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Das Buch Eine klassische short story von Isaac Asimov liegt dem neuen Roman von Robert Silverberg zugrunde, der die erfolgreiche Zusammenarbeit der zwei wohl bedeutendsten Science-fiction-Autoren unserer Zeit fortführt. Die fantastische Geschichte greift weit in die Steinzeit zurück, um von dort einen kühnen Bogen in die nahe Zukunft zu spannen. Im 21. Jahrhundert haben die Wissenschaftler eine spezielle Technik entwickelt, mit deren Hilfe Lebewesen und Gegenstände aus der Vergangenheit in die Gegenwart transferiert werden können. Dr. Hoskins, Leiter von Stasis, hat bereits einen kleinen Dinosaurier transferiert – jetzt ist ein kleiner Neandertaler an der Reihe. Timmie ist vier Jahre alt und wurde vor vierzigtausend Jahren geboren. Dieses schmutzige, häßliche, wild aufbegehrende Wesen ist für die Wissenschaftler lediglich ein Experiment, für die meisten Menschen nur ein Monster und für die Menschenrechtsaktivisten ein spektakulärer Fall. Nur die Krankenschwester Edith, die sich um den kleinen Wilden kümmern soll, erkennt recht bald, wer Timmie wirklich ist: ein einsames, eingeschüchtertes, ganz normales Kind, verloren in einer fremden Welt. Als Timmies Ersatzmutter die grausamen Pläne von Stasis durchschaut, ringt sie sich zu einem tollkühnen Entschluß durch. Die Autoren Isaac Asimov, 1920 in Petrowitsch, einem Vorort von Smolensk, geboren, amerikanischer Biochemiker und Verfasser von populärwissenschaftlichen Büchern, gehört zu den bekanntesten und meistgelesenen SF-Autoren überhaupt. Die Zahl seiner Veröffentlichungen umfaßt beinahe 300 Titel. Robert Silverberg, 1936 in New York geboren, ist einer der erfolgreichsten SF-Autoren unserer Zeit. Wie Isaac Asimov wurde auch er mit den renommierten Hugo- und Nebula-Awards ausgezeichnet.
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ISAAC ASIMOV ROBERT SILVERBERG
KIND DER ZEIT Roman
Aus dem Amerikanischen von Irene Holicki
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/10.366
Titel der Originalausgabe CHILD OF TIME
Umwelthinweis: Das Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.
Redaktion: Wolf gang Jeschke Copyright © 1991 by Nightfall, Inc. & Agberg, Ltd. Der Roman basiert auf der Kurzgeschichte »The Ugly Little Boy« Copyright © 1958,1986 by Isaac Asimov Mit freundlicher Genehmigung der Autoren und Paul & Peter Fritz AG, Literarische Agentur, Zürich Copyright © 1997 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1997 Umschlagillustration: David Farren Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Pinkuin Satz- und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung: Pressedruck, Augsburg
s/k: hme aka rydell ISBN 3-453 -12.537-1
Für Martin Harry Greenberg – mit einer doppelten Portion Zuneigung
Und wie er so allein in der Dunkelheit und Leere auf dem schlafenden Vordeck stand, erschien er noch größer, ein wahrer Koloß, und uralt; so alt, als sei Vater Chronos, die Zeit selbst, hierher an diesen grabesstillen Ort gekommen, um mit geduldigen Augen den vergänglichen Triumph des großen Trösters Schlaf mitanzusehen. Aber er war ja nur ein Kind der Zeit, ein einsamer Überlebender einer längst vergangenen und vergessenen Generation… Joseph Conrad
Prolog SILBERNE WOLKE In der Nacht war Schnee gefallen, staubfein und dünn wie Nebel hatte ihn der Westwind herangetragen. Der Schnee mußte eine sehr weite Reise hinter sich haben, denn er hatte den Duft des Meeres mitgebracht, man konnte ihn riechen, als jetzt die ersten Strahlen der Morgensonne die öde, weite Tundra erwärmten. Vor langer Zeit, als Silberne Wolke noch ein Knabe war und Die Menschen im Westland jagten, hatte er das Meer gesehen. Unendlich groß und schwarz war es, und unermüdlich in Bewegung, und wenn die Sonnenstrahlen aus einer bestimmten Richtung darauf fielen, erglühte es wie flüssiges Feuer. Wer sich hineinbegab, war des Todes, doch solange man es nur von draußen betrachtete, war es wunderschön. Silberne Wolke wußte, daß er es niemals wiedersehen würde. Alle Länder, die am Meer lagen, waren jetzt von Den Anderen besetzt, Die Menschen befanden sich seit Jahren auf dem Rückzug und strebten unaufhaltsam nach Osten, dem Geburtsort der Sonne entgegen. Doch selbst wenn Die Anderen so plötzlich verschwinden sollten, wie sie aufgetaucht waren, Silberne Wolke hätte keine Aussicht, noch einmal an die Küste zurückzukehren. Er war alt, er hatte ein lahmes Bein, sein Ende war nahe. Für den Marsch nach Westen würde der Stamm ein halbes Leben brauchen, vielleicht noch mehr, und Silberne Wolke hatte kein halbes Leben mehr vor sich. Allenfalls zwei oder drei Jahre, wenn er Glück hatte. Aber das machte ihm nichts aus. Immerhin hatte er das Meer einmal gesehen, was kein anderer aus dem Stamm von
sich behaupten konnte, und er würde seinen Geruch, sein Brausen, seine Kraft niemals vergessen. Jetzt stand er auf dem kleinen Hügel über dem Lager, schaute hinaus auf die Ebenen, die so plötzlich weiß geworden waren, blähte die Nüstern und sog den Moschusduft der See, der mit den Schmelzwasserdämpfen zu ihm heraufstieg, tief in seine Lungen. Für einen Moment fühlte er sich wieder jung. Aber nur für einen Moment. Dann ließ sich hinter ihm eine Stimme vernehmen: »Als wir gestern abend das Lager aufschlugen, hast du kein Wort von Schnee gesagt, Silberne Wolke.« Es war die Stimme von Die-Alles-Weiß. Warum war sie ihm gefolgt? Er war im Morgengrauen hier heraufgestiegen, um allein die Stille zu genießen. Und sie war die letzte, von der er in diesem Augenblick gestört werden wollte. Langsam drehte sich Silberne Wolke um. »Ist Schnee denn ein so außergewöhnliches Ereignis, daß man es jedesmal eigens ankündigen muß?« »Wir haben die fünfte Sommerwoche, Silberne Wolke.« Er zuckte die Achseln. »Auch im Sommer kann es schneien, Weib.« »In der fünften Woche?« »In jeder Woche«, sagte Silberne Wolke. »Ich kann mich an Sommer erinnern, da hat es nie zu schneien aufgehört. Es war jeden Tag das gleiche. Die Sommersonne schien vom Himmel, und trotzdem fiel Schnee. Und das war im Westland, wo die Sommer wärmer sind als hier.« »Aber es ist lange her, ich war damals noch gar nicht geboren. Seither werden die Sommer wärmer, das sagen alle, also muß es wohl wahr sein. – Du hättest uns vor dem Schnee warnen sollen, Silberne Wolke.«
»Es ist doch nur ein Hauch, Die-Alles-Weiß, kaum der Rede wert.« »Wir hätten die Schlafdecken auspacken können.« »Wegen der paar Stäubchen? Hätte sich das denn gelohnt?« »Oh ja. Wer hat beim Aufwachen schon gern Schnee im Gesicht? Du hättest uns warnen sollen.« »Ich habe es nicht für wichtig gehalten«, zischte Silberne Wolke gereizt. »Trotzdem hättest du uns warnen sollen. Aber vielleicht hast du gar nichts davon gewußt?« Die-Alles-Weiß starrte ihn feindselig an. In ihren Augen funkelte die Bosheit. Je tiefer sich das Alter in diese Frau hineinfraß, dachte Silberne Wolke, desto unverträglicher wurde sie. Dabei war sie früher, als sie noch Fallender Fluß hieß, ganz anders gewesen. Ein junges, schlankes Ding mit dichtem, schwarzem Haar, das ihr gleich einem Wasserfall über die Schultern fiel, und mit Brüsten so prall wie Sommermelonen. Jeder Mann im Stamm hatte sie damals begehrt: auch er selbst, er wollte es gar nicht bestreiten. Doch heute war sie eine Frau von mehr als dreißig Wintern, ihr Haar war weiß und strähnig geworden, ihre Brüste hingen schlaff herab, kein Mann warf ihr mehr verlangende Blicke zu, und sie hatte auch ihren Namen geändert. Jetzt nannte sie sich Die-Alles-Weiß und tat sich so viel auf ihre Weisheit zugute, als ob die Göttin selbst aus ihr spräche. Er funkelte sie böse an. »Ich habe sehr wohl gewußt, daß es schneien würde. Ich habe den Schnee wie immer in meinem Oberschenkel gespürt, in meiner alten Wunde, aber ich habe auch gespürt, daß es sich nicht lohnen würde, ein Wort darüber zu verlieren.« »Ich weiß nicht, ob ich dir glauben kann.«
»Soll das heißen, daß ich ein Lügner bin?« »Du hättest uns sicher gewarnt, wenn du den Schnee wirklich gespürt hättest. Dir wäre die Schlafdecke nämlich genauso angenehm gewesen wie allen anderen. Wenn nicht noch mehr.« »Dann bringt mich doch um«, sagte Silberne Wolke. »Ich gestehe alles. Ich habe den Schnee nicht vorausgeahnt. Deshalb habe ich euch auch nicht gewarnt, und so hattet ihr ihn beim Aufwachen im Gesicht. Es ist wirklich unverzeihlich. Warum rufst du nicht den Todesorden zusammen, damit er mich hinter den Hügel führt und zwölfmal mit der Elfenbeinkeule auf mich einschlägt? Glaubst du, das könnte mich schrecken, Die-Alles-Weiß? Ich habe mehr als vierzig Winter erlebt, jetzt bin ich alt und müde. Wenn du meinst, den Stamm besser führen zu können, Die-Alles-Weiß, räume ich nur zu gerne meinen Platz und…« »Bitte, Silberne Wolke.« »Aber es ist doch so! Dir strahlt die Weisheit nur so aus den Augen, während ich einfach alt werde. Tritt du an meine Stelle. Hier. Hier.« Er nahm den Bärenfellumhang, das Zeichen der Häuptlingswürde, ab und warf ihn ihr vor die Füße. »Nur zu, nimm ihn schon an dich! Und den Federschmuck, den Elfenbeinstab und alles andere gleich mit dazu. Wir werden jetzt sofort hinuntergehen und es allen mitteilen. Meine Zeit ist um. Jetzt bist du der Häuptling. Hier! Der Stamm gehört dir!« »Du benimmst dich wie ein Narr. Und dabei bist du noch nicht einmal ehrlich. Du wirst Federschmuck und Elfenbeinstab erst dann abgeben, wenn wir dich eines Morgens steif und kalt auf dem Boden finden, und keinen Augenblick früher.« Sie schob den Umhang mit dem Fuß von sich. »Spare dir die großartigen Gesten. Du weißt ganz genau, daß ich es nicht
auf dein Amt abgesehen habe, heute nicht und auch nicht nach deinem Tod.« »Warum bist du mir dann nachgelaufen, um mir wegen ein paar jämmerlicher Schneeflocken in den Ohren zu liegen?« »Weil wir die fünfte Sommerwoche haben.« »Und? Das hatten wir bereits besprochen. Schneien kann es zu jeder Jahreszeit, das dürfte auch dir nicht neu sein.« »Ich habe mir die Überlieferungsstäbe angesehen. Um diese Jahreszeit hat es nicht mehr geschneit, seit ich ein kleines Mädchen war.« »Du hast dir die Überlieferungsstäbe angesehen?« Silberne Wolke war höchst überrascht. »Heute morgen schon?« »Wann sonst? Ich bin aufgewacht und war erschrocken, als ich den Schnee sah. Also bin ich zu Hütet-Die-Vergangenheit gegangen und habe mir die Stäbe zeigen lassen. Wir haben gemeinsam nachgezählt. Vor siebzehn Jahren hat es auch in der fünften Sommerwoche geschneit. Aber seitdem nicht mehr. – Und weißt du, was in jenem Sommer sonst noch geschehen ist? Sechs von unseren Leuten sind bei der Rhinozerosjagd umgekommen, und vier wurden von einer Mammutherde zu Tode getrampelt. Zehn Tote in einem einzigen Sommer.« »Was willst du damit sagen, Die-Alles-Weiß?« »Ich will gar nichts sagen, ich will dich nur fragen, ob du diesen Schnee vielleicht für ein Vorzeichen hältst.« »Ich halte diesen Schnee für Schnee und für sonst gar nichts.« »Du glaubst nicht etwa, daß uns die Göttin zürnt?« »Das mußt du die Göttin fragen, nicht mich. Die Göttin redet zur Zeit nicht besonders viel mit mir.« Die-Alles-Weiß biß sich gereizt auf die Lippe. »Laß die
Scherze, Silberne Wolke. Wenn dieser Schnee nun bedeutet, daß hier irgendwo eine Gefahr auf uns lauert?« »Paß auf«, sagte er und wies mit weitausholender Gebärde auf das Tal und die Ebenen. »Siehst du da draußen irgendwo eine Gefahr? Ich sehe ein bißchen Schnee, gewiß. Ein kleines bißchen. Und ich sehe Die Menschen. Inzwischen sind alle aufgewacht, sie gehen lächelnd ihrer Arbeit nach, ein neuer, ein guter Tag hat begonnen. Das sehe ich, Die-Alles-Weiß, und nichts sonst. Wenn du den Zorn der Göttin siehst, dann mußt du ihn mir schon zeigen.« Tatsächlich hätte die Szene da unten nicht friedlicher sein können. Im Hauptlager trugen Frauen und Mädchen Holz für das Morgenfeuer zusammen. Die Knaben, die noch zu klein waren, um auf die Jagd zu gehen, suchten unweit davon unter der dünnen Schneedecke nach Zweigen und dürren Grasbüscheln. Etwas weiter links, im Bezirk der Mütter, bekamen die Jüngsten ihre erste Mahlzeit – Milchquelle, die niemals Versiegende, hatte an jeder Brust ein Kind, und Tiefes Wasser hatte die etwas Größeren zu einem Reigenspiel versammelt. Jetzt hielt sie inne, um einen kleinen Jungen – es war Himmelsfeuergesicht – zu trösten, der hingefallen war und sich das Knie aufgeschlagen hatte. Hinter dem Bezirk der Mütter waren die Priesterinnen eifrig an dem Steinmal beschäftigt, das sie zu Ehren der Göttin errichtet hatten. Die eine richtete das Beerenopfer her, die zweite goß das Blut des gestern getöteten Wolfs auf den Blutstein, und die dritte entzündete die Tagesflamme. Am anderen Ende des Lagers hatte sich Mammutreiter seine Werkzeuge zurechtgelegt und auch bereits mit der Arbeit begonnen. Die Feuersteinklingen, die er herstellte, waren nach wie vor makellos, obwohl das Zittern sich unaufhaltsam seiner Gliedmaßen bemächtigte. Hinter ihm saß Mondtänzerin mit
einer ihrer Töchter und kaute wie üblich Tierhäute, um sie so geschmeidig zu machen, daß man sie zu Umhängen verarbeiten konnte. Und in der Ferne am Horizont entdeckte Silberne Wolke die Männer des Jägerordens, die mit ihren Speeren und Wurfstöcken über die Tundra ausgeschwärmt waren. Auch die lange, krumme Linie ihrer Fußspuren war immer noch schwach zu erkennen, die Umrisse der Fersen und der nach außen gerichteten Zehen, die im rasch schmelzenden Schnee vom Lager weg wiesen. Ja, es war ein friedliches, ein normales, alltägliches Bild. Ein neuer Tag im Leben Der Menschen, die so alt waren wie die Zeit und bis ans Ende der Zeiten überdauern würden. Warum sollte er sich wegen ein paar Schneeflocken im Sommer Sorgen machen? Das Leben war hart, der Schnee war das ganze Jahr über ein ständiger Begleiter. Und so würde es auch bleiben; die Göttin hatte niemals versprochen, den Sommer vom Schnee frei zu halten, auch wenn SIE in dieser Hinsicht in den letzten Jahren sehr viel Milde hatte walten lassen. Wie auch immer, es war seltsam, daß er vergangene Nacht nichts davon gespürt hatte. Oder hatte er nur nicht auf den Schmerz geachtet? In letzter Zeit tat ihm so vieles weh, und es fiel ihm zunehmend schwerer, die einzelnen Schmerzen auseinanderzuhalten. Dennoch – alles schien in Ordnung zu sein. »Ich steige jetzt wieder hinunter«, erklärte er Die-AllesWeiß. »Ich war nur heraufgekommen, weil ich ein wenig mit mir allein sein wollte. Aber das ist mir offenbar nicht vergönnt.« »Laß dir helfen«, sagte sie und wollte ihm die Hand reichen. Silberne Wolke stieß sie wütend beiseite. »Faß mich nicht an, Weib! Hältst du mich etwa für einen
Krüppel?« Sie hob gleichmütig die Schultern. »Wie du willst, Silberne Wolke.« Aber der schmale Pfad war nicht gleichmäßig ausgetreten und daher schwierig zu gehen. Unter der dünnen Schneeschicht verbargen sich kleine, tückisch glatte Steine, auf denen Silberne Wolke immer wieder auszugleiten drohte. Er hatte noch keine zehn Schritte gemacht, als er auch schon bereute, die Hilfe von Die-Alles-Weiß ausgeschlagen zu haben. Doch jetzt verbot ihm sein Stolz, auf das Angebot zurückzukommen. Das wäre eine ungeheure Blamage gewesen. Niemand dachte sich etwas dabei, wenn er ein wenig hinkte, aber wenn er schon einen flachen Hang wie diesen nicht mehr allein bewältigte, kamen die anderen womöglich auf die Idee, es sei an der Zeit, ihm zur letzten Ruhe zu verhelfen. Alte Menschen genossen einen gewissen Respekt, gewiß, aber man konnte sie nicht unbegrenzt umsorgen. In früheren Zeiten hatte auch er so manchem Greis zur letzten Ruhe verholfen. Es war immer ein trauriges Geschäft, ihnen ein Nest im Schnee zu graben und dann zu warten, bis die Kälte sie in den ewigen Schlaf sinken ließ. Er selbst legte auf diese Art von Hilfe keinen Wert: er wollte gehen, wenn seine Zeit gekommen war, und keine Stunde früher. Lange würde es ohnehin nicht mehr dauern. Als er den Fuß des Hügels erreichte, keuchte er ein wenig, und unter dem dicken, grauen Pelzumhang war ihm so heiß geworden, daß er schwitzte. Aber er hatte sich wacker geschlagen. Bisher war er noch imstande, selbst seinen Mann zu stehen. Essensdüfte stiegen ihm in die Nase. Der Wind trug ihm fröhliches Kinderlachen und schrilles Säuglingsgeschrei zu. Die Sonne stieg rasch höher. Tiefes Wohlbehagen durch-
strömte ihn. In drei Tagen würde man das Sommerfest abhalten, dann mußte er mit im Reigen tanzen, mußte einen jungen Stier opfern und mit seinem Blut die Jungfrau einreiben, die der Stamm in diesem Jahr zur Ehrenmaid erkoren hatte. Danach galt es, sich mit dieser Jungfrau fortzuschleichen und sie zu besteigen. Das brachte Glück für die Herbstjagd. Seit das Sommerfest in greifbare Nähe gerückt war, quälten Silberne Wolke gewisse Bedenken. Vielleicht war er schon etwas zu steif, um so zu tanzen, wie es sich gehörte, am Ende mißlang ihm noch das Stieropfer, wie er es einmal vor langer Zeit bei einem anderen, alternden Häuptling erlebt hatte; und auch, was die Besteigung der Jungfrau anging – da war er sich nicht so ganz sicher. Doch jetzt schmolzen im Schein der Sonne alle Ängste dahin. Die-Alles-Weiß war einfach eine alte Unke. Der Schnee hatte nichts zu bedeuten. Gar nichts! Es war ein strahlend schöner Morgen. Die Menschen konnten sich auf einen prächtigen Sommer freuen. Von nun an würde es mit jedem Tag wärmer werden. Nur schade, daß das Sommerfest nicht schon heute stattfinden konnte, dachte Silberne Wolke. Heute wäre er gerade in der richtigen Stimmung dafür, er fühlte sich, zumindest momentan, wie neugeboren. Der Tanz… der Stier… die Jungfrau… »Silberne Wolke! Silberne Wolke!« Heisere, erschöpfte Stimmen, laute, keuchende Atemzüge. Die Rufe kamen von der Ebene jenseits des Heiligtums, wo die Priesterinnen immer noch emsig tätig waren. Was war geschehen? Warum kehrten die Jäger so früh zurück? Und warum hatten sie solche Eile? Er legte die Hand über die Augen und schaute gegen die
Sonne. Ja, es waren Wolfsbaum und Gespaltener Berg. Sie kamen auf das Lager zugerannt, so schnell sie nur konnten, und riefen immer wieder seinen Namen. Wolfsbaum fuchtelte wie ein Wahnsinniger mit seinem Speer herum; Gespaltener Berg hatte seine Waffen erst gar nicht mitgebracht. Taumelnd erreichten sie das Lager und fielen Silberne Wolke abgekämpft, schluchzend und nach Atem ringend vor die Füße. Es waren zwei der stärksten und schnellsten Männer des Stamms, aber sie mußten die ganze Strecke von den Jagdgründen bis hierher aus Leibeskräften gerannt sein. Jetzt waren sie am Ende. Nur allzu rasch war die glückliche, zufriedene Stimmung verflogen. Silberne Wolke spürte, wie sich ein Schatten über ihn senkte. »Was ist geschehen?« fragte er, bevor die beiden wieder zu Atem gekommen waren. »Was bringt euch so früh zurück?« Gespaltener Berg deutete hinter sich. Sein Arm zitterte wie bei einem alten Mann, und er klapperte hörbar mit den Zähnen. »Die Anderen!« stieß er hervor. »Was? Wo?« Gespaltener Berg schüttelte den Kopf. Zum Sprechen war er nicht mehr fähig. Auch Wolfsbaum mußte sich die Worte mühsam abringen. »Wir – haben sie – nicht – gesehen. Nur ihre Spuren.« »Im Schnee.« »Jawohl, im Schnee.« Wolfsbaum lag auf den Knien und ließ den Kopf nach unten hängen. Immer wieder durchlief ihn von den Schultern bis zur Taille ein krampfartiges Zittern. Es dauerte einen Moment, bis er wieder sprechen konnte. »Es war ihre Fährte. Lange, schmale Füße. Etwa so.« Er zeichnete die
Umrisse eines Fußes in die Luft. »Die Anderen. Kein Zweifel möglich.« »Wie viele?« Wolfsbaum schüttelte den Kopf. Dann schloß er die Augen. »Viele.« Gespaltener Berg hatte plötzlich die Sprache wiedergefunden. Nun hob er beide Hände und bewegte wieder und wieder die Finger auf und ab. »Mehr als wir. Zweimal-, dreimal-, viermal so viele. Sie marschieren von Süden nach Norden.« »Und auch ein wenig nach Westen«, ergänzte Wolfsbaum düster. »Heißt das, auf uns zu?« »Möglich. Nicht – sicher.« »Ich denke, sie kommen auf uns zu«, sagte Gespaltener Berg. »Oder wir auf sie. Wenn wir nicht achtgeben, laufen wir ihnen direkt in die Hände.« »Die Anderen hier bei uns?« Silberne Wolke schien mit sich selbst zu sprechen. »Aber sie lieben die weiten Ebenen nicht. Dies ist kein Gelände, in dem sie sich wohlfühlen. Was haben sie hier verloren? Warum bleiben sie nicht am Meer, wo sie hingehören? Seid ihr auch ganz sicher, daß es ihre Füße sind, Wolfsbaum? Gespaltener Berg?« Die beiden nickten. »Sie kreuzen unseren Weg, aber ich glaube nicht, daß sie zu uns kommen«, sagte Wolfsbaum. »Ich schon«, widersprach Gespaltener Berg. »Wahrscheinlich wissen sie gar nicht, daß wir hier sind.« »Ich denke doch«, widersprach Gespaltener Berg abermals. Silberne Wolke packte mit beiden Händen seinen Bart und riß so fest daran, daß es wehtat. Dann spähte er nach Osten, als brauche er nur die Augen fest zusammenzukneifen, um
sehen zu können, wie die Horden Der Anderen auf den Pfad zuströmten, den er und sein Stamm nehmen wollten. Aber die Morgensonne blendete ihn, so daß er gar nichts sah. Als er sich umdrehte, begegnete er dem Blick von Die-AllesWeiß. Er hätte Selbstgefälligkeit erwartet, Überheblichkeit, Genugtuung. Der unerwartete Schneefall im Sommer war also doch ein böses Vorzeichen gewesen, nicht wahr? Und er, der Häuptling, hatte nicht nur versäumt, ihn anzukündigen, sondern auch seine Bedeutung vollkommen unterschätzt. Ich habe es ja gleich gesagt, müßte Die-Alles-Weiß jetzt eigentlich erklären. Wir sind in großer Gefahr, und du bist nicht mehr imstande, uns zu führen. Doch zu seiner Verwunderung ließ ihr Gesicht nichts dergleichen erkennen. Er sah nur tiefe Traurigkeit darin, wie sie ihn stumm ansah, und über die Wangen rollten Tränen. Nun streckte sie ihm mit einer fast schon zärtlichen Geste die Hand entgegen. »Silberne Wolke…« flüsterte sie. »Oh, Silberne Wolke.« Sie weint nicht nur um sich selbst, dachte Silberne Wolke erstaunt. Sie weint auch nicht, weil dem Stamm Gefahr droht. Nein, sie weint um mich.
Erstes Kapitel DIE SUCHE
1 Edith Fellowes strich sich den Schwesternkittel glatt, wie sie es immer tat, bevor sie die Tür mit dem komplizierten Schloß öffnete und die unsichtbare Grenze zwischen Sein und Nichtsein überschritt. Sie hatte ihren Notizblock in der Hand, obwohl sie sich seit langem nur noch Notizen machte, wenn sie es für unumgänglich hielt, einen Bericht abzuliefern. Diesmal trug sie außerdem einen Koffer. (»Spielzeug für den Jungen«, hatte sie dem Posten lächelnd erklärt. Dabei hatte der Mann sich längst angewöhnt, sie ohne weitere Fragen durch die Sicherheitsschranke zu winken.) Wie immer hatte der häßliche kleine Junge offenbar gespürt, daß sie in seine kleine Welt zurückgekehrt war, denn er kam ihr entgegengelaufen und rief mit seinem weichen, verschliffenen Akzent: »Miß Fellowes, Miß Fellowes.« »Timmie.« Sie strich ihm zärtlich über den merkwürdig geformten Kopf mit dem zottigen, braunen Haar. »Was ist denn los?« »Wo ist Jerry?« fragte er. »Kommt er heute wieder zum Spielen?« »Heute nicht, nein.« »Es tut mir so leid, daß ich…« »Ich weiß, Timmie.« »Und Jerry…?«
»Mach dir um Jerry jetzt keine Gedanken, Timmie. Hast du deshalb geweint? Weil du Jerry vermißt?« Er sah sie nicht an. »Nicht nur deshalb, Miß Fellowes. Ich habe wieder geträumt.« »Den gleichen Traum?« Miß Fellowes preßte die Lippen aufeinander. Nach dem Vorfall mit Jerry war damit zu rechnen gewesen. Er nickte. »Den gleichen Traum, ja.« »War es diesmal sehr schlimm?« »Ja, es war schlimm. Ich war – draußen. Da gab es Kinder, viele Kinder. Jerry war auch dabei. Sie haben mich alle angesehen. Einige haben gelacht, andere haben mit dem Finger auf mich gezeigt und mir Gesichter geschnitten, aber ein paar waren auch nett zu mir. ›Komm, Timmie‹, haben sie gesagt, ›du schaffst das schon. Du mußt nur immer weitergehen und darfst nicht stehenbleiben, dann bist du irgendwann frei.‹ Und das habe ich gemacht. Ich bin geradewegs von hier nach draußen gegangen. Und dann habe ich gesagt: ›Jetzt kommt und spielt mit mir‹, aber da sind sie alle zerflossen, waren auf einmal nicht mehr da. Und ich bin wieder zurückgerutscht, zurück in diesen Raum. Ich konnte mich nicht halten. Irgendwann war ich wieder hier drinnen, und dann waren auf allen Seiten schwarze Wände, ich konnte mich nicht bewegen, ich habe festgesteckt, ich war…« »Oh, Timmie, wie schrecklich. Es tut mir so leid, Timmie. Wirklich.« Als er zu lächeln versuchte, dehnten sich seine Lippen von einem Ohr zum anderen, seine übergroßen Vorderzähne wurden sichtbar, und die ganze Mundpartie schien sich noch weiter nach vorne zu schieben als sonst. »Wann bin ich endlich so groß, daß ich nach draußen darf,
Miß Fellowes? In Wirklichkeit? Nicht nur in meinen Träumen?« »Bald«, sagte sie leise, und das Herz wurde ihr schwer. »Bald.« Miß Fellowes überließ ihm ihre Hand. Sie liebte es, seine dicke, warme, trockene Haut auf ihrer Handfläche zu spüren. Er zog sie durch alle drei Räume der Stasissektion I – eine gemütliche, kleine Wohnung, gewiß, aber zugleich auch ein Gefängnis, in dem der häßliche, kleine Junge einen großen Teil der sieben Jahre (Waren es wirklich sieben? Wer wußte das schon mit Sicherheit?) seines Lebens verbracht hatte – an das einzige Fenster, von dem aus man (freilich nicht jetzt, bei Nacht) ein kümmerliches Wäldchen sehen konnte, einen Teil der realen Welt. Außerdem gab es da draußen einen Zaun und eine Anzeigetafel, die jedermann in grellen Lettern und unter Androhung der schrecklichsten Strafen ermahnte, sich von diesem Gelände fernzuhalten. Timmie drückte sich die Nase am Fenster platt. »Erzähl mir noch einmal, wie es da draußen aussieht, Miß Fellowes.« »Besser und schöner als hier«, sagte sie traurig. Wie so oft im Lauf der vergangenen drei Jahre betrachtete sie das Profil ihres armen kleinen Schützlings verstohlen aus dem Augenwinkel. Die Stirn wich stark nach hinten zurück, und das dichte, struppige Haar war voller widerspenstiger Wirbel und hatte sich nie so recht bändigen lassen. Der ausladende Hinterkopf wirkte fast zu schwer und schien den kleinen Körper nach vorne zu ziehen. Schon waren die kräftigen Knochenwülste oberhalb der Augen so weit entwickelt, daß die Haut darüber spannte. Der breite Mund ragte weiter nach vorne als die breite, flache Nase, dafür ging der Kieferknochen
fast kinnlos in den Hals über. Der Junge war für sein Alter ziemlich klein und hatte auffallend kurze, krumme Beine. Trotz seines kräftigen Körperbaus wirkte er fast wie ein Zwerg. Über einem der breiten, kräftigen Backenknochen prangte unübersehbar ein feuerrotes Muttermal in Form eines gezackten Blitzes. Er war ein sehr häßlicher kleiner Junge, und Edith Fellowes liebte ihn mehr als alles andere auf der Welt. Sie stand hinter ihm, so daß er nicht sehen konnte, wie ihre Lippen zitterten. ›Sie‹ wollten ihn umbringen. Darauf lief es letztlich hinaus. Er war doch nur ein Kind, ein ungewöhnlich hilfloses Kind sogar, und ›sie‹ wollten ihn in den Tod schicken. Das durfte nicht geschehen. Sie würde alles tun, um es zu verhindern. Alles. Wenn sie ›ihre‹ Pläne störte, wäre das zwar ein massiver Verstoß gegen ihre Pflichten, und sie hatte in ihrem Leben noch nie etwas getan, was ihren Pflichten, oder was sie darunter verstand, zuwidergelaufen wäre, aber das war ihr jetzt egal. Sie war ›ihnen‹ verpflichtet, kein Zweifel, aber sie hatte auch Timmie gegenüber eine Pflicht zu erfüllen, ganz zu schweigen von sich selbst. Und sie wußte auch ganz genau, welche dieser Pflichten an erster Stelle stand, welche an zweiter und welche an dritter. Sie klappte den Koffer auf und holte den Mantel heraus, die Wollmütze mit den Ohrenklappen und die anderen Sachen. Timmie drehte sich um und sah sie mit seinen großen, strahlenden Augen ernst an. »Was hast du da mitgebracht, Miß Fellowes?« »Kleider«, sagte sie. »Kleider für draußen.« Sie winkte ihn zu sich. »Komm her, Timmie.«
2 Sie war die dritte Bewerberin gewesen, die sich bei Hoskins vorstellte. Die beiden anderen waren ihm von der Personalabteilung wärmstens empfohlen worden. Aber Gerald Hoskins war ein resoluter Vorgesetzter, der zwar durchaus gewisse Aufgaben an Untergebene delegierte, dann aber deren Vorschläge nicht ungeprüft übernahm, sondern die Mühe nicht scheute, sich eine eigene Meinung zu bilden. Es gab Stimmen in der Firma, die dies für seine größte Schwäche als Generaldirektor hielten, und manchmal gab er diesen Stimmen sogar recht. Dennoch hatte er es sich nicht nehmen lassen, allen drei Kandidatinnen persönlich auf den Zahn zu fühlen. Der ersten hatte Sam Aickman, der Personalchef der Stasis GmbH, wahre Lobeshymnen vorausgeschickt. Das allein hätte schon genügt, um Hoskins’ Mißtrauen zu wecken. Aickman hatte nämlich eindeutig eine Vorliebe für hartgesottene Karrieremenschen. Dagegen war nichts einzuwenden, wenn man etwa einen Spezialisten für Implosionsfeldeindämmung oder einen Mann suchte, der aufsässigen Positronenschwärmen Manieren beibringen sollte. Aber Hoskins war nicht überzeugt davon, daß einer von Sams High-Tech-Leuten die richtige Wahl für diese Aufgabe wäre. Sie hieß Marianne Levien, und sie war ein Tiger. Schätzungsweise Ende Dreißig, schlank und gepflegt, eine blendende Erscheinung. Nicht gerade eine Schönheit – das Wort traf nicht den Kern der Sache – aber auf jeden Fall nicht zu übersehen. Sie hatte wundervoll modellierte Wangenknochen. Das
pechschwarze Haar trug sie straff aus der Stirn gekämmt. Ihren kalten, glitzernden Augen entging nichts. Ihr elegantes Kostüm mit den Goldpaspeln war in einem satten Dunkelbraun gehalten und sah so aus, als habe sie es erst vorgestern in Paris oder San Francisco gekauft. An ihrem Hals blitzte ein trügerisch schlichtes Gebilde aus Golddraht und Perlen, ein Schmuckstück, wie man es nach Hoskins’ Ansicht gewöhnlich nicht zu einem Vorstellungsgespräch anlegte, schon gar nicht, wenn man sich um eine Stelle wie diese bewarb. Die Frau trat auf wie eine aggressive Jungmanagerin, deren höchstes Ziel ein Sitz im Vorstand war. Seiner Vorstellung von einer Kinderpflegerin entsprach sie jedenfalls nicht. Doch genau das war sie im Grunde, obwohl die Bezeichnung Kinderpflegerin für jemanden von ihrer Erfahrung und mit ihren Verbindungen eher etwas dürftig erschien. Ihr beruflicher Werdegang war einfach phänomenal. Promoviert hatte sie über heuristische Pädagogik und Rehabilitationstechnologie. Dann war sie auf der Kinderstation des Houston General als Assistentin des Leiters der Spezialabteilung tätig gewesen. Außerdem hatte sie der Katzin-Kommission, dem Bundesausschuß für Erziehungsförderung, beratend zur Seite gestanden. Eine sechsjährige Erfahrung mit Interfacemodellen für den Anschluß von autistischen Kindern an eine Künstliche Intelligenz rundeten das Bild ab. Ihre Software-Bibliographie war kilometerlang. Genau das, was die Stasis GmbH für diesen Posten brauchte? Sam Aickman schien jedenfalls dieser Ansicht zu sein. »Sie sind sich doch darüber im klaren«, begann Hoskins, »daß Sie im Falle einer Einstellung alle Ihre anderen Projekte aufgeben müßten, die Arbeit in Washington, die Verbindung
zum Houston General sowie jegliche Beratertätigkeit, die mit Reisen verbunden ist. Im Prinzip wären Sie über mehrere Jahre hier festgenagelt und hätten sich ausschließlich einer einzigen, wenn auch sehr ungewöhnlichen Aufgabe zu widmen.« Sie zuckte nicht mit der Wimper. »Dessen bin ich mir bewußt.« »Wie ich Ihren Unterlagen entnehme, haben Sie allein in den letzten anderthalb Jahren an Konferenzen in São Paulo, Winnipeg, Melbourne, San Diego und Baltimore teilgenommen und auf fünf weiteren, wissenschaftlichen Kongressen, bei denen Sie nicht persönlich anwesend sein konnten, Referate verlesen lassen.« »Das ist richtig.« »Und dennoch glauben Sie, den Sprung aus dem mehr als aktiven Berufsleben, das sich in Ihren Papieren widerspiegelt, in das strenge Einsiedlerdasein, das Sie hier erwartet, ohne weiteres schaffen zu können?« Kalte Entschlossenheit leuchtete aus ihren Augen. »Ich bin nicht nur vollkommen überzeugt davon, den Sprung zu schaffen, ich kann es sogar kaum erwarten, ihn zu wagen.« Für Hoskins klang diese Beteuerung nicht ganz aufrichtig. »Könnten Sie das etwas genauer erläutern?« bat er. »Womöglich haben Sie nicht so ganz erfaßt, welch… äh… geradezu klösterliche Züge das Leben bei der Stasis GmbH trüge. Und welch hohe Ansprüche die für Sie vorgesehene Tätigkeit aller Voraussicht nach an Sie stellen würde.« »Dessen bin ich mir durchaus bewußt, Dr. Hoskins.« »Und doch können Sie es kaum erwarten?« »Vielleicht bin ich nicht mehr ganz so begierig darauf, von Winnipeg über Melbourne nach São Paulo zu hetzen, wie
früher.« »Ein Anflug von Burnout, wenn ich Sie recht verstehe, Dr. Levien?« Der Schatten eines Lächelns umspielte ihre Lippen, die erste Spur menschlicher Wärme, seit sie Hoskins’ Büro betreten hatte. Aber das Lächeln verschwand ebenso rasch wieder, wie es aufgetaucht war. »So könnte man sagen, Dr. Hoskins.« »Und Sie würden es auch so bezeichnen?« Das war ein Überraschungsangriff, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Doch nach einem einzigen, tiefen Atemzug war die Fassade unerschütterlichen Gleichmuts auch schon wieder intakt. »Der Ausdruck Burnout ist vielleicht etwas zu stark, um mein Bedürfnis nach Neuorientierung zu beschreiben. Sagen wir lieber, ich sei daran interessiert, meinen Energieeinsatz – der sich, wie Sie selbst sehen können, bislang einigermaßen diffus darstellt – so umzuleiten, daß sich eine Outputkonzentration ergibt.« »Aha – ja. Genau.« Hoskins betrachtete sie mit einer Mischung aus Respekt und Abscheu. Ihre Altstimme traf stets genau den richtigen Ton, ihre Augenbrauen waren makellos symmetrisch, sie saß sehr aufrecht, ihre Haltung war absolut perfekt. Sie war eine in jeder Hinsicht außergewöhnliche Frau. Aber irgendwie schien sie kein Mensch aus Fleisch und Blut zu sein. Nach einer kurzen Pause sagte er: »Was hat Sie denn nun – abgesehen von der Möglichkeit, Ihren Energieeinsatz besser zu konzentrieren – dazu bewogen, sich gerade um diese Stelle zu bewerben?« »Es handelt sich um ein Experiment, das mich fasziniert.«
»Aha. Inwiefern?« »Wie jeder gute Kinderbuchautor weiß, unterscheidet sich die Welt des Kindes erheblich von der des Erwachsenen – es ist sozusagen eine fremde Welt mit vollkommen anderen Werten, Prämissen und Realitätsvorstellungen. Mit zunehmendem Alter vollziehen die meisten von uns den Wechsel von jener Welt in die unsere, und zwar so kompromißlos, daß wir die Sphäre, die wir zurücklassen, einfach aus unserem Gedächtnis streichen. Bei meiner Arbeit mit Kindern habe ich mich immer bemüht, in ihre Seele vorzustoßen und den Charakter ihrer so ganz anderen Welt zu ergründen, soweit mir das mit der begrenzten Sichtweise des Erwachsenen möglich ist.« Hoskins gab sich alle Mühe, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. »Sie halten Kinder also für Wesen von einem anderen Stern?« »Bildlich gesprochen, ja. Natürlich ist das nicht wörtlich zu nehmen.« »Natürlich.« Stirnrunzelnd überflog er noch einmal ihren Lebenslauf. »Sie waren nie verheiratet?« »Nein.« Das klang recht kühl. »Und als alleinerziehende Mutter haben Sie sich vermutlich auch nicht versucht?« »Ich habe diese Möglichkeit vor einigen Jahren ernsthaft in Erwägung gezogen. Aber meine Arbeit bietet mir so oft Gelegenheit, mich als Ersatzmutter zu fühlen, daß in dieser Hinsicht keine Wünsche offenbleiben.« »Ja, das kann ich mir denken. – Nun, sie sagten vorhin, Sie empfänden die Welt des Kindes im Grunde als vollkommen fremd. Wie paßt diese Aussage zu meiner Frage nach den Motiven, die Sie bewogen haben, sich um diese Stelle zu
bewerben?« »Wenn ich nach der bemerkenswert oberflächlichen Beschreibung Ihres Experiments gehen kann, die mir zugänglich gemacht wurde, hätte ich die Aufgabe, ein Kind zu betreuen, das im wahrsten Sinne des Wortes aus einer fremden Welt kommt. Nicht räumlich, aber zeitlich fremd, wobei die existentielle Situation im Grunde die gleiche ist. Ich würde gern die fundamentalen Unterschiede studieren, die ein solches Kind von uns trennen. Von der Auswertung der parallaktischen Verschiebungen verspreche ich mir neue Erkenntnisse für meine Arbeit.« Hoskins starrte sie fassungslos an. Nein, dachte er. Das ist kein Mensch aus Fleisch und Blut. Das ist ein raffinierter Androide. Ein Kinderpflegeroboter. Nur hatte die Robottechnik noch längst nicht diesen Standard erreicht – dessen war er ganz sicher. Demnach müßte sie wohl doch ein menschliches Wesen sein. Jedenfalls benahm sie sich nicht so. »Die Sache ist möglicherweise nicht so einfach«, gab er zu bedenken. »Zum Beispiel könnte es Verständigungsprobleme geben. Das Kind wird höchstwahrscheinlich sprachbehindert sein. Mehr noch, es ist durchaus denkbar, daß es vollkommen unfähig ist, sich sprachlich zu äußern.« »Es?« »Er oder sie, das ist noch offen. Sie wissen ja, daß der Versuch erst in etwa drei Wochen stattfinden soll, und bevor es nicht tatsächlich hier ist, wissen wir im Grunde nichts.« Das schien sie nicht weiter zu stören. »Ich bin mir der Risiken bewußt. Das Kind könnte im Bereich der sprachlichen, der körperlichen und vielleicht auch der geistigen Entwicklung drastische Störungen aufweisen.«
»Ja, möglicherweise müßten Sie es behandeln wie ein stark zurückgebliebenes Kind unserer eigenen Zeit. Wir wissen es einfach nicht. Sie wären mit einer völlig unbekannten Größe konfrontiert.« »Ich fühle mich der Herausforderung gewachsen, Dr. Hoskins«, sagte sie. »Dieser und jeder anderen. Herausforderungen haben mich immer gereizt.« Das glaubte er ihr aufs Wort. Die vorsichtig, ja bewußt unklar formulierte Stellenausschreibung schien sie nicht zu stören. Sie war offenbar bereit, alles zu nehmen, wie es kam, ohne sich über das Warum und Weshalb den Kopf zu zerbrechen. Es war nicht schwer zu begreifen, warum Sam Aickman von ihr so angetan gewesen war. Wieder legte Hoskins eine kurze Pause ein, um ihr Gelegenheit zu geben, sich zu äußern, und Marianne Levien zögerte nicht, davon Gebrauch zu machen. Sie griff in ihren Diplomatenkoffer und holte einen Kleinstcomputer von der Größe einer Münze heraus. »Ich habe ein Programm mitgebracht«, sagte sie, »an dem ich arbeite, seit Ihr Stellenangebot über das Computernetz ging. Es handelt sich um die Variation einer Studie, die ich vor sieben Jahren in Peru an hirngeschädigten Kindern durchgeführt habe: der Kommunikationsfluß wird durch sechs Algorithmen definiert und modifiziert. Im wesentlichen handelt es sich darum, die normalen Sprachkanäle des Gehirns zu umgehen und…« »Vielen Dank«, schnitt Hoskins ihr freundlich das Wort ab. Den winzigen Apparat, den sie ihm entgegenstreckte, beäugte er so mißtrauisch, als sei es eine Bombe. »Aber aus verschiedenen juristischen Gründen ist es mir nicht erlaubt, mir Ihr Material anzusehen, bevor Sie tatsächlich Angestellte der
Stasis GmbH sind. Wenn Sie bei uns erst einmal unter Vertrag stehen, wird es mir selbstverständlich ein Vergnügen sein, mich mit Ihnen ausführlich über Ihre früheren Forschungsprojekte zu unterhalten, aber bis dahin…« »Ich verstehe«, sagte sie. Das Blut stieg ihr in die makellosen Wangen. Sie wußte, sie hatte einen taktischen Fehler begangen, war übereifrig, ja aufdringlich gewesen. Hoskins beobachtete, wie routiniert sie sich wieder fing. »Ich verstehe vollkommen. Wie töricht von mir, den Dienstweg kurzerhand umgehen zu wollen. Aber Sie begreifen hoffentlich, Dr. Hoskins, daß hinter der glatten Fassade der stets beherrschten Frau der Forschungseifer glüht, daß ich mit der ganzen Begeisterung einer jungen Studentin darauf brenne, die Geheimnisse des Universums zu enträtseln. Obwohl ich genau weiß, was machbar und angemessen ist, passiert es mir immer wieder, daß ich es nicht mehr erwarten kann, den Dingen auf den Grund zu gehen, und deshalb vergesse, mich an die protokollarischen Gepflogenheiten zu halten…« Hoskins lächelte. Hoskins nickte. Hoskins sagte: »Selbstverständlich, Dr. Levien. Allzu große Begeisterung ist kein Verbrechen. – Ich fand das Gespräch mit Ihnen sehr ergiebig. Sobald wir uns entschieden haben, geben wir Ihnen Bescheid.« Sie sah ihn so erstaunt an, als habe sie erwartet, vom Fleck weg engagiert zu werden. Aber sie war doch so vernünftig, sich auf ein: »Vielen herzlichen Dank« und »Auf Wiedersehen« zu beschränken. An der Tür seines Büros blieb sie stehen, drehte sich um und schaltete ein letztes Mal ihr strahlendes Lächeln ein, das in Hoskins’ Erinnerung noch eine ganze Weile nachglühen sollte. Dann war sie endlich draußen.
