücksitz des Wagens, neben Vargan. Der Fahrersitz war leer, und die Tür an der Seite stand offen. Der Heilige überlegte, wer wohl der Chauffeur gewesen sein konnte und wohin er verschwunden war und ob es am Ende Engelsgesicht selber war. Aber er hatte nur wenig Zeit für solche Spekulationen. Etwaige Gefahren aus der Richtung des verschwundenen Chauffeurs mußte man eben begegnen, wenn sie auftauchten. Conway zerrte Vargan auf die Straße an der einen Seite, und der Heilige packte den Kunstschützen mit der freien Hand beim Genick und zerrte ihn auf die Straße an der anderen Seite. Mit einem kurzen Dreher war der Mann entwaffnet, dann riß der Heilige ihn mit einem Ruck beim Genick herum. »Schlafe, mein Prinzchen«, sagte der Heilige und hieb ihm einen meisterlich aus kühler Strategie und roher Kraft gemischten Uppercut unter die Kinnlade. Er wandte sich um – und blickte in die Mündung einer Pistole und hob unverzüglich die Hände hoch. Er hatte seine eigene Kanone in die Tasche gesteckt, um sich bequemer mit dem Mann aus dem Auto beschäftigen zu können, und er wußte, daß der Versuch, danach zu greifen, gefährlich ausgehen mußte.
»Liebliches Wetter haben wir in letzter Zeit gehabt, was?« sprach der Heilige leutselig. Der vor ihm stand, mußte wohl der Wächter sein, der weiter hinten auf dem Weg auf ihn geschossen hatte. Sein Körperbau war stämmig genug, reichte jedoch nicht im entferntesten an Engelsgesichts gigantische Proportionen heran. Überdies hätte Engelsgesicht oder einer seiner Leute bereits vor mindestens zehn Sekunden abgedrückt. Die automatische Pistole bohrte sich naseweis in die Brust des Heiligen, und er spürte, wie seine Tasche mit geübtem Griff um seine Kanone leichter gemacht wurde. Der Mann tat seine Genugtuung unter schnaufendem Ausatmen kund. »Das wäre jedenfalls schon einmal einer von euch«, bemerkte er grimmig. »Es freut mich, Sie kennenzulernen«, erwiderte der Heilige. Da hatte er den Salat. Die Stimme des Heiligen klang so ruhig, als mache er plätschernd Konversation in einem Rauchsalon und rede nicht etwa mit beiden Händen in der Luft und angesichts eines unfreundlichen Detektivs, der mit einem Smith-Wesson auf sein Zwerchfell zielte. Und die Klemme, in der er da steckte, war ohne Zweifel böse. Wären die Umstände ein ganz klein wenig anders gewesen, hätte der Heilige vielleicht dieses Hindernis auf dieselbe Art aus dem Wege geräumt, auf die er mit Marius fertig geworden war bei ihrer ersten Begegnung. Marius hatte ihn nicht weniger wirksam in der Kimme gehabt. Aber Marius hatte sich leichtes Spiel erhofft und war daher um einen einzigen winzigen Strich unterhalb seiner Bestform gewesen – während dieser Mann hier ganz offenbar mit Ärger rechnete. Nach all dem, was er in dieser Nacht schon hinter sich hatte, wäre er ein eingefleischter Narr gewesen, hätte er es nicht getan. Und da war etwas, das Simon vermuten ließ, daß der Mann kein eingefleischter Narr war. Diese nüchterne
Beharrlichkeit seiner Schnellfeuerpistole… Nichtsdestoweniger mußte das Hindernis überwunden werden. »Schaff Vargan weg, Roger!« sang der Heilige fröhlich und beherrscht. »Bis auf ein andermal…« Er trat zwei Schritte zur Seite, Hände in die Höh7. »Keinen Unfug!« sagte der Detektiv scharf, und der Heilige hörte prompt mit dem Unfug auf. Aber nun stand er so, daß er hinten um die Limousine herumschauen konnte. Das rote Schlußlicht des Hirondel bewegte sich – Norman Kent brachte den Wagen rückwärts näher heran, um Zeit zu sparen. Conway bückte sich und wuchtete sich den Professor wie einen Sack Kartoffeln auf die Schulter, dann drehte er sich zögernd nach dem Heiligen um. »Hau ab mit ihm, ehe es zu spät ist, du Idiot!« rief der Heilige ungehalten. Und er war immer noch überzeugt, daß er dazu ausersehen war, sich zu opfern, um den Rückzug zu decken. Nicht, daß er sich stillschweigend zu fügen gedachte. Aber… Er sah, wie Conway sich umdrehte und sich in Trab setzte, und er atmete erleichtert auf. Und dann durchzuckte es ihn wie ein Blitz, daß er vielleicht doch noch eine Chance hatte. Behutsam spannte er alle Muskeln – und die Chance kam. Dem Detektiv konnte man es kaum ankreiden. Er versuchte schlechthin das Unmögliche. Er wurde hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, seinen Gefangenen nicht entkommen zu lassen, und dem unwillkürlichen Drang herauszufinden, was mit dem Mann vor sich ging, zu dessen Schutz er abgestellt worden war. Er wußte, daß dieser Mann in diesem Augenblick entführt wurde, und er wußte, daß er es eigentlich verhindern mußte. Aber sein Respekt vor der verzweifelten Entschlossenheit seines Gefangenen bannte ihn auf der Stelle
fest, als halte nicht er, sondern der Gefangene die Pistole in der Hand. Natürlich hätte der Detektiv den Gefangenen abschießen und dann die restliche Arbeit erledigen sollen. Aber, als sei er ein wenig kopflos geworden, versuchte er, eine weniger blutrünstige Lösung zu finden, und die Lösung, die er dann fand, war keine Lösung. Er versuchte, seine Aufmerksamkeit zu teilen und sie gleichzeitig zwei Dingen zuzuwenden. Und das – eigentlich hätte er das wissen müssen – war verhängnisvoll, wenn man es mit einem Mann wie dem Heiligen zu tun hatte. Aber in diesem Augenblick kannte er den Heiligen noch nicht so recht. Simon war nach den zwei Schritten, die der Detektiv ihm gewährt hatte, dergestalt postiert, daß das Blickfeld des Detektivs – hätte er gleichzeitig in zwei Richtungen schauen können: mit dem einen Auge nach Conway und mit dem anderen auf den Heiligen – einen stumpfen Winkel gebildet hätte. Darum konnte der Detektiv, dessen optischen Kugeln solches Kunststück versagt war, nicht sehen, was Conway trieb, ohne den Blick von Simon Templar zu wenden. Und so tat der Detektiv etwas sehr Dummes. Einen Augenblick lang ließ er den Heiligen außer acht. Wie er glauben konnte, er werde ungestraft davonkommen, wird immer ein Rätsel bleiben. Simon jedenfalls ersuchte ihn in diesem Augenblick nicht um eine Erklärung, und später hat er es auch nicht herausgefunden. Denn in der Frist dieses kurzen Augenblicks ließ der Heilige, ungeachtet der drohenden Schnellfeuerpistole, eine lange schräge Linke los, die ihre Kraft aus jeglichem Muskel seines Körpers bezog, von den Zehenspitzen bis in die Handgelenke. Und der Heilige war nach dem Hirondel unterwegs, ehe der Mann noch die Erde erreichte.
Conway hatte gerade erst seine strampelnde Last auf den Rücksitz plumpsen lassen, da sprang der Heilige schon aufs Trittbrett und gab Norman Kent einen Klaps auf die Schulter. »Und jetzt nichts wie ab, junger Freund!« rief er, und der Hirondel rutschte davon, während er und Conway hinten einstiegen. Er sammelte Vargans zappelnde Beine mit einer Tintenfischumarmung und hielt den sich windenden Wissenschaftler fest, damit ihm Conway mit dem Strick, den sie zu diesem Zweck mitgebracht hatten, die Füße fesseln konnte. Die geschickten Hände eines Mitglieds des ersten Entführungsteams hatten das übrige bereits erledigt – die Handgelenke waren mit kräftiger Kordel zusammengebunden, und ein zünftiger Knebel erstickte die Schreie, die er andernfalls zweifelsohne ausgestoßen hätte. »Was ist passiert?« fragte Norman Kent über die Schulter hinweg. Und der Heilige beugte sich über den Vordersitz und erzählte es ihm. »Alles in allem«, sagte er, »hätte es kaum besser klappen können, wenn wir es uns ausgedacht hätten. Engelsgesicht hat den Überfall weiß Gott nicht wie ein Amateur angefaßt. Aber ist es zu fassen? Keine List, keine Feinheiten, soviel wir wissen. Knall und Fall heran wie ein Gangster aus Chikago und zum Teufel mit den Konsequenzen. Das beweist uns nur, wie ernst ihm die Sache ist.« »Wie viele Leute hat er da gehabt?« »Weiß nicht. Wir sind nur einem begegnet, und das war Engelsgesicht nicht. Vielleicht war er mit Vargan zusammen in dem Auto, aber dann hatte er sich bereits in die Büsche geschlagen, als Roger und ich eintrafen. Ein Mann wie er dreht solch ein Ding nicht mit einem einzigen Auto und zwei, drei Spezis. Irgendwo muß ein Ersatzbus gestanden haben – mit Fracht. Vermutlich weiter hinten auf dem Weg. Bestimmt gibt
es noch einen anderen Zugang zu ihm, ich weiß allerdings nicht wo. – Schalt jetzt lieber die Scheinwerfer ein, uns kann keiner mehr sehen.« Er lehnte sich zurück und zündete eine Zigarette an. Auf seine Art war der Einsatz äußerst zufriedenstellend verlaufen, wenn auch sein Erfolg mehr oder weniger auf Zufall beruhte. Aber der Heilige runzelte recht gedankenvoll die Stirn. Es war nicht der Verlust des Wagens, der ihn bekümmerte – das war nur eine nebensächliche Kleinigkeit. Aber in dieser Nacht hatte er etwas sehr viel Wesentlicheres verloren. »Sieht nach meinem Abschied von England aus«, sagte er, und Conway, dessen Stirn ein bißchen weniger rasch arbeitete, war überrascht. »Wieso? Willst du nach dieser Geschichte ins Ausland?« Der Heilige lachte ein etwas trauriges Lachen. »Bleibt mir denn eine andere Wahl?« fragte er. »Der Furillac war nicht zu beseitigen, über ihn wird Teal mich aufspüren. Er weiß nicht, daß ich der Heilige bin, aber auch so können sie mir mit dem ›Gesetz betreffend die Geheimhaltung militärischer Geheimnisse‹ gerade böse genug zusetzen. Ganz zu schweigen davon, daß jeglicher Schaden, den Engelsgesichts Bande vielleicht der Polizei zugefügt hat, ebenfalls unserem Konto gutgeschrieben wird. Nichts in der Welt beweist ihnen, daß wir nicht bei dem ursprünglichen Überfall mit von der Partie waren – außer den Aussagen der Bande selber, und auf deren Garn möchte ich lieber nicht bauen. Nein, mein lieber Roger. Wir schwimmen ganz ohne Zweifel in allerdickster Tinte. Spätestens morgen früh suchen sämtliche Polizisten Londons nach mir, und morgen abend hängt eine Fotografie von mir auf sämtlichen Polizeiwachen Englands. Wie sagte der Bischof doch wieder zu der Diva? ›Wird das ein Spaß werden!‹«
Aber der Heilige hielt es in Wahrheit nicht für sehr spaßig. »Können wir unbesorgt nach Maidenhead fahren?« fragte Conway. »Das ist unser Trost. Der Bungalow steht auf den Namen einer Mrs. Patricia Windermere, die sich in ihrer Freizeit damit beschäftigt, Miß Patricia Holm zu sein. Den Witz habe ich mir vor einem Jahr ausgedacht – für alle Fälle.« »Und Brook Street?« Der Heilige lachte vor sich hin. »Die Wohnung in der Brook Street«, erwiderte er, »steht auf deinen Namen, mein kleiner ehrwürdiger Roger. Ich hielt das für sicherer. Ich wohne lediglich bei dir zur Miete. Nein – in Beziehung sind wir fürs erste gedeckt, wenn es wohl auch kaum lange währen wird. Vielleicht ein paar Tage… Und die Adresse, die in meinen Wagenpapieren steht, habe ich eigens zu diesem Zweck erfunden. Aber da ist ein Haken. Sobald sich herausstellt, daß die Adresse eine Niete ist, werden sie sich an den Händler wenden, von dem ich den Wagen gekauft habe, und ich habe ihn ihnen erst vor einem Monat noch zur Überholung zurückgeschickt und Brook Street als Adresse angegeben. Das war unvorsichtig! – Welcher Tag ist heute?« »Inzwischen Sonntag morgen.« Simon richtete sich im Sitzen auf. »Wieder einmal gerettet. Vor Montag können sie nicht viel herausfinden. Mehr Zeit brauchen wir nicht. Ich muß Pat erwischen…« Er sank wieder in die Polsterung zurück und schwieg, und für den Rest der Reise war er sehr still. In seinem Hirn jedoch herrschte alles andere als Ruhe. Er entwarf vage Pläne, spann tolle Hirngespinste, träumte mit offenen Augen und ließ seine Phantasie mit der veränderten Lage der Dinge spielen in der Hoffnung, irgend etwas werde sich aus dem Chaos herausbilden. Aber er fand nichts als reuige Resignation.
»Schlecht war es jedenfalls nicht für ein letztes Abenteuer«, sagte er. Es war vier Uhr, als sie vor dem Bungalow anlangten, und der nimmermüde Orace öffnete die Haustür, ehe der Wagen noch ganz stand. Der Heilige wartete, bis Vargan ins Haus getragen wurde, dann ging er ins Eßzimmer, wo Bier und belegte Brote bereitstanden. »So weit, so gut«, sagte Roger Conway, als die drei beim Imbiß wieder zusammentrafen. »So weit«, pflichtete der Heilige bei – mit einer Betonung, die die anderen beiden jäh aufblicken ließ. »Was willst du damit sagen?« fragte Norman Kent. Simon lächelte. »Was ich gesagt habe. Ich habe das Gefühl, es blüht uns was. Nicht die Polizei – was die Polizei angeht, stehen die Chancen zwei zu eins für uns. Ich weiß auch nicht, ob es Engelsgesicht ist. Ich weiß es überhaupt nicht. Es ist eine Vorahnung, meine Cherubim.« »Nichts drum geben«, riet Roger Conway sachlich. Aber der Heilige schaute durch das Fenster auf die leere Blässe, die den Östlichen Rand des Himmels gebleicht hatte. Und dachte nach.
5 Simon Templar kehrt in die Brook Street zurück, wo etwas geschieht
Das Frühstück wurde in dem Bungalow um eine Zeit serviert, zu der gewöhnliche Leute selbst sonntags von ihrem Mittagsmahl aufstehen. Conway und Kent setzten sich in Hemdsärmeln, strubbelig und mit Bartstoppeln ums Kinn zu Tisch. Aber der Heilige hatte bereits im Fluß geschwommen, sich mit Oraces Rasierapparat rasiert und mit solcher Sorgfalt Toilette gemacht, als schicke er sich an, Modell für ein Illustrierten-Titelbild zu stehen, und die bekannte taufrische Rose hätte mit ihm verglichen abgehärmt gewirkt. »Niemand«, beklagte sich Roger, nachdem er die Erscheinung näher betrachtet hatte, »hat das Recht, und diese frühe Morgenstunde so auszusehen!« Der Heilige lud sich drei Spiegeleier und eine entsprechende Portion gebratenen Specks auf und ließ sich auf seinem Platz nieder. »Falls du«, erwiderte er, »deine triefenden Augen weit genug aufreißen könntest, um das Zifferblatt von der Uhr da zu sehen, würdest du feststellen, daß es halb zwei durch ist.« »Es geht mir um das Prinzip«, wehrte Conway sich, wenn auch ohne besonderen Nachdruck. »Es war fast sechs Uhr, als wir ins Bett gingen. Und drei Spiegeleier…« Der Heilige griente.
»Das macht das gesunde Leben an der frischen Luft. Ich bin lustig themseabwärts geplanscht, da habt ihr beide noch geschnarcht.« Norman schlug die Zeitung auf. »Roger hat geschnarcht«, verbesserte er. »Ihm steht das Maul vierundzwanzig Stunden am Tag offen. Und jetzt redet er auch noch mit vollem Mund!« setzte er beleidigend hinzu. »Ich hab’ ja gar nicht gegessen!« wandte Conway ein. »Doch«, bemerkte der Heilige vernichtend. »Ich hab’s gehört.« Er langte nach der Kaffeekanne und goß sich mit Schwung ein. Die Vorahnung drohender Gefahr, die ihn früh am Morgen beherrscht hatte, war vergessen – so vollkommen, als sei ein Teil seines Gedächtnisses ausgelöscht worden. Er hatte sich selten wohler gefühlt und gerüsteter, jederlei Wagnis auf sich zu nehmen. Draußen schien die Sonne auf den Garten und den zum Fluß abfallenden Rasen hinab, und durch die offenen Flügeltüren strömte mit der linden Luft lieblicher Blumenduft ins Haus. Die fieberhafte Gewalttätigkeit der verflossenen Nacht war so vollkommen dahin wie ihre Dunkelheit, und mit der Nacht und der Gewalttätigkeit entschwanden auch alle düsteren Launen und dunklen Vorahnungen. Derlei Dinge gehörten der Nacht an. Am hellichten Tag schienen sie unwirklich, phantastisch, unglaublich. Eine Schlacht war geschlagen worden – das war alles. Weitere Kämpfe standen bevor. Und es war gut so, daß man um solch eine Sache kämpfen durfte und sich mit solch einem Herz und solch einem Körper dem Kampf stellen konnte. Als der Heilige vor etwa einer Stunde von seinem Bad zurückgekommen war, hatte er wieder den Klang der Trompete gehört.
Als er fertig gefrühstückt hatte, schob er seinen Stuhl zurück und steckte sich eine Zigarette an, und Conway blickte erwartungsvoll zu ihm hin. »Wann fahren wir?« »Wir?« »Ich fahre mit.« »O.K.«, erwiderte der Heilige. »Wir fahren los, sobald du fertig bist. Wir haben eine Menge zu erledigen. Montag macht sich sehr wahrscheinlich die Polizei über das Haus in der Brook Street her und über alles, was darin ist. Daran läßt sich nichts ändern. Aber ich möchte gerne meine Garderobe retten und noch ein paar Kleinigkeiten. Den Rest muß ich abschreiben. Dann müssen noch Tüten gepackt werden für euch beide, damit ihr unsere Ausquartierung hier draußen übersteht, und schließlich noch Pats Sachen. Und Geld muß ich beschaffen. Das ist dann, glaube ich, alles. Damit haben wir ganz schön zu tun.« »Mit welchem Zug kommt Pat?« fragte Norman. »Könnte nichts schaden, wenn wir das wüßten«, gab der Heilige zu. »Ich rufe an und frage, während Roger sich anzieht.« Die Verbindung war in zehn Minuten hergestellt, dann sprach er mit ihr. »Hallo, Pat, altes Mädchen. Wie sieht’s aus?« Sie brauchte nicht zu fragen, wem die faule, lachende Stimme gehörte. »Hallo, Simon, alter Knabe!« »Ich rufe an«, sagte der Heilige, »weil bereits zwei Tage verstrichen sind, seit ich dir gesagt habe, daß du das Reizendste und Anbetungswürdigste bist, was je vorgekommen ist, und daß ich dich liebe. Und in dem Zusammenhang, altes Mädchen, wann kommst du zurück? – Nein, nein, gar nichts Besonderes. – Ach wo, das spielt keine
Rolle. Um dir die Wahrheit zu sagen, wir hätten nicht gern, wenn du zu spät nach Hause kommst – allerdings auch nicht zu früh. – Das erzähl ich dir, wenn du kommst. Telefone haben schon des öfteren Ohren gehabt. – Nun, wenn du es unbedingt wissen willst: Roger und ich haben so ein paar Vögel zu Gast, und falls du zu früh kommst, findest du am Ende alles heraus… O ja, sie spielen sehr schön mit. – Das ist weiter nicht schwierig; ich such’ dir sofort einen Zug heraus, wenn du möchtest. Bleib am Apparat!« Er drehte sich um. »Schmeiß mir mal den Fahrplan an den Kopf, Norman – da unten in der Ecke, unter den alten Heften von La Vie Parisienne.« Geschickt fing er den Wälzer auf. »Wie bald kannst du dich von dieser Fete losreißen? – Gegen sieben? – Nein, nein, das paßt gut. Terry kann dich mit dem Wagen nach Exeter bringen, und falls du lebendig hinkommst, müßtest du ohne alle Schwierigkeiten einen sehr hübsch aussehenden Zug erwischen um – Verflucht! Das hier ist wochentags, und die Sonntagszüge bummeln wie ein Schotte, der von einem halben Penny Abschied nimmt. Hör zu, der einzige, den du jetzt noch erreichen könntest, fährt um 8 Uhr 58. Ankunft 9 Uhr 20. Der einzige Zug danach kommt erst kurz vor vier Uhr morgen früh in London an. Ich nehme an, daß du vorhattest, noch über Nacht zu bleiben. – Tut mir leid, aber das geht einfach nicht. Es ist wichtig, ja… Fein, Kind. Erwarte dich also gegen halb zehn in der Brook Street. Bis dann, Mädchen. Tschüs!« Lächelnd legte er den Hörer auf, und da kehrte auch schon Roger Conway nach vorbildlich rascher Toilette zurück. »Und nun los, Roger, altes Haus! Ran an die Bouletten!« »Alles klar, Käpt’n!« »Gehen wir!«
Und der Heilige stützte die Hände in die Seiten und lachte leise. Sein dunkles Haar war makellos frisiert, in seinen blauen Augen tanzte es, über sein braunes Gesicht wetterleuchtete eine absurd jungenhafte Begeisterung. Er hakte Conway unter, und zusammen verließen sie das Haus. Roger verlangsamte seine Schritte mehr und mehr, je näher sie an den Wagen herankamen. Ihm schien ein Gedanke gekommen zu sein. »Fährst du?« fragte er mißtrauisch. »Ich fahre«, erwiderte der Heilige. Mit unglücklichem Seufzen stieg Roger ein. Er wußte aus bitterer Erfahrung, daß der Heilige originelle, haarsträubende Vorstellungen vom Umgang mit starkmotorigen Automobilen hatte. Um halb fünf kamen sie in der Brook Street an. »Fährst du auf dem Rückweg auch?« fragte Roger. »Ja«, erwiderte der Heilige. Mr. Conway hielt sich die Augen zu. »Bring mich zu einem hübsch langsamen Zug, ja?« bat er. »Oh – und mach ein Testament und vermach alles mir. Dann kannst du mit meinem Segen sterben.« Simon lachte und packte ihn beim Arm. »Hinauf mit dir«, sagte er. »Oben ist Bier. Und dann geht’s an die Arbeit. Komm, mein Hübscher!« Drei Stunden lang arbeiteten sie. Einen Teil der Zeit half Conway dem Heiligen, dann machte er sich daran, seine eigenen Sachen und Norman Kents zu packen. Gegen acht Uhr kam er zurück und lud das mitgebrachte Gepäck sofort aus dem Taxi in den Hirondel um. Der komplette Beitrag des Heiligen – zwei Kabinenkoffer hinten auf und ein schwerer Koffer im Wagen selber – waren bereits verstaut. Der Hirondel sah sehr danach aus, als werde er zu einem Umzug benutzt.
Conway stieß in der Wohnung auf den Heiligen, der gerade mit phänomenaler Geschwindigkeit einen Krug Bier leerte. »Mensch!« sagte Conway beunruhigt. »Kipp deins schnell ‘runter!« riet ihm der Heilige und zeigte auf den zweiten Krug, der gefüllt auf dem Tisch bereitstand. »Wir fahren los.« »Fahren?« fragte Roger verdutzt. Simon zeigte mit dem leeren Krug zum Fenster hinüber. »Draußen«, sagte er, »sind ein paar ausgesucht reizende Pflänzchen energisch damit beschäftigt, nichts zu tun. Wahrscheinlich hast du sie nicht bemerkt. Ich hab’ sie selber auch jetzt eben erst entdeckt. Ich möchte schwören, daß sie nun erst Posten bezogen haben – ich hätte sie bestimmt nicht übersehen, als ich den Wagen belud. Aber sie haben zu viel gesehen. Viel zuviel.« Conway ging zum Fenster und spähte hinaus. Dann: »Ich sehe niemanden, der verdächtig aussieht.« »Weil du solch ein unschuldiges, argloses Gemüt hast, mein Lieber«, sagte der Heilige und trat neben ihn. »Wenn du so tief in Sünden watetest wie ich, würdest du… Ich werde wahnsinnig!« Conway betrachtete ihn mit ernstem Gesicht. »Es liegt wohl an dem Bier«, sagte er. »Macht ja nichts. Dir wird schon bald wieder besser sein.« »Verdammt will ich sein!« sagte der Heilige scharf. Er knallte den Krug auf das Fensterbrett und packte Roger bei beiden Schultern. »Stell dich nicht blöde an, Roger!« rief er. »Du kennst mich. Ich sage dir, das Haus ist bewacht worden. Polizei oder Engelsgesicht. Wer, wissen wir nicht; aber mit ziemlicher Sicherheit Engelsgesicht. Teal kann in der kurzen Zeit unmöglich so weit vorgedrungen sein, darum möchte ich wetten. Aber Engelsgesicht kann. Und die beiden Spürhunde haben sich mit der Neuigkeit über uns dünne
gemacht. Also: um uns Ärger zu ersparen, machen wir uns ebenfalls dünne. Denn wenn ich mich nicht ganz in Engelsgesicht täusche, dann wird die Brook Street demnächst sehr viel ungesunder als ein heißes Fleckchen in der Hölle, und zwar in weniger als einer Stunde!« »Aber Pat?« Der Heilige schaute auf seine Uhr. »Zwei Stunden müssen wir uns in jedem Fall noch vertreiben. Der Hirondel schafft es mühelos. Hin nach Maidenhead, das Gepäck ausgeladen, dann nach dem Paddington-Bahnhof zurück und Pat vom Zug abgeholt.« »Angenommen, wir haben eine Panne?« »Zum Teufel mit Pannen! Aber du hast recht. Also Berichtigung: Ich setze dich am Bahnhof ab und fahre allein zurück nach Maidenhead. Du kannst dich in der Bahnhofskneipe amüsieren; da treffe ich dich. Kann auch nicht schaden, wenn wir das Gepäck los werden. Wer weiß, ob nicht die Luft bis halb zehn ziemlich dick geworden ist? Daher ist es schon besser, wir bringen den Transport hinter uns, so lange dem nichts im Wege steht. Wenn ich jetzt losschnurre, haben die Brüder noch keine Zeit gehabt, meine Verfolgung vorzubereiten, und später können wir ihnen – sollten sie sich an uns hängen – viel leichter entwischen ohne all den Ballast, der nur unsere Geschwindigkeit behindert.« Während Conway noch der letzten Ansprache des Heiligen lauschte, fühlte er sich bereits die Treppe hinuntergedrängt. Die Ansprache begann in der Brook Street und endete auf dem Paddington-Bahnhof – jedenfalls schien es Conway so, wenn auch seine überbeanspruchte Einbildungskraft größtenteils für diesen Eindruck verantwortlich war. Aber einer gewissen tatsächlichen Grundlage entbehrte der Eindruck auch wiederum nicht; er war wahrhaft symptomatisch für die
erschreckende Blitzesschnelle, mit der Simon Templar Entschlüsse in Taten umsetzte. An der Theke der Bahnhofswirtschaft, einigermaßen benebelt, gelangte Roger Conway erst wieder zu klarem Bewußtsein. Und um diese Zeit jagte Simon Templar bereits mit dem Hirondel westwärts. Im Hirn des Heiligen gärten die Fragen. Würde Marius eine Razzia auf das Haus in der Brook Street veranstalten? Oder würde er, wenn er feststellte, daß der von seinen Spionen gemeldete beladene Wagen abgefahren war, annehmen, daß die Vögel ausgeflogen waren? So oder so spielte es eigentlich keine Rolle, aber es erhob sich daraus die Frage, was Marius tun würde, sobald er festgestellt oder geschlossen hatte, daß seine Vögel ihm entwischten. Und außerdem: da Marius doch gewußt haben mußte, daß der Heilige an der rauhen Geselligkeit in Esher teilgenommen hatte – warum war dann der Brook Street nicht schon längst ein Besuch abgestattet worden? Antwort: Weil a) eine solche Vorstellung gewisse Vorbereitungen erheischt, und es b) in jedem Fall die Dinge erleichtern würde, wenn man bis zum Dunkelwerden wartete. Womit zu dieser Jahreszeit erst recht spät am Abend zu rechnen war. Weshalb es möglich sein sollte, rechtzeitig wieder aus Maidenhead zurück zu sein. Irgend etwas würde Marius jedoch auf jeden Fall anstellen in der Zwischenzeit. Man versetze sich in die Lage des Gegners… Der Heilige erreichte Maidenhead in knapp einer Stunde, und fünf Minuten später hatte er die Rückfahrt angetreten. Seine Schuld war es nicht, daß er auf halbem Wege von einem verstopften Vergaser angehalten wurde und fünfzehn Minuten brauchte, um den Schaden zu finden und zu heilen. Der Schnitt jedoch, den er auf der restlichen Strecke fuhr, erstaunte ihn sogar selber.
In der Bahnhofshalle rannte er Roger Conway beinahe über den Haufen. »Hallo«, sagte er. »Wohin des Weges? Der Zug muß jeden Moment einlaufen.« Conway starrte ihn an. Dann zeigte er stumm auf die Uhr in der Halle. Simon sah zu ihr hin und erbleichte. »Aber meine Uhr«, stammelte er, »meine Uhr…« »Du mußt gestern abend vergessen haben, sie aufzuziehen.« »Warst du am Zug?« Conway nickte. »Ganz unmöglich ist es natürlich nicht, daß ich sie übersehen habe, aber ich könnte schwören, daß sie nicht in dem Zug war. Wahrscheinlich hat sie ihn verpaßt.« »Dann liegt in der Brook Street ein diesbezügliches Telegramm. Und dahin fahren wir jetzt – und wenn sämtliche Armeen Europas uns den Weg versperren!« Sie brachen auf. Conway zog es hinterher vor, sich nicht an die Fahrt zu erinnern. In der Brook Street jedoch schien der Friede zu regieren. Die Straßenlaternen brannten, und es wurde rasch dunkel, denn der Himmel hatte sich im Laufe des Abends mit Wolken überzogen. Wie an einem Sonntag nicht anders zu erwarten, waren nur wenige Menschen unterwegs, und Verkehr gab es fast gar keinen. Von einer Menschenmenge gar konnte schon überhaupt keine Rede sein – nichts deutete darauf hin, daß sich irgend etwas Auffälliges ereignet hätte. Ein Mann lehnte lässig an einem Laternenpfahl und rauchte seine Pfeife, als gebe es sonst nichts zu tun für ihn auf der Welt. Als der Hirondel bremste, trat zufällig ein anderer Mann zu ihm und sprach mit ihm. Der Heilige bemerkte es und sah darüber hinweg. Wie der Wirbelwind war er zur Haustür herein und die Treppe hinauf. Conway folgte ihm.
Conway zweifelte nicht, daß der Heilige durch eine ganze Polizeikaserne oder ein Bataillon Engelsgesichter gestürmt wäre. Aber da war nichts zum Hindurchstürmen. Und soweit man sehen konnte, hatte auch niemand die Wohnung betreten. Sie war so, wie sie sie verlassen hatten. Ganz genauso. Aber ein Telegramm war nicht da. »Vielleicht habe ich sie verpaßt«, sagte Conway hilflos. »Dann müßte sie jetzt hierher unterwegs sein. Vielleicht hat das Taxi eine Panne gehabt, oder einen – geringfügigen – Unfall!« Er brach jäh ab, als er es in den Augen des Heiligen blitzen sah. »Schau auf die Uhr!« knirschte der Heilige in verhaltener Wut. Roger schaute auf die Uhr. Die Uhr besagte, daß es ein Viertel vor zehn war. Und Roger sah des Heiligen fürchterliches Gesicht; das hypnotisierte ihn. Das hier war plötzlicher hereingebrochen als alles, was Roger Conway bisher zugestoßen war, und es wirbelte ihn herum, daß er nicht mehr wußte, wo er war, so wie ein Mann in einem kleinen Boot in tropischen Gewässern bei einem einzigen Windstoß hin ist. Der Schlag war zu rasch auf ihn niedergegangen. Er spürte den Aufprall, aber er hätte nicht sagen können, was für ein Schlag das war, der ihn da traf, oder ob in irgendeinem begreiflichen Sinne überhaupt ein Schlag gegen ihn geführt worden war. Er konnte nur die Uhr anblicken und ratlos stammeln: »Es ist Viertel vor zehn.« Der Heilige sagte unterdessen: »Sie hätte mich benachrichtigt, wenn ihr der Zug weggefahren wäre!« »Oder sie hätte auf den nächsten gewartet.«
»Mein Gott!« fuhr der Heilige ihn an. »Hast du nicht gehört, als ich sie von Maidenhead aus angerufen habe? Ich hab’ ihr doch alle Züge herausgesucht, und es kommt nur noch einer hinterher – morgen früh, drei Uhr einundfünfzig. Glaubst du denn etwa, sie würde auf den warten, ohne mir zu telegrafieren?« »Aber angenommen, ich hab’ sie auf dem Bahnsteig verpaßt, und dem Taxi ist was passiert…« Aber der Heilige hatte sich eine Zigarette zwischen die Lippen gesteckt und zündete sie an mit einer Hand, die ruhiger nicht hätte sein können; und das Gesicht des Heiligen war zu einer Maske erstarrt. »Noch ein Bier«, sagte der Heilige. Roger kam der Aufforderung nach. »Und unterhalte dich mit mir«, sagte der Heilige, »unterhalte dich ruhig und vernünftig mit mir, ja? Denn idiotische Vorschläge nützen mir gar nichts. Ich brauche Terry nicht anzurufen und zu fragen, ob Pat den Zug erreicht hat, denn ich weiß, sie hat ihn erreicht. Ich brauche dich nicht zu fragen, ob du ganz sicher bist, daß du sie auf dem Bahnhof nicht verpaßt hast, denn ich weiß, du hast sie nicht verpaßt…« Der Heilige brach ein Streichholz sorgsam in kleine Stücke und ließ sie eins nach dem anderen in den Aschenbecher fallen. »Und sag ja nicht, ich rege mich umsonst auf«, fuhr der Heilige fort. »Denn ich sage dir, ich weiß Bescheid. Ich weiß, daß Pat mit einem Bummelzug gekommen ist, der vor London auch noch auf anderen Stationen hält. Ich weiß, daß Marius Pat entführt hat, und ich weiß, daß er sie dazu benutzen wird, mich zu zwingen, Vargan herauszurücken, und ich weiß, daß ich jetzt Dr. Rayt Marius suchen werde, um ihn umzubringen. Also unterhalte dich sehr ruhig und sehr vernünftig mit mir, Roger, sonst werde ich ganz und gar wahnsinnig.«
6
Roger Conway fährt den Hirondel, und der
Heilige nimmt ein Messer zur Hand
Conway hielt in jeder Hand einen vollen Krug Bier. Er sah die Krüge an, als seien es zwei Drachen, die sich ins Wohnzimmer verirrt hatten. Aus irgendeinem unerfindlichen Grunde kam es Roger außerordentlich lächerlich vor, daß er mit einem Krug Bier in jeder Hand mitten im Zimmer des Heiligen stand. Er räusperte sich. Er sagte: »Machst du dir vielleicht nicht – zu viel Gedanken?« Und während er es sagte, wußte er, es war eine von diesen schwachköpfigen Bemerkungen, für die er jeden anderen mit Vergnügen hätte enthaupten lassen. Er setzte die beiden Krüge auf dem Tisch ab und zündete sich eine Zigarette an, als hasse er sie. »Das ist nicht ruhig und vernünftig«, sagte der Heilige. »Das ist Zeitverschwendung. Verdammt noch eins, altes Haus! Du weißt genau, wie das mit mir und Pat war! Ich konnte immer damit rechnen, daß ich sofort wußte, wenn irgend etwas los war – auch über tausend Kilometer hinweg. Ich weiß Bescheid.« Einen Augenblick lang versagte seine eiskalte Selbstbeherrschung. Nur einen Augenblick lang. Er umklammerte Rogers Arm mit zermalmendem Griff. Der Heilige wußte nicht, wie stark er war. Roger hätte vor Schmerz
aufschreien können; aber er gab keinen Laut von sich. Es war ihm etwas begegnet, das er nur sehr unvollkommen verstand. »Die ganze Sache war mir schlagartig klar«, sagte der Heilige, und der frostige Abgrund gähnte aus seinen Worten. »Sie wurde mir klar, als du auf das Zifferblatt der Uhr glotztest. Dir wird das Ganze ebenso klarwerden, wenn du erst einmal nachdenkst. Aber ich brauche nicht erst zu denken.« »Aber wie soll Marius…« »Ganz einfach. Er hatte uns hier bereits aufgespürt. Er hat das Haus beobachten lassen. Der Mann ist gründlich. Selbstverständlich hat er seine Agenten auch auf die Leute angesetzt, die mich hier besucht haben. Und wie sollte Pat ihm entgehen! Einer seiner Leute ist ihr wahrscheinlich nach Devonshire nachgefahren. Nach der Vorstellung in Esher setzte sich Marius mit dem Mann in Verbindung. Im Zug war sie leicht zu fassen. Sie konnten sie dopen und – sagen wir in Reading – mit ihr aussteigen… Sie hat ja an keine Gefahr gedacht, sie war ganz arglos. Dieser Mann schaffte das ganz allein, und in Reading wartete ein Wagen. Und Marius hält Pat fest und setzt sie gegen all das ein, was wir uns vorgenommen haben. Er bindet mich an Händen und Füßen. Schickt meine Liebste in die vorderste Front der Schlacht, und ich soll schießen. Versteckt den Pulverzug für sein gemeines Gemetzel hinter ihrem lieblichen Leib. Und lacht uns aus…« Nun begann Roger zu begreifen, und er starrte den Heiligen an, wie er einen Geist angestarrt hätte. Als erwache er aus einem Traum, sagte er: »Wenn das stimmt, ist unsere Vorstellung zu Ende.« »Es stimmt«, sagte der Heilige. »Überleg doch selber!« Er ließ Rogers Arm los, als merke er nun erst, daß er ihn umklammert hielt. Mit drei langen Schritten war er am Fenster. Conway fing gerade erst an, seine Absicht zu begreifen, da bestätigte der
Heilige seine Vermutung schon mit einem einzigen zerschmetternden Wort. »Weg!« »Du meinst den…« »Alle beide. Natürlich. Marius ließ das Haus weiter beobachten für den Fall, daß wir Schwierigkeiten machen sollten. Der Mann, der mit uns gleichzeitig eintraf, war die Ablösung. Oder ein Bote, der meldete, daß Marius die Trumpfkarte in der Hand habe und die Wache abrücken könne. Dann sahen sie uns ankommen.« »Aber sie können gerade erst abgehauen sein!« Der Heilige war zum Tisch zurückgegangen. »Richtig«, sagte er kurz, »sie können gerade erst abgehauen sein. Der Wagen steht draußen. Würdest du die beiden wiedererkennen?« »Einen – ja.« »Und ich den anderen. Ausländisch aussehende Vögel mit häßlicher Visage. Nicht weiter schwierig. Gehen wir.« Da kam Roger nicht mit. Sein armer Kopf war noch gar nicht wieder zur Ruhe gekommen. Er konnte sich einfach nicht lösen von der vernunftmäßigen, nüchternen, herkömmlichen Überzeugung, daß der Heilige aus dem Geist einer Mücke einen Superelefanten hervorzauberte. Er kam nicht davon los, obwohl die Uhr auf dem Kaminsims ihn mit jedem Ticken eines Besseren belehrte. Aber es gelang ihm irgendwie, sich zwischen den Heiligen und die Tür zu schieben – wie, das wußte er selber nicht ganz genau. »Es wäre viel besser, wenn du dich hinsetzt und die ganze Sache überdenkst, ehe du überstürzt handelst!« »Es wäre viel besser, wenn du hingingst und dich aufhängtest!« erwiderte der Heilige brüsk und ungehalten. Dann milderte sich seine Bitterkeit ein wenig. Er legte Roger eine Hand auf die Schulter.
»Erinnere dich doch an das andere Mal, da wir in diesem Zimmer zusammensaßen – du und ich«, sagte der Heilige. »Auch da suchten wir nach einem Weg, Marius’ habhaft zu werden – aus anderen Gründen. Wir fanden nichts weiter heraus als seine Telefonnummer, und das ist alles, was wir bis heute von ihm wissen, es sei denn, wir können aus einem der Männer, die da draußen herumstanden, mehr herausholen als aus dem Mann, der uns die Telefonnummer verraten hat. Die beiden wissen bestimmt mehr – wir sind inzwischen so groß geworden, daß die wichtigeren Leute hinter uns her sind. Sie bieten die einzige Chance zu einer Fährte, und die Chance verpaß ich nicht. Los geht’s!« Er schob Conway beiseite und stürmte zur Wohnung hinaus. Conway folgte ihm. Als der Heilige unten auf der Straße stehenblieb und sich umschaute, hatte Conway ihn eingeholt. »Du fährst«, sagte der Heilige. Er öffnete bereits den Wagenschlag, als er kurz und knapp die Anweisung gab. Roger trat auf den Starter, der Heilige kletterte in den Sitz neben ihm. Roger sagte hilflos: »Wir haben nicht die leiseste Ahnung, in welcher Richtung sie weggegangen sind.« »Fahr schon. So viele Straßen gibt es hier in der Gegend gar nicht. Mach diese Stelle hier zum Mittelpunkt eines Kreises. Bieg erst in die Regent Street ein, schlage einen Haken durch die Conduit Street zur New Bond Street zurück, dann Oxford Street – zurück über den Hannover Square. Zum Kuckuck, hast du denn überhaupt keine Phantasie?« Nun sind in diesem Bezirk die bewohnten Straßen in einem verrückten Knäuel kreuz und quer auf die Karte geknallt, und die beiden Männer hätten, um zu ihrem unbekannten Ziel zu gelangen, irgendeine herauspicken können. Die Aufgabe, dieses Knäuel mit so wenig Anhaltspunkten zu durchkämmen, wollte Roger wie die Suche nach einem bestimmten Sandkorn
in der Wüste von Arizona erscheinen. Aber das konnte er dem Heiligen nicht anvertrauen. Der Heilige hätte es nicht zugegeben, und Roger hätte nicht den Mut besessen für den Versuch, ihn zu überzeugen. Aber Roger sollte sich täuschen, denn der Heilige saß neben ihm und führte ihm die Hand. Und der Heilige wußte, daß die Menschen in der Stadt sich die meistbegangenen Straßen aussuchen, besonders in einer fremden Stadt, aus Furcht nämlich, sie könnten sich verlaufen. So wie ja auch ein Mann, der sich im Urwald verirrt hat, lieber einem noch so gewundenen Pfad folgt, anstatt sich geradenwegs in der Richtung durchzuschlagen, die er für die seine hält. Und die Männer sahen ausländisch aus und waren wahrscheinlich Ausländer, und ein Ausländer hat Angst, daß er sich verläuft, wenn er sich nicht an die langen, geraden, hell erleuchteten Straßen hielt, sollten sie ihn auch nur unter den größten Umwegen zu seinem Ziel führen. Es sei denn, die Ausländer hätten sich einem einheimischen Führer in Gestalt eines Taxis anvertraut. Aber auch mit der Möglichkeit konnte Conway dem Heiligen nicht kommen. »Fahr hier weiter geradeaus«, sagte Simon Templar. »Vergiß, was ich dir vorher gesagt habe. Nun würde ich nach rechts einbiegen – die Vigo Street hinunter.« Roger riß und kurbelte das Steuer herum, und der Hirondel schlidderte knapp an der Nase eines Omnibusses vorbei. Eine flüchtige Sekunde lang schien ein Taxifahrer in der flaschenhalsengen Vigo Street zu überlegen, ob er ihr Vorfahrtsrecht anzweifeln solle. Zum Glück für alle Beteiligten ließ er den Gedanken augenblicklich wieder fallen. Dann öffnete Simon wieder den Mund. »Bond Street entlang – so ist’s fein!« Roger sagte: »Du sammelst ein halbes Dutzend Strafmandate, ehe wir hiermit fertig sind…«
»Hol’s der Teufel«, erwiderte der Heilige, und sie fegten rücksichtslos an einem Verkehrsschutzmann vorbei, der sich bemüht hatte, sie anzuhalten, und übertönten seinen Wutschrei mit dem Knattern ihres Auspuffs. Roger Conway sollte sich der Fahrerei an diesem Tag späterhin in Angstträumen erinnern, und am meisten von allen Fahrten dieser letzten. Er gehorchte dem Heiligen blindlings. Es war ja auch nicht sein Wagen. Aber er hätte niemals geglaubt, daß solche mörderischen Fahrkunststücke in den Straßen Londons vollführt werden könnten, hätte er sie nicht selber fertiggebracht. Und trotzdem schien die ganze Geschichte sinnlos. Denn obgleich er in jeder Sekunde ihrer Fahrt, in der er den Blick von der Straße wenden konnte, forschend in die Gesichter der Fußgänger schaute, konnte er das Gesicht, nach dem er suchte, nicht entdecken. Und angenommen, sie fanden die Männer, hinter denen sie her waren – was konnten sie mit ihnen schon anstellen auf offener Londoner Straße, außer einen Polizisten heranrufen, an den sie sich nicht zu wenden wagten? Aber Roger Conway sah sich allein in seiner Mutlosigkeit. »Wir versuchen es nun mit ein paar Seitenstraßen«, sagte der Heilige ungerührt. »Da unten herum!« Und Roger peitschte, gehorsam wie ein Automat, auf zwei Rädern um die Ecke. Und dann, fast am unteren Ende der George Street, zeigte Roger mit der Hand, und der Heilige sah zwei Männer, die nebeneinander dahergingen. »Das sind sie!« »Du meine Güte!« sagte der Heilige leise, sinnlos, verzweifelt. Und Roger trat den Gashebel durch, und der Wagen machte einen Satz wie ein Pferd, dem man die Sporen gegeben hat.
Der Heilige erhob sich von seinem Sitz und sah sich um. In der Conduit Street war Verkehr gewesen, aber in der George Street war im Augenblick nichts weiter zu sehen als ein einsamer leerer Wagen am Rinnstein und drei Fußgänger, die in der anderen Richtung gingen, und – die beiden. »Ich glaube auch«, sagte der Heilige. »Ich bin sicher«, sagte Roger. Und er war in der Tat ganz sicher, denn inzwischen waren sie an den beiden Männern vorbeigefahren, und der Hirondel rutschte mit schreienden Bremsen drei Schritte vor ihnen an den Rinnstein. »Jetzt paß auf!« sagte der Heilige, und er war aus dem Wagen heraus, ehe er noch ganz stand. Er lief den beiden genau in den Weg, und sie betrachteten ihn mit neugierigen, aber arglosen Augen. Er packte den ersten der beiden Männer mit einer Hand beim Rockaufschlag, und der Mann war überrascht. Einen Augenblick später verspürte der Mann weder Überraschung noch irgendeine Regung, denn der Heilige blickte erst in die eine Richtung und sah Roger Conway heranstürmen, und dann blickte er in die andere Richtung und brummte dem Mann einen unter die Kiemen. Der Kopf des Mannes kippte nach hinten, als sei er von einer Kanonenkugel getroffen worden, und es bestand wahrhaftig nur ein geringfügiger Unterschied zwischen der Schnelligkeit und der Wucht von des Heiligen Faust und der Schnelligkeit und der Wucht einer Kanonenkugel. Aber der Mann landete nicht erst auf der Erde. Als die Knie schlaff unter ihm wegsackten und sein Begleiter mit einem Schrei auf den Lippen vorsprang, packte der Heilige ihn bei der Taille, schwang ihn hoch und schleuderte ihn quer über den Gehsteig, wo er Conway genau in die Arme fiel. »Nach Hause, Johann«, sagte der Heilige und drehte sich auf dem Absatz um.