Puh, dachte Hoskins, zog sein Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
3 Die zweite Bewerberin war in fast jeder Beziehung das genaue Gegenteil von Marianne Levien. Zum einen war sie etwa zwanzig Jahre älter; zum zweiten wirkte sie nicht im mindesten elegant, unerschütterlich, einschüchternd, blendend oder gar android. Dorothy Newcombe war vielmehr eine Matrone von schier überquellenden Formen. Sie trug keinerlei Schmuck, und ihre Kleidung war von einer Einfachheit, die an Geschmacklosigkeit grenzte. Sie trat auf wie die Sanftmut in Person, und aus ihren Zügen sprach eine herzerwärmende Fröhlichkeit. Ihre mütterliche Ausstrahlung war fast mit Händen zu greifen. Jedes Kind hätte sich eine solche Großmutter gewünscht. Bei soviel schlichter Natürlichkeit fiel es schwer zu glauben, daß sie auch noch über die erforderlichen Kenntnisse in Kinderheilkunde, Physiologie und klinischer Chemie verfügte. Doch das stand alles schwarz auf weiß in ihren Bewerbungsunterlagen. Obendrein besaß sie, ein unerwartetes Plus, eine akademische Ausbildung in anthropologischer Medizin. Noch immer hatte nämlich nicht die ganze Welt teil an den Wundern der Zivilisation des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Hier wie dort hatten sich unterentwickelte Regionen erhalten, und Dorothy Newcombe hatte in verschiedenen Erdteilen – in
Afrika, Südamerika, Polynesien und Südostasien – in sechs oder sieben davon gearbeitet. Kein Wunder, daß Sam Aickman ihr sein Plazet gegeben hatte. Eine Frau, die nicht nur für eine Statue der Göttin der Mutterliebe hätte Modell stehen können, sondern auch noch Erfahrung im Umgang mit Kindern in primitiven Gesellschaften hatte… Sie war in jeder Hinsicht ein Volltreffer. Nach der entsetzlich perfekten Marianne Levien, die geradewegs aus einem Hochglanzprospekt entsprungen schien, fühlte sich Hoskins in Gegenwart dieser Frau so wohl, daß er ihr am liebsten zugesagt hätte, ohne sie vorher in die Zange zu nehmen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, daß er sich den Luxus erlaubte, einer spontanen Eingebung zu folgen. Aber er beherrschte sich. Und dann – eine schmerzliche Überraschung – flog Dorothy Newcombe bereits fünf Minuten nach Beginn des Gesprächs aus dem Rennen. Zunächst war alles wie am Schnürchen gelaufen. Sie zeigte sich als warmherzige, sympathische Frau. Natürlich liebte sie Kinder; sie hatte nicht nur drei eigene großgezogen, sondern war schon vorher, als älteste Tochter einer kränkelnden Mutter, mit erzieherischen Aufgaben betraut gewesen und hatte sich, solange sie denken konnte, um ihre vielen Geschwister gekümmert. Auch an ihrer beruflichen Laufbahn gab es nichts auszusetzen. Die Krankenhäuser und Sanatorien, in denen sie gearbeitet hatte, lobten sie über den grünen Klee; sie hatte in den abgelegensten Gebieten der Erde bei primitiven Stämmen klaglos die ungewohntesten und härtesten Bedingungen auf sich genommen; sie liebte es, sich Kindern mit den unterschiedlichsten Defiziten zu widmen, und konnte es kaum erwarten, sich mit den neuen und einmaligen Problemen
auseinanderzusetzen, die beim Projekt der Stasis GmbH zweifellos auf sie zukommen würden. Doch dann kam man auf die Gründe zu sprechen, die sie veranlaßten, ihre derzeitige – sehr wichtige und wohl auch dankbare – Tätigkeit als Pflegedienstleiterin in einem Kinderbetreuungszentrum in den Südstaaten aufzugeben, um sich im verschwiegenen und streng bewachten Hauptquartier der Stasis GmbH lebendig begraben zu lassen. Und sie sagte: »Ich weiß, daß ich auf eine Menge verzichten müßte, um hier zu arbeiten. Aber ich würde auch eine Menge profitieren. Ich bekäme nicht nur Gelegenheit, bei dem, was ich am liebsten tue, völliges Neuland zu betreten. Ich könnte auch hoffen, endlich diesen lästigen Bruce Mannheim loszuwerden.« Hoskins überlief es eiskalt. »Bruce Mannheim? Sie meinen den Wortführer von ›Kinder in der Krise‹?« »Gibt es noch einen anderen?« Hoskins holte tief Atem und hielt erst einmal die Luft an. Das war wie ein Blitz aus heiterem Himmel gekommen. Mannheim! Das Großmaul! Der ewige Unruhestifter! Wie, in aller Welt, war Dorothy Newcombe bloß mit diesem Menschen aneinandergeraten? Nach einer kurzen Pause erkundigte er sich vorsichtig: »Soll das heißen, daß es zwischen Ihnen und Bruce Mannheim irgendwelche Probleme gibt?« Sie lachte. »Probleme? So kann man’s auch nennen. Er hat Anzeige gegen mein Krankenhaus erstattet oder, genauer gesagt, gegen mich. Ich werde jedenfalls namentlich erwähnt. Die Sache stört bei uns seit einem halben Jahr in unerträglicher Weise den gesamten Betrieb.« Hoskins drehte sich fast der Magen um. Um seine Erschüt-
terung zu verbergen, beschäftigte er sich angelegentlich mit den Papieren auf seinem Schreibtisch. »Davon steht kein Wort im Bericht unserer Personalabteilung.« »Bisher hat mich auch niemand danach gefragt. Ich wollte nichts verheimlichen, sonst hätte ich auch jetzt nicht davon angefangen. Das Thema kam einfach nicht zur Sprache.« »Dann frage ich Sie jetzt, Ms. Newcombe. Was steckt dahinter?« »Sie wissen, daß dieser Mannheim ein professioneller Scharfmacher ist? Sie wissen, daß er die extremsten Positionen vertritt, die man sich vorstellen kann, nur um aller Welt zu demonstrieren, wie sehr ihm das Wohl der Kinder am Herzen liegt?« Es war sicher nicht zu empfehlen, sich allzu sehr aus der Reserve locken zu lassen. Nicht, wenn Bruce Mannheim im Spiel war. So bemerkte Hoskins nur mit aller gebotenen Zurückhaltung: »Ich weiß, daß gewisse Leute so über ihn denken.« »Sie formulieren das auffallend diplomatisch, Dr. Hoskins. Befürchten Sie etwa, er könnte Ihr Büro abhören lassen?« »Wohl kaum. Aber ich teile Ihre offenkundige Abneigung gegen Mannheim und seine Ideen nicht unbedingt. Wenn ich ehrlich sein soll, kümmert er mich eigentlich nicht weiter, und ich habe bisher nicht darauf geachtet, was für Mißstände er anprangert.« Das war eine glatte Lüge, und Hoskins war dabei nicht wohl in seiner Haut. In einem der ersten Planungsentwürfe für das laufende Projekt hatte nämlich ausdrücklich gestanden: Veranlassen Sie alles Nötige, um zu verhindern, daß uns Nervensägen wie Bruce Mannheim in die Quere kommen. Aber schließlich ging es hier um die Einstellung von Ms. Newcom-
be, und so stand es ganz in Hoskins’ Ermessen, wieviel er ihr verraten wollte. Er beugte sich vor. »Im Grunde weiß ich nur, daß er sehr lautstarke Kampagnen führt, in denen er seine Vorstellungen über die Erziehung von Kindern in staatlichen Einrichtungen aufs eloquenteste zum Ausdruck bringt. Ob diese Vorstellungen richtig sind oder nicht, vermag ich nicht zu beurteilen. Aber nun zurück zu dieser Klage, Ms. Newcombe…« »Wir haben ein paar kleine Kinder von der Straße geholt. Die meisten sind drogensüchtig in der dritten oder sogar in der vierten Generation, die Abhängigkeit ist ererbt. Glauben Sie mir, es gibt nichts Schlimmeres als Kinder, die mit einer Sucht geboren werden: – Sie sind vermutlich mit der gängigen Theorie vertraut, daß der Drogensucht wie den meisten physischen Abhängigkeiten in vielen Fällen eine erbliche Veranlagung vorausgeht.« »Natürlich.« »Nun, deshalb führen wir an diesen Kindern, sowie an ihren Eltern und Großeltern, sofern wir sie auffinden können, genetische Untersuchungen durch. Wir bemühen uns, das drogenpositive Gen, falls es das überhaupt gibt, ausfindig zu machen und zu isolieren, in der Hoffnung, es eines Tages eliminieren zu können.« »Hört sich nicht schlecht an«, sagte Hoskins. »So denkt offenbar jeder bis auf Bruce Mannheim. Er ist über uns hergefallen, als würden wir tatsächlich operativ in die Gene dieser Kinder eingreifen, dabei stöbern wir nur ein bißchen in ihren Chromosomen herum, um zu sehen, was sie enthalten. Reine Forschungstätigkeit, keinerlei Genmanipulation. Aber er hat sechzehn einstweilige Verfügungen gegen uns erwirkt und uns damit auf jede nur denkbare Weise die
Hände gebunden. Es ist wirklich zum Weinen. Wir haben versucht, ihm unser Vorhaben zu erklären, aber er hört einfach nicht zu. Er dreht uns unsere eigenen Aussagen im Munde herum und baut darauf seine nächste Klage auf. Und Sie wissen ja, wie die Gerichte reagieren, wenn jemand den Vorwurf erhebt, in einer Einrichtung würden Kinder als Versuchsobjekte mißbraucht.« »Leider ja«, bedauerte Hoskins. »Und nun muß Ihr Krankenhaus seine Energien und seine finanziellen Mittel darauf verwenden, sich vor Gericht zu verteidigen, anstatt…« »Nicht nur das Krankenhaus. Er hat Anklage gegen Einzelpersonen erhoben, unter anderem gegen mich. Ich bin eine von bislang neun Wissenschaftlern, denen er – angeblich aufgrund der sogenannten Ermittlungen, die er über unsere Arbeit durchgeführt hat – nichts Geringeres als Kindesmißbrauch unterstellt.« Das klang eindeutig verbittert, aber auch ein belustigter Unterton war nicht zu überhören. Ihre Augen blitzten spöttisch auf, und dann lachte sie, daß ihre schweren Brüste erbebten. »Können Sie sich das vorstellen? Kindesmißbrauch? Bei mir?« Hoskins schüttelte mitfühlend den Kopf. »Wirklich unglaublich.« Doch er hatte sich, wenn auch schweren Herzens, bereits entschieden. Zwar vertrat er immer noch die Meinung, daß diese Frau die ideale Besetzung für die Stelle gewesen wäre. Aber wie konnte er sich auf jemanden einlassen, der bereits im Vorfeld Schwierigkeiten mit dem gefürchteten Bruce Mannheim hatte? Das Projekt würde ohnehin genügend Staub aufwirbeln. Mannheim würde allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz schon allzu bald seine Nase hineinstecken. Trotzdem, Dorothy Newcombe auf die Personalliste zu setzen,
hieße, sehenden Auges in den Abgrund zu rennen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie Mannheim eine Pressekonferenz abhielt und bekanntgab, die Stasis GmbH wolle eine Frau beschäftigen, die angeklagt war, sich in einer anderen wissenschaftlichen Institution des Kindesmißbrauchs schuldig gemacht zu haben – und Mannheim würde das Wort angeklagt schon so verwenden, daß es wie verurteilt klang –, um ihr die Obhut über ein Kind zu übertragen, das das bedauernswerte Opfer einer unerhörten, neuen Form von Kindesentführung… Nein. Nein. Er konnte ihr unmöglich zusagen. Er zwang sich, noch fünf Minuten lang mit seinen Fragen fortzufahren. Nach außen hin herrschte weiterhin eitel Sonnenschein, aber der Rest war reine Formsache, und beide waren sich dessen bewußt. Als sie ging, bedankte er sich für ihre Offenheit, versicherte ihr noch einmal, für wie fähig er sie halte, und versprach wie üblich, ihr bald Bescheid zu geben. Sie beteuerte ihm lächelnd, wie sehr sie das Gespräch genossen habe – und wußte doch ganz genau, daß sie die Stelle nicht bekommen würde. Sobald sie draußen war, rief er Sam Aickman an. »Du meine Güte, Sam«, sagte er, »warum erfahre ich nicht, daß Dorothy Newcombe derzeit in einen von Bruce Mannheims verrückten Prozessen verwickelt ist?« Selbst auf dem Bildschirm war zu erkennen, wie erstaunt, ja schockiert Aickman war. »Tatsächlich?« »Sie hat es mir eben selbst gesagt. Eine Anklage wegen Kindesmißbrauchs in Zusammenhang mit ihrer Arbeit.« »Wirklich? Was Sie nicht sagen.« Aickman war tief erschüttert und nicht wenig beschämt. »Verdammt, Jerry, ich hatte keine Ahnung, daß sie mit diesem verdammten Quälgeist
auch nur das Geringste zu tun hat. Glauben Sie mir, wir haben sie auf Herz und Nieren geprüft. – Aber wir waren wohl doch nicht gründlich genug.« »Das hätte uns gerade noch gefehlt, uns jemanden hierherzuholen, der bereits auf Mannheims Abschußliste steht.« »Aber sie ist phantastisch, finden Sie nicht? Das mütterlichste Wesen, das mir jemals…« »Sicher. Ganz Ihrer Meinung. Nur leider kann man sich felsenfest darauf verlassen, daß Mannheims Juristengeschmeiß sich sofort auf sie stürzt, wenn er erfährt, daß sie hier arbeitet. Oder sehen Sie das anders, Sam?« »Hat also wohl ganz den Anschein, als würde Marianne Levien das Rennen machen.« »Ich habe noch nicht mit allen Bewerbern gesprochen«, sagte Hoskins. »Aber die Levien macht keinen schlechten Eindruck.« »Das kann man wohl sagen«, erwiderte Aickman grinsend.
4 Edith Fellowes konnte nicht wissen, daß sie erst an dritter Stelle der Kandidatenliste stand, aber es hätte sie nicht überrascht. Sie war daran gewöhnt, zunächst unterschätzt zu werden. Der unscheinbaren Frau mit dem unspektakulären Auftreten gönnte niemand einen zweiten Blick. Sie war weder atemberaubend schön, noch faszinierend häßlich, weckte weder mit sprühendem Temperament, noch mit übertriebener
Zurückhaltung Interesse, zeichnete sich weder durch kühne Inspiration, noch durch akribische Sorgfalt aus. So war sie von ihren Mitmenschen schon immer als selbstverständlich hingenommen worden. Doch sie war eine seelisch robuste Person, die mit beiden Beinen fest auf der Erde stand und sich ihres Wertes durchaus bewußt war. Sie führte ein ausgefülltes Leben und war im großen und ganzen mit sich und der Welt zufrieden – im großen und ganzen. Die Firma Stasis GmbH war für sie ein Reich voller Geheimnisse. Äußerlich erinnerte sie eher an den Campus einer Universität. Schmucklose, graue Betonkästen auf freundlich grünen Rasenflächen, dazwischen hier und dort ein Bäumchen. Ein Forschungszentrum wie tausend andere. Doch Edith Fellowes wußte, daß hinter diesen grauen Mauern seltsame Dinge geschahen – Dinge, die ihren Verstand, ja sogar ihre Vorstellungskraft überstiegen. Der Gedanke, womöglich bald selbst in einem dieser Gebäude zu arbeiten, erfüllte sie mit ehrfürchtiger Scheu. Wie die meisten Leute wußte sie nur in sehr groben Zügen Bescheid darüber, womit sich das Unternehmen beschäftigte oder mit welchen Mitteln es seine erstaunlichen Erfolge erzielt hatte. Sie hatte natürlich von dem kleinen Dinosaurier gehört, den man aus der Vergangenheit geholt hatte, und, nachdem sie ihre anfängliche Skepsis überwunden hatte, gehörig darüber gestaunt. Aber als ein Journalist im Fernsehen erklärte, wie es der Stasis GmbH gelungen war, das ausgestorbene Reptil ins einundzwanzigste Jahrhundert zu bringen, hatte sie kein Wort verstanden. Dann hatte die Expedition zu den Jupitermonden die Stasis und ihren Dinosaurier nicht nur von den Titelseiten der Zeitungen, sondern auch aus ihrem Gedächtnis verdrängt. Der Dinosaurier war nur eine kurzlebige
Sensation gewesen, eine von vielen in einem Jahrhundert, das Sensationen am laufenden Band produzierte. Und jetzt plante die Stasis GmbH, ein Kind aus der Vergangenheit zu holen, ein menschliches Kind, ein menschliches Kind aus der Urzeit. Und man suchte jemanden, der sich um dieses Kind kümmerte. Das konnte sie. Und das wollte sie auch. Möglicherweise war sie besser dafür geeignet als irgend jemand sonst. Auf jeden Fall handelte es sich um eine Tätigkeit, die sie ganz ausgezeichnet beherrschte. Die Aufgabe war als anspruchsvoll, außergewöhnlich und ungemein schwierig beschrieben worden. Das konnte sie nicht abschrecken. Schließlich war sie gerade den anspruchslosen, alltäglichen und einfachen Jobs immer aus dem Weg gegangen. In der Anzeige wurde eine Frau gesucht, die physiologische Kenntnisse besaß, Erfahrungen in klinischer Chemie aufzuweisen hatte und kinderlieb war. Edith Fellowes erfüllte alle diese Voraussetzungen. Die Kinderliebe war ihr sozusagen angeboren – gab es überhaupt einen normalen Menschen, der Kinder nicht liebte? Und schon gar eine Frau! Physiologie war Bestandteil ihrer Ausbildung zur Krankenschwester gewesen. Mit klinischer Chemie hatte sie sich erst nachträglich beschäftigt – wenn man mit kranken Kindern arbeiten wollte, von denen viele zu früh geboren waren oder mit Behinderungen irgendwelcher Art zu kämpfen hatten, war es sinnvoll, sich möglichst umfassend darüber zu informieren, mit welchen Mitteln man die kleinen Körper zu besseren Leistungen anspornen konnte.
Also eine anspruchsvolle, schwierige Aufgabe und ein außergewöhnliches Kind – genau das Richtige für sie. Und das Gehalt war so hoch, daß man unwillkürlich hellhörig wurde, obwohl bei ihrer Lebensführung materieller Reichtum nie eine besondere Rolle gespielt hatte. Außerdem brauchte sie eine neue Herausforderung. Der Alltagstrott im Kinderkrankenhaus verlor zusehends an Reiz, weckte sogar einen gewissen Überdruß. Eine schreckliche Vorstellung, dachte sie, die eigene Arbeit satt zu haben, noch dazu in ihrem Beruf. Vielleicht wäre ein Tapetenwechsel wirklich angebracht. Ein Kind aus der Urzeit… Warum nicht? »Dr. Hoskins erwartet Sie«, sagte die Vorzimmerdame. Die elektronisch gesteuerte Tür glitt geräuschlos auf. Miß Fellowes betrat ein Büro, dessen Bescheidenheit sie überraschte. Es enthielt einen ganz gewöhnlichen Schreibtisch mit einem ganz gewöhnlichen Computerbildschirm, hinter dem ein ganz gewöhnlicher, etwa fünfzigjähriger Mann saß. Er hatte dünnes, rotbraunes Haar, ein leichtes Doppelkinn und auffallend nach unten gezogene Mundwinkel, die ihn vielleicht mürrischer aussehen ließen, als er tatsächlich war. Das Namensschild auf dem Schreibtisch verkündete: GERALD A. HOSKINS, Dr. rer. nat. Generaldirektor Miß Fellowes war von dem Schild nicht sonderlich beeindruckt, sondern fand es eher komisch. War die Firma wirklich so groß, daß der Generaldirektor in seinem eigenen Büro jeden Besucher daran erinnern mußte, wer an ihrer Spitze stand? Und warum hatte er es nötig, mit seinem Dr. rer. nat. zu
prahlen? Hatte hier nicht jeder einen oder mehrere akademische Titel? Oder war das seine Art, der Welt zu verkünden, daß er nicht bloß Geschäftsmann war, sondern im Grunde seines Herzens Wissenschaftler? Sie hätte ohnehin angenommen, daß ein so hochspezialisiertes Unternehmen wie die Stasis GmbH von einem Wissenschaftler geleitet wurde, das brauchte man ihr nicht eigens unter die Nase zu reiben. Er wollte sich eben wichtig machen, na und? Es gab Schlimmeres. Hoskins hatte einen Stapel Computerausdrucke vor sich liegen. Vermutlich ihre Bewerbungsunterlagen, den Bericht über das Vorgespräch und so weiter. Nun ging sein Blick mehrmals zwischen ihr und den Schriftstücken hin und her. Eine unverhohlene und etwas zu direkte Musterung. Miß Fellowes spürte, wie sie sich verkrampfte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg und ein Muskel unter dem Auge zu zucken begann. Jetzt denkt er sicher, daß ich zu starke Augenbrauen und eine schiefe Nase habe. Sie rief sich streng zur Ordnung. Mach dich nicht lächerlich, dachte sie. Dieser Mann interessiert sich ebenso wenig für den Winkel deiner Nase oder die Stärke deiner Augenbrauen wie für die Schuhmarke, die du trägst. Aber sie hätte nicht erwartet, so eingehend begutachtet zu werden, und war ein wenig beunruhigt. Eine Frau in Schwesterntracht war für die meisten Männer einfach nicht vorhanden. Jetzt war sie zwar nicht in Tracht, doch sie hatte im Lauf der Jahre gewisse Strategien entwickelt, um sich selbst in Straßenkleidern für Männeraugen unsichtbar zu machen, und das war ihr bisher recht gut gelungen. Nun stürzten diese prüfenden Blicke sie in eine ganz ungerechtfertigte Verwirrung.
»Sie haben ganz hervorragende Zeugnisse, Miß Fellowes«, sagte er. Sie lächelte nur. Was hätte sie auch sagen sollen? Ihm zustimmen? Oder widersprechen? »Und Ihre Vorgesetzten schwärmen geradezu von Ihnen. Die Formulierungen gleichen sich fast aufs Wort, wußten Sie das? Unermüdliche Einsatzfreude – tiefes Pflichtgefühl – Geistesgegenwart in kritischen Situationen – überragende Fachkenntnisse…« »Ich bin fleißig, Dr. Hoskins, und ich weiß im allgemeinen, was ich tue. Mehr wird mit diesen blumigen Phrasen im Grunde nicht ausgesagt.« »Mag sein.« Jetzt sah er ihr fest in die Augen, und plötzlich spürte sie die innere Kraft dieses Mannes, seine Zielstrebigkeit, die unerschütterliche Entschlossenheit, zu vollenden, was er sich vorgenommen hatte. Durchaus positive Eigenschaften für den Leiter eines Unternehmens, mit denen er seinen Mitarbeitern allerdings auch das Leben zur Hölle machen konnte. Man würde sehen, dachte sie und hielt seinem Blick ruhig stand. Endlich sagte er: »Ich sehe eigentlich keinen triftigen Grund, noch einmal auf Ihre fachlichen Voraussetzungen einzugehen. Die wurden in den Vorgesprächen gründlich ausgelotet, und Sie haben alle Prüfungen mit Bravour bestanden. An sich gibt es für mich nur noch zwei Punkte zu klären.« Sie wartete schweigend. »Erstens«, sagte er, »muß ich wissen, ob Sie jemals in irgendwelche Affären verwickelt waren, die man… nun ja… im politischen Sinne als heikel oder kontrovers bezeichnen könnte.« »Ich interessiere mich nicht für Politik, Dr. Hoskins. Ich gehe zur Wahl, wenn es jemanden gibt, der meine Stimme ver-
dient, was nicht oft vorkommt. Aber ich unterzeichne weder Bittschriften, noch marschiere ich bei Demonstrationen mit, wenn Sie das meinen.« »Nicht unbedingt. Ich dachte wohl doch eher an Kontroversen fachlicher Natur. Streitigkeiten darüber, wie Kinder behandelt werden sollten oder nicht.« »Ich kenne nur eine Art, wie man Kinder behandeln sollte. Man tut sein Möglichstes, um ihre Bedürfnisse zu erkennen und ihnen gerecht zu werden. Wenn sich das nach einer Vereinfachung anhört, tut es mir leid, aber…« Er lächelte. »Auch das trifft nicht genau den Punkt. Mir geht es vielmehr…« – er hielt inne, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen – »um Themen, wie dieser Bruce Mannheim sie anschneidet. Hitzige Debatten darüber, nach welchen Methoden in öffentlichen Einrichtungen mit Kindern zu verfahren sei. Können Sie mir folgen, Miß Fellowes?« »Ich habe hauptsächlich mit schwächlichen oder behinderten Kindern zu tun, Dr. Hoskins. Bei diesem Patientenkreis bemüht man sich ausschließlich darum, sie am Leben zu erhalten und dafür zu sorgen, daß sie zu Kräften kommen. Da gibt es nicht viel zu debattieren.« »Sie sind also niemals auf beruflicher Ebene mit sogenannten ›Anwälten der Kinder‹ von der Art eines Bruce Mannheim aneinandergeraten?« »Niemals. Ich habe wohl ein paarmal in den Zeitungen über Mr. Mannheim gelesen. Aber ich hatte nie Kontakt zu ihm oder seinesgleichen. Ich würde ihn nicht einmal erkennen, wenn ich ihm auf der Straße begegnete. Und seinen Vorstellungen stehe ich mehr oder weniger neutral gegenüber.« Man sah Hoskins an, wie erleichtert er war. »Ich wollte damit nicht sagen, daß ich ein Gegner Bruce
Mannheims oder der von ihm vertretenen Positionen wäre«, beteuerte er. »Aber es würde uns das Leben hier sehr erschweren, wenn unsere Arbeit zur Zielscheibe feindseliger Propaganda würde.« »Natürlich. Das wäre auch sicher nicht in meinem Sinn.« »Nun gut. Fahren wir fort. Meine zweite Frage betrifft Ihre innere Einstellung zu der Aufgabe, die hier auf Sie wartet. – Miß Fellowes, trauen Sie sich zu, ein Kind zu betreuen, das nicht nur schwierig und fremdartig ist, sondern auch widerspenstig und womöglich von abstoßendem Äußeren?« »Natürlich.« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Überlegen Sie es sich gut. Sie müssen mit ganz besonderen Problemen rechnen. Dieses Kind ist mit keinem anderen Kind auf der Welt zu vergleichen. Es wird das einsamste Kind aller Zeiten sein. Sind Sie sich wirklich vollkommen im klaren darüber, was da auf Sie zukommt? Und sind Sie innerlich bereit, diese Belastung auf sich zu nehmen?« Wieder starrte er sie an, als wolle er ihr ins Herz schauen. Wieder begegnete sie diesem durchdringenden Blick mit unerschütterlicher Ruhe. »Sie sagten, das Kind sei schwierig, fremdartig und – wie haben Sie sich ausgedrückt? – von abstoßendem Äußeren. Inwiefern abstoßend?« »Wie Sie ja wissen, handelt es sich um ein Kind aus der Urzeit. Es – er oder sie, das Geschlecht ist noch offen – könnte durchaus in einer Weise primitiv sein, die selbst die primitivsten Wilden auf der Erde von heute in den Schatten stellt. Unter Umständen wird sich dieses Kind mehr wie ein Tier als wie ein Mensch benehmen. Wie ein wildes Tier. Das meine ich mit schwierig, Miß Fellowes.«
»Ich habe nicht nur mit Frühgeborenen gearbeitet, Dr. Hoskins. Ich habe auch Erfahrung mit verhaltensgestörten Kindern, und da waren ein paar knallharte Burschen darunter.« »Aber vielleicht nicht so hart.« »Das bleibt wohl abzuwarten.« »Voraussichtlich unzivilisiert, unglücklich, einsam und wütend. Ein verängstigter Fremdling in einer Welt, die nicht die seine ist. Aus allem herausgerissen, was ihm vertraut war, und in eine Umgebung hineingestoßen, in der es fast völlig isoliert ist: ein Heimatvertriebener im wahrsten Sinne des Wortes. Kennen Sie den Ausdruck ›Heimatvertriebener‹, Miß Fellowes? Er stammt aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, als die Entwurzelten scharenweise durch Europa irrten und…« »Heute herrscht Frieden auf der Welt, Dr. Hoskins.« »Natürlich. Aber dieses Kind wird davon nicht viel spüren. Es wird darunter leiden, daß man es ins Chaos gestürzt hat, und es wird auf eine besonders schreckliche Weise heimatlos sein. Gerade weil es noch so klein ist.« »Wie klein?« »Derzeit können wir nicht mehr als vierzig Kilogramm Masse auf einmal aus der Vergangenheit holen. Das umfaßt nicht nur das jeweilige Lebewesen, sondern auch alles, was sich im unmittelbaren Umkreis an unbelebter Materie befindet.« »Also ein Säugling?« »Das ist nicht sicher. Wir hoffen auf ein sechs- bis siebenjähriges Kind. Aber es könnte auch um einiges jünger sein.« »Sie wissen es nicht? Greifen Sie denn einfach blind in den Glückstopf?«
Die Frage schien ihm zu mißfallen. »Sprechen wir von etwas anderem, Miß Fellowes. Ihrem Lebenslauf entnehme ich, daß Sie einmal verheiratet waren, nun aber schon seit vielen Jahren allein leben.« Sie errötete. »Ich war einmal verheiratet, das ist richtig. Es ist lange her, und es hat nicht lange gedauert.« »Keine Kinder?« »Die Ehe scheiterte hauptsächlich daran, daß ich keine Kinder bekommen konnte.« »Ich verstehe.« Jetzt war auch Hoskins verlegen geworden. »Natürlich gibt es im einundzwanzigsten Jahrhundert verschiedene Methoden, solche Probleme zu lösen – extrauterine Fötusreifung, Implantation, Leihmutterschaft und so weiter. Aber mein Mann konnte sich mit keinem dieser Verfahren anfreunden. Er wollte unsere Gene nur auf herkömmliche Weise verschmelzen. Es mußte von Anfang an unser Kind sein, seines und meines. Und ich hätte es neun Monate lang austragen müssen, wie es die Natur vorsieht. Nachdem ich dazu nicht imstande war und er keine der Alternativen akzeptieren konnte – kam es zur Trennung.« »Das tut mir leid. – Und Sie haben nie wieder geheiratet?« Sie zwang sich, ruhig und sachlich zu antworten. »Der erste Versuch war schmerzlich genug. Ich konnte nie sicher sein, beim zweitenmal nicht noch mehr verletzt zu werden, und das Risiko war mir einfach zu groß. Aber das heißt nicht, daß ich nicht mit Kindern umgehen kann, Dr. Hoskins. Ich brauche wohl nicht eigens darauf hinzuweisen, daß meine Berufswahl vermutlich auch dadurch bestimmt wurde, daß ich nach meiner gescheiterten Ehe eine – wie soll ich sagen? – große seelische Leere spürte. Und so habe ich anstatt von einem oder zwei Kindern Dutzende betreut. Hunderte. Als wären es
meine eigenen.« »Und es waren nicht alles nette Kinder?« »Nicht alle, nein.« »Nicht lauter niedliche, fröhlich glucksende Wonneproppen mit süßen, kleinen Stupsnasen? Sie nehmen sie, wie sie kommen, hübsch oder häßlich, artig oder wild? Ohne Vorbehalt?« »Ohne Vorbehalt«, bestätigte Miß Fellowes. »Kinder sind Kinder, Dr. Hoskins. Die weniger hübschen und netten haben Hilfe wahrscheinlich am nötigsten.« Hoskins schwieg und dachte nach. Miß Fellowes spürte, wie sich Enttäuschung in ihr breitmachte. Sie hatte damit gerechnet, daß man über ihre fachliche Qualifikation sprechen würde. Immerhin hatte sie über die Schwankungen im Elektrolythaushalt gearbeitet, über Neurorezeptoren und über Physiotherapie. Aber danach hatte er mit keinem Wort gefragt. Er hatte nur darauf herumgehackt, ob sie imstande sei, sich um einen armen, kleinen Wilden zu kümmern, als ob das wirklich ein Problem wäre. Zweifelte er am Ende daran, daß sie überhaupt mit Kindern umgehen konnte? Noch unverständlicher war ihr die Frage, ob sie jemals aus irgendwelchen Gründen in die Schußlinie politischer Volksverhetzer geraten sei – wie war er nur darauf gekommen? Er mußte doch eigentlich wissen, daß das nicht ihre Art war. Ihre Kenntnisse schienen ihn dagegen nicht weiter zu interessieren. Er hatte wohl längst jemand anderen für die Stelle im Auge und überlegte jetzt nur noch, wie er sie möglichst diplomatisch hinauskomplimentieren konnte. Endlich sagte er: »Wann können Sie Ihr derzeitiges Beschäftigungsverhältnis auflösen? « Sie sah ihn fassungslos an. »Heißt das, Sie haben sich für mich entschieden? Einfach
so?« Hoskins lächelte. Einen Augenblick lang wirkte sein breites Gesicht bei aller Zerstreutheit liebenswert. »Warum sollte ich Sie sonst auffordern, Ihre Kündigung einzureichen?« »Liegt die letzte Entscheidung nicht bei irgendeinem Komitee?« »Meine liebe Miß Fellowes, das Komitee bin ich. Die letzte Entscheidung liegt bei mir. Und ich bin ein Mann rascher Entschlüsse. Ich weiß genau, was für einen Typ Mensch ich suche, und Sie scheinen mir die Richtige zu sein. – Aber ich könnte mich natürlich irren.« »Und wenn dem so wäre?« »Dann würde ich meine Entscheidung ganz schnell widerrufen, verlassen Sie sich darauf. Wir können uns bei diesem Projekt keinen Fehler leisten. Ein Leben steht auf dem Spiel, ein Menschenleben, das Leben eines Kindes. Wir wollen diesem Kind nur aus wissenschaftlicher Neugier etwas antun, was gewisse Leute für ein Verbrechen halten werden. Darüber mache ich mir keinerlei Illusionen. Ich selbst bin allerdings nicht der Ansicht, daß wir Verbrecher sind – niemand hier ist dieser Ansicht – und ich habe auch keinerlei Skrupel, was unser Vorhaben betrifft. Ich denke sogar, daß das Kind, mit dem wir unseren Versuch durchführen wollen, auf lange Sicht davon profitieren wird. Aber ich bin mir bewußt, daß ich mit meiner Einstellung auf heftigen Widerstand stoßen werde. Deshalb soll dieses Kind, solange es sich in unserer Zeit aufhält, die bestmögliche Betreuung erhalten. Sollte sich zeigen, daß Sie nicht in der Lage sind, diese Betreuung zu gewährleisten, wird man Sie unverzüglich ersetzen, Miß Fellowes. Ich wüßte nicht, wie ich das schonender ausdrücken könnte. Sentimentalitäten liegen uns fern, und wir gehen ungern
Risiken ein, die sich vermeiden lassen. Deshalb werden wir Sie vorläufig nur auf Probe einstellen. Wir verlangen, daß Sie Ihre gesamte bisherige Existenz aufgeben, aber wir geben Ihnen keine Garantie, daß wir Sie länger als eine Woche oder gar einen Tag behalten. Sind Sie bereit, sich darauf einzulassen?« »Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, Dr. Hoskins.« »Das ist richtig. Aber ich bin nicht immer so. Nun, Miß Fellowes. Was halten Sie davon?« »Auch ich gehe ungern Risiken ein«, sagte sie. Seine Miene verfinsterte sich. »Soll das heißen, Sie lehnen ab?« »Nein, Dr. Hoskins. Ich nehme an. Wenn ich auch nur einen Moment befürchtet hätte, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein, hätte ich mich gar nicht erst beworben. Ich kann es schaffen. Und ich werde es schaffen. Sie werden keinen Grund haben, Ihre Entscheidung zu bereuen, das versichere ich Ihnen. – Wann soll ich anfangen?« »Die Stasis wird im Moment auf die kritischen Werte hochgefahren. Das eigentliche Experiment soll heute in zwei Wochen stattfinden, am fünfzehnten, Punkt neunzehn Uhr dreißig. Sie sollten im Augenblick der Ankunft bereitstehen, um das Kind sofort übernehmen zu können. Bis dahin haben Sie Zeit, Ihre Angelegenheiten zu regeln und sich von der Außenwelt zu verabschieden. Eines ist doch hoffentlich klar: Sie werden sich ständig auf dem Firmengelände aufhalten. Und ständig heißt, jedenfalls im Anfangsstadium, vierundzwanzig Stunden täglich. Das stand doch schon in der Stellenanzeige?« »Ja.« »Dann haben wir uns also verstanden.« Nein, dachte sie. Von Verstehen kann keine Rede sein. Aber
das ist nicht so wichtig. Wenn Probleme auftreten, werden wir sie irgendwie lösen. Wichtig ist allein das Kind. Alles andere kommt erst danach.