Auf den Lippen des zweiten Mannes bildete sich immer noch dieser Schrei, und in seinen Augen erwachte etwas, das man als Angst, Mißtrauen oder eine Art furchtsamer Verwirrung hätte deuten können. Aber alle diese Empfindungen kamen nur sehr nebelhaft zum Ausdruck und nur sehr unfertig; sie erlangten ihre Reife nicht, denn der Heilige riß den Mann bei der einen Schulter herum und umklammerte seinen Hals mit dem angewinkelten Arm dergestalt, daß es ihm unmöglich war zu schreien oder irgendein anderes Mienenspiel zum besten zu geben als das eines Mannes, der im Begriff steht zu ersticken. Und mit demselben Griff hob der Heilige ihn vom Boden auf, hauptsächlich beim Genick, so daß der Mann sehr wohl geglaubt haben mochte, es werde ihm nun das Genick gebrochen. Aber das einzige, was brach, war eine Feder in der Polsterung des Rücksitzes, als der Heilige ihn daraufplumpsen ließ. Der Heilige folgte ihm auf den Rücksitz, und als der Mann sich soweit erholt hatte, daß er einen erneuten Schrei zu versuchen gedachte, umschraubte Simon seine Handgelenke mit einem Griff, der den Schrei zu einem gepeinigten Wimmern hätte werden lassen, wäre der Mann nicht gewarnt gewesen. »Schrei nicht, Süßer«, sagte der Heilige kalt. »Du könntest dir beide Arme dabei brechen.« Der Mann schrie nicht. Und er rief auch nicht. Und auf dem Boden des Wagens, zu Füßen des Heiligen, lag sein Kumpan wie tot. Im kalten Licht nüchterner Betrachtung, zu der sich erst sehr viel später Zeit fand, sollte Simon Templar sich vergeblich fragen, wie um alles in der Welt ihnen dieser Streich gelingen konnte. Roger Conway, der selbst nun viel kühler und nüchterner überlegte, als seinem Seelenfrieden zuträglich war, wunderte sich die ganze Zeit, wie um alles in der Welt sie ungeschoren davonkommen sollten. Aber fürs
erste war der Heilige völlig von Sinnen – und eins ließ sich nicht bestreiten: Sie kamen davon. Das findige Fahrtempo des Heiligen und die absolut zufällige Verlassenheit der Straße hatten eine Entführung ermöglicht, bei der nicht der geringste Lärm entstand, der Aufsehen hätte erregen können. Und die wenigen Leute, die einherwandelten und deren Aufmerksamkeit hätte erregt werden können, waren weitergegangen – ungestört, ohne etwas zu merken von den flinken Augenblicken hektischer Dramatik, die hinter ihrem friedlichen Rücken durch die George Street beim Hannover Square gewirbelt waren. Daß der Heilige auf genau dieselbe Weise verfahren wäre, hätte es auf der Straße von einer zu gleichen Teilen aus kopflosen Passanten, Detektiven und uniformierten Polizisten gemischten Menschenmenge gewimmelt, steht auf einem anderen Blatt. Wieder einmal hatte der Heilige – wie schon so oft zuvor in seinem Leben – zu seiner völligen Genugtuung bewiesen, daß man einem verzweifelten Dilemma in der Regel am besten mit verzweifelten Maßnahmen zu Leibe rückt und daß intelligente Tollkühnheit oft da zum Ziel kommt, wo zuviel Besonnenheit auch dem größten Heldenmut ein Beinchen stellt. Und der Gedanke daran, daß man sich den Hirondel während des ersten Teils der wilden Jagd zweifellos gemerkt haben mußte (er war nicht gerade ein unauffälliger Wagen, auch nicht, wenn er maßvoller gefahren wurde, dieser König der Straße), beeinträchtigte in der Einschätzung des Heiligen den Erfolg nicht im mindesten. Das Unmögliche war eben letztlich doch unmöglich, und er hatte auf jeden Fall seine Fische gefangen. Zwei Fische. Häßliche Fische… Dennoch hätte es in der Brook Street zu Ärger kommen können, als sie mit ihrer Ladung heimkehrten, aber der Heilige wollte von Ärger nichts wissen.
Zwei Männer mußten quer über den Gehsteig zur Haustür geschleppt werden. Der eine Mann war groß und hager, der andere kurz und dick; und der hagere schlief. Der Heilige hielt das eine Handgelenk des Dicken umklammert und stützte den Langen von einer Seite mit seinem anderen Arm. Roger placierte sich auf der anderen Seite des hageren Mannes. »Singen!« kommandierte der Heilige; und dissonant und betrunken kreuzten sie das Trottoir. Ein Mann in Abendkleidung ging mit gerümpfter Nase vorbei. Ein Mann in Lumpen ging mit neidischer Nase vorbei. Ein patrouillierender Polizist spähte mit amtlicher Nase zu ihnen hin, aber schon hatte der Heilige die Tür geöffnet, und sie taumelten mißtönend ins Haus. Also trottete die amtliche Nase gemächlich weiter, nachdem sie sich die Nummer des Wagens notiert hatte, dem die vier entquollen waren, denn bis dato hat das Gesetz keine Macht, einen Menschen daran zu hindern, in seinen eigenen vier Wänden so betrunken und liederlich sich zu geben, wie es ihm behagt. Und die Stegreifvorführung hatte einen durch und durch überzeugenden Anstrich gehabt. Der magere Kerl war ganz offensichtlich auf der Strecke geblieben; die beiden großen, gutangezogenen jungen Männer, die ihn stützten, ließen es nicht an Indizien für die Gründlichkeit fehlen, mit der sie ihren inneren Menschen gesalbt hatten; und wenn vielleicht die Laute, die der Dicke ausstieß, zu wild und zu schrill klangen, um ohne weiteres als Gesang eingestuft zu werden, und er auch nicht ganz gewillt schien, sich mit seinen Kumpanen in weitere Ausschweifungen zu stürzen; und wenn da etwas Befremdliches, Gezwungenes im Blick seiner Augen war – nun, nun, der Zustand, den er ganz offenbar erreicht hatte, war bedauerlich, ging aber niemanden etwas an… Und bevor die mißtrauische Nase noch die nächste Ecke erreicht hatte, waren die Männer bereits in der Wohnung im
ersten Stock, und man ließ den hageren Mann auf den Teppich im Wohnzimmer fallen, wo er, alle viere von sich gestreckt, liegenblieb. »Schließ die Tür, Roger«, befahl der Heilige knapp. Dann lockerte er den peinsamen Griff ums Handgelenk des Dicken, und der Dicke hörte auf zu kläffen und begann zu sprechen. »Sohn einer dreckigen Wildsau«, begann der Dicke, dabei zärtlich sein Handgelenk reibend. Und dann hielt er inne, so sehr entsetzte es ihn, was er sah. In der Hand des Heiligen schimmerte ein kleines Messer – ein hübsches Spielzeug mit einer fünfzehn Zentimeter langen blattförmigen Klinge und einem feingeschnitzten Elfenbeingriff. Es schien aus dem Nichts aufgetaucht zu sein, aber in Wirklichkeit entstammte es der schmucken Lederscheide, die unter dem Ärmel am Unterarm des Heiligen festgeschnallt war, denn da lebte es ständig. Und der Name des Messers war Anna. Anna hatte ihre Geschichte, eine wilde, prachtfunkelnde Geschichte aus gottlosen Landen, die vielleicht eines Tages einmal erzählt wird: Sie hatte manchem Leben ein Ende gemacht. In den Augen des Heiligen war sie fast menschlich, diese wunderschön gefertigte, wunderschön ausgewogene Kreatur des Todes. Mit ihr vollbrachte er Kunststücke, neben denen die Anstrengungen der meisten Messerwerfer im Zirkus wie amateurhafte Mätzchen wirkten. Aber im Augenblick dachte er an keine Kunststücke. Als Roger das Licht anknipste, blitzte das Licht von der Klinge. Aber das Licht in den Augen des Heiligen war um nichts weniger kalt und unfreundlich als das Licht auf dem Stahl.
7 Simon Templar gibt sich heilig und empfängt einen weiteren Besucher
In all den Jahren seiner Wanderschaft und Abenteuerei hatte Simon Templar sein Herz nur an eine einzige Frau verloren, und diese Frau war Patricia Holm. Daher verlor er es, wie sich denken läßt, gründlich. Und doch hatte er in den achtzehn Monaten, die sie nun zusammen waren, sich allmählich – so schwante es ihm undeutlich, wie man einer unausdenkbaren Ketzerei inne wird – ganz allmählich an sie gewöhnt. Er war, das ließ sich nicht leugnen, dem ersten ekstatischen Wundertraum entwachsen, und das, was an seine Stelle getreten war, hatte sich so still und hinterlistig eingeschlichen, daß es ihn verzaubert hielt, ehe er es ganz begriff. Es brauchte einen Schock, um sich ihm zu offenbaren. Und als diese Offenbarung dann kam, brachte sie ein Wunder mit sich, das das offenkundigere Leuchten jenes ersten Wunders, das verging, um ein unendliches übertraf. Es war dies ein Wunder von der wilden, furchtheischenden Art, das einen Mann überwältigt, der sein ganzes Leben lang im Sonnenschein gewandelt ist und nun zum erstenmal die Sonne sieht – mit schrecklichem, gewaltigem Begreifen; und im selben Augenblick die Dunkelheit vor sich sieht, die über der Welt liegen würde, hörte die Sonne plötzlich auf zu scheinen. Der Heilige sagte sehr sanft zu dem Dicken: »Danke, gleichfalls, Süßer. Und nun hör zu. Ich werde jetzt ein paar Fragen an dich richten. Du kannst sie entweder beantworten
oder langsam und unter Schmerzen sterben – ganz nach Wunsch. Aber das eine oder andere wird geschehen, ehe du dieses Zimmer wieder verläßt.« Der Dicke gehörte einer anderen Klasse an als das unglückselige kleine Unkraut unter der Melone, dem Simon Templar zuvor Auskünfte entlockt hatte. Eine gewissermaßen rohe Entschlossenheit blickte aus den Knopfaugen des Dicken, und um die dünnen Lippen zuckte ein gewissermaßen knurriger Trotz wie die verzweifelte Entschiedenheit eines gestellten Wildes. Simon scherte sich nicht darum. »Verstehst du, du entzündeter Auswuchs?« fragte der Heilige sanft. Und ein Haß saß im Herzen des Heiligen, ein Haß, der ganz ihm gehörte und den niemand anders begriffen hätte. Aber eine gänzlich anders geartete Teufelei sprach aus den Augen des Heiligen und aus der schnurrenden Zärtlichkeit seiner Stimme; eine Art Teufelei, die niemand mißverstehen konnte und die der Mann vor ihm mit Entsetzen begriff: ein nach außen sichtbarer, feindseliger Haß, der sich eindeutig auf den Dicken konzentrierte. Und der Dicke wich Schritt um Schritt langsam zurück, als der Heilige näherrückte, bis er gegen den Tisch stieß und nicht mehr weiter zurückweichen konnte. »Du glaubst hoffentlich nicht, daß ich nur bluffe, lieber kleiner Dicker«, fuhr der Heilige mit derselben samtweichen Stimme fort. »Denn das wäre sehr töricht von dir. Du hast etwas getan, oder doch dabei mitgeholfen, was mir sehr gegen den Strich geht. Es geht mir ganz allgemein gegen den Strich – schon immer; aber diesmal geht es mir ganz besonders gegen den Strich, nämlich ganz persönlich, denn diesmal ist jemand hineingezogen worden, der mir mehr bedeutet als dein plumper Kopf jemals begreifen wird. Kannst du mir folgen, du erbärmliche Warze?«
Der Mann versuchte, sich um den Tisch herum zurückzuziehen, aber daraus wurde nichts, denn der Heilige rückte gleichzeitig zur Seite. Und die Augen des Heiligen nagelten ihn außerdem fest – diese klaren blauen Augen, die gewöhnlich vor Lachen und allerlei Possen übersprudelten, nun jedoch kalt und erbarmungslos blickten. Und der Heilige sprach weiter. »Es kümmert mich gar nicht, daß du nichts weiter als ein Agent von Dr. Rayt Marius bist – ah, da wunderst du dich, was? Ich weiß ein bißchen mehr, als du geglaubt hast, hm? Aber auch das kümmert uns im Moment nicht. Wenn du dich unbedingt mit solchen Leuten einlassen mußt, dann mußt du eben auch die Folgen tragen. Und wenn du glaubst, das Spiel sei den Einsatz wert, dann mußt du auch damit rechnen, daß bei dem Einsatz eine Panne passiert. Ganz fair, oder nicht? Und der Punkt, in dem wir uns nicht werden einigen können, ist die Tatsache, daß du dazu beigetragen hast, mich zu verärgern, und es geht mir sehr gegen den Strich, verärgert zu werden. – Nein, aber nicht doch, mein Sonnenjunge!« Da war eine Kanone in der Hand des Dicken, und dann war keine Kanone in der Hand des Dicken; denn der Heilige ruckte seitwärts mit einer einzigen flinken, listigen, katzenartigen Bewegung, und diesmal konnte der Dicke seinen Schrei nicht unterdrücken, als die Pistole zu Boden fiel. »Au! Du wirst brechen meine Hand!« »Mit Vergnügen, Liebling«, erwiderte Simon. »Und anschließend dein Genick. Aber zunächst einmal…« Er umschraubte das Handgelenk des Dicken noch härter, anstatt den Griff zu lockern, und drückte ihn hintüber auf den Tisch, wo er ihn mit seinen unglaublich starken Fingern mühelos hielt. Und der Mann sah das Messer vor seinen Augen blitzen.
»Vor langer, langer Zeit«, sagte der Heilige in diesem leidenschaftslosen Plauderton, der so unbeschreiblich furchterregender ist als jeglicher starkstimmiger Zorn, »war ich in Papua. Und da kam ein Mann aus dem Dschungel in die Stadt, in der ich lebte. Es war ein Goldsucher, ein sehr dickköpfiger Goldsucher; er mußte unbedingt in einem Stück Land herumschürfen, vor dem die alten Hasen ihn gewarnt hatten. Und die Eingeborenen hatten ihn um die Zeit des Vollmondes aufgegriffen. Um diese Zeit fangen sie immer besonders gern einen Weißen, denn er läßt sich fein bei ihren Festlichkeiten und Vergnügungen verwenden. Ihre Vergnügungen sind primitiver Art – sehr primitiver Art. Und eins ihrer Vergnügen bestand darin, daß sie diesem Mann die Augenlider abschnitten. Bevor ich dir dieselbe Freude angedeihen lasse – würdest du dir da vielleicht ganz kurz einmal überlegen, welchen Einfluß eine solche Operation auf deinen Schönheitsschlummer haben könnte?« »Großer Gott!« lallte der Mann in schrillen Tönen. »Sie nicht können…« Der Mann versuchte sich zu wehren, aber eine eiserne Hand hielt ihn fest. Eine Weile konnte er noch seinen Kopf bewegen, aber dann schwang sich der Heilige auf den Tisch und hockte sich auf den Mann und klemmte seinen Kopf zwischen die Knie. »Red nicht so laut!« sagte der Heilige, und seine Finger ließen das Handgelenk los und glitten an der Kehle aufwärts. »Es wohnen noch mehr Leute in diesem Haus, und es würde mir sehr mißfallen, wenn du sie in Aufregung versetztest. Was nun diese andere Angelegenheit betrifft – hab’ ich dich sagen hören, ich könne es nicht tun? Mit Verlaub, da muß ich widersprechen. Ich könnte es sehr wohl tun, sehr gut. Ich werde sehr sachte vorgehen, und du wirst vermutlich nicht sehr große Schmerzen verspüren – im selben Augenblick.
Unangenehm sind nur die Nachwirkungen. Also überleg dir’s. Wenn du dich ausquatschst und dich auch sonst brav benimmst, könnte ich mich dazu verstehen, dich laufen zu lassen. Versprechen kann ich nichts, aber es ist möglich.« »Ich nicht werde…« »Wirklich nicht? Willst du Schwierigkeiten machen, Kleiner? Willst du tatsächlich deine hübschen Augenlider opfern und ganz allmählich erblinden? Willst du mich zwingen, dir die Fußsohlen an der Gasheizung zu toasten und dir Holzpföckchen unter die Fingernägel zu treiben? Muß ich mit lauter solch rohen Geschichten kommen, bevor du Vernunft annimmst? Ehrlich gesagt, du verursachst dir selber eine ganze Menge unnötiger Schmerzen…« Und der Heilige hielt das Messer ganz dicht an die Augen des Mannes und senkte es ganz langsam. Die Spitze glitzerte wie ein einsamer Stern, und der Mann starrte darauf – hypnotisiert, stumm vor Entsetzen. Und Roger Conway war ebenfalls hypnotisiert und stand da wie ein Mann aus Eis. »Wirst du nun sprechen?« fragte der Heilige liebkosend. Wieder versuchte der Mann zu schreien, und wieder erstickten die Finger des Heiligen den Schrei in der Luftröhre. Der Heilige senkte das Messer noch weiter, und nun ritzte seine Spitze ein ganz klein wenig die Haut. Roger Conway spürte, wie der kalte Schweiß auf seiner Stirn in Perlen ausbrach, aber seine Stimme gehorchte ihm nicht. Er wußte, daß der Heilige genau das tun würde, was er dem Mann angedroht hatte, falls man ihn dazu zwang. Er kannte den Heiligen. Er hatte den Heiligen in hundert seltsamen Situationen und hundert seltsamen Stimmungen erlebt, aber er hatte noch nie solch unerbittliche Grimmigkeit in das Gesicht des Heiligen eingemeißelt gesehen wie in diesem Augenblick. Das Gesicht war wie aus Granit.
Und in diesem Augenblick begriff Roger Conway im gleißenden Licht der Erfahrung, was er zuvor nur recht nebelhaft im Zwielicht der Theorie begriffen hatte: daß der Zorn der Heiligen weit, weit furchtbarer sein kann als der Zorn der Sünder. Der Mann auf dem Tisch mußte das ebenfalls begriffen haben; die phantastische Tatsache hatte er begriffen, daß ein Mann vom Kaliber Simon Templars in seiner eiskalten Wut selbst im zivilisierten England vor nichts haltmachen würde. Und der Atemzug, den der Heilige ihm erlaubte, war ein erschauerndes Stöhnen. »Wirst du nun reden?« fragte der Heilige noch einmal und wiederum sehr zärtlich. »Ich reden.« Es war keine Stimme, es war ein Wimmern. »Ich reden«, wimmerte der Mann. »Ich tun alles. Nur nimm das Messer weg!« Einen Augenblick lang rührte der Heilige sich nicht. Dann hob er wie in Trance sehr langsam das Messer hoch und betrachtete es, als habe er es noch niemals zuvor gesehen. Und ein seltsames leises Lachen sickerte von seinen Lippen. »Sehr dramatisch«, bemerkte er. »Und geradezu grausig. Ich wußte gar nicht, daß das in mir steckte.« Und er betrachtete neugierig den Mann, als betrachte er in einem müßigen Augenblick eine Fliege auf der Fensterscheibe und erinnere sich an Geschichten von Schuljungen, die sich damit vergnügten, solchen Tierchen die Beine auszureißen. Dann stieg er langsam vom Tisch herunter und holte sein Zigarettenetui heraus. Der Mann kletterte nicht eigentlich vom Tisch – er rollte herunter. Und als seine Füße den Boden berührten, wurde deutlich, daß er nur mit Mühe aufrecht zu stehen vermochte.
Roger schubste ihn ohne viel Umstände in einen Sessel, aus dem er, während er an seiner Kehle herumfingerte, den anderen Mann sehen konnte, der immer noch da lag, wo er zu Boden gefallen war. »Du brauchst dich gar nicht zu wundern«, sagte Roger. »Der letzte Mann, den der Heilige so bearbeitet hat, war eine halbe Stunde weg; dein Kumpel hat es bisher erst auf zwanzig Minuten gebracht.« Simon schnippte ein Streichholz ins Feuer und wandte sich wieder dem Gefangenen zu. »Und jetzt sing los, Herzblatt«, sagte er kurz. »Was Sie wollen wissen?« »Zuallererst möchte ich wissen, was mit dem Mädchen geschehen ist, das heute abend entführt wurde.« »Das weiß ich nicht.« Die Zigarette des Heiligen kippte gefährlich aufwärts zwischen seinen Lippen, und die Hände bohrten sich tief in die Hosentaschen. »Du hast offenbar immer noch nicht ganz kapiert, was sich tut, mein Süßer«, bemerkte er liebevoll. »Das hier ist kein Spiel – wie du sehr bald merken wirst, wenn du nicht schneller wach wirst, als ich brauche, um erneut Hand an dich zu legen. Ich bin durchaus bereit, die Operation wiederaufzunehmen, falls du es wünschst. Also red weiter, denn ich bin ganz verschossen in deine Stimme, und sie hilft mir all die unangenehmen Dinge vergessen, die ich deinem durch und durch abscheulichen Gesicht antun sollte.« Der Mann erschauerte und kauerte sich tief in den Sessel. Die Hände fuhren an die Augen – vielleicht, um eine gräßliche Vision zu verscheuchen, vielleicht aber auch, um dem erbarmungslosen blauen Blick des Heiligen zu entgehen. »Ich nicht weiß!« schrie er geradezu. »Ich schwören!«
»Dann sag mir, was du weißt, du Ratte!« sagte der Heilige. »Und dann sorge ich dafür, daß du dich noch an ein bißchen mehr erinnerst.« Nun kamen dem Dicken die Worte – unzusammenhängend, in tollem Durcheinander, von der Angst gepeitscht. Es stimme, daß er auf Anweisung von Dr. Marius gehandelt habe. Das Haus in der Brook Street sei während der letzten vierundzwanzig Stunden scharf bewacht worden, er selbst sei einer der Wächter gewesen. Er habe die Abreise am Abend zuvor beobachtet, es sei ihnen jedoch nicht möglich gewesen, einen Wagen zu verfolgen. Zwei weitere Männer seien am Nachmittag ausgeschickt worden, um das Haus zu inspizieren, sie hätten das beladene Auto gesehen und seien zurückgeeilt, um Bericht zu erstatten. »Beide?« unterbrach ihn der Heilige. »Beide. Es war ein verbrecherisches Versagen. Aber sie werden sein bestraft.« »Und ich möchte wissen, wie man dich belohnt«, murmelte der Heilige. Der Dicke schauderte förmlich zusammen, dann berichtete er weiter. »Einer wurde zurückgeschickt sofort, aber das Auto war weg. Dann sagte der Doktor, er haben andere Pläne, und ein Mann ist genug für Wache, im Fall Sie kommen nach Hause wieder. Ich war der Mann. Hermann« – er zeigte auf die leblose Gestalt am Boden – »war gekommen gerade, um abzulösen, da Sie kommen zurück. Wir es wollten melden.« »Ihr beiden?« »Wir beide.« »Ein verbrecherisches Versagen«, höhnte der Heilige. »Aber ich nehme an, ihr werdet sein bestraft, oder?« Der Mann zuckte zusammen.
Ein weiterer seiner Genossen, berichtete er, war eingeteilt worden, dem Mädchen zu folgen. Es war den Spürhunden eingeschärft worden, von jeglicher Orts Veränderung Kenntnis zu nehmen und keine Angewohnheit, auch nicht die geringfügigste, zu übersehen. Marius hatte sich über die Gründe für diese Wachsamkeit nicht weiter ausgelassen, aber an ihrer Wichtigkeit hatte er keinen Zweifel gelassen. In diesem Sinne war man Patricia nach Devonshire nachgefahren. »Dein Boß scheint keine Lust zu verspüren, mir noch einmal persönlich seine Aufwartung zu machen«, bemerkte der Heilige grimmig. »Wie klug von ihm!« »Wir konnten nicht eingehen ein Risiko.« »›Wir?‹« Wie ein Habicht stürzte sich Simon auf das Fürwort. »Ich meinen…« »Ich weiß, was du meinst, mein ganz Süßer«, sagte der Heilige seidenweich. »Du meinst, du wolltest mir eigentlich nicht verraten, daß du von der Geschichte mehr weißt als du behauptet hast. Du bist nicht einfach nur ein angestellter Gauner wie das letzte Gewächs von eurer Sorte, auf das ich treten mußte. Du bist ein Geheimagent. Ich begreife. Ich begreife außerdem, daß du bei aller Neigung zu einer fortdauernd heilen, wenn auch madigen Haut, dank deiner außerordentlich lobenswerten Liebe zu deinem mißratenen Vaterland so lange weiterkämpfen und lügen wirst, wie es eben geht. Sehr gut. Ich applaudiere. Aber ich fürchte, meine Wertschätzung deiner einzigen Tugend muß hiermit ihr Bewenden haben – mit diesem recht theoretischen Auf-die Schulter-Klopfen. Nun kehren wir zu unserem privaten und recht praktischen Streit zurück. Und was du dir gut hineintrimmen mußt in den mißgestalteten Knochenklumpen, der deine ungewaschenen Ohren auseinanderhält, ist dies: daß ich selber auch nicht schlecht zu kämpfen verstehe. Und
vielleicht – vielleicht, vielleicht, mein kleiner lieber Dicker – kämpfe ich besser als du.« »Ich nicht meinte…« »Lüg nicht«, sagte der Heilige in einem gemacht vorwurfsvollen Ton, hinter dessen oberflächlicher Leichtfertigkeit sich gletscherkalte Drohung verbarg. »Lüg mich nicht an. Ich mag das nicht.« Roger löste sich von der Wand, die er gestützt hatte. »Pack ihn wieder auf den Tisch, alter Junge«, schlug er vor. »Sofort«, erwiderte der Heilige, »wenn er sich jetzt nicht schleunigst ausschüttet.« Er rückte ein wenig näher an den kleinen Dicken heran. »Also, du ekelerregende Scheußlichkeit – hör zu! Das Spiel ist aus. Mit dem kleinen Wörtchen ›wir‹ hast du mitten ins Fettnäpfchen getreten. Und ich bin neugierig. Sehr, sehr neugierig. Ich möchte alles über dich wissen – die Geschichte deines Lebens, deinen Lieblingsfilmstar und dein Golfhandikap und ob du beim Schlafen die Pyjamajacke über oder in der Hose trägst. Ich möchte, daß du mir alles von dir erzählst. Als zum Beispiel Marius dir sagte, daß die Wache hier nicht mehr so wichtig sei, da er andere Pläne habe – hat er da nicht auch gesagt, daß bei diesen Plänen ein Mädchen eine Rolle spiele?« »Nein.« »Das ist die zweite Lüge«, sagte der Heilige. »Wenn du noch einmal lügst, tust du dir weh. Zweite Frage: Ich weiß, Marius hat angeordnet, daß das Mädchen im Zug gedopt und vor London aus dem Zug herausgeholt würde – aber wo hat man es herausgeholt?« »Ich nicht wi… Au-au-au-au!« »Ich hab dich gewarnt«, sagte der Heilige. »Sind Sie der Teufel?« schluchzte der Mann, und der Heilige zeigte die Zähne.
»Durchaus nicht. Nichts als ein ganz gewöhnlicher Mann, dem es gegen den Strich geht, daß man ihn belästigt. Ich dachte, ich hätte das deutlich genug gemacht. Allerdings habe ich es heute abend eilig. Vielleicht mache ich daher einen etwas überstürzten Eindruck. Also, wirst du dich jetzt erinnern – der Wahrheit gemäß erinnern –, oder wird es weitere Unannehmlichkeiten geben?« Zitternd wich der Mann zurück. »Ich nicht wissen mehr«, lallte er. »Ich schwören, ich…« »Wo ist Marius jetzt?« Aber der Mann antwortete nicht sofort, denn das plötzliche Klingeln einer Glocke klang hell durch die Wohnung. Eine Sekunde lang rührte der Heilige sich nicht. Dann stellte er sich hinter den Stuhl des Gefangenen, und das kleine Messer schlüpfte wieder aus seiner Scheide. Der Gefangene sah es aufblitzen, und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Ein Schrei stieg ihm in der Kehle hoch, aber der Heilige erstickte ihn, indem er ihm den Mund zuhielt. Dann piekte die Messerspitze den Mann über dem Herzen. »Ein Wort nur«, sagte der Heilige, »ein einziges Wort, und den Rest des Satzes hören die Engel. Wer kann das sein, Roger?« »Teal?« »Nachdem er den Autohändler in seinem Sonntagsversteck und damit unsere Spur gefunden hat?« »Wenn wir nicht öffnen…« »Brechen sie ein. Der Wagen steht draußen, also wissen sie, daß wir zu Hause sind. Nein, wir müssen sie einlassen.« »Gerade wenn wir dabei sind, allerhand zu erfahren?« Simon Templars Augen glitzerten. »Reich mir die Kanone!«
Conway hob die Pistole auf, die der dicke Mann hatte fallen lassen und die seitdem unbeachtet auf dem Boden lag, und gab sie gehorsam dem Heiligen. »Und ich sage dir«, sprach der Heilige, »daß kein von einer Frau geborener Mann sich hier einmischen wird. Ich werde alles, was ich wissen will, aus diesem Abfallhaufen herausholen, und dann werde ich handeln mit dem, was ich weiß – nämlich Pat suchen – , und wenn es sein muß und ich sie sonst nicht finden kann, schieß ich mich quer durch Scotland Yard. Und jetzt geh und öffne die Tür.« Conway nickte. »Ich bin dabei«, sagte er und ging hinaus. Der Heilige wartete seelenruhig. Die linke Hand hielt immer noch Annas schlanke Klinge über dem Herzen des Dicken, zum Stoß bereit, und die Ohren horchten gespannt auf das leiseste Geräusch eines tiefeingezogenen Atemzugs, der vielleicht das Vorspiel zu einem Schrei sein konnte. Die Rechte hielt, hinter der Rückenlehne des Stuhls verborgen, die Schnellfeuerpistole. Aber als Roger zurückkehrte und der Heilige den Mann sah, der mit ihm kam, blieb er ohne jede Regung, und niemand hätte auch nur die geringste Veränderung in der leeren Empfindungslosigkeit seines Gesichts feststellen können. Nur sein Herz tat einen Sprung, bei dem ihm fast übel wurde, und rutschte dann irgendwie an seinen Platz zurück, auf der Bahn seines pochenden Purzelbaums eine klopfende Leere hinterlassend. »Es freut mich, Sie wiederzusehen, Marius«, sagte der Heilige.
8 Simon Templar unterhält seinen Gast und macht der Party ein Ende
Dann richtete der Heilige sich langsam auf. Niemand wird jemals wissen, welche Anstrengung ihn seine ruhige, lächelnde Unerschütterlichkeit kostete. Aber eigentlich gelang sie ihm müheloser als die Ruhe, die er zuvor Roger Conway gegenüber an den Tag gelegt hatte, denn da hatte es wahrhaftig keinen Grund zum Ruhigsein gegeben. Denn nun kam etwas, auf das der Heilige sich verstand. In Zeiten erzwungener Untätigkeit gelassen zu bleiben, dazu hatte er nicht das rechte Temperament; er leistete niemals sein Bestes im Einsatz gegen einen Gegner, den er nicht sehen konnte. Schlaue Hinterlist war ihm zu hoch oder zu niedrig – je nachdem, wie man es betrachtet. In Simon Templar steckte viel von seinem berühmten Namensvetter, dem Simpel namens Simon im Kinderlied. Er selber gab es jederzeit zu und wies darauf hin, daß er trotz seines instinktiven Verständnisses für die Psyche des Verbrechers niemals einen erfolgreichen Detektiv abgeben würde. Sein Verstand war der Aufgabe gewachsen, seine Natur jedoch nicht. Er bevorzugte buntere Töne, den breiteren, kräftigeren Pinselstrich, die einfachen, unumwundenen, überraschenden Dinge. Er war ein Kämpfer. Sein Talent und seine Eingebung führten ihn stets in die Schlacht und lehrten ihn, wie sie zu gewinnen war. Aber er dachte nur selten darüber nach. Er besaß Ideale, aber auch über sie dachte er
kaum jemals nach. Sie waren vor ihm aufgerichtet worden von einer Macht, die die seinige überstieg, und blieben unantastbar und nicht zu bezweifeln. Ihm mißfiel jeder Gedanke, der nicht so konkret wie eine Waffe war. Jeder andere Gedanke war für ihn Ketzerei und ein Fluch, eine heimtückische Krankheit, die Aufrichtigkeit und Tatwillen an der Wurzel traf. Er war nach anderem aus – nach dem tapferen Herzen des glücklichen Streiters, dem grandiosen Schwung, dem Klang der Trompeten. Er hat es selber gesagt, und man sollte es sich merken als eine von den wenigen Äußerungen, die der Heilige ohne jede Pose über sich selber tat. »Kampf, Mord und plötzlicher Tod«, hatte er gesagt. Und nun stand er endlich wieder auf dem Boden, auf dem er sich auskannte, mochte die Situation auch noch so verzweifelt gefährlich sein. »Da, nimm das Schießeisen, Roger.« Kühl, weich, spöttisch, mit dem Anflug eines Lachens – die Stimme des alten Heiligen. Er wandte sich wieder Marius zu – lächelnd, heiter. »Es ist nett von Ihnen«, sagte er freundlich, »daß Sie uns einen Besuch abstatten. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, Hänschen-Klein?« Marius trat ein paar Schritte weiter in den Raum vor. Er trug einen protokollgerechten Morgenanzug – schwarzer Rock, gestreifte Hose. Die steife Vollkommenheit der Ausstaffierung bildete einen grotesken Kontrast zu der steinzeitlichen Statur und der häßlichen Ausdruckslosigkeit eines Gesichts, das nach dem Modell eines Teufelgottes der Wilden gehauen sein konnte. Er blickte unbewegt zu Roger Conway hinüber, der mit der ihm anbefohlenen Schnellfeuerpistole an der Tür lehnte und die Mündung behaglich auf ein leichtes Ziel richtete. Und dann
sah er den Heiligen wieder an, der sein kleines Messer wie ein Pendel zwischen Daumen und Zeigefinger pendeln ließ. Bedacht war der Heilige, ruhig in lebendiger, wilder Ruhe – wie ein Leopard, der sich zum Sprung fertigmacht. Marius jedoch war so ruhig wie ein riesiger Buddha. »Wie ich sehe, halten sich Diener von mir bei Ihnen auf«, sagte Marius. Die Stimme klang für solch einen Mann außerordentlich leise und hoch. Sein Englisch wäre perfekt gewesen, hätte er nicht auf dieser übertriebenen Genauigkeit bestanden. »In der Tat«, erwiderte der Heilige höflich. »Das erscheint Ihnen vielleicht seltsam, aber ich habe es aufgegeben, immerzu auf meine Würde zu pochen, und bin nun ein praktizierender Sozialist. Jeden Sonntag gehe ich hinaus und sammle von Hecken und Zäunen, was mir in den Weg läuft. Das hier ist die heutige Ausbeute. Woher wußten Sie das?« »Ich wußte es gar nicht. Einer von den beiden hätte sich schon längst bei mir melden müssen, und meine Diener lassen es sich nicht einfallen, einfach zu spät zu kommen. Ich bin gekommen, um herauszufinden, was ihnen zugestoßen sein könnte. Würden Sie ihn also bitte jetzt gehen lassen – und seinen Freund.« Der Heilige zog eine Augenbraue hoch. »Ich bin gar nicht sicher, ob sie gehen wollen«, sagte er. »Zumindest einer von ihnen ist vorübergehend nicht in der Lage, seiner Meinung zum Thema Ausdruck zu verleihen. Was den anderen betrifft – nun, wir hatten uns gerade so hübsch aneinander gewöhnt. Ich bin überzeugt, es wird ihm gar nicht gefallen, mich jetzt schon zu verlassen.« Der Mann, der sich auf diese indirekte Weise angesprochen fühlte, spuckte ein paar Worte in einer Sprache aus, die der Heilige nicht verstand. Simon brachte ihn mit einem Kissen zum Verstummen.
»Red nicht dazwischen«, sagte er lässig, »das gehört sich nicht. Erst sage ich jetzt was, und dann bist du an der Reihe. Ganz fair. Und Dr. Marius möchte ganz gewiß an unserem kleinen Scherz teilhaben, besonders, da er sich ja um ihn dreht.« Der Mund des Riesen verzog sich zu einer Art gräßlichem Lächeln. »Würden Sie mich nicht lieber meinen Witz zuerst erzählen lassen?« meinte er. »Als zweiten«, entschied der Heilige. »Unter allen Umständen als zweiten. Denn Ihr Witz ist bestimmt komischer als meiner, und es wäre mir schrecklich, wenn meiner danach abfiele. Dieser Witz ist eigentlich ein kleines Liedchen, und zwar von einem Mann namens Hänschen-Klein, dem traten wir einmal mit Wumm vor das Bein. Er erholte sich leider, doch Golf und so weiter läßt er jetzt lieber sein. Sie haben uns zum Proben keine Zeit gelassen, sonst hätte ich die Jungs gebeten, es Ihnen vorzusingen. Na, macht nichts. Setzen Sie sich und erzählen Sie mir die Geschichte Ihres Lebens.« Der Riese war nicht beeindruckt. »Sie scheinen meinen Namen zu kennen«, sagte er. »Sehr gut«, strahlte der Heilige. »Sind Sie vielleicht mit dem berühmten Dr. Marius verwandt?« »Ich bin nicht unbekannt.« »Ich meine«, fuhr der Heilige fort, »den berühmten Dr. Marius, der gerne lebte auf großem Fuß; aber, ach, sein Glück war gar nicht berückend, Ideen jedoch hat er im Überfluß. Weiß man nun, wo die Glocken hängen? Ist der Groschen gefallen?« Marius hob seine gewaltige Rechte zu einer unwirschen Geste. »Ich bin nicht hierher gekommen, um mir Ihren Humor anzuhören, Mr…«
»Templar«, half der Heilige ihm. »Entzückt, die Ehre zu haben.« »Ich wünsche keine Zeit zu verschwenden.« Simon senkte den Blick, der sich während der Mühen des poetischen Werkes an die Decke geheftet hatte, und gestattete ihm, auf Marius zu ruhen. In seinen Augen war etwas Stählernes, Wildes. Das Lachen war völlig aus ihnen verschwunden. Roger hatte es entschwinden sehen. »Natürlich wollen wir keine Zeit verschwenden«, sagte der Heilige ruhig. »Ich danke Ihnen, daß Sie mich daran erinnert haben. Es wäre mir gar nicht recht, wenn ich es während Ihrer Anwesenheit vergäße. Ich darf Ihnen jetzt schon sagen, daß ich Sie ermorden werde. Aber bevor wir uns darüber näher unterhalten, möchte ich Ihnen die Mühe ersparen, zu sagen, was Sie zu sagen beabsichtigten.« Marius zuckte die Schultern. »Sie scheinen ein intelligenter Mensch zu sein, Mr. Templar.« »Vielen Dank. Aber die Blumen lassen wir lieber auf Eis, bis wir sie brauchen, ja? Dann könnten sie sich gut für den Kranz verwenden lassen… Was im Augenblick zu erledigen ist, interessiert mich mehr. Erstens: Sie werden mir sagen, daß eine junge Dame mit dem Namen Patricia Holm zur Zeit Ihre Gefangene ist.« Der Riese verbeugte sich. »Es tut mir leid, daß ich solch konventionelle Maßnahmen ergreifen mußte«, sagte er. »Auf der anderen Seite heißt es jedoch, daß konventionelle Anschauungen häufig auf den besten Fundamenten ruhen. Dieses Wort erschien mir stets als wahr, wenn man es auf die zweckdienliche Maßnahme anwendet, die darin besteht, daß man einem Mann die Frau, die er liebt, als Unterpfand für sein gutes Betragen wegnimmt
– besonders bei einem Mann von einem Schlag wie dem, dem ich Sie wohl zurechnen darf, Mr. Templar.« »Sehr interessant«, erwiderte der Heilige knapp. »Und ich nehme an, Miß Holms Sicherheit soll wohl der Preis für die Sicherheit Ihrer – eh – Diener sein? Soviel ich weiß, gehört auch das zur Tradition.« Marius breitete die Arme mit diesen riesigen Händen aus. »Aber nein«, sagte er mit seiner dünnen leisen Stimme. »Aber nicht doch! Die Tradition ist längst nicht so trivial. Ist nicht die Sicherheit der jungen Schönen immer der Preis für etwas Bedeutenderes als zwei Figuren, die bloße Bauern im Spiel sind?« »Nämlich?« fragte der Heilige unschuldig. »Ich denke an einen gewissen Herrn, an dem ich interessiert bin und den Sie in der vergangenen Nacht mit Erfolg dem Schutz meiner Diener entzogen haben.« »Hab ich das?« »Ich habe allen Grund, anzunehmen, daß Sie es waren. So sehr ich Ihre Lauterkeit respektiere, Mr. Templar – in diesem Fall wird Ihr Widerspruch wohl kaum genügen, um mir auszureden, was ich mit eigenen Augen gesehen habe.« Der Heilige wippte sachte auf den Absätzen. »Ich stelle also fest«, sagte er, »Sie sind absolut überzeugt, daß er sich in meiner Gewalt befindet.« »Ich stelle also fest«, sagte Marius verbindlich, »Sie sind absolut überzeugt, daß Miß Holm sich in meiner Gewalt befindet.« »Ich hab ihn nicht.« »Dann habe ich Miß Holm nicht.« Simon nickte. »Sehr geschickt«, murmelte er. »Sehr geschickt. Nicht ganz so, wie ich erwartet habe – aber trotzdem sehr geschickt. Darauf läßt sich nichts antworten. Deshalb…«
»Deshalb legen Sie wohl besser die Karten auf den Tisch, Mr. Templar. Wir haben uns vorgenommen, keine Zeit zu verschwenden. Ich gebe offen zu, daß Miß Holm meine Gefangene ist. Warum geben Sie nun nicht zu, daß Professor Vargan von Ihnen gefangengehalten wird?« »Nicht so rasch«, erwiderte der Heilige. »Sie haben soeben vor Zeugen zugegeben, daß Sie an einer Entführung mitschuldig sind. Nun einmal angenommen, die Polizei erführe davon? Wäre das nicht peinlich?« Marius schüttelte den Kopf. »Eigentlich gar nicht«, sagte er. »Ich habe einen sehr guten Zeugen, der gegen dieses Eingeständnis aussagen würde.« »Einen Gauner?« »Oh, mitnichten. Einen hochanständigen Landsmann von mir. Ich versichere Ihnen, es würde völlig unmöglich sein, seine Glaubwürdigkeit anzuzweifeln.« Simon lehnte sich gegen den Tisch zurück. »Aha«, sagte er gedehnt. »Und damit ist Ihre Nummer schon beendet?« »Ich glaube, ich habe alle wichtigen Punkte erwähnt.« »Dann«, sagte der Heilige, »bin ich also an der Reihe.« Sorgsam schob er das kleine Messer in die Scheide und zupfte den Ärmel zurecht. Ein rascher Blick auf den Mann am Boden verriet ihm, daß der unglückliche Diener der großen Sache allmählich zu sich kam, aber das interessierte Simon nun nicht. Er wandte sich an den Mann auf dem Stuhl. »Erzähl deinem Chef von dem Spielchen, das wir gespielt haben«, lud er ihn ein. »Beichte alles, Allerliebster. Er hat ein hübsch gütiges Gesicht; vielleicht faßt er dich nicht allzu hart an.« Der Mann sprach von neuem in seiner eigenen Sprache. Marius hörte regungslos zu. Der Heilige konnte kein einziges Wort verstehen. Aber als der Riese den Redeschwall mit einer
Handbewegung und einer scharfen, schroffen, ungehaltenen Silbe unterbrach, wußte er, daß der Vortrag aus einer nützlichen Darlegung der Tatsachen zu einer Kette von Entschuldigungen entartet war. Dann sah Marius Simon Templar neugierig an. Ein gewisser grimmiger Humor schien in seinem Blick zu liegen. »Dabei wirken Sie gar nicht besonders grausam, Mr. Templar.« »Darauf würde ich mich nicht zu sehr verlassen.« Wiederum die ruckartige, unwirsche Geste. »Ich verlasse mich auch nicht darauf. Mit einem Scharfblick, den ich nicht erwartet habe und den ich nur loben kann, haben Sie mir viele Worte erspart und eine ganze Reihe langweilige Erklärungen. Sie haben die ganze Geschichte mit bewundernswürdiger Kürze zusammengefaßt. Darf ich Sie bitten, ebenso kurz in Ihrer Entscheidung zu sein? Ich darf darauf hinweisen, daß der glückliche Umstand, Sie zu Hause anzutreffen, mir die beträchtliche Mühe erspart, über eine Kleinanzeige in der Tagespresse mit Ihnen in Verbindung zu treten, und mich in die Lage versetzt, Ihnen meine Vorschläge ohne Verzug zu unterbreiten. Wäre es nicht wirklich zu schade, wenn wir uns nach solch einem vorzüglichen Start in Spiegelfechtereien verlören?« »Sehr schade«, sagte der Heilige. Und mit einem Male wußte er, was er tun würde. Wie der Blitz fiel es ihm ein – eine Inspiration, ein Zusammenfassen, ein Schließen, ein Innewerden; all das in einem einzigen Augenblick und deutlicher und gewisser als langwierige geistige Anstrengungen es hätten hervorbringen können. Er wußte, daß Marius ihn in der Gewalt hatte und daß er sich mit normalen Mitteln nicht daraus würde befreien können. Die Lage war verzwickt und wieder verzwickt, sie war ein solches Knäuel verblüffender Listen und Quertreibereien und
verkreuzter Drohungen, wie es der Heilige abgründiger als irgend etwas sonst in der Welt haßte – diese Verzwicktheit nach Art einer Schachaufgabe, die vielleicht das einzige auf der Welt war, die das Gleichgewicht seines tätigen Geistes zu stören vermochte und ihn schlankhin wahnsinnig werden ließ. Darüber nachzudenken, selber Listen zu ersinnen, wäre tödlich; er würde das Spiel mit Sicherheit verlieren. Es war sinnlos, sich mit Dr. Rayt Marius in einer verwickelten Intrige messen zu wollen – in Wettstreit zu treten mit solch einem Altmeister dieser Kunst würde nur ein selbstmörderischen Gedanken nachhängender Narr wagen. Der Heilige hatte daher nur eine Chance: er mußte gerade die Regeln des Spiels verletzen, deren Verletzung Marius bei einem Widersacher nicht erwartete. Dies war der Augenblick, in dem alle Vorurteile und Überzeugungen, die den Heiligen zu dem machten, was er war, auf die Probe gestellt werden würden. Sein grundlegendes Vertrauen an den Vorrang rücksichtslosen Handelns gegenüber mühseliger Vernünftelei mußte sich nun rechtfertigen oder vernichtend zusammenstürzen und ihn mit sich in die Hölle hinabreißen… Da alle Figuren auf dem Schachbrett so miteinander verwoben und ineinandergeschoben und abgedeckt und wieder abgedeckt waren, blieb ihm nichts anderes übrig, als das ganze festgerannte Gefüge zu zerschlagen und das Brett leerzufegen – mit einem einzigen Schwerthieb. »Gewiß«, sagte der Heilige. »Ich teile Ihnen meinen Entschluß unverzüglich mit. Roger, gib mir die Kanone wieder und lauf und bring ein Stück Strick. In der Küche findest du bestimmt was.« Conway ging zur Tür hinaus, und der Heilige wandte sich wieder Marius zu. »Sie haben wahrscheinlich bereits bemerkt, mein Lieber«, begann er sanft, »daß ich das Talent besitze, eine Situation mit
einem Satz zusammenzufassen. Die vorliegende läßt sich allerdings ohne große Mühe umreißen. Ich schlage nicht mehr und nicht weniger vor, Engelsgesicht, als daß ich auf Sie dieselben Überredungsmethoden anwenden werde, die ich Ihrem Diener versprochen habe. Wie Sie sehen, habe ich eine Kanone. Ich schieße auf dreißig Schritt keine Herzen aus einer Spielkarte und was dergleichen Wildwestmätzchen mehr sind, aber ein so schlechter Schütze, daß ich ein Ziel von Ihrem Umfang auf diese Entfernung verpasse, bin ich, glaube ich, doch nicht. Darum dürfen Sie sich entweder in aller Stille von meinem Freund fesseln oder auf der Stelle von mir erschießen lassen. Wählen Sie!« Irgend etwas blitzte auf in den Augen des Riesen und verlöschte ebenso schnell wieder. »Die Situation scheint Ihnen aus der Hand zu gleiten, Mr. Templar«, sagte er verbindlich. »Es sollte sich erübrigen, jemandem, der in diesen Dingen so erfahren ist, wie Sie es zu sein scheinen, erklären zu müssen, daß ich nicht unvorbereitet war für solch einen offensichtlich zu erwartenden Gegenstoß. Muß ich Sie mit Einzelheiten des Verfahrens langweilen, mit dem Miß Holm rechnen darf, sollte ich nicht zu dem Ort zurückkehren, an dem sie sich aufhält? Muß ich mich gezwungen sehen, mein konventionelles Vorgehen durch eine melodramatische Beschreibung der Gefahren, die ihr drohen, noch konventioneller zu gestalten?« »Merkwürdig«, sagte der Heilige, sich versonnenen Erinnerungen hingebend, »daß über die Hälfte der Schurken, mit denen ich zu tun gehabt habe, so überaus ängstlich jedweder Theatralik aus dem Wege zu gehen versuchte. Ich persönlich bin ganz versessen darauf. Und nun steht uns ein dickes Stück bevor – ein ganz, ganz dickes Stück, Marius, mein lieber kleiner Sonnenstrahl…« Marius zuckte die Achseln.
»Ich habe Ihre Intelligenz für bedeutender gehalten, Mr. Templar.« Der Heilige lächelte ein sehr heiligmäßiges Lächeln. Die Hände an den Hüften, sachte auf den Zehen wippend, antwortete er mit dem rücksichtslosesten, kecksten Trotz. »Sie irren«, sagte er. »Sie haben meine Intelligenz für zu unbedeutend gehalten. Sie haben geglaubt, ich sei schwachsinnig genug, um mich durch Ihr Bluffen dazu verführen zu lassen, in Ihrem eigenen Spiel gegen Sie anzutreten. Und das ist genau das, wozu ich nicht schwachsinnig genug bin.« »Ich kann Ihnen nicht folgen«, erwiderte Marius. »Dann bin ich nicht derjenige, der an Hirnerweichung leidet«, sagte der Heilige mit einem reizenden Lächeln, »sondern Sie. Ich fordere Sie auf, Ihre bewundernswürdige logische Methode auf die vorliegende Situation anzuwenden. Ich könnte der Polizei Dinge über Sie erzählen, aber Sie könnten der Polizei Dinge über mich erzählen. Toter Punkt. Sie könnten Miß Holm ein Leid zufügen, aber ich könnte Ihnen Vargan vorenthalten. Wieder toter Punkt – in beiden Fällen ein ganz klein wenig zu Ihren Gunsten.« »Die Polizei können wir im Augenblick ausschalten. Würden wir uns darauf einigen, wäre ein Austausch der Gefangenen…« »Aber Sie wollen einfach nicht begreifen«, sagte der Heilige mit schrecklicher Offenheit. »Das hieße ja, daß ich mich unterwerfe. Und ich unterwerfe mich niemals.« Marius fuchtelte mit den Händen. »Ich gebe Miß Holm heraus.« »Da besteht trotzdem noch ein Unterschied, Allerliebster«, sagte der Heilige. »Sehen Sie, Ihnen liegt doch eigentlich gar nichts an Miß Holm; sie dient Ihnen lediglich als Geisel. An Vargan jedoch liegt mir sehr viel. Ich möchte ihn baden und
kämmen und ihm einen kleinen Samtanzug kaufen und ihn adoptieren. Ich hätte gern, daß er mir nach dem Frühstück mit kindlichem Geplapper etwas über den binomischen Lehrsatz vorträgt. Ich möchte ihn nach dem Abendessen ins Rauchzimmer holen, damit er meine Gäste mit Rezitationen aus der Differentialrechnung unterhält. Am allermeisten liegt mir jedoch an einem seiner kleinen Spielzeuge… Sie sehen also, falls ich Sie laufen ließe, befände sich Miß Holm in eben der Gefahr, in der sie schwebt, falls ich Sie hier behalte, da ich Ihre Auslösungsvorschläge nicht akzeptieren kann. Aber da ist doch ein Unterschied. Lasse ich Sie nämlich laufen, begebe ich mich der einzigen Chance, Miß Holm wiederzufinden, und ich müßte dem Zufall vertrauen, daß er mich ein zweites Mal auf die Fährte führt. Solange ich Sie hingegen hier behalte, habe ich eine sehr gute Karte in der Hand, und die lasse ich nicht fahren.« »Sie gewinnen nichts.« »Im Gegenteil, ich gewinne alles«, sagte der Heilige mit seiner verträumten Singsangstimme. »Ich gewinne alles, oder ich verliere mehr als alles. Aber ich bin das Feilschen satt. Ich bin es satt, Ihr Spiel auf Nummer Sicher zu spielen. Sie werden jetzt mein Spiel spielen, Marius, mein Cherub. Einen Augenblick, ich baue die Bühne um…« Als Conway mit dem Strick zurückkam, holte der Heilige einen kleinen glänzenden Zylinder aus der Tasche und schraubte ihn flink auf die Mündung der in Anschlag gehaltenen Pistole. »Jetzt macht sie kein Geräusch mehr, das der Erwähnung wert wäre«, sagte er. »Sie kennen das kleine Zubehörchen, ja? Teilen Sie mir also bitte schnellsten Ihren Entschluß mit, Marius, bevor mir einfällt zu tun, was ich mehr als alles auf der Welt zu tun wünsche.« »Es wird Ihnen wenig nützen, wenn Sie mich töten.«
»Es wird mir wenig nützen, Sie laufen zu lassen. Aber das haben wir alles bereits besprochen. Außerdem müßte ich Sie nicht unbedingt töten. Ich könnte Ihnen lediglich in die Nieren schießen, und lange bevor Sie an der Wunde stürben, würden Sie sich bereit erklären, auf alles einzugehen, wenn ich nur Ihren Leiden ein Ende mache. Ich räume Ihnen ein, daß sich dadurch meine Chancen, Miß Holm zu finden, nicht gerade erhöhen; verschlechtern würde es sie andererseits jedoch auch nicht – und Sie wären so tot, daß es Ihnen ohnehin ganz gleich sein würde. Überlegen Sie sich den Fall. Ich gebe Ihnen zwei Minuten. Roger, schau auf die Uhr!« Marius hielt unverzüglich die Hände auf den Rücken. »Ich könnte Ihnen Zeit ersparen – ich lasse mich jetzt binden; falls Sie glauben, das komme Ihnen gelegen.« »Fang an, Roger!« sagte der Heilige. Er merkte, daß Marius ihm immer noch nicht glaubte – daß die Beschreibung der Feuerprobe, die der Dicke ihm geliefert hatte, nicht den gewünschten Erfolg erzielt hatte. Er wußte, daß Marius’ Fügsamkeit nichts anderes war als eine höfliche Aufforderung zu dem, was der Riese für einen hoffnungslosen Bluff zu halten beliebte. Und er stand da und sah mit steinernem Gesicht zu, während Conway dem Mann die Hände hinter dem Rücken band und ihn dann in einen Sessel stieß. »Und jetzt nimm du das Blasrohr wieder in die Hand, Roger!« Dann kam dem Heiligen eine Idee. Er sagte: »Ehe wir beginnen, durchsuchst du ihn vielleicht besser, Roger.« Furcht, die sonst doch nichts bei diesem Interview hatte erregen können, flackerte jetzt im Gesicht des Riesen auf und verzerrte es wie in einem Krampf, und der Heilige hätte am liebsten aufgeschrien vor Freude. Marius wehrte sich wie der
Leibhaftige selber, aber er war vorzüglich gefesselt, und alle Anstrengungen fruchteten nichts. Die schwache Stelle im Panzer… Simon wartete. Er bebte geradezu. Er war grimmig entschlossen gewesen, zur Folter überzugehen; gleichzeitig jedoch wurde ihm klar, wie ergebnislos eine jegliche Tortur bei einem Mann wie Marius verlaufen mußte. Er hätte die Folterung des Dicken wieder aufnehmen können, aber auch die würde nun weniger wirksam sein, denn Marius würde nun durch Rückendeckung oder Drohung querschießen. Simon erhielte zwar gewisse Auskünfte, bestimmt sogar – die Grenzen dessen, was ein Mensch ertragen kann, würden dafür sorgen – , aber es würde ihm unmöglich sein, sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Etwas Schriftliches jedoch… Und die gewaltige Leichtigkeit des Erfolges ließ das Herz des Heiligen wie einen Dampfhammer pochen – vor verheerendem Entsetzen, der Erfolg könne sich als ganz und gar kein Erfolg herausstellen. Denn sollte es ein Erfolg sein, dann hätte die Richtigkeit seines Gegenstoßes nicht überwältigender dargetan werden können. Falls es stimmte – falls Marius alles auf die Spielregeln seines Spiels gesetzt hatte – falls Marius so blindlings überzeugt gewesen war, daß bei der Drohung, die er gegen die beiden Männer in der Brook Street ins Feld führen konnte, keiner von ihnen wagen würde, Hand an ihn zu legen – falls… »Englische Sau!« »Schlechte Manieren«, sagte Roger gleichmütig. »Vielen Dank«, sagte der Heilige und nahm den Brief entgegen, den Roger ihm reichte. »Sehr leichtsinnig von Ihnen, Marius, mit dem hier in der Tasche hierher zu kommen. Ich persönlich lege mich niemals schriftlich fest. Es ist zu gefährlich. Aber vielleicht wollten Sie den Brief unterwegs in den Kasten werfen und haben es vergessen.«
Er warf einen Blick auf die Adresse. »Unser alter Freund, der Kronprinz«, murmelte er. »Das müßte eigentlich sehr interessant sein.« Er schlitzte den Umschlag mit einem raschen Schnippen des Daumens auf und zog das mit der Maschine beschriebene Blatt heraus. Der Brief war in Marius’ Muttersprache geschrieben, aber die Schwierigkeit war leicht behoben. Der Heilige ging mit ihm zum Telefon. Nach wenigen Minuten war ein Freund von ihm am anderen Ende, der einen gemütlichen Job im Außenministerium seiner unglaublichen Vertrautheit mit jeder Sprache auf der Karte Europas verdankte. »Gut, daß ich dich antreffe«, sagte der Heilige eilig. »Hör zu – ich habe hier einen Brief, den ich gern übersetzt hätte. Ich habe keine Ahnung, wie die Wörter ausgesprochen werden, ich werde dir daher eins nach dem anderen buchstabieren. Fertig?« Es brauchte Zeit, aber der Heilige hatte sich nun in ungewöhnliche Geduld gefaßt. Er schrieb das Diktat der Hörmuschel zwischen den Zeilen nieder, und schließlich war es soweit. Lächelnd kam er zurück. Roger versuchte, ihn anzukurbeln: »Was verdolmetscht bedeutet…« »Ich geh’ jetzt.« »Wohin?« »Zu dem Haus am Berg in Bures in der Grafschaft Suffolk.« »Ist sie da?« »So steht es in dem Brief.« Der Heilige gab ihn ihm, und Conway las die zwischen die Zeilen gekritzelten Notizen: ›… das Mädchen, und sie wird in eine ruhige Gegend in Suffolk gebracht… Bures… Haus am Berg, weit genug vom Dorf entfernt und daher sicher… kann diesmal nicht schiefgehen…‹
Conway gab den Brief zurück. Der Heilige schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Kleiner, Sie müssen hierbleiben und sich um die Menagerie kümmern. Die beiden sind meine Geiseln.« »Angenommen, es passiert etwas, Simon?« Der Heilige zog seine Uhr zu Rate. Sie stand immer noch. Er zog sie auf und stellte sie nach der Uhr auf dem Kaminsims. »Ich bin bis vier Uhr morgen früh zurück«, sagte er. »Das gibt mir genügend Zeit für Reifenpannen, Motorschaden und was sonst noch danebengehen kann. Bin ich Punkt vier nicht zurück, erschießt du die Vögel hier und kommst nach.« Conway zögerte, und Marius’ Stimme meldete sich rauh. »Müssen Sie unbedingt den Narren spielen, Templar? Ist Ihnen klar, daß meine Leute in Bures Anweisung haben, bei einem Angriff oder in ähnlicher Zwangslage von Miß Holm als Geisel Gebrauch zu machen?« Simon Templar ging zu ihm hinüber und blickte auf ihn hinunter. »Das hätte ich mir denken können«, sagte er, »und ich beweine Ihre miserable Strategie, Marius. Ich nehme an, Ihnen ist klar, daß es mit Ihrer Macht über mich vollends aus ist, wenn Sie Miß Holm opfern? Aber das ist noch längst nicht die ganze fundamentale Schwäche Ihres smarten Plans. Hinzu kommt, daß Sie gegen sich selber beten müssen. Beten, daß ich heute nacht gewinne, Marius – beten, wie Sie in Ihrem ganzen dreckigen Leben noch nicht gebetet haben. Denn wenn mein Unternehmen nicht gelingt, komme ich schnurstracks zurück und bringe Sie auf die häßlichste Art um, die mir einfällt. Und das ist mir ernst.« Er wandte sich ab – kühl, kalt, bedächtig – und ging zur Tür, als wolle er nur noch kurz einmal um die vier Ecken spazieren, bevor er sich zu Bett legte. Aber an der Tür drehte er sich noch
einmal um und warf Marius einen langen, langsamen Blick zu und Roger ein Lächeln. »Alles Gute, alter Junge«, sagte Roger. ›»Kampf, Mord und plötzlicher Tod‹«, zitierte der Heilige leise mit fröhlich-leichtsinniger Gebärde; und niemals war sein Lächeln großartiger gewesen. »Wart nur ab!« sagte der Heilige, und weg war er.
9 Roger Conway ist unvorsichtig, und Hermann macht ebenfalls einen Fehler
Roger Conway schlenderte faul durch das Zimmer, als das Brummen von Norman Kents Hirondel leiser wurde und im Lärm der Regent Street verlorenging. Er stieß auf die Kommode, auf der die Whiskyflasche ihr Dasein fristete und goß sich ein Glas voll und dachte an diese letzte Handbewegung, mit der der Heilige, ganz Edelmann, sich winkend verabschiedet hatte. Und an die erbarmungswürdige Pein in den Augen des Heiligen dachte er. Dann setzte er das Glas wieder hin und zündete sich statt dessen eine Zigarette an, denn ihm fiel plötzlich ein, daß er unter Umständen die ganze Nacht hindurch hellwach und munter werde bleiben müssen. Er blickte zu Marius hinüber. Der Riese war in unerforschliche Apathie versunken. Aber er sprach. »Wenn Sie es erlauben, würde ich gerne eine Zigarre rauchen.« Roger überlegte. »Das ließe sich einrichten – falls Sie Ihre Hände dazu nicht brauchen.« »Ich werde es versuchen. Das Etui ist in meiner Brusttasche.« Conway fand es, biß die Spitze der Zigarre ab, steckte sie Marius in den Mund und brannte sie an. Marius bedankte sich. »Rauchen Sie eine mit?« Roger lächelte.
»Lassen Sie sich etwas Neueres einfallen«, riet er ihm. »Ich nehme schon seit langem nichts mehr von einem Fremden zum Rauchen an – aus Prinzip nicht. Oh, und übrigens – wenn ich Sie dabei erwische, wie Sie den Strick mit der Zigarre durchzubrennen versuchen, werde ich sie Ihnen mit Vergnügen so lange ins Gesicht bohren, bis sie ausgeht.« Marius zuckte mit den Achseln und antwortete nicht, und Roger wandte sich wieder seiner Zigarette zu. Er kam am Telefon vorbei, hielt inne, wählte dann eine Nummer. Ein paar Minuten später hatte er Verbindung. »Kann ich bitte mit Mr. Kent sprechen, Orace? – Oh, hallo, Norman!« »Wer ist da? Roger?« »Ja. Ich rufe an, weil ich mir dache, du machst dir vielleicht Sorgen um uns. Weiß der Himmel, wann wir da draußen eintreffen… Nein, dem Wagen fehlt nichts – soviel ich weiß. Simon ist damit unterwegs. – Brook Street… Hm, Marius hat Pat festgesetzt. – Ja, es ist damit zu rechnen. Er hat sie aus dem Zug holen lassen. Aber wir haben Marius… Ja, er ist hier. Ich schiebe Wache. Wir haben herausgefunden, wohin sie Pat gebracht haben, und Simon ist jetzt auf dem Weg zu ihr hin. – Irgendwo in Suffolk.« »Soll ich hochkommen?« »Wie? Mit dem Zug ist es zu spät, und um diese Zeit kannst du nichts mehr mieten, was sich Auto nennen darf. Außerdem ist es auch gar nicht nötig… Hör zu, ich muß jetzt Schluß machen. Ich kann Marius und Co. nicht aus dem Auge lassen… Ich überlasse es ganz dir… Gut. Bis dann, alter Junge.« Er legte den Hörer auf. Hinterher fiel ihm ein, daß Norman vielleicht doch etwas erledigt haben könnte. Er hätte den Dicken und den Langen fesseln können, die beide inzwischen bei Bewußtsein waren
und sich so frei bewegen konnten, wie sie es wagten. Das Fesseln hätten sie besorgen sollen, bevor Simon ging. Sie hätten daran denken sollen – oder Simon hätte daran denken sollen. Aber von dem Heiligen hatte man vernünftigerweise kaum erwarten können, daß er zu solch einem Zeitpunkt daran dachte oder überhaupt an irgend etwas dachte. Roger kannte sowohl den Heiligen als auch Pat zu gut, um ihm aus dieser Unterlassung einen Vorwurf machen zu können. Simon war völlig aus den Fugen gewesen, als er ging. Die ganze Zeit schon, seit halb zehn, hatte der Wahnwitz in ihm gekocht, immer wilder waren seine Wogen hochgeschlagen hinter all den Masken der Gelassenheit, der Leichtfertigkeit und der Geduld, die der Heilige von Zeit zu Zeit aufgesetzt hatte, und weißglühend war er gewesen hinter dem letzten Lächeln und dem Gruß von der Tür. Eine halbe Stunde verstrich. Roger bekam allmählich Hunger. Er hatte einen Happen in der Bahnhofswirtschaft zu sich genommen, als er wartete, aber der hielt nun nicht mehr vor. Ein Verpflegungsausflug in die Küche würde voraussetzen, daß er seine drei Gefangenen zwang, ihm und seiner Pistole voranzugehen. Und die Küche war winzig… Ergeben schickte Roger sich in seine hungrige Wache. Mit unglücklichem Gesicht schaute er auf die Uhr. Viereinhalb Stunden, bevor er die Gefangenen erschießen und die Speisekammer stürmen konnte, wenn er dem Befehl des Heiligen gehorchte. Aber sie mußten durchgestanden werden. Dem Heiligen wäre das Kunststück vielleicht gelungen, aber dafür war der Heilige auch ein approbierter Abenteurer, und was er von dem Geschäft nicht verstand, das war einfach nicht bekannt. Conway war weit weniger erfahren, und er sah es auch ein. In der kleinen Küche würde man ihn in einem unbedachten Augenblick, während er sich mit einem Auge und einer Hand etwas zum Essen heranzuangeln versuchte, leicht
überwältigen können. Und nach Lage der Dinge war das Risiko zu groß. Wenn Norman doch beschließen würde zu kommen! Roger saß auf der Tischkante und spielte lässig mit der Kanone. Marius schwieg. Seine Zigarre war ausgegangen, und er hatte nicht darum gebeten, sie ihm von neuem anzuzünden. Der Dicke hing schlaff in einem anderen Sessel und betrachtete Roger mit giftigen Blicken. Der Hagere stand verlegen in der Ecke. Er hatte keinen Ton von sich gegeben, seitdem er wieder zu sich gekommen war, aber er betrachtete Roger. Die Uhr tickte eintönig. Roger begann vor sich hin zu pfeifen. Erstaunlich, wie schnell eine Belastung der Nerven sich bemerkbar machte. Er wünschte, er wäre wie der Heilige. Der Heilige hätte zunächst einmal keinen Kohldampf geschoben. Der Heilige hätte die Gefangenen gezwungen, ihm ein Essen mit vier Gängen zu kochen, den Tisch zu decken und ihn dann auch noch zu bedienen. Der Heilige hätte sie in Trab gehalten. Sie hätten ihm die Schallplatten auflegen und allerhand andere Dienste für ihn verrichten müssen. Der Heilige hätte vermutlich einen Brief geschrieben und als Zugabe ein paar Knittelverse geschmiedet. Ihn hätten das Schweigen und das konzentrierte Übelwollen in den drei Paar Augen bestimmt nicht bedrückt. Er hätte das Schweigen abtreten lassen und sich die Zeit vertrieben mit leichtherzigem Spott auf ihre Kosten. Aber es blieben die Stille und die Wachsamkeit der Augen. Roger begann zu begreifen, warum er nie das unwiderstehliche Bedürfnis verspürt hatte, ein Löwenbändiger zu werden. Allein in einem Käfig mit wilden Tieren mußte einem wohl sehr ähnlich zumute sein wie ihm in diesem Augenblick. Dieselbe sehr schwachfüßige Oberherrschaft des Menschen, dieselbe beunruhigende Wachsamkeit der Bestien, dieselbe Spannung, dasselbe knurrende Sichfügen der Tiere, dieselbe Gewißheit,
daß die Bestien nur warteten, warteten, warteten. Diese menschlichen Bestien schätzten ihn ab, forschten in seiner Seele, entblößten ihn von allem Bluff, fanden in der Stille all seine schwachen Seiten heraus, planten, kombinierten, überlegten – hellwach und zum Sprung bereit. Das zerrte an Rogers Nerven. Früher oder später würde es zu einem Befreiungsversuch kommen, das war ihm klar. Aber wie würden sie es anstellen? Und diese Ungewißheit würde vielleicht Stunde um Stunde andauern. Zug und Gegenzug, Drohung und Gegendrohung, das Knurren und die Peitsche, die Stille und Wachsamkeit und die Augen. Wie lange? Dann brach das erste Wortgerassel von den Lippen des Dicken. Er redete in seiner eigenen Sprache. »Aufhören!« fuhr Conway ihn an. Seine Nerven waren gespannt. »Wenn du was zu sagen hast, sag es in Englisch. Noch ein Wort von dem da, und du kriegst eins übers Ohr mit dem weichen Ende dieser Kanone.« Absichtlich und trotzig sprach der Dicke in seiner Sprache weiter. Roger rutschte vom Tisch, als sei der weißglühend. Mit erhobenem Arm stand er über dem Mann, und der Mann blickte mit mürrischer Unverschämtheit zu ihm auf. Und dann passierte es. Der Plan war wunderbar einfach. Roger hatte einen Augenblick lang vergessen, daß nur Marius’ Hände gefesselt waren. Die Füße konnte der Riese bewegen. Und als Roger über den Sessel des Dicken gebeugt stand, zu dem er sich mühelos hatte hinlocken lassen von dem Köder, der für die anderen gleichzeitig die Erläuterung der Falle gewesen war, hatte er Marius halb den Rücken zugekehrt. Conway hörte die Bewegung hinter sich, aber es blieb ihm keine Zeit, sich umzudrehen und ihr zu begegnen. Der Fuß des
Riesen krachte ihm mit solcher Wucht ins Kreuz, daß er ihm sehr wohl das Rückgrat hätte brechen können – hätte er das Rückgrat getroffen. Aber der Fußtritt traf ihn gleich neben dem Rückgrat an einer fast ebenso empfindlichen Stelle, und vor Schmerz aufjapsend ging er zu Boden. Dann stürzten sich der Dicke und der Hagere gleichzeitig auf ihn. Die Pistole wurde ihm aus der Hand gewunden. Er hätte ohnehin nicht sehen können, wohin er schoß; der Schmerz hatte ihn geblendet. Er konnte nicht schreien – in seiner Kehle würgte eine schreckliche, lähmende Übelkeit, und seine Lungen schienen ebenfalls gelähmt zu sein. Die Faust des Hageren knallte wieder und wieder gegen sein schutzloses Kinn. »Bind mich los! Schnell, Idiot!« zischte Marius, und der Dicke gehorchte unter einer plappernden Flut von Entschuldigungen. Marius schnitt ihm das Wort ab. »Wie du bestraft wirst, überlege ich mir später, Otto. Dies hier wird vielleicht deinen Schwachsinn wieder ein wenig gutmachen. Fessele ihn jetzt mit diesem Strick!« Roger lag still da. Irgendwie – er wußte nicht wie – blieb er bei Bewußtsein. Alle seine Glieder waren gänzlich ohne jede Kraft. Er konnte nichts sehen. Sein angeschlagener Kopf sang und schmerzte und klopfte abscheulich. Sein ganzer Körper wurde von einem zerschmetternden, krampfigen Schmerz umklammert, der sein Zentrum an der Stelle auf dem Rücken hatte, wo der Fußtritt ihn getroffen hatte, und von dort aus eiserne Fühler der Hilflosigkeit in jeden Muskel ausstrahlte. Aber sein Verstand blieb unberührt. Hoch und klar schwebte er über der brüllenden Düsternis, und er hörte und behielt jedes Wort, das gesprochen wurde. »Such nach, ob du noch mehr Kordel findest, Hermann!« befahl Marius.
Der Hagere ging hinaus und kam zurück. Nach den Handgelenken wurden nun Rogers Füße gebunden. Dann ging Marius zum Telefon. »Ein Ferngespräch. Bures…« Eine ungeduldige Pause. Dann fluchte Marius guttural. »Die Leitung ist gestört? Wann kann man sie wieder benutzen? Es handelt sich um eine Angelegenheit auf Leben und Tod! Morgen? Gott im Himmel! Ein Telegramm – würde ein Telegramm heute nacht noch in Bures ausgetragen?« »Ich verbinde Sie mit…« Wieder eine Pause. »Ja, ich hätte gerne gewußt, ob ein Telegramm in Bures heute nacht noch zugestellt wird. – Bures in Suffolk. – Sie glauben nicht? Sie sind fast sicher, daß es nicht? Na, schön. Vielen Dank. Nein, ich werde es jetzt nicht schicken.« Er drückte den Hörer in die Gabel und nahm ihn sofort wieder auf. Diesmal sprach er mit Westminster 9999 und gab StakkatoAnweisungen, die Roger nicht verstand. Die Anweisungen schienen sehr ins einzelne zu gehen und brauchten daher einige Zeit. Aber schließlich war Marius zufrieden. Er legte auf und drehte sich um und trat Roger verächtlich mit dem Fuß. »Du bleibst hier, Schwein. Du bist die Sicherheit für das Benehmen deines Freundes.« Dann sprach er mit dem hageren Mann in der Sprache, die für Rogers Ohren Chinesisch war. »Hermann, du bleibst hier und paßt auf ihn auf. Ich lasse dir die Pistole hier. Warte, ich schreib mir eben die Telefonnummer auf…« Er las sie vom Apparat ab. »Wenn ich Befehle haben sollte, rufe ich an. Du wirst die Wohnung nicht ohne meine Erlaubnis verlassen. Otto, du kommst mit. Wir fahren in meinem Wagen Templar nach. Ich habe Agenten unterwegs postiert, und ich habe befohlen,
daß man sie unterrichtet. Wenn sie nicht alle so unfähig sind wie du, wird er nicht lebendig nach Bures kommen. Aber wir folgen ihm, um ganz sicher zu gehen. – Noch etwas! Das Schwein auf dem Boden sprach mit einem Freund in Maidenhead, der ihn vielleicht besuchen kommt. Du wirst ihn festnehmen und ebenfalls binden. Und keinen Blödsinn machen, Hermann!« »Bestimmt nicht.« »Gut! Komm, Otto!« Roger hörte sie gehen. Und dann wallte die tosende Nacht, die überall um ihn herum lauerte, hoch auf und verschlang auch den letzten Funken Klarheit in seinem Gehirn. Er hätte fünf Minuten lang bewußtlos sein können oder fünf Tage; er hatte jedes Zeitgefühl verloren; aber als er aufwachte, fiel sein erster Blick auf die Uhr, und er wußte daher, daß zwanzig Minuten vergangen waren. Der Mann namens Hermann saß ihm im Sessel gegenüber und blätterte in einer Illustrierten. Nun blickte er auf und sah, daß Roger bei Bewußtsein war. Und er legte die Illustrierte hin und kam auf ihn zu und spuckte ihm ins Gesicht. »Bald wirst du tot sein, du englisches Schwein. Und dein Land…« Roger hielt mit gewaltiger Anstrengung seine Zunge im Zaum. Er stellte fest, daß er atmen konnte. Die Eisenbänder um seine Brust hatten sich gelockert und die Schmerzen im Körper nachgelassen. Zwar spürte er immer noch den klopfenden Schmerz in seinem Rücken und den klopfenden Schmerz in seinem Kopf, aber er fühlte sich schon etwas besser. Und ihm lag nichts an irgendeiner unnötigen Verschlimmerung seiner Pein – jedenfalls im Augenblick nicht. Der Mann fuhr fort: »Der Doktor ist ein großer Mann. Er ist der größte Mann der Welt. Du hättest sehen müssen, wie er in
zwei Minuten alles organisiert hat. Er ist der neue Napoleon. Er wird unser Land zum größten Land der Welt machen. Und ihr Idioten versucht, gegen ihn anzugehen!« Die Ansprache verlief in einem unverständlichen Wortschwall in des Mannes Muttersprache, aber Roger begriff genug. Er begriff, daß ein Mann, der seine Leute zu solch einer fanatischen Gefolgschaft verführen konnte, kein kleiner Mann war, kein geringer. Und er fragte sich, wie der Heilige jemals jemanden davon überzeugen konnte, daß Marius sich nur um seine eigenen Götter – Geld und Macht – kümmere. Ein Aufflammen nutzloser Wut schwand wieder aus Conways Gesicht, und er lag in dumpfem Schweigen da, wie man ihn gefesselt hatte. In seinem Gehirn wälzte er Pläne und Gegenpläne. Als Hermann merkte, daß er ihn mit Sticheleien nicht hochbringen konnte, schlug er ihm zweimal ins Gesicht. Roger rührte sich nicht. Und der Mann spuckte ihn noch einmal an. »Genau wie ich gedacht habe. Ihr habt keinen Mut, ihr englischen Schweine. Nur wenn viele von euch sich einen kleinen Kerl vorknöpfen können, dann seid ihr tapfer!« »O ja genau«, sagte Roger müde. Hermann funkelte ihn finster an. »Also, wenn du derjenige wärst, der mich zusammengehauen hat!« Prrii-ing! Der schrille Schrei einer Klingel wimmerte mit einer Plötzlichkeit durch die Wohnung, die dem alltäglichen Laut etwas Elektrisierendes gab. Hermann hielt mitten im Satz ein und richtete sich ein wenig auf. Kalte Boshaftigkeit blickte ihm aus den Augen. »Jetzt empfang’ ich deinen Freund, Schwein.« Roger holte tief Luft.
Er mußte es sehr unachtsam getan haben, sehr auffällig, denn zur Hinterlist taugte Roger Conways Verstand nicht sonderlich. Oder vielleicht hatte Herman auch mit irgend solch einer Reaktion gerechnet – unbewußt – , und seine Ohren waren auf den Laut gespitzt gewesen. Jedenfalls blieb er auf dem Gang zur Tür stehen und drehte sich um. »Du willst versuchen, ihn zu warnen, Engländer?« schnurrte er. Die Pistole war in seiner Hand. Drei Schritte, und er stand vor Roger. Roger wußte, daß es nun darauf ankam. Schrie er nicht, dann war, soweit er sehen konnte, seine einzige Chance, gerettet zu werden, dahin – und Norman Kent dazu. Sah man ihm jedoch an, daß er schreien wollte, würde man ihn wieder bewußtlos schlagen. Das heißt, man würde ihn wohl in jedem Fall bewußtlos schlagen, da seine Absicht zu schreien bereits erraten worden war. Hermann gehörte nicht zu den Leuten, die Zeit auf das Knebeln ihrer Gefangenen verschwenden. Also! »Geh zum Teufel!« sagte Roger unbekümmert. Dann brüllte er. Den Bruchteil einer Sekunde später krachte ihm Hermanns Pistolenknauf an den Schädel. Der Schlag hätte ihn von neuem betäuben müssen, aber er tat es nicht. Hinterher kam Roger zu dem Schluß, daß er einen mindestens zwei Zoll starken Schädel haben mußte und dazu noch die Konstitution eines Ochsen, denn sonst hätte er nicht aushalten können, was er aushielt. Tatsache war jedenfalls, daß man ihn niedergeschlagen hatte, ohne ihm das Bewußtsein zu rauben. Also lag er ganz still und versuchte sich wieder so weit zu sammeln, daß er zum zweitenmal schreien konnte, sobald Hermann die Tür öffnete. Hermann richtete sich auf und faßte seine Pistole wieder beim Griff. Dann steckte er sie in die Hosentasche. Finger am
Abzug. Und dann überkam ihn ein schrecklicher Gedanke, der ihn ein wenig kopflos machte; der Gedanke nämlich, daß der Mann vor der Tür die Warnung gehört und richtig verstanden haben könnte, und unter unterdrücktem Fluchen raste er zum Zimmer hinaus. Aber die Klingel schlug erneut an, als er die Haustür erreichte. Es war nicht anzunehmen, daß jemand, der den Schrei gehört und verstanden hatte, so rasch noch einmal klingeln würde – dachte Hermann. Womit er sich als ein schlechterer Psychologe erwies als der Mann draußen… Er öffnete die Tür und hielt sich hinter ihr verborgen. Niemand trat ein. Er wartete, und eine Art abergläubische Angst rieselte ihm den Rücken hinunter wie ein dünnes Rinnsal eiskalten Wassers. Nichts tat sich – und doch hatte die Klingel nur einen kurzen Augenblick, bevor er die Tür öffnete, zum zweitenmal angeschlagen, und niemand, der ein zweites Mal klingelte, würde sofort danach weggehen, ohne abzuwarten, ob er mit seinem zweiten Versuch Erfolg hatte. Und nun brüllte Conway wieder: »Paß auf, Norman!« Hermann fluchte mit Flüsterstimme. Aber jetzt hatte er keine Wahl. Er mußte seinen Befehl ausführen. Der Mann, der zu Besuch kam, war gefangenzunehmen. Und ganz gewiß durfte man dem Mann, der da gekommen war und Conways zweiten Schrei gehört haben mußte, wenn schon nicht den ersten, nicht gestatten, daß er entkam und Alarm schlug. Unvorsichtig trat Hermann in die offene Tür. Seine Füße hatten noch kaum die Schwelle überschritten, da packte ihn eine Hand von der Größe eines Schinkens von hinten beim Hals, und eine zweite Hand umklammerte das
Handgelenk über der Pistole wie ein Schraubstock. Er war so hilflos wie ein Kind. Die Hand an seiner Kehle drehte sein Gesicht zum Licht. Hermann sah ein gewichtiges rotes Gesicht mit schläfrigen Augen vor sich, das durch eine wahre Säule von Hals mit zwei Schultern verbunden war, die einem Büffel zur Zierde gereicht hätten. »Nun komm«, sagte Chefinspektor Claud Eustace Teal schläfrig. »Komm, ich bring dich dahin, wo du hergekommen bist, und du schüttest dem Onkel dein Herz aus.«
10
Simon Templar fährt nach Bures, und zwei
Polizisten springen rechtzeitig zur Seite
Die Straße, die nach Nordosten aus London herausführt, gehört zu den unangenehmeren Wegen ins offene Land. Zunächst einmal wird sie meilenweit von Straßenbahnen geplagt. Die kriechen endlos dahin, stauen den Verkehr, machen den Mann am Steuer eines schnellen Wagens wahnsinnig – und ganz besonders den Mann am Steuer eines schnellen Wagens, der es eilig hat. Trotz der späten Stunde herrschte ein solch reger Verkehr auf der Straße, daß der Heilige nie mehr als ein paar hundert Meter freie Fahrt hatte. Er wußte, daß es eine schnellere Route gab als die, die er benutzte. Man hatte sie ihm einmal gezeigt – eine Route, die auf verschlungenen Pfaden über verlassene Nebenstraßen führte, gelegentlich die belebten Hauptverkehrsadern schnitt und dann schleunigst wieder in leere Straßen abzweigte. Diese Route war länger, aber schneller zu bewältigen. Aber der Heilige war sie erst einmal gefahren, dazu noch bei Tageslicht. Nun, in der Dunkelheit, traute er sich nicht zu, sie wiederzufinden. Die Anhaltspunkte, die ein Autofahrer sich automatisch während des Tages merkt, nützen ihm wenig in der Nacht, wenn das Lampenlicht sie verändert. Und sich zu verfahren würde noch ergrimmender sein als der hinderliche Verkehr. Minuten zu verschwenden und vielleicht ganze Kilometer durch Fahren in falscher Richtung, verwirrt zu werden durch ungenaue und sich
widersprechende Auskünfte von Fußgängern und Polizisten, sich abzuplagen mit dieser dauernden Ungewißheit – alles das hätte den Heiligen an den Rand des Deliriums getrieben. Der Vorteil, der vielleicht dabei heraussprang, wog all die möglichen Nachteile nicht auf. Darüber war er sich bereits im klaren gewesen, als er in der Brook Street in den Wagen stieg. Und er hielt sich an die Hauptverkehrsstraßen. Grimmig biß er sich durch den Verkehr, griff jede Gelegenheit beim Schopf, die sich ihm bot, schuf sich selber weitere Gelegenheiten ungeachtet jeglicher Gesetze, Prinzipien und guter Manieren, die auf den Straßen Seiner Majestät herrschten, dadurch wertvollste Sekunden gewinnend, wo immer er konnte. Andere Fahrer verfluchten ihn; zwei Polizisten forderten ihn zum Halten auf, er übersah sie, und sie notierten seine Nummer. Er zerkratzte sich einen Kotflügel bei einem verwegenen Sprung durch eine Lücke, die niemand sonst auch nur für so etwas Ähnliches wie eine Lücke gehalten hätte; dreimal entging er dem Tod nur durch ein Wunder, als er nämlich an unübersichtlichen Kurven überholte. Und der streitlustige Fahrer eines Kleinstwagens, der auf seinem rechtmäßigen Anteil an der Straße bestand, erbleichte, als der Hirondel ihn zwang, an den Rinnstein auszuscheren, wollte er nicht zermalmt werden. Es war unvergleichlich rücksichtslose Fahrerei. Daneben wirkte alles, was der Heilige früher am Abend von Roger Conway verlangt hatte, wie das Spiel eines Kindes mit einer Schubkarre. Aber dem Heiligen war es egal. Er war unterwegs. Wer den Heiligen auf seiner Fahrt in dieser Nacht sah, wird sich sein Leben lang daran erinnern. Denn der Hirondel, der offenbar die Hand eines wahren Meisters an seinem Steuer verspürte, wurde geradezu zu etwas Lebendigem. König der Straßen nannten ihn seine Hersteller, aber in dieser Nacht war
der Hirondel mehr als ein König: Er war die Verkörperung und die Apotheose aller Wagen. Denn der Heilige fuhr mit dem Teufel im Nacken, und seine Stimmung sprang auf den Hirondel über. Lebten wir in einem abergläubischen Zeitalter, hätten diejenigen, die den Wagen sahen, sich gewiß bekreuzigt und feierlich geschworen, nicht ein Auto gesehen zu haben, sondern einen knurrenden silbernen Dämon, der auf den Schwingen eines unirdischen Windes durch London toste. Eine halbe Stunde dauerte das… Der Daumen des Heiligen bediente rastlos die Hupe, und die geharnischte Stimme des Silberteufels verlangte aufheulend Platz in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, und dann lichteten sich die Häuserzeilen und wurden abgelöst von den ersten Feldern, und nun machte der Heilige sich ans Fahren – mit Händen, die so sicher und so einfühlsam wie die eines vorzüglichen Reiters waren, entlockte er den hundert Pferden in seiner Macht die letzte Unze Antrieb… Zu beiden Seiten lastete Dunkelheit. Das einzige Licht weit und breit lag in dem Tunnel, den die hellen Scheinwerfer aus der störrischen Schwärze heraushieben. Ab und zu sprang den Heiligen aus der Dunkelheit ein großes Tier mit Feueraugen lärmschlagend an. Der Heilige wich ihm aus, wie ein Torero dem Stier ausweicht, und es sauste vorbei mit einem verblüfften Grunzen in einem flüchtigen Anprall von Fahrtwind. Und wieder und wieder schoß der Hirondel aus der Nacht an einen lachhaft dahinkriechenden Glühwurm heran, schnupperte an dem roten Schwanz, schnaubte höhnisch und fegte mit tiefkehligem Gebrüll daran vorbei. Kein Auto in ganz England hätte in dieser Nacht dem Heiligen davonfahren können. Das Dröhnen des großen Motors war wie ein gewaltiges Lied im Hintergrund. Der Motor sang im Chor mit dem sanften Rauschen der Reifen und dem Sausen der kühlen Nachtluft.
Und das Lied, das er sang, war dies: Patricia Holm – Patricia Holm – Patricia – Patricia – Patricia Holm! Und der Heilige hatte nicht die geringste Vorstellung, wie er zu Werke gehen würde. Und er dachte auch nicht darüber nach. Die Lage des »Hauses am Berg« war ihm völlig unbekannt, und ebenso unbekannt war ihm der Widerstand, der seinem Angriff begegnen würde. Mithin ermüdete er sich nicht mit Überlegungen in dieser Richtung. Diesen Dingen war mit müßiger Spekulation nicht beizukommen. Er hatte keine Anhaltspunkte, also wäre jede Spekulation Zeitverschwendung gewesen. Er konnte nur für den Augenblick leben und für die Aufgabe, die es in diesem Augenblick zu bewältigen galt – wie ein Donnerschlag ostwärts durch England zu rollen in den Kampf, der vor ihm lag. Patricia – Patricia! Leise sang der Heilige das Lied mit; aber seine Stimme ging in der Stimme des Hirondel unter. Das Lied des Wagens hallte weit über die offene Landschaft hinweg, wurde geschunden und geschlagen zwischen den Mauern erschrockener Dorfstraßen und in rollendem Echo von den Hängen der Hügel zurückgeworfen. Daß er sich geradezu mit verbundenen Augen ins Kampfgetümmel stürzte, nahm dem Heiligen nichts von seiner Verzückung. Im Gegenteil – gerade darum schmeckte ihm dieses Abenteuer. Diese Art Ausfall von verlorenem Posten war es, nach der sein Herz schrie – nach dem Ende der Untätigkeit, dem Ende der Ratlosigkeit und Hilflosigkeit, der Unschlüssigkeit und der Zweifel. Und aus dem Herzen des Heiligen stieg der Jubel auf, denn endlich hatte der Gott der wahren Schlachten und verzweifelten Unternehmungen sich wieder seiner erinnert. Aber es war nicht pure Selbstsucht. Es war nicht schiere Abenteuerlust, die sich den Teufel schert um das Wohlergehen
derer, die dem Abenteuer seinen Reiz verleihen. Es war das unwiderstehliche Wiederaufwallen der fundamentalsten aller menschlichen Eingebungen. Wild wachgerüttelt aus uraltem Schlaf wurde der Geist, der die Ritter der Tafelrunde des Königs Artus auf Abenteuer ausreiten und Tristan nach Isolde sich sehnen ließ; aufgeschürt wurde die Flamme im Herzen des Menschen, die Feuer und Schwert über Troja brachte, und wiedererweckt Rolands Schrei und der Gesang des Schwertes Durendal inmitten des Gemetzels von Roncesvalles. »Der Schall der Trompeten…« Und so fraß der Hirondel die Kilometer, bis er mehr als die Hälfte der Reise hinter sich gebracht hatte. Hoffentlich gab es nur keinen Maschinenschaden! Um Benzin und Öl bangte der Heilige nicht, denn er hatte noch auf der Rückfahrt von Maidenhead getankt. Simon drückte auf einen Schaltknopf, und sämtliche Armaturen auf dem Armaturenbrett vor ihm leuchteten mit seltsam gespenstischem Schimmer von innen auf. Er blinzelte von der Straße zu einer von ihnen hin. Einhundertfünfzehn. Einhundertzwanzig. Einhundertzweiundzwanzig – fünfundzwanzig… Patricia! »Kampf, Mord und plötzlicher Tod…« »Weißt du, Pat, uns bietet sich heutzutage einfach keine Chance mehr. Keine Chance für die prächtige, ganz große Liebe. Man sollte kämpfen um die Erwählte. Am besten gegen Drachen…« Einhundertdreißig. Eine Ecke tauchte drohend vor ihm auf, warf sich ihm entgegen in mörderischer Absicht. Von grausamer Hand gebändigt, rissen die Reifen kreischend an der Straße. Der Wagen kurvte um die Ecke, auf der Hinterhand sozusagen – fing sich und schoß weiter. Ping!
Als sei ein zu straff gespannter Draht plötzlich mit hellem Klang gerissen. Der Heilige, der geradeaus vor sich hin blickte, blinzelte und stellte fest, daß die Windschutzscheibe einen Stern geboren hatte – einen Stern mit schlanken Spitzen, die von einem sauber in das Glas gebohrten Loch ihren Ausgang nahmen. Ein leises Lächeln spielte um die Lippen des Heiligen. Ping! – Peng! Peng! Noch einmal der erste Laut – und dann, zweimal ganz rasch hintereinander, ein anderes Geräusch – scheppernd, und hoch wie Metall auf Metall – vor ihm in der schimmernden Aluminiumhaube. »Hui!« pfiff der Heilige. »Eine windige Ecke!« Er hatte keine Zeit, sich die Unterbrechung seelisch einzuverleiben, sie zu analysieren und ihren tieferen Sinn zu ergründen. Wieso zu diesem Zeitpunkt seiner Reise auf ihn geschossen wurde – das konnte warten. Irgend etwas war schiefgegangen. Irgend jemandem war ein Schnitzer unterlaufen. Roger mußte überlistet worden sein und Marius geflohen – oder sonst etwas. Inzwischen jedoch… Zum Glück hatte der erste Schuß ihn veranlaßt, sein Tempo zu vermindern, sonst wäre er ein toter Mann gewesen. Das nächste Geräusch, das er hörte, war weder der Einschlag einer Kugel noch der dünne, entfernte Knall des Gewehrs, das sie abfeuerte. Es war laut und nahe und explosionsartig – unter seinen Füßen, schien ihm –, und das Steuer wurde ihm aus der Hand geschlagen. Fast aus der Hand geschlagen. Er wußte selber nicht, wie er es im Griff behielt. Mit übergedankenschnellem Instinkt mußte er beim Klang der Detonation fester zugefaßt haben, und er steuerte mit beiden Händen. Er riß das Steuer zu der Seite herum, zu der es sich nicht herumreißen lassen wollte, stemmte
seine Füße gegen die Kupplung und Bremse, jeden Zipfel Sehne in seinem prachtvollen Körper anspannend. Der Tod starrte ihm ins Gesicht – ein so plötzlicher, wie er sich ihn nur immer wünschen konnte. Die Anspannung war gewaltig. Der Hirondel hatte sich von seiner Herrschaft frei gemacht. Er war wahnsinnig, ging durch; die Kandare zwischen den ungeheuren Zähnen, stürzte er sich in Zickzacksprüngen dämonisch ins Verderben. Normale menschliche Kraft hätte ihn unmöglich zurückgehalten. Der Heilige hätte es bei all seiner Zähigkeit nicht vermocht – normalerweise. Übernatürliche Kräfte mußten ihm zugeflossen sein. Irgendwie hielt er den Wagen so lange aus dem Straßengraben heraus, wie er brauchte, um ihn anzuhalten. Dann schaltete er, ohne eigentlich zu überlegen, die Scheinwerfer aus. Flüchtig wunderte er sich darüber, daß die Vorderachse bei dieser furchtbaren Beanspruchung nicht wie ein trockener Zweig geknackt war und daß die Steuerung unter seinen Händen nicht in Fetzen gegangen war. Wenn ich lebendig hier ‘rauskomme, dachte der Heilige bei sich, kriegt die Hirondel-Automobilbau ohne Aufforderung ein begeistertes Dankschreiben von mir! Aber der Gedanke kreuzte sein Hirn nur wie eine Schwalbe, die über einen reglosen Teich hinweghuscht – und war wieder entschwunden. Dann überlegte er ebenso flüchtig, ebenso vage, warum er wohl kein Schießeisen eingesteckt hatte. Nun würde er wohl büßen müssen für die unbekümmerte Hast, mit der er aufgebrochen war. Sein kleines Messer – schön und gut; er konnte so präzise damit umgehen wie der beste Schütze mit seiner Pistole, aber es reichte nur für einen Schuß. Es war ihm niemals gelungen, es so abzurichten, daß es sich auch als Bumerang verwenden ließ. Es war unwahrscheinlich, daß ihm
ein einzelner Mann aufgelauert hatte. Und das Messer allein würde auch bei fachmännischster Handhabung nichts ausrichten können gegen eine Anzahl bewaffneter Männer, die ihn in einem lahmgelegten Auto umzingelten. Daraus folgte ganz ohne Zweifel, dachte Simon, daß ich aussteigen muß. Und im Handumdrehen war er draußen und kauerte neben dem Wagen im Straßengraben. Draußen und im Dunkeln waren seine Aussichten besser. Er dachte nicht eine Sekunde an Flucht. Zu entkommen wäre ziemlich leicht gewesen. Aber der Hirondel war der einzige Wagen, den er besaß, und er mußte gerettet werden – oder er konnte das Spiel aufgeben. Offensichtlich war das Ziel des Hinterhalts genau dies: ihn mit allen Mitteln zurückzuhalten – und zurückhalten ließ er sich nun gerade nicht! Nun, nachdem die Lichter ausgeschaltet waren, war die Dunkelheit ein bißchen weniger dunkel, und die Straße lief neben der schwarzen Einwölbung der flankierenden Bäume durch sie hindurch wie ein Band aus stumpfem Stahl. Und als der Heilige sich umdrehte, sah er Schatten, die sich bewegten. Er zählte vier. Wie eine Schlange kroch er ihnen in dem trockenen Graben entgegen. Sie hatten sich getrennt. Sie mieden den trüben Schimmer der Straße, als fürchteten sie, bei ihrem Herannahen werde sie ein Schuß aus dem Auto vor ihnen empfangen. An den düsteren Kanten der Straße schlichen sie entlang, zwei auf der einen Seite, zwei auf der anderen. Rücksichtsvolles Vorgehen war nicht am Platze. Der durchlöcherte Vorderreifen mußte gewechselt werden, und die vier Männer waren im Weg. Also mußten die vier Männer beseitigt werden, und zwar so rasch und so endgültig wie möglich. Langes Gefackel kam nicht in Frage.
Der erste der beiden Männer auf Simons Seite trat beinahe auf die dunkle Gestalt, die plötzlich vor ihm aus der Erde zu wachsen schien. Er hielt inne und wich zurück, damit er von seinem Gewehr Gebrauch machen konnte, und sein Kumpan trat ihm auf die Hacken und fluchte. Dann schrie der erste Mann auf, und sein Schrei erstickte in einem abgewürgten Gurgeln. Der Mann dahinter sah seinen Anführer zu Boden sinken, aber da war noch ein Mann vor dem Anführer – ein Mann, der vorher nicht da gestanden hatte und nun mit leise flüsternder, verzweifelter Fröhlichkeit lachte. Der zweite Mann versuchte, seine Pistole zu heben, aber zwei stählerne Fäuste packten nach seinen Händen, und ehe er sichs versah, flog er durch die Luft, ohne daß er etwas dagegen hätte ausrichten können. Er schien ein gutes Stück zu fliegen – und dann schlief er. Der Heilige überquerte die Straße. Eine Pistole sprang einem der beiden Männer auf der anderen Seite aus der Hand, die bei dem ersten Schrei unentschlossen stehengeblieben waren. Aber der Heilige war schon wieder im Schatten verschwunden. Die beiden kauerten sich hin, warteten und spähten gespannt, daß er sich wieder rühre. Aber sie blickten über das Gras am Straßenrand hinweg, wo der Heilige wie ein Gespenst untergetaucht war. Der Heilige jedoch hockte bereits über ihnen – wie ein Leopard kauerte er unter der Hecke auf der Böschung genau neben ihnen und machte sich verstohlen zum Sprung bereit. Aus heiterem Himmel fiel er auf sie herab, und die Absätze seiner beiden Schuhe bohrten sich mit solcher Wucht, nämlich mit dem gesamten Sprunggewicht des Heiligen hinter sich, in den Nacken eines der beiden Männer, daß er sich auf der Stelle lang machte und nicht wieder bewegte.