Erstes Intermezzo DIE-ALLES-WEISS Inzwischen war es Mittag geworden, und die Krisenstimmung hatte das ganze Lager erfaßt. Die sieben Jäger waren vollzählig von den Ebenen zurückgekehrt, bevor sie überhaupt ein Stück Wild zu Gesicht bekommen, geschweige denn erlegt hatten. Nun saß der gesamte Jägerorden mit hängenden Köpfen beieinander und grübelte über die Möglichkeit eines Krieges und dessen Auswirkungen nach. Die Priesterinnen hatten die drei heiligen Bärenschädel ausgepackt und sie über dem Heiligtum auf Steinsimse gestellt. Dann hatten sie sich den nackten Körper mit Bärenfett, Wolfsblut und Honig eingerieben. Nun knieten sie vor den Schädeln und sprachen voll Inbrunst die besonderen Gebete, mit denen man in Zeiten großer Gefahr um Weisheit flehte. Die Mütter hatten die kleineren Kinder unter ihre Fittiche genommen, als rechneten sie jeden Moment mit einem Angriff Der Anderen, und hinter ihnen drückten sich ängstlich und unsicher die Halbwüchsigen herum. Die ehrwürdigen Stammesältesten – Silberne Wolke, Mammutreiter, der einäugige, bucklige Kämpft-Wie-Ein-Löwe und der fette, träge Stinkender Moschusochse – hatten sich auf dem kleinen Hügel über dem Lager versammelt, um Kriegsrat zu halten. Von ihren Entscheidungen hing das Wohl und Wehe des ganzen Stammes ab. Als Die Anderen in die Jagdgründe des Stammes im Westland eingefallen waren und sich herausstellte, daß Die Menschen kein Mittel hatten, um sie zum Abzug zu bewegen, hatten die Ältesten beschlossen, nach Osten zu ziehen. »Der
Göttin hat es gefallen, das Westland Den Anderen zu geben«, hatte Stinkender Moschusochse damals gemeint. »Aber die Kaltlande im Osten gehören uns. Dorthin sollen wir nach IHREM Willen ziehen, dort können wir in Frieden leben.« Die anderen hatten ihm beigepflichtet. Daraufhin hatten die Priesterinnen die Lossteine geworfen und einen Spruch gefällt, der die Ansicht der Männer stützte. So waren Die Menschen hierher gekommen. Und jetzt hatte es ganz den Anschein, als seien ihnen Die Anderen gefolgt. Was sollen wir tun? fragte sich Die-Alles-Weiß. Wir könnten vielleicht nach Süden ziehen, in die Warmlande. Aber auch die Warmlande sind inzwischen sicher von Den Anderen besetzt, außerdem leben da viele unserer eigenen Leute, und die werden uns nicht mit offenen Armen aufnehmen. Also dann lieber nach Norden, in die schrecklichen Eiswüsten? Das Leben dort ist Den Anderen gewiß zu hart. Aber uns vermutlich auch, dachte Die-Alles-Weiß. Uns auch. Eine große Traurigkeit überkam sie. Die Menschen waren so weit gewandert, um hierher zu kommen. Sie selbst war nach dem langen Marsch erschöpft, und Silberne Wolke und viele von den anderen waren am Ende ihrer Kräfte. Jetzt wäre es an der Zeit, sich Ruhe zu gönnen und Fleisch- und Nußvorräte für den Winter anzulegen. Statt dessen sah es so aus, als müßten sie sofort weiterwandern, ohne sich erholen zu können. Warum war ihnen denn kein Augenblick Friede beschieden? Gab es in diesem weiten, öden Land wirklich kein Fleckchen, wo sie wenigstens so lange bleiben durften, bis sie wieder zu Atem gekommen waren? Die-Alles-Weiß hatte keine Antwort auf diese Fragen. Sie wußte überhaupt nicht weiter, trotz des stolzen Namens, den sie sich selbst gegeben hatte. Sie stand dem Problem Der
Anderen, dieser ewigen Störenfriede, ebenso ratlos gegenüber wie ihrem eigenen Leben, das in sich schon eine einzige, rätselhafte Herausforderung war. Als einziges Stammesmitglied hatte sie keinen festen Platz, keine echte Aufgabe. Sie hatte wie die meisten Mädchen damit gerechnet, eines Tages Mutter zu werden, doch dann hatte sie mit der Wahl eines Gefährten zu lange gezögert. Das freie Vagabundenleben war mehr nach ihrem Geschmack, hin und wieder war sie sogar mit den Männern auf die Jagd gezogen. Erst in ihrem zwanzigsten Jahr – sehr spät also – fand sie sich bereit, den Krieger Schwarzer Wind zum Gefährten zu nehmen. Doch nur tote Kinder kamen aus ihrem Schoß. Und bald verlor sie auch Schwarzer Wind. Ein Fieber raffte ihn binnen eines Tages dahin. Obwohl sie damals immer noch sehr schön gewesen war, hatte sie nach dem Tod von Schwarzer Wind keiner der freien Männer des Stammes mehr haben wollen. Alle wußten, daß in ihrem Schoß die Kinder starben, was wäre sie also für eine Gefährtin gewesen? Und der frühe Tod von Schwarzer Wind ließ obendrein vermuten, daß ein Fluch auf ihr lag. So blieb sie, die einst so viele Liebhaber gehabt hatte, für immer allein. Kein Mann lag ihr mehr bei. Sie sollte niemals zu den Müttern gehören. Auch zur Magd der Göttin taugte sie jetzt nicht mehr: eine Unfruchtbare in den Dienst der Allerhöchsten zu stellen, wäre ein Hohn gewesen auf SIE und alles, was SIE verkörperte. Außerdem mußte man in die Mysterien eingewiesen werden, bevor man das erstemal aus der Scheide blutete. Eine alte Frau von fünfundzwanzig Jahren, die in fünf Jahren fünf Kinder geboren und wieder verloren hatte, wäre als Priesterin undenkbar gewesen.
So war Die-Alles-Weiß weder Mutter noch Priesterin geworden, und daraus folgte, daß sie gar nichts war. Sie tat, was alle Frauen taten, schabte Häute, bereitete Mahlzeiten, pflegte die Kranken und hütete die Kinder, aber sie hatte keinen Gefährten, sie gehörte keinem Orden an und war somit praktisch eine Fremde in ihrem eigenen Stamm. Nur eine einzige Hoffnung blieb ihr noch: wenn Hütet-Die-Vergangenheit starb, konnte sie das Amt der Stammeschronistin übernehmen. Hütet-Die-Vergangenheit war ebenfalls weder Mutter noch Priesterin, und sie war Die-Alles-Weiß’ beste Freundin. Doch obwohl die Chronistin mit ihren vierzig Jahren die älteste Frau im Stamm war, hatte sie nichts von ihrer Kraft und Beweglichkeit eingebüßt, während die acht Jahre jüngere Die-Alles-Weiß zusehends alterte. Manchmal dachte sie, es sei ihr Schicksal, lange bevor Hütet-Die-Vergangenheit ihre Überlieferungsstäbe abgeben würde, als runzlige Greisin zu sterben. Es war ein trauriges Leben. Aber Die-Alles-Weiß war stets darauf bedacht, ihren Kummer vor den anderen zu verbergen. Mochte man sie fürchten, mochte man sie ablehnen, auf keinen Fall wollte sie bemitleidet werden. Jetzt stand sie wie üblich allein und ließ den Blick über die verschiedenen Gruppen schweifen. Keiner ihrer Stammesgenossen wußte Rat, wie der Bedrohung durch Die Anderen zu begegnen sei. Aber wenigstens fanden sie Trost und Geborgenheit in der Gemeinschaft. »Da ist sie ja endlich!« rief Feuerauge. »Die-Alles-Weiß soll mit uns hinausgehen und gegen Die Anderen kämpfen!« »Die-Alles-Weiß! Die-Alles-Weiß!« grölte der ganze Jägerorden. Natürlich machten sie sich nur lustig über sie. Das war schon immer so gewesen. Hatte nicht jeder dieser Männer sie
verschmäht, damals nach Schwarzer Winds Tod, als sie noch hoffte, einen neuen Gefährten zu finden? Trotzdem ging sie zu dem traurigen Häuflein hinüber, das auf dem gefrorenen Boden kauerte, und lächelte die Helden grimmig an. »Warum nicht?« sagte sie. »Eine gute Idee. Ich nehme es mit jedem von euch auf.« Bevor sie jemand daran hindern konnte, bückte sie sich und ergriff Feuerauges Speer. Er knurrte empört und sprang auf, um ihn ihr wieder abzunehmen, aber sie ließ ihn rasch durch die Finger gleiten, bis sie den richtigen Jägergriff gefunden hatte, dann drückte sie Feuerauge die Feuersteinspitze gegen den Bauch. Er riß erschrocken die Augen auf. Nicht genug, daß eine Frau seinen Speer berührt und ihn dadurch entweiht hatte, er mußte doch tatsächlich befürchten, daß sie ihn verletzte. »Gib her!« stieß er heiser hervor. »Sieh doch nur, Feuerauge, sie kann ihn sogar richtig halten«, sagte Wolfsbaum. »Gib ihn her!« Wieder piekte sie ihn mit der Speerspitze. Er war knallrot im Gesicht, und schien vor Wut zerspringen zu wollen. Der Schweiß lief ihm in Strömen über die Wangen. Alles lachte. Als er nach dem Speer greifen wollte, zog sie ihn flink zurück. Da spuckte er sie an und machte mit gefalteten Händen das Dämonenzeichen. Die-Alles-Weiß grinste. »Tu das nicht noch einmal, sonst wasche ich dich in deinem eigenen Blut«, drohte sie. »Hör mit dem Unsinn auf, Die-Alles-Weiß«, murrte Feuerauge. Er hatte sichtlich Mühe, sich zu beherrschen. »Du weißt genau, daß du kein Recht hast, meinen Speer anzufassen. Ist
dir die Gefahr, in der wir schweben, noch nicht groß genug? Mußt du sie mit solchen Schändlichkeiten noch vergrößern?« »Ihr habt mich aufgefordert, mit euch hinauszugehen und zu kämpfen«, sagte sie. »Aber dazu brauche ich einen Speer, nicht wahr? Der deine sieht nicht schlecht aus, ich bin damit zufrieden. Du kannst dir ja einen neuen machen, wenn du willst.« Die anderen Männer lachten wieder, aber es klang ein wenig nervös. Sie täuschte an, und Feuerauge wich fluchend aus. Dann stapfte er trotzig auf sie zu, um ihr die Waffe mit roher Gewalt zu entreißen. Sie wehrte ihn mit einem ernstgemeinten Stoß ab. Feuerauge sprang ärgerlich zurück. Jetzt bekam er es doch ein wenig mit der Angst zu tun. Soviel Spaß hatte sie schon lange nicht mehr gehabt. Feuerauge war der stärkste Krieger des Stammes und der stattlichste Mann. Er hatte breite Schultern wie ein Mammut, und unter der mächtigen, wie eine Felswand aufragenden Stirn funkelten seine wunderschönen, schwarzen Augen wie glühende Kohlen. Als sie noch jung waren, hatten sie oft miteinander geschlafen, und sie hatte gehofft, daß er sie zur Gefährtin nehmen würde, als Schwarzer Wind starb. Aber er war der erste gewesen, der sie abwies. Milchquelle sei die Frau seiner Wahl. Er lege Wert auf eine Gefährtin, die ihm Kinder gebären könne, hatte er ihr erklärt. Und damit war zwischen Feuerauge und ihr alles aus gewesen. »Hier.« Die-Alles-Weiß erbarmte sich endlich, beugte sich vor und rammte den Speer mit der Spitze in den Boden. Die Mittagssonne hatte auch die letzten Schneereste weggeschmolzen und die Erde aufgeweicht. Knurrend riß Feuerauge seinen Speer an sich.
»Töten sollte ich dich«, knurrte er und schwenkte ihn drohend. »Nur zu!« Sie breitete die Arme weit aus und bot ihm ihre Brüste dar. »Stoß zu, Feuerauge! Eine Frau zu töten macht dich zum großen Helden.« »Vielleicht würde es uns Glück bringen«, brummte er, senkte aber die Waffe. »Wenn du meinen Speer noch einmal anrührst, Die-Alles-Weiß, dann fessle ich dich und lasse dich an irgendeinem Berghang liegen, damit dich die Bären fressen. Hast du mich verstanden?« »Spar dir deine Drohungen für Die Anderen«, gab sie ruhig zurück. »Sie sind sicher weniger leicht zu erschrecken als ich. Und mir machst du schon keine angst.« »Du hast doch schon einmal einen von Den Anderen aus der Nähe gesehen?« fragte Gespaltener Berg. »Einmal, ja.« Die-Alles-Weiß runzelte die Stirn. Es war keine angenehme Erinnerung. »Wie hat er denn gerochen, als du ihm so nahe warst?« fragte Junge Antilope. »Ich möchte wetten, er hat entsetzlich gestunken.« Die-Alles-Weiß nickte. »Wie eine tote Hyäne«, sagte sie. »Wie ein Stück Fleisch, das seit Monaten vor sich hinfault. Und ihr könnt euch nicht vorstellen, wie häßlich er war. Sein Gesicht war so flach, als hätte es jemand zusammengedrückt.« Sie untermalte ihre Beschreibung mit anschaulichen Gesten. »Und seine Zähne waren so klein wie bei einem Kind. Er hatte auch lächerlich kleine Ohren und eine winzige Nase. Und seine Arme, seine Beine…« Sie schauderte. »Man kann sich kaum etwas Abscheulicheres vorstellen. Lang und dünn wie bei einer Spinne.« Jetzt hörten ihr alle andächtig zu, sogar Feuerauge. Außer
ihr war niemand im Stamm, nicht einmal Silberne Wolke, der Häuptling, einem Der Anderen jemals so nahegekommen, daß er nur die Hand auszustrecken brauchte, um ihn zu berühren. Vor langer Zeit, als der Stamm noch im Westland lebte, hatte man sie hin und wieder einmal flüchtig aus der Ferne gesehen. Aber Die-Alles-Weiß war im Wald einem von diesen Ungeheuern direkt in die Arme gelaufen. Das war schon viele Jahre her. Neunzehn war sie gewesen, ein richtiger Wildfang noch, der sich von niemandem dreinreden ließ. Die Männer des Jägerordens hatten ihr endlich doch verboten, sie weiter auf ihren Streifzügen zu begleiten, und so hatte sie eines Morgens in heller Empörung allein das Lager verlassen und war immer weitergegangen, bis sie gegen Mittag in einem Birkenwäldchen eine kleine Lichtung mit einem hübschen Felsenteich entdeckte. Sie hatte ihr Fellkleid ausgezogen, um in dem klaren, kalten Wasser ein Bad zu nehmen. Als sie wieder herauskam, erstarrte sie vor Schreck. Nicht mehr als zwanzig Schritt entfernt stand – kein Zweifel war möglich – einer von Den Anderen und sah sie unverwandt an. Er war groß – unglaublich groß, so groß wie ein Baum – und sehr dünn. Mit seinen schmalen Schultern und der flachen Brust wirkte er trotz seiner Größe zerbrechlicher als eine Frau. Ein Gesicht wie das seine hatte sie noch nie gesehen – diese kindlich feinen Züge, die überaus helle Haut. Seine Kiefer waren so unterentwickelt, daß sie sich unwillkürlich fragte, ob er überhaupt fähig war, ein Stück Fleisch durchzubeißen, aber dafür hatte er ein abstoßend großes, derbes Kinn, das unübersehbar aus dem flachen, eingedrückten Gesicht hervorragte. Die riesigen Augen wirkten seltsam verwaschen, geradezu wäßrig, und die Stirn ging steil nach oben. Brauenwülste
waren nicht zu erkennen. Alles in allem war er abstoßend häßlich, häßlich wie ein Dämon. Aber sie fürchtete sich nicht vor ihm. Sie konnte keine Waffe entdecken, und so, wie er seine winzigen Zähne fletschte, hatte sie fast den Eindruck, als lächle er sie an. Sie war splitternackt. Er konnte ihren jungen, schönen Körper in seiner ganzen Pracht bewundern. Und sie schämte sich auch nicht, so vor ihm zu stehen. Ja, auf einmal wünschte sie sich sogar, dieser Mann möge ihr winken, sie zu sich rufen, sie in die Arme nehmen und mit ihr tun, was Die Anderen wohl auch taten, wenn sie ihre Frauen liebten. So fremd und häßlich er war, sie begehrte ihn. Wie war das möglich? fragte sie sich. Und fand auch gleich die Antwort: Weil er neu war, neu und eben anders. Deshalb würde sie sich ihm hingeben, jawohl. Und dann würde sie mit ihm nach Hause gehen, um mit ihm zu leben. Sie würde selbst eine von Den Anderen werden, weil sie der Männer ihres eigenen Stammes überdrüssig war, weil sie sich nach etwas Neuem sehnte. Ja, genau so war es. Wovor sollte sie sich auch fürchten? Die Anderen galten als gräßliche Dämonen, aber dieser Mann sah wahrhaftig nicht aus wie ein Dämon. Nur ein wenig fremdartig und viel zu groß und dünn. Und eigentlich wirkte er auch nicht bedrohlich. Er war eben nur anders. »Ich heiße Fallender Fluß«, sagte sie – damals nannte sie sich noch so. »Und wer bist du?« Der Andere antwortete nicht. Aber aus seiner Kehle löste sich ein seltsamer Laut, vielleicht ein Lachen? Ein Lachen? »Gefalle ich dir?« fragte sie. »In meinem Stamm finden alle, daß ich schön bin. Was meinst du?« Sie fuhr sich mit den Händen durch das lange, dichte Haar,
das vom Schwimmen noch naß war, und drehte und wendete sich dabei, damit er ihre vollen Brüste, ihre starken, festen Arme, ihren kräftigen Hals sehen konnte. Dann ging sie ein paar Schritte auf ihn zu, lächelte ihn an und gab ihm mit leisem Gurren zu verstehen, daß sie ihn begehrte. Er riß die Augen weit auf und schüttelte den Kopf. Dann streckte er den Arm aus, drehte ihr die Handfläche zu und bewegte die Finger. Magische Zeichen, Dämonenzeichen, dachte sie. Zugleich wich er vor ihr zurück. »Du hast doch nicht etwa Angst vor mir? Ich will nur mit dir spielen. Komm her, Anderer.« Wieder lächelte sie ihn an. »Nun bleib doch schon stehen! Ich tue dir nichts. Verstehst du denn nicht, was ich sage?« Sie sprach sehr laut und deutlich und ließ viel Abstand zwischen den einzelnen Worten. Er wich immer weiter zurück. Sie legte die Hände zwischen die Brüste und schob sie nach außen. Die Geste war allgemeinverständlich: sie bot sich ihm an. Zumindest das hatte er wohl begriffen. Er stieß ein leises Knurren aus wie ein in die Enge getriebenes Tier. In seinen Augen glänzte die Angst, und er fletschte die Zähne. Was er wohl diesmal damit ausdrücken wollte? Verwirrung? Oder Abscheu? Wahrscheinlich wohl Abscheu, gestand sie sich ein. Er findet mich ebenso häßlich wie ich ihn. Jetzt hatte er sich umgedreht und flüchtete Hals über Kopf in das Birkenwäldchen hinein. »Warte!« rief sie. »Anderer! Komm doch zurück, Anderer! Warum läufst du denn einfach weg?« Aber er war bereits verschwunden. Das war das erstemal in ihrem Leben, daß ein Mann sie verschmäht hatte. Eine ungewohnte, ja, eine niederschmetternde Erfahrung. Sie konnte es
nicht glauben. Gewiß, er war einer von Den Anderen, vielleicht war sie ihm allzu fremd erschienen, vielleicht hatte sie ihm nicht gefallen, aber hatte er sie wirklich so abstoßend gefunden, daß er knurrend die Zähne fletschen und die Flucht ergreifen mußte? Wohl schon. Aber er war sicher noch ein Kind gewesen, tröstete sie sich. Trotz seiner Größe. Fest entschlossen, sich endlich einen Gefährten zu nehmen, kehrte sie noch am gleichen Abend zu ihrem Stamm zurück. Und als Schwarzer Wind sie bald darauf einlud, seine Schlafdecke mit ihm zu teilen, ging sie ohne Zögern darauf ein. »Ja«, sagte sie jetzt zu den Männern des Jägerordens. »Ja, ich weiß nur zu gut, wie Die Anderen aussehen. Abscheuliche Bestien sind es, elende Dämonen. Und wenn wir sie einholen, werde ich an eurer Seite stehen, und wir werden sie gemeinsam töten.« »Seht nur!« Wolfsbaum streckte die Hand aus. »Die Ältesten kommen vom Hügel herab.« Er hatte recht. Silberne Wolke ging voran. Man sah, daß ihm jeder Schritt Schmerzen bereitete, und er versuchte vergeblich, sein Hinken zu verbergen. Die drei anderen schlurften hinter ihm her. Die-Alles-Weiß sah sie ins Lager einmarschieren und geradewegs auf das Heiligtum der Göttin zustreben. Dann beriet sich Silberne Wolke lange Zeit mit den drei Priesterinnen. Zuerst wurden immer wieder die Köpfe geschüttelt, endlich nickten alle. Und Silberne Wolke trat mit der ältesten Priesterin vor, um den Beschluß zu verkünden. Das Sommerfest, sagte er, müsse in diesem Jahr ausfallen – oder zumindest verschoben werden. Die Göttin habe ihr Mißfallen bekundet, indem sie eine Gruppe Der Anderen
gefährlich nahe an das Lager Der Menschen geführt habe. Noch dazu hier, im Ostland, wo Die Anderen eigentlich nichts zu suchen hatten. Die Menschen hätten sich irgend etwas zuschulden kommen lassen, soviel sei klar; auch könne jeder sehen, daß dies kein guter Ort für sie sei. Folglich würden sie noch heute aufbrechen und eine Wallfahrt zur Stätte der Drei Flüsse unternehmen, die sie vor langer Zeit verlassen hätten. Im vergangenen Jahr hätten sie dort auf dem Weg nach Osten ein kunstvolles Heiligtum zu Ehren der Göttin errichtet. Dort wolle man die Göttin nun anflehen, die Verfehlungen des Stammes zu offenbaren. »Aber um zum Heiligtum zu kommen, brauchen wir Wochen«, stöhnte Die-Alles-Weiß. »Und die Stätte der Drei Flüsse liegt genau in der falschen Richtung! Wir ziehen dahin zurück, woher wir gekommen sind, in eine Gegend, wo es von Anderen nur so wimmelt!« Silberne Wolke warf ihr einen eisigen Blick zu. »Die Göttin hat uns ein Land verheißen, das frei ist von Anderen. Wir sind hierhergezogen und stellen nun fest, daß Die Anderen uns zuvorgekommen sind. Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Wir müssen ihren Ratschluß erflehen.« »Das können wir doch auch weiter im Süden tun. Dort ist es wärmer, und vielleicht finden wir einen Platz, wo wir lagern können, ohne daß uns Die Anderen belästigen.« »Du hast unsere Erlaubnis, nach Süden zu ziehen, DieAlles-Weiß. Aber der Rest des Stammes wird noch heute nachmittag zur Stätte der Drei Flüsse aufbrechen.« »Und Die Anderen?« rief sie. »Die Anderen werden sich nicht in die Nähe des Heiligtums wagen«, sagte Silberne Wolke. »Aber wenn du Angst vor ihnen hast, Die-Alles-Weiß, nun, dann – geh nach Süden! Geh
nach Süden, Die-Alles-Weiß!« Jemand lachte laut auf. Feuerauge, natürlich. Dann stimmten auch die anderen Männer vom Jägerorden in das Gelächter ein, und etliche von den Müttern schlossen sich an. Bald lachte der ganze Stamm, und alles deutete mit Fingern auf sie. Wenn sie nur Feuerauges Speer noch in den Händen hätte! Nichts könnte sie daran hindern, ein Blutbad anzurichten, keiner würde ihr entgehen. »Zieh nach Süden, Die-Alles-Weiß!« riefen sie im Chor. »Zieh nach Süden, zieh nach Süden, zieh nach Süden.« Ein Fluch drängte sich auf ihre Lippen, aber sie sprach ihn nicht aus. Sie meinten es ernst. Wenn sie jetzt ihrem Zorn freien Lauf ließ, würde man sie womöglich aus dem Stamm verstoßen. Vor zehn Jahren hätte sie das noch begrüßt. Aber jetzt hatte sie die Dreißig hinter sich und war eine alte Frau. Wenn sie allein loszöge, wäre das ihr sicherer Tod. So zischte sie nur leise vor sich hin und wich Silberne Wolkes festem Blick aus. Der Häuptling klatschte in die Hände. »Nun denn«, rief er. »Fangt an zu packen! Wir brechen das Lager ab! Und wir machen uns auf den Weg, bevor es dunkel wird!«
Zweites Kapitel DIE ANKUNFT
5 In den nächsten Wochen hatte Edith Fellowes alle Hände voll zu tun. Am schwersten fiel es ihr, die Arbeit im Krankenhaus abzuschließen. Nur zwei Wochen vor dem Ausscheiden zu kündigen, war nicht nur ungewöhnlich, sondern geradezu rücksichtslos, doch nachdem Miß Fellowes erklärt hatte, sie gebe ihre Stelle nur höchst ungern auf, aber man habe ihr das verlockende Angebot gemacht, an einem atemberaubend neuartigen Forschungsprojekt mitzuarbeiten, zeigte die Verwaltung ein gewisses Verständnis. Sie nannte auch den Namen Stasis GmbH. »Sollen Sie etwa den kleinen Dinosaurier betreuen?« fragte jemand, und alles kicherte. »Nein, nicht den Dinosaurier«, lächelte sie. »Sondern etwas, mit dem ich sehr viel mehr Erfahrung habe.« Mehr sagte sie nicht. Dr. Hoskins hatte ihr ausdrücklich verboten, ins Detail zu gehen. Aber wer Edith Fellowes kannte und mit ihr zusammengearbeitet hatte, konnte unschwer erraten, daß das Projekt etwas mit Kindern zu tun haben mußte; und wenn ihr neuer Arbeitgeber das Unternehmen war, das den berühmten kleinen Dinosaurier aus dem Mesozoikum geholt hatte, ging das neue Projekt doch sicher in eine ähnliche Richtung – vielleicht wollte man diesmal ein Kind
aus der Urzeit in die Gegenwart bringen. Miß Fellowes sagte zu solchen Vermutungen weder ja noch nein. Aber man wußte Bescheid. Alle wußten Bescheid. Und das Krankenhaus gab ihrer Kündigung natürlich statt. Dennoch war sie ein paar Tage lang praktisch rund um die Uhr im Dienst. Es galt, offene Fragen zu klären, Berichte zu schreiben, Listen mit Informationen für ihre Nachfolger zusammenzustellen und ihre eigenen Arbeitsmaterialien und Forschungsunterlagen aus den Beständen des Krankenhauses herauszusuchen. Letzteres war mühsam, belastete sie aber nicht weiter. Was ihr wirklich schwerfiel, war der Abschied von den Kindern. Die konnten es gar nicht fassen, daß sie fortging. »Du kommst doch bestimmt in ein oder zwei Wochen wieder, Miß Fellowes?« bettelten sie und drängten sich ganz dicht an sie heran. »Du machst nur Ferien, nicht wahr? Eine Urlaubsreise? – Wo fährst du denn hin, Miß Fellowes?« Einige dieser Kinder kannte sie seit dem Tag ihrer Geburt. Jetzt waren sie fünf, sechs, sieben Jahre alt: Die meisten waren in ambulanter Behandlung, aber es waren auch einige Dauerpatienten darunter, mit denen sie jahrein, jahraus gearbeitet hatte. Es war schwer, ihnen die Wahrheit zu sagen. Aber sie biß die Zähne zusammen. Jetzt brauchte ein anderes Kind ihre Hilfe, ein ganz besonderes Kind, ein Kind in einer Situation, wie sie in der Geschichte des Universums noch nicht vorgekommen war. Und sie mußte dahin gehen, wo man sie am dringendsten brauchte. Ihre kleine Wohnung im Südteil der Stadt würde sie wohl so schnell nicht wiedersehen. Sie wählte ein paar Dinge aus, um sie in ihr neues Heim mitzunehmen, der Rest wurde
eingelagert. Das war schnell erledigt. Es gab keine Zimmerpflanzen, keine Katzen und auch sonst keine Haustiere, die versorgt werden mußten. Für sie war im Grunde immer nur die Arbeit wichtig gewesen: die Kinder und niemand sonst. Wozu hätte sie Pflanzen oder Tiere gebraucht? Vorsichtig, wie sie war, verlängerte sie jedoch den Mietvertrag auf unbestimmte Zeit. Sie nahm Gerald Hoskins’ Warnung, eine Entlassung sei jederzeit möglich, sehr ernst. Vielleicht würde sie ja auch von sich aus kündigen: Es war nicht auszuschließen, daß ihr das Betriebsklima bei der Stasis GmbH nicht behagte, daß die Aufgabenstellung sie nicht befriedigte, daß sie sich sehr bald eingestehen mußte, einen schweren Fehler gemacht zu haben, als sie die Stelle annahm. Aber sie hatte ja wahrhaftig nicht alle Brücken abgebrochen: das Krankenhaus, die Kinder, ihre Wohnung warteten nur auf ihre Rückkehr. Trotz der vielen Arbeit fuhr sie während der letzten zwei Wochen mehrmals quer durch die Stadt zur Stasis GmbH, um sich an den Vorbereitungen für die Ankunft des Kindes aus der Vergangenheit zu beteiligen. Für die nötigen Besorgungen standen drei Hilfskräfte bereit, zwei junge Männer und eine Frau. Miß Fellowes stellte eine lange Liste von Dingen zusammen, die sie für unerläßlich hielt – Medikamente, Ernährungszusätze und sogar einen Brutkasten. »Einen Brutkasten?« fragte Hoskins. »Einen Brutkasten«, bestätigte sie. »Wir haben nicht vor, eine Frühgeburt hierherzubringen, Miß Fellowes.« »Sie wissen nicht, was sie hierherbringen werden, Dr. Hoskins. Das habe ich aus Ihrem eigenen Mund gehört. Es könnte ein krankes oder ein schwächliches Kind sein, vielleicht er-
krankt es auch, sobald die ersten modernen Mikroben in seinen Organismus eindringen. Ich will einen Brutkasten haben, zumindest muß einer in Bereitschaft stehen.« »Einen Brutkasten, schön.« »Und eine sterile Kammer, groß genug, um ein aktives, gesundes Kind aufzunehmen, falls sich herausstellen sollte, daß es für den Brutkasten schon zu groß ist.« »Miß Fellowes, seien Sie doch bitte vernünftig. Unser Budget ist…« »Eine sterile Kammer. So lange, bis wir sicher sind, daß wir das Kind unserer Luft aussetzen können, ohne es zu gefährden.« »Wir werden es unserer mikrobenverseuchten Luft wohl oder übel aussetzen müssen, sobald es hier eintrifft. Daran führt kein Weg vorbei, Miß Fellowes.« »Ich bestehe auf einer Kammer.« Hoskins sah sie mit seinem bewährten ›Keine Dummheiten‹-Blick an, wie sie diesen Gesichtsausdruck im stillen nannte. »Diesmal kommen Sie nicht durch, Miß Fellowes. Ich kann durchaus verstehen, daß Sie bemüht sind, das Kind vor allen denkbaren Gefahren zu schützen. Aber Sie haben keine Ahnung von den technischen Bedingungen, unter denen der Versuch stattfindet, und deshalb müssen Sie mir einfach glauben, daß wir das Kind nicht auf der Stelle in eine vollkommen sterile Isolationskammer stecken können. Das geht nicht.« »Und wenn es nun krank wird und stirbt?« »Unser Dinosaurier ist nach wie vor kerngesund.« »Mit welchem Recht unterstellen Sie, daß prähistorische oder andere Reptilien durch die gleichen Mikroorganismen gefährdet sind, die bei Menschen zu Erkrankungen führen?
Diesmal holen Sie ein menschliches Wesen hierher, Dr. Hoskins. Keinen kleinen Dinosaurier, sondern einen Angehörigen unserer eigenen Spezies.« »Dessen bin ich mir bewußt, Miß Fellowes.« »Und deshalb bitte ich Sie…« »Die Antwort ist nein. Wir können hier nicht jedes Risiko ausschließen, und das Risiko einer Infektion durch Mikroben müssen wir eben eingehen. Sollte es Probleme geben, so stehen alle medizinischen Hilfen bereit. Aber wir werden nicht versuchen, ein kleines Paradies zu schaffen, das garantiert gefahrenfrei ist. Kommt nicht in Frage.« Hoskins mäßigte seinen Ton. »Miß Fellowes, ich will Ihnen etwas sagen. Ich habe selbst ein Kind, einen kleinen Jungen, er geht noch nicht einmal in den Kindergarten. Ja, ich bin schon ziemlich alt dafür, und er ist das Großartigste, was mir das Leben beschert hat. Glauben Sie mir, Miß Fellowes, das Wohlergehen des Kindes, das nächste Woche hier eintreffen soll, liegt mir nicht weniger am Herzen als das meines kleinen Jerry. Und ich bin so zuversichtlich, daß alles gutgehen wird, als wäre mein eigener Sohn an diesem Experiment beteiligt.« Miß Fellowes war von der Schlüssigkeit dieses Arguments nicht völlig überzeugt. Aber sie mußte einsehen, daß er auf seinem Standpunkt beharren würde, und daß sie auch kein Druckmittel hatte, wenn sie nicht kündigen wollte. Diesen Trumpf wollte sie sich noch in der Hinterhand behalten, und deshalb hatte es keinen Sinn, jetzt damit zu drohen. Die Kündigung war ihre einzige Waffe, und noch war der Zeitpunkt nicht gekommen, sie einzusetzen. Ebensowenig war Hoskins zu bewegen, ihr schon im voraus einen Blick auf die Räumlichkeiten zu gestatten, die für die Unterbringung des Kindes vorgesehen waren. »Das ist
Stasisbereich«, sagte er. »Dort läuft bereits der Countdown, und deshalb kann zur Zeit niemand hinein. Niemand. Weder Sie, noch ich, noch der Präsident der Vereinigten Staaten. Und wir können den Countdown auch nicht unterbrechen, nur weil Sie eine Besichtigung wünschen.« »Aber wenn die Unterkunft nun den Anforderungen nicht genügen sollte…« »Die Unterkunft wird allen Anforderungen genügen, Miß Fellowes. Und mehr als das. Vertrauen Sie mir.« »Trotzdem würde ich lieber…« »Gewiß. Vertrauen Sie mir trotzdem.« Sie verabscheute diesen Satz. Dennoch hatte er tatsächlich ihr Vertrauen, mehr oder weniger. Sie wußte noch immer nicht, auf welchem Gebiet Hoskins promoviert hatte oder ob er ein fähiger Wissenschaftler war. Das prahlerische ›Dr. rer. nat.‹ auf seinem Namensschild war nicht sehr aussagekräftig. Eines war jedoch sicher. Er verstand, sich zu behaupten. Man wurde nicht Generaldirektor der Stasis GmbH, indem man sich von jedem herumschubsen ließ.