Der andere Mann hob seine Flinte, da sah er einen wirbelnden Splitter blitzenden Stahls wie einen fliegenden Fisch über einer nachtschwarzen See auf sich zu sausen und schlug zu, um ihn abzuwehren. Wie durch ein Wunder gelang es ihm. Das Messer prallte vom Lauf seines Gewehrs ab und klirrte über die Straße. Dann rang er mit dem Heiligen um das Gewehr. Er war wahrscheinlich der stärkste von den vieren, und Angst war ihm fremd. Aber es gibt da einen gewissen Trick, und wer ihn kennt, der kann dem, der ihn nicht kennt, jederzeit ein Gewehr oder einen Stock abnehmen, und der Heilige kannte diesen Trick schon seit seiner Kindheit. Er zwang den Mann, das Gewehr fallen zu lassen, aber er hatte keine Zeit, das Gewehr aufzuheben, denn schon im nächsten Augenblick war der Mann wieder heran. Simon konnte das Gewehr lediglich mit dem Fuß in den Graben schubsen, wo es verschwand. Nun kämpften sie Mann gegen Mann – zwei Männer auf der dunklen Straße, Löwe und Leopard. Der Mann hatte Kraft und Gewicht auf seiner Seite, aber der Heilige hatte das Tempo und die kämpferische Wildheit. Niemand, der nicht ein wahrer Koloß oder irrsinnig war, hätte es in dieser Nacht gewagt, dem Heiligen in den Weg zu treten. Dieser Mann jedoch, der wohl von beidem etwas an sich hatte, versuchte es. Er kämpfte wie ein wildes Tier. Aber Simon Templar wütete wie ein Berserker – fanatisch. Der Mann stand ihm nicht nur im Weg, er war der Diener und das Symbol all der Mächte, die der Heilige haßte. Er stand stellvertretend für Marius da und für die Männer hinter Marius und für die ganze Verschwörung, die der Heilige zu sprengen geschworen hatte und durch die es dazu gekommen war, daß der Heilige in diesem Augenblick ohne jede Rücksicht zur Rettung seiner Angebeteten unterwegs war. Darum hatte der Mann zu verschwinden. Und vielleicht spürte der Mann, daß er zum
Untergang verdammt war, denn er stieß einen schluchzenden Schrei aus, bevor die Finger des Heiligen in einem nicht abzuschüttelnden Griff seine Kehle umklammerten. Es ging auf den Tod. Simon hatte keine Wahl, denn der Mann wehrte sich bis zum letzten Augenblick, und selbst als die Bewußtlosigkeit dem Kampf ein Ende machte, wagte Simon nicht, ihn fahren zu lassen, denn vielleicht stellte er sich nur bewußtlos, und der Heilige konnte es sich nicht leisten, irgendein Risiko einzugehen. Es gab nur eine ganz sichere Methode… Schließlich erhob sich der Heilige langsam. Er atmete heftig wie jemand, der lange unter Wasser gewesen ist, und er machte sich daran, Anna zu suchen. Niemand sonst bewegte sich auf der Straße. Dann fiel ihm noch ein, daß es vielleicht kein schlechter Gedanke sei, einem der Männer, die ohnehin nichts mehr damit anfangen konnten, die geladene Pistole abzuzwacken. Und dann machte er sich an den Reifenwechsel. Eigentlich hätte er es in fünf Minuten schaffen sollen, aber er konnte ja nicht ahnen, daß der Ersatzreifen sich zu fruchtloser Plattheit zusammenquetschen würde, sobald er den Heber wegzog und das Rad sich auf die Straße senkte. Er führte nur einen Ersatzreifen mit. Ein sehr schwacher Trost flog ihn an, als ihm einfiel, daß Norman Kent, der ewig vorausschauende Norman, stets einen Werkzeugkasten bei sich hatte, der mindestens eine doppelt so wirksame Ausrüstung enthielt, wie der gewöhnliche Autofahrer sie für notwendig erachtet. Und das, mit dem man Reifen flickt, war dabei. Trotzdem würde es beim Licht der Scheinwerfer und ohne einen Eimer Wasser, in dem sich das Loch finden ließ, keine ganz leichte Arbeit sein. Seufzend zog Simon sich die Jacke aus.
Über eine halbe Stunde verging, bis der Hirondel zur Weiterfahrt bereit war. Alles in allem drei Viertelstunden verschwendet. Kostbare Minuten vertan, die zu gewinnen er Leib und Leben riskiert hatte… Und sie kamen ihm wie fünfundvierzig Jahre vor und nicht wie fünfundvierzig Minuten, als er sich endlich eine Zigarette anzünden und auf den Fahrersitz klettern konnte. Er ließ den Motor anspringen und streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus. In dem Augenblick jedoch, in dem seine Hand den Schalter berührte, war die Straße um ihn herum in Licht getaucht, das nicht seinen Scheinwerfern entstammte. Als er den Gang hineinschob, blickte er über die Schulter zurück und sah, daß der Wagen hinter ihm sich nicht zum Überholen anschickte. Er hatte gehalten. Noch ganz außer Atem von dem ersten Vorgeschmack des Kampfes, hatte der Heilige nicht so rasch mit dem nächsten Angriff gerechnet. Als er anfuhr, war er einen Augenblick eher überrascht als getroffen von dem Gefühl, daß ihm etwas wie eine heiße Speerspitze durch die linke Schulter gefahren war. Dann begriff er, und er drehte sich mit der geborgten Pistole in der Hand auf dem Sitz um. Er war, wie er bereits gestanden hatte, nicht der beste Pistolenschütze der Welt, aber in dieser Nacht führte ihm ein göttlicher Genius die Hand. Kühl nahm er Maß, als befinde er sich auf dem Schießstand, und schoß dem Auto hinter sich beide Scheinwerfer aus. Ungeblendet gelang es ihm dann, einen der Vorderreifen zu durchbohren, bevor er unter einem wahrhaften Regen verfolgender Kugeln, die ihm um die Ohren brummten und die Sterne in der Windschutzscheibe vervielfältigten, um die nächste Kurve fegte.
Er wurde nicht noch einmal getroffen. Dieselbe überirdische Macht mußte ihren Schild über ihn gehalten haben. Er setzte den Wagen auf seinen Kurs und befühlte dann sachte die verletzte Schulter. Allem Anschein nach war kein Knochen in Mitleidenschaft gezogen. Es war eine reine Fleischwunde im Trapezmuskel, an sich nicht hinderlich auf verhängnisvolle Art, aber sie würde den Arm lähmen und ihn durch den Blutverlust schwächen können. Er faltete sein Taschentuch zu einem Polster zusammen und schob es unter dem Hemd auf die Wunde. Mehr konnte er während der Fahrt nicht tun. Und er konnte nicht anhalten, um die Wunde zu untersuchen und einen besseren Notverband anzulegen. In spätestens zehn Minuten würde die Verfolgungsjagd von neuem beginnen. Es sei denn, die Verfolger hätten ebensoviel Pech mit ihrem Ersatzreifen wie er mit dem seinen. Und darauf durfte man kaum bauen. Aber wie war dieser Wagen plötzlich auf dem Schauplatz aufgetaucht? Hatte er irgendwo in einem Seitenweg zur Unterstützung der vier Männer gewartet und war dann beim Schrei des ersten Mannes oder dem Heulen des vierten herangebraust? Unmöglich. Dazu hatte er sich viel zu lange mit dem Flicken des Reifens aufgehalten. Der Wagen wäre lange vor Beendigung der Reparatur eingetroffen. War er dann vielleicht unterwegs gewesen, um ein Stück weiter die Straße hinunter einen erneuten Überfall aus dem Hinterhalt vorzubereiten für den Fall, daß der erste fehlschlug. Simon überflog die Fragen wie man in einem Buch blättert, das man auswendig kennt, überschlug sie sämtlich und suchte nach einer Seite, die sich mühelos lesen ließ. Keine traf zu. Er erkannte eine jede – grimmig, in dem unbewußten Versuch, der unbequemen Wahrheit auszuweichen; und grimmig würgte er sie wieder hinunter. Die Lösung, die er fand, als der erste Schuß durch seine
Windschutzscheibe klirrte, paßte auch jetzt noch. Falls Marius entkommen war oder gerettet wurde oder irgendwie seiner Bande Anweisungen geben konnte, dann war es nur zu natürlich, daß er sich mit seinen Agenten auf der Strecke in Verbindung gesetzt hatte. Und die Männer in dem Haus am Berg selber, in Bures, würden ebenfalls gewarnt sein. Und Marius würde persönlich hinterherkommen. Ja, das mußte Marius gewesen sein. Nun fiel dem Heiligen ein, daß der Dicke und der Hagere nicht gefesselt waren, als er Roger allein ließ. Und Roger Conway war zwar ein unvergleichlicher Adjutant, aber ohne die Anleitung seines Chefs war er ein blutiger Anfänger. Armer alter Roger, dachte der Heilige, und es war typisch für ihn, daß er nur auf diese Weise an Roger dachte. Und er fuhr immer weiter. Er fuhr mit dem Tod im Herzen und Mord in den klaren blauen Augen, die die Straße absuchten wie zwei Habichte, die von ihrer Beute nicht abließen. Und nur schemenhaft und gänzlich unbewußt ruhte das heiligmäßige Lächeln auf seinen Lippen. Denn wenn er es recht überlegte, tat er einen zum Scheitern verurteilten Gang. Der Gedanke ließ ihn nicht innehalten. Ganz im Gegenteil – er fuhr noch schneller, und das Pochen in seiner verwundeten Schulter verlor sich in dem wilderen, bejahenderen Pochen des pulsierenden Blutes in seinem ganzen Körper. Unter dem unbarmherzigen Druck seines Fußes auf dem Gashebel zeigten die Ziffern hinter der Scheibe des Tachometers immer tollere Geschwindigkeiten an. Einhundertfünfundzwanzig. Einhundertachtundzwanzig. Einhundertdreißig. Einhundertzweiunddreißig – drei – vier – fünfunddreißig.
Auf der Rennbahn würde es kaum reichen, dachte der Heilige. Aber auf einer ganz gewöhnlichen Straße, und bei Nacht… Der Fahrtwind peitschte ihn fast wie etwas Lebendiges und brüllte noch lauter in seinen Ohren als die donnernde Fanfare des Auspuffs. Eine nervenzerrüttende Minute lang hielt er den Wagen auf einhundertfünfzig. »Mein Liebling, oh, meine Liebste, ich komme!« rief der Heilige, als könne sie ihn hören. Als er durch Braintree raste und dem letzten Wegweiser zufolge noch zwanzig Kilometer vor ihm lagen, traten zwei Polizisten vom Straßenrand auf die Fahrbahn und versperrten ihm den Weg. Ihre Absicht war deutlich, wenn der Heilige auch nicht wußte, warum sie ihn anzuhalten wünschten. Die bloße Tatsache, daß er die Anweisung eines Londoner Verkehrspolizisten außer acht gelassen hatte, würde doch wohl kaum solch drastische und weitgespannte Maßnahmen rechtfertigen, nur damit er prompt notiert werden konnte! Oder hatte vielleicht Marius bei Scotland Yard gegen ihn gespitzelt mit einer sauber ausgedachten und überzeugenden Geschichte von seiner Tätigkeit als der Heilige, um bei seinen Überfällen aus dem Hinterhalt ganz sicher zu gehen? Aber wie wollte Marius davon erfahren haben? Und Teal – das glaubte er genau zu wissen – konnte keine Ahnung haben… Oder hatte Teal seine Spur über den Furillac schneller gefunden, als er erwartet hatte? Aber wenn dem so war, wie konnte Teal dann gewußt haben, daß er gerade auf dieser Straße unterwegs war? Mochten die Antworten auf all diese Fragen lauten, wie sie wollten – der Heilige ließ sich in dieser Nacht von niemandem in der Welt aufhalten. Er biß die Zähne aufeinander und hielt den Fuß flach auf dem Gashebel.
Die beiden Polizisten mußten die Unerbittlichkeit seines herausfordernden Trotzes geahnt haben, denn sie brachten sich noch gerade rechtzeitig mit einem Sprung in Sicherheit. Und schon war der Heilige auf und davon, stürmte über das offene Land hin unter dem aufstachelnden Brüllen seiner Hupe und dem grollenden Knattern des ungedämpften Auspuffs; jagte durch die Nacht wie die schreiende Vorhut einer Attacke vergessener Heroen.
11
Roger Conway sagt die Wahrheit, und
Inspektor Teal glaubt einer Lüge
Inspektor Teal setzte Hermann im Wohnzimmer ab und ließ mit viel Geschick ein Paar Handschellen über seinen Handgelenken zuschnappen. Dann wandten seine verschlafenen Augen sich Roger zu. »Hallo, Bewußtloser!« seufzte er. »Nicht ganz«, gab Roger kurz zurück. »Aber verdammt nahe daran. Es hat ganz hübsch an meinen Schädel gekracht, als ich Sie mit dem Schrei gewarnt hab’.« Teal schüttelte den Kopf. Er war beständig müde, und selbst diese geringfügige Bewegung schien ihn eine ganz gewaltige Anstrengung zu kosten. »Nicht mich«, sagte er bedächtig. »Ich heiße nicht Norman. Was machen Sie da?« »Ich spiele Seelöwe«, erwiderte Roger sarkastisch. »Das ist ein sehr lustiges Spiel. Möchten Sie nicht mitmachen? Hermann schmeißt die Fische hoch, die wir mit dem Mund aufschnappen.« Mr. Teal stieß erneut einen verschlafenen Seufzer aus. »Wie heißen Sie?« fragte er. Roger wartete ein paar Sekunden mit seiner Antwort. In dieser kurzen Zeitspanne mußte er eine Entscheidung fällen, die dem Leben des Heiligen unter Umständen eine völlig neue Richtung geben würde und seinem Leben dazu und
vielleicht sogar der Geschichte ganz Europas. Und solch eine Entscheidung war hart. Sollte er seinen Namen als Simon Templar angeben? Das war die verzweifelte Frage, die ihm augenblicklich in den Sinn kam. Er trug nie viel in der Tasche bei sich, und soweit er sich erinnern konnte, war nichts in seiner Brieftasche, das ihn bei einer Durchsuchung verraten würde. Der Betrug würde gewiß schon sehr bald entdeckt werden, aber vielleicht konnte er den Bluff vierundzwanzig Stunden lang aufrechterhalten. Und während all dieser Zeit hätte der Heilige freie Hand und könnte Pat befreien, nach Maidenhead zurückkehren, sich Vargans annehmen, die Sendung zu Ende führen, der er sich verschrieben hatte. An die möglichen, sogar wahrscheinlichen Folgen, die solch ein Vorgehen für ihn selber haben würde, dachte Roger nicht einen Augenblick. Das Opfer wäre klein, gemessen an dem, was mit ihm zuwege gebracht wurde. »Ich bin Simon Templar«, sagte Roger. »Ich glaube, Sie suchen nach mir.« Hermanns Augen weiteten sich. »Er lügt!« platzte er heraus. »Er ist nicht Templar!« Teal wandte seinen Schlafwandlerblick Hermann zu. »Wer hat dich zum Reden aufgefordert?« fragte er. »Achten Sie nicht auf ihn«, sagte Roger. »Er kennt sich überhaupt nicht aus. Ich bin Templar, ganz sicher. Und ich gehe mit.« »Aber er ist nicht Templar!« beharrte Hermann erregt. »Templar ist vor einer Stunde weggegangen. Dieser Mann…« »Mach dein Schandmaul zu!« knurrte Roger. »Sonst helf ich dir, du!« Teal blinzelte. »Einer schwindelt«, bemerkte er weise. »Würdet ihr jetzt einmal beide einen Augenblick die Klappe halten?«
Er steuerte schwerfällig durchs Zimmer und beugte sich über Roger. Er gründete seine Entscheidung auf das Etikett, das der Schneider in Rogers Rocktasche eingenäht hatte, und daran hatte Roger nicht gedacht. »Tut mir leid, aber der Geschichtenerzähler bist du – wer du auch immer sein magst«, seufzte Teal. »So heiße ich wirklich«, erwiderte Roger erbittert. »Conway – Roger Conway.« »Das klingt wahrscheinlicher.« »Aber ich möchte doch gerne wissen, welcher elenden Pechsträhne ich…« »Petzerei«, erläuterte Teal geduldig. »Eine althergebrachte Methode unter Gaunern, selber mit einem blauen Auge davonzukommen, in dem man der Polizei dazu verhilft, den Kumpan um so härter anzufassen. Ich nehme an, er ist dein Kumpan«, setzte der Detektiv spöttisch hinzu. »Ihr scheint euch gegenseitig beim Vornamen zu kennen.« Roger schwieg. Das war das. Schnellstens erledigt. Und jetzt? Offenbar hatte also Hermann beschlossen, sein Herz zu erleichtern. Seltsam – er hatte den Mann ganz anders eingeschätzt. Roger blickte zu ihm hinüber, und plötzlich sah er die Wahrheit. Nichts von Petzerei. Hermann hatte in momentaner Kopflosigkeit protestiert, in der Befürchtung nämlich, es könne sich herausstellen, daß sein Chef einen Fehler gemacht hatte. Jetzt bereute er es bereits und zermarterte sein Gehirn auf der Suche nach einer Lüge, die die Geschichte wieder vertuschen würde. Zermarterte sein Gehirn auch zu seiner eigenen Verteidigung. Die Lage blieb ziemlich genauso kompliziert, wie sie vor dem Zwischenfall gewesen war. Nun kämmte Hermann sein Gehirn nach Lügen durch, und Conway kämmte sein Gehirn
nach Lügen durch, und beide hatten nur einen einzigen Zweck im Auge: ihre Chefs unter allen Umständen zu decken; und beide würden sich unvermeidlich links und rechts widersprechen, und beide würden unvermeidlich tiefer und tiefer in die Tinte rutschen. Und keiner von beiden würde die Wahrheit sagen können. Konnte wirklich keiner die Wahrheit sagen? Der Gedanke erhellte gleißend die tapsige Dunkelheit von Rogers Dilemma wie das plötzliche Aufflammen einer Batterie von Bogenlampen. Seine Kühnheit benahm den Atem. Konnte wirklich keiner die Wahrheit sagen? Als habe Roger in diesem Augenblick darum gebeten, daß sein Chef ihm mit seinem Rat beistehe, kam er ihm zu Hilfe. War das Dilemma nicht im Prinzip dasselbe wie das, aus dem der Heilige vor einer Stunde einen Ausweg gefunden hatte? War es nicht derselbe tote Punkt, dieselbe Durchschlingung der Motive, derselbe krampfartig starre Stillstand? Dieselbe alte Geschichte von der unwiderstehlichen Macht und dem nicht aus den Angeln zu hebenden Widerstand? Und der Heilige hatte eine Lösung gefunden. Indem er das Schachbrett sauberfegte mit dem einen tollen Zug, der in den Spielregeln nicht vorgesehen war. Könnte es nicht vielleicht doch noch einmal klappen? Könnte man nicht zumindest reine Bahn schaffen und in der nachfolgenden veränderten Situation eine Lücke entdecken, die vorher nicht da war – wenn man mehr oder weniger dasselbe tat, das eine tat, was man unter keinen Umständen tun konnte: einfach die Wahrheit sagen? Die Wahrheit müßte Teal eigentlich überzeugen. Roger konnte die Wahrheit sehr viel überzeugender und beweiskräftiger dartun, als er eine Lüge auftischen konnte, und die Wahrheit wäre mühelos nachzuprüfen. Selbst Hermann würde sie schwerlich entkräften können. Und…
»Auf jeden Fall«, sagte Teal, »nehme ich euch Jungs jetzt erst einmal zum Yard mit. Da können wir uns unterhalten.« Und den Aufbruch nach Scotland Yard würde man hinausschieben können. Man könnte die Wahrheit hinreichend interessant gestalten und dadurch Teal in der Brook Street zurückhalten. Und dann würde Norman Kent vielleicht eintreffen, und Norman war ein sehr viel geschickterer Verschwörer als Roger… »Ehe wir gehen«, sagte Roger, »hab’ ich noch etwas für Sie, das Sie vielleicht hören möchten.« Teal zog die Augenbrauen um einen Millimeter hoch. »Und zwar?« fragte er. »Willst du mir jetzt erzählen, du seist der König der Kannibalen-Inseln?« Roger schüttelte den Kopf. Wie einfach das ganze war! Vielleicht war Teal der einzige von allen Männern des CID, der sich unter solchen Umständen zum Bleiben verlocken ließ, aber bei ihm konnte man sicher sein. Es war einfach nicht denkbar, daß auch nur irgend etwas diesen lethargischen Mann zur Eile treiben würde – zu allerletzt die prosaische Aufgabe, Gefangene zur Wache abzuführen. »Jetzt möchte ich petzen«, sagte Roger. Teal nickte. Als habe er für den Rest der Nacht nichts mehr zu tun, machte Teal es sich in einem Sessel bequem und holte ein Paket Kaugummi aus der Tasche. Rhythmisch mahlten seine Kinnladen. »Nun?« fragte er. »Falls es Ihnen nichts ausmacht«, sagte Roger, um Zeit zu verschwenden, »würde ich mich auch gerne setzen. Dieser Fußboden ist nicht der weichste. Und vielleicht könnte ich eine Zigarette rauchen.« Teal stand von neuem auf und hob ihn in einen Sessel; verschaffte ihm auch eine Zigarette. Dann nahm der Detektiv mit der Geduld eines Bergmassivs wieder seinen Platz ein.
Er machte keine Einwände gegen die Verzögerung mit der Begründung, daß vor dem Haus Leute auf ihn warteten – was mit größter Wahrscheinlichkeit bedeutete, daß dem nicht so war. Roger erinnerte sich, daß Teal in dem Ruf stand, ein Einzelgänger zu sein. Es war dies ein Anzeichen für das träge Vertrauen, das der Mann in seine Erfahrung und seine Tüchtigkeit setzte; ein Vertrauen, das mußte man ihm lassen, das seine Rechtfertigung in seiner erfolgreichen Laufbahn fand. In diesem Falle jedoch… »Ich erzähle Ihnen jetzt die Wahrheit«, sagte Roger. »Wir sitzen in der Patsche, Simon Templar eingeschlossen, und das haben wir ein paar Kumpanen von unserem Hermann hier zu verdanken; Templar weiß es nur noch nicht. Ich möchte nicht, daß er festgenommen wird, aber wenn Sie ihn nicht schleunigst festsetzen, wird ihm viel Böseres zustoßen. Sie müssen nämlich wissen, wir haben Vargan. Aber wir waren nicht die ersten, die ihn geraubt haben. Die ersten waren Hermanns Kumpel…« »Schon wieder eine Lüge!« unterbrach Herman giftig. »Müssen Sie wirklich noch mehr Zeit mit dem da verschwenden, Inspektor? Sie haben ihn doch schon bei einer Lüge ertappt!« »Und dich hat er ertappt, als du mit einer Pistole in der Hand herumschlichst!« gab Roger zurück. »Wie steht es damit? Und warum bin ich hier wohl so verschnürt? Los – sag ihm, du seist ein Privatdetektiv und du wolltest gerade einen Polizisten holen, um mich ihm zu übergeben!« Teal schloß die Augen. »Ich kann nichts verstehen, wenn zwei Leute auf einmal reden«, sagte er. »Wer von euch beiden erzählt denn nun diese Geschichte?« »Ich«, erwiderte Roger.
»Bei dir klingt es interessanter«, gab Teal zu, »selbst für den Fall, daß Hermann mir hinterher beweist, daß es ein Märchen war. Weiter, Conway. Hermann, du wartest, bis du an der Reihe bist, und red nicht wieder dazwischen.« Hermann versank in mürrisches Schweigen. Und Roger sog tief den Zigarettenrauch ein und stieß mit dem Qualm ein kurzes Dankgebet aus. »Wir sind nach Esher gefahren, um Vargan zu kassieren«, sagte er. »Aber als wir ankamen, stellte sich heraus, daß Vargan bereits kassiert worden war. Er schien sich großer Beliebtheit zu erfreuen in der Nacht. Nun, wie dem auch sei, wir gewannen die Lotterie und schafften ihn fort.« »Wohin habt ihr ihn gebracht?« »Folgen Sie bitte Ihrem eigenen Ratschlag und unterbrechen Sie mich nicht!« sagte Roger kurz. »Ich erzähle diese Geschichte auf meine Art oder überhaupt nicht.« »Na, dann mach weiter!« »Wir brachten Vargan nach einem Ort – außerhalb Londons. Dann kamen Templar und ich hierher zurück, um ein paar Sachen zu holen… Wie haben Sie übrigens hierhergefunden?« »Ich bin nach Brighton gefahren und habe euren Autohändler aufgestöbert«, erwiderte Teal behaglich. »Alle Autohändler verbringen den Sonntag in Brighton, mit dem teuersten Wagen aus ihrem Ausstellungsraum. Das war ganz einfach.« Roger nickte. Langsam fuhr er fort, ein Auge auf der Uhr: »Hermanns Kumpel wußten, daß wir uns für Vargan interessierten, bevor der Spaß begann. Wie, das spielt im Moment keine Rolle; das ist eine Geschichte für sich. Oder vielleicht doch nicht, wenn ich es mir recht überlege. Erinnern Sie sich an das erste Schaustück in Esher?« »Allerdings!«
»Zwei Leute entwischten an Hume Smiths Chauffeur vorbei – ein Mann und eine Frau. Das waren Templar und eine Freundin von ihm. Sie sind zufällig über die Villa gestolpert. Sie fuhren vorbei und sahen Licht und schauten sich die Sache näher an. Verscheucht hat sie der zweite Mann – der Riese, dessen Fußabdrücke Sie gefunden haben. Ich verrate Ihnen seinen Namen, denn er ist der Anführer von Hermanns Bande.« Hermann unterbrach: »Inspektor, das wird die nächste Lüge!« Teal hob ein Augenlid. »Woher weißt du das?« fragte er nachsichtig. »Er weiß, daß ich die Wahrheit sage!« rief Roger triumphierend. »Er hat sich verraten. Ich werde es Ihnen also sagen: Der Name des Mannes ist Dr. Rayt Marius. Und wenn Sie mir das nicht glauben, besorgen Sie sich einen Schuh von ihm und stellen fest, ob er nicht zu dem Gipsmodell paßt, das Sie von seinem Fußabdruck angefertigt haben!« Mr. Teals Doppelkinn war ihm auf die Brust gesunken. Er sah aus, als schlafe er, und seine Stimme klang sehr danach. »Und diese Leute haben euch hier aufgespürt?« »Ja«, erwiderte Roger. »Und unterwegs haben sie das Mädchen eingesackt, das Templar in der ersten Nacht bei sich hatte – das Mädchen, das er liebt – , und Marius kam hierher, um Templar anzubieten, daß er das Mädchen gegen Vargan austauschen würde. Aber Templar dachte nicht an Handeln. Er wollte beide. Es gelang uns, herauszufinden, wohin das Mädchen gebracht worden war, und Templar fuhr los, um es zu befreien. Ich blieb hier, um die Gefangenen zu bewachen – Marius und Hermann und noch einen Mann namens Otto. Sie stellten mir eine Falle und entkamen – Marius und Otto, und Hermann blieb hier, um mich zu bewachen. Ich sollte noch zusätzlich als Geisel für Templar gebraucht werden. Marius
und Otto nahmen die Verfolgung auf, sie hatten bereits einen Überfall aus dem Hinterhalt organisiert, durch den Templar unterwegs abgefangen werden sollte. Marius hatte das von hier aus per Telefon erledigt – Sie können die Vermittlung anrufen und es sich bestätigen lassen, falls Sie mir nicht glauben. Und Templar weiß nicht, was ihm droht. Er glaubt, er könne die Leute in dem Haus am Berg überraschen. Er rennt blindlings in den sicheren Tod!« »Einen Augenblick mal«, sagte Teal. »Was ist das für ein Haus am Berg, von dem du da redest?« Der Tonfall verriet, daß der überzeugende Wahrheitsgehalt der Geschichte seine Wirkung auf Teals Ohren nicht verfehlt hatte; und Roger holte tief Atem. Und was nun? Er hatte so viel erzählt, wie er eigentlich erzählen wollte, und das war eine lange, interessante Einleitung ohne eigentliche Bedeutung. Was und wieviel durfte er nun noch hinzufügen? Wie groß war eigentlich die Gefahr, in der der Heilige schwebte? Roger kannte die Kampftüchtigkeit des Heiligen. Würde diese Tüchtigkeit groß genug sein, um ihm allen widrigen Umständen zum Trotz zum Sieg zu verhelfen? Und würde das Eintreffen der Polizei unmittelbar nach dem Sieg vielleicht zu nichts anderem dienen, als den Heiligen gleich wieder in ein neues Gefecht zu verwickeln? Oder saß der Heilige nun wirklich und wahrhaftig in der Klemme? Wäre es wohl Verrat, wenn er das Geheimnis ganz und gar verriet – schon um Pat zu retten? Wie konnte man nur die Sicherheit eines Mädchens gegen den Frieden der Welt in die Waagschale werfen? Denn selbst wenn der Verrat des Geheimnisses dazu führte, daß der Heilige und er selber sich opfern mußten, so blieb doch Vargan immer noch in Norman Kents Gewalt. Und für Zwischenfälle hatte Norman definitive Anweisungen… Aber wo war Norman?
Roger blickte Chefinspektor Teal in die kleinen hellen Augen. Dann wandte er den Kopf und begegnete Hermanns funkelndem, verschleiertem Blick. Und während er von einem zum anderen schaute, gelang es ihm, einen flüchtigen Blick auf die Uhr zu werfen, ohne daß Teal etwas davon merkte. »Welches Haus an welchem Berg?« wiederholte Teal seine Frage. »Ist das wichtig?« extemporierte Roger verzweifelt. »Ein kleines bißchen«, erwiderte Teal mit entsetzlicher Zurückhaltung. »Wenn du mir nicht sagst, wohin Templar unterwegs ist, wie kann ich ihn dann vor der Falle retten, in die er angeblich hineinstolpert?« Roger senkte den Kopf. Wenn Norman Kent nun nicht ganz schnell kam und Teal überlistete, so daß Roger und Norman zusammen dem Heiligen zu Hilfe eilen konnten, blieb ihm nichts anderes übrig, als noch ein Stückchen von der Wahrheit zu erzählen. Nur so konnte er den Heiligen retten – wenn die Rettung auch teuer bezahlt werden würde. Roger sah das nun ganz klar. »Rufen Sie zunächst die Polizei in Baintree an«, sagte er. »Templar muß durch den Ort hindurch. Er fährt einen offenen Hirondel. Wenn Sie angerufen haben, mach’ ich weiter. Wir dürfen keine Zeit verlieren!« Mit einemmal waren Teals Augen hellwach. Forschend betrachtete er Rogers Gesicht. »Das ist wahr?« »Mein Ehrenwort!« Teal nickte sehr bedächtig. »Ich glaube dir«, sagte er und ging mit erstaunlicher Behendigkeit zum Telefon. Roger schnippte seinen Zigarettenstummel in das offene Feuer und saß dann da, den Blick auf den Teppich geheftet, und in seinem Kopf drehte sich alles, und er versuchte,
Ordnung in den Aufruhr zu bringen, den er darin entfesselt hatte. Wenn Norman kam, dann hätte er eigentlich inzwischen da sein müssen. Also hatte Norman beschlossen, nicht zu kommen. Und daran ließ sich nichts ändern. Die Stimme des Detektivs drang durch einen trüben Dunst der Verzweiflung zu Roger durch. »Ein offener Hirondel. Fährt wahrscheinlich wie der Teufel. Halten Sie am besten jeden Wagen an, der heute nacht passiert. – Ja, Bewaffnung kann nicht schaden. Wenn Sie ihn haben, setzen Sie ihm eine Wache in den Wagen und schicken ihn nach London zurück – New Scotland Yard, und zwar sofort. – Rufen Sie mich an und sagen Sie Bescheid, wenn er unterwegs ist!« Dann lag der Hörer wieder in der Gabel.
»Nun, Conway – wie war das mit dem Haus?«
Einen Augenblick lang spürte Roger ein Würgen in der
Kehle. Dann: »Wir kennen es nur als das ›Haus am Berg‹, so wurde es auch in dem Brief genannt, den wir bei Marius fanden. Aber es ist in…« Prrrrring! Pmring! Teal schaute zur Tür. Dann wandte er sich mit einem Ruck um. »Weißt du, wer das ist?« »Ich hab’ nicht die blasseste Ahnung.« Prrrring! Noch einmal die helltönende Aufforderung, und Rogers Herz hüpfte wie toll. Er wußte selber nicht, wie es ihm gelang, die Maske der Ratlosigkeit zu wahren, aber er wußte, daß es ihm gelang: Das schwindende Mißtrauen in Teals forschendem Blick verriet es ihm. Und er hatte sein Letztes in die Lüge hineingepackt. Ich hab’ nicht die blasseste Ahnung!
Aber er wußte, daß es von allen Menschen in der Welt nur einer sein konnte. Hermann wußte es ebenfalls. Aber Roger verriet sich durch kein Zeichen und blickte den Mann kein einziges Mal an. Es blieb reines Glücksspiel. Da Roger die Wahrheit erzählte – und, soweit Hermann das beurteilen konnte, auch weiterhin die Wahrheit erzählen würde –, befand Hermann sich in einer verzwickten Lage. Die Geschichte, die Roger gegen sich selber zu erzählen begonnen hatte, mußte dazu führen, daß man auch an Hermann eine ganze Reihe von Fragen richtete. Würde Hermann wohl klug und flink genug sein, um einzusehen, daß er bei seinen inoffiziellen Feinden besser wegkommen würde als bei der Polizei? Hermann sagte kein Wort. Dann ging Teal in die Diele hinaus, und Roger hätte vor Erleichterung am liebsten laut geschrien. Aber er konnte nicht schreien – nicht einmal, um Norman zu warnen. Das würde bei Teal nichts fruchten. Norman mußte in die Falle gehen. Mochten sämtliche seltsamen Götter des Heiligen ihn befeuern, wie sie den Heiligen selber befeuert hätten… Teal öffnete die Haustür. Und er behielt die rechte Hand in der Rocktasche. Norman zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde lang. Hinterher behauptete Norman, die Worte seien ihm über die Lippen gegangen, ohne daß er bewußt darüber nachgedacht habe – als seien sie ihm von einem Schutzengel ungefragt in den Mund gelegt worden. »Sind Sie Mr. Templar?« fragte Norman Kent. Und während er die Worte hörte, von denen er eben noch nicht gewußt hatte, daß er sie sprechen würde, stand er entsetzt
da vor der kolossalen Einfachheit und der kolossalen Tollkühnheit der List. »Nein«, erwiderte Teal kurz. »Ist Mr. Templar zu Hause?« »Im Augenblick nicht.« »Hm, können Sie mir vielleicht helfen? Ich kenne Mr. Templar nicht persönlich, aber ich habe soeben eine außergewöhnliche Nachricht empfangen, und ich dachte mir, bevor ich damit zur Polizei gehe…« Bei dem Wort »Polizei« spitzte Teal die Ohren. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen«, sagte er etwas freundlicher. »Möchten Sie nicht hereinkommen?« »Gewiß«, sagte Norman. Teal trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen, und wandte sich dann um, um die Tür zu schließen. An den Wänden der Diele hing eine Sammlung seltsamer Waffen, Mitbringsel von des Heiligen Streifzügen durch merkwürdige Winkel der Erdoberfläche. Da hingen spanische Messer und der Degen eines Matadors; Musketen und altmodische Pistolen; Speere aus der Südsee; malaiische Krise und Krambits und Parangs; ein Bumerang aus Neuseeland, ein Irokesenbogen, ein Assagai, ein Blasrohr der Papuas und dergleichen mehr. Norman Kents Blick fiel auf einen prächtigen Knüppel. Er hing so, daß er ihn bequem mit der Hand erreichen konnte. Er nahm ihn herunter.
12 Simon Templar trennt sich von Anna und schließt Patricia in die Arme
Der Versuch, in einer unbekannten Gegend des Landes in finsterer Nacht ein Haus zu finden, das sich durch nichts als durch die Tatsache auszeichnet, daß es »am Berg« lag, und das in einem Gebiet, in dem Berge nicht viel mehr als sanfte Anhöhen waren, wäre vermutlich auch von dem größten Optimisten als hoffnungslos betrachtet worden. Als der Heilige annahm, daß er sich in der Nähe des Dorfes befand, wurde ihm das klar. Aber bevor noch Verzweiflung bei ihm aufkommen konnte – falls er überhaupt jemals Verzweiflung gespürt hätte –, erfaßten seine dahinjagenden Scheinwerfer die Gestalt eines verspäteten Landbewohners, der vor ihm die Straße entlangtrottete. Dem Heiligen war das Leben auf dem Lande nicht fremd, und so war ihm auch der Brauch vertraut, zu Bett zu gehen, sobald die Dorfkneipe um zehn Uhr abends diesem Leben auf dem Lande ein Ende gemacht hatte; und daher wußte er, daß dieses Geschenk nur ein eigens vom Himmel gesandter Engel in Kordhosen sein konnte. Die Götter des Heiligen standen ihm wahrhaftig bei in dieser Nacht. »Kennen Sie das Haus am Berg?« fragte der Heilige unumwunden. »Ja, das kenn’ ich!« Nun begriff der Heilige, daß in England auf dem Lande alles möglich ist, und daß die Einheimischen ohne weiteres »das
Haus am Berg« für eine ausreichende Adresse halten können, wie ja auch dem Mann in der Stadt die Angabe »die Kneipe an der Ecke« genügte. »Durch’s Dorf durch, bei der Kirche abbiegen, un’ dann so gerade wie möglich ungefähr ein’ Kilometer. Können Se nich’ verfehlen.« So erläuterte es der Landmann, und der Heilige raste weiter. Aber er fuhr den Wagen knapp unterhalb der Anhöhe in einen Seitenweg, ließ ihn mit abgeschaltetem Licht stehen und ging das letzte Stück zu Fuß. Mochte man ihn auch erwarten – ihm lag nichts daran, seine Ankunft unnötig hinauszuposaunen. Er hatte sich bereits darauf eingerichtet gehabt, in jedes einzelne Haus in der Umgebung einzubrechen, Pistole in der Hand, auf das die Beschreibung »Haus am Berg« auch nur annähernd paßte, bis er zu dem richtigen kam. Das war ihm erspart geblieben, und jetzt hieß es nur noch, aus dem Fingerzeig Kapital schlagen. Die Pistole in seiner Rocktasche bumste beim Gehen gegen die Hüfte, und in der kleinen Scheide am Unterarm spürte er Annas geringes, aber beruhigendes Gewicht – die Königin der Messer, mit Blut errungen und mit Blut getauft. Sie war kein Spielzeug für Schwächlinge. In Blut war sie gekommen, und in Blut sollte sie in dieser Nacht davongehen. Aber das konnte der Heilige bei aller Vorausberechnung nicht ahnen, als er verstohlen die undurchdringliche Schwarzdornhecke umschlich, die das Haus umgab, zu dessen Erstürmung er gekommen war. Die Hecke reichte höher als sein Kopf, und undurchdringlich war sie in der Tat bis auf die eine Lücke mit dem Tor, wie er nach einer vollen Umrundung feststellte. Aber wenn er zurücktrat, konnte er den oberen Teil des Hauses über die Hecke emporragen sehen – eine schwarze Wand vor dem dunklen Himmel; und im oberen Stockwerk war ein Fenster erleuchtet. Das Erdgeschoß konnte er der
Hecke wegen nicht sehen, so daß ihm verschlossen blieb, was sich auf den drei umlaufenden Seiten verbergen mochte; in der Vorderfront entdeckte er jedoch mindestens ein Zimmer, das erleuchtet war. Selbst wenn er ganz still stand und mit äußerster Anspannung horchte, konnte er keinen Laut vom Haus her vernehmen. Dann gab ihm das erleuchtete Fenster im Obergeschoß eine Idee. Ein einzelnes erleuchtetes Fenster im Obergeschoß konnte eigentlich nur eins bedeuten – es sei denn, es war eine Falle. Aber falls es eine Falle war, dann war sie so raffiniert, daß der Heilige sie nicht entdecken konnte. Was ihm jedoch mit der überwältigenden Macht der Logik klar wurde, war die Tatsache, daß die Besatzung eines befestigten Hauses, die damit rechnet, daß man ihre Gefangene zu befreien versucht, diese Gefangene mit größter Wahrscheinlichkeit so weit wie möglich außerhalb der Reichweite des Angreifers schaffen wird. Gefangene werden gewöhnlich fast unwillkürlich so behandelt. Man hält sie zumeist in Dachkammern oder Kellern, auch wenn man keinen Befreiungsversuch erwartet. Und ein Landhaus dieser Bauart hatte vermutlich keinen Keller, der groß genug war für eine Gefangene, deren Wert sich, sollte sie ersticken, auf Null belaufen würde. Patricia konnte ganz sicher nur an einer Stelle sein, und dieses erleuchtete Fenster schien diese Stelle so deutlich anzuzeigen, als habe man den Umstand mit meterhohen Druckbuchstaben an der Außenwand bekanntgegeben. Der Heilige konnte nicht wissen, daß dies schlankweg die Wahrheit war – daß dieselbe Glücksgöttin, die ihm das ganze Abenteuer hindurch beigestanden hatte, auch die Störung der Fernverbindung bewerkstelligt hatte, derzufolge es Marius nicht gelungen war, sich mit dem Haus am Berg in Verbindung
zu setzen. Aber er erriet es und nahm es hin (mit Ausnahme der Telefonstörung) mit einem Selbstvertrauen, das nicht stärker hätte sein können. Und er wußte ganz genau, ohne zu allerlei Schlüssen und Rätselraten Zuflucht nehmen zu müssen, daß Marius inzwischen keine zehn Minuten hinter ihm war. Er mußte rasch zum Ziel kommen, wenn er überhaupt zum Ziel kommen wollte. Einen Augenblick lang zögerte der Heilige, als er dort in einem Feld auf der falschen Seite der Schwarzdornhecke stand. Dann bückte er sich und suchte den Boden nach ein paar kleinen Steinen ab. Er brauchte sehr kleine Steine, denn sie durften nicht zuviel Lärm machen. Er fand drei, die seinen Anforderungen genügten. Dann schrieb er beim Licht der sorgsam mit der hohlen Hand abgeschirmten Taschenlampe auf einen Fetzen Papier, den er in seiner Tasche fand: Ich bin da, meine liebe Pat. Wirf Anna über die Hecke zurück und schlag dann Krach, um ihre Aufmerksamkeit von mir abzulenken. Ich bin sofort bei Dir! – SIMON Mit einem Streifen Seide, den er von seinem Hemd abriß, band er den Fetzen Papier an Annas Griff. Dann richtete er sich auf. Sanft und präzise warf er zwei Steine hoch, und er hörte sie beide oben an die erleuchtete Fensterscheibe klopfen. Wenn nun aber keine Antwort erfolgte? Angenommen, Pat war gefesselt oder betäubt worden? Der bloße Gedanke spannte alle seine Muskeln, und er spürte sie am ganzen Körper beben wie Bündel straffer Strahltrossen. Dann würde er eben ohne Unterstützung durch ein Ablenkungsmanöver eindringen müssen – selbstverständlich! Aber das war es nicht, was seinen Puls rascher schlagen ließ und seinen Mund zu einem schmalen Strich zusammenpreßte, aus dem jegliches Lächeln verschwunden war. Nicht dies, sondern der Gedanke
an Pat, der Gedanke an all das, was ihr zugestoßen sein konnte; was ihr vielleicht in diesem Augenblick zustieß. Gnade ihnen Gott, dachte der Heilige, und ein Schmerz krampfte sein Herz zusammen. Wenn einer von denen mit seinen schmutzigen Fingern… Er wollte sie noch einmal sehen, bevor er sich in den Kampf stürzte, der ihm mit Sicherheit drohte. Falls ihm etwas zustieß. Nur ihr liebes Gesicht noch einmal sehen, um die Erinnerung daran wie ein Banner in die Schlacht zu tragen. Er hielt den Atem an. Langsam wurde das Fenster hochgeschoben, unendlich vorsichtig, um jegliches Geräusch zu vermeiden. Und in diesem Augenblick sah der Heilige, daß das, was er den Umrissen nach für bleigefaßte Scheiben gehalten hatte, in Wirklichkeit der Schatten eines Gitters aus dichtgefügten Eisenstäben war. Dann sah er sie. Sie blickte in den Garten hinunter und an der Hauswand entlang – verwirrt. Er sah ihre Lippen, die sich zaudernd ein wenig öffneten, er sah das unordentliche Gold ihres Haares, das tapfere Leuchten in ihren blauen Augen. Er wog Anna in der Hand und ließ sie kreisend durch das Dunkel sausen. Das Messer fand sein Ziel ohne Fehl; es zitterte neben der Hand des Mädchens in der hölzernen Fensterbank. Der Heilige sah Patricia erschrecken und mit heftigem Argwohn das Messer anstarren. Dann riß sie es aus dem Brett und verschwand damit im Zimmer. Eine halbe Minute verstrich, und der Heilige wartete zitternd vor Ungeduld und in der Befürchtung, jeden Augenblick nun einen Wagen den Berg heraufschnurren zu hören, der nur einem Mann gehören konnte. Aber so ängstlich er auch die Ohren anstrengte, nichts störte die Stille der Nacht.
Und endlich erblickte er das Mädchen wieder. Er sah seine Hand sich durch das Gitter strecken und Anna auf sich zuschnellen wie ein Splitter, den man von einem Mondstrahl gesprengt hatte. Nach einigem Suchen fand er das kleine Messer in einem hohen Grasbüschel. Der Papierfetzen war immer noch um den Griff gebunden, aber als er ihn abrollte, entdeckte er auf der anderen Seite einige frisch hinzugekritzelte Worte. Acht Männer im Haus. Gott schütze Dich, Liebster. PAT Der Heilige stopfte das Papier in die Tasche und schob Anna in die Scheide zurück. »Möge Gott uns beide beschützen, Pat, du wunderbares, wundervolles Kind!« flüsterte er in die Stille der Nacht hinein, und als er aufblickte, sah er sie immer noch am Fenster stehen und angespannt nach ihm Ausschau halten. Er winkte mit dem Taschentuch, damit sie ihn sah, und sie winkte zurück. Dann schloß sich das Fenster wieder. Aber sie hatte gelächelt. Er hatte sie gesehen. Und aus dem Schmerz in seinem Herzen wurde Gesang. Er verschwendete keine Zeit mehr mit der Suche nach einem Weg durch die Hecke. Die erste Besichtigung hatte genügt, um festzustellen, daß sie als wirksame Palisade gepflanzt und gepflegt worden war. Aber sie hatte ja schließlich ein Tor. Zur Straße hin. Ein vollkommen normales Tor. Auf dem Wege würden sie ihn selbstverständlich erwarten. Schade, daß er sie enttäuschen mußte! Er hatte dem Tor kaum einen Blick gegönnt. Es stand vermutlich unter Strom. Ganz bestimmt war es mit einer Alarmanlage verbunden. Und er wettete einen Tausender, daß ein Mann mit einer Flinte es ständig auf dem Korn hatte. Andererseits war es der einzige sichtbare Eingang. Der Heilige nahm kurz Anlauf und sprang glatt über das Tor hinweg.
Auf der anderen Seite lag der Kies der Auffahrt, aber der Heilige berührte den Kies nur mit einem Fuß. Sobald er auf dem einen Fuß landete, duckte er zur Seite weg und machte einen zweiten Satz – zu dem lautlosen Untergrund des Rasens hinüber und in den schützenden Schatten eines Gebäudes, das ihm sehr gelegen kam. Dort stand er gebückt, schob die Sicherung seiner Pistole mit dem Daumen zurück und fragte sich, warum wohl niemand auf ihn geschossen hatte. Dann vergaß er sich zu wundern, denn in der Stille hörte er schwach sehr weit entfernt aber doch sehr deutlich das an- und abschwellende Brummen eines schweren Wagens. Und kaum hatte er seine Ohren auf dieses Geräusch eingestellt, da zerhieb ein anderer Laut es wie mit einem Schwertstreich – der Schrei des Mädchens, das zu Tode erschrickt. Er wußte, daß der Schrei nicht echt war. Schließlich hatte er selber die Anweisung dazu gegeben. Außerdem wußte er, daß Patricia Holm nicht von der schreienden Art war. Dennoch, es änderte nichts an der Wirkung, die der Schrei auf ihn hatte. Er rührte an sein tiefeingewurzeltes Beschützenwollen und erinnerte ihn mit jäher Gewalt daran, daß ja wahrhaftig Grund genug zu einem solchen Schrei bestand, wenn sich Pat dessen auch nicht bewußt geworden wäre ohne seinen Hinweis. Wie ein Guß eiskalten Wassers ließ der Schrei etwas in ihm gefrieren, aber derselbe Guß eiskalten Wassers weckte und stachelte und reizte etwas anderes in ihm zu wilder, wütender Tatbereitschaft, etwas Ursprüngliches und Mörderisches und Grausames, etwas, das einer Zeit angehörte, die nichts zu schaffen hatte mit der Kleidung, die er trug, oder mit einer Festung der Art, wie er sie nun erstürmen mußte. Der Heilige ließ alle Vernunft hinter sich. Kein Sinn und Verstand, kein Lachen war in dem Aufsprung, mit dem er den Rasen hinter sich brachte, der ihn von dem Haus und dem erleuchteten Fenster im Erdgeschoß trennte, das
er sich bereits in dem Augenblick, als er das Tor übersprang, zu seinem Angriffsziel erkoren hatte. Er vermochte nicht einmal darüber zu staunen, daß ihm keine Schüsse aus dem Dunkel entgegenspuckten, oder sich zu sagen, daß ihm in der Stille eine Falle drohen könne. Denn der Heilige sah rot. Acht Männer, so wußte er aus Patricias Nachricht, warteten darauf, sich seinem Eindringen entgegenzuwerfen. Nun, sollten sie nur alle kommen! Er, der stets der lachende Ritter gewesen war, der Mann, der nie einen Streich führte, der nicht von einem Scherz begleitet war; der nie ohne ein Lächeln kämpfte und niemals der Gefahr ohne ein Lied in seinem Herzen begegnete, hatte jegliches Lachen verlernt. Er ging durch das Fenster, wie noch nie zuvor jemand durch ein Fenster gegangen war, höchstens in einem Filmatelier. Mit einem einzigen gewaltigen Satz ging er durch das Fenster, die rechte Schulter vorgeschoben, um mit ihr das ein wenig hinderliche Glas zu zerschmettern, und den Arm zum Schutz gegen die Splitter vor das Gesicht gehoben. Mit diesem wahnwitzigen Sprung gelangte er unverzüglich in das Zimmer, landete mit einem Ruck auf dem Fußboden, taumelte gerade lange genug, um den sechs Männern, die um einen Tisch herum beim Kartenspiel saßen, Gelegenheit zu geben, sich hochzurappeln. Sechs Männer – was offensichtlich bedeutete, daß die anderen beiden sich um den Schrei kümmerten. Es hätte möglich sein sollen, ihre Aufmerksamkeit beträchtlicher abzulenken; aber was nicht war, das war nicht. Und wo waren denn die Verteidigungsanlagen, die er doch eigentlich hätte erstürmen müssen? Bis zu dem Fenster war er keinen Schwierigkeiten begegnet. Und diese Männer hier sahen nicht aus wie Männer, die damit rechnen, angegriffen zu werden. Diese Gedanken flitzten dem Heiligen durch den Kopf in dem Sekundenbruchteil, den er brauchte, um sein
Gleichgewicht wiederzufinden, und dann hatte er sich anderen Fragen zu widmen. Die Pistole war bereits in seiner Hand, und zwei der Männer, die rasch entschlossen nach ihrer Kanone griffen, waren doch nicht rasch genug und starben auf der Stelle. Dann jedoch hatte die erbeutete Schnellfeuerpistole Ladehemmung und gab den anderen vier ihre Chance. Niemals hatte der Heilige von solch mörderischem Feuer beseelt angegriffen. Denn der Schrei aus dem Zimmer oben hatte sich nicht wiederholt, und das konnte nur heißen, daß er irgendwie gewaltsam erstickt worden war. Und der Gedanke, daß Patricia allein im Obergeschoß kämpfte – und sie würde allein weiterkämpfen müssen, wenn es Simon Templar nicht gelang, die Übermacht zu besiegen. Der Anflug eines Lächelns huschte über seine Lippen. Dann glitt Anna aus ihrer Scheide und pfiff durch das halbe Zimmer wie ein Lichtstrahl und biß dem dritten Mann ein gutes Stück aus der Kehle. Hätte der Heilige überlegt, hätte er Anna vermutlich nicht aus der Hand gelassen, denn werfen ließ sie sich nur ein einziges Mal, wohingegen man so oft man wollte mit ihr zustechen konnte. Aber er hatte nicht überlegt. Und der erste Mann, den er mit den bloßen Fäusten anging, wurde gegen die Wand geschleudert von einer linken Geraden, in der die ganze teuflische Gewalt eines tollgewordenen Vorschlaghammers steckte. Der Hieb zerschmetterte die Zähne und zertrümmerte einen Kiefer, als sei er von Glas. Und dann lachte der Heilige wieder. Der erste Ausbruch seiner blinden Wut hatte ihm die Augen blank gewischt und seine Nerven so weit beruhigt, daß sie wieder die gewohnte kämpferische Kühle besaßen. »Nun kommt doch her, meine Hübschen«, näselte er außer Atem, und das Lachen in seiner Stimme war schon fast wieder ganz das des alten Heiligen, aber seine Augen blitzten noch
kalt und empfindungslos wie zwei Stücke von blauem Eis. »Kommt doch her!« Die beiden noch verbliebenen Männer drangen gemeinsam auf ihn ein. – Von Simon Templar aus hätten es zweiundzwanzig sein können. Er war nun warmgelaufen, und durch die gletscherkalte Unversöhnlichkeit seiner Zielsetzung begann er wieder etwas von der heroischen Heiterkeit und Großartigkeit zu verspüren, die ihn nur selten für längere Zeit im Stich ließen. »Nun kommt doch schon!« Sie kamen nebeneinander auf ihn zu, aber mit einem blitzschnellen Sprung zur Seite formierte Simon sie zu einem Tandemgespann um. Der Mann, der ihm nach diesem Manöver am nächsten stand, holte aus und schlug mit einem Schwinger von der Wucht eines keilenden Maultiers nach dem spöttischen Lächeln des Heiligen, aber der Heilige duckte sich eine knappe Handbreit zur Seite, und der Schlag peitschte wirkungslos an seinem Ohr vorbei. Dann wirbelte sich der Heilige mit einem erneuten leisen triumphierenden Lachen auf den Zehen herum, sein ganzer Körper schien hochzuschnellen aus einer einzigen geschmeidigen Kraftanstrengung, und er landete wie der Blitz einen Uppercut, der dem Mann den Kopf nach hinten kippte, als sei er von einem Preßlufthammer getroffen worden, und ihn wie einen abgestochenen Stier zu Boden sacken ließ. Sofort drehte der Heilige sich um, um dem Angriff des zweiten Mannes zu begegnen, und im selben Augenblick sprang die Tür auf, und schon hatte sich das Kräfteverhältnis wieder zwei zu eins zu seinen Ungunsten verschoben. Theoretisch. In Wirklichkeit jedoch flößte dieser Mann dem Heiligen neue Kraft ein. Denn dieser Mann mußte einer von den beiden gewesen sein, denen es obgelegen hatte, den Schrei zu ersticken – einer von den beiden, die Patricia angefaßt
hatten! Und mit ihm und seinem Kollegen hatte der Heilige ein ganz besonderes Hühnchen zu rupfen. Als Simon ihn eintreten sah, blitzte in den blauen Eisstücken unter den geradlinigen Brauen ein unheiliges Licht auf. »Wo hast du dich dein ganzes Leben lang herumgetrieben, Sonnenjungchen?« näselte der Heilige mit liebkosendem Unterton. »Warum bist du nicht schon längst heruntergekommen? Ich hätte dir so gerne ein paar in dein Gesicht hineingeknallt!« Er rückte den beiden leicht gekrümmt näher auf den Leib; seine Fäuste ruderten sanft. Und aus ganzer Armlänge hieb er eine schmetternde Linke, vor der sich nur ein Meister der Boxkunst hätte retten können; und sie spaltete dem Mann sauber die Nase, dann erledigte er den Rest. Und von nun an hätte er den Kampf tatsächlich genau nach Plan gewinnen müssen. Geschmeidig, stark wie ein Pferd, flink wie ein Rapier, in der härtesten Schule im Boxen geübt seit den Tagen, da er lernte, überhaupt die Arme hochzuheben, und immer im Training, hätte der Heilige niemals gezögert, sich mit zwei Gegnern gleichzeitig einzulassen. Und die Laune, in der er sich in dieser Nacht befand, machte ihn zum Übermenschen. Aber er hatte seine Wunde vergessen. Der Mann, der ihm am nächsten war, zielte mit einer wilden Rechten nach ihm – einem Schlag, für den jeder gelernte, kühl überlegende Boxer nichts als Verachtung übrig hat. Und verächtlich, geradezu faul und sicherlich ohne lange über die Abwehr nachzudenken, die einer Gewohnheit nahekam, schob der Heilige seine Schulter vor. Der Aufprall hätte einem prallen Polster gesunder Muskeln nichts anhaben können. Aber der Heilige hatte etwas vergessen. Ein reißender Schmerz durchstach ihn, der nach jedem Nerv in seinem Körper zu greifen schien.
Mit einemmal wurde ihm übel, und eine Sekunde lang konnte er nichts sehen durch den Dunst, der vor seinen Augen schwamm. In dieser blinden Sekunde krachte ihm eine hochexplosive Linke des Mannes mit der gespaltenen Nase von der Seite unter die Kinnlade. Simon taumelte zusammengekrümmt gegen die Wand. Aus irgendeinem Grund – vielleicht, weil sie sich bei einem gemeinsamen Angriff gegenseitig im Wege waren – ließen die beiden Männer einen Augenblick von ihm ab, anstatt sich sofort auf ihn zu stürzen und ihm den Garaus zu machen. Und die Frist dieses Augenblicks lang lehnte der Heilige schlaff an der Wand, versuchte mit titanischer Anstrengung, den lahmen und gepeinigten Muskeln seinen Willen aufzuzwingen, und rang mit seinem Gehirn, das eingeschlafen zu sein schien. Und inmitten des Singsangs der Tausende von surrenden Dynamos in seinem Kopf hörte er wieder das Lied des Hirondels: Patricia! Patricia! Plötzlich wurde ihm bewußt, wie sehr der Blutverlust ihn erschöpft hatte. Die erste Erregung, das hinreißende Gefühl des beginnenden Kampfes hatten seine Schwäche vor ihm verborgen. Aber nun spürte er sie mit einemmal daran, daß er sich schrecklich langsam von dem Schlag gegen sein Kinn erholte. Und der Schlag gegen die Schulter hatte die Wunde von neuem geöffnet. Er spürte das Blut in warmem Strom den Rücken hinunterrinnen. Nur der Wille schien ihm geblieben, hell und klar und unberührt in dem lähmenden Dunkel, aber ihm eigen die furchtbare Kraft eines in die Ecke getriebenen Riesen, und er kämpfte, wie er noch nie zuvor gekämpft hatte. Und dann hörte er durch den Nebel, der ihm die Sinne benahm, das, worauf er die ganze Zeit gewartet hatte – das Geräusch eines vor dem Hause bremsenden Autos. Marius.
Wie ein langer, leuchtender Speer schossen dem Heiligen wieder die tapfer-unbekümmerten, ruhmreich-stolzen Worte durch den Kopf, die er vor, oh, so langer Zeit gesprochen hatte: »Sollen sie alle kommen!« Und vielleicht war es diese Erinnerung, vielleicht etwas anderes, vielleicht sein unbezwinglicher Wille zum Kämpfen, der die schwachen Fesseln müder Benommenheit zerriß, die ihn gefangenhielten; jedenfalls spürte er, wie sich seine Glieder wieder mit Leben zu füllen begannen. Als die beiden Männer sich anschickten, Schluß mit ihm zu machen, hob er die Hand in einer Gebärde, die man nicht einfach außer acht lassen konnte. »Euer Chef ist da«, sagte er. »Vielleicht wartet ihr lieber solange, bis er mich gesehen hat.« Sie hielten inne und horchten, denn es brauchte schon ein scharfes Gehör, um es dem des Heiligen gleichzutun. Und für Simon war diese zusätzlich gewonnene Verschnaufsekunde der Unterschied zwischen Leben und Tod. Mit einem stummen Stoßgebet sammelte er all seine Kraft zu dem tollwütigen Streich. Dann schoß er von der Wand weg wie ein Stein aus der Schleuder, und mit einem einzigen, verzweifelten Anlauf war er zwischen ihnen durch. Sie wachten zu spät auf; da stand er schon an der Tür. Auf der Treppe verdoppelte er seinen Vorsprung. Oben auf der Treppe gähnte ihm ein Korridor entgegen mit Türen auf beiden Seiten, aber jegliche Unschlüssigkeit wäre unverzeihlich gewesen, denn als er den Korridor betrat, schaute der achte Mann etwa in seiner Mitte zu einer Tür heraus. Als der achte Mann des Heiligen ansichtig wurde, versuchte er, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Aber er war zu langsam, oder der Heilige war zu schnell. Der Heilige warf sich gegen die Tür wie ein Tiger, folglich war es der Mann im
Zimmer, dem sie gegen die Nase knallte, und zwar wortwörtlich, so daß er so hilflos durch das Zimmer flog wie eine Pusteblume in einem Wirbelsturm. Und der Heilige folgte ihm und drehte den Schlüssel im Schloß. Rasch blickte sich der Heilige in dem Zimmer um, und er sah den achten Mann sich mit einer Mischung von Wut und Angst in den Augen vom Boden erheben, und er sah Patricia, die mit Hand- und Fußgelenken an das Bett gebunden war. Dann, als der Anführer der Verfolgungsjagd gegen die Tür krachte, drehte der Heilige sich wie der Blitz wieder um und wuchtete mit einem einzigen gewaltigen Hub eine schwere Kommode von der Wand quer durch das Zimmer. Sie landete einen knappen halben Meter vor der Tür. Simon sprang ihr nach, um ihr noch einen Schubs zu versetzen. Der achte Mann sprang mit einem Messer dazwischen. Der Heilige packte sein Handgelenk, drehte es – und der Mann schrie auf vor Schmerz und ließ das Messer fallen. Er war stärker als die meisten Männer, aber dem verzweifelten Wüten des Heiligen konnte er keine Sekunde standhalten. Simon faßte ihn bei den Hüften und schleuderte ihn gegen die Tür, daß ihm die Luft wegblieb. Und bevor er sich noch wieder rühren konnte, hatte der Heilige ihn mit dem ganzen ungefügen Gewicht der Kommode auf der Stelle festgerammt. Einen Augenblick später war der massive Kleiderschrank an der Reihe; er kippte, um die Barrikade zu verstärken, und da hockte der Mann und zappelte schwach wie ein auf ein Brett genageltes Insekt. Der Heilige hörte das Fluchen und Toben vor der Tür, und er lachte leise und segnete das Alter des Hauses. Die Tür war aus massiver Eiche, vierzöllig und wie ein Fels in die Wand eingelassen; und die Möbel paßten dazu. Eine gute Weile würde vergehen, ehe die Männer draußen die Barriere
sprengen konnten. Wenn dadurch auch das unvermeidliche Ende vielleicht nur hinausgeschoben wurde. Aber daran dachte der Heilige nun nicht. Bei all seinen Schmerzen und seiner Erschöpfung konnte er immer noch lachen, auf seine leise, heiligmäßige Art. Denn er war wieder bei Patricia, und nichts konnte ihr geschehen, solange er noch Kraft in den Armen hatte. Und er wollte, daß sie ihn lachen hörte. Mit diesem Lachen in großartigem Schwung hob er das Messer vom Boden auf. Anna war es nicht, aber zumindest zu einem Zweck würde es ihm ganz genauso gut dienen. Er nahm es, und mit raschen, glatten Schnitten zerhieb er die Stricke, mit denen Patricia gefesselt war. »O Simon, Lieber!« Endlich wieder ihre Stimme und darin das Vertrauen und der unverzagte Mut den er so sehr liebte! Und der letzte Strick sank unter dem letzten Schnitt des Messers dahin, und sie war frei, und er nahm sie wie ein Kind in seine Arme. »O Pat, meine Süße, sie haben dir nicht weh getan, oder doch?« Sie schüttelte den Kopf. »Aber wenn du nicht gekommen wärst…« »Wenn ich zu spät gekommen wäre«, sagte er, »dann lägen unten in dem Zimmer noch mehr Tote als jetzt, und sie hätten nichts dabei gewonnen. Aber ich bin hier!« »Aber du bist verletzt, Simon!« Er wußte es. Er wußte, daß er in dieser Stunde der höchsten Not ein kläglicher Streiter war. Aber sie durfte es nicht wissen, solange ihnen noch ein Funken Hoffnung blieb, solange er noch weiterkämpfen konnte. Und er lachte wieder, und es war ein solch fröhliches, solch unbekümmertes Lachen wie eh und je.
»Völlig unbedeutend«, sagte er vergnügt. »Wenn man den Schaden berechnet, den ich angerichtet habe, beläuft sich der Profit auf runde zweitausend Prozent. Und daraus werden zweihunderttausend Prozent, ehe ich heute nacht zu Bett gehe!«
13 Simon Templar wird belagert, und Patricia Holm ruft um Hilfe
Simon hielt sie einen Augenblick lang eng umschlungen – einen Augenblick, der eine Ewigkeit von Kämpfen wert war. Dann gab er sie sehr zärtlich frei. »Nur eine Sekunde, altes Mädchen«, murmelte er. »Ich muß nur rasch für Verstärkung der Befestigungsanlagen sorgen.« Das Zimmer war zum Glück schmal, und es enthielt eine Menge Möbel für seine Größe. Durch Heranschleifen des Bettes, des Waschtisches und einer zweiten Kommode ließ sich die Barrikade dicht bei dicht auf die ganze Breite des Zimmers von der Tür bis zur gegenüberliegenden Wand ausdehnen, so daß die Tür nur noch mit einem Rammbock zu öffnen war. Andererseits war es unmöglich, die Barrikade auf Türhöhe zu bringen. Der Heilige hatte den Kleiderschrank umkippen können, aber selbst mit seiner Kraft und auch frisch und unverwundet, hätte er den Schrank nicht verschieben und aufrecht vor die Tür rücken können. Und falls man zur Axt griff… Aber auch das wieder war eine düstere Wahrscheinlichkeit, nichts weiter, und es hatte keinen Zweck, sich darüber jetzt schon graue Haare wachsen zu lassen. »Irgend etwas scheint ihnen Kummer zu machen«, sagte der Heilige, als er zurücktrat, um das Ergebnis seiner Bemühungen zu begutachten.
Er sprach mit der Miene eines Lauschenden, und als er mit dem Satz fertig war, horchte er immer noch. Der Tumult draußen vor der Tür war nahezu verstummt, und eine Stimme hob sich klar und deutlich ab gegen den verklingenden Stimmenwirrwarr. Simon konnte nicht verstehen, was die Stimme sagte, aber er wußte genau, wem sie gehörte. Diesen fistelhohen, arroganten Befehlston gab es nur einmal. »Hallo, Marius, mein Lämmchen!« sang der Heilige lauthals und munter. »Wie geht’s denn?« Nun sprach Marius englisch. »Wenn ich Sie wäre, würde ich weit von der Tür weggehen, Templar«, sagte er freundlich. »Ich schieße jetzt das Schloß heraus.« Der Heilige lachte vor sich hin. »Von mir aus gerne, Süßerchen«, erwiderte er. »Aber ich darf Ihnen nicht verschweigen, daß einer von Ihren hellen Jungs an der Tür festgeklemmt ist, genau vor dem Schloß, und ich fürchte, er wird sich nicht bewegen können – und ich kann ihn nicht herausholen, ohne den ganzen Laden auseinanderzureißen.« »Da hat er Pech gehabt«, sagte Marius kalt; und der an die Tür gedrückte Mann schrie grausig auf. Der Heilige hatte Patricia in die Ecke gezerrt, wo er sie mit seinem Körper schützte, als Marius feuerte. Aber er warf einen Blick über die Schulter zur Tür und sah, wie der Mann schrecklich die Zähne entblößte, schlaff vornüber auf die Kommode fiel und regungslos liegenblieb. Die Nerven des Heiligen waren von härtestem Stahl, aber die unmenschliche Vorsätzlichkeit dieses Mordes ließ ihm einen Augenblick lang das Blut gefrieren. »Armer Teufel«, murmelte er.
Aber draußen auf dem Gang hatte Marius einen Befehl gebellt, und der Angriff wurde erneuert. Simon ging zum Fenster. Aber ein Blick auf das Gitter überzeugte ihn, daß es zu gut vermauert war, als daß man es ohne jede Hilfsmittel hätte herausbrechen können. Und in dem Zimmer befand sich nichts, das sich als Hebelwerkzeug verwenden ließ – ausgenommen vielleicht einer der Bettpfosten, aber um seiner habhaft zu werden, hätte man die Barrikade demontieren müssen. Die Falle war vollkommen. Und von außen konnte man mit keiner Hilfe rechnen, es sei denn, Roger… Aber die bloße Tatsache, daß Marius hier war, bedeutete, daß er Roger aus seinen Überlegungen ausschalten mußte. »Wie bist du nur hierhergekommen?« fragte das Mädchen den Heiligen. Simon erzählte ihr den ganzen Hergang, aber seine Gedanken waren anderswo. Und da seine Aufmerksamkeit geteilt war, vergaß er vielleicht, daß das Mädchen mit seinem flink arbeitenden Verstand schon bald den ins Auge springenden Schluß ziehen würde, und er war daher ziemlich verblüfft, als sie ihn unterbrach. »Aber wenn du Roger mit Marius zurückgelassen hast?« Der Heilige sah sie an und nickte reumütig. »Tja«, sagte er. »Der alte Roger hat eine Masche fallen lassen. Aber vielleicht strickt er doch noch irgendwo herum. Roger ist nicht unser Meisterschüler, aber er hat diese recht nützliche Begabung, immer wieder aus einer Klemme herauszustolpern. Oder aber Teal hat sich eingemischt.« »Wieso Teal?« Simon kehrte auf die Erde zurück. So viel war geschehen, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte, und er hatte vergessen, daß sie ja nichts davon wußte.
Er erzählte ihr, was ihr von der Geschichte entgangen war, das Abenteuer in Esher und die Flucht nach Maidenhead. Jetzt erst begriff sie ganz, was alles auf dem Spiel stand und warum man sie in das Haus am Berg gebracht hatte. Ruhig und beiläufig, keck und unter allerhand Scherzen erzählte er die Geschichte in seiner lebhaften, plastischen Redeweise, als handele es sich um einen recht alltäglichen Zwischenfall. Und zu einem alltäglichen Zwischenfall, einem recht trivialen, war das Ganze für ihn in der Tat geworden, denn er sah vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. »Du siehst also«, sagte er, »daß Engelsgesicht es ernst meint und warum heute nacht in Bures solch eine Aufregung herrscht.« Und während er sprach, blickte er unwillkürlich zu der leblosen, über die Kommode hingestreckten Gestalt hinüber, dem stummen Zeugen für die Wahrhaftigkeit seiner Worte; und das Mädchen folgte seinem Blick. Dann sah Simon ihr in die Augen, und er zuckte die Achseln. Er bedeutete ihr, sich auf das Bett zu setzen, und setzte sich neben sie. Er nahm eine Zigarette aus seinem Etui und bot ihr ebenfalls eine an. »Es hat keinen Zweck, daß wir uns wegen der Geschichte groß aufregen«, sagte er leichthin. »Den Sam Würgehals da hat’s ja nun leider erwischt, aber auch das hat einen freundlichen Aspekt: Wieder ein Gottloser weniger. Sind wir also froh, und da wir nun froh und fröhlich sind, erzähl mir doch mal: wie bist du denn eigentlich in den Schlamassel hineingeraten, aus dem ich dich nun unter solch großen Gefahren rette?« »Ganz leicht. Ich hab’ doch mit nichts dergleichen gerechnet. Wenn du dich näher ausgelassen hättest, als du anriefst! So bin ich wie ein kleines Kind darauf hereingefallen. Der Zug war fast leer, und ich hatte ein Abteil ganz für mich. Es muß kurz
vor Reading gewesen sein, da kam ein Mann den Korridor entlang und fragte mich, ob ich vielleicht Feuer hätte. Ich gab ihm ein Streichholz, und er gab mir eine Zigarette. Ich weiß, es war idiotisch, sie anzunehmen, aber er sah wie ein ganz normaler Mann aus, und ich hatte keinen Grund, mißtrauisch zu sein.« Simon nickte. »Bis du irgendwo in einem Auto wieder zu dir kamst?« »Ja. An Händen und Füßen gefesselt und mit einer Tüte über dem Kopf. Wir fuhren sehr lange, und schließlich wurde ich hierher gebracht. Und zwar erst etwa eine Stunde, bevor du die Steine gegen mein Fenster warfst. – O Simon, ich bin so froh, daß du gekommen bist!« Der Heilige zog sie bei den Schultern dichter an sich heran. »Ich auch«, sagte er. Er schaute zur Tür hinüber. Seine Barrikade hatte sich deutlich als wirksam erwiesen, denn man hatte den Angriff abgebrochen. Nun gab Marius erneut einen Befehl. Eine ganze Weile hörte man nur das Gemurmel einer Unterhaltung. Es verstummte, als jemand mit schweren Schritten den Korridor entlangkam. Und Simon Templar hielt den Atem an, denn er erriet, daß seine schlimmste Vorahnung sich bewahrheitet hatte. Eine Sekunde später fand er seine Vermutung bestätigt durch einen krachenden Schlag gegen die Tür, der sich von all dem vorhergehenden Gedonner und Gerüttel deutlich unterschied. »Was ist das?« fragte Patricia. »Sie haben das Fleischbeil geholt«, erwiderte der Heilige sorglos. Aber im Herzen war ihm weiß Gott nicht sorglos zumute, denn der Lärm an der Tür und der Riß, der in einer der Füllungen erschien, verrieten ihm, daß man eine Axt eingesetzt hatte, die selbst mit vierzölliger alter Eiche kein langes Federlesen machen würde.
Ein zweiter Schlag. Und ein dritter. Beim vierten Schlag drang die Schneide des Beils wie ein dünner Silberstreifen aus der Tür hervor. Jetzt konnte es nur noch Minuten dauern, bis das herausgeschlagene Loch so groß war, daß die Belagerer in das Zimmer schießen konnten. Und wenn es dazu gekommen war… Der Heilige wußte, daß der Blick des Mädchens auf ihm ruhte, und er versuchte verzweifelt, die Frage hinauszuschieben, die sich ihr stellen mußte. »Marius, mein Jungchen!« Es trat Stille ein; dann antwortete Marius. »Wollen Sie mir etwa sagen«, höhnte der Riese, »Sie möchten uns die Mühe des gewaltsamen Einbrechens ersparen?« »Aber nein! Ich wollte nur wissen, wie es Ihnen geht.« »Ich kann nicht klagen, Templar. Und Sie?« »Wenn der Himmel ist grau«, singsangte der Heilige à la Al Jolson, »ist’s mir ganz gleich. Du machst ihn blau, Sonny Boy… Da fällt mir gerade ein: was ist aus meinem Freund geworden?« Marius’ höhnisches Lachen ließ einem sogar durch die Tür das Blut gerinnen. »Er ist immer noch in der Brook Street unter Hermanns Aufsieht. Sie erinnern sich an Hermann, den Mann, den Sie zusammengeschlagen haben? Aber ich bin ganz sicher, daß Hermann sehr rücksichtsvoll mit ihm umgehen wird. Wollten Sie sonst noch etwas wissen?« »Im Augenblick nicht«, erwiderte der Heilige. Marius sagte etwas in seiner Sprache, und wieder schlug die Axt zu.
Nun ließ sich die Wahrheit nicht mehr vor Patricia verbergen. Der Heilige begegnete ihrem Blick, und er wußte, daß sie begriff. Aber sie verriet keine Furcht. Ganz ruhig sahen sie einander an, und ihre Hände fanden sich zärtlich und ohne Zittern. »Es tut mir leid«, sagte der Heilige. »Ich kann dir nicht sagen, wie leid es mir tut.« »Aber ich versteh’ es doch, Simon«, antwortete sie, und sie sprach auch nun noch mit der festen, klaren, unbeugsamen Stimme, die er so sehr liebte. »Die Götter haben dich trotz allem nicht vergessen. Ist das hier denn nicht ein Ende, wie du es dir immer gewünscht hast?« »Es ist das Ende der Welt«, erwiderte er ruhig. »Roger war meine einzige Verstärkung. Für den Fall, daß ich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht wieder in der Brook Street war, sollte er hinterherkommen. Aber das kann er jetzt ganz offensichtlich nicht.« »Ich weiß.« »Ich will nicht, daß du ihnen in die Hände fällst, Pat.« »Und du?« Er lachte. »Ich werde versuchen, Marius mit auf die Reise zu nehmen. Aber – o Pat! Ich würde meine Seele verkaufen, wenn du nicht dabeisein müßtest. Für mich ist es ein Abgang, aber nicht für dich.« »Warum nicht? Sollte ich nicht in deinem letzten Kampf bis zum Ende bei dir sein?« Sie hatte ihm die Hände auf die Schultern gelegt, und er hielt ihr Gesicht in seinen Händen. Sie sah zu ihm auf. »Liebste«, sagte er, »ich beklage mich nicht. Wir leben in keiner sehr großartigen Zeit, aber ich habe mein Bestes getan, großartig zu leben, so wie ich es verstehe – meinem Ideal des glücklichen Streiters zu leben. Aber du warst es, die es mir
ermöglicht hat. Du hast mich gelehrt, hinauszuziehen und um Großes zu kämpfen. Kampf und plötzlicher Tod – ja, aber Kampf und plötzlicher Tod für den Frieden, das Leben, für die Liebe. Du weißt, daß ich dich liebe, Pat.« Sie wußte es. Und wenn sie sich ihm nie aus der ganzen Tiefe ihres Herzens eröffnet hatte, dann tat sie es nun mit einem Frohsinn in ihrem Kuß, der so hell leuchtete wie ein Ruf in der Stille. »Alles andere spielt doch kaum eine Rolle«, sagte sie. »Aber ich habe dich geopfert! Wenn ich so gewesen wäre wie andere Männer, wenn ich nicht so toll und versessen nach der Gefahr gewesen wäre, wenn ich mehr an dich gedacht hätte und an die Gefahren, denen ich dich aussetzte…« Sie lächelte. »Ich hätte dich nicht anders haben wollen. Du hast dich niemals entschuldigt, daß du bist, wie du bist. Warum jetzt?« Er antwortete nicht. Wer hätte solcher Großherzigkeit antworten können? Nebeneinander saßen sie da, und das Krachen an der Tür ging weiter. Die große Tür bebte und dröhnte unter jedem Schlag, und es war ein Klang wie das Geläute einer gedämpften Totenglocke. Der Heilige blickte auf und sah, daß in der Tür ein Loch von der Größe einer Männerhand klaffte. Und plötzlich floß ihm seltsame Kraft zu, so schwach und so erschöpft er war. »Du meine Güte! Dies kann doch nicht einfach das Ende sein!« rief der Heilige. »Wir haben noch so viel zu tun, du und ich!« Er war aufgesprungen. Er konnte nicht glauben, daß dies das Ende sein sollte. Er war noch nicht bereit, dahinzugehen – nicht einmal vom Ruhm bestrahlt. Er weigerte sich zu glauben, daß seine Stunde geschlagen hatte. Es stimmte, daß sie immer noch viel zuviel
zu erledigen hatten. Da waren Roger Conway und Vargan und Marius, und an diesen beiden hing der Frieden der Welt. Und dann waren da noch Abenteuer, und dahinter wieder Abenteuer. Und noch anderes… Denn bei diesem Abenteuer, in dieser einen Stunde hatte er einen Blick in die Zukunft getan, und was er gesehen hatte, war ein neues, noch größeres Leben; größer selbst als das Ideal des glücklichen Streiters, größer selbst als das wilde Vergnügen an Kampf und plötzlichem Tod: Erfüllung und Vollendung all dieser Dinge – und wie sollte er sterben, ehe er dieser Vision auch nur ein Stück gefolgt war? Und er schaute zur Tür hinüber und sah Marius’ Augen. »Ich würde Ihnen raten, sich zu ergeben, Templar«, sagte der Riese kühl. »Wenn Sie bockig werden, wird man Sie niederknallen müssen.« »Das würde Ihnen viel nützen, was, Engelsgesicht? Wie würden Sie denn dann Vargan finden?« »Ihr Freund Conway könnte zum Reden gebracht werden.« »Hoffen kann nie schaden!« »Ich besitze meine eigenen Überredungskünste, Templar, und einige von ihnen sind fast so genial wie die Ihren. Haben Sie außerdem bedacht, daß Ihr Tod Miß Holm ihres Beschützers berauben wird?« »Habe ich«, erwiderte der Heilige. »Ich habe außerdem bedacht, daß sie sich in genau derselben Lage befindet, wenn ich mich ergebe. Aber sie hat ein Messer, und ich glaube nicht, daß sie sich sehr nachgiebig zeigen wird. Lassen Sie sich etwas anderes einfallen!« »Außerdem«, sagte Marius in demselben leidenschaftslosen Ton, »brauchte man Sie nicht unbedingt sofort zu töten. Es wäre durchaus möglich, Sie noch einmal zu verwunden.« Der Heilige zog den Kopf zurück. »Ich ergebe mich nie«, sagte er.
»Gut«, erwiderte Marius gelassen. Er schnarrte einen Befehl, und wieder krachte die Axt in die Tür. Der Heilige wußte, daß das Loch nun vergrößert wurde, damit man hindurchschießen und gleichzeitig das Ziel sehen konnte, und er wußte, daß das Ende nun nicht mehr lange ausstand. In dem Zimmer gab es keine Deckung. Sie könnten sich platt an die Wand drücken, in der sich die Tür befand, damit man sie von draußen nicht sehen konnte, aber auch das würde ihnen wenig nützen. Ein paar gut abgestimmte Schüsse mit einer Schnellfeuerpistole an der Wand entlang würden mit Sicherheit ins Schwarze gehen. Und der Heilige hatte keine Waffe außer dem erbeuteten Messer, und das hatte er, wie gesagt, Patricia gegeben. Ein Entrinnen war unmöglich. Der Heilige sah zu, wie die Späne aus dem Loch flogen, das die Axt bereits geschlagen hatte – es war nun schon fast so groß wie der Kopf eines Mannes –, und plötzlich schoß ihm der tolle Gedanke durch den Kopf, Marius zum Zweikampf herauszufordern. Aber sofort ließ er den Gedanken wieder fallen. Dutzende von Männern wären vielleicht darauf eingegangen, wenn man den Unterschied in Gewicht und Größe bedachte. Die Furcht, als feige zu gelten, und die Notwendigkeit, sich ihr Prestige bei ihren Anhängern zu erhalten, hätten sie vielleicht dazu verlockt, allen Ernstes auf die Herausforderung einzugehen. Aber Marius stand über all dem. Er hatte nur ein Ziel im Auge, und es war bereits erwiesen, daß er dieses Ziel mit einer Ausschließlichkeit verfolgte, die alle anderen Motive übertraf. Der Mann, der sich seinen Weg kaltblütig durch seine eigenen Leute hindurchschoß und dabei auf keine Aufsässigkeit stieß, würde sich von keinem Argument bewegen lasen, das dem Heiligen einfallen mochte. Also was nun?
Der Heilige hielt Patricia in seinen Armen, und in seinem Kopf wirbelten die Gedanken wie ein sausendes Windrad. Er wußte, daß er nun rasch immer schwächer wurde. Die heroische Anstrengung, mit der er sich seinen Weg zu dem Zimmer gebahnt und die Barrikade aufgerichtet hatte, hatte zu sehr an seinen Kräften gezehrt, und der plötzliche Zuschub übernatürlicher Energie konnte nicht lange vorhalten. Sie war wie eine durchsichtige Maske aus glitzerndem Kristall, hart, aber zerbrechlich, und unter ihr sah er die Fundamente, auf denen sich ihre Zähigkeit gründete, zerbröckeln. Es mußte, wie in jeder bedrängten Lage, Zeit gewonnen werden. Aber damit nicht genug – auch das Gegenteil war wichtig: Was getan wurde, um Zeit zu gewinnen, mußte rasch getan werden, bevor das abgetrotzte Aufflammen seiner Kraft wieder verlöschte und ihn machtlos dastehen ließ. Der Heilige fuhr sich mit der Hand über die Augen; er kam sich seltsam nutzlos vor. Wäre er doch nur heil und stark und flösse das Blut wieder in seinen Adern, das er verloren hatte, und hätte er eine Schulter, von der nicht ein lähmender Schmerz in den ganzen Körper ausstrahlte, und einen Kopf, der nicht unter den duseligen Nachwehen des beinahe bewußtseinraubenden Kinnhakens litt, um Patricia in ihrer Not wenigstens ein wenig beistehen zu können! »O mein Gott!« stöhnte er. »Hilf mir!« Aber er wußte immer noch nicht, was er Nützliches tun konnte. Nichts als ein letzter verzweifelter Schritt fiel ihm ein. Er schob Patricia sanft von sich und sprang zur Tür hinüber und auf die Barrikade, und er verdeckte mit seinem Körper das Loch, das in die Tür geschlagen wurde. »Was soll das denn nun werden, Templar?« fragte der Riese grimmig. »Gar nichts, Süßer!« krähte der Heilige mit einem kurzen Auflachen. »Ich stehe lediglich hier und baue mich mit
Bedacht so auf, daß jeder Schuß auf mich tödlich verlaufen muß. Und ich weiß, daß Sie mich noch nicht sterben lassen wollen. Also wird es Sie noch eine Weile in Trab halten – hab’ ich recht? Jetzt müssen Sie das Loch so groß machen, daß man ohne Gefahr für mein Leben hindurchschießen kann.« »Sie sind auf sehr närrische Weise lästig«, erwiderte Marius nüchtern und fügte einen Befehl hinzu. Der Mann mit der Axt nahm seine Arbeit wieder auf. Aber es würde nun länger dauern – und nur daran lag dem Heiligen. Solange man noch lebte, gab es noch Hoffnung. Vielleicht geschah das Wunder, vielleicht! Patricia war neben ihn getreten. »Simon, was soll das nützen?« »Das werden wir sehen, Liebste. Wir können jedenfalls noch strampeln, und das ist die Hauptsache.« Sie versuchte, ihn mit Gewalt von der Tür wegzuziehen, aber er schob ihre Hände von sich. Und dann riß sie sich von ihm los, und mit völlig benommenen Augen, ohne zu begreifen, sah er sie zum Fenster stürzen, es hochschieben und in die Nacht hinausspähen. »Hilfe!« »Dummes Ding!« knurrte der Heilige erbittert. »Willst du ihnen auch noch die letzte Genugtuung verschaffen, daß sie uns haben wimmern hören?« Er vergaß alles andere, nur an seinen Stolz dachte er, und er verließ seinen Platz an der Tür. Mit ein paar taumelnden Sätzen war er bei ihr, und seine Hände fielen rauh auf ihre Schultern, um sie fortzuziehen. Sie rief ein zweites Mal: »Hilfe!« »Sei still!« knurrte der Heilige ingrimmig. Aber als er sie zu sich herumdrehte, sah er, daß ihr Gesicht ruhig und heiter war und absolut nicht zu den Hilferufen passen wollte.
»Du hast Gott gebeten, dir zu helfen, alter Junge«, sagte sie. »Warum soll ich nicht die Männer bitten, die gerade angekommen sind?« Und sie zeigte zum Fenster hinaus. Er schaute hinaus und sah, daß das Tor am Ende des Gartens und die Auffahrt vor dem Haus taghell erleuchtet war von den Scheinwerfern eines Autos, das auf dem Weg vor dem Tor gehalten hatte. Wegen des Lärms, den die Axt an der Tür machte, hatte er es nicht herankommen hören. Und dann trat groß, dunkel und straff ein Mann in den lichten Pfad, und der Mann legte beide Hände um den Mund und rief: »Ich komme, Pat! – Hallo, Simon!« »Norman!« brüllte der Heilige. »Norman – mein Seraph, mein allerliebster Engel!« Dann fiel ihm die prekäre Lage wieder ein, und er rief: »Gut aufpassen! Sie sind bewaffnet.« »Wir auch«, sagte Norman Kent glücklich. »Inspektor Teal und seine lustigen Leute haben das Haus eingekreist. Sie sitzen in der Pfanne.« Einen Augenblick lang war der Heilige sprachlos. Dann: »Hast du ›Inspektor Teal‹ gesagt?« »Ja!« rief Norman. Und er setzte noch etwas hinzu. Brillant setzte er es hinzu. Er wußte, daß alle Männer im Haus Ausländer waren, daß selbst Marius mit seinem überfeinen Englisch ein Ausländer war und daß außer dem Heiligen und Patricia niemand vertraut sein würde mit den abstrusen Verdrehungen und Schändungen, deren der Quell der englischen Sprache sich zuweilen unterziehen konnte. Und er machte den Zusatz, ohne den Tonfall zu verändern, denn ein solcher Wechsel hätte die Bedeutung verraten können. Er setzte hinzu: »Brotkrum und Brassenköder. Nicht beißen!« Nun durchschaute Simon den Bluff.
Schon seit Jahren hatte der gesetzte, nüchterne Norman nicht mehr solch unehrerbietigen Hokuspokus getrieben mit der Sprache Shakespeares, aber der Heilige verzieh ihm die lange Pause. Simons Arm lag um Patricias Schulter, und er hatte ein Licht in der Dunkelheit gesehen. Das Wunder war geschehen, und das Abenteuer ging weiter. Und er fand seine Stimme wieder. »Junge, Junge!« rief er, und er zerrte Patricia mit sich zu Boden in den vorübergehenden Schutz der Barrikade, und in diesem Augenblick zischte der erste Schuß aus der zerhackten Tür über ihre Köpfe hinweg und säuselte davon in die Schwärze vor dem offenen Fenster.
14 Roger Conway fährt den Hirondel, und Norman Kent schaut zurück
Eine zweite Kugel pfiff dem Heiligen am Ohr vorbei und blieb wie eine silberne Narbe platt an der gegenüberliegenden Wand kleben; aber weitere Schüsse erfolgten nicht. Draußen vor dem Haus knallten andere Pistolen. Simon hörte Marius rasch ein paar Worte ausstoßen, und dann entfernten sich eilig Schritte auf dem Korridor. Der Heilige hob vorsichtig den Kopf über die Deckung, und er sah nichts durch das Loch in der Tür. »Sie werden versuchen, die Absperrung zu durchbrechen, die nicht da ist!« stellte er fest; und so sollte es sich erweisen. Er stand auf und machte sich daran, die Barrikade wegzuräumen, und das Mädchen half ihm. Nebeneinander rannten sie den Korridor entlang. Auf dem Treppenabsatz hielten sie inne. Aber niemand war unten in der Diele zu sehen. Simon eilte Pat voraus die Treppe hinunter. Ohne lange zu überlegen, wohin er ging, platzte er gleich in das erste Zimmer hinein und stellte fest, daß es das Zimmer war, in dem er das Eröffnungsscharmützel ausgefochten hatte. Das Fenster, durch das er ins Haus gestürmt war, stand nun weit offen, und zu ihm herein drangen die Geräusche einer weit auseinandergezogenen Schießerei. Ohne den Schritt zu verhalten, hob er bei seinem Sturm zum Fenster eine Pistole vom Boden auf.
Draußen auf dem Rasen konnte er, da er das Licht im Rücken hatte, eine kleine Gruppe von Männern sehen, die sich in einen Wagen zwängten. Eine Sekunde später sprang der Motor an. Ein Lächeln huschte dem Heiligen um die Lippen – das erste absolut sorglose und unbekümmerte Lächeln in dieser Nacht. Es war etwas unwiderstehlich Unterhaltsames in diesem Spektakulum eines ruhmreichen Abgangs, dessen verwegene Tollkühnheit darin bestand, daß man laut »Buh!« sagte zu einer zahmen Gans – hätten die Männer, die an diesem Abgang beteiligt waren, Bescheid gewußt. Aber sie konnten ja nicht Bescheid wissen, und Marius tat das einzig ihm mögliche. Eine Belagerung zu überstehen war aussichtslos, aber ein Ausbruch konnte gelingen – durchaus nicht mit Gewißheit, aber vielleicht. Und der Effekt einer Knallerei rund um das Haus herum war in der Tat sehr überzeugend gewesen. Simon stellte bei sich fest, daß der Entsatztrupp weder mit Munition noch mit Atem gespart hatte. Die Brüder mußten sich halb die Beine abgewetzt haben, um den Eindruck zu erwecken, das Revolvergeknalle komme aus jeder Ecke des Gartens gleichzeitig. Im Handumdrehen fegte der Wagen mit seiner tollen Ladung die Auffahrt hinunter. Simon nahm die Pistole hoch und spuckte Blei hinter ihm her, aber es war nicht auszumachen, ob er irgendwelchen Schaden anrichtete. Dann spürte er eine andere Pistole zwischen seinen Rippen, und er drehte sich um. »Steck sie weg«, sagte der Heilige. »Steck sie weg, Roger, altes Haus!« »Mensch, du alter Pferdedieb!« »Mensch, du miese Leiche!« Sie schüttelten sich die Hand. Dann tauchte Norman Kent aus dem Dunkel auf. »Wo ist Pat?«
Pat stand neben dem Heiligen. Norman riß sie an sich und küßte sie schamlos. Dann schlug er Simon auf die Schulter. »Fahren wir ihnen nach?« fragte er. Der Heilige schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht. Ist Orace mitgekommen?« »Nein. Nur Roger und ich – die alte Firma.« »Trotzdem – wir müssen zu Vargan zurück. Wir dürfen unseren Vorteil einfach nicht wieder aufs Spiel setzen und uns allesamt auf irgendeine Geschichte einlassen. Und in etwa zehn Sekunden wird es hier von heranstürmenden Dorfbewohnern wimmeln, die glauben, der nächste Krieg habe bereits begonnen. Wir hauen ab, solange wir noch ohne Ärger abhauen können.« »Was ist das da an deiner Jacke – Blut?« »Nichts.« Er ging ihnen zu dem Hirondel hinüber voran – langsamer als es sonst seine Gewohnheit war. Roger holte ihn ein. Bei einem Schritt schwankte der Heilige ein wenig und stützte sich auf Rogers Arm. »Entschuldige, mein Junge«, murmelte er. »Auf einmal wurde mir so komisch.« »Sollen wir nicht lieber erst einmal nachsehen?« »Wir fahren jetzt«, sagte der Heilige ruhig, aber in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, und eisiger, als er jemals zuvor mit Roger Conway gesprochen hatte. Die Kraft und die übernatürliche Energie, die ihn bisher aufrecht gehalten hatten, schwanden nun, da er sie nicht mehr benötigte. Aber er war erfüllt von einer tiefen, mit dem Verstande nicht faßbaren Zufriedenheit. Roger Conway fuhr, denn Norman hatte ihm ohne viel Umstände das Steuer seines Wagens überlassen. Also konnte Roger dem Heiligen, der neben ihm saß, alles erzählen.
»Norman hat uns hierhergebracht. Ich habe ja immer geschworen, daß du als Fahrer einfach nicht zu übertreffen bist, aber das sage ich dir: viel könntest du Norman auch nicht mehr beibringen.« »Was für einen Wagen habt ihr gehabt?« »Einen Lancia. Norman saß ohne irgendeinen fahrbaren Untersatz in Maidenhead fest, also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich einen zu organisieren. Er spazierte zum »Skindle« hinüber und suchte sich was aus.« »Nun mal von Anfang an«, sagte der Heilige geduldig. »Was ist mit dir passiert?« »Ich hab’ sehr schlecht abgeschnitten«, sagte Roger. »Unser Dickerchen lenkte mich ab, und Engelsgesicht legte mich mit einem Fußtritt flach. Dann machte die Bohnenstange fast ganz Schluß mit mir. Marius hängte sich ans Telefon, bekam aber keine Verbindung mit Bures. Er verabredete dann etwas anderes mit Westminster neunundneunzig neunundneunzig.« »Die hab’ ich getroffen. Vier im ganzen.« »Dann haute Marius mit Dickerchen ab und ließ Hermann zurück. Vorher hatte ich Norman angerufen, und Norman hatte gesagt, er werde möglicherweise kommen. Als es klingelte, rief ich, um ihn zu warnen, und wurde erneut zusammengeschlagen. Aber es war gar nicht Norman – es war Teal. Teal nahm Hermann beim Kragen. Ich erzählte Teal einen Teil der Angelegenheit. Das war das einzige, was mir einfiel – einmal, damit wir noch länger in der Brook Street blieben für den Fall, daß Norman kommen sollte, zum anderen, um dir zu helfen. Ich sagte zu Teal, er solle die Polizei in Braintree anrufen. Haben die dich verpaßt?« »Sie haben versucht, mich anzuhalten, aber ich bin durchgefahren.« »Dann kam Norman. Führte Teal herrlich hinters Licht und legte ihn mit einer Streitaxt oder so etwas ähnlichem von der
Wand lang. Wir haben Teal und Hermann wie Hühner verschnürt, und dann sind wir hierher gekommen.« Der Heilige unterbrach ihn. »Einen Moment mal«, sagte er ruhig. »Hast du gesagt, du habest Norman angerufen?« Conway nickte. »Ja. Ich dachte…« »Als Marius da war?« »Ja.« »Er hat gehört, wie du die Nummer durchgegeben hast?« »Mußte er wohl hören. Aber…« Simon lehnte sich zurück. »Nun sag mir nicht«, begann er, »sag mir nicht, wir wissen doch, daß die Vermittlung keine Auskunft über Namen und Adressen der Fernsprechteilnehmer geben darf. Sag mir nicht, daß Hermann, der jetzt mit Teal zusammen ist, die Nummer vielleicht vergessen hat. Schön. Aber selbst der größte Narr würde das eine Wort ›Maidenhead‹ nicht vergessen!« Roger schlug sich mit der Hand auf den Mund. Die Wahrheit war heraus – und er hatte sie bis zu diesem Augenblick nicht gesehen. Plötzlich begriff er, was er angerichtet hatte, und er war entsetzt. »Jetzt wirst du mich zu Mus machen, Heiliger! Jetzt wirst du mich…« Simon legte ihm die Hand auf den Arm und lachte. »Ist schon gut, Roger«, sagte er. »Ich weiß, daß du nicht nachgedacht hast. Du hast dieses Handwerk nicht gelernt, und es ist nicht deine Schuld, wenn du stolperst. Außerdem konntest du nicht wissen, daß es vielleicht nicht ganz gleichgültig war. Du konntest nicht wissen, daß Engelsgesicht entkommen oder Teal eintreffen würde.«
»Und jetzt suchst du mir auch noch die Entschuldigungen zusammen«, sagte Roger bitter. »Es gibt keine Entschuldigung. Ich weiß es. Aber so bist du eben.« Die Hand auf Rogers Arm drückte fester zu. »Esel«, sagte der Heilige leise. »Was passiert ist, ist passiert. Ein paar Stunden lang haben wir noch Ruhe, und alles andere spielt keine Rolle.« Conway schwieg, und der Hirondel jagte ohne jeden Aufenthalt durch die Nacht. Simon lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. Vorsichtig untersuchte er seine Wunde, dabei darauf achtend, daß man auf dem Rücksitz nicht sah, was er tat. Zum Glück hatte die Kugel seine Schulter glatt durchbohrt, so daß keine Komplikationen zu befürchten waren. Bei seiner unvergleichlichen Fähigkeit, sich rasch wieder zu erholen, und seiner prachtvollen Gesundheit würde ihn morgen nichts Schwererwiegendes mehr behelligen als eine steife und wunde Schulter. Wirklich gefährlich war nur seine Schwäche nach all dem Blutverlust. Aber selbst damit hoffte er nun fertig zu werden. So saß er da, und seine Zigarette glimmte nahezu vergessen zwischen seinen Fingern, und er dachte über den Schnitzer nach, den Roger sich geleistet hatte. Und eine Folge dieses Schnitzers sah er als ganz sicher voraus, und das war die Tatsache, daß in Maidenhead ihres Bleibens nicht sehr lange sein würde. Marius war noch nicht das Handwerk gelegt, und er würde nicht lange warten, ehe er zum nächsten Streich ausholte. Und Maidenhead war nicht groß, und die Zahl der Häuser, die ernstlich in Frage kamen, recht begrenzt. Gleich morgen früh würde Marius sich an die Arbeit machen, und er würde in verzweifelter Eile arbeiten, denn seine Eile würde sich noch verdoppeln durch die Annahme, daß sich irgendwie die Polizei
gegen ihn verschworen hatte. Morgen früh würde außerdem Teal befreit werden, und er würde versuchen, Hermann auszuholen; und wie lange würde Hermann dichthalten? Nicht unbegrenzt, soviel war sicher. Im vorliegenden Fall könnten die »höchsten Stellen« unter Umständen an passender Stelle die Augen verschließen vor Methoden der Aufweichung, die das gemächliche amtliche England zu normalen Zeiten niemals dulden würde, denn man konnte die Affäre durchaus einen staatlichen Notstand nennen. Und wenn Teal erst einmal die Telefonnummer hatte… Genau. Sagen wir, morgen abend. Bis dahin wird uns auch Marius auf der Spur sein. Durch seinen zeitlichen Vorsprung macht er wett, was ihm an amtlicher Unterstützung versagt bleiben mußte. Der Heilige war kein Narr. Er wußte, daß der CID, außer in gewissen Kriminalromanen, in denen ein geckiger Amateur mit einer Geige und einer Schwäche für exotische Philosophie die hartgesottenen Hoheiten von Scotland Yard einfach um den Finger wickelte, sich ganz und gar nicht aus Schwachköpfen zusammensetzte. Simon zögerte nicht zuzugeben, daß sich hier und da unter den Männern von Scotland Yard der Besitzer eines nicht gänzlich kretinhaften Gehirns befand. Zum Beispiel Claud Eustace Teal. In spektakulären Dingen mochte er sich ein wenig als eine trübe Birne erweisen, aber er war hart am Ball, wenn er einmal einen ganz bestimmten Hebel angesetzt hatte. Und vielleicht hatte er noch mehr konkrete Anhaltspunkte als lediglich einen Namen und eine Adresse für seine Verfolgungsjagd. Vielleicht; dem Heiligen allerdings fielen keine ein. Und außerdem eben Marius. Nun, Marius sprach für sich selber. Alles in allem sah es sehr danach aus, als sollte Maidenhead, noch bevor die nächste Nacht einbrach, zu einem Mittelpunkt beträchtlicher Aktivität werden.