6 Am fünfzehnten des Monats läutete bei Miß Fellowes genau um fünf Uhr nachmittags das Telefon. Ned Bruton, einer von Hoskins’ Angestellten, war am Apparat. »Der Countdown geht in die letzten drei Stunden, Miß Fellowes, und alles läuft genau nach Plan. Wir holen Sie Punkt
sieben Uhr mit einem Wagen ab.« »Ich komme lieber selbst, vielen Dank.« »Dr. Hoskins hat Anweisung gegeben, Ihnen einen Wagen zu schicken. Er wird um sieben Uhr bei Ihnen sein.« Miß Fellowes seufzte. Sie hätte widersprechen können, aber wozu? Sie beschloß, Hoskins die kleinen Siege zu gönnen. Um ihr Pulver nicht vorzeitig zu verschießen. Die großen Schlachten würden schon noch kommen.
7 Es nieselte leicht. Der graue, trübe Abendhimmel ließ die Gebäude der Firma Stasis GmbH noch häßlicher erscheinen als sonst. Miß Fellowes kamen sie vor wie große Scheunen, ohne jede Eleganz und Würde. Alles wirkte wie hastig zusammengeschustert. Die Anlage atmete den Geist trister, menschenfeindlicher Technik. Miß Fellowes hatte ihr gesamtes Berufsleben in öffentlichen Einrichtungen verbracht, aber verglichen mit diesen Kästen strahlte selbst das düsterste Krankenhaus noch Freude und Heiterkeit aus. Und die Angestellten mit ihren Firmenabzeichen, die so verbissen ihrer Arbeit nachgingen, die abweisenden Mienen, die gedämpften Stimmen, die geradezu militärische Disziplin… Was soll ich hier? fragte sie sich. Wie konnte ich mich nur in so etwas hineinziehen lassen?
»Hier entlang, bitte, Miß Fellowes«, sagte Bruton. Immer mehr Leute nickten und winkten ihr zu. Offenbar war es nicht nötig, sie vorzustellen. Jedermann schien sie zu kennen und zu wissen, worin ihre Aufgabe bestand. Zwar stand auf dem Firmenabzeichen, das auch sie jetzt trug, ihr Name, aber niemand warf einen Blick darauf. Alle wußten Bescheid. Das ist die Pflegerin für das Kind, stand in ihren Gesichtern geschrieben. Wie auf Schlittschuhen glitt Miß Fellowes hinter Bruton durch immer schäbiger, immer provisorischer wirkende Korridore bis ins Herz des Forschungszentrums, in das sie bislang noch niemals vorgedrungen war. Über eine klirrende Metalltreppe stiegen sie hinab in einen fensterlosen, von grellen Neonröhren erleuchteten, unterirdischen Tunnel, der kein Ende nehmen wollte. Endlich standen sie vor einer Stahltür. Über die schwarzgestrichene Fläche flimmerten die Moiréwellen eines Kraftfelds. »Halten Sie Ihr Firmenabzeichen in die Höhe«, sagte Bruton. »Hören Sie, ist das nicht ein bißchen…« »Bitte, Miß Fellowes. Bitte.« Die Tür schwang auf. Sie standen vor einer neuen Treppe, die im Innern eines riesigen, runden Schachts in vielen Windungen wieder nach oben führte. Ein weiterer Gang, eine weitere Tür – ob das alles wirklich nötig war? Zu guter Letzt betraten sie eine Galerie, von der aus man einen riesigen Saal überblicken konnte. Gegenüber befand sich ein weites Halbrund mit einer verwirrenden Vielzahl verschiedenster Instrumente, wie ein Mittelding zwischen dem Kontrollzentrum eines Raumschiffs und der Konsole eines Riesencomputers – oder vielleicht eher wie die Kulisse für irgendeinen albernen ›Science‹-fiction-Schinken. Unten ging es
zu wie in einem absurden Theaterstück. Abgekämpfte Techniker rannten ziellos hin und her, blickten wild um sich und verständigten sich mit hektischen Handzeichen. Dicke, schwarze Kabel wurden von einem Anschluß zum anderen gezogen, kopfschüttelnd betrachtet und wieder an den Ausgangspunkt zurückgetragen. Überall sah man blinkende Lichter, und riesige Bildschirme zeigten nach rückwärts ablaufende Zahlenreihen. Auch Dr. Hoskins war auf der Galerie. Er stand ganz in der Nähe, sah sie aber nur an wie eine Fremde und murmelte ein zerstreutes »Miß Fellowes«. Er schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Nicht einmal einen Platz bot er ihr an, obwohl an der Brüstung vier oder fünf Reihen von Klappstühlen aufgestellt waren. Also nahm sie sich selbst einen Stuhl und zog ihn ganz nach vorne, um den Hexenkessel da unten besser beobachten zu können. Plötzlich gingen in dem großen Saal mehrere Scheinwerfer an und erhellten den Bereich direkt unterhalb der Galerie, der bisher im Dunkeln gelegen hatte. Jetzt konnte Miß Fellowes dort mehrere Wände erkennen, eine Wohnung ohne Dach, ein riesiges Puppenhaus, in dessen Zimmer man von oben hineinsehen konnte. In einem Raum stand ein Küchenwagen mit Mikrowellenherd und Kühlschrank, gleich daneben befand sich eine Naßzelle. Ein Kämmerchen enthielt medizinische Geräte, die ihr nur allzu vertraut waren – hier waren all die Dinge gelagert, die Hoskins’ Leute in ihrem Auftrag besorgt hatten. Auch der Brutkasten fehlte nicht. Das Möbelstück im nächsten Zimmer war nur teilweise im Blickfeld, aber es war ganz eindeutig ein Bett, ein sehr kleines
Bett. Immer mehr Männer und Frauen mit Firmenabzeichen kamen jetzt auf die Galerie und belegten die Stühle neben ihr. In einigen erkannte Miß Fellowes Angestellte der Stasis GmbH, die man ihr bei früheren Besuchen vorgestellt hatte, aber sie konnte sich an keinen einzigen Namen erinnern. Andere hatte sie noch nie gesehen. Doch alle nickten und lächelten ihr zu, als arbeite sie schon seit Jahren hier. Dann entdeckte sie einen Mann, den sie nicht nur vom Sehen, sondern auch dem Namen nach kannte: schlank, gutaussehend, schätzungsweise fünfundfünfzig Jahre alt, mit einem sorgsam gestutzten, grauen Schnurrbärtchen und scharfen Augen, denen nichts entging. Candide Deveney! Der Wissenschaftskorrespondent des Internationalen Fernsehens! Miß Fellowes saß nicht oft vor dem Bildschirm, höchstens ein bis zwei Stunden pro Woche, manchmal sogar noch weniger. Immer wieder gab es Zeiten, in denen sie überhaupt vergaß, das Gerät einzuschalten. Sie zog es vor, ihre Freizeit mit Lesen zu verbringen, und oft war sie über längere Perioden so sehr von ihrer Arbeit in Anspruch genommen, daß sie sogar auf Bücher verzichten konnte. Aber Candide Deveney war ihr ein Begriff. Hin und wieder gab es Ereignisse, die einfach zu aufsehenerregend waren, als daß sie sich mit Zeitungsberichten hätte begnügen können – die Marslandung zum Beispiel, der erste öffentliche Auftritt des kleinen Dinosauriers oder im vorletzten Jahr der spektakuläre Abschuß jenes kleinen, aber tödlichen Asteroiden über der Östlichen Hemisphäre, der mit der Erde zu kollidieren drohte. Und wenn sie dann den Fernseher einschaltete, erschien unweigerlich Candide Deveney auf dem Bildschirm. Er war auch be-
kannt dafür, daß er immer zur Stelle war, wenn irgendwo ein großer wissenschaftlicher Durchbruch gelang. Als Miß Fellowes ihn nun auf dieser Galerie stehen sah, war sie unwillkürlich beeindruckt, und ihr Herz schlug ein wenig schneller. Wenn sogar Candide Deveney sich herbemühte, mußte es sich wirklich um eine Sensation handeln. Und sie war ihm so nahe, daß sie ihn fast berühren konnte, während sie beide auf den großen Augenblick warteten. Doch dann runzelte sie die Stirn. Wie konnte man nur so töricht sein! Deveney war schließlich nur ein Journalist, mehr nicht. Warum sollte sie vor Ehrfurcht erschauern, nur weil sie ihn im Fernsehen gesehen hatte? Sehr viel beeindruckender war doch, daß man da unten gleich in die Tiefen der fernen Vergangenheit eintauchen und ein kleines Menschenkind ins einundzwanzigste Jahrhundert holen würde. Und sie sollte bei diesem Unternehmen eine wichtige Rolle spielen. Sie, nicht Candide Deveney. Im Grunde müßte Candide Deveney stolz darauf sein, sich in einem Raum mit Edith Fellowes aufzuhalten, und nicht umgekehrt. Hoskins war auf Deveney zugegangen, hatte ihn begrüßt und erklärte ihm nun wohl das Projekt. Miß Fellowes beugte sich vor und belauschte die beiden. Deveney sagte: »Seit meinem letzten Besuch, damals, als der Dinosaurier kam, zerbreche ich mir den Kopf darüber, was Sie hier eigentlich treiben. – Besonders eine Frage läßt mich nicht los, das Problem der Selektivität.« »Weiter«, sagte Hoskins. »Ihre Reichweite ist begrenzt, das leuchtet mir ein. Je weiter Sie zurückgehen, desto mehr verschwimmt alles. Sie brauchen mehr Energie, und irgendwann stoßen Sie dabei an eine unüberwindliche Grenze – soweit kann ich ohne Schwierigkeiten
folgen. – Aber Ihre Reichweite ist offenbar von beiden Seiten begrenzt, und das finde ich verwirrend. Und damit bin ich nicht allein. Ich meine, wenn Sie 100 Millionen Jahre zurückgehen und etwas aus der Zeit herausfischen können, sollte es doch sehr viel weniger Mühe bereiten, den vergangenen Dienstag anzusteuern. Aber Sie behaupten, nicht nur der vergangene Dienstag, sondern die gesamte nähere Vergangenheit seien für Sie unerreichbar. Wie ist das zu erklären?« »Vielleicht kann ich das Paradoxon auflösen, Deveney, wenn Sie mir gestatten, einen Vergleich zu verwenden.« (Er nennt ihn einfach ›Deveney‹! dachte Miß Fellowes. Wie ein Universitätsprofessor, der einem Studenten im Vorbeigehen eine Frage beantwortet!) »Ich bitte darum«, sagte Deveney. »Wenn Sie glauben, daß die Sache dadurch verständlicher wird?« »Schön: sie können ein Buch in normal großer Schrift nicht lesen, wenn es zwei Meter von Ihren Augen entfernt ist, nicht wahr? Aber aus einer Distanz von, sagen wir, dreißig Zentimetern haben Sie keinerlei Probleme damit. Bis dahin gilt: je näher, desto besser. Aber wenn Sie das Buch bis auf zwei Zentimeter an Ihre Augen heranbringen, ist es wieder vorbei. Das menschliche Auge kann einfach nichts scharfstellen, das ihm so nahe ist. Die Distanz ist also in mehr als einer Richtung ein entscheidender Faktor. Zu nahe ist ebenso schlecht wie zu weit entfernt, jedenfalls, wenn es um die Sehschärfe geht.« »Hmm«, brummte Deveney. »Nehmen wir ein anderes Beispiel. Ihre rechte Schulter ist ungefähr siebzig Zentimeter von Ihrem rechten Zeigefinger entfernt, und Sie können sie ohne Mühe mit der Fingerspitze berühren. Ihr rechter Ellbogen ist von Ihrem rechten Zeigefinger nur halb so weit entfernt. Nach allen Gesetzen der Logik
müßten sie ihn also sehr viel leichter erreichen können als Ihre Schulter. Also los: versuchen Sie es. Sie sehen, auch hier ist die zu große Nähe ein Hindernis.« »Darf ich diese Analogien in meinem Bericht zitieren?« fragte Deveney. »Aber selbstverständlich. Tun Sie sich keinen Zwang an. Sie wissen ja, daß Ihnen alle Türen offenstehen. Heute sind wir ausnahmsweise einmal dafür, daß uns die ganze Welt über die Schulter schaut. Sie bekommt ja auch eine Menge zu sehen.« (Miß Fellowes mußte seine unerschütterliche Zuversicht bewundern. Der Mann hatte wirklich einen starken Charakter.) »Und wie weit wollen Sie diesmal zurückgehen?« fragte Deveney. »Vierzigtausend Jahre.« Miß Fellowes zog zischend die Luft ein. Vierzigtausend Jahre?
8 Diese Möglichkeit hatte sie noch niemals in Betracht gezogen. Sie war auch viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, mit dem Abschied von ihrer Tätigkeit im Krankenhaus etwa und mit den Vorbereitungen auf ihre neue Aufgabe hier. Erst jetzt wurde ihr plötzlich klar, daß man an dieses Projekt noch sehr viel weitergehende Fragen stellen konnte, als sie es bisher für nötig gehalten hatte.
Der Grundgedanke war, das wußte sie natürlich, ein Kind aus der Vergangenheit in die moderne Welt zu bringen. Sie wußte auch – wenn auch nicht mehr genau, woher – daß das Kind aus prähistorischer Zeit geholt werden sollte. Aber ›prähistorisch‹ konnte fast alles bedeuten. Vor nur dreitausend Jahren hätte diese Bezeichnung noch für den größten Teil Europas zugetroffen. In manchen Teilen der Welt lebten die Menschen bis heute in prähistorischen Verhältnissen. Soweit sich Miß Fellowes mit der Frage überhaupt näher beschäftigt hatte, war sie davon ausgegangen, daß das Kind einer präagrikulturellen Nomadenkultur entstammen würde, die vielleicht fünf-, höchstens zehntausend Jahre alt war. Aber vierzigtausend? Darauf war sie nicht gefaßt. Würde das Kind, das man ihr übergeben wollte, wenigstens menschliche Züge haben? Hatte es vor vierzigtausend Jahren überhaupt schon so etwas wie den Homo sapiens gegeben? Jetzt wünschte sich Miß Fellowes, von den Anthropologievorlesungen, die sie vor langer Zeit auf dem College gehört hatte, etwas mehr behalten zu haben. Im Moment trieben nur bruchstückhafte Informationen aus den Tiefen ihres Bewußtseins herauf, und auch die waren vermutlich hoffnungslos verzerrt und entstellt. Bevor sich die Menschen von heute entwickelten, hatte es wohl die Neandertaler gegeben. Primitive, tierähnliche Geschöpfe. Und davor hatte der noch primitivere Pithecanthropus zusammen mit einem Wesen mit ähnlich kompliziertem Namen die Erde durchstreift. Wahrscheinlich hatte es noch andere Vor- oder Untermenschenarten gegeben, kleine, nackte Affenwesen, im weitesten Sinne entfernte Vorfahren des heutigen Menschen. Aber wann hatten diese frühen Vorfahren genau gelebt? Vor zwanzigtausend Jahren? Fünf-
zigtausend? Hunderttausend? Im Grunde hatte sie keine vernünftige Vorstellung von den zeitlichen Dimensionen. Gütiger Gott im Himmel, muß ich mich jetzt um ein Affenkind kümmern? Sie fing an zu zittern. Da hatte sie sich mit diesen Leuten um Brutkästen und sterile Kammern gestritten, während die nichts anderes im Sinn hatten, als ihr einen kleinen Schimpansen in die Arme zu legen. Darauf lief es doch wohl hinaus? Ein wildes Tier, behaart, mit scharfen Krallen und Reißzähnen, das allenfalls in einen Zoo gehörte, nicht aber in die Obhut einer Fachkraft für… Vielleicht irrte sie sich. Vielleicht hatten die Neandertaler, die Pithecanthropi und alle anderen menschlichen Frühformen vor mehr als einer Million Jahren gelebt, und sie würde nur einen wilden, kleinen Jungen zu betreuen haben. Und mit wilden kleinen Jungen war sie schon öfter fertig geworden. Trotzdem, vierzigtausend Jahre, das klang nach einer ungeheuren Zeitspanne. So ungeheuer, daß einem davon ganz schwindlig werden konnte. Vierzigtausend Jahre? Vierzigtausend Jahre!
9 Man hörte die Spannung förmlich knistern. Unten im großen Saal war das Chaosballett zur Ruhe gekommen, die Techniker standen nahezu reglos an ihren Geräten. Wenn sie sich ver-
ständigten, geschah es mit Signalen – eine hochgezogene Augenbraue, ein Finger, der aufs Handgelenk klopfte –, die für Außenstehende kaum zu erkennen waren. Ein Mann sprach leise in ein Mikrofon, kurze, monotone Anweisungen, die Miß Fellowes nicht verstand – meistens Zahlen, unterbrochen von rätselhaft verschlüsselten Wendungen, die sich wie eine Geheimsprache anhörten. Deveney hatte auf dem Stuhl neben ihr Platz genommen. Hoskins saß auf der anderen Seite. Der Wissenschaftsjournalist beugte sich über die Brüstung, starrte unverwandt in die Tiefe und sagte: »Werden wir überhaupt etwas zu sehen bekommen, Dr. Hoskins? Ich meine, gibt es visuelle Effekte irgendwelcher Art?« »Wie bitte? – Nein. Erst, wenn alles vorbei ist. Die Ortung erfolgt indirekt, etwa nach dem Prinzip eines Radargeräts, nur arbeiten wir nicht mit Strahlung, sondern mit Mesonen. Die Mesonenscans laufen schon seit Wochen, der Strahl mußte immer wieder neu justiert werden. Wenn alles richtig läuft, dringen die Mesonen tief in die Vergangenheit vor. Einige werden reflektiert, die analysieren wir und speisen sie wieder ein, um uns beim nächsten Versuch an ihnen zu orientieren. So wird das Verfahren immer weiter verfeinert, bis wir endlich den gewünschten Präzisionsgrad erreicht haben.« »Hört sich nach harter Arbeit an. Woran merken Sie, daß Sie den gewünschten Präzisionsgrad erreicht haben?« Hoskins schaltete sein unpersönliches Lächeln ein. »Wir beschäftigen uns jetzt seit fünfzehn Jahren mit diesem Projekt. Fast fünfundzwanzig sogar, wenn wir die Forschungen unserer Vorgänger mitrechnen, die viele von den Grundlagen entwickelten, ohne daß ihnen der Durchbruch zur praktischen Anwendbarkeit gelungen wäre. – Ja, es ist hart, Deveney. Sehr
hart. Und nervenaufreibend.« Der Mann am Mikrofon hob die Hand. »Nervenaufreibend?« »Wir mögen keine Mißerfolge. Ich jedenfalls nicht. Aber der Mißerfolg ist bei solchen Unternehmungen mit einprogrammiert. Wir operieren im Bereich der Stochastik, relative Häufigkeit, Sie wissen schon. Dabei kommen immer nur mehr oder weniger hohe Wahrscheinlichkeiten heraus, niemals absolute Gewißheit. Das genügt eigentlich nicht, aber mehr ist nicht zu machen.« »Trotzdem sind Sie offenbar sehr zuversichtlich.« »Gewiß«, bestätigte Hoskins. »Wir haben diesen Zeitabschnitt seit Wochen im Visier: wir haben ihn in seine Einzelteile zerlegt, unsere eigenen zeitlichen Bewegungen mit einkalkuliert und ihn wieder zusammengesetzt, wir haben die Parallaxen überprüft, nach jeder nur denkbaren, relativistischen Verzerrung gesucht und uns immer wieder vergewissert, daß wir den Zeitfluß mit ausreichender Präzision steuern können. Und das können wir, glaube ich, ja, ich möchte fast sagen, ich weiß es.« Dennoch stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Mit einem Mal war es totenstill geworden, man hörte nur aufgeregtes Atmen. Edith Fellowes war unwillkürlich aufgestanden und beugte sich nun, mit beiden Händen das Geländer umklammernd, über die Brüstung. Aber es gab nichts zu sehen. »Jetzt«, sagte der Mann am Mikrofon leise. Die Stille verstärkte sich. Miß Fellowes hätte nie geglaubt, daß es in einem Raum voller Menschen so absolut still sein könnte. Es war eine ganz neue Art von Stille, doch sie hielt nicht länger als einen einzigen Atemzug.
Dann drang von unten aus dem Puppenhaus der gellende Schrei eines kleinen Kindes, ein Schrei, der so sehr durch Mark und Bein ging, daß man sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Angst! Nackte Angst! Ein verängstigtes Kind schrie sich – mit erstaunlich kräftiger Stimme – seinen Schrecken, seine Verzweiflung von der Seele. Sein unfaßbares, unerträgliches Grauen. Wie von selbst drehte sich Miß Fellowes’ Kopf in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Und Hoskins schlug mit der Faust auf die Brüstung und sagte leise, mit bebender Stimme: »Geschafft!«
10 Zu dritt eilten sie die kleine Wendeltreppe hinunter in den Saal, Hoskins an der Spitze, Deveney dicht dahinter und Miß Fellowes hinter dem Journalisten. Niemand hatte sie zum Mitkommen aufgefordert, womöglich verstieß sie gerade gegen alle Sicherheitsbestimmungen, aber sie hatte ein Kind schreien hören. Und sie gehörte dazu, mindestens so sehr wie Candide Deveney. Am Fuß der Treppe blieb Hoskins stehen und sah sich um. Als er Miß Fellowes bemerkte, schien er ein wenig überrascht, aber er sagte nichts. Unten war die Stimmung völlig umgeschlagen. Die fieber-
hafte Aufregung hatte sich gelegt. Die Techniker an den Instrumenten wirkten völlig erschöpft und standen reglos, fast wie benommen herum. Hoskins schenkte ihnen keine Beachtung, sie waren nur Maschinen für ihn, die ihre Schuldigkeit getan hatten. Vom Puppenhaus ertönte ein leises Surren. »Wir können jetzt hineingehen«, sagte Hoskins. »In die Stasis?« Das war Deveney wohl nicht ganz geheuer. »Das Betreten der Stasis ist völlig ungefährlich. Ich habe es schon unzählige Male hinter mir. Wenn man die Feldhülle durchschreitet, spürt man ein eigenartiges Kribbeln, aber das geht sofort vorbei und hat nichts zu bedeuten. Vertrauen Sie mir.« Zum Beweis trat er ohne ein weiteres Wort durch eine geöffnete Tür. Deveney holte tief Atem, lächelte verzerrt und folgte ihm. »Sie auch, Miß Fellowes.« Hoskins winkte ungeduldig mit dem gekrümmten Zeigefinger. »Bitte!« Miß Fellowes nickte und trat über die Schwelle. Das Feld war – eine Art inneres Prickeln – deutlich im ganzen Körper zu spüren. Sobald sie im Haus war, konnte sie allerdings nichts Ungewöhnliches mehr feststellen. Alles schien normal zu sein. Die Wände waren neu und rochen nach frischem Holz, und noch etwas stieg ihr in die Nase – ein kräftiger Erdgeruch, fast wie im Wald… Erst jetzt fiel ihr auf, daß das panische Geschrei verstummt war. Innerhalb des Stasisfelds war alles ruhig. Und dann hörte sie jemanden mit den Füßen scharren, mit den Fingern über eine Holzwand kratzen – und leise wimmern. »Wo ist das Kind?« fragte sie bestürzt.
Hoskins kontrollierte gerade einige Meßinstrumente neben der Eingangstür. Deveney stand daneben wie ein Idiot. Keiner von beiden schien es besonders eilig zu haben, nach dem Kind zu sehen – nach dem Kind, das dieses riesige, verwirrende Ungetüm von einer Maschine soeben den Tiefen der Vergangenheit entrissen hatte. Hatten diese Dummköpfe von Männern denn gar kein Herz? Miß Fellowes folgte auf eigene Faust einem L-förmigen Gang, der zu dem Zimmer mit dem Bett führte. Dort fand sie das Kind. Es war ein Junge. Ein sehr kleiner Junge, sehr schmutzig, sehr mager und von sehr fremdartigem Aussehen. Er mochte drei Jahre alt sein, sicher nicht sehr viel älter. Und er war nackt. Krampfhaftes Schluchzen erschütterte seine schmale, dreckverschmierte Brust. Um ihn herum waren Erdbrocken, Steine und ausgerissene Grasbüschel auf dem Fußboden verstreut – als hätte ein Laster eine Ladung Humus in den Raum gekippt. Es roch durchdringend nach Erde und ein wenig nach Verwesung. Miß Fellowes bemerkte ein paar große, schwarze Ameisen und zwei kleine, haarige Spinnen, die langsam um die nackten, braunen Füße des Kindes herumkrochen. Hoskins folgte ihrem entsetzten Blick und erklärte gereizt: »Man kann so ein Kind nicht sauber aus der Zeit herausschälen, Miß Fellowes. Aus Sicherheitsgründen mußten wir auch einen Teil seiner Umgebung mitnehmen. Oder wäre es Ihnen lieber gewesen, er wäre nur mit einem Bein oder mit halbem Kopf hier angekommen?« »Bitte!« Miß Fellowes konnte ihre Empörung kaum im Zaum halten. »Wie lange wollen wir hier noch untätig
herumstehen? Das arme Kind fürchtet sich zu Tode. Sehen Sie doch nur, wie verdreckt es ist.« Das war stark untertrieben. Sie hatte noch nie ein derart verwahrlostes Kind gesehen. Der Kleine schien seit Wochen nicht mehr gewaschen worden zu sein, vielleicht noch nie in seinem Leben. Er stank. Er war von Kopf bis Fuß mit einer regelrechten Kruste aus Dreck und Fett überzogen, und am Oberschenkel hatte er eine lange, rote Schramme, die vermutlich infiziert war. »Komm, laß dich mal ansehen…« murmelte Hoskins und trat zögernd einen Schritt näher. Der Junge ging automatisch in Abwehrstellung, duckte sich, legte die Ellbogen an und zog den Kopf ein. Dann wich er hastig zurück. In seinen Augen funkelten Angst und Trotz. Als er gegen die hintere Wand stieß und nicht mehr weiter konnte, fletschte er die Zähne und fauchte wie eine Katze. Es klang erschreckend aggressiv – wie bei einem wilden Tier. Miß Fellowes überlief es eiskalt. Das sollte ihr neuer Schützling sein? Das? Diese kleine – Bestie? Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Ja, sie wurden von der Wirklichkeit noch übertroffen. Der Junge sah nicht aus wie ein Mensch. Er war einfach abscheulich, ein richtiges, kleines Ungeheuer. Hoskins griff beherzt zu, packte das Kind an beiden Handgelenken und kreuzte ihm die Arme vor dem Körper. Dann hob er das zappelnde, um sich tretende, schreiende Bündel hoch. Der Kleine heulte wie ein Dämon. Mit unglaublicher Kraft entrangen sich die Schreie den Tiefen des kleinen Körpers. Miß Fellowes merkte, daß sie schon wieder zitterte, und zwang sich zur Ruhe. Das ohrenbetäubende Kreischen war ihr
in tiefster Seele zuwider. So schrie kein Mensch. Unglaublich, was der kleine Kerl für einen Höllenlärm veranstaltete. Hoskins hielt ihn auf Armeslänge von sich ab und sah sich hilfesuchend nach Miß Fellowes um. »Ja, nur ja nicht loslassen. Und nicht absetzen. Hüten Sie sich vor seinen Zehennägeln. Und jetzt ins Bad mit ihm, als erstes müssen wir ihn sauber bekommen. Ein schönes, warmes Bad ist jetzt das allerbeste für ihn.« Hoskins nickte. Er hatte zusehends Mühe, den Knirps zu bändigen. Ein erwachsener Mann gegen einen kleinen Jungen, aber der Kleine entwickelte unglaubliche Kräfte. Wahrscheinlich fürchtete er um sein Leben. »Lassen Sie Wasser einlaufen, Miß Fellowes!« brüllte Hoskins. »Schnell!« Inzwischen hatten noch weitere Personen die Stasis betreten. Im allgemeinen Durcheinander entdeckte Miß Fellowes ihre drei Hilfskräfte und rief sie zu sich. »Elliott – Sie kümmern sich um die Badewanne! Mortenson, ich brauche Antibiotika für die Infektion am Bein! Bringen Sie am besten gleich die ganze Hausapotheke ins Bad! Stratford, Sie suchen sich eine Putzkolonne und lassen den Schutt hier wegräumen!« Das brachte die Leute in Bewegung. Nachdem sie jetzt das Kommando übernommen hatte, fielen Abscheu und Entsetzen rasch von ihr ab, und etwas von der Ruhe der ausgebildeten Krankenschwester kehrte zurück. Der Fall war nicht einfach, sicher. Aber sie war auf schwierige Fälle spezialisiert und hatte im Lauf der Jahre eine ganze Menge Erfahrungen gesammelt. Arbeiter tauchten auf, fegten den Schmutz auf dem Fußboden in große Behälter und trugen sie nach hinten in einen
Lagerraum. Hoskins rief ihnen noch nach: »Nicht vergessen, kein Krümel darf die Stasis verlassen!« Miß Fellowes folgte Hoskins ins Bad und bedeutete ihm, den Jungen in die Wanne zu setzen. Elliott hatte den Warmwasserhahn bereits voll aufgedreht. Nachdem Miß Fellowes sich aus dem Kreis der verwirrten Zuschauer gelöst hatte und wieder in die Rolle der tüchtigen, erfahrenen Krankenschwester geschlüpft war, konnte sie sich einen Moment Zeit nehmen, um sich das Kind in aller Ruhe und Sachlichkeit so anzusehen, als sei es das erstemal. Der Anblick ließ die Panik erneut aufflackern. Verzweifelt kämpfte sie gegen die Flut von Gefühlen an, die unversehens über sie hereingebrochen war. Doch endlich schaffte sie es, gezielt hinter den Schmutz und das Geschrei, die wild strampelnden Arme und Beine und den sich aufbäumenden Körper zu schauen und den Jungen selbst zu sehen. Ihr erster Eindruck war richtig gewesen. Das Kind war von seinem mißgestalteten Kopf bis zu den krummen Beinen ein wahrer Ausbund an Häßlichkeit. Der Körper war auffallend stämmig, mit großem Brustkorb und breiten Schultern. Gut: damit hätte man sich noch abfinden können. Aber dieser lange, übergroße Schädel! Die höckerige, stark zurückweichende Stirn! Die plumpe Kartoffelnase mit den weiten Nüstern, die sich nicht nur nach unten öffneten, sondern auch zur Seite hin. Die großen Knochenringe um die riesigen, starren Augen! Das fliehende Kinn, der kurze Hals, die zwergenhaft verkümmerten Gliedmaßen! Vierzigtausend Jahre, dachte Miß Fellowes. Sie war wie in Trance. Das war kein Mensch. Nein, das war ein Tier. Ein Tier. Ihr schlimmster Verdacht hatte sich bestätigt. Ein
Affenkind, ja, genau das war er. Nicht besser als ein Schimpanse. Dafür bezahlte man ihr also ein so fürstliches Gehalt! Aber wie konnte sie dieses Wesen betreuen? Woher sollte sie wissen, wie man mit kleinen, wilden Affen aus der Urzeit umging? Und doch… doch… Vielleicht tat sie ihm ja unrecht. Sie hoffte es von ganzem Herzen. Die großen, glänzenden Augen blitzten nicht nur vor Wut, da war auch unverkennbar ein Funke menschlicher Intelligenz. Die Haut war hellbraun, fast schon gelblich, und lediglich mit einem zartgoldenen Flaum bedeckt, nicht mit dem groben Zottelpelz eines Tierkindes. Und das Gesicht war bei aller Häßlichkeit doch kein richtiges Affengesicht. Man mußte nur sehr genau hinsehen, dann entdeckte man, daß sich hinter der fremde Fassade im Grunde nichts anderes verbarg als ein kleiner Junge. Ein häßlicher, kleiner Junge, gewiß, ein fremdartiger, kleiner Junge, aber doch ein kleiner Mensch – ein schmutzstarrendes, verängstigtes Kind mit krummen Beinen, einem seltsam geformten Kopf, einem so gut wie nicht vorhandenen Kinn und einem entzündeten Kratzer am Bein. Auf einer Wange hatte es ein rotes Muttermal, das aussah wie ein gezackter Blitz – ja, es war anders als alle Kinder, die sie kannte, aber sie würde sich trotzdem Mühe geben, dieses arme, verlassene Geschöpf, das man so mir nichts, dir nichts aus seiner Zeit herausgerissen hatte, als menschliches Wesen zu betrachten. Hoffentlich gelang ihr das irgendwann. Hoffentlich. Wenn er nur nicht so häßlich wäre! Du lieber Gott, es gehörte schon eine Menge dazu, ein Wesen von derart abstoßender Häßlichkeit zu lieben! Trotz ihrer Beteuerungen damals beim Vorstellungsgespräch war sich Miß Fellowes keineswegs
sicher, ob sie dazu imstande sein würde. Und dieser Gedanke beunruhigte sie zutiefst. Jetzt war die Wanne voll. Elliott, ein kräftiger Mann mit schwarzem Haar, riesigen Händen und muskulösen Armen, hatte Dr. Hoskins den Jungen abgenommen und tauchte ihn ein, obwohl er sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte. Mortenson, die zweite Hilfskraft, hatte den Wagen mit der Hausapotheke hereingerollt. Miß Fellowes spritzte eine halbe Tube antiseptischer Seife ins Wasser und verteilte sie, bis gelblicher Schaum entstand. Im ersten Moment war das Kind von den Blasen so fasziniert, daß es ganz vergaß, zu brüllen und um sich zu treten – aber es dauerte nicht lange, bis ihm wieder einfiel, wie sehr er doch mißhandelt wurde, und schon ging das Gestrampel von neuem los. Elliott lachte. »Der kleine Kerl ist kaum zu halten. Jetzt wäre er mir fast entschlüpft.« »Passen Sie bloß auf«, mahnte Miß Fellowes grimmig. »Mein Gott, wie kann man nur so schmutzig sein! Vorsicht – festhalten! Nicht loslassen!« Hier half nur rohe Gewalt. Selbst mit Hilfe von zwei Männern gelang es ihr kaum, den Jungen halbwegs zu bändigen. Er drehte und wand sich unaufhörlich, trat mit den Füßen, kratzte, was ihm unter die Finger kam, und brüllte dabei aus Leibeskräften. Miß Fellowes wußte nicht, ob er um sein Leben kämpfte oder nur seine Würde verteidigte, jedenfalls hatte sie selten einen so widerspenstigen Patienten gehabt. Inzwischen hatte jeder einen Schwall schmutziges Seifenwasser abbekommen, und Elliott war das Lachen vergangen. Der Junge war ihm mit den Fingernägeln über den Arm gefahren, nun quoll unter dem dichten Kräuselhaar das Blut hervor. Miß Fellowes befürchtete schon, sie müßte das Kind unter Beruhi-
gungsmittel setzen, um die Prozedur abschließen zu können, doch dazu wäre sie nur im äußersten Notfall bereit gewesen. »Lassen Sie sich eine Penicillinspritze geben, wenn wir fertig sind«, sagte sie zu Elliott. »Das ist ein böser Kratzer. Wer weiß, was der Junge an Urzeitmikroben unter den Fingernägeln hat.« Mittendrin fiel ihr wieder ein, daß sie einmal verlangt hatte, das Kind müsse sofort nach seiner Ankunft in eine sterile Kammer gebracht werden. Jetzt konnte sie über diese Forderung nur noch lachen. Der Junge war so stark, so flink, so voller Temperament: und sie hatte ein schwaches, verletzliches Wesen erwartet… Nun, sagte sie sich, so erbittert er auch kämpfte, er war nicht gegen alle Gefahren gefeit. In den ersten Tagen würde man ihn ständig im Auge behalten müssen, solange, bis sichergestellt war, daß er keine Krankheitserreger aufgeschnappt hatte, gegen die er keine Abwehrkräfte besaß. »Heben Sie ihn doch bitte kurz hoch, Elliott«, sagte sie. »Und Sie, Mortenson, lassen frisches Wasser ein. Du lieber Gott, das ist mir vielleicht ein kleiner Schmutzfink!« Das Bad schien immer noch keine Wirkung zu zeigen. Miß Fellowes schrubbte schweigend weiter, doch allmählich schlug ihre Stimmung um. Sie wurde gereizt, ja wütend. Jetzt empfand sie es nicht mehr als reizvoll, eine schwierige Aufgabe zu meistern. Der erbitterte Kampf, die gellenden Schreie des Kleinen, das Gefühl, allmählich bis auf die Haut durchnäßt zu sein, ließen ganz andere Gedanken in den Vordergrund treten. Hoskins hatte sie hereingelegt. Er hatte sie heimtückisch in dieses Arbeitsverhältnis gelockt. Sie hatte nicht gewußt, welche Aufgabe hier auf sie wartete, wie unmöglich es war, sie zu bewältigen.
Er hatte zwar angedeutet, daß es kein hübsches Kind sein würde. Aber von einem gräßlichen Monstrum, von einer wilden Dschungelbestie war nie die Rede gewesen. Außerdem verbreitete der Junge einen erbärmlichen Gestank, dem mit Wasser und Seife nur nach und nach beizukommen war. Je länger der Kampf dauerte, desto verführerischer wurde die Vorstellung, Dr. Hoskins das nasse, glitschige Kind in die Arme zu drücken, auf dem Absatz kehrtzumachen und zu gehen. Aber das konnte sie nicht tun. Das ginge gegen ihre Berufsehre. Sie hatte die Stelle aus freien Stücken angetreten, jetzt mußte sie einfach durchhalten, was auch geschah. Wenn sie ehrlich war, mußte sie zugeben, daß Hoskins sie nicht hintergangen hatte. Er hatte ihr von vornherein gesagt, daß die Aufgabe nicht leicht sein würde. Daß es sich um ein Kind handelte, das nicht nur schwierig und fremdartig sein würde, sondern auch widerspenstig und womöglich von abstoßendem Äußeren. Genau so hatte er sich ausgedrückt. Und dann hatte er gefragt, ob sie bereit sei, sich ohne Vorbehalt um dieses Kind zu kümmern – auch wenn es ein fliehendes Kinn und eine extrem flache Stirn haben sollte. Und sie hatte ja gesagt, ja, sie sei zu allem bereit. Sie fürchtete den Blick, den Hoskins ihr zuwerfen würde, wenn sie jetzt ginge. Ein kalter, durchdringender Blick, der deutlich sagte: Ich hatte also doch recht, Miß Fellowes? Sie wollen nur mit niedlichen Kindern zu tun haben. Sie hob den Kopf. Hoskins stand etwas abseits und beobachtete ungerührt mit einem halben Lächeln, wie die anderen sich abschufteten. Als er ihren Blick bemerkte, wurde das Lächeln breiter, fast, als könne er ihre Gedanken lesen, könne spüren, wie sie innerlich kochte, wie betrogen sie sich fühlte. Und das schien ihn königlich zu amüsieren.
Ich werde kündigen, beschloß sie, neuerlich von einer Welle des Zorns erfaßt. Aber noch nicht gleich. Erst, wenn ich hier alles im Griff habe. Vorher aufzugeben, wäre schmachvoll. Ich werde diesem häßlichen, kleinen Wilden noch ein wenig Kultur beibringen, dann kann Hoskins sich jemand anderen suchen, der sich an ihm die Zähne ausbeißt.