»Aber was passiert ist, ist passiert, Jungens; was passiert ist, ist passiert«, fügten sich die Gedanken des Heiligen zu einer Art Refrain, der mit dem Sausen des schweren Wagens zusammenklang. »Den größten Teil des Tages dürften wir noch Zeit für uns haben, und das ist mir verdammt viel wert. Darum Schluß damit, Schwamm darüber, was passiert ist, ist passiert!« Aber Roger dachte anders darüber. Er sagte: »Wir müssen morgen aus Maidenhead verschwinden – mit oder ohne Vargan. Hast du dafür schon einen Plan?« »Dutzende!« erwiderte der Heilige vergnügt. »Was Vargan betrifft: Morgen abend wird es entweder nicht mehr nötig sein, ihn gefangenzuhalten, oder – nun, es wird immer noch nicht nötig sein, ihn gefangenzuhalten. Und für uns steht in jedem Fall meine Desoutter in Hanworth. Teal wird keine Zeit haben, ihr auf die Spur zu kommen, und ich glaube nicht, daß er irgendwelche Informationen über uns an die Presse geben wird, solange er noch eine Chance hat, den Fall ohne jedes öffentliche Aufsehen zu bereinigen. Für die ganz normale Außenwelt sind wir immer noch vollkommen achtbare Bürger. Niemand in Hanworth wird etwas einzuwenden haben, wenn ich bekanntgebe, daß wir mit meiner Maschine nach Paris fliegen. Hab’ ich schon einmal gemacht. Und wenn wir einmal vom Boden hoch sind, haben wir einen ganz schönen Aktionsradius, innerhalb dessen wir uns den Ort für die nächste Landung aussuchen können.« Dann schwieg er wieder. Pläne für die weitere Zukunft gingen ihm durch den Kopf. Hinten im Wagen war Patricias Kopf Norman an die Schulter gesunken. Sie schlief. Die ersten blassen Streifen der Dämmerung hellten den Himmel auf, als sie in den Osten Londons einfuhren. Roger
steuerte den Hirondel so schnell durch die City, wie die nahezu leeren Straßen es ihm eben erlaubten. An der New Bridge Street bogen sie zum Themseufer ab und kamen daher auf ihrer Fahrt zum Westen der Stadt am Parlament Square vorbei. Und hier hatte Norman Kent ein seltsames Erlebnis. Schon eine ganze Weile waren ihm Worte durch den Kopf geschossen – so leise, so vage, daß er sich ihrer gar nicht bewußt geworden war; Worte, die ihm so vertraut waren wie sein Name und die er doch seit Jahren wohl schon nicht mehr gehört hatte. Der Text zu einer Art gesprochenen Melodie, die eigentlich keine Melodie war. Und in diesem Augenblick, als der Hirondel am Parlamentsgebäude vorbeisurrte, merkte er mit einem Male, was ihm da durch den Kopf gegangen war, und die Worte schienen anzuschwellen und lauter und lauter und deutlicher zu werden, als griffe ein großer Chor sie auf; und die Illusion war so vollkommen, daß Norman sich verwirrt nach den Türmen der Westminster-Abtei umsah, aber dann wurde ihm klar, daß um diese Stunde wohl kaum ein Gottesdienst abgehalten wurde. Auf daß Licht denen werde, die im Dunkeln sind und im Schatten des Todes, und unsere Füße auf den Weg des Friedens geleitet werden… Und als Norman sich umwandte, fiel sein Blick auf das große Denkmal des Richard Löwenherz, das vor dem Unterhaus steht. Und ganz plötzlich verstummten die Stimmen. Norman aber blickte immer noch nach hinten und sah Richard Löwenherz dort auf seinem Pferd sitzen, der Letzte seiner Art, gewaltig und heldenhaft vor dem fahlen Frühhimmel, den rechten Arm mit dem Schwert in großer Gebärde emporgehoben. Und aus irgendeinem Grunde fühlte Norman Kent sich mit einem Male völlig allein und einsam, und ihn
fror sehr. Aber das Morgendämmerung sein.
konnte
auch
die
Kühle
der
15 Vargan gibt Antwort, und Simon Templar schreibt einen Brief
Es war heller Tag, als sie in Maidenhead eintrafen. Orace war nicht im Bett. Orace war nie im Bett, wenn er nützlich sein konnte, ganz gleich zu welch nachtschlafender Zeit das war. Aber ob er nun niemals zu Bett ging, oder ob ihn eine seltsame Art von Hellsichtigkeit immer so rechtzeitig wach werden ließ, daß er bei jedem Alarm unverzüglich zur Stelle war, blieb sein rätselvolles Geheimnis. Er wartete mit einer großen Schüssel brutzelnden Frühstücksspecks und einer dampfenden Kanne Kaffee auf, und zwar im Handumdrehen, als habe er nur seinen Zauberstab zu heben brauchen. Dann erteilte der Heilige Befehle. »Wir werden bis zum Mittagessen schlafen«, sagte er. »Die Aufmöblung unserer Kräfte ist den Zeitverlust wert.« Er hätte selber auf der Stelle umfallen können. Er nahm Orace in sein Schlafzimmer mit, und Orace mußte Schweigen geloben, ehe er die Wunde sehen durfte. Aber als Orace die Wunde sah, sagte er: »Himmelkruzitürken, da hört doch alles auf!« Simon winkte müde mit der Hand ab. »Nicht fluchen, Orace«, sagte er plaudernd. »Ich habe auch nicht geflucht, als es passiert ist. Und Miß Patricia weiß es noch nicht. Du kümmerst dich um Miß Patricia und die Jungens, Orace, falls ich schlapp machen sollte. Paß auf, daß sie schön artig sind. Und wenn du Engelsgesicht sehen solltest,
schießt du ihm mitten durch seine Schandvisage, mit einem schönen Gruß von mir, Orace.« Er rutschte plötzlich zur Seite vom Stuhl herunter, aber Orace fing ihn mit seinem starken Arm im Fallen auf. Orace brachte ihn so zärtlich ins Bett, als sei er ein Kind. Und doch war der Heilige vor allen anderen wieder auf und angezogen. Er war ziemlich blaß unter seiner Sonnenbräune, und sein schmales Gesicht wirkte schmaler denn je; aber sein Schritt federte immer noch. Er hatte wie ein gesunder Schuljunge geschlafen. Sein Kopf war so klar wie seine Augen, und eine kalte Dusche hatte ihm frisches Leben in die Adern gejagt. »Nehmt euch ein Beispiel an mir«, sagte er bei seinem dritten Ei. »Wenn ihr eine Leibesbeschaffenheit eure eigene nennen dürftet, die, wie meine, von seelischer Reinheit durchdrungen und, wie meine, nicht beeinträchtigt wäre von der ausschweifenden, wilden Lebensweise, die euch zu den Wracks gemacht hat, die ihr seid…« Es war dies weniger scherzhaft, als sie vielleicht glaubten. Nackte, unbarmherzige Willenskraft hatte seinen Körper gezwungen, sich mit einer Schnelligkeit zu erholen, die an ein Wunder grenzte. Simon Templar konnte es sich nicht leisten, Zeit für einen bildschönen Genesungsurlaub zu verschwenden. Er schickte Orace aus, Zeitungen zu kaufen, und er las sie alle. Viel zu vieles von dem, was hätte gesagt werden müssen, wurde immer noch nicht gesagt. Aber hier blinzelte ein Hinweis, dort lugte eine Warnung hervor, und an noch anderer Stelle eine Bestätigung, so daß es alles in allem danach aussah, daß Europa im Schlagschatten einer schrecklichen Finsternis lag. Nichts davon war allerdings gedruckt; jedenfalls nicht in eindeutigen Worten. Es fanden sich lediglich erbitternd unzureichende Anhaltspunkte, die der Mißtrauische sich ganz nach Maßgabe seines eigenen Mißtrauens selber zu deuten
hatte. Es schien, als ob das Gesicht dieses Schattens darauf warte, daß etwas geschah – dann erst würde es sich enthüllen. Der Heilige wußte, was dieses Etwas war, und zum erstenmal, seitdem er seine Freunde um sich versammelt hatte, um mit ihnen seinen quijotischen Strauß auszufechten, zweifelte er an sich selber. Aber in den Zeitungen stand immer noch nichts über den Zwischenfall in Esher; und der Heilige wußte, daß dieses Schweigen nur eins bedeuten konnte. Erst um drei Uhr fand er erneut Gelegenheit, sich mit Roger und Norman über Vargan zu unterhalten. Denn obwohl Patricia wußte, daß Vargan ihr Gefangener war und warum er es war, und obwohl sein mögliches Schicksal ihr gegenüber schon einmal erwähnt worden war, waren sie übereingekommen, daß in ihrer Gegenwart nicht mehr davon gesprochen werden sollte. »Wir können ihn nicht ewig festhalten«, sagte Simon, sobald sie unter sich waren. »Zunächst einmal sieht es sehr danach aus, daß wir einen großen Teil unseres restlichen Lebens mit Türmen zubringen werden, und es türmt sich nicht gut mit widerspenstigem Gepäck. Es ließe sich vielleicht machen, falls wir uns an einen einsamen Ort zurückzögen und bis an unser Lebensende wie Einsiedler lebten. Aber in beiden Fällen bleibt das Risiko bestehen: er könnte entkommen. Und der Gedanke belustigt mich nun gar nicht.« »Ich habe gestern abend mit Vargan geredet«, sagte Norman Kent nüchtern. »Ich glaube, er ist wahnsinnig. Größenwahnsinnig. Er ist nur von einem Gedanken besessen: daß seine Erfindung ihm zu weltweitem Ruhm verhelfen wird. Uns hält er vor, daß wir seine Verhandlungen mit der Regierung stören und damit die großen Schlagzeilen hinausschieben. Ich erinnere mich, daß er mir sagte, er habe
die Erhebung in den Adelsstand als Teil des Preises seines Geheimnisses gefordert.« Der Heilige dachte an das Mittagessen mit Barney Malone vom Clarion zurück und an die Unterhaltung, die sein Interesse an Vargan verstärkt hatte, und es machte ihm keine Schwierigkeiten, Normans Darstellung zu akzeptieren. »Ich werde selber mit ihm reden«, sagte er. Er tat es wenig später. Es war ein heißer, sonniger Nachmittag geworden, und so ließ es sich mühelos einrichten, daß Patricia ihn mit einem Buch auf dem Rasen zubrachte. »Gib deine berühmte Vorstellung als Verkörperung unschuldigen englischen Mädchentums, meine Liebe«, sagte der Heilige. »Jemand, der um diese Jahreszeit und bei diesem Wetter Maidenhead nach einem verdächtig aussehenden Haus absucht und eins findet, das nicht so benutzt wird wie Häuser in Maidenhead in der Regel benutzt werden, wird sich darauf stürzen wie die Katze auf den Bückling. Und du bist nun die einzige von uns, die nicht auffällt – außer Orace. Also mußt du wohl oder übel das Lokalkolorit ganz allein beisteuern. Und halt die Augen auf. Achte auf einen Fettmops, der Kaugummi kaut, denn Claud Eustace dürfen wir nicht verpassen!« Nachdem Patricia hinausgegangen war, schickte der Heilige Roger und Norman ebenfalls fort. Die Anwesenheit der beiden hätte ihm in seiner gegenwärtigen Stimmung die Angelegenheit zu sehr nach einem großen Palaver aussehen lassen. Nur einer wohnte dem Interview als Zeuge bei: Orace, ein gleichmütiger, keine Miene verziehender Wachtposten. Ohne sich auch nur einmal zu rühren stand er neben dem Gefangenen wie ein Kompaniefeldwebel, der einen Delinquenten dem gerichtsprechenden Offizier vorführt.
»Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten?« fragte der Heilige höflich… Er wußte, was er mit seiner Art sich zu geben ausrichten konnte. Er klammerte sich immer noch an die Hoffnung, daß er allein unter Einsatz seiner ganzen Person Erfolg haben könnte, wo Normans Versuch fehlschlug. Aber Vargan schlug die Zigarette aus. In mürrischem Trotz saß er da. »Würden Sie mir bitte verraten, wie lange Sie diese Farce noch weiterzuspielen gedenken?« fragte er. »Sie halten mich nun bereits seit drei Tagen hier fest. Warum?« »Ich glaube, mein Freund hat Ihnen das erklärt«, erwiderte Simon. »Er hat eine Menge Unsinn geredet.« Simon schnitt ihm mit einer knappen Handbewegung das Wort ab. Er stand, und der Professor wirkte neben ihm klein und schwach. Groß und gerade und schlank war der Heilige. »Ich möchte ernsthaft mit Ihnen reden«, sagte er. »Mein Freund hat bereits einmal an Sie appelliert. Ich appelliere nun noch einmal an Sie. Und das wird der letzte Appell sein. Ich appelliere an Sie im Namen dessen, was Ihnen am heiligsten ist. Ich appelliere an Sie im Namen der Menschheit. Im Namen des Weltfriedens.« Vargan funkelte ihn kurzsichtig an. »Eine Unverschämtheit!« erwiderte er. »Ich habe Ihren Vorschlag bereits zur Kenntnis genommen, und ich muß sagen, in meinem ganzen Leben ist mir so etwas Lächerliches noch nicht zu Ohren gekommen. Und das ist meine Antwort.« »Dann«, sagte der Heilige ruhig, »muß ich Ihnen antworten, daß mir in meinem ganzen Leben noch niemals so etwas Verdammenswürdiges begegnet ist wie Ihre Haltung. Oder sind Sie vielleicht doch nur ein Narr, ein großes Kind, das mit dem Feuer spielt?«
»Mein Herr!« Der Heilige schien noch größer zu werden. Es war etwas hochmütig Befehlshaberisches in seiner Haltung, das keinen Widerspruch duldete. Und doch klang seine Stimme, als er zu sprechen fortfuhr, milder und vernünftiger denn je. »Professor Vargan«, sagte er. »Ich habe Sie nicht hierhergebracht, um Sie zu meinem Privatvergnügen zu beleidigen. Ich möchte Sie bitten, einen Augenblick lang die äußeren Umstände zu vergessen und mir zuzuhören als einem ganz gewöhnlichen Menschen, der mit einem ganz gewöhnlichen Menschen spricht. Sie haben die gräßlichste Erfindung gemacht, mit der die Wissenschaft eine Welt zu foltern hofft, die bereits schwer darniederliegt an der Bestialität wissenschaftlicher Kriegsführung. Sie tragen sich mit der Absicht, diese Erfindung an die Hände auszuliefern, die ohne Zögern von ihr Gebrauch machen würden. Können Sie das verantworten? Können Sie das rechtfertigen?« »Die Wissenschaft bedarf nicht der Rechtfertigung.« »Überall in Europa liegen Millionen von Männern begraben, die heute noch leben könnten. Sie wurden in einem Krieg getötet. Wäre dieser Krieg ausgefochten worden, bevor sich die Wissenschaft der Vervollkommnung des Metzeins annahm, wären es statt Millionen nur Tausende gewesen. Und sie wären wenigstens wie Männer gestorben. Bedarf die Wissenschaft keiner Rechtfertigung für die Vergeudung dieser Menschenleben?« »Glauben Sie, Sie könnten den Kriegen ein Ende machen?« »Nein. Ich weiß, daß ich es nicht kann. Aber darum geht es gar nicht. Hören Sie gut zu. In England leben heute Tausende von blinden, verstümmelten, für den Rest ihres Lebens körperlich untauglichen Männern, die sehr wohl gesund sein könnten und unversehrt. Und es leben ebenso viele in Frankreich, Belgien, Deutschland, Österreich. Der Leib, den
Gott gegeben hat, den er wunderbar und unbegreiflich und schön gemacht hat – da ist er zerrissen und zerfetzt von Ihrer Wissenschaft, oft so häßlich verunstaltet, daß die Menschen bei seinem Anblick erschaudern. Bedarf die Wissenschaft keiner Rechtfertigung?« »Das ist nicht meine Sache.« – »Sie machen es zu Ihrer Sache.« Der Heilige hielt einen Augenblick inne, und dann fuhr er fort mit einer Stimme, deren Rede niemand hätte unterbrechen können; mit der leidenschaftlichen Stimme eines Propheten in der Wüste. »Es gibt eine Wissenschaft, die ist zum Guten, und eine Wissenschaft, die ist vom Bösen. Ihre Wissenschaft ist die böse, und alle Segnungen, die die gute Wissenschaft für die Menschheit bereithält, rechtfertigen nicht Ihre böse. Wenn wir schon eine Wissenschaft brauchen, dann soll es eine gute sein. Dann soll es eine Wissenschaft sein, die den Menschen erlaubt, Menschen zu bleiben – selbst dann, wenn sie töten oder getötet werden. Wenn schon Krieg, dann soll es ein heiliger Krieg sein; dann sollen die Menschen mit den Waffen des Menschen und nicht mit denen des Teufels kämpfen. Wir wollen, daß Männer als wackere Streiter, als wahre Helden kämpfen und sterben, so wie Männer zu sterben pflegten, und nicht wie die Tiere verrecken, wie es den Männern in unseren jetzigen Kriegen geschieht.« »Sie sind ein absurder Idealist.« »Ich bin ein absurder Idealist. Aber ich glaube fest, daß alles dies wahr werden muß. Denn wenn es nicht wahr wird, wird die Erde wüst und leer werden. Und ich glaube, daß es wahr werden kann. Ich glaube, daß die Menschen durch die Gnade Gottes eines Tages aufwachen und wieder Menschen sein werden und daß Farbe und Lachen und eine großartige Lebendigkeit in unsere graue Zivilisation zurückkehren. Aber
es wird dies nur wahr werden, weil ein paar Menschen daran glauben und dafür kämpfen; dafür kämpfen gegen alles, was dieses Ideal verhöhnt und ihm grollt. Sie gehören dazu.« »Und Sie sind der letzte Held – und kämpfen gegen mich?« Simon schüttelte den Kopf. »Nicht der letzte Held«, sagte er sachlich. »Vielleicht überhaupt kein Held. Ich nenne mich einen Söldner des Lebens. Ich habe gesündigt, soviel ein Mensch nur sündigen kann, und mehr als die meisten. Aber alles, was ich getan habe, geschah zum Ruhme eines unsichtbaren Ideals. Ich habe dieses Ideal nie ganz genau begriffen, aber nun begreife ich es. Aber Sie… Warum haben Sie mir nicht wenigstens gesagt, daß Sie, was Sie tun wollen, zum Ruhme Ihres Ideals – wenn man so will, zum Ruhme Englands tun wollen?« Phantastischer Eigensinn flammte in Vargans Augen auf. »Weil es nicht stimmen würde«, sagte er. »Die Wissenschaft ist international. Die Ehre des Wissenschaftlers ist international. Ich habe meine Erfindung zuerst England angeboten – das ist alles. Wenn man hier so dumm sein sollte, mir eine Belohnung zu verweigern, werde ich schon ein anderes Land finden.« Er ging näher auf den Heiligen zu, den Kopf zur Seite geneigt, die fahlen Lippen seltsam verkniffen. Und der Heilige sah ein, daß alle seine Worte verschwendet waren. »Jahrelang habe ich wie ein Sklave geschuftet«, schwatzte Vargan. »Jahrelang! Und was hab’ ich dafür bekommen? Ein paar lumpige Buchstaben, die ich hinter meinen Namen setzen darf. Keine Ehre, die jedem sichtbar ist. Kein Geld. Ich bin arm. Ich bin fast verhungert, wie ein Armenhäusler habe ich gelebt, um das Geld zu sparen, das ich für die Weiterführung meiner Arbeit brauchte! Und nun verlangen Sie von mir, daß ich all das aufgeben soll, um dessentwillen ich die besten Jahre meines Lebens geopfert habe; damit Ihre
Sonntagsschulensentimentalität zufriedengestellt wird. Sie sind ein Narr, mein Herr – ein Wahnsinniger!« Der Heilige stand ganz ruhig da, während Vargans knochige Hände eine Handbreit vor seinem Gesicht herumfuchtelten. Seine Unempfindlichkeit machte den Professor wild. »Sie sind mit ihnen im Bunde!« schrie Vargan. »Ich hab’s gewußt! Sie stehen mit den Teufelsbraten im Bunde, die versucht haben, mich nicht hochkommen zu lasen! Aber mich kümmert es nicht. Ich habe keine Angst vor Ihnen. Auch nicht vor dem Schlimmsten. Tun Sie’s doch! Mir ist es ganz gleich, ob Millionen von Menschen sterben. Ich hoffe, daß Sie darunter sind! Wenn ich Sie umbringen könnte!« Plötzlich warf er sich wie ein tollwütiges Tier auf den Heiligen. Er lallte unzusammenhängendes Zeug, schlug um sich, trat. Orace nahm ihn bei der Taille und riß ihn mit Armen wie Eisen in die Höhe, und der Heilige lehnte am Tisch und rieb sich das Schienbein, das er dem Ansturm des Besessenen nicht rasch genug entzogen hatte. »Schließ ihn wieder weg«, sagte der Heilige bedächtig, und er blickte Orace nach, der mit seiner geifernden Last hinausging. Er war gerade mit Telefonieren fertig, als Orace zurückkehrte. »Hol alle Sachen zusammen – von allen«, befahl der Heilige. »Auch deine eigenen. Ich habe einen Lieferwagen bestellt, der wird sie zum Bahnhof bringen. Sie gehen als Vorausgepäck an Mr. Tremayne in Paris. Ich fülle die Anhänger aus. Der Lieferwagen wird um vier Uhr hier sein, du fängst also am besten gleich an.« »Jawohl«, erwiderte Orace gehorsam. Der Heilige lächelte.
»Wir haben gut zusammengearbeitet, oder nicht?« sagte er. »Und nun türme ich aus England mit einer Belohnung auf meinem Kopf. Es tut mir leid, daß wir – das Bündnis lösen müssen.« Orace schnaubte. »Harn Se ja nich anders gewollt«, sagte er mit sehr wenig Mitgefühl. »Hab ich Ihnen nich immer schon gesagt? – Wo wollen Sie hin?« »Weiß der Himmel«, sagte der Heilige. »Da war ich noch nie«, erwiderte Orace. »Wollte immer schomma, hab’ aber nie ‘ne Einladung gekriegt. Ich gehe, wenn Sie gehen, Sir.« Er machte zackig auf dem Absatz kehrt und ging zur Tür. Simon mußte ihn zurückrufen. »Schlag ein, du verfluchter alter Narr«, sagte der Heilige und streckte ihm die Hand hin. »Falls du glaubst, es lohnte sich.« »Lohnen tut es sich nich«, sagte Orace mürrisch. »Aber jemand muß ja für Sie sorgen.« Und dann ging Orace, und der Heilige zündete eine Zigarette an und setzte sich an das offene Fenster und blickte verträumt über den Rasen zu dem sonnenüberfluteten Fluß hinunter. Und er glaubte eine Wolke zu sehen, die sich in violettem Dunst über dem Rasen und dem Fluß und den weißen Häusern und den Feldern dahinter entrollte – eine riesenhafte Wolke, die wie lebendig über das Land hinwegkroch. Und die Wolke sprühte, als blitzten und wirbelten tausendmal tausend violette Feuerfunken darin. Und das Glas schrumpfte zusammen unter dem sengenden Atem der Wolke, und die Bäume wurden schwarz und zerfielen zu heißer Asche, als die Wolke sie umhüllte. Und Menschen rannten vor der Wolke davon: Menschen, die in tödlicher Angst um Atem rangen; Menschen mit bleichen, gehetzten Gesichtern und glasig starrenden
Augen; Menschen… Aber die Wolke kroch schneller, als der schnellste Mensch laufen konnte. Und Simon erinnerte sich an Vargans Raserei. Zwei Zigaretten lang saß er tief in Gedanken da. Und dann setzte er sich hin und schrieb einen Brief. AN CHEFINSPEKTOR TEAL CID NEW SCOTLAND YARD, LONDON, S. W. 1. Mein lieber Claud Eustace! Zunächst einmal möchte ich mich dafür entschuldigen, daß ich Sie und einen Ihrer Männer in Esher angegriffen habe, und auch dafür, daß einer meiner Freunde gestern gar nicht nett mit Ihnen umgegangen ist. Unglücklicherweise erlaubten uns die Umstände in beiden Fällen nicht, auf friedlicherem Wege mit Ihnen fertig zu werden. Die Geschichte, die Roger Conway Ihnen gestern abend erzählt hat, war die reine Wahrheit. Wir befreiten Professor Vargan aus den Händen derer, die ihn als erste entführten – und die, wie Conway Ihnen schon sagte, von dem berühmten Dr. Rayt Marius angeführt wurden –, und brachten ihn in Sicherheit. Wenn Sie diesen Brief erhalten, werden Sie unsere Gründe kennen, und da es mir an der Zeit fehlt, selber ein Rundschreiben an die Presse zu schicken, darf ich wohl hoffen, daß diese Erklärung bei Ihnen in guten Händen ist. Ich habe dem, was Sie bereits wissen, nur wenig hinzuzufügen. Wir haben versucht, mit humanitären Gründen an Vargan zu appellieren. Er will nicht hören. Er denkt nur an die Anerkennung, die seiner Ansicht nach seinem wissenschaftlichen Genie gebührt. Mit Monomanen läßt sich nicht reden. Daher bleibt uns nur noch ein Weg offen.
Wir glauben, daß die Einverleibung dieser diabolischen Erfindung in die Aufrüstung der europäischen Nationen zu einem Zeitpunkt, da Eifersucht und Furcht und Kriegsgerüchte von neuem ihr Haupt erheben, eine Verfeinerung der »Kultur« darstellt, die die Welt durchaus entbehren könnte. Sie werden vielleicht einwenden, daß der ausschließliche Besitz dieser Erfindung Großbritannien eine unangreifbare Machtstellung verschaffen und dadurch möglicherweise den Frieden in Europa erhalten würde. Darauf ist zu antworten, daß sich kein Geheimnis in alle Ewigkeit hüten läßt. Das Schwert hat zwei Schneiden. Und wenn Vargan mir geantwortet hat, die Wissenschaft sei international, dann antworte ich Ihnen, daß auch die Menschlichkeit keine nationalen Grenzen kennt. Wir stellen uns gerne dem Urteil der Geschichte, die urteilt, wenn alle Tatsachen bekannt sind. Aber beim Vollbringen dessen, was wir vollbracht haben, ließ es sich nicht vermeiden, daß Sie herausfanden, wer wir sind. Und das ist, wie Sie begreifen werden, ein nahezu verhängnisvoller Schlag für eine Organisation wie die unsere. Dennoch hoffe ich, eines Tages eine Möglichkeit zu finden, weiterzuwirken an der Aufgabe, die wir uns gestellt haben. Wir bereuen nichts, was wir bisher getan haben. Was wir bereuen, ist jedoch der Umstand, daß wir uns trennen müssen, bevor wir mehr erledigen konnten. Indes glauben wir, daß wir viel Gutes getan haben und daß unser letztes Verbrechen unser allerbestes war. Au revoir! simon templar (›Der Heilige‹) Während Simon schrieb, hatte er Orace mit dem Gepäck hantieren hören, und nun, da er den Brief unterschrieb, trat Orace mit dem Teetablett ein und mit der Nachricht, daß der Lieferwagen abgefahren sei.
Einen Augenblick später kam Patricia zu der Flügeltür herein. Er glaubte sie noch niemals so schlank, so frisch, so lieblich gesehen zu haben. Und als sie zu ihm trat, hob er sie mit einem Arm hoch wie eine Feder. »Siehst du«, lächelte er, als er sie wieder absetzte, »noch gehöre ich nicht zum alten Eisen!« Sie blieb ganz dicht vor ihm stehen, die kühlen goldbraunen Arme um seinen Hals geschlungen, und es verblüffte ihn, daß sie gar nicht recht lächeln wollte. »O Simon«, sagte sie. »Ich lieb’ dich so sehr!« »Liebste«, sagte der Heilige, »das kommt so plötzlich! Wenn ich das geahnt hätte…« Aber dann fiel ihm ein, daß es vielleicht nicht ganz der rechte Augenblick zum Scherzen war. »Mein liebes altes Idiötchen«, sagte der Heilige, »was ist los?« Roger antwortete ihm von hinten über die Schulter. Er hatte unbemerkt den Raum betreten. Mit einer Frage antwortete er. »Hast du mit Vargan gesprochen?« »Ja.« Roger nickte. »Wir haben den Lärm zum Teil mitgekriegt. Was hat er gesagt?« »Er raste und kauderwelschte. Orace hat mich gerettet und ihn weggetragen. Wie eine Wildkatze hat er um sich geschlagen. Vargan ist übergeschnappt, da hat Norman ganz recht. Und der Übergeschnappte hat nein gesagt.« Conway trat ans Fenster und blickte, die Hand zum Schutz gegen die Sonne über den Augen, den Fluß hinauf. Dann drehte er sich zum Zimmer um. »Teal ist unterwegs«, sagte er mit sachlichem Ton. »Seit einer halben Stunde tuckert derselbe eifrige Vogel in einem Motorboot auf dem Fluß auf und ab. Wir haben ihn durchs
Küchenfenster entdeckt, als wir dasaßen und Bier tranken und auf dich warteten.« »Nun, nun, nun«, näselte der Heilige sehr langsam und sehr nachdenklich. »Er hat alles abspioniert mit einem Feldstecher. Pat draußen auf dem Rasen hat ihn möglicherweise etwas unschlüssig gemacht. Ich habe Norman am Ausguck gelassen und schickte Orace aus, Pat zu holen, sobald wir hörten, daß du fertig warst.« Norman Kent kam in diesem Augenblick zur Tür herein, und Simon nahm ihn beim Arm und zog ihn in ihren Kreis. »Unser flinkes Hirn«, sagte der Heilige, »schließt, daß Hermann gepetzt hat, sich aber an die Telefonnummer selber nicht mehr erinnern konnte. Also muß Teal sich in ganz Maidenhead umtun. Dadurch dürften wir weitere ein, zwei Stunden gewinnen; aber das ändert auch nichts an der Tatsache, daß unser Marschbefehl feststeht. Ein sehr leicht zu befolgender Marschbefehl. Euer Gepäck ist bereits unterwegs. Wenn ihr euch nun also nur noch rasch einmal zur Überholung auf eure Zimmer begeben würdet – dann ist alles klar zur Rutschpartie. Auf, auf, ihr müden Seelen!« Er überließ sie den letzten Vorbereitungen und begab sich auf die Suche nach Orace in die Küche. »Hast du deinen Koffer gepackt Orace?« »Jawohl.« »Paß in Ordnung?« »Jawohl.« »Fein. Ich würde dich gern in der Desoutter mitnehmen, leider haben wir keinen Platz. Aber die Polizei ist ja hinter dir nicht her, also wirst du kaum Ärger haben.« »Nein.« Der Heilige entnahm seiner prall gefüllten Brieftasche einen Fünf-Pfund-Schein.
»Um vier Uhr achtundfünfzig geht ein Zug nach London«, sagte er. »Paddington-Bahnhof fünf Uhr vierzig. Zeit genug, all deinen Tanten auf Wiedersehen zu sagen und um acht Uhr zwanzig auf dem Victoria-Bahnhof einen Zug zu erwischen, der dich über Newhaven und Dieppe nach Paris bringt, wo du morgen früh um fünf Uhr dreiundzwanzig eintreffen wirst – Gare St. Lazare. Wenn du nun in London bist, hätte ich gern, daß du dich vorübergehend von deinen Tanten losreißt und ein Telegramm an Mr. Tremayne schickst und ihn bittest, dich auf dem Bahnhof abzuholen und dich vor all diesen wilden französischen Damen zu schützen, von denen du gelesen hast. Wir treffen dich dann bei Mr. Tremayne. – Oh, und diesen Brief könntest du für mich einwerfen.« »Jawohl.« »O.K. Orace. Jetzt hast du gerade noch genügend Zeit, zum Bahnhof zu kommen, ohne daß dir ein Blutgefäß platzt. Bis bald!« Er ging in sein Zimmer, und dort fand er Patricia vor. Simon schloß sie unverzüglich in seine Arme. »Bist du mit dabei – bei unserer Flucht?« fragte er. Sie schmiegte sich dicht an ihn. »Darüber habe ich nachgedacht, als ich aus dem Garten zurückkam«, sagte sie. »Du bist immer solch ein lieber alter abenteuernder Esel gewesen, Simon. Erinnerst du dich noch an Baycombe?« »Und du hast gedacht, ich wolle dich wegschicken.« »Willst du?« »Einstmals hätte ich es wohl gewollt«, erwiderte der Heilige. »In der bösen alten Zeit. Aber jetzt – o Pat, liebes Mädchen, jetzt liebe ich dich viel zu sehr, um selbstlos zu sein. Ich liebe deine Augen und deine Stimme und dein Haar, wenn es wie Gold in der Sonne schimmert. Ich liebe deine Klugheit und dein Verständnis und deine Güte und deinen Mut und dein
Lachen. Ich liebe dich mit jedem Gedanken und in jeder Minute meines Lebens. Ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren. Und ich weiß nicht, wohin wir gehen oder was wir tun werden oder was uns begegnen wird in den nun kommenden Tagen. Aber sollte ich auch niemals mehr finden, als ich bereits besitze – dich nämlich, mein Kind, nur dich – , dann werde ich noch mehr gehabt haben als mein Leben.« »Und ich mehr als meins, Simon. Gott segne dich!« Er lachte. »Das hat er schon getan«, sagte der Heilige. »Du siehst es ja! Und ich weiß, ein Gentleman würde stark sein und schweigen und dich um deiner selbst willen in die Nacht hinausschicken. Aber mir ist’s egal. Ich bin kein Gentleman. Und falls du glaubst, es lohne sich, mit mir zusammen aus England verjagt zu werden…« Ihre Lippen brachten die seinen zum Schweigen, und jedes weitere Wort erübrigte sich. Und in Simon Templars Herz regte sich eine wundersame Dankbarkeit, die auch ein Gebet war.
16
Simon Templar spricht das Urteil,
und Norman Kent holt sein Zigarettenetui
Ein paar Minuten später traf der Heilige im Wohnzimmer wieder mit Roger Conway und Norman Kent zusammen. Er hatte den Hirondel bereits warmlaufen lassen, den Motor überprüft so gut es ging und die Reifen nachgesehen. An Öl fehlte es nicht, und im Tang war genügend Benzin für eine doppelt so lange Fahrt wie die, die ihnen bevorstand. Der Heilige hatte den Wagen mit laufendem Motor draußen auf der Auffahrt stehen lassen und war zurückgekommen, um sich mit der Entscheidung zu befassen, die nun gefällt werden mußte. »Fertig?« fragte Norman ruhig. Simon nickte. Schweigend warf er rasch einen Blick nach draußen von der offenen Flügeltür aus. Dann kam er zurück und stellte sich vor sie hin. »Ich habe nur eine Bemerkung vorwegzuschicken, eine Frage: Wo ist Hänschen-Klein?« Die beiden warteten. »Versetzt euch in seine Lage«, sagte der Heilige. »Ihm stehen nicht die Mittel zur Verfügung, die Teal besitzt, um unsere Fährte aufzuspüren. Aber Teal ist hier; und wo Teal ist, da wird Engelsgesicht nicht fern sein. Denn da Engelsgesicht vermutlich alles andere als ein Dummkopf ist, wird er sich natürlich sagen, daß es das Smarteste ist, hinter Teal her zu sein, wenn Teal hinter uns her ist. So würde ich selber es
machen, und ihr dürft wetten, daß Engelsgesicht, was Geistesblitze angeht, fast genauso flink bei der Hand ist wie wir. Ich erwähne das nur, damit wir es nicht vergessen bei dieser Schlußszene – und weil es uns einen Grund mehr liefert, ein gewisses Problem rasch zu lösen.« Sie wußten, was er meinte, und blickten ihm gerade in die Augen; Roger grimmig, Norman Kent ernst und undurchdringlich. »Vargan will sich der Vernunft nicht beugen«, sagte der Heilige nüchtern. »Ihr habt es selber gehört. Und es gibt für uns keinen anderen Ausweg. Wir können nur eins tun. Ich habe nach anderen Lösungen gesucht, aber ich habe keine gefunden. Ihr sagt vielleicht, es sei kaltblütig. Das ist eine jede Hinrichtung. Aber vom Gesetz wird ein Mann hingerichtet, der einen einzigen Mord begangen hat – das gehört der Geschichte an. Wir richten Vargan hin, um eine Million Morde zu verhüten. Wir haben nicht den geringsten Zweifel, daß er es zu diesen Morden kommen lassen wird, falls wir ihn laufen lassen. Und wir können ihn nicht mitnehmen. Also sage ich, er muß sterben.« »Eine Frage«, warf Norman ein. »Sie ist wohl schon einmal gestellt worden. Wenn wir Vargan beseitigen, einen wie großen Teil der Kriegsgefahr beseitigen wir mit ihm?« »Die Frage ist auch schon einmal beantwortet worden. Ich glaube, Vargan ist die Schlüsselfigur. Aber selbst wenn er es nicht sein sollte, selbst wenn die Maschinerie, die Marius in Gang gesetzt hat, ohne neue Treibstoffzufuhr weiterarbeiten würde, selbst wenn es zum Krieg kommen würde, ich sage: die Waffe, die Vargan geschaffen hat, darf nicht benutzt werden. Man wird uns vielleicht des Verrats an unserem eigenen Land bezichtigen, aber damit müssen wir uns abfinden. Vielleicht gibt es etwas, das noch wichtiger ist, als einen Krieg zu gewinnen. – Folgt ihr mir überhaupt?«
Norman schaute zum Fenster hinaus, und ein wunderlicher Einfall, der ganz und gar nicht passen wollte zu solch einer Zusammenkunft, brachte den Anflug eines Lächelns auf seine Lippen. »Ja«, sagte er. »Es gibt so viel Wichtiges zu bedenken.« Der Heilige wandte sich an Roger Conway. »Und du Roger, was sagst du?« Conway spielte mit einer nicht angezündeten Zigarette. »Wer von uns soll es tun?« fragte er nur. Simon Templar blickte von Roger zu Norman, und er sagte, was er schon immer hatte sagen wollen. »Wenn man uns schnappt«, sagte er, »wird der, der es tut, gehängt. Die anderen kommen vielleicht davon. Ich werde es tun.« Norman Kent erhob sich. »Entschuldigt mich bitte einen Moment«, sagte er. »Mir fällt gerade ein, ich habe mein Zigarettenetui in meinem Zimmer liegen lassen. Ich bin sofort wieder zurück.« Er verließ das Zimmer, und nachdenklich kreuzte er die kleine Diele in Richtung auf eine Tür, die nicht die seine war. Er klopfte und trat ein, und Patricia Holm drehte sich vom Frisiertisch zu ihm um. »Ich bin fertig, Norman. Wird Simon schon ungeduldig?« »Noch nicht«, erwiderte Norman. Er ging auf sie zu und legte ihr beide Hände auf die Schultern. Sie wandte sich um mit einem beginnenden Lächeln um ihren Mund. Aber das Lächeln erstarb, als sie das seltsame Licht tief in Normans dunklen Augen brennen sah. »Liebe Pat«, sagte Norman Kent. »Ich habe mich immer schon nach einer Gelegenheit gesehnt, dir zu dienen. Und nun ist meine Chance gekommen. Du hast gewußt, daß ich dich liebe, ja?«
Sie nahm seine Hand. »Bitte nicht, Norman, bitte! Natürlich habe ich es gewußt. Ich mußte es ja merken. Es tut mir so leid…« Er lächelte. »Warum soll es dir leid tun?« erwiderte er leise. »Ich werde dich niemals behelligen. Ich würde es nicht einmal, wenn du es mir erlaubtest. Simon ist der anständigste Kerl auf der ganzen Welt, und er ist mein bester Freund. Der Gedanke, daß du ihn liebst, wird mich immer glücklich machen. Und ich weiß, wie sehr er dich liebt. Ihr beiden werdet Seite an Seite weiterschreiten, bis die Sterne vom Himmel fallen. Seht zu, daß euch die Herrlichkeit des Lebens erhalten bleibt.« »Was meinst du damit?« fragte sie. Das Licht in Norman Kents Augen hatte etwas von einem großartigen Lachen. »Wir sind alle Fanatiker«, sagte er. »Und vielleicht bin ich der fanatischste von uns allen. Weißt du noch, Pat, daß ich es war, der als erster sagte, der Heilige sei mit Trompetenklang in den Ohren geboren worden?. Das war das Wahrste, das ich jemals gesagt habe. Und er wird weitermachen im Klang der Trompete. Ich weiß es, denn heute habe ich die Trompete selber gehört. Lebe wohl, Patricia.« Bevor sie noch wußte, was geschah, hatte er sich zu ihr hinuntergebeugt und sie flüchtig auf den Mund geküßt. Dann ging er rasch zur Tür, und die Tür schloß sich bereits hinter ihm, da erst fand sie ihre Stimme wieder. Sie saß da und ahnte nicht einmal, was er sagen wollte mit dem meisten von dem, das er ihr gesagt hatte. Von solchen Geheimnissen umgeben konnte sie ihn nicht gehen lassen. Sie rief ihn zurück – eine Patricia, deren Stimme befahl. »Norman!« Augenblicklich kam er zurück, kaum daß sie seinen Namen ausgesprochen hatte. Sein Gesichtsausdruck war irgendwie
verändert. – Mit einem Wink des Fingers gebot er ihr Schweigen. »Was ist denn?« flüsterte sie. »Die letzte Schlacht«, sagte Norman ruhig. »Allerdings ein wenig früher, als wir mit ihr gerechnet haben. Nimm das hier!« Er riß eine kleine Pistole aus ihrem Futteral und warf sie ihr zu. Eine Sekunde später lud er in aller Eile eine schwerere Pistole, die er aus seiner Hosentasche gezogen hatte. Dann öffnete er geräuschlos das Fenster und schaute hinaus. Er winkte sie zu sich heran. Der Hirondel stand wartend weniger als ein Dutzend Schritte entfernt auf der Auffahrt. Norman zeigte auf die Fenstervorhänge. »Versteck dich hier hinter dem Vorhang«, wies er sie an. »Sobald du rasch hintereinander drei Schüsse hörst, rast du zum Wagen hinüber. Schieß jeden nieder, der dich aufzuhalten versucht.« »Aber wo gehst du hin?« »Die Truppen sammeln.« Er lachte lautlos. »Leb wohl, liebes Mädchen!« Er führte ihre Hand an seine Lippen, und weg war er. Leise schloß sich die Tür hinter ihm. Als er das Zimmer das erstemal verlassen hatte, hatte er durch die offene Wohnzimmertür das knappe Kommando »Hände hoch!« gehört – von einer Stimme, die mit Sicherheit weder Roger noch Simon gehörte. Nun hielt er einen Augenblick vor Patricias Tür inne und horchte, und er hörte den unnachahmlich heiteren Ton, dessen Simon Templar sich befleißigte, wenn er in einer bösen Klemme saß. »Sie sind willkommen, sagte die Diva zum Bischof bei besonders glückverheißender Gelegenheit. Aber warum haben Sie Engelsgesicht denn nicht gleich mitgebracht, Süßer?« Norman hörte den letzten Satz, als er die Tür zur Küche öffnete.
Er durchquerte die Küche und öffnete eine weitere Tür. Eine Treppe lag vor ihm, als er das Licht anknipste. Er ging die Treppe hinunter und stand vor einer dritten Tür – einer gewichtigen Tür aus dreizölliger Eiche, die mit zwei schweren Eisenstangen gesichert war. Er hob die Stangen und öffnete die Tür und schloß sie hinter sich wieder ebenso sorgfältig wie die ersten beiden. Die drei Türen müßten genügen, um jeden Laut zu ersticken… »Ich bin gekommen, um Ihre Antwort zu hören, Professor Vargan.« »Ich habe Ihnen meine Antwort gegeben«, sagte er schroff. »Denken Sie noch einmal nach.« Vargan blickte in die Mündung der Pistole, und er entblößte die Zähne wie ein knurrendes Tier. »Sie sind ein Freund meiner Verfolger!« krächzte er, und seine Stimme erhob sich zu einem schrill schluchzenden Schrei, als er Norman Kents Fingerknöchel am Abzug weiß werden sah.
17 Simon Templar tauscht Unverschämtheiten aus, und Gerald Harding schüttelt ihm die Hand
»Wir erwarteten Engelsgesicht«, sagte der Heilige. »Aber eigentlich jetzt noch nicht. Die Blasmusik ist bestellt, die Kameramänner der Wochenschau dampfen heran, die Reporter spitzen im Laufen die Bleistifte, und wir wollten gerade den roten Teppich ausrollen. Sie sehen also, wenn Sie nicht ganz so plötzlich gekommen wären, wäre es ein ganz großer öffentlicher Empfang geworden. Allerdings ohne den Bürgermeister. Der Bürgermeister hatte Sie mit einer sprühenden Ansprache begrüßen wollen, aber er fing selber Feuer, als er sie vorbereitete, so muß er leider den Lustbarkeiten fernbleiben. Dennoch…« Der Heilige stand neben Roger Conway, die Hände wohlweislich hoch in die Luft gehoben. Es befiel ihn der Gedanke, daß sein letztes Abenteuer eigentlich doch nicht sein brillantestes war. Er dachte nicht daran, irgend jemand anderem die Schuld an den verschiedenen Pannen, die ihnen unterlaufen waren, in die Schuhe zu schieben. Er hätte – wäre es seine Art gewesen – Roger die Schuld geben können, denn Rogers brillante Beiträge in Form zweier Schnitzer – »Maidenhead« war ihm entschlüpft und dann auch noch Marius – hätte man sehr wohl zu einem beträchtlichen Teil für die gegenwärtige mißliche Lage verantwortlich machen können. Aber es war eben nicht die Art des Heiligen.