11 Die Schlacht in der Badewanne endete mit einem Sieg der drei Erwachsenen über das verängstigte Kind. Wenigstens einige der Schmutzschichten hatten weichen müssen, die Haut konnte mit etwas gutem Willen als rosig gelten. Das schrille Geschrei war in ein schüchternes Wimmern übergegangen. Auch zum Zappeln war der Kleine zu erschöpft. Aber seine Augen huschten immer noch mißtrauisch von einem seiner Peiniger zum anderen. Und er zitterte, aber vermutlich weniger aus Angst, dachte Miß Fellowes, als vor Kälte. Vielleicht hatte ihm die Dreckschicht als Wärmeisolierung gedient. Trotz seines kräftigen Körperbaus war er nämlich erschreckend mager, seine Arme und Beine waren spindeldürr und seine Rippen konnte man zählen. »Haben wir etwas zum Überziehen für das Kind?« rief Miß Fellowes. Prompt reichte man ihr ein rosa Flanellnachthemd. Es war
ja alles vorbereitet, aber solange sie keine Anweisungen gab, geschah nichts. Hoskins schien sich bewußt zurückzuhalten und ihr das Kommando zu überlassen, wie um sie auf die Probe zu stellen. »Vielleicht ist es besser, wenn ich ihn wieder festhalte, Miß Fellowes«, sagte der stämmige Elliot. »Allein kriegen sie ihn da niemals rein.« »Sie haben recht«, sagte Miß Fellowes. »Vielen Dank.« Als der Junge das Nachthemd sah, riß er die Augen auf, als sei es ein neues Folterinstrument. Doch diesmal war der Kampf kürzer und weniger heftig als in der Badewanne. Elliott schloß seine Riesenhände um die beiden schmalen Handgelenke und zog die kurzen Ärmchen nach oben; und Miß Fellowes streifte flink das Hemd über den Gnomenkopf. Der Junge gurrte fragend, faßte mit einer Hand in den Kragen und befühlte den Stoff. Seine flache Stirn legte sich in tiefe Falten. Dann fauchte er plötzlich und wollte sich das Nachthemd mit einem heftigen Ruck vom Leibe reißen. Miß Fellowes schlug ihm kräftig auf die Finger. Dr. Hoskins schnappte überrascht nach Luft. Sie tat so, als hätte sie es nicht gehört. Der Junge wurde rot, weinte aber nicht, sondern sah Miß Fellowes nur neugierig an. Er hatte unheimlich große, glänzend schwarze Augen. Miß Fellowes hatte noch nie ein Kind mit so riesigen Augen gesehen. Den Klaps nahm er ihr offenbar nicht weiter übel. Strafen dieser Art schienen ihm nicht unbekannt zu sein. Die kurzen, krummen Fingerchen strichen langsam über den dicken Flanell. Der Stoff war ihm sichtlich fremd, aber er unternahm keinen zweiten Versuch, sich davon zu befreien.
Und was jetzt? dachte Miß Fellowes verzweifelt. Alle schienen atemlos darauf zu warten, daß sie die Initiative ergriff – sogar der häßliche kleine Junge. Vor ihrem geistigen Auge erschien – nicht unbedingt in der Reihenfolge ihrer Dringlichkeit – eine lange Liste von Dingen, die erledigt werden mußten: Tetanusspritze wegen des Kratzers am Oberschenkel Finger- und Zehennägel schneiden. Bluttests. Stabilität des Immunsystems? Impfungen? Prophylaktische Antibiotikagaben? Haare schneiden. Stuhlproben. Darmparasiten? Zahnärztliche Untersuchung. Röntgenaufnahmen: Brustraum, Skelett etc. Ein weiteres Dutzend mehr oder weniger wichtiger Maßnahmen ging ihr durch den Kopf, bevor ihr klar wurde, was zumindest für den häßlichen, kleinen Jungen im Moment wohl unbedingt Vorrang hatte. Energisch sagte sie: »Er braucht etwas zu essen. Hat jemand Milch besorgt?« Auch das war geschehen. Ms. Stratford, ihre dritte Hilfskraft, rollte den blitzblanken Küchenwagen herein. Im Kühlfach standen drei Liter Milch. Auch ein Mikrowellenherd war vorhanden, außerdem verschiedene Vitaminpräparate, eine Flasche Kupfer-Kobalt-Eisen-Sirup und andere Stärkungsmittel. Ein weiteres Fach enthielt eine Auswahl an Babynahrung in selbsterhitzenden Dosen. Aber so weit war man im Moment noch nicht. Milch, schlichte Milch war für den Anfang wohl das beste.
Niemand wußte, wovon er sich dort ernährt hatte, wo er herkam – vielleicht von halbrohem Fleisch, Beeren, Wurzeln und Insekten? –, aber Milch war mit ziemlicher Sicherheit dabeigewesen. Bei primitiven Völkern wurden die Kinder wahrscheinlich jahrelang gestillt. Aber primitive Völker kannten keine Tassen. Auch davon konnte man ausgehen. Miß Fellowes goß ein wenig Milch in eine Untertasse und wärmte sie ein paar Sekunden in der Mikrowelle an. Alle sahen ihr aufmerksam zu – Hoskins, Candide Deveney, ihre drei Helfer und die vielen anderen, die sich inzwischen im Stasisbereich drängten. Auch der Junge starrte sie unverwandt an. »Ja, paß nur gut auf«, sagte sie. »So ist es brav.« Sie hob die Untertasse vorsichtig mit beiden Händen an die Lippen und tat so, als wolle sie die Milch herausschlürfen. Der Junge folgte dem Tellerchen mit den Augen. Ob er begriffen hatte, was sie von ihm wollte? »Trinken«, sagte sie. »So sollst du trinken.« Sie wiederholte die kleine Pantomime, obwohl sie fürchtete, sich lächerlich zu machen. Aber das schüttelte sie ab. Sie würde tun, was sie für richtig hielt. Und der Junge mußte schleunigst lernen, Nahrung zu sich zu nehmen. »Jetzt du«, sagte sie. Sie hielt ihm die Untertasse so dicht vor das Gesicht, daß er nur den Kopf ein wenig nach vorn schieben brauchte, um an die Milch zu gelangen. Er sah sie ernst, aber ohne jedes Verständnis an. »Trinken«, sagte Miß Fellowes. »Trinken.« Wieder streckte sie die Zunge heraus, wie um es ihm noch einmal zu zeigen. Keine Reaktion. Nur ein ratloser Blick. Er zitterte wieder,
obwohl der Raum geheizt und das Nachthemd eigentlich warm genug war. Jetzt machte man besser kurzen Prozeß, dachte die Pflegerin. Sie stellte die Untertasse auf den Fußboden. Dann ergriff sie mit einer Hand den Oberarm des Jungen, bückte sich, tauchte drei Finger der anderen Hand in die Milch und fuhr ihm damit über den Mund. Weiße Tropfen liefen ihm über Kinn und Wangen. Er stieß einen spitzen Schrei aus, wie sie ihn bisher noch nicht von ihm gehört hatte. Der Überfall hatte ihm wohl nicht behagt. Doch dann glitt seine Zunge langsam über die feuchten Lippen. Er runzelte die Stirn. Kostete. Die Zunge kam wieder zum Vorschein. War das ein Lächeln? Ja. Tatsächlich. Es sah jedenfalls ganz danach aus. Miß Fellowes trat zurück. »Milch«, sagte sie. »Das ist Milch. Nur zu. Da ist noch mehr davon.« Vorsichtig näherte sich der Kleine der Untertasse und beugte sich darüber. Dann schaute er rasch über die Schulter, wie um einen sich anpirschenden Feind zu ertappen. Als keine Gefahr drohte, ging er steif in die Hocke, streckte den Kopf nach vorne und begann, zuerst zaghaft dann mit zunehmendem Eifer nach Art einer Katze die Milch aufzulecken. Dabei schmatzte er laut. Er machte keinerlei Anstalten, die Untertasse mit den Händen an den Mund zu führen, sondern kauerte lieber wie ein Tier auf dem Boden. Mit einem Mal wurde Miß Fellowes von Ekel geschüttelt, obwohl doch sie es gewesen war, die ihm das Schlürfen vorgemacht hatte. Sie wollte ihn so gern als Kind sehen, als klei-
nen Menschen, aber er fiel immer wieder in tierische Verhaltensweisen zurück, und das weckte ihren Haß. Ja, in diesem Moment haßte sie ihn, und sie wußte, daß man ihr das deutlich ansah. Aber sie kam nicht dagegen an. Warum hatte das Kind auch so viel Ähnlichkeit mit einem Tier? Sicher, es stammte aus der Urzeit – vierzigtausend Jahre! –, aber mußte es deshalb wie ein Affe aussehen? Es war doch ein Mensch? Oder etwa nicht? Was hatte man ihr da nur untergeschoben? Candide Deveney hatte ihr wohl angesehen, was sie dachte, denn er fragte: »Weiß die Pflegerin Bescheid, Dr. Hoskins?« »Worüber?« fragte Miß Fellowes. Deveney zögerte, aber Hoskins sagte (immer noch mit diesem spöttischen Funkeln in den Augen): »Ich bin nicht sicher. Aber Sie können Sie gern aufklären.« »Was soll die Geheimniskrämerei?« fuhr sie auf. »Heraus mit der Sprache, was haben Sie mir verschwiegen?« Deveney sah sie an. »Ich meine nur, Miß – ist Ihnen eigentlich klar, daß Sie die erste zivilisierte Frau in der Geschichte sind, die den Auftrag hat, einen kleinen Neandertaler zu betreuen?«
Zweites Intermezzo MAGD-DER-GÖTTIN Es war am Morgen des vierten Tages nach Beginn der Wallfahrt zur Stätte der Drei Flüsse. Seit Silberne Wolke den Befehl zu dem langen Marsch gegeben hatte, wehte ein kalter, trockener Nordwind über die kahlen Ebenen. Immer wieder fegten Schauer von dünnen, eisigen Schneeflocken heran und umtanzten in milchigtrüben Wirbeln die Köpfe der Wanderer – und das mitten im Sommer! Kein Zweifel, die Göttin war erzürnt. Aber warum? Was hatten sie getan? Bei Nacht, wenn der weiße Mond den Himmel mit seiner kalten Lichtflut überschwemmte, kauerten sich Die Menschen in die kleinsten Ritzen und Spalten. Höhlen, die ihnen besseren Schutz geboten hätten, gab es hier nicht. Wer noch soviel Unternehmungsgeist aufbrachte, baute sich einen kleinen Unterstand aus Ästen und Zweigen, aber die meisten waren nach den langen Tagesmärschen und der mühseligen Nahrungssuche dafür zu müde. Zum erstenmal seit Menschengedenken war der Tag des Sommerfestes vorübergegangen, ohne daß man das Fest auch tatsächlich gefeiert hätte. Magd-Der-Göttin war darüber ganz und gar nicht glücklich. »Wenn die kalten Monate kommen, wird es eine Hungersnot geben«, prophezeite sie Hütet-DieVergangenheit mit finsterer Miene. »Es ist ein schwerer Frevel, das Sommerfest ausfallen zu lassen. Wir haben es noch nie versäumt, diesen Tag gebührend zu begehen.« »Das Sommerfest fällt ja nicht aus«, gab Hütet-DieVergangenheit zu bedenken. »Es wird nur verschoben, bis wir den Ratschluß der Göttin erfleht haben.«
»Den Ratschluß der Göttin!« fauchte die Priesterin verächtlich. »Den Ratschluß der Göttin! Was bildet Silberne Wolke sich eigentlich ein? Ich bin diejenige, die den Ratschluß der Göttin verkündet. Und dazu brauche ich nicht bis zur Stätte der Drei Flüsse zu wandern.« »Silberne Wolke aber schon«, sagte Hütet-Die-Vergangenheit. »Nur weil er ein Feigling ist. Seitdem er weiß, daß Die Anderen vor uns sind, läuft er vor ihnen davon.« »Sie sind nicht nur vor uns, sondern auch hinter uns. Es gibt kein Entrinnen mehr. Sie sind überall. Und um uns zum Kampf zu stellen, sind wir zu wenige. Was bleibt uns also übrig, als die Göttin zu fragen, wie wir uns verhalten sollen?« »Mag sein«, räumte die Priesterin mürrisch ein. »Wahrscheinlich hast du recht.« »Wenn uns die Göttin also nicht durch deinen Mund zu einer bestimmten Taktik rät…« »Genug, Hütet-Die-Vergangenheit. Ich habe verstanden.« »Gut. Aber vergiß es nicht gleich wieder.« Magd-Der-Göttin rümpfte beleidigt die Nase. Dann wandte sie sich ab, stolzierte allein zum Feuer hinüber und stellte sich, die Arme fest um den Oberkörper geschlungen, davor. Sie lag sich mit Hütet-Die-Vergangenheit schon seit ewigen Zeiten in den Haaren, und mit zunehmendem Alter war die Sympathie von beiden Seiten nicht gerade gewachsen. HütetDie-Vergangenheit tat sich allerhand darauf zugute, daß sie ein ausgezeichnetes Gedächtnis besaß (wobei ihr die Bündel mit den Überlieferungsstäben eine große Stütze waren) und über eine umfassende Kenntnis aller Stammestraditionen verfügte. Nun, auf ihre Weise ist sie tatsächlich etwas Besonderes, gestand sich die Priesterin widerstrebend ein. Aber sie
ist nicht heilig. Heilig bin nur ich. Sie ist die Chronistin; aber ich spreche mit der Göttin; und manchmal spricht die Göttin auch zu mir. Sie öffnete ihren Pelzumhang und ließ den rosigwarmen Schein des Feuers über ihren hageren, sehnigen Körper spielen. Immerhin, dachte sie, in diesem Fall hatte Hütet-DieVergangenheit nicht unrecht. Die Anderen – diese hochgewachsenen, flinken Gestalten mit den abstoßend flachen Gesichtern, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren und sich nun mit Windeseile überall ausbreiteten – stellten ein ernsthaftes Problem dar. Sie belegten die besten Höhlen mit Beschlag, die reichsten Jagdgründe, die frischesten Quellen. Wenn stammeslose Wanderer den Weg Der Menschen kreuzten, bekam Magd-Der-Göttin immer wieder die gräßlichsten Geschichten von Zusammenstößen zwischen Den Anderen und kleinen Trupps Der Menschen zu hören, Geschichten von blutigen Massakern und vernichtenden Niederlagen. Die Anderen hatten nicht nur die besseren Waffen und konnten sie offenbar auch in unbegrenzten Mengen herstellen, sie waren obendrein die wendigeren Kämpfer. Wenn man den Berichten glauben konnte, kamen sie von allen Seiten zugleich und lösten sich gleichsam wieder in Luft auf wie Gespenster. Bisher war es Silberne Wolke noch immer gelungen, seinen Stamm so über die großen Ebenen zu dirigieren, daß ein offener Konflikt mit den gefährlichen Neuankömmlingen vermieden wurde. Aber wie lange würde er das noch durchhalten können? Ja, diese Wallfahrt war wohl doch die beste Lösung, dachte die Priesterin. Vielleicht wußte die Göttin Rat. Außerdem hatte Silberne Wolke, was die religiöse Seite des Streits anging, sehr überzeugend argumentiert. Das Sommer-
fest stellte den Höhepunkt des Jahres dar, es fand statt, wenn die Sonne am wärmsten schien und die Tage am längsten waren. Man feierte die Güte der Göttin und IHRE Gnade und dankte im voraus für die reiche Ernte, die SIE dem Stamm in den letzten Wochen der Jagd- und Sammelsaison bescheren würde. Wie konnten sie das Sommerfest abhalten, hatte Silberne Wolke gefragt, wenn ihnen die Göttin so unübersehbar zürnte? Und, was noch wichtiger war, dachte Magd-Der-Göttin: wie konnten sie das Sommerfest abhalten, wenn Silberne Wolke sich rundheraus weigerte, das Ritual zu vollziehen? Gerade bei diesem Fest konnte man auf die Mitwirkung eines Mannes, des obersten Stammesführers, unmöglich verzichten. Er mußte vor dem Heiligtum der Göttin den feierlichen Dankesreigen tanzen. Er mußte den Stier opfern, und er mußte die Ehrenmaid umarmen und sie in die Mysterien der Großen Mutter einführen. Alle anderen Stammesfeste fielen in die Zuständigkeit der drei Priesterinnen, doch diese Feier konnten sie nicht begehen. Das war dem Häuptling vorbehalten. Und wenn Silberne Wolke sich weigerte, konnte das Sommerfest eben nicht stattfinden. Damit war alles gesagt. Magd-DerGöttin war nicht wohl bei der Sache, aber die Entscheidung lag bei Silberne Wolke. Die Priesterin verließ das wärmende Feuer. Es war Zeit, das Heiligtum für die Morgenfeier aufzubauen. »Mägde-Der-Göttin!« rief sie. »Kommt her, ihr beiden! An die Arbeit!« Früher einmal hatten sie alle einen eigenen Namen gehabt. Aber jetzt wurde jede der drei Priesterinnen schlicht und einfach Magd-Der-Göttin genannt. Wer in IHRE Dienste trat,
legte seinen Namen ab. Die Göttin hatte keinen Namen, und IHRE Dienerinnen hielten es ebenso. Die älteste Priesterin konnte sich noch an den Namen der jüngsten erinnern. Die war nämlich ihre eigene Tochter, und sie selbst hatte sie einst ›Heller Morgenhimmel‹ genannt. Aber diesen Namen hatte sie schon seit vielen Jahren nicht mehr laut ausgesprochen. Die einstige Heller Morgenhimmel war jetzt allen nur noch als Magd-Der-Göttin bekannt. Bei der Zweitältesten war sich die Priesterin nicht mehr ganz sicher, wie sie einmal geheißen hatte: entweder Einsamer Vogel oder Schnell-Wie-Der-Fuchs. Die beiden – Einsamer Vogel und Schnell-Wie-Der-Fuchs – waren einander als junge Mädchen sehr ähnlich gewesen. Nun war die eine tot, und die andere war Priesterin, und im Laufe der Zeit hatte Magd-Der-Göttin verlernt, sie auseinanderzuhalten. Ihren eigenen Geburtsnamen hatte sie schon vor Jahren vergessen, und heute verschwendete sie kaum noch einen Gedanken daran. Sie diente der Göttin, und das allein zählte. Nur manchmal, wenn sie nachts wachlag, zerbrach sie sich den Kopf darüber, wie sie wohl einmal geheißen haben mochte. Irgend etwas mit Sonnenschein?) Goldschwinge vielleicht? Oder Leuchtendes Wasser? Sie war sich ziemlich sicher, daß Glanz oder Helligkeit eine Rolle gespielt hatten. Aber der Name war nun einmal unwiederbringlich dahin, und schon der Versuch, ihn sich ins Gedächtnis zurückzurufen, weckte Schuldgefühle. Natürlich hätte sie auch niemanden danach fragen können. Einer Magd der Göttin war es strengstens verboten, ihren Geburtsnamen noch einmal im Munde zu führen. Jedesmal, wenn sie auch nur daran dachte, machte sie sofort das Sühnezeichen und bat um Vergebung. Sie war die Zweitälteste Frau im Stamm. Dies war ihr
vierzigster Sommer. Nur Hütet-Die-Vergangenheit war noch älter, und auch sie nur um allenfalls ein bis zwei Sommer. Aber Magd-Der-Göttin war gesund und kräftig; sie konnte damit rechnen, zehn, vielleicht fünfzehn, im günstigsten Fall sogar noch zwanzig weitere Jahre zu erleben. Ihre Mutter war uralt geworden, über sechzig Jahre, und ihre Großmutter ebenfalls. Langlebigkeit war ein Merkmal ihrer Familie. »Halten wir heute die volle Morgenfeier ab?« fragte die jüngste Priesterin, als sie die Steine für das Heiligtum zusammenschoben. Magd-Der-Göttin warf ihr einen mißmutigen Blick zu. »Selbstverständlich. Warum denn nicht?« »Weil Silberne Wolke will, daß wir sofort nach dem Frühmahl aufbrechen. Er sagt, die Strecke ist heute weiter als in den letzten drei Tagen.« »Silberne Wolke! Silberne Wolke! Er braucht wohl nur noch die Befehle zu geben, und schon springen wir alle wie die Frösche. Er mag es noch so eilig haben, die Göttin hat Zeit. Die Feier wird nicht abgekürzt.« Sie entzündete die Flamme der Göttin. Die zweite Priesterin zog ihren kleinen Wolfslederbeutel hervor und streute Duftkräuter darüber. Bunte Flämmchen züngelten in die Höhe. Die jüngste Priesterin holte die Steinschale mit dem Blut des Tieres, das die Jäger tags zuvor erlegt hatten, und goß etwas davon auf den Opferaltar. Magd-Der-Göttin holte die drei heiligen Bärenschädel, den wertvollsten Besitz des Stammes, aus ihrer Bärenfellhülle und stellte sie so auf drei flache Steine, daß sie nicht mit der Erde in Berührung kamen. Nicht einmal Hütet-Die-Vergangenheit konnte genau sagen, seit wie vielen Generationen sich die Schädel schon im Besitz
des Stammes befanden. Jedes der Tiere war vor langer Zeit von einem großen Helden im Zweikampf getötet worden, und die Schädel wurden von einer Priesterin zur nächsten weitervererbt. Der Bär war das Vatertier, der zündende Funke, der in der Großen Mutter das Leben entfachte. Deshalb galt es auch zu vermeiden, daß die Schädel den blanken Boden berührten, denn sonst würden sie die Mutter befruchten, und dafür wäre jetzt nicht die richtige Jahreszeit. Kinder, für die mitten im Sommer der Keim gelegt wurde, kämen in den dunklen Spätwintertagen zur Welt, wenn der Stamm am wenigsten zu essen hätte. Neues Leben galt es im Herbst zu säen, damit die Geburt in den Frühling fiel. Magd-Der-Göttin ging von einem Schädel zum anderen und strich liebevoll darüber. Die Hirnschalen waren von den Händen zahlloser, längst dahingegangener Priesterinnen glatt und glänzend geworden. Sie liebkoste die glänzenden Reißzähne, befühlte die schwarzen Augenhöhlen und spürte, wie ihr die Elementarkraft der Vatergottheit ein Kribbeln durch Hände, Arme und Schultern jagte. Die Vaterkraft hatte den Weg gebahnt, nun konnte die Mutterkraft in ihre Seele eindringen. So führte zwangsläufig eins zum anderen, man konnte keine der beiden Kräfte beschwören, ohne die Gegenwart der anderen zu spüren. »Göttin, wir danken DIR«, murmelte die Priesterin. »Wir danken DIR für die Früchte der Erde und für das Fleisch der Tiere, und am innigsten danken wir DIR für die Frucht, die unser Schoß hervorbringt.« Sie berührte ihre Brüste, ihren Leib, ihre Lenden. Dann kauerte sie sich nieder und wühlte mit den Fingerspitzen in der harten, gefrorenen Erde. Auch wenn sie noch so kalt war, die Erde war die Brust der Großen Mutter, und sie verdiente Zärtlichkeit. Die beiden Mitprieste-
rinnen ahmten jede ihrer Bewegungen nach. Sie schloß die Augen. Die Brust der Mutter wölbte sich in weitem Bogen bis zum Horizont. Die Aura der Göttin, die Mutterkraft, hielt Einzug in ihre Seele. Segne uns, betete Magd-Der-Göttin. Behüte uns. Schenke uns DEINE Liebe. Grölendes Gelächter irgendwo hinter ihr riß sie aus ihrer Versunkenheit. Die Knaben des Stammes waren wieder bei ihren derben Spielen. Sie zwang sich, nicht darauf zu achten. Die Knaben mochten noch so töricht und grausam sein, auch sie waren Kinder der Göttin. Die Göttin hatte die Frauen dafür geschaffen, Kinder zu gebären, sie zu nähren und ihnen Liebe zu schenken, und die Männer, um auf die Jagd zu gehen, für den Lebensunterhalt zu sorgen und in den Kampf zu ziehen. So hatte jeder seine Aufgabe, die der andere nicht ausfüllen konnte. Und die Vereinigung von Männern und Frauen im Dienst der Göttin war der eigentliche Sinn des Sommerfestes. Wenn also die Knaben wild und respektlos waren, dann deshalb, weil die Göttin sie so gemacht hatte. Mochten sie lachen. Mochten sie sich verfolgen und mit Stöcken aufeinander einschlagen, wenn sie sich gefangen hatten. Es war IHR Wille. Die Feier zog sich in die Länge. Als sie beendet war, erhob sich Magd-Der-Göttin, scharrte die Glut mit einem Stock zusammen und sammelte die heiligen Steine ein. Dann hob sie die Bärenschädel auf, küßte sie und verwahrte sie in ihren Pelzhüllen. In einiger Entfernung sah sie Silberne Wolke stehen. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schien ungeduldig auf das Ende der Zeremonie zu warten. Ganz in der Nähe führte Die-Alles-Weiß eine Gruppe der kleinsten
Kinder im Kreis herum und brachte ihnen ein Lied bei. Wie rührend, dachte Magd-Der-Göttin. Die-Alles-Weiß, die Unfruchtbare, gebärdet sich wie eine von den Müttern. Die Göttin ist wirklich zu hart mit ihr verfahren. »Bist du endlich fertig, Magd-Der-Göttin?« rief Silberne Wolke. »Können wir jetzt aufbrechen?« »Jetzt können wir aufbrechen.« Die-Alles-Weiß kam zu ihr herüber. Ein paar von den kleineren Kindern wackelten hinter ihr her – Duftende Blume, Himmelsfeuergesicht und zwei weitere. »Kann ich dich einen Moment sprechen, Magd-DerGöttin?« fragte Die-Alles-Weiß. »Silberne Wolke möchte, daß wir rasch zusammenpacken und uns auf den Weg machen.« »Es dauert nicht lange.« »Schön, aber mach schnell.« Die-Alles-Weiß war eine irritierende Frau. Die Priesterin hatte sie nie leiden können. Niemand konnte sie leiden. Sicher, sie war klug, wie von einem düsteren Feuer durchglüht, und man zollte ihr unwillkürlich Respekt. Aber sie war auch dickköpfig und kratzbürstig. Die Priesterin bedauerte sie, denn sie hatte es wahrhaftig nicht leicht gehabt, hatte tote Kinder geboren, ihren Gefährten verloren und vieles mehr. Dennoch wollte sie mit Die-Alles-Weiß möglichst nichts zu tun haben. Die Frau zog das Unglück geradezu an. Die Huld der Göttin ruhte nicht auf ihr. Die-Alles-Weiß sagte leise: »Ist es wahr, was ich gehört habe? Werdet ihr ein besonderes Opfer darbringen, wenn wir die Stätte der Drei Flüsse erreichen?« »Gewiß werden wir ein Opfer darbringen«, sagte die Priesterin. »Wenn man eine Wallfahrt unternimmt, ist es doch
ganz natürlich, ein Opfer darzubringen, sobald man am Ziel ist.« »Ein besonderes Opfer.« Jetzt war die Priesterin mit ihrer Geduld am Ende. »Inwiefern besonders, Die-Alles-Weiß?« brauste sie auf. »In welcher Beziehung? Ich bin im Moment zu beschäftigt, um Rätselraten zu spielen.« »Es soll ein Kind geopfert werden«, sagte Die-Alles-Weiß. Die Priesterin wäre nicht überraschter gewesen, wenn DieAlles-Weiß ihr eine Handvoll Schnee ins Gesicht geworfen hätte. »Was? Wer sagt denn so etwas?« »Ich habe die Männer darüber reden hören. Wir sollen an der Stätte der Drei Flüsse ein Kind opfern, auf daß die Göttin Die Anderen von uns fernhalte. Silberne Wolke hat es so beschlossen, und vermutlich hat er zuvor mit dir darüber gesprochen. Ist es also wahr, Magd-Der-Göttin?« Der Priesterin klopfte das Herz bis zum Hals, und in ihren Ohren dröhnte es wie Gewitterdonner. Ein Schwindel erfaßte sie, so daß sie Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten und den Blick von Die-Alles-Weiß ruhig zu erwidern. Immer wieder füllte sie mit tiefen Atemzügen ihre Lungen, und endlich fand sie zumindest einen Teil ihrer Gelassenheit wieder. Ihre Stimme klirrte wie Eis, als sie sagte: »Das ist Wahnsinn, Die-Alles-Weiß. Die Göttin schenkt uns Kinder. Aber SIE verlangt sie nicht zurück.« »Manchmal nimmt SIE sie uns auch wieder fort.« »Ja. Ich weiß.« Die Stimme der Priesterin wurde ein wenig sanfter. »Wer könnte die Handlungen der Göttin verstehen? Aber wir töten keine Kinder, um sie IHR zu opfern. Tiere, ja.
Aber keine Kinder. Niemals. Das hat es noch nie gegeben.« »Die Anderen waren auch noch nie zuvor eine ernsthafte Bedrohung.« »Kinder zu opfern, wird uns vor Den Anderen nicht schützen.« »Es heißt, du und Silberne Wolke wäret da anderer Meinung.« »Wer immer das sagt, ist ein Lügner«, empörte sich die Priesterin. »Ich weiß nichts von diesem Plan. Nichts! – Das ist barer Unsinn, Die-Alles-Weiß. Dazu wird es nicht kommen, das verspreche ich dir. In unserem Stamm werden keine Kinder geopfert. Ich gebe dir mein Wort darauf.« »Schwöre es. Schwöre es bei der Göttin. – Nein.« Die-AllesWeiß streckte die Arme aus und nahm Himmelsfeuergesicht an die eine und Duftende Blume an die andere Hand. »Schwöre es bei den Seelen dieses kleinen Jungen und dieses kleinen Mädchens.« »Mein Wort sollte dir genügen«, sagte Magd-Der-Göttin. »Du willst nicht schwören?« »Mein Wort reicht aus«, sagte Magd-Der-Göttin. »Ich brauche dir keinen Schwur zu leisten. Nicht bei der Göttin, und auch nicht bei dem kleinen Hinterteil von Duftende Blume. Wir sind zivilisierte Menschen, Die-Alles-Weiß. Wir töten keine Kinder. Damit mußt du dich zufriedengeben.« Die-Alles-Weiß schien nicht überzeugt. Aber sie räumte das Feld und ließ Magd-Der-Göttin allein zurück. Die Priesterin dachte angestrengt nach. Ein Kindesopfer? War das ernst gemeint? Glaubten die Leute wirklich, damit irgend etwas zu erreichen? Und hatten sie womöglich recht? Würde die Göttin so etwas dulden? Die Priesterin bemühte
sich, den Gedanken zu Ende zu verfolgen. Ein kleines Menschenkind zu töten, der Göttin zurückzugeben, was sie geschenkt hatte – war das der richtige Weg, um SIE zu bewegen, Den Menschen in ihrer Not beizustehen? Nein. Nein. Nein. Wie man es auch drehte und wendete, es ergab keinen Sinn. Wo war Silberne Wolke? Ach ja, er stand drüben bei Mammutreiter und sah sich die neuen Pfeilspitzen an. MagdDer-Göttin ging zu ihm, zog ihn beiseite und sagte leise: »Ich will eine ehrliche Antwort von dir. Hast du die Absicht, ein Kind zu opfern, wenn wir zur Stätte der Drei Flüsse kommen?« »Bist du verrückt geworden?« »Die-Alles-Weiß behauptet, einige der Männer hätten darüber gesprochen. Du hättest bereits so entschieden, und ich hätte meine Einwilligung gegeben.« »Hast du deine Einwilligung gegeben?« fragte Silberne Wolke. »Natürlich nicht.« »Nun, ebensowenig stimmt der Rest der Geschichte. Ein Kind opfern, Magd-Der-Göttin? Wie konntest du jemals glauben, daß ich…?« »Ich war mir nicht sicher.« »Wie kannst du so etwas sagen?« »Du hast das Sommerfest ausfallen lassen.« »Was ist los mit dir, Magd-Der-Göttin? Ist es für dich einund dasselbe, ob man ein Fest verschiebt oder ein Kind ermordet?« »Manche Leute würden das eine für so schlimm halten wie das andere.« »Wer so denkt, kann nicht bei Verstand sein«, gab Silberne
Wolke zurück. »Ich denke nicht daran, so etwas zu tun, und du kannst Die-Alles-Weiß bestellen, ich würde…« Er hielt inne, und ein merkwürdiger Ausdruck trat auf sein Gesicht. »Oder glaubst du, das könnte etwas bewirken? Willst du vielleicht andeuten…?« »Nein«, sagte Magd-Der-Göttin. »Natürlich nicht. Jetzt zweifle ich allmählich an deinem Verstand. Mach dich nicht lächerlich. Ich will überhaupt nichts andeuten. Ich bin einzig und allein deshalb zu dir gekommen, weil ich wissen wollte, ob an dem Gerücht irgend etwas ist.« »Und jetzt weißt du es. Es ist nichts daran. Überhaupt nichts.« Dennoch, er sah anders aus als sonst. Seine Empörung schien sich gelegt zu haben, nun war sein Blick nach innen gerichtet. Magd-Der-Göttin wußte nicht, was sie von dieser Nachdenklichkeit zu halten hatte. Was ging wohl in ihm vor? Göttin im Himmel, er wird dieses Kindesopfer doch nicht plötzlich ernsthaft in Erwägung ziehen? Habe ich ihn vielleicht erst auf diese ungeheuerliche Idee gebracht? Nein, entschied sie. Nein. Das konnte nicht sein. Dazu kannte sie Silberne Wolke zu gut. Er war ein harter Bursche, der unbeirrbar seinen Weg ging, er konnte auch grausam sein – aber das paßte nicht zu ihm. Er würde kein Kind töten. »Ich möchte ganz deutlich machen, wie ich darüber denke.« Die Priesterin sprach mit aller Entschiedenheit, derer sie fähig war. »Es mag in diesem Stamm durchaus Männer geben, die es für zweckmäßig halten, der Göttin ein Kind zu opfern, und ich würde nicht ausschließen, Silberne Wolke, daß es ihnen gelingen könnte, auch dich zu dieser Ansicht zu bekehren, bis wir die Stätte der Drei Flüsse erreichen. Aber ich werde dem niemals zustimmen. Ich werde jeden, der auch nur einen
Vorschlag in dieser Richtung macht, mit dem Bärenfluch belegen, dem schrecklichsten Fluch der Göttin. Ich werde nicht zögern, ihm für alle Zeiten IHRE Gnade zu entziehen. Ich werde…« »Immer mit der Ruhe, Magd-Der-Göttin. Deine Aufregung ist vollkommen unbegründet. Niemand denkt daran, ein Kind zu opfern. Niemand, glaube mir. Wenn wir zur Stätte der Drei Flüsse kommen, werden wir einen Steinbock, eine Gemse oder einen kapitalen Rotelch jagen und das Fleisch der Göttin opfern, wie wir es immer tun. Und damit ist die Sache erledigt. Also beruhige dich. Beruhige dich. Du machst ganz umsonst einen solchen Wirbel. Dabei weißt du ganz genau, daß ich so etwas niemals zulassen würde, Magd-Der-Göttin.« »Schön«, sagte sie. »Einen Steinbock also. Oder eine Gemse.« »Genau«, erwiderte Silberne Wolke grinsend und klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter. Sie schämte sich. Wie war sie nur auf die törichte Idee gekommen, Silberne Wolke derart barbarische Absichten zu unterstellen? Sie entfernte sich ein paar Schritte vom Lager, kniete an einem Bächlein nieder und spritzte sich das eiskalte Wasser auf die schmerzende Stirn.
Gegen Mittag, der Stamm war längst wieder unterwegs, ging sie zu Die-Alles-Weiß und sagte: »Ich habe mit Silberne Wolke gesprochen. Er war, was dieses Kindesopfer angeht, ebenso ahnungslos wie ich. Und er ist ganz der gleichen Ansicht wie ich. Und wie du. Er wäre niemals damit einverstanden.«
»Einige hier denken anders darüber.« »Wer zum Beispiel?« Die-Alles-Weiß schüttelte den Kopf. »Ich werde keine Namen nennen. Jedenfalls glauben diejenigen, die Göttin würde sich erst zufriedengeben, wenn SIE eins von unseren Kindern bekäme.« »Wer so etwas glaubt, der kennt die Göttin nicht. Am besten vergißt du das Ganze, Die-Alles-Weiß. Es ist nur leeres Geschwätz. Dummes Gerede.« »Hoffentlich«, seufzte Die-Alles-Weiß. Es klang nicht überzeugt. Sie marschierten weiter. Allmählich gelang es der Priesterin, auf andere Gedanken zu kommen. Als Die-Alles-Weiß sich weigerte, Namen zu nennen, war sie mißtrauisch geworden. Höchstwahrscheinlich hatte es mit der ganzen Sache gar nichts auf sich. Vielleicht hatte die Frau alles nur erfunden; vielleicht war sie es, die nicht ganz richtig im Kopf war; vielleicht wäre es eine gute Idee, sie allein auf eine kleine Wallfahrt zu schikken, um ihre verwirrte Seele von diesen Wahnvorstellungen zu befreien. Ein Kindesopfer! Nicht auszudenken!
Irgendwann vergaß sie die Geschichte. Wochen vergingen, der Sommer neigte sich dem Ende zu, und Die Menschen wanderten immer noch nach Westen, der Stätte der Drei Flüsse entgegen. Endlich standen sie auf einem Hügel und sahen ihr Ziel unter sich liegen. Sie waren fast am Ende ihres langen Weges angelangt. Ein schmaler Steig führte in vielen Windungen abwärts. Durch den leichten Nebel, der über dem Tal lag,
glänzte das Wasser der Drei Flüsse. Es ging bereits gegen Abend, und Die Menschen suchten nach einem Platz, um ihr Nachtlager aufzuschlagen, als etwas Merkwürdiges geschah. Magd-Der-Göttin ging fast an der Spitze des Zuges zwischen Wolfsbaum auf der einen und Feuerauge auf der anderen Seite. Die beiden halfen ihr, die Bündel mit den heiligen Gerätschaften zu tragen. Plötzlich begann dicht neben dem Weg die Luft zu flimmern, eine blendend helle, von rotgrünen Blitzen und Glitzerkreisen durchzuckte Lichtsäule entstand. In der Mitte schwebte ein weißglühender Kern auf und ab und drehte sich zugleich mit rasender Geschwindigkeit um sich selbst. Das Licht war so grell, daß es in den Augen schmerzte. Magd-Der-Göttin hielt sich die Hand vor die Augen. Alle schrien vor Angst. Dann war das Licht so plötzlich verschwunden, wie es gekommen war. Die Priesterin blinzelte sich die Tränen aus den Augen. Sie war verwirrt. »Was war das?« fragte jemand. »Was wird wohl als nächstes passieren?« »Rette uns, Silberne Wolke!« »Magd-Der-Göttin? Magd-Der-Göttin, kannst du uns sagen, was das war?« Die Priesterin fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und begann verzweifelt zu improvisieren: »Das war… das war die Göttin, SIE ist an uns vorübergezogen. Wir haben den Saum IHRES Gewandes gesehen.« »Oh ja.« Alle stimmten ihr zu. »Die Göttin. Natürlich, es war die Göttin. Wer soll es sonst gewesen sein?« Dann rief Die-Alles-Weiß mit gellender Stimme: »Jawohl, es
war die Göttin, und SIE hat Himmelsfeuergesicht mitgenommen!« »Wie?« »Er war dicht hinter mir, als das Licht erschien. Und jetzt ist er verschwunden.« »Verschwunden? Wohin denn? Und wie?« »Sucht nach ihm!« kreischte jemand. »Wir müssen ihn finden! Himmelsfeuergesicht! Himmelsfeuergesicht!« Nun rannte alles schreiend durcheinander, ohne Ziel und Plan, nur um irgend etwas zu tun. Der Lärm war ohrenbetäubend. Magd-Der-Göttin hörte, wie Silberne Wolke seine Stammesgenossen ermahnte, sich doch zu beruhigen. Am aufgeregtesten waren die Mütter: ihre spitzen Schreie übertönten alles, sie weinten bitterlich und schlugen in ihrer Verzweiflung um sich. Magd-Der-Göttin überlegte, wer eigentlich Himmelsfeuergesichts leibliche Mutter war. Erst nach einer Weile fiel es ihr wieder ein: Roter-Rauch-bei-Sonnenaufgang hatte den kleinen Jungen mit dem blitzförmigen Muttermal auf der Wange vor vier Sommern geboren. Aber die Kinder wurden von allen Müttern gemeinsam aufgezogen, und so war es nicht weiter wichtig, wer ein bestimmtes Kind zur Welt gebracht hatte; Milchquelle, Prächtiger Schnee und Grüner Eissee waren über das rätselhafte Verschwinden des Kleinen nicht weniger verstört als Roter-Rauch-bei-Sonnenaufgang. »Er muß vom Wege abgekommen sein«, sagte Gespaltener Berg. »Ich werde nach ihm suchen.« »Ich sage dir doch, er war dicht hinter mir«, zeterte DieAlles-Weiß. »Das Licht hat ihn verschlungen.« »Und du hast es gesehen, was?« »Er war hinter mir, als es passierte. Aber ich hätte gemerkt,
wenn er vom Wege abgekommen wäre. Das Licht hat ihn geholt, glaubt es mir.« Gespaltener Berg ließ sich nicht davon abbringen, zurückzugehen und nach dem Jungen zu suchen. Aber es war vergeblich. Das Kind war wie vom Erdboden verschluckt. Nach einer Stunde hatte Gespaltener Berg noch nicht einmal einen Fußabdruck gefunden. Inzwischen war es zu dunkel geworden, um die Suche fortzusetzen. »Wir müssen weiterziehen«, mahnte Silberne Wolke. »Hier können wir nicht lagern.« »Aber Himmelsfeuergesicht…« »Ist verloren«, entschied Silberne Wolke gnadenlos. »Das Licht der Göttin hat ihn verschlungen.« »Das Licht der Göttin! Das Licht der Göttin!« Sie zogen weiter. Die Priesterin war wie betäubt. Sie hatte direkt in das flimmernde Licht geschaut und spürte immer noch einen dumpfen Schmerz hinter den Augäpfeln. Wenn die die Lider schloß, sah sie purpurrote Kreise. War es wirklich die Göttin gewesen? Sie wußte es nicht. Sie hatte so etwas wie dieses Licht noch nie gesehen und würde es hoffentlich auch niemals wieder sehen müssen. »Die Göttin wollte also doch eins von unseren Kindern zurückhaben«, sagte Die-Alles-Weiß. »Nun ja.« »Von solchen Dingen verstehst du nichts!« fuhr Magd-DerGöttin sie an. »Davon hast du keine Ahnung.« Aber bei sich dachte sie: Und wenn es nun doch so wäre? Die Möglichkeit war nicht auszuschließen. Es war sogar eher wahrscheinlich, daß ein so starkes Licht nichts anderes war als eine Manifestation der Göttin. Aber wozu hatte die Göttin ein Kind gebraucht? Wo lag da der Sinn?