Und hier stand nun ein wahrhaft bewundernswürdiges Exemplar der Familie Schnitzer, ein kolossaler, ein katastrophaler Schnitzer, die Apotheose aller Schnitzer in Gestalt eines frischgesichtigen Jünglings in pludrigen Knickerbockern, der kühl von der Terrasse hereinspaziert war eine halbe Minute, nachdem Norman Kent das Zimmer durch die andere Tür verlassen hatte. So seelenruhig und unverschämt war dies vonstatten gegangen, daß weder Simon noch Roger Gelegenheit fanden, etwas dagegen zu unternehmen. Noch einen Augenblick zuvor hatten sie zum Fenster hinaus in den Garten geschaut, und im nächsten Augenblick hatten sie zum Fenster hinaus in die Mündung einer Pistole geblickt. Man hatte ihnen einfach keine Zeit gelassen. Und was war mit Norman Kent passiert? Rechterdings hätte er inzwischen zurück sein müssen. Rechterdings hätte er blindlings in diesen kleinen Überfall hineingaloppieren müssen – und Patricia aller Wahrscheinlichkeit nach mit ihm. Es sei denn, einer von ihnen hätte den Wortwechsel gehört. Simon hatte bemerkt, daß Norman die Tür nicht hinter sich geschlossen hatte, und darum erhob er absichtlich die Stimme. Wenn Norman und Patricia die Warnung begriffen, bevor der bewaffnete Überfäller sie kommen hörte… »Sie glauben gar nicht«, fuhr Simon leutselig fort, »wie sehr ich mich darauf gefreut habe, meine Bekanntschaft mit Engelsgesicht erneuern zu dürfen. Er ist so hübsch, und ich liebe hübsche Jungens. Überdies glaube ich fest, daß ein paar weitere zwanglose Unterhaltungen uns zu Freunden auf Lebenszeit machen würden. Ich glaube, zwischen uns beiden besteht eine Art Seelenverwandtschaft. Gewiß, bei unseren ersten Zusammenkünften ist es zu ein paar Unannehmlichkeiten gekommen, aber das ist nur zu natürlich, wenn zwei solch starke, ausgeprägte Persönlichkeiten sich zum
erstenmal begegnen. Das müßte sich verlieren. Wir werden uns zueinander hingezogen fühlen. Wir sollten nicht wieder voneinander scheiden, bevor er an meinem Busen geweint und mir ewige Freundschaft gelobt und einen halben Dollar geliehen hat. Aber vielleicht wartet er nur darauf, hier einzutreten, sobald Sie ihm winken, daß alles klar ist?« Der junge Mann mit der Pistole runzelte leicht die Stirn. »Wer ist denn eigentlich dieser Freund von Ihnen, dieses Engelsgesicht?« Der Heilige zog die Augenbrauen hoch. »Sie kennen Engelsgesicht nicht, mein Zuckerjunge?« murmelte er. »Ich war fest überzeugt, es werde sich herausstellen, daß Sie sein Busenfreund sind. Irrtum meinerseits. Wechseln wir also das Thema. Wie geht’s dem guten alten Teal? Lebt er immer noch von Pfefferminz und plagt sich ab mit dem Überfluß seiner knabenhaften Figur? Wissen Sie, ich kann mir nicht helfen, aber er hat bestimmt gedacht, es war sehr ungastlich von uns, ihn ganz allein mit keiner anderen Gesellschaft als Hermann in der Brook Street herumliegen zu lassen in der vergangenen Nacht. Hält er uns jetzt für sehr unhöflich?« »Ich nehme an, Sie sind Templar?« Simon verneigte sich. »Genau richtig geraten, Euer Liebden. Und wie heißen Sie? Adolph Menjou? Oder sind Sie ganz schlicht einer von den starken schweigsamen Männern aus der Musical-Statisterie? Sie wissen schon: Garderobe der Herren von Morris Angel und Gebr. Moss. Frisuren von Marcel. Gesichter vom Zufall. Wie?« »Als Schmierenkomödiant wären Sie eine Sensation«, sagte der junge Mann ruhig. »Als Wahrsager hingegen würden Sie vermutlich einen erfolgreichen Kohlenträger abgeben. Da es
Sie zu interessieren scheint: ich bin Hauptmann Gerald Harding, Britischer Geheimdienst, Agent 2238.« »Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, säuselte der Heilige. »Und das ist Conway?« Simon nickte. »Schon wieder richtig, mein Junge. Sie sind wahrhaftig ein Gottesgeschenk in dieser so dämlichen Welt. Sag, was du zu sagen hast, Roger, und halte nichts zurück, der kleine Bertie läßt sich nicht beschwindeln. Würde mich nicht einmal wundern, wenn er wüßte, wo du dir deinen Abendanzug geliehen hast.« »An derselben Stelle, an der er sich das Muster in die Hose tätowieren lassen hat«, sagte Roger. »Schneidig, was? Muß man es von links nach rechts oder von unten nach oben lesen?« Harding lehnte mit einer Schulter an der Wand und betrachtete seinen Fang mit einer gewissen widerstrebenden Bewunderung. »Ihr seid ein Paar hartgesottener Clowns«, gestand er ihnen zu. »Berufsmäßig«, sagte der Heilige, »treten wir jeden Abend zweimal vor ausverkauftem Hause auf, und die Menge klatscht begeistert in die Hände. Dabei fällt mir ein: Könnten wir nicht unsere Hände wieder herunternehmen? Ich möchte nicht, daß Sie nervös werden, aber diese Haltung ist ziemlich ermüdend und schlecht für den Kreislauf. Sie dürfen sich zuerst unserer Artillerie bemächtigen – in gewohnter Weise, wenn es Ihnen beliebt.« »Nur wenn Sie brav sind«, sagte Harding. »Drehen Sie sich um. Beide!« »Mit Vergnügen«, murmelte der Heilige. »Und vielen Dank.« Harding trat hinter sie und nahm ihnen die Pistolen ab. Dann ging er wieder zurück.
»Gut, aber wehe, ihr macht Quatsch!« »Wir machen niemals Quatsch«, erwiderte Simon mit Würde. Er langte sich eine Zigarette aus dem Kistchen auf dem Tisch und zündete sie seelenruhig an. Dem äußeren Anschein nach war er vollkommen gelassen; seit Hardings Eintreffen schon schien er die Ruhe selber. Aber das war lediglich die Haltung, die er gewohnheitsgemäß einnahm, wenn sich ein besonders böser Sturm zusammenbraute. Aufregung sparte der Heilige sich für die Freizeit auf. Er konnte selbst im dicksten Schlamassel gemütvolle Nonchalance zur Schau tragen, was schon manch einen vor Harding verwirrt und verdutzt hatte. Es war immer das gleiche: diese gelangweilte Miene der Gleichgültigkeit und dazu das muntere Dahinplätschern nichtsnutzigen Gespöttels, das mühelos der bloßen Oberfläche seines Hirns entquoll, ohne den konzentrierten Denkprozeß zu stören, den es verbergen sollte. Je ernster irgendeine Sache war, desto überschwenglicher weigerte sich der Heilige, sie ernst zu nehmen. Und daher war er immer dem Mann, der ihn in der Hand zu haben glaubte, um ein geringes voraus. Denn Simons herausfordernde Selbstsicherheit wirkte so echt, daß nur ein geradezu selbstmörderisch zuversichtlicher Gegner nicht von einem bohrenden Unbehagen heimgesucht wurde. Nur ein Narr oder ein Genie würde nicht flugs schließen, daß solch abgeklärte Unbekümmertheit sich auf einen in ihrem leichtfertigen Ärmel versteckten sehr hohen Trumpf gründen mußte. Und sehr oft hatte der Mann, der weder ein Narr noch ein Genie war, recht. Aber in diesem Augenblick war die Karte im Ärmel eine sehr gewöhnliche Karte. Der Heilige, der insgeheim jeden Aspekt der Unterbrechung mit furioser Aufmerksamkeit bedachte, fand immer noch nichts, das sich seiner ersten Beurteilung der
Lage hätte hinzufügen lassen. Norman Kent war und blieb die einzige verborgene Karte. Inzwischen mußte Norman wissen, was geschehen war. Andernfalls hätte er längst mit ihnen in derselben Patsche gesteckt und nach der Decke gegriffen, während ein Jüngling in pludrigen Knickerbockern mit seiner Webley fuchtelte. Und wenn Norman Kent Bescheid wußte, dann wußte auch Patricia Bescheid. Die Frage war demnach – was würden sie aller Wahrscheinlichkeit nach tun? Und wie konnte dann Simon Templar, ohne jede Verbindung zu ihnen und machtlos angesichts der drohenden Pistole, ihren vermutlichen Aktionsplan erraten und seinen Beitrag dazu leisten? Das war des Heiligen Problem: die übliche Strategie auf den Kopf zu stellen und sich nicht in die Lage des Gegners, sonder in die des Freundes zu versetzen. Und unterdessen mußte Harding unterhalten werden. »Sie sind ein kluges Kind«, sagte der Heilige. »Darf ich fragen, wie es kommt, daß Sie Teals Arbeit erledigen?« »In einem Fall wie diesem arbeiten wir mit der Polizei zusammen«, erwiderte Harding grimmig, »aber es macht uns nichts aus, ihr zuvorzukommen. Teal und ich sind unabhängig voneinander losgespurt; er hier herum, ich da herum, und es sieht so aus, als hätte ich es als erster geschafft. Ich sah Ihr Auto draußen vor dem Haus und kam schnurstracks zur Tür herein.« »Sie verdienen einen Orden«, erwiderte der Heilige gefaßt. »Bei mir ist in dieser Beziehung leider nichts zu holen, aber ich werde eine Empfehlung ans Kriegsministerium schreiben, wenn Sie glauben, das könne etwas nützen.« Harding griente und strich sich das borstige Haar glatt. »Sie haben Nerven!« sagte er. »Und Sie erst!« gab der Heilige zurück. »Ohne Zweifel waren Sie einmal ein guter Mann, aber Sie sind auf die schiefe
Bahn geraten. Sie hätten einer von uns sein sollen. Ich hab’ eine Stelle frei für Sie, falls Sie einsteigen wollen. Vielleicht möchten Sie gerne mein Heiligenschein sein?« »Sie sind also tatsächlich der Heilige!« fuhr Harding auf. Simon senkte die Lider, und seine Lippen zuckten. »Touché! Aber natürlich: ganz genau haben Sie das nicht gewußt. Aber Sie haben die Anspielung ganz schön fix verstanden. Sie sind wirklich ein helles Licht, Sonny Boy, ich werde es der scheeläugigen Welt verkünden.« »Das war nicht weiter schwierig. Teal hat jedem erzählt, er werde seinen Hut fressen, wenn sich herausstellen sollte, daß die Geschichte mit Vargan nicht Ihre Nummer war. Er sagte, er kenne Ihre Arbeit zu gut, um sich zu irren, selbst wenn sie nicht wie gewohnt abgezeichnet sei.« Simon nickte. »Welchen seiner Hüte hätte Teal wohl gefressen?« murmelte er. »Den Zylinder, den er trägt, wenn er als Gentleman verkleidet durch die Nachtklubs geht, oder die Melone mit dem Bierfleck? Oder hat er noch einen Hut? Falls ja, dann hab ich ihn noch nie gesehen. Es ist dies ein sehr fesselnder Gedanke…« Und der Heilige hob die Augen zur Decke auf, als fasziniere ihn der Gedanke wirklich. Aber der Heilige dachte: Wenn Bertie und Teal die Köpfe zusammengesteckt haben, dann muß Bertie wissen, daß wahrscheinlich noch ein dritter Mann im Haus ist. Ein Mann überdies, der sich bereits als sehr geschickt mit der Streitaxt erwiesen hatte. Warum hatte Bertie ihn wohl nicht erwähnt? Könnte es sein, daß Bertie, unser heller, Flink-wie-der-WindBertie, in einem Augenblick geistiger Verwirrung Norman vergessen hatte?
Und der Heilige sagte laut: »Wie dem auch sei: noch einmal zu der Stellung als Heiligenschein. Was halten Sie davon?« »Tut mir leid, alter Junge.« »Nicht doch«, seufzte der Heilige. »Sie sollen sich nicht entschuldigen! Was können wir sonst noch für Sie tun? Sie scheinen es erreicht zu haben, daß alles nach Ihrem Willen läuft, also werden wir versuchen, Sie zufriedenzustellen. Was soll es sein?« »Ja. Sieht so aus, als hätte ich Sie ziemlich leicht aufgetan.« Damit war die raffiniert versteckte Frage beantwortet. Es stimmte. Norman Kent, der im Augenblick aus dem Auge war, war im Augenblick auch aus dem Sinn. Eine flüchtige Sekunde lang begegnete der Heilige Roger Conways Blick. Dann: »Was machen wir jetzt?« fragte der Heilige liebenswürdig. »Uns ergeben?« Der junge Mann zog sich zum Fenster zurück und blickte hinaus. Simon machte einen Schritt auf ihn zu – verstohlen – , aber der Abstand zwischen ihnen war unangenehm, und Harding hatte den Blick nur einen kurzen Moment abgewandt. Dann drehte Harding sich wieder um, und der Heilige suchte sich heiter eine weitere Zigarette aus. »Haben Sie Vargan hier?« Der Heilige blickte auf. »Ah!« sagte der Heilige vorsichtig. Harding preßte die Lippen aufeinander. In den wenigen Minuten ihrer Begegnung hatte Simon Templar bereits Zeit gefunden, eine gescheite Tüchtigkeit an dem jüngeren Mann wahrzunehmen, die den ersten Eindruck großer Jugendlichkeit Lügen strafte; eine mit einem angenehmen Sinn für Humor gepaarte Tüchtigkeit, ganz nach dem Herzen des Heiligen. In diesem Augenblick machte sich der Sinn für Humor nicht sonderlich bemerkbar, aber all die
tüchtige Gescheitheit war da und dazu eine gewisse grimmige Entschlossenheit. »Ich weiß nicht, warum Sie Vargan entführt haben«, sagte er. »Trotz allem, was wir über Ihre allgemeinen Ansichten wissen, bleibt uns das ein Rätsel. Für wen arbeiten Sie?« »Für uns selber«, antwortete der Heilige. »Sie müssen nämlich wissen, unser Rasen sieht schandbar aus, und keins der vielen Unkrautvertilgungsmittel will recht anschlagen, da haben wir gedacht, vielleicht versuchen wir es mit Vargans Elektro-Ausrotter!« »Im Ernst, bitte!« Simon blickte ihn an. »Wenn Sie es im Ernst wissen möchten«, sagte der Heilige, und er sagte es sehr ernsthaft, »wir haben Vargan entführt, damit seine Erfindung im Krieg nicht benutzt werden kann. Und dieser Beschluß besteht auch jetzt noch.« »Das war Teals Theorie.« »Der gute alte Teal! Der Mann ist wunderbar, finden Sie nicht? Aufs i-Tüpfelchen wie so ein verflixter Detektiv in einem Geschichtenbuch. Ja, darum haben wir Vargan an uns genommen. Teal wird morgen früh einen Brief von mir haben, in dem alles ausführlich dargelegt ist.« »Irgend etwas vom Dienst an der Menschheit vermutlich?« »Richtig«, erwiderte der Heilige. »Und damit machen wir Engelsgesicht eine lange Nase, denn ihm steht der Sinn weiß Gott nicht nach dem Dienst an der Menschheit!« Harding schaute verwirrt drein. »Dieser Mann, von dem Sie immer wieder reden, Engelsgesicht…« »Hänschen-Klein«, erläuterte Simon. Dem anderen begann es zu dämmern. »Ein Mann wie ein zu groß gewachsener Gorilla, mit dazu passendem Gesicht?«
»Wie wunderbar Sie das ausgedrückt haben, alter Freund! Fast mit denselben Worten, die ich selber gebraucht habe. Wissen Sie…« »Marius!« unterbrach Harding ihn scharf. Der Heilige nickte. »Klingt bekannt«, sagte er. »Aber Sie überraschen mich nicht. Wir haben es gewußt.« »Wir dachten uns schon, daß Marius dabei die Hand im Spiel hatte.« »Wir hätten es Ihnen sagen können.« Harding kniff die Augen zusammen. »Was wissen Sie sonst noch alles?« fragte er. »Oh, eine ganze Menge«, erwiderte der Heilige freundlich. »In meinen brillanteren Augenblicken liefere ich Teal auf mancher Bahn ein hartes Rennen. Zum Beispiel stehe ich nicht an, mein zweitbestes Paar Stiefeletten darauf zu wetten, daß Ihnen heute – einer von Marius’ Leuten nachgestiegen ist. Aber das ist Ihnen vielleicht nicht aufgefallen.« »O ja!« Hardings Pistole war immer noch kühl und ohne zu wanken auf den Magen des Heiligen gerichtet. Das ganze Interview hindurch hatte sie so verharrt, von den Augenblicken abgesehen, in denen sie zu Roger hin abgeschwenkt war. Aber nun schien die Hand, die sie hielt, noch ein wenig steter, noch ein wenig nachdrücklicher. Der Unterschied war kaum wahrnehmbar, aber so etwas entging dem Heiligen nie. Er übersetzte sich die Bedeutung, wie er sie verstand, und als er den Blick von neuem auf Hardings Gesicht richtete, fand er seine Deutung bestätigt. »Ich habe meinen Schatten etwa zwei Kilometer weiter unten abgeschüttelt«, sagte Harding. »Ich wäre allerdings kaum allein hier eingestiegen, ohne auf Verstärkung zu warten, wenn ich nicht gemerkt hätte, daß sich jemand eine verdammte
Portion zu viel für mich interessierte. Und aus demselben Grunde wünsche ich auf der Stelle Vargan!« Der Heilige lehnte sich anmutig an den Tisch und blies zwei Rauchringe von nicht zu übertreffender Vollkommenheit. »Tat-säch-lich?« »Tatsächlich«, erwiderte Harding kurz. »Ich gebe Ihnen zwei Minuten, es sich zu überlegen.« »Und sonst?« »Fange ich an, Löcher in Sie hineinzuschießen. Arme, Beine… Ich bin sicher, Sie werden mir sagen, was ich wissen will, ohne daß ich sehr weit gehen muß.« Simon schüttelte den Kopf. »Es ist Ihnen vielleicht noch nicht aufgefallen«, sagte er, »aber ich leide an einer Sprachhemmung. Ich bin sehr empfindlich, und wenn mich jemand unfreundlich behandelt, wird die Hemmung schlimmer. Sollten Sie sich dazu hinreißen lassen, auf mich zu schießen, würde ich so entsetzlich zu stottern anfangen, daß ich eine halbe Stunde brauchte, um das erste v-v-v-verdammt herauszubringen, von der Beantwortung irgendwelcher Fragen ganz zu schweigen.« »Und«, sagte Harding unnachgiebig, »Ihren Freund werde ich genauso behandeln.« Der Heilige lächelte Roger Conway zu. »Du würdest dir kein Wort entlocken lassen, nicht wahr, alter Freund?« »Soll er es nur versuchen!« antwortete Conway verächtlich. Simon drehte sich wieder zu Harding um. »Im Ernst, Algernon«, sagte er ruhig, »nichts würde dabei herauskommen. Und das wissen Sie auch.« »Wir werden sehen«, erwiderte Harding.
Das Telefon stand auf einem kleinen Tischchen neben dem Fenster. Die Pistole unverwandt auf den Heiligen und Conway gerichtet, nahm Harding den Hörer ab. »Hallo, Hallo – Hallo!« Harding blickte auf seine Armbanduhr und trommelte auf der Hörergabel. »Schon fünfzehn Sekunden. Zum Teufel mit der Vermittlung! Hallo! Hallo!« Dann hörte er einen Augenblick schweigend zu, und danach legte er den Hörer sorgfältig wieder auf. Er richtete sich auf, und der Heilige las alles in seinem Gesicht. »Sie waren noch mit einem anderen Mann zusammen«, sagte Harding. »Nun fällt es mir wieder ein. Ist er hier?« »Ist die Leitung tot?« »Wie Schweinefleisch.« »Niemand in diesem Haus würde die Telefonleitung durchschneiden«, sagte Simon. »Darauf haben Sie mein Wort.« Harding blickte ihm gerade ins Gesicht. »Wenn das stimmt…« »Es kann nur Marius gewesen sein«, sagte der Heilige langsam. »Vielleicht hat sich der Mann, der Ihnen gefolgt ist, doch nicht so leicht abschütteln lassen.« Roger Conway schaute unterdessen zum Fenster hinaus, von dem er den Rasen und den Fluß am Ende des Gartens sehen konnte. Hinter dem Motorboot des Heiligen fuhr mitten auf dem Fluß ein anderes Motorboot, in dem er Teal gesehen hatte. Roger glaubte zu bemerken, daß die beiden Männer in dem zweiten Motorboot angestrengt zu dem Bungalow herüberschauten, aber ganz sicher war er nicht. »Natürlich«, stimmte er zu. »Es kann Marius gewesen sein.« In diesem Augenblick hatte der Heilige seine Eingebung. Sie ließ ihn mit einem plötzlichen Ruck aufspringen.
»Harding!« Simon rief den Namen in einem Ton, der jeden hätte zusammenzucken lassen. Harding fuhr auf der Stelle herum. Er hatte durch ein Fenster geschaut, zur Sicherheit einen Tisch zwischen sich und dem Heiligen, um herauszufinden, was Conway da draußen sah. Aber die ganze Zeit über hatte er die Flügeltür fest im Auge behalten. Simon hatte das im Augenblick seiner Eingebung bemerkt und begriffen. Norman war nicht vergessen worden. Aber Harding gab zu, daß er allein gekommen war, und mußte nun aus schlechter Arbeit das Beste herausholen. Er mußte die beiden Gefangenen, die er bereits gemacht hatte, weiterhin in Schach halten und warten und hoffen, daß der dritte Mann ahnungslos vor seine Pistole stolperte. Und solange ein Teil von Hardings Wachsamkeit diesem Warten und Hoffen gewidmet war, waren Norman die Hände gebunden. Nun aber… »Was gibt’s?« fragte Harding. Er starrte den Heiligen an, und den Rücken hatte er geradewegs der Flügeltür hinter sich zugewandt. Aus der anderen Ecke des Zimmers blickte Roger Conway ebenfalls verwirrt und überrascht zu dem Heiligen hinüber. Nur der Heilige sah Norman Kent hinter Harding durch die Flügeltür eintreten. Aber Harding fühlte und verstand den eisernen Griff, der sich um seine Schußhand schraubte, und das stumpfe harte Etwas, das sich ihm ins Kreuz bohrte. »Machen Sie keinen Unfug«, legte Norman Kent ihm nahe. »Gut.« Das Wort kam bitter von den Lippen des jungen Mannes nach einem Augenblick verzweifelten Zögerns. Grollend öffnete er die Hand und gab die Pistole frei, und der Heilige schnappte sie behende vom Teppich auf. »Und unsere Blasrohre bitte«, sagte Simon.
Er nahm Harding die beiden Schnellfeuerpistolen aus der Tasche, gab eine an Roger zurück, und ging mit einer Pistole in jeder Hand rückwärts zum Tisch zurück. »Wieder genauso wie in dem lieben alten Geschichtenbuch«, meinte er. »Da stehen wir also – alle bis an die Zähne bewaffnet. Sieht hier aus wie in einem Arsenal, und wir alle fühlen uns ganz zu Hause. Komm her und sei nett, Archibald. Wir tragen nichts nach. – Norman, hättest du lieber einen faulen Scheck oder einen Sack Nüsse für deine Vorstellung?« »Ich wunderte mich schon, wie lange ich wohl noch warten müßte, bis du Verwirrung anzetteln würdest.« »Ich bin so langsam heute wie ein Güterzug«, sagte der Heilige. »Weiß gar nicht, was mit mir los ist. Aber Ende gut, alles gut, wie die Diva zu sagen pflegte, und…« »Ist alles gut?« fragte Norman nüchtern. Simon zog eine Augenbraue hoch. »Warum?« »Ich hab’ euch über das Telefon reden hören. Du hast recht. Ich hab’ die Leitung nicht durchgeschnitten. Hab’ nicht daran gedacht. Und wenn die Leitung tatsächlich tot ist…« Er beendete den Satz nicht. Niemand hörte den Laut, der ihn unterbrach. Ein schwaches Geräusch mußte es gegeben haben, aber es ging draußen an der freien Luft verloren. Aber alle sahen Normans Gesicht sich plötzlich verzerren und weiß werden, und sie sahen ihn taumeln und in die Knie sacken. »Von der Tür weg!« Norman hatte blitzschnell begriffen, und er stieß die Warnung aus mit einem vor Schmerz weit aufgerissenen Mund. Aber der Heilige achtete nicht darauf. Er sprang auf Norman zu und fing ihn unter den Armen auf, und er schleifte ihn in Deckung, als eine zweite Kugel den Türrahmen eine knappe Handbreit neben ihren Köpfen zersplitterte. »Sie sind da!«
Harding stand leichtfertig und ohne jeden Schutz da; er kümmerte sich nicht um das, was die taten, die ihn gefangengenommen hatten. Der Heilige fuhr ihn im Befehlston an, er möge doch gefälligst Deckung nehmen, aber Harding rührte sich nicht. Roger Conway mußte ihn geradezu beim Genick aus der Gefahrenzone zerren. Simon hatte ein Sofa von seinem Platz an der Wand weggerückt und es über drei Viertel der Terrassentüröffnung geschoben. Und er lag dahinter und spähte mit den Pistolen in der Hand zur Straße hinüber. Hinter der Hecke rührte sich nichts. Er feuerte zweimal aufs Geratewohl, konnte aber nicht feststellen, wieviel Schaden er angerichtet hatte. Das alte heiligmäßige Lächeln spielte dem Heiligen wieder um die Lippen, und das alte heiligmäßige Licht blitzte ihm aus den Augen. Gegen Harding – das hätte ihm keinen Spaß gemacht. Gegen Teal – falls Teal da draußen wäre – würde es ihm auch keinen rechten Spaß machen. Aber das da draußen war ganz gewiß nicht Teal. Weder Chefinspektor Teal noch irgendeiner seiner Leute hätten ohne den vorhergehenden Versuch von Friedensverhandlungen solch eine Schießerei mit gedämpften Pistolen begonnen. Unter den Darstellern dieses Stückes befand sich nur einer, von dem man annehmen durfte, daß er sich so aufführte, und gegen ihn anzugehen bereitete dem Heiligen weiß Gott ein Mordsvergnügen. Er konnte sich nicht mit Herz und Seele in einen Kampf gegen Männer wie Harding und Teal stürzen, die er unter anderen Umständen gerne zu seinen Freunden gezählt hätte. Marius jedoch war ein ganz anderer Fall. In der Fehde mit Marius ging es um einiges mehr als um Unterschiede der Auffassung und den Buchstaben des Gesetzes. Sie war persönlich, auf Leben und Tod, wie ein Schlag ins Gesicht oder ein hingeworfener Handschuh. Simon spähte hinaus, und dann feuerte er erneut. Diesmal antwortete ihm ein Schrei, und zur weiteren Erwiderung
zischte eine Kugel an seinem Ohr vorbei, und eine andere bohrte sich zwei Finger breit neben seinem Kopf in die Polsterung des Sofas. Und das Lächeln des Heiligen wurde zu einem durch und durch seligen. »Wie Krieg!« sagte der Heilige glücklich. »Es ist Krieg!« gab Harding ihm zurück. »Haben Sie das noch nicht gemerkt?« Roger Conway kniete neben Norman Kent und schnitt ihm das eine Hosenbein auf, auf dem ein dunkler Fleck sich rasch vergrößerte. »Wie meinen Sie das?« fragte der Heilige. Harding ging einen Schritt zurück. »Haben Sie es nicht begriffen? Sie schienen so viel zu wissen. Aber das zu erfahren hatten Sie vermutlich noch keine Gelegenheit. Es müßte allerdings eigentlich in den Nachmittagsausgaben der Zeitungen bekanntgemacht worden sein, und viele Leute wußten gestern abend schon davon. Unser Ultimatum ist heute mittag überreicht worden, und sie haben bis morgen mittag Zeit zum Antworten.« »Welches Land? Und was steht in dem Ultimatum?« Harding sagte es ihm. Der Heilige war nicht sonderlich überrascht. Er hatte nicht umsonst so emsig zwischen den Zeilen der Zeitungen gelesen. »Natürlich ist das Ganze ein einziger Unsinn, wie alles andere, um dessentwillen jemals ein Land dem anderen ein Ultimatum geschickt hat«, sagte Harding. »Wir haben es so lange hinausgeschoben, wie wir konnten, aber sie haben uns keine Wahl gelassen. Sie wollen den Streit und sind entschlossen, sich ihn zu verschaffen. Die halbe Regierung kann es immer noch nicht begreifen, man ist der Ansicht, daß unsere Freunde doch so dumm nicht sein könnten. Pure Säbelrasselei, sagt man. Die Regierung glaubte, der Lärm
werde mit der Zeit schon wieder verstummen. Statt dessen ist er immer schlimmer geworden.« Dem Heiligen fiel ein Satz aus dem Brief ein, den er Marius abgenommen hatte: »Kann diesmal nicht schiefgehen…« Und er verstand wohl, daß ein einziges Wort eines Mannes wie Marius mit all der Macht, die er darstellte, hinter sich ausreichen konnte, um König und Räte in ihren Beschlüssen wankend zu machen. Ohne die Augen von der Straße zu lassen, fragte der Heilige: »Wie viele Leute haben eine Theorie über die Gründe für das Säbelrasseln?« »Mein Chef und noch eine Handvoll anderer Männer«, sagte Harding. »Wir wußten, daß Marius seine Hand im Spiel hatte, und Marius ist gleichbedeutend mit dem Großkapital. Aber was hat es für einen Zweck, einfachen Leuten das zu erklären? Sie würden es nicht verstehen. Außerdem hatte unsere Theorie immer noch eine Lücke, die wir einfach nicht schließen konnten – bis zu dem Zwischenfall in Esher am Sonnabend. Dann wußten wir Bescheid.« »Genauso habe ich es mir auch zurechtgelegt«, sagte der Heilige. »Alles entscheidet sich hier«, sagte Harding ruhig. »Wenn Marius ihnen Vargan beschafft, ist der Krieg da.« Simon hob eine seiner beiden Pistolen, ließ sie aber wieder sinken, da sein Ziel sich geduckt hatte. »Warum haben Sie mir das alles erzählt?« fragte er. »Weil Sie auf unserer Seite sein sollten«, sagte Harding mit fester Stimme. »Mir ist es gleich, wer Sie sind. Mir ist es gleich, für was Sie arbeiten und was Sie bisher getan haben. Aber Marius ist hier, und Sie können nicht mit Marius halten. Also!« »Da schwenkt einer die weiße Fahne«, sagte der Heilige.
Er stand auf, und Harding trat neben ihn. Hinter der Hecke hatte sich ein Mann erhoben und winkte mit einem Taschentuch. Dann sah Simon, daß es auf der Straße hinter der Hecke von Männern wimmelte. »Wozu raten Sie?« fragte er. »Mit ihnen reden!« stieß Harding hervor. »Anhören, was sie zu sagen haben. Hinterher können wir immer noch kämpfen. Sie werden auf jeden Fall kämpfen! Templar…« Der Heilige machte ein Zeichen, und er sah einen Mann sich erheben, der hinter der Hecke gekauert hatte, und alleine die Auffahrt heraufkommen. Einen wahren Riesen. »Engelsgesicht selber!« murmelte Simon. Er drehte sich mit einem Ruck um, die Hände in die Hüften gestemmt. »Ich nehme Ihr Argument zur Kenntnis, Harding«, sagte er. »Es ist gut. Aber ich ziehe mein eigenes vor. Wie die Dinge nun einmal liegen, werden Sie sich leider damit abfinden müssen. Und ich möchte jetzt ganz schnell Ihre Antwort hören. Das Angebot, das ich Ihnen gemacht habe, halte ich aufrecht. Schlagen Sie sich zu uns, solange wie das hier dauert, oder muß ich Sie alleine da hinausschicken? Es wäre mir gar nicht lieb, aber falls Sie nicht für uns sind…« »Das ist es ja nicht«, sagte Harding standhaft. »Ich bin hierher geschickt worden, um Vargan aufzuspüren, und ich glaube, ich habe ihn gefunden. Was das betrifft, kann es zwischen uns keinen Frieden geben. Das werden Sie verstehen. Aber das andere – was bleibt mir da weiter übrig? Wir stimmen darin überein, daß Marius Vargan nicht in die Finger bekommen darf, wenn wir auch in allen anderen Punkten verschiedener Meinung sind. Also, solange wir gegen Marius kämpfen.« »Ein Waffenstillstand?«
Der Jüngere zuckte mit den Achseln. Dann streckte er die Hand aus. »Auf daß wir denen die Hölle heißmachen!« sagte er.
18
Simon Templar empfängt Marius, und der
Kronprinz erinnert sich einer Verpflichtung
Einen Augenblick später kniete der Heilige neben Norman Kent und untersuchte mit Kennerblick die Wunde. Norman versuchte, ihn davon abzuhalten. »Pat«, flüsterte er. »Sie hält sich in deinem Zimmer versteckt.« Simon nickte. »Gut. Da ist sie fürs erste sicher. Und es ist mir sehr lieb, wenn sie aus dem Wege ist, solange Hänschen-Klein noch hier herumkrabbelt. Nun wollen wir erst einmal sehen, was wir für dich tun können.« Er fuhr mit der Untersuchung fort. Die Einschußstelle lag eine Handbreit über dem Knie, und sie war viel größer, als die Einschußstelle selbst einer großkalibrigen Schnellfeuerpistole hätte sein sollen. Ein Ausgang war nicht zu sehen, und Norman stieß ohne es zu wollen einen lauten Schmerzensschrei aus, als der Heilige in die Wunde hineinfühlte. »Das wär’s, Sonny Boy«, sagte der Heilige, und Norman löste die Zähne von den Lippen. »Der Knochen ist zerschlagen, oder?« Simon zog seine Jacke aus und riß einen Ärmel seines Hemdes ab, um ihn als Notverband zu benutzen. »In lauter Stücke, Norman, alter Junge«, sagte er. »Die Schweine schießen mit Dum-dum. – Einen großen Whisky, Roger. Das ist eine Tröstung für dich, Norman, alter Krieger.«
»Immerhin etwas«, antwortete Norman rauh. Sonst verlor er kein Wort darüber, aber eins verstand er sehr genau. Niemand kann sehr weit oder sehr schnell laufen mit einem von einer abgeflachten Kugel zerschmetterten Oberschenkelknochen. Seltsamerweise bekümmerte es Norman nicht. Dankbar trank er den Whisky, den man ihm reichte, und er fügte sich gleichmütig den Handreichungen, die der Heilige vornahm. Norman Kents bleiches Gesicht strahlte eine wundersame Ruhe aus. Simon Templar begriff ebenfalls, was diese Wunde bedeutete. Aber er betrachtete sie anders als Norman. Er wußte, daß Marius in der offenen Tür stand, aber er blickte nicht auf, bevor er mit geübten Händen, die so zart sein konnten wie die einer Frau, den behelfsmäßigen Verband fertig angelegt hatte. Er brauchte Zeit, um mit scharfem Nachdenken zu beginnen, ehe er Marius köderte. Wenn der Denkprozeß einmal angekurbelt war, würde er von selber unter der schäumenden Oberfläche der Herausforderungen und Unverschämtheiten weiterlaufen, aber der Heilige brauchte auf jeden Fall zunächst einmal einen guten Überblick über die hervorstechenden Züge der Situation. Und verdammt ekelhafte Züge waren das. Patricia war im Haus und verdarb ihm den Stil, Norman Kent war kampfunfähig; dann der britische Geheimdienst, vertreten durch Hauptmann Gerald Harding, ein Gefangener innerhalb der Festung, auf sehr fragwürdiges Ehrenwort hin freigelassen; und Chefinspektor Teal kämmte die Gegend durch und konnte jeden Augenblick den Schauplatz betreten; und Rayt Marius hatte den Bungalow umzingelt mit einem jungen Armeekorps, das bereits zur Genüge bewiesen hatte, daß man es nicht etwa nur rasch in Maidenhead zusammengetrommelt hatte für eine
Sonntagnachmittagskeilerei. Nun, selbst ein solch optimistischer Mensch wie der Heilige mußte sich allmählich eingestehen, daß die Affäre entschieden unangenehm auszusehen begann. Der Heilige hatte sich des öfteren mit innigem Vergnügen einen berufsmäßigen Jäger nach Unannehmlichkeiten genannt. Er erinnerte sich nun dieser reizenden Tolldreistigkeit und fragte sich, ob er wohl geahnt hatte, daß sein Wunsch auf solche überreiche Weise in Erfüllung gehen würde. Er erhob sich schließlich, während diese Meditationen in die undurchdringliche Tiefe seiner Überlegungen zurücksanken; und sein Gesicht war nie milder gewesen. »Guten Tag, mein Kleiner«, sagte er leise. »Ich habe mich schon sehr darauf gefreut, Sie wiederzusehen. Seit achtundvierzig Stunden ist mein Leben sehr leer, weil Sie mir fehlten. Aber davon wollen wir nicht mehr sprechen.« Der Riese neigte den Kopf. »Sie kennen mich«, sagte er. »Ja«, antwortete der Heilige. »Wir sind uns wohl schon einmal begegnet. Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor. Waren Sie nicht der Achtersteven des Elefanten in dem Zirkus, in den meine gute alte Großmutter mich mitgenommen hatte, kurz bevor ich mit Masern ins Bett mußte?« Marius zuckte mit den Schultern. Er trug wieder kompletten Morgenanzug wie bei der ersten Begegnung mit dem Heiligen in der Brook Street; aber dieses Kostüm vor diesem neuen Hintergrund und dazu die kolossale Statur des Mannes und sein häßliches, zerklüftetes Gesicht – alles das hätte lachhaft grotesk gewirkt, wäre es nicht auf so tückische Art grauenhaft gewesen. Er sagte: »Ich habe mir bereits einige Proben Ihres Humors anhören dürfen, Templar.«
»Bei einer Gelegenheit, an die wir uns alle noch erinnern«, sagte der Heilige sanft. »Genau. Aber eine Zugabe kostet nichts extra, und Sie dürfen etwas verlangen für Ihr Geld.« Marius’ kleine Augen sahen sich die anderen an: Roger Conway, der am Bücherregal lehnte und eine Pistole am Abzugsbügel pendeln ließ; Norman, der mit einem Glas in der Hand vor dem Sofa saß; Gerald Harding, der auf der anderen Seite der Flügeltür stand mit beiden Händen in der Tasche und einer leichten Röte in seinem jungenhaften Gesicht. »Ich habe gerade erst erfahren, daß Sie der Herr sind, der sich der Heilige nennt«, sagte Marius. »Inspektor Teal benutzte indiskreterweise einen öffentlichen Fernsprecher in Hörweite eines meiner Männer. Die hier aufgestellten Zellen sind nicht sehr schalldicht. Ich nehme an, das ist Ihr Haufen?« »Wohl kaum mein ›Haufen‹!« protestierte der Heilige. »Heilige bewegen sich wohl nicht in Haufen. Aber richtig, dies sind weitere Träger des Heiligenscheins. – Ah, wie konnte ich das vergessen! Sie sind eigentlich nie offiziell miteinander bekannt gemacht worden, oder? Darf ich Ihnen meine Jungens vorstellen? Zur Linken, zum Beispiel, Hauptmann und amtierender Heiliger Gerald Harding, ehemals Professor am Clark-College, kanonisiert vieler barmherziger Werke wegen, unter anderem besorgte er die Unterschrift eines geizigen Millionärs für einen fünfstelligen Wohltätigkeitsscheck. Der Millionär war sehr verärgert, als er davon erfuhr. Dort drüben der Heilige Roger Conway, Sieger im öffentlichen Schönheitswettbewerb für Herren in Noahsville, Arkansas, kanonisiert für die Verherrlichung des amerikanischen Mädchens. Wenigstens sagte sie zu dem Richter, es sei herrlich gewesen. Auf dem Fußboden – Heiliger Norman Kent. Biertrinkermeister auf der letzten Hundertjahrfeier der Vereinigung amtlich zugelassener Viktualienhändler und verwandter Gewerbe, kanonisiert, weil er einer Anzahl blinder
Bettler am Tage des heiligen Stephan ein Gläschen spendiert hat. Die Bettler waren übrigens erst blind, nachdem sie die Schnäpschen intus hatten. Oh, und ich selber. Ich bin Simon der Einfältige kinderliedrigen Angedenkens – oder kennen Sie das Liedchen nicht? Ich singe es Ihnen vor, drei vier…« Marius hörte sich diesen Wasserfall des Blödsinns regungslos an. Als Simon fertig war, fragte er gelassen: »Und Miß Holm?« »Leider abwesend«, erwiderte der Heilige. »Ich habe heute Geburtstag, und sie ist zu Woolworth gelaufen, um ein Geschenk für mich zu kaufen.« Marius nickte. »Es ist nicht wichtig«, sagte er. »Sie wissen, warum ich gekommen bin?« Simon schien nachzudenken. »Mal überlegen! Vielleicht, um das Klavier zu stimmen, aber wir haben kein Klavier. Und falls wir eine Mangel hätten, wären Sie vielleicht gekommen, um die Mangel zu reparieren. Nein, Sie könnten höchstens noch in Strohhüten und schwungvollen Krawatten reisen. Tut uns leid, aber für diese Saison sind wir versorgt.« Marius staubte mit zärtlich kreisendem Taschentuch seinen Zylinder ab. Sein Gesicht war wie immer eine Maske. Simon konnte nicht umhin, den Mut des Mannes zu bewundern. Er hatte eine Menge klarzustellen mit Marius, und Marius wußte das. Aber da stand dieser Marius und staubte leidenschaftslos seinen Zylinder ab vor den Augen des Mannes, der ihm versprochen hatte, ihn zu töten. Gewiß, Marius kam unter dem Schutz der weißen Flagge, und er rechnete damit, daß ein Mann wie der Heilige sie respektieren werde; dennoch verriet Marius durch nichts die Einsicht, daß er sich in der heiklen Lage befand, einem Mann
ein Ultimatum überbringen zu müssen, der ihn, böte sich auch nur der Anschein eines Vorwandes, mit Vergnügen in den Bauch schießen würde. »Sie gewinnen nichts durch diese Zeitverschwendung«, sagte Marius. »Ich bin in der Hoffnung zu Ihnen gekommen, einigen meiner Männer das Leben retten zu können, denn einige werden zweifellos getötet werden, falls wir zu kämpfen gezwungen sind.« »Wie rührend, sagte die Diva zum Bischof. Könnte es sein, daß Ihr Gewissen geplagt wird durch die Erinnerung an den Mann, den Sie in Bures erschossen haben, Süßester? Oder ist es nur, weil Beerdigungen heutzutage so teuer sind?« Marius zuckte mit den Achseln. »Das ist meine Sache«, sagte er. »Anstatt sich darum zu kümmern, sollten Sie sich lieber Ihre eigene Lage angelegen sein lassen. Jede Telefonleitung im Umkreis von fünfzehn Kilometern ist zerschnitten worden; das geschah, sobald wir sicher waren, daß wir Sie gefunden hatten. Daher gibt es keine schnellere Verbindung nach London als mit dem Auto. Und die örtliche Polizei ist weiter nicht gefährlich. Selbst Inspektor Teal hat jetzt keine Verbindung mehr mit seinem Hauptquartier, und es wurde eine Falle für ihn vorbereitet, in die er unter allen Umständen fällt. Außerdem habe ich auf der nächsten Kreuzung zu beiden Seiten dieses Hauses Leute in Polizeiuniform postiert, die jeden Wagen umschicken werden, der in diese Richtung zu gelangen versucht, und neugierigen Passanten den Lärm der Schießerei hinwegerklären. Vor einer guten Stunde kann keine Hilfe Sie erreichen – und dann kann eine solche Hilfsaktion nur mit Ihrer eigenen Verhaftung enden, das heißt, wenn Sie dann noch leben. Und Sie dürften wohl kaum hoffen, mich noch einmal mit demselben Bluff hinters Licht zu führen, den Sie gestern abend so erfolgreich angewandt haben.«
»Sind Sie sicher, daß es ein Bluff war?« »Wenn es kein Bluff gewesen wäre, hätte ich Sie nicht hier angetroffen. Glauben Sie wirklich, ich kenne mich so wenig mit den Gepflogenheiten der Behörden aus, daß ich glaube, Sie seien möglicherweise so rasch schon wieder freigelassen worden?« »Vielleicht«, sagte der Heilige nachdenklich, »hat man uns aber hierhergebracht als Köder in einer Polizeifalle – für Sie!« Marius’ Gesicht lächelte in grausiger Verbindlichkeit. »Seit Inspektor Teal London verlassen hat«, sagte Marius, »haben meine Leute ihn keine Sekunde aus den Augen gelassen. Daher habe ich allen Grund, überzeugt zu sein, daß er auch jetzt noch nicht weiß, wo Sie sich aufhalten. Diesmal werden Sie sich schon etwas Handfesteres einfallen lassen müssen als – hm, wie lautete wieder diese Wendung, die Ihr Freund benutzte? – Brotkrum und Brassen?« Simon nickte. »Eine nette Sache«, murmelte er. »Also«, sagte Marius. »Sie können wählen: Entweder, Sie liefern Vargan aus, oder wir holen ihn mit Gewalt hier heraus.« Der Heilige lächelte. »Zahl, Sie gewinnen, Krone, ich verliere – was? Aber nehmen wir einmal an, die Münze bleibt verteufeltnocheins auf der Kante stehen? Nehmen wir einmal an, Sie selber würden gezwackt? Wir sind hier nicht in Chikago, müssen Sie wissen. Sie können nicht einfach in England auf dem Land Ihre eigenen kleinen Privatkriege führen. Die Bauern könnten ärgerlich werden und mit Brokkoli nach Ihnen werfen. Ich weiß nicht genau, was Brokkoli ist, aber sie könnten damit werfen.« Wieder flatterte dieses grauenvolle Grinsen über das Gesicht des Riesen.
»Sie verstehen mich falsch. Mein Land braucht Vargan und seine Erfindung. Um mich beider zu vergewissern, werde ich so viele meiner Leute opfern, wie ich zu opfern gezwungen bin. Und meine Leute werden hier so bereitwillig für ihr Vaterland sterben wie auf jedem anderen Schlachtfeld.« »Ihr Vaterland!« Der Heilige hatte sich mit kühler, ruhiger Hand eine Zigarette angezündet, und ein Beobachter, der die Szene gesehen hätte, ohne zu hören, was gesprochen wurde, hätte glauben können, es gehe um die Bedingungen eines nicht allzu freundlichen Golfspieles, und nicht etwa um eine Situation, in der das Schicksal von Völkern auf dem Spiel stand. Jedenfalls bis zu einem bestimmten ‘ Punkt. Dann jedoch sprengte der Heilige die dünne Kruste äußerlicher Gelassenheit mit diesen beiden elektrisierenden Worten. Die Stimme, die sie gesprochen hatte, war nicht mehr das sanfte, spöttische Genäsel des Heiligen. Es war eine Stimme aus schierem Stahl und Fels und ätzender Säure. »Ihr Vaterland?« »So habe ich gesagt.« »Hat ein Mann wie Sie ein Vaterland? Gibt es ein Fleckchen auf Gottes Erde, das ein Mann wie Sie aus keinem anderen Grunde liebt, als daß es seine Heimat ist? Kennen Sie Treue außer zu den aufgequollenen goldenen Spinnen, deren Netze Sie spinnen? Gibt es irgendwo Leute, die Sie Ihre Leute nennen dürfen, Ihr Volk – Leute, die Sie nicht ohne jeden Skrupel um dreißig Silberlinge opfern würden? Liegt Ihnen irgend etwas anderes in der Welt am Herzen außer Ihren schmierigen Götzen des Geldes, Rayt Marius?« Zum erstenmal wechselte Marius die Farbe. »Es ist mein Land«, sagte er. Der Heilige lachte kurz auf.
»Sie können uns jede Lüge aufbinden, nur die nicht«, sagte er. »Nämlich die nehmen wir Ihnen nicht ab.« »Es ist trotzdem mein Land. Und die Männer da draußen wurden mir von meinem Land für diese Aufgabe geliehen.« »Haben Sie vielleicht schon einmal überlegt«, unterbrach ihn der Heilige, »daß auch wir bereit sein könnten, für unser Land zu sterben, und daß die sichere Aussicht auf eine Freiheitsstrafe im Falle unserer Rettung vielleicht gar keinen Einfluß auf unseren Entschluß hat?« »Ich habe es mir überlegt.« »Und verlassen Sie sich nicht allzu sehr auf unsere Ehrenhaftigkeit? Was hindert uns daran, den Waffenstillstand zu vergessen und Sie als Geisel festzuhalten?« Marius schüttelte den Kopf. »Was sollte mich daran hindern«, sagte er seidenweich, »unter einer weißen Fahne hierher zu kommen, während meine Leute das übrige Haus von der anderen Seite aus besetzen? Wenn das Schicksal des Vaterlandes auf dem Spiel steht, bleibt wenig Zeit für hergebrachte Ehrenhaftigkeit. Eine weiße Flagge mag auf dem Schlachtfeld respektiert werden, dies hier jedoch ist mehr als ein Schlachtfeld – es sind alle Schlachtfelder des Krieges in einem.« Simon wippte wachsam auf den Absätzen, die Zigarette schräg aufwärts zwischen den Lippen. Die Hände hingen ihm locker zur Seite herab, aber in beiden hielt er plötzlichen Tod. »Sie wären trotzdem unsere Geisel, Liebster«, sagte er. »Und falls irgendein Verrat…« »Mein Leben ist nichts«, erwiderte Marius. »Da draußen wartet ein Anführer« – er zeigte zu der Straße hinüber – , »der ohne Zögern mich und viele andere opfern würde.« »Nämlich?« »Seine Hoheit.« Simon Templar holte tief Luft.