Bis tief in die Nacht rang Magd-Der-Göttin mit der wundersamen Erscheinung, dann resignierte sie. Wir werden SIE niemals verstehen. SIE ist die Göttin, und wir sind nur IHRE Geschöpfe. Und Himmelsfeuergesicht ist nun einmal verschwunden. Es geht über meinen Verstand, aber das ändert nichts. Jetzt fiel ihr auch das Gerücht wieder ein, demzufolge Silberne Wolke geplant haben sollte, an der Stätte der Drei Flüsse ein Kind zu opfern. Nun, davon konnte jetzt keine Rede mehr sein. Sie hatten ihr Ziel fast erreicht; und die Göttin hatte sich das Kind selbst geholt, anstatt darauf zu warten, daß es IHR geopfert wurde. Hoffentlich würde SIE sich damit zufriedengeben, dachte die Priesterin. Kinder waren derzeit rar im Stamm. Sie konnten es sich nicht leisten, IHR noch ein zweites zu überlassen.
Drittes Kapitel ENTDECKUNGEN
12 Ein Neandertaler? Ein Untermensch? dachte Miß Fellowes ungläubig. Zunächst war sie nur verwirrt, doch bald schon gewannen der Zorn und das schmerzliche Gefühl, betrogen worden zu sein, die Oberhand. Konnte man das Kind wirklich so bezeichnen? Wenn Deveney die Wahrheit sagte, dann waren ihre schlimmsten Alpträume Wirklichkeit geworden. Sie wandte sich, mühsam ihre Entrüstung beherrschend, an Hoskins. »Das hätten Sie mir sagen müssen, Doktor.« »Wozu? Was hätte das geändert?« »Sie sprachen von einem Kind, nicht von einem Tier.« »Es ist ein Kind, Miß Fellowes. Oder wofür würden Sie es halten?« »Ein Neandertalerkind.« Hoskins sah sie verständnislos an. »Aber natürlich. Sie wissen doch, mit welcher Art von Experimenten sich die Stasis GmbH beschäftigt. Oder wollen Sie behaupten, man hätte Sie im unklaren darüber gelassen, daß das Kind aus prähistorischer Zeit stammen sollte? Darüber hatten wir doch ausführlich gesprochen.« »Prähistorisch ja. Aber ein Neandertaler? Ich hatte mit einem menschlichen Kind gerechnet.« »Neandertaler waren Menschen.« Jetzt kam auch bei
Hoskins eine gewisse Gereiztheit zum Durchbruch. »Jedenfalls mehr oder weniger.« »Tatsächlich?« Sie wandte sich hilfesuchend an Candide Deveney. »Ist das wahr?« »Nun«, begann der Journalist, »die Mehrzahl der Paläoanthropologen der vergangenen sechzig bis siebzig Jahre betrachten die Neandertaler als eine Form des Homo sapiens, Miß Fellowes – eine archaische Abart der Spezies vielleicht, oder eine Unterart, so etwas wie die Vettern aus der Provinz, könnte man vielleicht sagen, aber auf jeden Fall nahe Verwandte, auf jeden Fall Angehörige der menschlichen Rasse…« Hoskins mischte sich ungeduldig ein. »Belassen wir es doch zunächst dabei, Deveney. Ich muß etwas anderes klären. – Miß Fellowes, hatten Sie jemals einen jungen Hund oder ein Kätzchen?« »Als kleines Mädchen, ja. Aber was hat das damit…?« »Dieser junge Hund oder das Kätzchen, das Sie damals hatten, war es Ihnen ans Herz gewachsen? Hatten Sie es lieb?« »Natürlich. Aber…?« »War es ein Mensch, Miß Fellowes?« »Es war ein Kuscheltier, Doktor. Aber hier geht es nicht um Kuscheltiere. Hier geht es um meine Berufsauffassung. Sie verlangen von einer hochqualifizierten Krankenschwester mit umfangreichen Erfahrungen auf dem Gebiet der modernen Kinderheilkunde, daß sie sich um… um…« »Nehmen wir an, das Kind wäre ein kleiner Schimpanse«, sagte Hoskins. »Würde Sie das abschrecken? Wenn ich Sie bitten würde, sich um ihn zu kümmern, würden Sie es tun, oder würden Sie sich angewidert abwenden? Und dieses Kind ist kein Schimpanse. Es ist überhaupt kein Menschenaffe. Es ist ein kleiner Mensch.«
»Ein kleiner Neandertaler.« »Wie gesagt, ein kleiner Mensch. Er sieht fremdartig aus und ist ziemlich wild, genau wie ich es Ihnen angekündigt hatte. Ein schwieriger Fall. Sie sind eine erfahrene Krankenschwester, Miß Fellowes, Sie haben erstklassige Zeugnisse. Haben Sie Angst vor schwierigen Fällen? Haben Sie es jemals abgelehnt, sich um ein mißgebildetes Kind zu kümmern?« Miß Fellowes spürte, wie sie an Boden verlor. »Sie hätten sich immerhin etwas deutlicher ausdrücken können«, sagte sie, schon sehr viel kleinlauter. »Soll das heißen, daß Sie die Stelle dann nicht angetreten hätten?« »Nun ja…« »Sie wußten, daß wir in einem Zeitraum von Jahrtausenden operieren.« »›Jahrtausende‹ könnte auch dreitausend Jahre bedeuten. Erst als Sie heute abend im Gespräch mit Mr. Deveney plötzlich die Zahl ›Vierzigtausend‹ erwähnten, wurde mir klar, um welche Dimensionen es sich tatsächlich handelte. Und selbst dann hatte ich noch nicht begriffen, daß es um einen Neandertaler ging. Ich bin kein… kein… wie sagten Sie noch, Mr. Deveney? – kein Paläoanthropologe. Der zeitliche Rahmen der Menschheitsentwicklung ist mir nicht so vertraut wie Ihnen und Ihresgleichen.« »Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, sagte Hoskins. »Wenn Ihnen alle Fakten im voraus bekannt gewesen wären, hätten Sie die Stelle dann angenommen oder nicht?« »Ich bin mir nicht sicher.« »Sie können auch jetzt noch absagen. Wie Sie ja wissen, waren Sie nicht die einzige qualifizierte Bewerberin. Soll ich Sie so verstehen, daß Sie kündigen?«
Hoskins sah sie abwartend an. Deveney beobachtete die Szene vom anderen Ende des Raums her. Der kleine Neandertaler hatte den Teller saubergeleckt und schaute jetzt mit nassem Gesicht und großen, sehnsüchtigen Augen zu ihr auf. Sie starrte ihn an. Was für ein häßlicher, kleiner Junge. Ihre eigenen Worte klangen ihr in den Ohren: Aber ein Neandertaler? Ich hatte mit einem menschlichen Kind gerechnet. Der Junge deutete erst auf die Milchflasche und dann auf den Teller. Und plötzlich stieß er mehrmals hintereinander eine Folge von harten, heiseren Geräuschen hervor: eine Mischung aus halberstickten Kehllauten und komplizierten Zungenschnalzern. »Er kann ja sprechen!« rief Miß Fellowes überrascht. »Hört sich jedenfalls so an«, bestätigte Hoskins. »Zumindest ist er imstande, mit Geräuschen Ich habe noch Hunger auszudrücken – wozu natürlich auch eine Katze fähig ist.« »Nein – nein, er hat gesprochen«, beharrte Miß Fellowes. »Das muß sich erst noch herausstellen. Die Wissenschaftler sind sich nicht einig, ob die Neandertaler wirklich der Sprache mächtig waren. Das ist eine der Fragen, die wir im Verlauf dieses Experiments zu klären hoffen.« Das Kind produzierte wieder die gleichen Schnalz- und Gurgellaute. Sah erst Miß Fellowes an, dann die Milchflasche und schließlich den leeren Teller. »Da haben Sie Ihre Antwort«, sagte sie. »Er hat eindeutig gesprochen.« »Müßten Sie ihn in diesem Fall nicht als Menschen gelten lassen, Miß Fellowes?« Sie tat so, als habe sie die Frage nicht gehört. Das Problem war zu komplex, und sie hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie mußte ein hungriges Kind versorgen. Sie
griff nach der Milchflasche. Hoskins packte sie am Handgelenk und zog sie in die Höhe. »Einen Augenblick, Miß Fellowes. Bevor wir weitermachen können, muß ich wissen, ob Sie gedenken, die Stelle zu behalten.« Empört schüttelte sie seine Hand ab. »Wollen Sie ihn verhungern lassen, wenn ich nein sage? Er möchte noch etwas Milch, und Sie hindern mich daran, sie ihm zu geben.« »Nur zu. Aber zuerst möchte ich eine Antwort von Ihnen.« »Ich bleibe bei ihm – bis auf weiteres.« Sie füllte die Untertasse nach. Der Junge kauerte sich davor, tauchte die Lippen in die Milch und schlürfte und schmatzte, als habe er seit Tagen nichts mehr zu essen bekommen. Als er den Teller ausleckte, drang ein zufriedenes Gurren aus seiner Kehle. Er ist doch nichts anderes als ein kleines Tier, dachte Miß Fellowes. Fast wäre sie zusammengeschauert, aber sie beherrschte sich.
13 »Wir lassen Sie jetzt mit dem Jungen allein, Miß Fellowes«, sagte Hoskins. »Er hat genug durchgemacht, es ist sicher besser, wenn wir alle von hier verschwinden. Vielleicht können Sie ihn dazu bringen, ein wenig zu schlafen.« »Einverstanden.«
Er zeigte auf die ovale Metalltür – sie hatte Ähnlichkeit mit der Luke eines Unterseeboots –, die man passieren mußte, um ins Puppenhaus zu gelangen. »Diese Tür ist der einzige Eingang zur Stasissektion I, sie hat ein Spezialschloß und wird ständig bewacht. Wenn wir gehen, wird sie verriegelt. Morgen werden Sie lernen müssen, das Spezialschloß zu bedienen. Wir werden natürlich Ihre Fingerabdrücke einspeichern. Auf die meinen ist es bereits eingestellt. Und der Raum da oben« – er blickte zu dem fehlenden Dach des Puppenhauses hinauf – »wird von einem Netzwerk von Sensoren überwacht, so daß wir unverzüglich gewarnt werden, falls es zu irgendwelchen Zwischenfällen kommen sollte.« »Was denn für Zwischenfälle?« »Zum Beispiel ein Einbruch.« »Warum sollte jemand…« »In diesen Räumen befindet sich ein kleiner Neandertaler aus dem Jahre 40.000 v. Chr.«, erläuterte Hoskins mit kaum verhohlener Ungeduld. »Sie werden es nicht für möglich halten, aber es gibt genügend Leute, die ein Motiv für einen Einbruch hätten, von Hollywoodproduzenten über rivalisierende Wissenschaftler bis hin zu gewissen selbsternannten Anwälten für die Rechte der Kinder, über die wir uns schon bei unserem ersten Gespräch unterhalten hatten.« Bruce Mannheim, dachte Miß Fellowes. Er hat wirklich eine Heidenangst davor, mit Bruce Mannheim Schwierigkeiten zu bekommen. Seine Frage, ob ich mit diesem Mann im Laufe meines Berufslebens jemals aneinandergeraten sei, war durchaus ernstgemeint. »Selbstverständlich muß das Kind geschützt werden«, sagte sie. Doch dann kam ihr ein Verdacht, und sie schaute ebenfalls zu der nicht vorhandenen Decke empor. Von der Galerie aus
hatte man in jedes der Zimmerchen hineinsehen können. »Aber heißt das«, fragte sie empört, »daß mich jeder Besucher, der zufällig da oben steht, beobachten kann?« »Gewiß nicht«, sagte Hoskins. Sein Lächeln war bei aller Freundlichkeit nicht ohne Herablassung, dachte sie. Die prüde alte Jungfer hatte also Angst vor Spannern. Aber sie sah nun einmal keinen Anlaß, sich vor den Augen von Fremden ausund anzuziehen. »Man wird Ihre Intimsphäre in keiner Weise verletzen, Miß Fellowes, das garantiere ich Ihnen. Vertrauen Sie mir, Miß Fellowes.« Jetzt ging das wieder los. Vertrauen Sie mir. Offenbar einer seiner Lieblingssätze. Wahrscheinlich verwendete er ihn andauernd, ganz gleich, mit wem er es zu tun hatte. Dabei waren gerade solche Appelle alles andere als vertrauenerwekkend. Sie selbst wurde immer mißtrauischer, je öfter er ihr auf diese Tour kam. »Wenn jedermann auf diese Galerie treten und hier herunterschauen kann, ist mir nicht klar, wie…« »Zu dieser Galerie hat nur ein begrenzter, sehr streng begrenzter Personenkreis Zutritt«, erklärte Hoskins. »Die einzigen, die sich dort oben aufhalten dürfen, sind bestimmte Techniker, die für die Wartung des Energiekerns zuständig sind, aber wenn sie kommen, wird man Ihnen rechtzeitig Bescheid geben. Die Sensoren, von denen ich gesprochen habe, überwachen die Räume ausschließlich elektronisch, und die Ergebnisse bekommt nur ein Computer zu sehen. Niemand wird Sie bespitzeln. – Sie bleiben heute nacht bei ihm, Miß Fellowes, das ist hoffentlich klar? Und bis auf weiteres auch in allen folgenden Nächten.« »Schön.« »Untertags werden Sie abgelöst, nach einem Zeitplan, den
Sie selbst bestimmen können. Darüber sprechen wir morgen. Mortenson, Elliott und Ms. Stratford arbeiten in Schichten, so daß jederzeit jemand für Sie einspringen kann, falls Sie den Jungen alleinlassen müssen. Er muß ununterbrochen unter Aufsicht stehen. Das wichtigste ist, daß er die Stasis nie verläßt, und daß Sie immer genau wissen, wo er sich gerade aufhält.« Miß Fellowes sah sich ein wenig ratlos nach allen Seiten um. »Wozu denn all diese Umstände, Dr. Hoskins? Ist der Junge denn so gefährlich?« »Es ist eine Frage der Energie, Miß Fellowes. Hier finden die Gesetze der Thermodynamik Anwendung. Ich könnte sie Ihnen gerne erläutern, aber ich glaube, Sie haben im Moment Wichtigeres zu tun. Das einzige, was Sie sich merken müssen, ist folgendes: er darf diese Räume nie verlassen. Niemals. Nicht für eine Sekunde. Aus keinem wie immer gearteten Grund. Nicht einmal, wenn sein Leben in Gefahr ist. Nicht einmal, wenn Ihr Leben in Gefahr ist, Miß Fellowes. – Ist das klar?« Miß Fellowes reckte theatralisch das Kinn hoch. »Von den Gesetzen der Thermodynamik habe ich zwar keine Ahnung, aber Ihre Anweisungen habe ich verstanden, Dr. Hoskins. Der Junge bleibt in diesen Räumen, solange es gute und hinreichende Gründe dafür gibt, und das scheint der Fall zu sein. Auch unter Lebensgefahr, so melodramatisch das klingt, bin ich bereit, mich daran zu halten. – Als Krankenschwester ist man daran gewöhnt, sogar den Selbsterhaltungstrieb seinen Pflichten unterzuordnen.« »Gut. Benützen Sie einfach die Gegensprechanlage, wenn Sie irgend etwas brauchen. Gute Nacht, Miß Fellowes.« Damit gingen die beiden Männer. Die anderen Besucher hatten das Puppenhaus verlassen. Die Luke schwang zu, und
Miß Fellowes glaubte, die elektronische Verriegelung einschnappen zu hören. Nun war sie also eingeschlossen. Mit einem vollkommen unzivilisierten Kind aus dem Jahre 40.000 v. Chr. Sie wandte sich wieder dem Jungen zu. Er beobachtete sie mißtrauisch. Die Untertasse war noch nicht leer. Miß Fellowes suchte ihm mit Gesten begreiflich zu machen, daß er das Tellerchen anheben und an die Lippen führen sollte. Die Pantomime hatte keinen Erfolg. Er sah ihr zwar zu, machte aber keine Anstalten, sie zu imitieren. Also griff sie wieder zur direkten Methode, hob die Untertasse an ihren eigenen Mund und tat so, als wolle sie die Milch auflecken. »Jetzt du«, sagte sie. »Versuch’s mal.« Er sah sie immer noch unverwandt an. Aber jetzt zitterte er. »Es ist gar nicht schwer«, versicherte sie ihm. »Komm, ich zeige dir, wie es geht. Gib mir deine Hände.« Behutsam – ganz behutsam – umfaßte sie seine Handgelenke. Der kleine Kerl warnte sie mit einem leisen Knurren, dann riß er sich mit einem erstaunlich kräftigen Ruck los. Sein frischgewaschenes Gesicht brannte vor Angst und Wut. Das blitzförmige Muttermal hob sich unübersehbar von seiner Wange ab. Es war noch nicht lange her, daß ihn Dr. Hoskins an den Handgelenken gepackt, ihm die Arme vor dem Körper gekreuzt und ihn einfach hochgehoben hatte. Sicher hatte er die großen Männerhände, die so grob zupacken konnten, noch nicht vergessen. »Nein«, sagte Miß Fellowes mit ihrer sanftesten Stimme. »Ich will dir doch nicht wehtun. Ich will dir nur zeigen, wie du deinen Milchteller halten sollst.«
Angstvoll ruhten die großen Augen auf ihr, verfolgten jede ihrer Bewegungen. Als sie abermals nach seinen Händen greifen wollte, schüttelte er den Kopf und zog sie weg. »Schön«, sagte sie. »Ich halte dir die Untertasse. Du brauchst nur die Milch aufzulecken. Aber du wirst nicht mehr auf dem Boden kauern wie ein kleines Tier.« Sie goß noch ein wenig Milch in den Teller und hob ihn an, bis er auf gleicher Höhe mit seinem Mund war. Dann wartete sie. Und wartete. Er tat mit den schon bekannten Gurgellauten und Zungenschnalzern kund, daß er noch Hunger hatte. Aber er bewegte sich keinen Zentimeter auf den Teller zu. Sondern sah mit großen Augen zu ihr auf. Und dann gab er einen Laut von sich, den sie noch nicht gehört hatte. Was das wohl heißen sollte? Vielleicht: Stell endlich den Teller hin, du blödes, altes Weib, damit ich an meine Milch komme! »Nun mach schon, Kleiner. Trink jetzt, ohne dich auf den Boden zu hocken, wie es sich für ein artiges, kleines Menschenkind gehört.« Er starrte sie an. Wieder ein Schnalzen. Diesmal klang es traurig. »So mußt du es machen«, sagte Miß Fellowes. Sie beugte sich so weit nach vorne, bis sie mit den Lippen den Tellerrand berührte – es war schwierig; sie hatte schließlich keine schnauzenförmig vorspringende Mundpartie – und leckte von ihrer Seite ein wenig Milch, ohne die Untertasse anzuheben. Er beobachtete sie ernst aus nächster Nähe. Was für riesige Augen er hat, dachte sie. »Siehst du, so…«
Sie schlürfte noch einmal. Er kam näher. Die Hände ließ er seitlich herabhängen, so daß sie den Teller weiterhin halten mußte; aber seine Zunge wagte sich erst zaghaft, dann zunehmend mutiger zwischen den Lippen hervor. Jetzt trank er immerhin im Stehen. Miß Fellowes tat so, als wolle sie den Teller auf den Boden stellen. Er knurrte verärgert und hob die Hände, um ihn festzuhalten. Sie ließ rasch los. Nun hielt der Junge die Untertasse ganz allein. Und schlabberte gierig die Milch auf. (Gut gemacht, Kind. Großartig!) Sobald die Untertasse leer war, ließ sie der Kleine achtlos zu Boden fallen. Als sie klirrend in ein Dutzend Teile zersprang, schaute er zu ihr auf. Sie glaubte Bestürzung, Ärger, vielleicht sogar Angst in seinem Gesicht zu erkennen. Ein klägliches Wimmern löste sich von seinen Lippen. Miß Fellowes lächelte. »Das war nur ein Teller, mein Junge. Teller sind nicht wichtig. Davon gibt es viele. Und Milch haben wir auch noch genug.« Sie schob die Scherben mit dem Fuß beiseite – sie hatten scharfe Kanten und mußten gleich aufgesammelt werden, aber das konnte noch einen Moment warten – zog aus einem Fach am Fuß des Küchenwagens einen zweiten, gleich aussehenden Teller hervor und zeigte ihn dem Jungen. Das Wimmern verstummte. Jetzt lächelte er. Es war ganz eindeutig ein Lächeln, das erste seit seiner Ankunft. Ein erstaunlich breites – der Mund war wirklich riesig, er zog sich doch tatsächlich von einem Ohr bis zum anderen! – und so strahlendes Lächeln, als bräche die Sonne durch dunkle Wolken.
Miß Fellowes lächelte zurück. Dann streckte sie zaghaft die Hand aus, um ihm über das Haar zu streichen. Sie bewegte sich bewußt langsam, damit er ihr ständig mit den Augen folgen und sich vergewissern konnte, daß ihm nichts Böses drohte. Er zitterte. Aber er blieb, wo er war, und sah sie nur an. Eine kurze Berührung gestattete er ihr, dann zog er den Kopf weg, scheute zurück, dachte sie, wie ein verängstigtes kleines… … Tier. Miß Fellowes stieg die Schamröte ins Gesicht. (Schluß damit! Ein für allemal! So etwas darfst du nicht einmal denken! Er ist kein Tier, ganz gleich, wie er aussieht, sondern ein Junge, ein kleiner Junge, ein verängstigter kleiner Junge, ein verängstigter kleiner Mensch.) Aber sein Haar – es hatte sich so rauh angefühlt, als er ihr gestattet hatte, es zu berühren! Wie ein dichtes, verfilztes, rauhes Fell! Fremdartig, wirklich unglaublich fremdartig.
14 »Ich muß dir wohl auch zeigen, wie man auf die Toilette geht. Glaubst du, daß du das lernen kannst?« Sie sprach sehr ruhig und freundlich mit ihm. Natürlich würde er ihre Worte nicht verstehen, sie konnte nur hoffen, daß er auf den Tonfall reagierte.
Wieder ließ der Junge eine Serie von Schnalzern vom Stapel. Wollte er noch mehr Milch? Oder sagte er diesmal etwas anderes? Hoffentlich wurde jede seiner Äußerungen aufgezeichnet, dachte Miß Fellowes. An sich war damit zu rechnen, aber sie nahm sich trotzdem vor, Hoskins am nächsten Tag darauf anzusprechen. Sie wollte die Sprache des Kindes studieren und möglichst auch erlernen. Immer vorausgesetzt, es handelte sich um eine Sprache und nicht nur um irgendwelche Tierlaute. Gewiß, sie wollte auch versuchen, ihm Englisch beizubringen, aber falls das nicht klappte, würde sie sich wenigstens bemühen, sich auf seine Weise mit ihm zu verständigen. Die Sprache der Neandertaler erlernen zu wollen, war sicher kein alltäglicher Plan. Aber sie hatte schon öfter zu ungewöhnlichen Mitteln gegriffen, um an ein schwieriges Kind heranzukommen. »Darf ich deine Hand nehmen?« fragte sie. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, und der Junge sah sie an, als ob er noch nie eine Hand gesehen hätte. Sie wartete. Er runzelte die Stirn. Und nach einer Weile hob sich seine kleine Hand und näherte sich zitternd der ihren. »So ist es gut«, sagte sie. »Greif nur zu.« Die Kinderhand kam bis auf zwei Zentimeter heran, dann verließ den Jungen der Mut und er zuckte zurück, als sprühten Miß Fellowes’ Fingerspitzen Feuer. »Macht nichts«, sagte sie ruhig. »Wir versuchen es später noch einmal. Möchtest du dich hier hinsetzen?« Sie klopfte auf das Bett. Keine Reaktion. Sie tat so, als wolle sie sich setzen. Nichts. Ein ratloser Blick.
Sie setzte sich tatsächlich – was bei dem niedrigen Bett nicht ganz einfach war – und klopfte einladend neben sich auf die Matratze. »Komm«, sagte sie und lächelte ihm so herzlich und aufmunternd zu, wie sie nur konnte. »Nun setz dich doch neben mich!« Schweigen. Wieder dieser stumme Blick. Dann ein Trommelfeuer von Schnalzern, unterbrochen von tierischem Knurren: neue Laute, diesmal war sie ganz sicher. Er verfügte offenbar über einen ziemlich umfangreichen Wortschatz an Schnalz-, Knurr- und Gurgellauten. Es mußte eine Sprache sein. Das war schon die erste wissenschaftliche Sensation: Dr. Hoskins zufolge wußte bisher niemand, ob die Neandertaler überhaupt eine Sprache gehabt hatten, und sie hatte schon am ersten Tag den Beweis dafür erbracht. (Nein, ein Beweis war das nicht. Miß Fellowes rief sich streng zur Ordnung. Nur eine Hypothese. Die allerdings war sehr plausibel.) »Du willst dich nicht setzen? Nein?« Schnalzen. Sie hörte genau zu, dann versuchte sie, die Laute zu imitieren. Aber ihre Zunge war zu schwerfällig, sie konnte mit seiner Geschwindigkeit nicht mithalten. Er sah sie an – Staunend? Belustigt? Seine Miene war schwer zu deuten. Aber daß sie ihn anschnalzte, schien ihn zu faszinieren. Wer weiß, vielleicht sagte sie in seiner Sprache etwas ganz Schreckliches, an sich Unaussprechliches. Wahrscheinlicher war freilich, daß sie nur unverständliches Kauderwelsch produzierte. Vielleicht hielt er sie für nicht ganz richtig im Kopf. Er schnalzte und brummte leise und nachdenklich vor sich hin. Wieder schnalzte sie zurück. Ahmte sein Brummen nach.
Das war einfacher als die Schnalzlaute. Er starrte sie an, ernst, grüblerisch, ganz wie ein Kind, das zum ersten Mal im Leben einen geisteskranken Erwachsenen zu Gesicht bekommt. Ich mache mich lächerlich, dachte Miß Fellowes. Ich muß mich ans Englische halten. Wenn ich ihn wie eine Schwachsinnige anlalle und mir einbilde, das sei seine Sprache, wird er nie etwas lernen. »Sitz«, sagte sie wie zu einem kleinen Hund. »Sitz! – Nein? Nun, dann eben nicht. Mußt du auf die Toilette? Gib mir die Hand, dann zeige ich dir, wie man die Toilette benützt. – Auch nicht? Aber einfach auf den Fußboden, das kommt nicht in Frage. Wir sind nicht mehr im Jahr 40.000 v. Chr. und selbst wenn man dir beigebracht haben sollte, deine Hinterlassenschaften zu vergraben, mein Junge, ist das hier ebenso fehl am Platz. Schon gar nicht bei einem Dielenboden. Jetzt gib mir die Hand, und dann gehen wir, ja? – Nein? Ein bißchen später vielleicht?« Miß Fellowes merkte selbst, daß sie nur noch sinnloses Zeug daherfaselte. Das lag wohl in erster Linie daran, daß sie vollkommen erschöpft war. Es war inzwischen ziemlich spät, und sie hatte den ganzen Abend unter einem gewaltigen Druck gestanden. Es hatte etwas von einem Alptraum, in diesem Puppenzimmer zu sitzen und einem kleinen Affenkind mit fliehender Stirn und riesigen Glotzaugen zu erklären, wie man Milch aus einer Untertasse trank, wie man die Toilette benützte, wie man sich auf ein Kinderbett setzte. Nein, ermahnte sie sich abermals. Er ist kein Affenkind. Du darfst ihn nie wieder so nennen, nicht einmal in Gedanken! »Gibst du mir die Hand?« fragte sie noch einmal. Diesmal hätte er es fast getan.
Die Stunden krochen dahin, und sie hatte noch kaum Fortschritte gemacht. Weder mit der Toilette, noch mit dem Bett würde sie heute noch sehr viel weiterkommen, soviel war klar. Und jetzt ließ auch der Kleine Anzeichen von Müdigkeit erkennen. Er gähnte. Seine Augen wurden glasig; sein Mund öffnete sich. Plötzlich legte er sich auf den blanken Fußboden, rollte sich zusammen und wälzte sich flink unter das Bett. Miß Fellowes kniete nieder und schaute zu ihm hinein. Seine Augen glänzten im Dunkeln, und dann feuerte er eine regelrechte Salve von Schnalzlauten auf sie ab. »Schön«, sagte sie. »Wenn du dich da unten sicherer fühlst, soll es mir recht sein.« Sie wartete ein wenig, bis seine Atemzüge langsamer und regelmäßiger wurden. Er mußte todmüde sein! Vierzigtausend Jahre von zu Hause entfernt, an einem fremden, verwirrenden Ort, umgeben von grellen Lichtern, harten Fußböden und unbekannten Leuten, die ganz anders aussahen, als er es gewöhnt war – und trotzdem brachte er es fertig, sich einfach zusammenzurollen und einzuschlafen. Miß Fellowes beneidete ihn. Kinder waren unglaublich flexibel, irgendwie wurden sie selbst mit den schrecklichsten Katastrophen fertig. Sie löschte das Licht und schloß die Tür zum Kinderzimmer. Dann legte sie sich auf das Feldbett, das man im größten Raum für sie bereitgestellt hatte. Sie hob den Blick. Da oben war alles dunkel. Ob wohl jemand auf der Galerie lauerte und sie beobachtete? Sehen oder hören konnte sie nichts. Miß Fellowes wußte, daß ihre Befürchtungen albern waren. So spät war da oben sicher niemand mehr. Sie wurde höchstens von einem Haufen elektronischer Sensoren beobachtet. Aber trotzdem – wenn man so gar keine Privatsphäre hatte…
Wahrscheinlich wurde alles gefilmt, was in der Stasissektion vorging. Eine lückenlose, visuelle Dokumentation. Sie hätte diese Stelle nicht annehmen dürfen, ohne sich von Hoskins vorher die Räumlichkeiten zeigen zu lassen, in denen sie würde leben müssen. Vertrauen Sie mir, hatte er gesagt. Natürlich. Unbedingt. Nun, für diese eine Nacht würde es gehen. Aber morgen würde sie darauf bestehen, daß zumindest über ihrem Wohnbereich eine Zimmerdecke eingezogen wurde. Und außerdem, dachte sie, müssen mir diese dummen Männer einen Spiegel in dieses Zimmer stellen und eine größere Kommode. Und wenn ich hier übernachten soll, brauche ich auch einen eigenen Waschraum.
15 Sie konnte nicht einschlafen. Obwohl sie todmüde war, lag sie – so hellwach, wie man es nur im Zustand äußerster Erschöpfung sein kann – mit offenen Augen im Dunkeln und lauerte auf ein Geräusch aus dem Nebenraum. Er konnte doch nicht heraus? Oder etwa doch? Die Wände waren auf jeden Fall zu hoch. Aber wenn das Kind nun kletterte wie ein Affe? An einer senkrechten Wand empor, die keinerlei Halt für Hände und Füße bot? Und außerdem fängst du schon wieder an, einen Affen in ihm zu sehen!
Nein, die Wand konnte er nicht übersteigen, das war unmöglich. Und außerdem entging Hoskins’ nimmermüden Sensoren auf der Galerie sicher keine Bewegung. Wenn der Junge mitten in der Nacht versuchen sollte, von einem Raum in den anderen zu klettern, würden sie sicher Alarm schlagen. Auf jeden Fall. (Es gibt so vieles, worum ich mich nicht gekümmert habe, dachte Miß Fellowes.) Und plötzlich ertappte sie sich bei der Frage: Könnte es sein, daß er gefährlich ist? Eine physische Bedrohung? Sie erinnerte sich an den Kampf in der Badewanne. Er war kaum zu halten gewesen. Hoskins und Elliott hatten ihre liebe Not mit ihm gehabt. Für ein so kleines Kind war er wirklich unglaublich stark! Und wie er Elliott gekratzt hatte! Wenn er nun hier hereinkam und… Nein, sagte sich Miß Fellowes. Er wird mir nichts tun. Sensoren hin oder her, Hoskins hätte sie ganz sicher nicht allein gelassen, wenn er irgendein Risiko gesehen hätte… Sie versuchte, die Ängste zu vertreiben, indem sie darüber lachte. Das Kind war drei, höchstens vier Jahre alt! Allerdings hatte sie noch keine Gelegenheit gefunden, ihm Finger- und Zehennägel zu schneiden. Wenn er nun mit Zähnen und Klauen über sie herfiel, während sie schlief… Ihre Atemzüge wurden schneller. Es war lächerlich, absolut lächerlich, und doch… Sie wußte, daß sie sich unentwegt im Kreis drehte, aber sie fand nicht zu einer Einstellung, die sich über längere Zeit aufrechterhalten ließ. War er nun ein boshaftes, gefährliches Äffchen oder ein armes, verängstigtes Kind, das man von seinen Lieben getrennt hatte? Entweder das eine, oder das andere. Aber warum nicht etwas von beidem? Auch ein ver-
ängstigtes Kind kann einen verletzen, wenn es nur heftig genug zuschlägt. Sie hatte im Krankenhaus einige sehr unerfreuliche Szenen erlebt. Immer wieder einmal war ein Kind in seiner Verzweiflung wie rasend auf einen Betreuer losgegangen und hatte ihm ernsthaften Schaden zugefügt. Miß Fellowes wagte nicht, die Augen zu schließen, aus Angst, doch einzuschlafen. Lange lag sie so da, starrte nach oben und lauschte gespannt. Und dann hörte sie tatsächlich etwas. Der Junge weinte. Kein wütendes Kreischen, kein Angstgeheul. Er schluchzte nur leise vor sich hin, ein Häufchen Elend, von aller Welt verlassen. Das machte Miß Fellowes’ Zweifeln schlagartig ein Ende. Zum ersten Mal war sie betroffen. Armes Kerlchen! dachte sie. Du armes, verschüchtertes Kind! Natürlich war er ein Kind. Wen interessierte seine Kopfform oder die Beschaffenheit seines Haars? Er war eine Waise in einem so absoluten Sinn wie noch nie ein Kind vor ihm. Hoskins hatte es bei ihrem ersten Gespräch ganz richtig formuliert: ›Es wird das einsamste Kind aller Zeiten sein.‹ Der Junge hatte nicht nur Vater und Mutter verloren, sondern zugleich sämtliche Angehörigen seiner Rasse. Man hatte ihn unbarmherzig aus seiner Zeit gerissen, und nun war er das einzige Wesen seiner Art auf der ganzen Welt. Das einzige. Und das letzte. Ihr Mitleid vertiefte sich, zugleich schämte sie sich ihrer eigenen Hartherzigkeit: wie kam sie dazu, sich anmerken zu lassen, daß sie das Kind verabscheute, daß sie von seinen primitiven Verhaltensweisen abgestoßen war? Wie konnte sie nur so grausam sein? Sie war doch Krankenschwester! War es
nicht schlimm genug, kurzerhand entführt zu werden? Mußte einem auch noch ausgerechnet von dem Menschen, der einen betreuen und einem helfen sollte, den Weg durch dieses verwirrende, neue Leben zu finden, Verachtung entgegenschlagen? Miß Fellowes zog sich das Nachthemd möglichst weit über die Knie – Die Sensoren, sie kam einfach nicht los von diesen idiotischen Sensoren! –, stieg aus dem Bett und schlich auf Zehenspitzen ins Kinderzimmer. »Kleiner«, flüsterte sie. »Mein Kleiner.« Sie kniete nieder und tastete unter dem Bett herum. Doch dann kam ihr – sie hatte nun einmal ihre Erfahrungen mit verhaltensgestörten Kindern – der peinliche Gedanke, er könnte womöglich zubeißen, und sie zog die Hand wieder zurück. Statt dessen schaltete sie das Nachtlicht ein und zog das Bett ein Stück weit von der Wand weg. Der kleine Kerl kauerte, die Knie bis zum Kinn hochgezogen, unglücklich in der Ecke und schaute mit tränenfeuchten Augen ängstlich zu ihr auf. Das schwache Licht half ihr, über seine Häßlichkeit, die groben Züge, den großen, unförmigen Kopf hinwegzusehen. »Armer Junge«, murmelte sie. »Du hast sicher schreckliche Angst.« Sie strich ihm über das Haar. Noch vor wenigen Stunden hatte sie diese rauhen, struppigen Borsten als abstoßend empfunden. Jetzt kamen sie ihr lediglich ungewöhnlich vor. Als er ihre Hand spürte, schrak er zusammen, doch gleich darauf überließ er sich ihr. »Armes Kind«, sagte sie. »Komm, laß dich in den Arm nehmen.« Ein leises Schnalzen, und dann, wie fernes Donnergrollen,
ein trauriges Knurren. Sie setzte sich neben ihn auf den Boden und strich ihm weiter mit langsamen, rhythmischen Bewegungen über den Kopf. Allmählich lösten sich auch die letzten Spannungen in seinem Körper. Vielleicht war das Leben damals in der Urzeit so hart gewesen, daß ihn nie jemand gestreichelt hatte. Jedenfalls schien es ihm zu gefallen. Sie begann leise mit seinem Haar zu spielen, einzelne Strähnen zu glätten und zu entwirren. Aber meistens fuhr sie ihm nur langsam, hypnotisierend langsam, mit der Hand über die Schädeldecke. Dann dehnte sie das Streicheln auf seine Wange, seinen Arm aus. Er ließ sie gewähren. Schließlich stimmte sie ein Lied an, ein Lied ohne Worte, eine sanfte, sich ständig wiederholende Weise, die sie schon oft gesungen hatte, um verstörte Kinder zu beruhigen. Er hob den Kopf, kniff die Augen zusammen und beobachtete erstaunt ihre Lippen. Nun zog sie ihn an sich und schloß ihn in die Arme. Er sträubte sich nicht mehr. Langsam legte sie ihm die Hand an die Schläfe und drückte seinen Kopf an ihre Schulter. Dann schob sie den Arm unter seine Oberschenkel und hob ihn ohne Hast auf ihren Schoß. Ohne mit dem Singen aufzuhören, wiegte sie ihn im Takt der sanften Melodie hin und her, hin und her. Irgendwann verstummte sein Weinen. Und nach einer Weile verrieten ihr leise Schnarchtöne, daß er eingeschlafen war. Unendlich behutsam schob sie das Bett mit dem Knie an die Wand zurück und legte ihn darauf. Dann zog sie die Decke über ihn. – Ob er überhaupt wußte, was eine Decke war? Ein Bett kannte er ganz sicher nicht – und steckte sie seitlich fest.
Dabei ließ sie ihn nicht aus den Augen. Im Schlaf wirkte sein Gesichtchen unglaublich friedlich. Auf einmal war es nicht mehr so wichtig, daß er häßlich war. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür. Doch dann hielt sie inne und überlegte: Wenn er nun aufwachte? Vielleicht wäre es ein neuer Schock, wenn er erwartete, sie neben sich zu finden, und nicht wußte, wo sie hingegangen war. Am Ende geriet er noch in Panik und lief Amok. Miß Fellowes zögerte, trat abermals an das Bett und betrachtete das schlafende Kind. Es war ein harter Kampf, doch dann seufzte sie. Es gab nur eine Möglichkeit. Sie legte sich neben ihn auf das Bett. Für sie war es natürlich viel zu klein. Sie mußte die Knie bis zur Brust hochziehen und sich mit dem linken Ellbogen an der Wand abstützen, um den Jungen nicht zu wecken – und das war alles andere als bequem. So lag sie denn, wiederum hellwach, mit schmerzenden Gliedern da und kam sie vor wie Alice im Wunderland, nachdem sie von der Flasche mit der Aufschrift ›Trink mich‹ gekostet hatte. Nun gut: dann würde sie eben eine schlaflose Nacht verbringen. Die erste Nacht war immer die schlimmste. Von jetzt an würde es aufwärts gehen. Schlaf war schließlich nicht immer das Wichtigste im Leben. Etwas berührte ihre Hand. Die Finger des Kleinen. Er suchte im Schlaf nach ihr. Die rauhe, kleine Hand drängte sich in die ihre. Miß Fellowes lächelte.
16 Sie schreckte jäh aus dem Schlaf und wußte im ersten Moment weder, wo sie war, noch warum sie sich wie gerädert fühlte. Gleich darauf stellte sie mit Befremden fest, daß ihr ein unbekannter Geruch in der Nase hing und ein Körper sich an sie schmiegte. Sie nahm sich mit aller Kraft zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Ein halbersticktes Gurgeln konnte sie dennoch nicht unterdrücken. Der Junge hatte sich aufgerichtet und sah sie mit großen Augen an. Der häßliche kleine Junge, das Kind aus der Vergangenheit, der kleine Neandertaler. Miß Fellowes brauchte eine Weile, um sich zu erinnern, wie sie in sein Bett gekommen war. Doch dann war alles wieder da. Irgendwann mußte sie schließlich doch eingeschlafen sein. Und jetzt war es heller Morgen. Langsam und ohne ihn aus den Augen zu lassen, streckte sie ein Bein aus dem Bett und setzte es auf den Boden. Dann ließ sie, ständig auf dem Sprung, um sich in Sicherheit zu bringen, falls der Junge in Panik geriet, das zweite folgen. Ein schneller, besorgter Blick zur offenen Zimmerdecke. Sah ihr von da oben jemand zu? Surrten die Kameras, während sie unausgeschlafen in den neuen Tag hineinstolperte? Der Kleine berührte mit seinen kurzen Fingerchen ihre Lippen und ließ zwei rasche Schnalzer und ein Knurren hören. Miß Fellowes zuckte unwillkürlich zurück und hätte sich dafür am liebsten selbst geohrfeigt. Dennoch überlief es sie bei seinem Anblick eiskalt. Bei Tageslicht war seine Häßlichkeit kaum zu ertragen.
Wieder sagte er etwas. Dann öffnete er seinen Mund und deutete mit dem Finger darauf. Die Geste war nicht schwer zu verstehen. Miß Fellowes fragte zaghaft: »Soll ich dir wieder etwas vorsingen? Ist es das, was du möchtest?« Der Junge schwieg, wandte aber die Augen nicht von ihren Lippen. Miß Fellowes stimmte das Liedchen vom vergangenen Abend an. Ihre Stimme zitterte vor Aufregung, und sie traf auch nicht ganz den richtigen Ton, aber der häßliche, kleine Junge hatte die Melodie offenbar wiedererkannt und lächelte. Bald wiegte er sich schwerfällig hin und her und schwenkte mehr oder weniger im Takt die Arme. Dazu gluckste er leise. Es klang fast wie ein Lachen. Miß Fellowes atmete innerlich auf. Angeblich ließen sich sogar wilde Tiere mit Musik besänftigen. Nun, ihr war jedes Mittel recht… »Du wartest hier«, sagte sie. »Ich muß mich nur rasch frischmachen. Es dauert nicht lang. Dann bekommst du dein Frühstück.« Während sie sich das Gesicht wusch und das Haar bürstete, gingen ihr die fehlende Zimmerdecke und die unsichtbaren, elektronischen – und womöglich nicht nur elektronischen – Augen darüber keinen Augenblick aus dem Sinn. Der Junge blieb im Bett und wandte ihr das Gesicht zu. Er wirkte ganz ruhig. Die Tobsuchtsanfälle der ersten Stunden nach seiner Ankunft im einundzwanzigsten Jahrhundert gehörten der Vergangenheit an. Miß Fellowes winkte ihm jedesmal, wenn sie in seine Richtung schaute. Irgendwann winkte er ein wenig unbeholfen zurück. Eine unerwartet reizende Geste, die Miß Fellowes einen Freudenschauer über
den Rücken jagte. Als sie fertig war, sagte sie: »Ich denke, du könntest heute etwas Kräftigeres vertragen. Wie wär’s mit einer Schüssel Hafergrütze zu deiner Milch?« Er lächelte, fast als ob er sie verstanden hätte. Fast. In der Mikrowelle war der Frühstücksbrei rasch fertig. Miß Fellowes winkte den Jungen zu sich. Sie wußte nicht, ob er darauf reagierte oder nur dem Duft folgte, jedenfalls stieg er aus dem Bett und kam zu ihr herübergestapft. Seine Beine waren im Verhältnis zu seinem kräftigen Rumpf sehr kurz geraten und wirkten dadurch krummer, als sie tatsächlich waren. Er schaute zu Boden. Offensichtlich erwartete er, daß sie ihm die Schale hinunterstellte, damit er sie auslecken konnte. »Nein«, sagte sie. »Du bist jetzt ein zivilisierter, kleiner Junge oder sollst es zumindest werden. Und zivilisierte kleine Jungen essen nicht vom Fußboden.« Schnalzen. Knurren. »Ich weiß, daß du kein Wort verstehst. Aber das wird schon noch kommen. Ich glaube nicht, daß ich deine Sprache lernen kann, aber ich bin ziemlich sicher, daß ich es schaffen werde, dir die meine beizubringen.« Sie nahm einen Löffel aus der Schublade und hielt ihn in die Höhe. »Löffel.« Ein stumpfer Blick ohne jedes Interesse. »Löffel. Damit ißt man.« Sie tauchte den Löffel in die Hafergrütze und führte ihn an den Mund. Der Junge riß die Augen weit auf, seine riesigen Nasenflügel blähten sich, und dann stieß er einen langgezogenen Klagelaut aus, ein leises Heulen: der Protest eines hungri-
gen Geschöpfs, vermutete Miß Fellowes, das befürchten mußte, daß ihm ein Mitgeschöpf sein Frühstück vor der Nase wegschnappte. Sie tat so, als würde sie den Löffel in den Mund stecken und den Brei hinunterschlucken, dann leckte sie sich genußvoll die Lippen. Er sah ihr mit seinen großen Augen unglücklich zu, ohne auch nur das geringste zu begreifen. »Jetzt bist du an der Reihe«, sagte Miß Fellowes. Sie streifte den Brei am Rand der Schale ab und hob zum Zeichen, daß sie nichts davon gegessen hatte, den leeren Löffel hoch. Dann füllte sie ihn abermals und reichte ihn dem Kleinen. Der fuhr zurück, als habe sie ihn mit einer Waffe bedroht. Seine Augen wurden noch größer. Das goldbraune Gesichtchen verzog sich kläglich, und aus seiner Kehle drang ein Geräusch zwischen Schluchzen und Knurren. »Schau«, sagte sie. »Löffel. Haferbrei. Mund.« Nein. So hungrig er auch war, mit diesem Ding wollte er nichts zu tun haben. Alles zu seiner Zeit, dachte Miß Fellowes und legte den Löffel weg. »Aber du nimmst die Schale selbst in die Hände. Wie man das macht, hast du ja schon gelernt. Von heute an wird nicht mehr vom Fußboden gegessen.« Sie reichte ihm die Schale. Er sah sie kurz an, dann schaute er nach unten. »Nimm sie in die Hände.« Schnalzen. Sie glaubte, ein Muster herauszuhören, aber sicher war sie nicht. Hoskins mußte diese Laute unbedingt auf Band nehmen! Aber vielleicht geschah das ja bereits. »In die Hände«, wiederholte Miß Fellowes in bestimmtem Ton. »So.« Jetzt hatte er verstanden. Er packte die Schale mit beiden
Händen, wobei er prompt die Daumen in den Brei tauchte, und hob sie an den Mund. Sehr geschickt stellte er sich nicht an, es ging eine ganze Menge daneben, aber das meiste landete doch in seinem Magen. Er lernte also recht schnell, wenn er nicht wie gelähmt war vor Angst, dachte Miß Fellowes. Mit der Unsitte, das Essen wie ein Tier vom Boden aufzulecken, war es jetzt wohl ein für allemal vorbei. Während er aß, konnte sie ihn in aller Ruhe betrachten. Ein gesundes, kräftiges Kind mit klaren Augen und gut durchbluteter Haut. Keinerlei Anzeichen für Fieber oder eine Krankheit. Bislang schien er die Strapazen seiner außergewöhnlichen Reise ausgezeichnet verkraftet zu haben. Obwohl Miß Fellowes natürlich keine Ahnung hatte, wie rasch Neandertalerkinder wuchsen, schätzte sie ihn jetzt doch etwas älter, als sie ursprünglich gedacht hatte. Wahrscheinlich war er eher vier als drei Jahre alt. Besonders groß war er zwar nicht, aber seine körperliche Entwicklung war weiter fortgeschritten als bei einem dreijährigen Kind der Gegenwart. Zum Teil mochte das natürlich auf die Lebensbedingungen in der Steinzeit zurückzuführen sein. (Steinzeit? Gewiß. Neandertaler gehörten in die Steinzeit, soviel war sicher. Aber über vieles andere würde sie sich bei nächster Gelegenheit informieren müssen.) Diesmal versuchte sie, ihm die Milch in einem Glas zu geben. Wie man es in die Hand nahm, hatte er schnell begriffen – er brauchte zwar beide Hände, aber das war bei den meisten Kindern seines Alters so, und zumindest erschreckte ihn das Glas nicht so sehr wie zuvor der Löffel. Schwierigkeiten bereitete ihm dagegen, daß er den Kopf nicht in die Öffnung stekken konnte. Er begann frustriert zu wimmern, langgezogene,
schrille Klagelaute, die zunehmend zorniger wurden. Miß Fellowes legte ihre Hände über die seinen, neigte das Glas ein wenig und drückte es ihm an den Mund. Wieder ging einiges daneben, wieder landete das meiste in seinem Magen. Und an verschüttetes Essen war sie gewöhnt. Wie sie zu ihrer großen Erleichterung feststellte, war die Toilettenfrage sehr viel leichter zu lösen. Zwar hielt er die Tollettenschüssel anfangs für eine Art Planschbecken, und sie fürchtete schon, daß er hineinklettern würde. Aber als sie ihn festhielt und ihm das Nachthemd aufknöpfte, begriff er sofort, was sie von ihm erwartete. Sie strich ihm über den Kopf und lobte ihn. »Braver Junge. Kluger Junge.« Als er sie daraufhin anlächelte, war sie überglücklich. Miß Fellowes war zufrieden. Dies war ein Tag voller Entdeckungen. Für ihn wie für sie. Er lernte Löffel, Milchgläser und Toilettenschüsseln kennen. Sie lernte ihn kennen und sah immer deutlicher, daß sich hinter diesem fremdartigen und – entsetzlich – häßlichen Gesicht im Grunde doch ein Mensch verbarg. Sie erwiderte sein Lächeln. Er lächelte zurück. Ein ganz normales Lächeln, das Lächeln eines Kindes, das sich angenommen sieht. Nein, ermahnte sie sich, er war kein normales Kind. Sie durfte sich in dieser Hinsicht keinerlei Illusionen machen, das wäre ein schwerer Fehler. Aber wenn er lächelt, dachte sie, ist er wirklich ganz erträglich.
Viertes Kapitel STUDIEN
17 Ein paar Stunden später. Sie hatte ihn gebadet – wobei es diesmal sehr viel ruhiger zugegangen war als tags zuvor – und ihn von Kopf bis Fuß untersucht. Er hatte, wie bei einem Kind aus primitiven Verhältnissen nicht anders zu erwarten, etliche Kratzer und blaue Flecken, aber es gab keinerlei Hinweise auf eine Krankheit oder eine schwerere Verletzung. Irgendwann war es ihr sogar gelungen, ihn mit ihrem Gesang so friedlich zu stimmen, daß er sich die Fingernägel schneiden ließ. Die Zehennägel würden noch warten müssen. Für weitere Maniküreversuche brachte keiner von beiden mehr die nötige Geduld auf. Miß Fellowes war so mit ihrer Arbeit beschäftigt, daß sie nicht bemerkte, wie die Tür zur Stasissektion geöffnet wurde. Plötzlich sah sie Hoskins, die Arme vor der Brust verschränkt, im Eingang stehen. Vielleicht wartete er schon seit mehreren Minuten. »Darf ich hereinkommen«, fragte er. Miß Fellowes nickte knapp. »Sie sind doch sowieso schon da.« »Ich meine, ins Allerheiligste. – Ich hatte mich über die Gegensprechanlage angemeldet, aber keine Antwort erhalten.« »Ich war beschäftigt. Vielleicht müssen Sie das nächstemal lauter sprechen. Nun kommen Sie schon!«
Der Junge wich zurück, als er Hoskins sah. Sein Blick war mißtrauisch geworden, und er war schon im Begriff, sich in den hinteren Raum zu flüchten. Doch als Miß Fellowes ihm lächelnd winkte, kam er zu ihr, ließ sich auf den Arm nehmen und klammerte sich mit seinen krummen – so erbärmlich dünnen – Beinchen an ihr fest. Hoskins sah sie ehrfürchtig an. »Sie haben große Fortschritte gemacht, Miß Fellowes.« »Eine Schüssel mit warmem Haferbrei kann Wunder wirken.« »Er hängt ja schon richtiggehend an Ihnen.« »Ich verstehe mich eben auf meine Arbeit, Dr. Hoskins. Was ist daran so ungewöhnlich?« Er wurde rot. »Ich wollte damit nicht sagen…« »Nein, natürlich nicht, ich habe Sie schon verstanden. Als Sie gestern weggingen, war er noch ein wildes Tier, und heute…« »Ist er kein Tier mehr.« »Nein«, bestätigte Miß Fellowes. »Er ist kein Tier.« Sie zögerte für einen Moment, dann gestand sie: »Anfangs hatte ich da meine Zweifel.« »Wie könnte ich das vergessen. Sie waren aufs äußerste empört.« »Aber das ist vorbei. Ich habe überzogen reagiert. Auf den ersten Blick hatte ich ihn wohl tatsächlich für ein Affenkind gehalten, und ich war nicht bereit, die Tierpflegerin zu spielen. Aber er gewöhnt sich erstaunlich rasch ein. Er ist kein Affe, Dr. Hoskins. Er ist sogar recht intelligent. Wir kommen sehr gut voran.« »Das freut mich zu hören. Soll das heißen, Sie haben sich entschlossen, die Stelle zu behalten?«
Ihr Blick war hart wie Stahl. »Das stand nie in Frage, Dr. Hoskins.« »Nun ja…« Hoskins zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich nicht. – Wissen Sie, Miß Fellowes, bei uns allen lagen gestern wohl die Nerven blank. Sie können vielleicht ermessen, was dieses Projekt für ungeheure Anstrengungen erforderte, wieviel von seinem Erfolg abhing. Und jetzt ist es ein Erfolg, ein überwältigender Erfolg sogar, und wir sind alle wie vor den Kopf geschlagen. Es ist etwa wie bei einem Mann, der seine ganze Kraft zusammennimmt, um eine verschlossene Tür aufzubekommen. Doch als er sich mit voller Wucht dagegenwirft, gibt die Tür sehr viel leichter nach, als er erwartet hätte. Plötzlich steht er in dem Raum, in den er so dringend hineinwollte, sieht sich verwirrt um und sagt zu sich selbst: ›Schön, da bin ich nun. Und was jetzt?‹« »Eine gute Frage, Dr. Hoskins. Was jetzt? Ich nehme an, Sie werden alle möglichen Spezialisten einladen, sich den Jungen anzusehen? Spezialisten für prähistorische Lebensformen und dergleichen?« »Natürlich.« »Und Sie werden den Jungen wohl auch medizinisch auf Herz und Nieren prüfen lassen?« »Gewiß. – Aber im großen und ganzen ist er doch gesund, meinen Sie nicht?« »Im großen und ganzen ja. Ein robustes Kerlchen. Aber ich bin kein Arzt, und letzte Gewißheit kann erst eine internistische Untersuchung bringen. Gesund zu erscheinen und gesund zu sein sind zweierlei. Womöglich ist er ein wahrer Tummelplatz für Parasiten, Amöben, Protozoen, und wer weiß was noch alles. Davon gehe ich sogar aus. Für ihn sind sie vielleicht harmlos, vielleicht aber auch nicht. Aber selbst
wenn sie sein Wohlbefinden nicht ernsthaft beeinträchtigen, könnten sie uns schaden.« »Daran hatten wir auch schon gedacht. Dr. Jacobs kommt gegen Mittag, um eine Reihe von ersten Untersuchungen durchzuführen. Dr. Jacobs ist der Arzt, mit dem Sie für die gesamte Dauer des Projekts zusammenarbeiten werden. Wenn der Junge danach nicht allzu sehr verstört ist, würde Dr. McIntyre vom Smithsonian gern eine anthropologische Untersuchung durchführen. – Und die Medien sind natürlich auch noch da.« Darauf war sie nicht gefaßt. »Die Medien? Welche Medien? Wer? Wann?« »Nun ja – sie wollen den Jungen natürlich möglichst bald sehen, Miß Fellowes. Candide Deveney hat bereits eine erste Meldung herausgegeben. Bis heute abend werden uns alle Zeitungen und alle Fernsehstationen der Welt die Tür einrennen.« Miß Fellowes sah auf den Jungen hinab und legte ihm schützend den Arm um die Schulter. Er zuckte ein ganz klein wenig zusammen, versuchte aber nicht, sich der Berührung zu entziehen. »Sie wollen dieses Häuschen mit Journalisten und Kameras vollpacken? An seinem ersten Tag hier?« »Nun ja, wir hatten nicht bedacht…« »Nein«, unterbrach sie ihn. »Sie hatten gar nichts bedacht. Das sehe ich. Hören Sie, Dr. Hoskins, es ist Ihr kleiner Neandertaler, und Sie können mit ihm machen, was Sie wollen. Aber mir kommt hier kein Medienvertreter herein, bevor der Junge nicht wenigstens medizinisch untersucht und offiziell für gesund erklärt wurde. Noch lieber wäre es mir, wenn er etwas mehr Zeit hätte, sich hier einzugewöhnen. Sie
haben mich doch verstanden, nicht wahr?« »Miß Fellowes, es dürfte auch Ihnen klar sein, daß Öffentlichkeitsarbeit heutzutage…« »Ich weiß. Heutzutage geht ohne Öffentlichkeitsarbeit überhaupt nichts mehr. Was meinen Sie, was Sie erst für Schlagzeilen bekommen, wenn dieses Kind vor den Kameras an einem Panikanfall stirbt!« »Miß Fellowes!« »Oder wenn ihm einer Ihrer hochgeschätzten Reporter eine Erkältung anhängt. Als ich Sie damals um einen sterilen Raum bat, habe ich versucht, Ihnen begreiflich zu machen, daß er gegen die Krankheitserreger von heute vermutlich keinerlei Abwehrkräfte hat. Null. Keine Antikörper, keine angeborene Immunität, nichts!« »Miß Fellowes, ich bitte Sie.« »Und wenn er die ganze Meute mit einer netten, kleinen Steinzeitseuche infiziert, gegen die wir nicht resistent sind?« »Schön, Miß Fellowes. Sie haben Ihren Standpunkt deutlich gemacht.« »Ich möchte lieber ganz sichergehen. Was ich sagen will, ist folgendes: die Medien können warten. Zuerst braucht er alle möglichen Schutzimpfungen. Schlimm genug, daß er gestern abend bereits mit so vielen Menschen in Berührung gekommen ist. Ich werde jedenfalls nicht zulassen, daß ein ganzes Rudel Reporter hier hereinbricht, nicht heute und auch morgen nicht. Wenn sie wollen, können sie ihn vorläufig von oben fotografieren, von außerhalb der Stasis. Das ist auch bei Neugeborenen so üblich. Und ich bitte mir aus, daß das möglichst leise vonstatten geht. Später können wir über Videoaufzeichnungen reden. – Ach ja, da wir gerade von ›oben‹ sprechen. Es stört mich immer noch, hier so auf dem Präsentierteller zu
sitzen. Ich möchte, daß zumindest mein Zimmer überdacht wird – vorerst genügt mir eine Zeltplane; im Moment will ich hier drin noch keine Arbeiter und keinen Baulärm haben – und ich denke, auch für den Rest des Puppenhauses ließen sich Zimmerdecken durchaus vertreten.« Hoskins lächelte. »Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, Miß Fellowes. Sie sind eine sehr resolute Person.« Das klang bewundernd und ärgerlich zugleich. »Resolut?« fragte sie. »Schon möglich. Jedenfalls, wenn es um meine Kinder geht.«
18 Jacobs war etwa sechzig Jahre alt, ein stämmiger Mann mit derben Gesichtszügen und dichtem, weißem, militärisch kurz geschnittenem Haar. Seine kühle, sachliche Art hätte vielleicht besser zu einem Stabsarzt gepaßt als zu einem Kinderarzt, aber Miß Fellowes wußte aus Erfahrung, daß Kinder gegen eine gewisse Art von Schroffheit nichts einzuwenden hatten, solange sie spürten, daß sie von Güte und Freundlichkeit getragen wurde. Ein Arzt mußte Autorität zeigen, das erwarteten die Kinder von ihm. Zärtlichkeit und Trost suchten sie sich anderswo. Ein Arzt war sozusagen der liebe Gott, der immer Rat wußte und alle Schmerzen heilte. Wie mochte es wohl beim Stamm des kleinen Jungen im Jahre 40.000 v. Chr. mit der ärztlichen Versorgung ausgesehen haben? fragte sich Miß Fellowes. Wahrscheinlich hatte sie in
den Händen von Medizinmännern gelegen, furchterregenden Gestalten mit einem Knochen durch die Nase und roten Kreisen um die Augen, die ihre Diagnosen stellten, indem sie ein Feuer mit blauen, grünen und roten Flammen umtanzten. Wie würde Dr. Jacobs wohl mit einem Nasenknochen aussehen? Oder mit einem Bärenfell anstelle dieses langweiligen, weißen Kittels? Er schüttelte ihr rasch und ohne jede Herablassung die Hand. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Fellowes.« »Hoffentlich nur Gutes.« »Sie haben im Valley General unter Gallagher gearbeitet, nicht wahr? Hoskins hat es erwähnt. Kein schlechter Mann, dieser Gallagher. Ziemlicher Dickschädel, aber wenigstens hat er die richtigen Grundsätze. Wie lange waren Sie auf seiner Station?« »Dreieinhalb Jahre.« »Was halten Sie von ihm?« Miß Fellowes zuckte die Achseln. »Ich mag ihn nicht besonders. Seine Art, mit den jungen Schwestern zu verkehren, fand ich ziemlich unpassend. Aber wir haben gut zusammengearbeitet. Ich habe viel von ihm gelernt.« »Von seinem Fach versteht er was, richtig.« Jacobs schüttelte den Kopf. »Schade, daß er mit seinen Krankenschwestern so umspringt. In mehr als einer Beziehung. – Sie hatten wohl keine derartigen Schwierigkeiten mit ihm?« »Ich? Nein. Nichts dergleichen!« »Nein, bei Ihnen hätte er das bestimmt nicht probiert«, sagte Jacobs. Miß Fellowes wußte nicht so recht, was er damit sagen wollte. Meinte er vielleicht, sie sei vielleicht nicht Gallaghers Typ? Sie war schon seit vielen Jahren nicht mehr der Typ, auf
den die Männer flogen, und das war ihr auch ganz recht so. Sie ging auf die Bemerkung nicht weiter ein. Jacobs schien ihre gesamten Bewerbungsunterlagen im Kopf zu haben. Wie beiläufig ließ er die Namen von Krankenhäusern und Ärzten einfließen und schien auch alle Oberschwestern und Verwaltungsdirektoren zu kennen. Er war offensichtlich viel herumgekommen. Sie hatte über ihn nur gehört, daß er ein großes Tier in der Staatlichen Gesundheitsbehörde war und nebenbei eine gutgehende Privatpraxis betrieb. Beruflich hatten sich ihre Wege nie gekreuzt. Wenn Hoskins ihm ihre Unterlagen gezeigt hatte, wäre es nur recht und billig gewesen, umgekehrt auch sie über den Arzt zu informieren. Doch auch dazu äußerte sie sich nicht. »Und jetzt sollten wir uns Ihren kleinen Neandertaler wohl mal näher ansehen«, sagte Jacobs. »Wo hat er sich denn verkrochen?« Sie zeigte auf das Nebenzimmer. Der Junge hatte sich hinter der Tür versteckt und lugte hin und wieder durch den Spalt. Auch dann sah man nicht mehr von ihm als eine verfilzte Haarsträhne und einen Teil seines Auges. »Schüchtern, was? Ich hatte ganz andere Dinge gehört. Ihre Leute sagen, er tobt herum wie eine Horde Affen.« »Nicht mehr. Seit er den ersten Schock überwunden hat, ist er nur noch ängstlich und verwirrt.« »Was man ihm nicht verdenken kann. Armer Teufel. Aber wir müssen zur Sache kommen. Rufen Sie ihn bitte her. Oder müssen Sie reingehen und ihn holen?« »Mal sehen, ob er sich rufen läßt«, sagte Miß Fellowes. Sie wandte sich der Tür zu. »Komm jetzt heraus, Timmie. Das ist Dr. Jacobs. Er tut dir nicht weh.« Timmie?
Wie in aller Welt kam sie darauf, ihn so anzusprechen? Der Name war erst in diesem Moment aus den Tiefen ihres Unterbewußtseins aufgestiegen. Sie hatte niemals einen Timmie gekannt. Aber der Junge brauchte schließlich einen Namen, und es sah ganz so aus, als hätte er eben einen bekommen. Timothy, kurz Timmie. Nun gut. Ein richtiger Name also, ein Menschenname. Timmie. »Timmie?« wiederholte sie. Es klang nicht schlecht, fand sie, und es war schön, daß er jetzt einen Namen hatte. Nun brauchte sie auch in Gedanken nicht mehr von ›dem Kind‹, ›dem Neandertaler‹ oder ›dem häßlichen, kleinen Jungen‹ zu sprechen. Er hieß Timmie. Er war eine Person. Er hatte einen Namen. Sobald sie sich dem Zimmer näherte, verschwand Timmie wieder hinter der Tür. »Hören Sie!« Jacobs wurde ungeduldig. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Gehen Sie jetzt bitte rein, Fellowes, und bringen Sie ihn her.« Er zog sich einen Mundschutz über – nicht nur zu Timmies, sondern vermutlich auch zu seiner eigenen Sicherheit, dachte Miß Fellowes. Doch die Maske war ein Fehler. In diesem Moment warf Timmie einen Blick durch den Türspalt und stieß einen schrillen Schrei aus, als habe er einen Dämon aus Steinzeitalpträumen gesehen. Als Miß Fellowes ins Zimmer trat, flüchtete er in die hinterste Ecke und preßte sich heftig zitternd, wie ein in die Enge getriebenes Tier an die Wand. »Timmie… Timmie…« Vergeblich. Solange Jacobs in der Nähe war, würde er niemanden an sich heranlassen. Mit Hoskins hatte er sich soweit abgefunden, aber vor Jacobs fürchtete er sich offenbar
zu Tode. Soviel zu der Theorie, Kinder wünschten sich kühle, sachliche Soldatentypen als Ärzte. Für dieses Kind galt das jedenfalls nicht. Sie klingelte nach Mortenson und Elliott. »Wir brauchen ein wenig Unterstützung«, erklärte sie, als ihre Assistenten eintraten. Die beiden kräftigen Männer machten skeptische Gesichter. Unter Elliotts linkem Ärmel zeichnete sich ein dicker Verband ab – das mußte die Stelle sein, wo Timmie ihn tags zuvor gekratzt hatte. »Nun stellen Sie sich nicht so an«, sagte Miß Fellowes. »Er ist doch bloß ein kleiner Junge.« Doch der kleine Junge war so verängstigt, daß er sich wieder wie ein wildes Tier benahm. Als die Pflegerin, von Elliott und Mortenson begleitet, sein Zimmer betrat, um ihn einzufangen, raste er flink wie ein Äffchen von einer Wand zur anderen und war kaum zu erwischen. Endlich stürzte sich Mortenson mit einem Hechtsprung auf ihn, packte ihn um die Taille und hob ihn hoch. Elliott hielt ihm vorsichtshalber die Füße fest, damit er nicht um sich treten konnte. Jetzt trat Miß Fellowes heran und sagte leise: »Schon gut, Timmie – wir werden dir nicht weh tun.« Es hörte sich an wie Dr. Hoskins’ ›Vertrauen Sie mir‹. Der Junge wehrte sich kaum weniger verzweifelt als am Abend zuvor in der Badewanne. Es war eine absurde Idee, aber Miß Fellowes versuchte trotzdem, ihn mit dem Liedchen zu gewinnen, mit dem sie ihn in der Nacht in den Schlaf gesungen hatte. Auch das brachte keinen Erfolg. Dr. Jacobs beugte sich zu ihr. »Wir werden wohl um ein Beruhigungsmittel nicht herumkommen. – Mein Gott, wie
kann ein Wesen nur so häßlich sein!« Miß Fellowes zuckte zusammen und wurde so wütend, als sei Timmie ihr leiblicher Sohn. Wie konnte der Mann es wagen, so daherzureden! Wie konnte er nur! Sie fuhr ihm sofort über den Mund: »Er hat ein klassisches Neandertalergesicht. Nach damaligen Vorstellungen ist er ein sehr hübsches Kind.« Wie kam sie nur darauf? Woher wollte sie wissen, wie ein klassisches Neandertalergesicht aussah und was sich die Neandertaler unter Schönheit vorgestellt hatten? »Ich möchte ihn nur ungern unter Beruhigungsmittel setzen. Aber wenn es nicht anders geht…« »Ich glaube nicht«, sagte der Arzt. »Wie soll ich zu irgendwelchen Resultaten kommen, wenn wir ihn ständig mit brutaler Gewalt festhalten müssen?« Unmöglich, dachte Miß Fellowes. Der Junge würde sicher nicht begeistert sein, wenn man ihm einen Zungenspatel in den Mund schob oder mit einer Lampe in die Augen leuchtete. Er würde nicht dulden, daß man ihm Blut abnahm, und er würde sich auch gegen das Fiebermessen sträuben, selbst wenn man einen ferngesteuerten Thermokoppler verwendete. Sie nickte zögernd. Jacobs holte eine Ultraschall-Beruhigungsampulle aus seiner Tasche und wollte sie aktivieren. »Sie wissen doch gar nicht, welche Dosis Sie einstellen müssen«, sagte Miß Fellowes. Der Arzt sah sie überrascht an. »Die Ampullen sind für ein Körpergewicht von bis zu dreißig Kilogramm bemessen. Damit müßten wir auf jeden Fall innerhalb der Toleranz liegen.« »Sie sind für einen menschlichen Körper von bis zu dreißig Kilogramm bemessen, Doktor. Aber dieses Kind ist Neander-
taler, und niemand weiß, wie ein Neandertalerkreislauf funktioniert.« Sie war über diese Begründung selbst erschrocken. Nun hatte sie schon wieder einen Unterschied zwischen Neandertalern und Menschen gemacht. Offenbar war sie, wenn es um den Jungen ging, nicht imstande, konsequent an ihrem Standpunkt festzuhalten. Er ist ein Mensch, wies sie sich heftig zurecht. Ein Mensch, ein Mensch, ein Mensch! Er heißt Timmie, und er ist ein Mensch. Jacobs maß dieser Frage offenbar keine so entscheidende Bedeutung bei. »Selbst bei einem kleinen Gorilla oder Orang-Utan würde ich die Dosis für angemessen halten, Fellowes. Ob Mensch oder Neandertaler, was hat der Kreislauf damit zu tun? Was zählt, ist allein das Körpergewicht. – Na schön, für diesmal nur die halbe Dosis. Damit Hoskins’ kleinem Schatz auch ganz sicher nichts passiert.« Er ist nicht nur Hoskins’ kleiner Schatz, dachte Miß Fellowes und war selbst überrascht, daß sie so empfand. Jacobs reduzierte die Dosis und hielt Timmie die Ampulle an den Oberarm. Ein leises Zischen, und schon wirkte das Mittel. »Ans Werk«, sagte der Arzt. »Wir brauchen eine Probe Steinzeitblut und etwas prähistorischen Urin. – Haben Sie auch eine Stuhlprobe für mich, Miß Fellowes?« »Er hatte noch keinen Stuhlgang, seit er hier ist, Dr. Jacobs. Die Zeitreise hat den Organismus wohl…« »Nun, wenn es soweit ist, heben Sie mir bitte etwas auf, bevor Sie den Fußboden saubermachen, und sagen Sie mir Bescheid.« »Er geht auf die Toilette!« Miß Fellowes’ Empörung war
nicht zu überhören. Jacobs hob überrascht, vielleicht sogar etwas verärgert den Kopf, doch dann mußte er lachen. »Wie ich sehe, hat er in Ihnen bereits eine leidenschaftliche Fürsprecherin gefunden.« »Das sehen Sie ganz richtig. Ist dagegen etwas einzuwenden?« »Gewiß nicht. – Also schön, wenn der Junge das nächstemal auf die Toilette geht und Stuhlgang hat, möchte ich eine Probe haben. Ich nehme nicht an, daß er auch schon selbständig die Spülung betätigt, oder irre ich mich, Miß Fellowes?« Diesmal lachten auch Elliott und Mortenson mit. Nur Miß Fellowes blieb ernst. Timmie schien zu schlafen – jedenfalls verhielt er sich passiv und ließ alles mit sich geschehen. Jacobs konnte ihm ohne weiteres den Mund öffnen, um sein Gebiß zu studieren. Miß Fellowes, die bisher noch keine Gelegenheit gehabt hatte, sich Timmies Zähne anzusehen, schaute dem Arzt über die Schulter. Sie hatte sich schon auf riesige Affenhauer eingestellt, aber diese Befürchtung, bestätigte sich nicht. Die Zähne waren zwar ziemlich groß, größer als bei einem Kind der Jetztzeit, und schienen ausnehmend kräftig zu sein, aber sie waren gut ausgebildet und sehr regelmäßig, ein prächtiges Gebiß. Und ein eindeutig menschliches Gebiß ohne vorstehende Schneideoder besonders ausgeprägte Eckzähne. Miß Fellowes stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Als nächstes schaute Jacobs dem Jungen in die Ohren und zog ihm die Augenlider zurück. Dann sah er sich Handflächen und Fußsohlen an, klopfte Brust und Unterleib ab, bewegte Arme und Beine und prüfte mit leichtem Fingerdruck die Muskulatur der Unterarme und der Oberschenkel. »Eine richtige kleine Kraftmaschine. Aber davon konnten
Sie sich ja bereits überzeugen. Nicht gerade groß für sein Alter und etwas mager, aber von Unterernährung kann nicht die Rede sein. Sobald wir die Stuhlprobe bekommen, kann ich Ihnen genauer sagen, worin seine Ernährung bestand, aber höchstwahrscheinlich war es eine proteinreiche, stärkearme Kost, wie bei Jägern und Sammlern unter ungünstigen klimatischen Bedingungen nicht anders zu erwarten.« »Ungünstige klimatische Bedingungen?« fragte Miß Fellowes. »Die Eiszeit«, erläuterte Jacobs gönnerhaft. »Die Neandertaler lebten fast ausschließlich in einem Glazial.« Woher willst du das wissen? dachte sie aufsässig. Warst du dabei? Seit wann bist du Anthropologe? Aber sie hielt sich zurück. Dr. Jacobs gab sich alle Mühe, sie auf die Palme zu bringen, aber sie mußte wohl oder übel mit ihm zusammenarbeiten, und da war es ratsam, einen höflichen Umgangston zu wahren. Schon um Timmies willen.