»Seine Hoheit Kronprinz Henry von…« »Hölle und Pech und Schwefel«, sagte der Heilige. »Erst kürzlich haben Sie ihm das Leben gerettet«, fuhr Marius fort. »Aus diesem Grunde hat Seine Hoheit mich angewiesen, Ihnen diese Chance zu unterbreiten. Er trug mir außerdem auf, mich dafür zu entschuldigen, daß ich Sie gestern verwundet habe, obgleich das geschah, bevor wir wußten, daß Sie der Heilige sind.« »Mein allerliebstes Lämmchen«, bemerkte der Heilige, »ich wette, Sie würden Seiner Hoheit nicht gehorcht haben, benötigten Sie nicht seine Leute für Ihre schmutzige Arbeit!« Marius spreizte seine gewaltigen Hände. »Das ist nicht wesentlich. Ich habe gehorcht. Und ich warte auf Ihre Entscheidung. Eine Minute lang dürfen Sie darüber nachdenken.« Mit unbekümmertem Schwung schleuderte Simon seine Zigarette zum Fenster hinaus. »Sie hören unsere Entscheidung jetzt«, sagte er. Marius verbeugte sich. »Falls Sie uns eine Frage beantworten«, sagte der Heilige. »Was wünschen Sie zu wissen?« »Als Sie Vargan entführten, konnten Sie seinen Apparat nicht mitnehmen.« »Ich folge Ihrem Gedankengang«, sagte der Riese. »Sie denken, die britischen Fachleute werden immer noch den Apparat besitzen, selbst wenn Sie Vargan ausliefern, und sie können den Apparat kopieren, selbst wenn sie ihn nicht begreifen. Ich muß Sie enttäuschen. Während einige meiner Leute Vargan entführt haben, haben andere seinen Apparat zerstört, und zwar gründlich. Seien Sie versichert, daß nichts übriggeblieben ist, das sich wieder in Gang setzen ließe, nicht einmal von Sir Roland Hale. Es tut mir leid, Ihnen eine Illusion rauben zu müssen.«
»Aber es sollte Ihnen nicht leid tun, Engelsgesicht«, sagte der Heilige. »Im Gegenteil: Sie bringen mir die beste Nachricht, die ich seit langem vernommen habe. Wenn Sie nicht so unglaublich abstoßend wären, ich glaube, ich würde Sie umhalsen, Engelsgesicht, liebes Tautröpfchen! Ich dachte mir schon, daß ich mich auf Ihre Gründlichkeit würde verlassen können, aber es ist hübsch, es ganz genau zu wissen.« Roger Conway schaltete sich von der anderen Seite des Zimmers aus ein. Er sagte: »Hör mal, Heiliger, wenn der Kronprinz draußen ist, brauchen wir doch nur zu ihm zu gehen und ihm die Wahrheit über Marius zu erzählen.« Marius drehte sich um. »Welche Wahrheit?« fragte er freundlich. »Nun, die Wahrheit über Ihren wurmstichigen Patriotismus! Wir erzählen ihm, was wir wissen. Wir erzählen ihm, daß Sie ihn für Ihre eigenen giftigen Zwecke mißbrauchen, ihn an der Nase herumführen.« »Und Sie meinen, er würde das glauben?« höhnte Marius. »Sie sind einfach zu kindisch, Conway! Selbst Sie können kaum leugnen, daß ich alles tue, um dem Kronprinzen Vargans Erfindung zu beschaffen.« Der Heilige schüttelte den Kopf. »Engelsgesicht hat recht, Roger«, sagte er. »Der Kronprinz bekommt seinen Kaviar, und es wird ihn wenig kümmern, warum der Stör daran glauben mußte. Nein, wir können das Problem viel hübscher anbeißen.« Und er wandte sich wieder Marius zu. »Ist es wirklich wahr, Geliebtester, daß Vargan der Schlüssel zu der ganzen Situation ist?« fragte er leise und eindringlich. »Genau.« »Vargan ist wirklich und wahrhaftig die Sahne in Ihrem Kaffee?«
Der Riese zuckte mit den Schultern. »Ich verstehe nicht alle Ihre idiomatischen Wendungen, aber ich habe mich wohl deutlich genug ausgedrückt.« Ein neues Lächeln trat dem Heiligen auf die Lippen, ein spöttisches, tolldreistes, unbekümmertes, heiligmäßiges Lächeln. Er stemmte die Hände in die Hüften und lächelte. »Dann lautet unsere Antwort wie folgt«, lächelte der Heilige. »Falls Sie Vargan haben wollen, können Sie entweder kommen und ihn holen oder nach Hause gehen und am Daumen lutschen. Wählen Sie, Engelsgesicht!« Marius rührte sich nicht. »In diesem Falle wünscht Seine Hoheit zu erklären, daß er jegliche Verantwortung für die Folgen Ihrer Dummheit ablehnen muß.« »Moment!« Norman Kent meldete sich; unter großen Schmerzen versuchte er, sich auf seinem gesunden Bein aufzurichten. Der Heilige eilte zu ihm hin und legte ihm seinen Arm um die Schultern. »Langsam, langsam, alter Junge!« Norman lächelte schwach. »Ich möchte aufstehen, Simon.« Und er stand auf, von dem Heiligen gestützt, und schaute zu Marius hinüber. Sehr dunkel und streng und unnahbar war er. »Angenommen«, sagte Norman Kent, »angenommen, wir sagten, wir hätten Vargan nicht.« »Ich würde es nicht glauben.« Roger Conway warf ein: »Warum sollten wir ihn festhalten? Wenn wir ihn nur hätten entführen wollen, um ihn Ihnen wegzuschnappen, wäre er inzwischen an die Regierung zurückgegeben worden. Sie werden wissen, daß er nicht zurückgeschickt worden ist. Was sollten wir wohl mit ihm anfangen?«
»Sie könnten Ihre Gründe haben. Zum Beispiel Lösegeld. Ihre Regierung dürfte bereit sein, einen hohen Preis für seine Sicherheit zu zahlen.« Norman Kent unterbrach ihn mit einem kurzen, hellen Lachen, das Marius’ Theorie gründlich zuschanden machte, als es irgendeins der nachfolgenden Worte vermocht hätte. »Denken Sie noch einmal nach, Marius! Sie haben es immer noch nicht ganz begriffen. Wir entführten Vargan um des Friedens in der Welt willen und um Millionen arglosen Menschen das Leben zu retten. Wir hofften, ihn überreden zu können, von seinem Vorhaben abzulassen. Aber er war besessen und wollte nicht hören. Darum habe ich ihn heute abend für den Frieden der Welt…« Er hielt inne und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dann richtete er sich straff auf, und seine dunklen Augen blickten furchtlos in eine weite Ferne, und das Licht in seinen Augen zuckte nicht. Seine Stimme klang erneut auf – klar und fest. »Ich habe ihn wie einen tollen Hund erschossen«, sagte er. »Sie…« Harding stürzte vor, aber Roger Conway vertrat ihm augenblicklich den Weg. »Für den Frieden der Welt«, wiederholte Norman Kent. »Und für den Frieden meiner beiden besten Freunde. Du wirst es verstehen, Heiliger. Ich wußte sofort, daß du niemals Roger oder mich das riskieren lassen würdest, was dieser Schuß bedeutete. Also nahm ich das Gesetz selber in die Hand. Weil Pat dich liebt, Simon, und ich auch. Ich konnte es nicht zulassen, daß sie den Rest ihres Lebens mit dir im Schatten des Galgens leben würde. Ich liebe sie nämlich auch. Entschuldige…« »Sie haben Vargan umgebracht?« fragte Marius ungläubig. Norman nickte. Er war ganz ruhig.
Und draußen vor der offenen Flügeltür warfen die Bäume längere Schatten über den stillen Garten. »Er saß da und schrieb. Seite um Seite hatte er bereits gefüllt. Ich weiß nicht, was er schrieb, oder ob ein Wissenschaftler etwas damit anfangen kann. Ich bin kein Wissenschaftler. Aber um ganz sicher zu gehen, habe ich die Blätter mitgenommen. Ich hätte sie schon längst verbrannt, aber ich konnte keine Streichhölzer finden. Aber ich werde sie hier und jetzt verbrennen, und damit ist die Angelegenheit erledigt. Dein Feuerzeug, Heiliger!« Simon griff in die Tasche. Roger Conway sah Marius’ rechte Hand nach der Hüfte zucken, und er warf sich herum und zielte mit seiner Pistole dem Riesen mitten auf die Brust. »Nicht jetzt schon, Marius!« sagte Roger mit zusammengebissenen Zähnen. Als der Heilige Normann zu Hilfe eilte, hatte er eine seiner beiden Pistolen in die Rocktasche gesteckt. Und nun, da er mit einem Arm Norman stützte, hatte er, um nach seinem Feuerzeug suchen zu können, die andere Pistole auf die Lehne des Sofas legen müssen. Er hatte nicht darauf geachtet, was aus der Gruppierung der anderen im Zimmer wurde. Nun stand Conway so, daß er nicht gleichzeitig Harding und Marius in Schach halten konnte. Zwei simple Bewegungen hatten genügt, um diese völlig umstürzende Neugruppierung herbeizuführen – Norman Kents Versuch aufzustehen und Marius’ Versuch, die Pistole zu ziehen. Und Simon war es entgangen. Er hatte zugegeben, daß er an diesem Tag so langsam wie ein Güterzug sei; das mochte wahr sein oder auch nicht. Fest stand jedenfalls, daß er für den Bruchteil einer Sekunde die aufs äußerste gespannte Wachsamkeit ein ganz klein wenig lockerte. Und er sah seinen Fehler um eben diesen Bruchteil einer Sekunde zu spät ein.
Harding war mit zwei Schritten und einem blitzschnellen Sprung bei der Pistole auf der Sofalehne, und dann stand er mit dem Rücken an der Wand. »Lassen Sie die Pistole fallen! Ich gebe Ihnen drei Sekunden. Eins…« Conway drehte nur den Kopf, um sich umzuschauen, und er sah, daß der junge Mann ihn auf der Stelle umlegen konnte, ehe er auch nur Zeit hatte, seine Pistole um einen Millimeter zu bewegen. Und er brauchte sich nicht zu fragen, ob der andere seine Drohung wohl wahrmachen werde. Hardings grimmige und verzweifelte Entschlossenheit war ausreichend belegt durch die bloße Tatsache, daß er den Schritt gewagt hatte, der ihm die Pistole und gleichzeitig das strategische Übergewicht verschaffte. Und Hardings Augen blickten so hart und unnachgiebig, wie die Augen eines jungen Mannes nur blicken können. »Zwei!« Angenommen, Roger riß den Arm herum? Es würde ihn todsicher erwischen. Aber würde Simon dann vielleicht Zeit haben, die Pistole zu ziehen? Aber Marius war ebenfalls schußbereit… »Drei!« Roger Conway ließ seine Pistole fallen, wie Harding es vor nur wenigen Minuten hatte tun müssen, und er verspürte dasselbe bittere Gefühl der Demütigung, das Harding verspürt haben mußte. »Stoßen Sie sie mit dem Fuß zu mir hin!« Conway gehorchte, und Harding hob die Kanone auf und schwenkte nun zwei Pistolen in einem Bogen, der alle im Raum einschloß. »Die Ehre des britischen Geheimdienstes!« näselte der Heilige mit einer Milde, die den ätzenden Biß seiner Verachtung nur noch deutlicher machte.
»Der Waffenstillstand ist beendet«, erwiderte Harding unerbittlich. »Sie würden dasselbe tun in meiner Lage. Geben Sie mir die Papiere!« Der Heilige setzte Norman Kent vorsichtig hin, und Norman lehnte halb stehend, halb sitzend, auf der hohen Lehne des Sofas. Und Simon spannte alle Sinne an zu einem letzten tollkühnen Zug. Da fiel ein Schatten über ihn, und er blickte sich um und stellte fest, daß die Zahl der Versammelten sich erhöht hatte. Eine große, soldatische Gestalt in Grau stand in der offenen Flügeltür. Eine vollkommen makellose und vollkommen gelassene Gestalt. Und es ist natürlich Unsinn zu behaupten, daß rein zufällig Erziehung und Lebensart einen Menschen vor den anderen Menschen auszeichnen. Aber dieser Mann konnte niemand anders sein als der Mann, der er war. »Marius!« sprach der Mann in Grau, und Marius drehte sich um. »Zurück, Hoheit! Um Gottes willen!« Die Warnung wurde in einer anderen Sprache ausgestoßen, aber der Mann in Grau antwortete auf englisch. »Es gibt keine Gefahr«, sagte er. »Ich bin gekommen um nachzusehen, warum Sie die Frist überschritten haben.« Er spazierte seelenruhig ins Zimmer; Gerald Harding und Gerald Hardings kreisende Pistolen nötigten ihm nicht mehr als einen raschen sorglosen Blick und ein Hochziehen seiner schmalen Augenbrauen ab. Und dann hörte der Heilige durch die Innentür, die immer noch einen Spalt offenstand, ein Geräusch in der Diele. In leichtfertigem Sprung setzte er zur Tür und knallte sie zu. Dann packte er den schweren Bücherschrank, der an der Wand stand, hievte ihn mit einer einzigen titanenhaften Anstrengung hoch, so daß er krachend wie ein großer Riegel quer vor die
Türöffnung kippte. Eine Sekunde später, und der Tisch aus der Mitte des Zimmers verstärkte den Bücherschrank. Und Simon Templar stellte sich mit dem Rücken vor den Stoß, tiefatmend, die Hände herausfordernd nach hinten gebreitet. Er sprach. »Sie sind also noch solch ein Mann von Ehre – Hoheit!« Der Kronprinz streichelte mit wunderhübsch manikürten Fingern seinen Schnurrbart. »Ich gab Marius eine gewisse Frist, mein Angebot zu überbringen«, antwortete er. »Als diese Frist verstrichen war, konnte ich nur annehmen, daß Sie den Waffenstillstand gebrochen und ihn festgenommen hatten, und ich befahl meinen Leuten, das Haus zu besetzen. Es widerfuhr ihnen das Glück, eine Dame gefangennehmen zu können.« Der Heilige wurde weiß. »Ich sage ›das Glück‹, da sie bewaffnet war und einige meiner Leute getötet haben könnte; oder sie hätte doch jedenfalls Alarm schlagen können, wäre sie nicht ganz überraschend gefaßt worden. Man hat ihr jedoch kein Haar gekrümmt. Ich erwähne das lediglich, damit Sie sehen, das mein Eindringen nicht so unklug ist, wie Sie ansonsten vielleicht vermuten möchten. Sind Sie Simon Templar?« »Ja.« Der Prinz streckte die Hand aus. »Ich höre, ich verdanke Ihnen mein Leben. Ich hatte gehofft, Gelegenheit zu finden, Ihre Bekanntschaft zu machen, aber ich rechnete nicht damit, daß wir uns unter solch unglücklichen Umständen kennenlernen würden. Wie dem auch sei, Marius hat Ihnen wohl berichtet, daß ich mich meiner Verpflichtung Ihnen gegenüber nicht verschließe.« Simon blieb stehen, wo er stand. »Ich habe Ihnen das Leben gerettet, Prinz Henry«, antwortete er mit einer Stimme wie Peitschenknall, »weil ich nichts gegen
Sie hatte. Aber nun habe ich etwas gegen Sie, und vielleicht bringe ich Sie aus dem Grunde um, bevor der Tag noch zu Ende geht!« Der Prinz hob elegant die Schultern und senkte sie wieder. »Zumindest«, bemerkte er, »dürften Sie, solange wir uns über diesen Punkt unterhalten, Ihren Freund bitten, seine Waffen wegzustecken. Sie betrüben mich.« Hauptmann Gerald Harding lehnte behaglich an der Wand und widmete sich mit einer seiner bekümmernden Waffen ausschließlich dem Prinzen. »Ich bin nicht Templars Freund«, sagte er. »Ich bin ein bescheidener Angehöriger des britischen Geheimdienstes, und man hat mich Vargans wegen hierhergeschickt. Ich kam nicht rechtzeitig genug, um Vargan zu retten, aber anscheinend doch rechtzeitig, um etwas fast ebenso Wertvolles sicherzustellen. Sie kommen zu spät, Hoheit!«
19
Simon Templar geht zu seiner Liebsten, und
Norman Kent gibt der Trompete Antwort
Einen Augenblick lang herrschte absolute Stille, und dann sprudelte Marius in seiner eigenen Sprache darauf los. Der Prinz hörte zu; seine Augen wurden immer schmaler. Abgesehen von diesem aufmerksamen Zusammenkneifen der Augen änderte sich weder seine Haltung noch sein Gesichtsausdruck. Dieser Mann überhob sich mit unmenschlicher Glätte, ohne alle normalen Gefühlsregungen. Simon versuchte nicht, Marius’ Rezitation zu unterbrechen. Irgend jemand mußte schließlich die Situation erklären, und da Marius sich dieser Aufgabe schon einmal unterzogen hatte, mochte er sie nur zu Ende führen. Die Pause gab dem Heiligen wiederum Gelegenheit, ein wenig zu verschnaufen. Und der Heilige lehnte sich beschaulich gegen seine Barrikade und holte sein Zigarettenetui hervor und klopfte nachdenklich mit einer Zigarette gegen die Zähne. Dann wandte sich der Prinz ihm zu und sprach mit ihm mit seiner glatten, samtweichen Stimme. »Aha! Ich verstehe allmählich. Dieser Mann überraschte Sie, aber Sie kamen zu einer Verständigung, als sich herausstellte, daß Sie sich beide gegen mich verschworen haben. Stimmt das?« »Eure Hoheit! Welch geistige Gaben!« murmelte der Heilige. »Und er hat eigenmächtig den Waffenstillstand beendet, ohne Sie vorher zu verständigen?«
»Tja, so war’s. Ich vermute, das Jagdfieber hat ihn gepackt, als er die Papiere sah. Jedenfalls vergaß er schmählich all seine gute Erziehung.« »Und Sie haben keinen Einfluß auf ihn?« »Keinen Einfluß.« »Aber Ihr Freund« – – der Prinz deutete auf Norman Kent – »hat die Papiere?« »Und ich hab’ den Freund«, sagte Harding vergnügt. »Was werden Sie also jetzt machen?« In diesem Augenblick stand er ganz allein da und beherrschte die Situation; und alle sahen ihn an. Er war jung, aber der Junge hatte Courage! Und der Heilige begriff, daß Harding nicht umhin konnte, sein Ehrenwort zu brechen; ein älterer Mann hätte vielleicht gezögert. Und dann stand Harding nicht mehr allein da; denn im nächsten Augenblick rückte Norman Kent sich ins Rampenlicht mit einer zwingenden Handbewegung. Alles schaute ihn an. »Hierzu möchte ich gern etwas sagen«, begann Norman Kent. Seine Stimme war immer leise und gemessen. Nun war sie leiser denn je, aber jede Silbe erklang mit der durchdringenden Klarheit einer Fanfare. »Ich habe die Papiere«, sagte er, »und Hauptmann Harding hat mich. Ganz richtig. Aber eins haben Sie alle übersehen.« »Und das wäre?« Der Kronprinz stellte die Frage, aber Norman richtete seine Antwort an alle. Er warf einen kurzen Blick zum Fenster hinaus auf den Sonnenschein und die Bäume und das grüne Gras und einen Busch blutroter Dahlien, der wie eine Wunde in der Hecke klaffte, und die anderen sahen ihn lächeln. Und dann antwortete er. »Nichts wird gewonnen ohne ein Opfer«, sagte er nur.
Er blickte zum Heiligen hinüber. »Simon«, sagte er, »ich möchte, daß du mir vertraust. Seit wir zusammen sind, habe ich ohne zu fragen alles getan, was du mir befahlst. Wir alle haben dir gehorcht, das war nur natürlich, denn du warst, deiner ganzen Natur nach, immer unser Führer. Aber wir haben auch unter deiner Führung einiges gelernt. Ich habe gehört, wie du Marius gestern abend in der Brook Street in den Sack gesteckt hast: indem du das tatst, was du unter keinen Umständen tun konntest. Und ich habe gehört, daß Roger nach dem gleichen Prinzip verfuhr und somit dann uns dazu verhalf, Teal in den Sack zu stecken: indem er das tat, was er unter keinen Umständen tun konnte. Nun bin ich an der Reihe. Ich muß wohl sehr schlau heute sein. Ich habe herausgefunden, wie ich das Prinzip hier anwenden kann. Und zwar auf meine Weise. Denn es gibt hier und jetzt etwas, das niemand tun kann. Und ich kann es tun. Wirst du mir folgen?« Und Normans Augen, in denen ein seltsames, fanatisches Licht brannte, begegneten dem klaren blauen Blick des Heiligen – eine Sekunde nur, in gespannter Stille. Dann: »Sprich weiter!« sagte der Heilige. Norman Kent lächelte. »Es ist ganz einfach«, sagte er. »Ihr habt alle die Lage begriffen, oder nicht? Wir haben Sie, Prinz, und Sie, Marius, als Geiseln; aber in Ihren Händen befindet sich als Gegengeisel eine junge Dame, die allen außer einem von uns sehr lieb und wert ist. Schon damit wäre der tote Punkt erreicht – auch ohne Hauptmann Harding und seine Pistolen.« »Sie drücken es bewundernswürdig aus«, sagte der Prinz. »Andererseits befindet sich Hauptmann Harding, der im Augenblick das Kommando hat, in einer sehr peinlichen Situation. Er ist bei weitem die schwächste Partei bei diesem Dreiecksgefecht. Ob die Tatsache, daß Sie eine zu uns
gehörende junge Dame als Geisel in Gewahrsam halten, für ihn Gewicht hat, läßt sich bezweifeln. Ich persönlich bezweifle es sehr. Er hat die junge Dame nie kennengelernt, sie ist für ihn nicht mehr als ein Name, und er hat das zu tun, was er für seine Pflicht hält. Überdies hat er uns bereits an einem Beispiel demonstriert, daß sein Pflichtbewußtsein alle anderen Überlegungen beiseite fegen kann. Mithin befinden wir uns in einer sehr, sehr mißlichen Klemme. Als Engländer sind wir genötigt, seine Partei gegen Sie zu ergreifen. Nur als Männer jedoch würden wir eher sterben als die junge Dame in Gefahr zu bringen, die Sie gefangenhalten. Diese beiden Motive sind schon kompliziert genug. Aber es kommt noch ein drittes hinzu. Als Freunde des Heiligen stehen wir zu seinen Idealen, und wir haben uns gelobt, etwas zu vollbringen, daß sowohl Sie als auch Hauptmann Harding unter allen Umständen verhindern möchte.« »Sie hätten es nicht knapper zusammenfassen können«, bemerkte der Prinz. Wieder lächelte Norman Kent. »Sie werden mir also recht geben, daß der tote Punkt nur darum eingetreten ist, weil wir alle ohne ein Opfer zu gewinnen versuchen«, sagte er. »Und die Antwort ist: daß die Situation keinen Sieg ohne Opfer erlaubt, wenn es auch zahlreiche Möglichkeiten des Aufgebens gibt, bei denen nicht mehr als die Ehre geopfert würde. Aber wir geben nicht gerne auf.« Er nahm drei in kleiner, sauberer Schrift dicht vollgeschriebene Blätter aus der Tasche, faltete sie sorgfältig und hielt sie in das Zimmer. »Hauptmann Harding – Sie können sie haben.« »Norman! Du verfl…«
Der Heilige stürzte quer durch das Zimmer. Sein Mund war ein harter Strich, und die Augen blickten drohend wie ein arktischer Himmel. Aber Norman Kent schaute ihn ohne Furcht an. »Du hast eingewilligt, daß ich dies erledige, Heiliger.« »Ich habe nicht eingewilligt, daß wir uns ergeben. Lieber werde…« »Aber es ist ja keine Übergabe«, sagte Norman Kent. »Dies ist der Sieg. Sieh es dir an!« Harding war neben ihn getreten. Norman drehte sich um, die Blätter lose in den Fingern. Und Norman blickte Roger Conway gerade an. »Roger«, sagte er langsam. »Ich glaube, du verstehst es. Nehmen Sie die Papiere, Harding!« Harding steckte eine Pistole in die Tasche und griff nach den Papieren… Und nun begriff der Heilige. Harding war, wie Norman schon gesagt hatte, allein unter lauter Gegnern. Und in diesem Augenblick hielt er nur eine Pistole in der Hand, mit der er sie alle in Schach halten mußte. Die Pistole zeigte auf Roger Conway, der Harding am nächsten stand, aber um die Papiere anzunehmen, mußte Harding im rechten Winkel zu seiner Schußlinie blicken – in Richtung Norman Kents und des Heiligen. Einen ausreichenden Augenblick lang. Und Norman ließ die Papiere fallen, sobald Harding sie anfaßte. Statt jedoch danach seine Hand zurückzuziehen, streckte er sie noch weiter aus. Blitzschnell umklammerte sie Hardings Handgelenk und schraubte sie dort fest. Und dann ruckte sie – plötzlich und mit aller Heftigkeit, die Norman zur Verfügung stand. Die Pistole in Hardings Hand ging einmal los, aber der Schuß klatschte an die Decke, ohne Schaden anzurichten. Denn Roger
Conway hatte rechtzeitig verstanden, um was es ging. Er hatte sich auf Hardings Linke gestürzt und ihm in dem Bruchteil der Sekunde, der ihm gewährt war, die Pistole aus der Hand gewunden. Und er hielt den Kronprinzen bereits sicher in Schach, als Gerald Harding, von Norman Kents übermenschlicher Anstrengung aus dem Gleichgewicht geschüttelt, dem Heiligen genau vor die Faust taumelte. Blitzschnell war alles vorbei – bevor weder der Kronprinz noch Marius merkten, was sich tat, und sich die Situation zunutze machen konnten. Und dann wehrte Rogers Pistole der Handbewegung zur Hüfte hin, die Marius zu spät begonnen hatte, und Norman Kent lehnte, weiß bis in die Lippen von den Schmerzen, die sein großartiges Eingreifen ihn gekostet hatte, an der Seitenlehne des Sofas. Und Gerald Harding lag lang ausgestreckt wie ein Baumstamm am Boden, und der Heilige bückte sich zu ihm hinunter und nahm mit der einen Hand die zweite Pistole an sich und mit der anderen die heruntergefallenen Papiere. »Das sieht schon besser aus«, sagte Roger Conway zufrieden. Aber Norman Kent war noch nicht fertig. Mit zusammengebissenen Zähnen sagte er: »Gib mir die Papiere zurück, Simon!« Der Heilige zögerte; die Blätter hielt er zusammengeknüllt in der Hand. »Aber…« »Sofort!« schallte Normans Stimme befehlshaberisch. »Du hast mir bisher vertraut, und ich habe dich nicht im Stich gelassen. Vertraue mir noch ein wenig mehr!« Er nahm dem Heiligen die Papiere nahezu mit Gewalt ab und stopfte sie sich in die Tasche. Dann streckte er erneut die Hand aus. »Und die Pistole!«
Simon gehorchte. Sich zu weigern wäre unmöglich gewesen. Dieses eine Mal war der Heilige nicht der Anführer. Vielleicht war das Größte an seiner Führerschaft, daß er sie in diesem Augenblick ohne Eifersucht und ohne Herablassung einem anderen übergeben konnte. Allerdings war Norman wundersam inspiriert. Aus ihm, der immer so sanft und so zurückhaltend gewesen war, flammte es in den Raum wie von einem dunklen Feuer. »Das war das erste«, sagte Norman. »Und nun sind noch zwei Dinge zu erledigen.« Der Prinz hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Nichts in diesen ereignisreichen, schwerwiegenden Sekunden hatte der gelassenen Oberfläche seiner Selbstbeherrschung auch nur ein Kräuseln entlockt. Freundlich, weltmännisch und unerschütterlich wartete er ohne sichtliche Geduldsübung darauf, daß die Gärung sich beruhigte und die von ihr in Mitleidenschaft gezogenen Elemente sich in neuer Anordnung absetzten. Erst als er überzeugt schien, daß es soweit war, ergriff er, während ein winziges Lächeln seine Lippen aufbog, das Wort. »Meine Herren«, bemerkte er, »Sie enttäuschen mich nicht. Ich habe viel von Ihnen gehört, aber nur wenig gesehen. Das wenige, das ich gesehen habe, beweist mir, daß das viele, das ich hörte, nicht sehr übertrieben scheint. Falls Sie jemals Ihre verbrecherische Laufbahn an den Nagel hängen sollten und in den Dienst eines Ausländers treten möchten, werde ich Sie mit Vergnügen einstellen.« »Danke«, sagte Norman knapp. »Aber dies ist kein Verbrechen. In unseren Augen ist es etwas sehr, sehr viel Besseres, als Sie jemals vollbringen werden. Wir wollen nun keine Zeit mehr verschwenden. Prinz, glauben nicht auch Sie, daß die Situation sich vereinfacht hat?« Der Prinz neigte den Kopf.
»Ich sah zu, wie Sie sie vereinfachten.« »Und Sie sagen, daß wir sofort und ohne jede Behinderung abziehen können, falls wir Ihnen« – Norman Kent klopfte auf seine Tasche – »diese Papiere geben?« »So lautete mein Angebot.« »Haben wir eine Sicherheit, daß Sie zu ihm stehen werden?« Die schmalen Augenbrauen zogen sich zu ernster Vorhaltung hoch. »Ich habe Ihnen mein Wort gegeben.« »Und außerdem?« »Falls das Wort eines Gentleman Ihnen nicht genügt – darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß ich mit fünfundzwanzig Leuten hier bin? Einige im Garten, ein paar im Innern des Hauses auf der anderen Seite der Tür, die Mr. Templar so gewandt verbarrikadiert hat, und ein paar auf dem Fluß. Ich brauche nur das Signal zu geben – sie brauchen nur meine Stimme zu hören.« Der Satz endete in einem bedeutungsvollen Achselzucken. »Sie sind ganz in meiner Gewalt. Und welchen Grund könnte ich haben, Sie noch länger festzuhalten, wenn Sie mir die Papiere übergeben haben? Und davon abgesehen, warum sollte ich mich überhaupt der Mühe unterziehen, über Bedingungen zu verhandeln? Ich tue es nur, weil ich mich des Dienstes erinnere, den Sie mir erwiesen haben. Gewiß, Mr. Templar hat es abgelehnt, mir die Hand zu geben, aber ich nehme es ihm nicht übel. Vielleicht kann ich seine Empfindungen verstehen. Ich habe bereits betont, daß ich die augenblicklichen Umstände bedaure. Aber das ist eben Kriegsglück. Ich schlage den großmütigsten Vergleich vor, den ich vorschlagen kann.« »Und dennoch«, sagte Norman Kent, »wäre ich gerne sicher, daß nichts schieflaufen wird. Ich habe die Papiere. Lassen Sie meine Freunde und das Mädchen mit dem Wagen abfahren, der draußen wartet. Ich verbürge mich dafür, daß sie weder die
Polizei verständigen noch zu einem Angriff zurückkehren. Und ich selber bleibe als Geisel hier und händige Ihnen die Papiere eine halbe Stunde, nachdem sie aufgebrochen sind, aus. Diese halbe Stunde lang müssen Sie und Marius hier bleiben als Gewähr für das sichere Geleit meiner Freunde, und zwar vor der Mündung dieser Pistole.« »Hoheit!« Marius rief es in strammer Haltung. »Hoheit, ist dieses Geschwätz denn wirklich notwendig? Ein Wort an die Leute…« Der Prinz hob die Hand. »Das ist nicht meine Art, Marius. Ich bin diesen Herren zu Dank verpflichtet. Ich nehme ihre Bedingungen an, wenn sie auch seltsam anmuten.« Er wandte sich wieder Norman zu. »Aber ich brauche wohl kaum hinzuzufügen, Sir, daß ich die Dankesschuld als hinfällig betrachte, sollte ich irgendeine Hinterlist entdecken.« »Natürlich«, erwiderte Norman Kent. »Das ist nur gerecht.« Der Prinz trat an die Tür. »Wenn Sie mir also gestatten!« Er stand in der offenen Tür und winkte, und zwei Männer kamen herbeigerannt. Im Zimmer steckten sie ihre Pistolen ein und salutierten. Der Prinz wechselte ein paar Worte mit ihnen, und sie salutierten erneut. Dann wandte er sich wieder um und sagte mit einer anmutigen Geste seiner empfindsamen Hand auf englisch: »Ihr Wagen steht bereit, meine Herren.« Roger und der Heilige schauten Norman Kent verwirrt, zweifelnd, ja ungläubig an. Aber Norman lächelte nur. »Vergeßt nicht, daß ihr versprochen habt, mir zu vertrauen«, sagte er. »Ich weiß, daß ihr glaubt, ich sei verrückt geworden. Aber ich bin in meinem ganzen Leben noch nicht vernünftiger
gewesen. Ich habe die einzige Lösung gefunden, die es gibt – den einzigen Weg zu einem ehrenhaften Frieden.« Simon Templar sah ihn immer noch an und versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, was sich nicht lesen ließ. Es krampfte ihm das Herz zusammen, Norman Kent so zurückzulassen. Und er konnte sich nicht vorstellen, nach welcher Überlegung, nach welcher Eingebung Norman handelte. Norman konnte unmöglich an Übergabe denken. Das konnte man unmöglich einen ehrenhaften Frieden nennen. Und welchen Ausweg sah Norman für sich selber, der er allein, verwundet und bewegungsunfähig zurückblieb? Aber Norman schien weder Zweifel noch Furcht zu verspüren. Das einzige, was sich in seinem Gesicht lesen ließ: übernatürliche Zuversicht und Genugtuung. Und der Heilige selber sah keinen Ausweg. Der Prinz hielt alle Trümpfe in der Hand. Selbst wenn Patricia sich nicht in Gefahr befände und sie den Prinzen und Marius niederschießen und sich der Belagerung stellen würden, müßten sie unweigerlich geschlagen werden. Selbst wenn sie beschlossen hätten, ihr Leben hinzugeben, um ihr Ziel zu erreichen. Aber Normans Miene war nicht die eines Mannes, der dem Tod entgegensieht. Und die Leute des Prinzen hatten Patricia in der Gewalt wie Marius in der Nacht zuvor. Aber dieselben Methoden würden diesmal nichts fruchten. Der Heilige beschwor Norman: »Soll ich nicht doch lieber hier bleiben, mein Junge? Du weißt, daß ich dir vertraue, aber du bist verwundet.« Norman Kent schüttelte den Kopf. »Das spielt keine Rolle«, sagte er. »Man wird mich in allen Ehren hier heraustragen.« »Wann sehen wir dich wieder?« fragte Roger.
Norman blickte verträumt in die Ferne, und was er dort sah, schien ihn vergnügt zu stimmen. »Wird ein bißchen dauern«, sagte er. Und er wandte sich an den Prinzen. »Darf ich einen kurzen Brief schreiben?« »Ich erinnere Sie daran«, erwiderte der Prinz, »daß Sie hier bleiben als Garantie für das gute Benehmen Ihrer Freunde.« »Darin habe ich eingewilligt«, antwortete Norman. »Gib mir Papier und Füller, Roger.« Und wieder versuchte Marius, Einwände zu machen. »Hoheit, Sie vertrauen ihnen zu sehr! Dies kann nur eine List sein. Falls sie wirklich meinen, was sie sagen, warum sollte dann alles dies vonnöten sein…« »Es ist dies ihre Art, Marius«, erwiderte der Prinz ruhig. »Ich gebe zu, es ist seltsam. Aber was soll’s? Sie sollten ein gründlicherer Psychologe sein, mein Freund. Nach all dem, was Sie mit ihnen erlebt haben, können Sie doch wohl kaum annehmen, daß zwei von ihnen den dritten seinem Schicksal überlassen, während sie selber zu entkommen suchen? Das ist absurd!« Norman Kent hatte eine Zeile geschrieben. Er löschte sie sorgfältig und faltete das Papier. »Und einen Umschlag, Roger.« Er schob den Brief in den Umschlag und klebte ihn zu. Dann hielt er Roger Conway die Hand hin. »Viel Glück, Roger«, sagte er. »Sei brav.« »Alles Gute, Norman, alter Junge.« Sie drückten einander fest die Hand. Und Simon sprach mit dem Prinzen. »Es scheint«, sagte Simon, »das wir nun au revoir sagen müssen, Hoheit!« Der Prinz antwortete mit einer seiner unübertrefflichen höflichen Gesten.
»Ich bin sicher«, ließ er sich vernehmen, »daß es nicht adieu bedeutet. Ich hoffe, Ihnen noch einmal zu begegnen, wenn die Zeiten besser sind.« Dann blickte der Heilige Marius an, und eine ganze Weile sah er dem Riesen geradeswegs in die Augen. Und der Abschied von Marius fiel anders aus. »Auch Ihnen«, sagte der Heilige langsam, »werde ich noch einmal begegnen.« Aber hinter ihm lachte Norman Kent, und der Heilige drehte sich um. Norman streckte die Hand aus, und der Heilige nahm sie mit festem Griff. Und Normans andere Hand hielt ihm den Brief hin. »Steck ihn in die Tasche, Simon, und gib mir dein Wort, daß du ihn erst nach vier Stunden öffnest. Wenn du ihn gelesen hast, wirst du wissen, wo wir uns wiedersehen. Ich werde auf dich warten. Und mach dir keine Sorgen. Alles ist gut aufgehoben bei mir. Mach’s gut, Heiliger!« »Mach’s besser, Norman.« Norman Kent lächelte. »Ich glaube, es wird sehr gut«, sagte er. Und nun ging Simon Templar zu seiner Liebsten.
Norman sah Roger und Simon durch die offene Flügeltür hinausgehen und sich nach ihm umdrehen, als sie den Garten erreicht hatten; und er lächelte von neuem und winkte ihnen fröhlich zum Abschied. Einen Augenblick später hörte er das anschwellende Brummen des Hirondel und das Knirschen von Reifen auf der Auffahrt. Er erhaschte einen letzten Blick, als der Wagen in die Straße einbog – der Heilige am Steuer, einen Arm Patricia um die Schultern gelegt, Roger Conway auf dem Rücksitz und einer
von den Leuten des Prinzen auf dem Trittbrett. Dies geschah wohl, damit die Posten an der Kreuzung sie durchließen… Und dann waren sie verschwunden. Norman setzte sich auf das Sofa; er fühlte sich merkwürdig schwach. Das Bein war wie betäubt vor Schmerz. Mit einer Bewegung seiner Pistole zeigte er auf Whiskyflasche, Siphon, Gläser und Zigaretten. »Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause, meine Herren!« lud er sie ein. »Und da Sie schon einmal stehen, geben Sie mir doch bitte auch etwas. Ich kann mich leider nicht selbst bemühen. Sie sollten Ihren Leuten verbieten, Patronen mit weichem Blei zu benutzen, Marius. Das ist eine schmutzige Sache.« Der Prinz amtierte mit dem Whisky und zündete Norman eine Zigarette an. »Krieg kennt kein Erbarmen«, sagte der Prinz. »Als Mann schätze und bewundere ich Sie. Aber in meiner Stellung würde ich Sie, da Sie gegen mein Land und gegen mich sind, ohne Gewissensbisse töten, müßte ich annehmen, daß Sie versuchten, mich zu überlisten. Ohne mit der Wimper zu zucken.« Er schnippte mit den Fingern. »Selbst die Tatsache, daß Sie dazu beigetragen haben, mir einmal das Leben zu retten, würde Ihnen bei einem solchen Verstoß keine mildernden Umstände verschaffen.« »Halten Sie mich für einen Narren?« fragte Norman ziemlich müde. Er trank seinen Whisky in kleinen Schlucken, und die Zeiger der Uhr krochen weiter. Fünf Minuten. Zehn. Fünfzehn. Der Prinz saß in seinem Sessel, die Beine mit geziemender Rücksicht auf seine messerscharfen Bügelfalten elegant
übereinandergeschlagen. In der einen Hand hielt er ein Glas, mit der anderen rauchte er eine Zigarette in langer Spitze. Marius stapfte im Zimmer hin und her wie ein eingesperrter Löwe. Dann und wann blickte er aus geschlitzten Augen giftig und mißtrauisch zu Norman hinüber, als wolle er etwas sagen. Aber jedesmal nahm er dann doch davon Abstand und promenierte ungeduldig weiter – bis der Prinz ihn mit einer lässigen Bewegung seiner Zigarettenspitze bremste. »Mein lieber Marius, Ihre Unruhe ist mir lästig. Üben Sie um Gottes willen ein wenig Selbstbeherrschung!« »Aber Hoheit!« »Marius, Sie wiederholen sich. Wiederholung ist ein langweiliges Laster.« Nun erst setzte Marius sich. Der Prinz unterdrückte graziös ein Gähnen. Auf dem Fußboden stöhnte Harding und erwachte wie aus einem tiefen Schlaf. Norman beugte sich über ihn und half ihm, sich aufzusetzen. Der junge Mann öffnete langsam die Augen und rieb sich benommen die empfindliche Kinnlade. Er könnte nicht ahnen, wie sehr es dem Heiligen gegen den Strich gegangen war, ihm diesen Schlag versetzen zu müssen. Norman ließ ihn sich so gut es ging vom Stande der Dinge ein Bild machen. Und die Pistole durfte er sich genau betrachten. »Wo sind die anderen?« fragte er verwirrt. »Weg«, sagte Norman. In kurzen, knappen Sätzen erklärte er ihm, was sich ereignet hatte. Dann richtete er eine Frage an den Prinzen. »Was ist Hauptmann Hardings Position in dieser Angelegenheit?«
»Falls er sein Pflichtbewußtsein nicht über seine kluge Einsicht triumphieren läßt«, erwiderte der Prinz leichthin, »sind wir nicht weiter an ihm interessiert.« Harding rappelte sich unsicher hoch. »Aber ich bin verdammt an Ihnen interessiert!« gab er zurück. Und er drehte sich benommen zu Norman um und beschwor ihn verzweifelt: »Kent, Sie als Engländer, Sie werden diese Tölpel nicht…« »Sie werden es in sieben Minuten sehen«, antwortete Norman ruhig. Harding wurde wankend angesichts der genau auf ihn gerichteten Pistole in Normans Hand. Er fluchte, raste ohnmächtig, schluchzte geradezu. »Sie Narr! Sie Narr! Oh, verdammt noch mal! Haben Sie denn überhaupt keinen Anstand im Leib? Sehen Sie denn nicht…« Norman rührte sich nicht, aber sein Gesicht war sehr weiß. Diese wenigen Minuten waren die schlimmsten, die er jemals erlebt hatte. In seinem Bein klopfte es entsetzlich. Und Harding fluchte und flehte, beschwor, wütete und bettelte fast auf den Knien und peitschte Norman mit Worten voll beißender Verachtung. Noch fünf Minuten. Vier, drei, zwei. Noch eine Minute. Der Prinz blickte auf seine goldene Armbanduhr und holte mit verwöhnten Fingern das Ende seiner Zigarette aus der langen Spitze. »Die Zeit ist fast um«, murmelte er leise. »Um alles in der Welt!« ächzte Harding. »Überlegen Sie es sich noch einmal, Kent, Sie elender Wurm! Sie erbärmlicher, verworfener, kriechender Feigling! Geben Sie mir eine Pistole, damit ich kämpfen kann!«
»Kämpfen ist nicht nötig«, sagte Norman Kent. Er führte eine Hand zur Tasche, und eine Sekunde lang glaubte er, Harding werde ihm ungeachtet der Pistole an die Kehle zu springen versuchen. Norman hielt die zerknitterten Blätter hoch, und sowohl der Prinz als auch Marius erhoben sich – der Prinz mit feinster, nicht zur Eile zu nötigender Eleganz; Marius wie ein losgelassener Dämon. Es gelang Norman Kent mit größter Anstrengung, sich noch einmal aufzurichten. Er war sehr bleich, und das Feuer in seinen Augen brannte wie von einem rasenden Fieber. Sein verwundetes Bein war nur noch die abgetötete Quelle pulsender Schmerzensstiche, die bei der geringsten Bewegung wie lauter lange, gezinkte Nadeln die ganze Seite des Körpers hinaufschossen. Aber er war geradezu störrisch entschlossen, dem Ende aufrecht entgegenzusehen. »Die Papiere, die ich Ihnen versprochen habe.« Er hielt sie Marius hin, und der Riese schnappte danach mit gewaltigen, gierigen Händen. Und dann streckte Norman seine Pistole mit dem Knauf nach vorne Harding hin. Er sprach in eindringlichem, raschem Befehlston. »Durch die Tür und den Garten hinunter, Harding! Nimm das Motorboot vom Heiligen. Es ist unten am Rasen vertäut. Die beiden Männer auf dem Fluß werden Sie wohl kaum aufhalten können.« »Hoheit!« Marius’ Stimme. Schrill und wild. Das Gesicht des Riesen war häßlich verzerrt. Norman schob Harding hinter sich und deckte so seinen Rückzug zur Tür. »Raus!« knurrte er. »Sie brauchen hier auf nichts mehr zu warten! – Nun, Marius?«
Die Stimme des Prinzen hieb in tödlicher Geschmeidigkeit ein: »Sind das etwa nicht Vargans Papiere, Marius?« »Ein sinnloser Brief – an diesen Mann da – von einem seiner Freunde!« »Ach!« Das Wort fiel in den Raum mit der glatten Schärfe eines Tropfens weißglühenden Metalls. Aber der Prinz hätte nicht anmutiger dastehen und sein Gesicht nicht heiterer dreinschauen können. »Sie haben mich also doch hinters Licht geführt!« »Das sind die Papiere, die ich Ihnen versprochen habe«, erwiderte Norman kühl. »Er muß die richtigen Papiere noch bei sich haben, Hoheit«, lallte Marius. »Ich habe ihn immer beobachtet, er hatte keine Gelegenheit, sie seinen Freunden zuzustecken.« »Da irren Sie sich!« Norman sprach sehr, sehr leise, fast ein Flüstern war es, aber das Flüstern klang triumphierend wie Trompetenschall. Das Feuer in seinen dunklen Augen war nicht von dieser Welt. »Als Harding nach Templars Pistole griff – erinnern Sie sich, Marius? – hatte ich die Papiere in der Hand. Ich schob sie Templar in die Tasche. Er wußte nicht, was ich tat; ich wußte es selber kaum. Ich tat es, ohne viel zu überlegen. Es war schiere blinde Eingebung – die einzige Möglichkeit, Sie alle naszuführen und meine Freunde in Sicherheit zu bringen. Und es hat geklappt! Ich habe Sie geschlagen.« Er hörte ein Geräusch hinter sich und schaute sich um. Harding war losgerannt – er jagte über den Rasen, tief zu Boden geneigt wie ein Windhund. Vielleicht zielten aus allen Richtungen gedämpfte Pistolen auf ihn, aber ihr Paffen würde man nicht hören, und bisher konnte nichts ihn getroffen haben, denn er lief ohne einen falschen Schritt, kurvte und zickzackte wie eine Schnepfe.
Ein Lächeln trat auf Normans Lippen. Nun, da sein Werk getan war, kümmerte es ihn nicht, daß er allein zurückblieb. Und er wußte, daß Harding nicht hätte bleiben können. Harding hatte ebenfalls eine Aufgabe zu erledigen. Er mußte Hilfe holen – um mit Marius fertigzuwerden und Simon Templar mit den kostbaren Papieren abzufangen. Aber Norman lächelte, da er sicher war, daß man den Heiligen nicht abfangen würde. Trotzdem: der Mut dieses jungen Blondschopfs gefiel ihm. Das Bein schmerzte höllisch. Aber der Heilige hatte das Unmögliche nicht erraten. Das war das einzige, was Norman Kent befürchtet hatte: daß der Heilige die Wahrheit erriet und sich weigerte, ihn allein zu lassen. Aber Normans erster Erfolg – als er Harding mit dem Angebot der Papiere eine Falle stellte – hatte ihm das Vertrauen des Heiligen gewonnen, das er gewinnen mußte. Und nun war Simon fort und Patricia mit ihm. Und mehr bedurfte es nicht. Und nach einer Weile würde Simon die Papiere finden; und er würde den Brief öffnen und die eine Zeile lesen, die in ihm stand. Und diesen einen Satz hatte Norman bereits gesprochen, aber niemand hatte ihn verstanden. »Nichts ist gewonnen ohne ein Opfer.« Norman wandte sich wieder um und sah die Pistole in Marius Hand. Es war etwas in der Art, wie er die Pistole hielt, etwas in dem Gesicht dahinter, das ihm verriet, daß dieser Mann sein Ziel nicht verfehlen würde. Und die Pistole war nicht auf Norman gerichtet, sondern über ihn hinweg auf die dahinfliegende Gestalt, die sich dem Motorboot unten am Rasen näherte. Das leise, abwesende Lächeln lag immer noch auf Norman Kents Lippen, als er zweimal rasch rückwärts und zur Seite hüpfte. Nun stand er zwischen Marius und der offenen Tür.
Er wußte, daß Mairus, blind und rasend und toll vor Wut, den Finger nicht vom Abzug nehmen würde, nur weil Norman genau in seiner Feuerlinie stand, aber es kümmerte Norman nicht. Es konnte ihm gleichgültig sein. Marius oder der Prinz würden ihn früher oder später ohnehin erschießen. Wahrscheinlich hatte er es verdient. Er hatte absichtlich betrogen, obwohl er den Preis für das Spiel mit verdeckten Karten kannte. Er dachte nun nicht mehr an sich selber. Aber zwei, drei zusätzlich gewonnene Sekunden könnten Harding dazu verhelfen, sich mit dem Motorboot einigermaßen in Sicherheit zu bringen. Norman Kent fürchtete sich nicht. Er lächelte. Seltsam, so zum Ende aller Dinge zu finden – in dem stillen Bungalow an der friedlichen Themse, da der erste Abendnebel vom Fluß heraufkroch wie vom Himmel herabgeschwebte müde Wolken und das Licht sanfter wurde über dem kühlen, stillen Garten. Das Haus hatte so viel von ihrer Fröhlichkeit, ihrer Kameradschaft, ihrem sorglosen Lachen erlebt. Er wünschte, sein Bein würde ihn nicht so verteufelt schmerzen. Aber das war bald vorbei. Und gewiß konnte man auf sehr viel schlechtere Weise einem solch erfüllten Leben Lebewohl sagen. Den Klang der Trompete gehört zu haben – das war schon etwas. Und das Spiel würde weitergehen. Die Schatten des friedlichen Abends da draußen waren wie die Vorboten eines großen Friedens auf der ganzen Welt.