19 Man war noch mitten in der Untersuchung, als Timmie unruhig wurde, und kurze Zeit später war die Wirkung des Beruhigungsmittels so gut wie abgeklungen. Das hieß, daß die normale Dosis für ein Kind seiner Größe richtig gewesen wäre. Jacobs hatte also recht gehabt, und Miß Fellowes war übertrieben ängstlich gewesen. So sehr er sich sonst von einem Kind der Gegenwart unterscheiden mochte, auf das
Beruhigungsmittel hatte er kaum anders reagiert. Er kam ihr überhaupt immer menschlicher vor, je besser sie ihn kennenlernte. Jacobs hatte ohnehin alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte, und so packte er seine Sachen zusammen und ging. In ein bis zwei Tagen wollte er wiederkommen, um den Befunden, die sich bei der Voruntersuchung etwa ergeben hatten, weiter nachzugehen. »Brauchen Sie uns noch, Miß Fellowes?« fragte Mortenson. »Nein, danke. Sie können mich mit dem Jungen allein lassen.« Timmie beruhigte sich, sobald die Männer draußen waren. An Miß Fellowes’ Gesellschaft hatte er sich offenbar schon gewöhnt. Nur Fremde machten ihn noch nervös. Aber das würde sich mit der Zeit schon legen, dachte Miß Fellowes. »War doch gar nicht so schlimm, Timmie, nicht wahr? Ein bißchen Pieksen, ein bißchen Abklopfen – wir wollen eben eine Menge über dich wissen, verstehst du?« Er sah sie ernst an, sagte aber nichts. »Das siehst du doch ein, nicht wahr, Timmie?« Er knurrte leise – zwei Silben. Sie traute ihren Ohren nicht: es klang wie Timmie. War das möglich? War es möglich, daß er bereits seinen Namen erkannt hatte? »Sag das noch einmal! Timmie. Timmie.« Wieder stieß er die beiden Silben hervor. Diesmal war sie nicht mehr so sicher, daß sie sich wie Timmie anhörten. Vielleicht war ihre Phantasie ein wenig mit ihr durchgegangen. Aber es konnte nicht schaden, die Sache weiterzuverfolgen. Sie zeigte mit dem Finger auf ihn. »Timmie – das bist du. Timmie. Timmie. Timmie.«
Jetzt sah er sie nur noch stumm an. »Und ich…« Als sie auf sich zeigte, kam sie ins Schwimmen. Mit Miß Fellowes würde er sich fast die Zunge abbrechen. Aber Edith klang irgendwie unpassend. Schwester? Nein, das war auch nicht das Richtige. Damit blieb wohl doch nur Miß Fellowes. »Ich – Miß Fellowes. Du – Timmie.« Sie deutete abwechselnd auf sich und auf ihn. »Ich – Miß Fellowes. Du – Timmie.« Das wiederholte sie drei oder vier Mal. Von ihm kam keine Reaktion. »Du hältst mich wohl für übergeschnappt?« Sie mußte über sich selbst lachen. »Da schwatze ich dir die Ohren voll, obwohl du kein Wort verstehst, und fuchtle auch noch ständig mit dem Zeigefinger herum. Und dabei interessiert dich im Moment sicher nur, wann es endlich Mittagessen gibt, richtig? Stimmt’s, Timmie? Mittagessen? Essen? Hast du Hunger?« Wieder knurrte er die beiden Silben und hängte noch ein paar Zungenschnalzer an. »Hunger, ja. Höchste Zeit für eine proteinreiche, stärkearme Mahlzeit. Einmal Eiszeit Spezial, was Timmie? Mal sehen, was wir dir zu bieten haben.«
20 Am frühen Nachmittag kam Dr. McIntyre von der Anthropologischen Abteilung des Smithsonian. Hoskins hatte zuvor für alle Fälle über die Gegensprechanlage angefragt, ob Miß Fellowes es für vertretbar halte, dem Jungen schon wieder
einen Besucher zuzumuten. Sie warf einen Blick ins Kinderzimmer. Timmie war offenbar halb verhungert gewesen – er hatte eine ganze Flasche von dem Vitaminsaft getrunken, den Dr. Jacobs empfohlen hatte, und dazu eine Schüssel Hafergrütze und – ein erster Versuch mit fester Nahrung – eine kleine Scheibe Toast verputzt. Jetzt saß er ruhig und zufrieden auf der Kante seines Bettes und klopfte mit den Fersen rhythmisch gegen die Unterseite der Matratze. Ein ganz gewöhnlicher, kleiner Junge, der sich nach dem Mittagessen irgendwie die Zeit vertrieb. »Was meinst du, Timmie? Schaffst du noch eine weitere Untersuchung?« Sie rechnete nicht ernsthaft mit einer Antwort, und seine Zungenschnalzer waren wohl auch nicht für sie bestimmt. Der Junge sah sie gar nicht an und hörte auch nicht auf, mit den Fersen gegen die Matratze zu schlagen. Wahrscheinlich führte er Selbstgespräche. Aber er war offensichtlich guter Stimmung. »Ich glaube, wir können es riskieren«, sagte sie zu Hoskins. »Gut. – Aber wie haben Sie ihn eben genannt? ›Timmie?‹ Wieso das denn?« »Das ist sein Name.« »Er hat Ihnen seinen Namen gesagt?« Hoskins war wie vom Donner gerührt. »Natürlich nicht. Ich habe ihn einfach ›Timmie‹ getauft.« Verlegenes Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Aha«, sagte Hoskins endlich. »Sie haben ihn also ›Timmie‹ getauft.« »Irgendwie muß ich ihn doch ansprechen, Dr. Hoskins.« »Ja, sicher. Hm. Dann also ›Timmie‹.« »›Timmie‹«, sagte Miß Fellowes entschieden.
»›Timmie‹. Nun gut. Schön. – Wenn es Ihnen recht ist, schicke ich Dr. McIntyre jetzt zu Ihnen. Damit er sich Timmie ansieht.« Dr. McIntyre war schlank, sehr gepflegt und um einiges jünger, als Miß Fellowes erwartet hätte: höchstens dreißig oder fünfunddreißig Jahre alt. Der kleine, zierliche Mann mit dem schimmernden, goldblonden Haar und den weichen Augenbrauen, die so hell waren, daß sie sich kaum von der Haut abhoben, bewegte sich mit der präzisen Grazie eines Tänzers wie nach einer inneren Musik. Miß Fellowes war vollkommen überrascht von so viel Anmut. So hatte sie sich einen Paläoanthropologen ganz gewiß nicht vorgestellt. Timmie wußte wohl nicht so recht, was er von ihm halten sollte, denn dieser Mann war ganz anders als die Männer, die er seit seiner Ankunft kennengelernt hatte. So machte er nur große Augen und staunte McIntyre an wie ein überirdisches Wesen. McIntyre war seinerseits von Timmies Anblick so erschüttert, daß er kaum sprechen konnte. Minutenlang blieb er wie angewurzelt an der Tür stehen und starrte den Jungen ebenso konzentriert an wie der ihn; dann trat er zwei Schritte nach links, betrachtete ihn von dort aus und trieb schließlich von der anderen Seite der Tür her das gleiche Spiel. »Darf ich vorstellen?«, sagte Miß Fellowes ein wenig spitz. »Dr. McIntyre, das ist Timmie. Timmie – Dr. McIntyre. Dr. McIntyre ist zu uns gekommen, um dich zu studieren. Aber er hat sicher nichts dagegen, wenn auch du ihn dir genauer ansiehst.« McIntyres blasse Wangen röteten sich. »Ich kann es nicht fassen.« Seine helle Stimme klang heiser vor Ergriffenheit. »Es will mir einfach nicht in den Kopf. Ein echter Neandertaler!
Vor mir steht ein echter, lebendiger Neandertaler! – Verzeihen Sie, Miß Fellowes. Sie müssen begreifen – ich bin vollkommen außer mir, das ist ein so phänomenales, so absolut einzigartiges Erlebnis für mich…« Er hatte tatsächlich Tränen in den Augen. Miß Fellowes fand soviel Überschwang peinlich und fast ein wenig lästig. Doch dann schlug ihre Stimmung jäh um, und sie verstand. So ähnlich hätte wohl ein Historiker empfunden, der ein Zimmer betrat und unvermutet Gelegenheit bekam, sich mit Abraham Lincoln, Julius Caesar oder Alexander dem Großen zu unterhalten. Oder ein Bibelforscher, der plötzlich vor den Gesetzestafeln stand, die Moses vom Gipfel des Berges Sinai heruntergeschleppt hatte. Natürlich war er überwältigt. Wie denn auch nicht? Wenn ein Wissenschaftler sich über Jahre mit einer Epoche beschäftigte, von der sich nur ganz wenige Reste erhalten hatten, wenn er sich bemühte, diese Trümmer im Geist zu einem Bild zusammenzusetzen, das der verlorengegangenen Realität entsprach, und dann ganz unerwartet einem Wesen aus dieser Zeit gegenüberstand, einem echten, lebendigen Wesen… Doch McIntyre faßte sich schnell. Mit leichten, flinken Schritten durchquerte er den Raum und ging vor Timmie in die Hocke, um sich den Jungen aus nächster Nähe zu betrachten. Timmie zeigte keine Spur von Angst. Es war das erstemal, daß er auf einen Fremden so gelassen reagierte. Der Junge summte lächelnd vor sich hin und wiegte sich in den Hüften, ganz so, als sei sein Lieblingsonkel zu Besuch gekommen. Seine Augen leuchteten noch immer. Er war von dem Paläoanthropologen sichtlich begeistert. »Ist er nicht wunderschön, Miß Fellowes?« seufzte McIntyre endlich.
»Wunderschön? Das hat bisher noch niemand behauptet.« »Aber es stimmt doch! Was für ein makelloses, kleines Neandertalergesicht! Die Supraorbitalwülste – sie stehen noch ganz am Anfang der Entwicklung, sind aber schon deutlich zu erkennen. Der platyzephale Schädel. Die verlängerte Okzipitalregion. – Darf ich sein Gesicht berühren, Miß Fellowes? Ich bin auch ganz vorsichtig. Ich möchte ihn nicht erschrecken, aber ich würde mich gern über einige Besonderheiten des Knochenbaus vergewissern…« »Ich habe den Eindruck, daß er auch Sie berühren möchte«, sagte Miß Fellowes. Timmie hatte tatsächlich die Hand ausgestreckt. Der Mann vom Smithsonian beugte sich so weit vor, daß der Junge mit den Fingern in sein blondes Haar fassen konnte. Zunächst strich Timmie geradezu ehrfürchtig über die schimmernde Pracht, doch dann wickelte er sich plötzlich ein paar Strähnen um den Mittelfinger und zog daran. Und er war nicht zimperlich. McIntyre fuhr mit einem Aufschrei zurück. Das Blut schoß ihm in die Wangen. »Ich glaube, er möchte etwas davon haben«, sagte Miß Fellowes. »Aber doch nicht so.« Jetzt grinste der Paläoanthropologe. »Geben Sie mir eine Schere.« Er schnitt sich eine seiner goldenen Stirnlocken ab und reichte sie Timmie. Der strahlte über das ganze Gesicht und gluckste vor Freude. – »Sagen Sie, Miß Fellowes, ist vor mir schon jemand mit blondem Haar hiergewesen?« Sie dachte kurz nach. Hoskins – Deveney – Elliott – Mortenson – Stratford – Dr. Jacobs – alles Leute mit braunem, schwarzem oder grauern Haar. Auch ihr eigenes Haar war
braun mit einem Stich ins Graue. »Nein. Nicht, daß ich wüßte. Ich denke, Sie sind der erste.« »Vielleicht der erste, den er überhaupt je gesehen hat. Bisher hatten wir natürlich keine Ahnung von der Haarfarbe der Neandertaler. In den Rekonstruktionen werden sie immer dunkelhaarig dargestellt, wahrscheinlich, weil man die Neandertaler allgemein für so etwas wie große Affen hält und die meisten großen Affen der heutigen Zeit ein dunkles Fell haben. Aber dunkles Haar ist in warmen Ländern verbreiteter als im kalten Norden, und die Neandertaler waren bestens an extrem niedrige Temperaturen angepaßt. Sie hätten also durchaus blond sein können wie etwa die heutigen Schweden oder Finnen. Wer weiß?« »Aber so, wie er auf Ihr Haar angesprochen hat, Dr. McIntyre…« »Ja, kein Zweifel, es ist etwas ganz Besonderes für ihn. – Nun, vielleicht besteht sein Stamm ausschließlich aus Dunkelhaarigen, womöglich gilt das sogar für die gesamte Bevölkerung in seinem Teil der Welt. Seine Haut ist für den nordischen Typus jedenfalls ziemlich dunkel. Wobei ein einzelnes Kind natürlich nicht als repräsentativ anzusehen ist. Aber wenigstens haben wir dieses eine Kind! Es ist großartig, Miß Fellowes! Ich kann es gar nicht fassen… ich kann es wirklich nicht fassen…« Miß Fellowes befürchtete schon, McIntyre würde sich noch einmal von seinen Gefühlen überwältigen lassen. Doch diesmal nahm er sich zusammen. Ganz behutsam strich er mit den Fingerspitzen über Timmies Wangen, die flache Stirn, das kleine, fliehende Kinn. Dabei gab er laufend leise Kommentare ab, die aber wohl nur für ihn selbst bestimmt waren. Timmie fügte sich geduldig in die Untersuchung.
Nach einer Weile ließ er einen längeren Monolog aus Schnalz- und Knurrlauten vom Stapel, das erstemal, daß er in Gegenwart des Paläoanthropologen gesprochen hatte. McIntyre wurde vor Aufregung schon wieder ganz rot im Gesicht und schaute fragend zu Miß Fellowes auf. »Haben Sie das gehört? Hat er solche Geräusche schon öfter gemacht?« »Aber natürlich. Er redet die ganze Zeit.« »Er redet?« »Was glauben Sie denn? Sie hören doch, daß er mit uns spricht!« »Sie vermuten, daß er mit uns spricht.« »Nein.« Miß Fellowes wurde allmählich ärgerlich. »Er spricht, Dr. McIntyre. In der Neandertalersprache. Man kann deutlich einzelne Muster unterscheiden. Ich bemühe mich, sie zu verstehen und habe sogar versucht, sie nachzuahmen, aber bisher ohne Erfolg.« »Was für Muster, Miß Fellowes?« »Bestimmte Abfolgen von Schnalz- und Knurrlauten. Einige erkenne ich inzwischen sogar wieder. Eine Sequenz sagt mir, daß er hungrig ist. Eine andere drückt Ungeduld oder Unruhe aus. Eine dritte bedeutet Angst. – Ich weiß, das sind nur meine Interpretationen, und ich bin keine Wissenschaftlerin. Aber seit der Junge hier ist, bin ich ununterbrochen mit ihm zusammen, und ich habe Erfahrung im Umgang mit sprachgestörten Kindern, Dr. McIntyre. Ich pflege sehr genau hinzuhören.« »Ich glaube Ihnen ja.« Dennoch blieb McIntyre skeptisch. »Das ist ungemein wichtig, Miß Fellowes. Sind diese Schnalzund Knurrlaute aufgezeichnet worden?« »Hoffentlich. Ich weiß es nicht.« (Jetzt fiel ihr wieder ein,
daß sie Dr. Hoskins danach hatte fragen wollen. Aber sie hatte es vollkommen vergessen.) Timmie begann wieder zu sprechen, diesmal in einem melodiöseren, fast schon klagenden Tonfall. »Haben Sie gehört, Dr. McIntyre? Das klang ganz anders als vorhin – ich glaube, er will noch einmal mit Ihrem Haar spielen.« »Aber das haben Sie doch nur geraten?« »Natürlich. Noch spreche ich nicht fließend Neandertalerisch. Aber sehen Sie nur – er streckt die Hand aus, genau wie vorhin.« McIntyre, der offenbar keine Lust hatte, sich noch einmal an den Haaren ziehen zu lassen, lächelte nur und bot Timmie statt dessen einen Finger an. Aber daran war der Junge nicht interessiert, und das brachte er mit einer Reihe von Schnalzern, unterbrochen von drei bislang unbekannten, schrillen Tönen, einer Mischung zwischen Knurren und Winseln, auch sehr deutlich zum Ausdruck. »Ich glaube, Sie haben recht, Miß Fellowes!« Auch McIntyres Stimme schraubte sich in die Höhe. Er war sichtlich aufgewühlt. »Das klingt wie eine Sprache! Wie eine richtige Sprache. – Wie alt ist das Kind Ihrer Meinung nach?« »Drei bis vier Jahre alt. Ich schätze ihn eher auf vier. Aber warum sind Sie überrascht, daß er so gut spricht? Vierjährige können sich im allgemeinen recht gut ausdrücken, Dr. McIntyre. Wenn Sie selbst Kinder haben…« »Ich habe eine Tochter. Sie ist fast drei und hat tatsächlich schon eine ganze Menge zu sagen. Aber dieses Kind ist ein Neandertaler.« »Was spielt das für eine Rolle? Wieso sollte ein Neandertalerkind in diesem Alter noch nicht sprechen
können?« »Wir hatten bisher keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß Neandertaler überhaupt der Sprache mächtig waren, jedenfalls in dem Sinn, wie wir Sprache verstehen, Miß Fellowes. Deshalb sind die Laute, die dieses Kind produziert, für unser Bild vom Menschen der Urzeit so ungeheuer wichtig. Wenn sie eine Sprache darstellen, mit geordneten Lautmustern und klaren, grammatikalischen Strukturen…« »Aber natürlich, was denn sonst!« brach es aus Miß Fellowes heraus. »Die Sprache ist es doch, was den Menschen vom Tier unterscheidet, nicht wahr? Und wenn Sie mir jetzt einreden wollen, daß dieser kleine Junge kein Mensch ist, dann…« »Natürlich waren die Neandertaler Menschen, Miß Fellowes. Ich wäre der letzte, der das bestreiten würde. Aber das heißt noch lange nicht, daß sie eine Sprache hatten.« »Was? Wie kann jemand ein Mensch sein, ohne über die Gabe der Sprache zu verfügen?« McIntyre holte tief Atem und ließ sich deutlich anmerken, wie sehr sie seine Geduld strapazierte. Miß Fellowes wußte genau, was in ihm vorging. In ihrem Beruf hatte sie ständig mit Leuten zu tun, die sie ›nur‹ für eine Krankenschwester hielten und deshalb glaubten, ihr in Sachen Wissen und Bildung überlegen zu sein. Dabei war das meistens nicht der Fall, jedenfalls nicht im Krankenhaus. Aber hier war sie nicht im Krankenhaus. Sie hatte von den Neandertalern so gut wie keine Ahnung, und dieser blonde Jüngling war Fachmann auf dem Gebiet. Also zwang sie sich, auch weiterhin Interesse zu demonstrieren. »Miß Fellowes«, begann McIntyre. Jetzt war er vollends in die Rolle des Dozenten geschlüpft. »Um sprechen zu können,
benötigt ein Lebewesen nicht nur ein gewisses Maß an Intelligenz, es muß auch physisch in der Lage sein, komplexe Laute zu bilden. Hunde sind durchaus intelligent und verfügen über einen ganz beachtlichen Wortschatz – aber zu wissen, was ›Sitz‹ oder ›Fuß‹ bedeutet, und es selbst sagen zu können, ist nun einmal nicht das gleiche. Solange die Welt sich dreht, hat es noch keinen Hund gegeben, der mehr als ein ›Wuff‹ oder ›Horrr‹ zustandegebracht hätte. Sie wissen sicher, daß Schimpansen und Gorillas lernen können, sich mit Zeichen und Gesten zu verständigen – aber Worte können sie ebensowenig bilden wie ein Hund. Dazu fehlt es ihnen einfach an den anatomischen Voraussetzungen.« »Das war mir nicht bekannt.« »Die Sprache der Menschen ist sehr kompliziert«, sagte McIntyre und faßte sich an die Kehle. »Der Schlüssel dazu ist ein winziger, U-förmiger Knochen, das os hyoideum oder Zungenbein. Es befindet sich an der Zungenwurzel und steuert elf kleine Muskeln, die die Zunge und den Unterkiefer bewegen und außerdem den Kehlkopf heben und senken. So werden die Vokale und Konsonanten erzeugt, aus denen sich jede Sprache zusammensetzt. Affen haben kein Zungenbein, deshalb können sie lediglich fauchen und knurren.« »Was ist mit Papageien und Beos? Sie können richtige Worte sprechen. Wollen Sie behaupten, bei ihnen hätte sich das Zungenbein entwickelt und bei den Schimpansen nicht?« »Vögel wie Papageien oder Beos ahmen lediglich mit völlig anderen anatomischen Mitteln die Laute nach, die ihnen von den Menschen vorgemacht werden. Von Sprache kann dabei nicht die Rede sein, denn es ist kein verbales Verständnis vorhanden, das heißt, die Vögel haben keine Ahnung, was sie sagen. Sie produzieren gewissermaßen nur Geräusche im
Playbackverfahren.« »Schön. Und die Neandertaler – sie haben doch sicher auch ein Zungenbein? Wie könnte man sie sonst als Menschen betrachten?« »Wir waren bisher nicht sicher«, sagte McIntyre. »Erstens dürfen sie nicht vergessen, daß seit der Entdeckung des ersten Neandertalerskeletts im Jahre 1856 insgesamt nur knapp zweihundert Funde gemacht wurden, und davon sind viele unvollständig oder stark beschädigt. Zweitens ist das Zungenbein ein sehr kleiner Knochen, der mit keinem anderen Teil des Skeletts in Verbindung steht, sondern nur von der Kehlkopfmuskulatur gehalten wird. Wenn der Körper verwest, löst sich das Zungenbein, und dann kann es leicht passieren, daß es vom übrigen Skelett getrennt wird. Von allen Neandertalerfossilien, die wir untersucht haben, Miß Fellowes, war nur bei einem – einem einzigen – das Zungenbein noch da, wo es hingehörte.« »Aber wenn einer es hatte, hatten es doch wohl alle!« McIntyre nickte. »Sehr wahrscheinlich. Aber wir haben nie den Kehlkopf eines Neandertalers gefunden. Die Weichteile bleiben natürlich nicht erhalten. Und deshalb wissen wir nicht, welche Funktion das Zungenbein in diesem Fall hatte. Aber Zungenbein hin oder her, es war bisher nicht möglich, mit Sicherheit festzustellen, ob die Neandertaler der Sprache mächtig waren oder nicht. Wir können nur sagen, daß die Anatomie des Stimmapparats bei ihnen wahrscheinlich die gleiche war wie beim Menschen der Gegenwart. Wahrscheinlich. Doch ob er so weit ausgebildet war, daß sie verständliche Worte bilden konnten – oder ob ihr Gehirn so weit fortgeschritten war, daß es sich so etwas wie Verständigung durch Sprache überhaupt vorstellen konnte…«
Timmie begann wieder zu schnalzen und zu knurren. »Hören Sie sich das an!« rief Miß Fellowes triumphierend. »Da haben Sie die Antwort! Er hat nicht nur eine Sprache, er kann sie auch tadellos sprechen. Und es wird nicht lange dauern, bis er auch Englisch spricht, Dr. McIntyre, davon bin ich überzeugt. Dann brauchen Sie sich nicht länger den Kopf darüber zu zerbrechen, ob die Neandertaler der Sprache mächtig waren.«
21 McIntyre wollte offenbar sämtliche Neandertaler-Rätsel auf einmal lösen. Er bombardierte Timmie regelrecht mit Schnalzlauten, in der Hoffnung, ihm entsprechende Reaktionen zu entlocken; er zog bunte Plastikbausteine, wahrscheinlich eine Art von Intelligenztest, aus seiner Aktenmappe, und versuchte, Timmie dazu zu bringen, sie nach Größe und Farbe zu ordnen; er bot dem Jungen Stifte und Papier an und erwartete, daß er zeichnete, wozu Timmie aber keinerlei Neigung zeigte; er bat Miß Fellowes, den Jungen an der Hand durch den Raum zu führen, und nahm seine Bewegungen auf. Und er hätte noch genügend Ideen in Reserve gehabt, doch irgendwann spielte Timmie nicht mehr mit. Als McIntyre ein Gebilde aus Spulen und Stöckchen aufbaute, das aussah wie ein Spielzeug, in Wirklichkeit aber die Koordination des Jungen messen sollte, setzte der sich plötzlich auf den Fußboden und begann laut zu weinen. Sehr laut.
Es war das erstemal seit seiner Ankunft, daß er tatsächlich weinte – und nicht nur schluchzte, wimmerte oder quengelte. Miß Fellow wußte nur zu gut, wie es klang, wenn ein Kind protestierte, weil es überreizt, übermüdet, überfordert war, und sie hörte das Gebrüll nicht ungern. Erstaunt sah sie, wie groß sein Mund werden konnte, wenn er ihn ganz aufriß, wie seine Nase plötzlich noch dicker wirkte als sonst, und wie weit die dicken Knochenwülste über seinen Augen hervortraten, wenn er die Lider zukniff. Wenn er wie eben jetzt sein Gesicht verzerrte, war seine Fremdartigkeit geradezu erschreckend. Und doch – dieses Heulen, dieser leidenschaftliche Gefühlsausbruch – solange sie nicht hinsah, hätte sie das Wesen, das da mit den Füßen auf den Boden schlug und sich die Seele aus dem Leib brüllte, für einen ganz normalen Vierjährigen mitten in einem schweren Trotzanfall halten können. »Womit habe ich ihn denn jetzt so aus der Fassung gebracht?« fragte McIntyre. »Ich denke, Sie haben des Guten zuviel getan«, sagte Miß Fellowes. »Jetzt ist er mit seiner Geduld am Ende. Er ist nur ein kleiner Junge, Dr. McIntyre. Sie können nicht erwarten, daß er sich in alle Ewigkeit schikanieren und herumschubsen läßt. – Vergessen Sie nicht, er wurde erst gestern unter traumatischen Umständen aus seiner vertrauten Umgebung herausgerissen und versteht nun die Welt nicht mehr.« »Aber ich wollte ihn doch gar nicht schikanieren und – nun ja, vielleicht haben Sie recht. Es tut mir leid. – Hier, Timmie – hier, siehst du mein Haar? Siehst du das schöne, blonde Haar? Möchtest du damit spielen? Du darfst sogar daran ziehen?« McIntyre kniete sich hin und hielt Timmie seine goldene Stirnlocke direkt vor die Nase. Doch Timmie ließ sich nicht ablenken, sondern brüllte nur noch lauter.
Miß Fellowes hatte genug. »Er will jetzt nicht mit Ihrem Haar spielen, Dr. McIntyre. Und wenn er sich entschließen sollte, daran zu ziehen, werden Sie es vermutlich bereuen. Lassen Sie ihn ganz einfach in Ruhe. Sie werden noch oft genug Gelegenheit bekommen, ihn zu studieren.« »Ja. Sicher.« Verlegen stand der Paläoanthropologe auf. »Sie müssen mich verstehen, Miß Fellowes. Er ist für mich wie ein verschlossenes Buch, das die Lösungen für sämtliche Rätsel der Geschichte enthält. Ich würde es am liebsten sofort aufschlagen und darin lesen. Eine Seite nach der anderen.« »Ich verstehe Sie sehr gut. Aber ich fürchte, Ihr Buch ist jetzt hungrig und schlecht gelaunt. Außerdem muß es wahrscheinlich auf die Toilette.« »Ja. Ja, natürlich.« McIntyre packte hastig seine Testgeräte zusammen. Als er die Spulen und Stöckchen verstauen wollte, sagte Miß Fellowes. »Könnten Sie davon etwas hierlassen?« »Möchten Sie seine Intelligenz selbst testen?« »Dazu sehe ich keinen Anlaß, Doktor. Mir ist er intelligent genug. Aber er könnte ein paar Spielsachen gebrauchen, und das ist nun schon einmal hier.« Wieder stieg McIntyre das Blut in die Wangen. Er war sehr schnell zum Erröten zu bringen, dachte Miß Fellowes. »Natürlich. Bitte.« »Noch etwas – zum Thema Bücher, Dr. McIntyre. Könnten Sie mir vielleicht Material über den Neandertaler besorgen? Zwei oder drei Standardwerke, nur damit ich mir wenigstens ein paar Grundlagen erarbeiten kann. Bisher hat es ja niemand für nötig gehalten, mich mit diesbezüglichen Informationen zu versorgen. – Es dürfen durchaus wissenschaftliche Texte sein, ich bin mit dem Stil vertraut. Besonders interessiert mich alles,
was man bisher über die Anatomie des Neandertalers, seine Lebensweise und seine Ernährung herausgefunden hat. Würden Sie mir diesen Gefallen tun?« »Ich lasse Ihnen gleich morgen früh alles herüberschicken, was Sie brauchen. Aber ich warne Sie, Miß Fellowes, wir wissen bisher so gut wie nichts über die Neandertaler. Wir können nur hoffen, im Verlauf dieses Projekts von Timmie all das zu erfahren, was uns noch fehlt.« »Alles zu seiner Zeit.« Sie lächelte verschmitzt. »Sie können es wirklich kaum erwarten, was?« »Das sehen Sie ja.« »Aber Sie werden sich wohl oder übel in Geduld üben müssen. Ich werde nicht zulassen, daß Sie den Jungen überbeanspruchen. Wir haben ihm heute zu viel zugemutet. Das wird nicht wieder vorkommen.« Wie ein begossener Pudel wandte sich McIntyre zum Gehen. Sein Lächeln wirkte gezwungen. »Und wenn Sie die Bücher für mich aussuchen, Doktor…« »Ja?« »Besonders wichtig wäre mir eine Abhandlung über das Verhältnis zwischen Neandertalern und Menschen, ich meine, heutigen Menschen. Über die Unterschiede und die Übereinstimmungen. Den Evolutionsverlauf, soweit bekannt. Diese Information läge mir sehr am Herzen.« Ihre Augen blitzten. »Es sind Menschen, nicht wahr, Dr. McIntyre? Etwas anders als wir, aber nicht allzu sehr. Das ist doch richtig?« »Im wesentlichen schon. Aber natürlich…« »Nein«, sagte sie. »Kein ›aber natürlich‹. Ich betreue hier keinen Affen, das habe ich bereits festgestellt. Timmie ist nicht irgendein ›fehlendes Glied‹ in der Evolutionskette. Er ist ein kleiner Junge, ein kleiner Mensch. – Besorgen Sie mir die
Bücher, Dr. McIntyre, und vielen, herzlichen Dank schon im voraus. Wir sehen uns sicher bald wieder.« Damit war der Paläoanthropologe entlassen. Sobald er draußen war, ließ Timmies Gebrüll rasch nach. Er schluchzte und quengelte noch eine Weile vor sich hin, um schließlich vollends zu verstummen. Miß Fellowes nahm ihn auf den Arm. Er schmiegte sich zitternd an sie. »Schon gut«, beschwichtigte sie ihn. »Ja, ja, ja, das war ein aufregender Tag. Viel zu aufregend für dich. Du bist doch nur ein kleiner Junge. Ein kleiner Junge, der sich verlaufen hat.« Fern von zu Hause, fern von allem, was du kennst. »Hast du Geschwister?« Sie sprach im Grunde mit sich selbst, erwartete keine Antwort, wollte ihn mit ihrer sanften Stimme lediglich trösten. »Wie hat deine Mutter ausgesehen? Und dein Vater? Sicher hattest du auch Freunde und Spielkameraden. Jetzt sind sie alle fort. Alle sind sie fort. Wahrscheinlich glaubst du jetzt schon, du hättest sie nur geträumt. Wie lange wird es wohl dauern, bis du sie ganz vergessen hast?« Armer, kleiner Junge. Mein armer, kleiner Junge. »Was hältst du von einem Schlückchen warmer Milch?« schlug sie endlich vor. »Und danach bist du wohl reif für ein kleines Nickerchen.«
Drittes Intermezzo DIE STÄTTE DER DREI FLÜSSE In der Nacht träumte Silberne Wolke vom Meer. Er war wieder jung in diesem Traum, ein kleiner Junge, höchstens einen oder zwei Sommer älter als Himmelsfeuergesicht, den die Göttin in einer Lichtsäule entführt hatte. Er stand am Ufer des Meeres, und der Wind strich ihm seltsam feucht über die Lippen. Sein Vater und seine Mutter, Großer Baum und Duftend-Wie-Eine-Blume, waren bei ihm. Sie nahmen ihn bei den Händen und führten ihn zum Wasser. »Nein«, sagte er. »Ich will da nicht hinein. Ich habe Angst. Es ist zu kalt.« »Es kann dir nichts anhaben«, sagte Großer Baum. Aber das stimmte nicht. Niemand ging in das große Wasser, niemand, unter keinen Umständen. Das lernte jedes Kind, sobald es alt genug war, um irgend etwas zu lernen. Das Meer war ein Mörder. Es saugte die Menschen aus und warf sie ans Ufer zurück, wo sie leer und reglos liegenblieben. Erst im vergangenen Jahr war der Krieger Durchbohrte-FünfMammuts auf einer verschneiten Klippe ausgerutscht und ins Meer gestürzt, und als er kurze Zeit später an Land gespült wurde, war er tot. Sie hatten ihn in einer kleinen Felshöhle unweit der Stelle begraben, wo er hinabgefallen war. Die ganze Nacht hatten sie um ein seltsam buntes Feuer gesessen und gesungen. Und nun verlangten sein eigener Vater, seine eigene Mutter, daß er sich dem Meere ausliefere. Wollten Sie, daß er starb wie Durchbohrte-Fünf-Mammuts? Waren sie seiner überdrüssig? War das nicht Verrat an ihrem Sohn? »Das Meer wird dir Kraft geben«, versprach Duftend-Wie-
Eine-Blume. »Es macht dich zum Mann.« »Aber Durchbohrte-Fünf-Mammuts ist darin umgekommen!« »Seine Zeit war abgelaufen. Deshalb hat ihn das Meer gerufen und zu sich genommen. Aber du mußt noch lange nicht sterben, mein Junge. Du brauchst keine Angst zu haben.« Sagten sie die Wahrheit? Konnte er ihnen vertrauen? Sie waren doch seine Eltern. Warum sollten sie seinen Tod wünschen? Er umklammerte ihre Hände und ging mit ihnen weiter auf das Meer zu. So nahe war er dem Wasser noch nie gewesen, obwohl sein Stamm von jeher auf der Küstenebene lebte und auf der Suche nach Wild die Strände entlangwanderte. Jetzt blickte er in angstvollem Staunen über das Wasser. Schwarz und glänzend lag es vor ihm, wie ein riesiges, flaches Tier mit ungeheuren Kräften, ein Tier, das ständig ein ohrenbetäubendes Gebrüll ausstieß. Am Rand kräuselte es sich und bildete weißen Schaum. Hier und dort stieg es hoch in die Lüfte und krachte beim Herunterkommen mit lautem Getöse gegen die Uferfelsen. Manchmal, wenn Silberne Wolke auf eine Klippe stieg – eine Klippe wie die, von der Durchbohrte-Fünf-Mammuts in den Tod gestürzt war – und weit auf das Meer hinausschaute, konnte er zwischen den schwimmenden Eisschollen unbekannte Tiere erkennen, die pfeilschnell dahinglitten. Sie sahen ganz anders aus als die Mammuts, Moschusochsen und Rhinozerosse, die das Land bevölkerten – schlank, glatt und glänzend waren sie, und sie schnellten sich so mühelos durch die See wie die Vögel durch die Lüfte. Im letzten Frühling war eines dieser Meerestiere an Land gekommen, und der Jägerorden war sofort darüber hergefal-
len und hatte es getötet. Dann hatte der ganze Stamm ein Festmahl abgehalten! Unglaublich zart war das Fleisch des fremden Tieres gewesen! Und von ganz ungewohntem Geschmack! Und einen herrlich dichten Pelz hatte es gehabt – weich, wunderbar weich. Großer Baum hatte daraus einen schwarzen Umhang für Duftet-Wie-Eine-Blume gemacht, den sie an den hohen Feiertagen voller Stolz anlegte. Wollten sie ihn etwa deshalb dem Meer schenken? Zum Dank für das Fell dieses Tieres? »Noch einen Schritt, Junge«, drängte Großer Baum. »Du brauchst keine Angst zu haben.« Silberne Wolke blickte auf. Sein Vater lächelte. Man mußte seinem Vater vertrauen. Also ging er weiter, ohne die Hände seiner Eltern loszulassen. Das Wasser umspülte bereits seine Knöchel. Er hatte erwartet, daß es kalt sein würde, aber nein, nein, es war warm, sogar heiß, es brannte wie Feuer. Doch schon im nächsten Augenblick spürte er das Brennen nicht mehr. Das Meer wich kurz zurück, und als es wiederkehrte, war es höher als zuvor, reichte ihm bis an die Knie, die Schenkel, den Bauch. Großer Baum und Duftet-WieEine-Blume gingen immer weiter hinein und nahmen ihn mit. Der Grund des Meeres war weich, weich wie das Fell jenes Tieres, und schien mit jedem Schritt unter seinen Füßen zu federn. Jetzt stand er bis zur Brust im Wasser, und es hüllte ihn ein wie eine warme Decke. »Hast du noch Boden unter dir?« fragte Großer Baum. »Ja. Ja.« »Gut. Beuge dich jetzt nach vorne. Stecke den Kopf ins Meer. Bedecke dein Gesicht damit.« Er gehorchte. Die See fegte heran und legte sich auf ihn wie
eine Decke aus Schnee. Auch der Schnee war nicht mehr kalt, wenn man sich tief genug eingrub. Irgendwann wurde er warm wie Feuer, und wenn man lange genug darin blieb, schlief man ein wie unter einer Schlafdecke. Das hatte ihm eins von den großen Mädchen erzählt. Sie hatte einmal mit angesehen, wie man eine alte Frau aus dem Stamm, eine Greisin mit krummen Gliedern und schwachen Augen, hinausführte und in den Schnee legte, wo sie die Augen schloß und friedlich einschlief. Ich werde mich jetzt also im Meer schlafenlegen, dachte Silberne Wolke, und das wird mein Ende sein. Doch seltsamerweise hatte der Tod seinen Schrecken verloren. Er hob den Kopf und wollte sehen, ob auch sein Vater und seine Mutter ihr Gesicht mit dem Meer bedeckten. Doch zu seiner Überraschung waren sie nicht mehr an seiner Seite. Sie waren verschwunden. Er war allein. Wie aus weiter Ferne hörte er die Stimme seines Vaters. »Komm jetzt aus dem Wasser, mein Junge«, sagte sie. »Dreh dich um und geh zum Ufer.« Ja. Das würde er tun. Doch als er sich dem Ufer näherte, spürte er mit jedem Schritt, wie sich sein Körper veränderte, wie er in die Höhe wuchs und in die Breite. Irgendwann begriff er, daß er mit jedem Augenblick älter wurde und sich mehr zum Mann entwickelte. Er bekam mächtige Schultern, sein Brustkorb weitete sich, seine Schenkel wurden prall und kräftig. Als er das Felsgestade erreichte, war er ein Krieger in der Blüte seines Lebens. Er schaute an sich hinab: sein nackter Körper war mit dunklem Haar bedeckt, es war der Körper eines Mannes. Da lachte er laut auf, klopfte sich auf die Brust, klatschte sich mit beiden Händen auf die Schenkel. Weit vor
sich sah er die Lagerfeuer brennen und rannte darauf zu, um allen von der seltsamen Veränderung zu berichten, die ihm widerfahren war. Doch während er noch rannte, wurde ihm abermals ganz sonderbar zumute, denn er erkannte, daß er immer noch unaufhaltsam alterte. Der Wandel hatte ihn jetzt fest im Griff und ließ ihn nicht mehr los. Seine Kindheit hatte er im Meer zurückgelassen. Als er aus dem Wasser stieg, hatte er die überschäumenden Kräfte der Jugend in sich gespürt. Jetzt keuchte er ein wenig, der Atem wurde ihm knapp, immer langsamer, immer kürzer wurden seine Schritte, er lief nicht mehr, ging nur noch und schleppte sich schließlich humpelnd voran, denn sein linker Oberschenkel hatte Schaden genommen, und sein ganzes Bein war steif und schmerzte. Als er an sich hinabschaute, war alles voll Blut, als habe ein wildes Tier die Klauen in sein Fleisch geschlagen. Und da fiel ihm alles wieder ein. Natürlich, er war mit dem Jägerorden ausgezogen, und plötzlich war ein Schneeleopard auf ihn herabgesprungen… Jeder Schritt war nun eine Qual. Wie bin ich alt und müde geworden, dachte er. Ich kann mich nicht mehr aufrecht halten. Und seht nur, mein Haar färbt sich am ganzen Körper silberweiß. Er hatte überall Schmerzen und fühlte seine Kräfte schwinden. Was war das nur für ein unheimlicher Traum? Als Knabe war er ins Meer getaucht, als er wieder herauskam, war er wie im Flug gealtert, und jetzt war er dem Tode nahe. Er würde an einem unbekannten Ort sterben, tief im Landesinneren, fernab vom Meer, an einem Ort, wo die Erde hart und kalt war und der Wind trocken. Und ringsherum waren nur Fremde. Wo war Großer Baum, wo war Duftet-Wie-Eine-Blume – wo war
Silberne Wolke? »Helft mir«, rief er im Schlaf und richtete sich auf. »Das Meer hat mich getötet! Das Meer… das Meer…« »Silberne Wolke?« Jemand rief seinen Namen. Blinzelnd schlug er die Augen auf. Die-Alles-Weiß kniete neben ihm und sah ihn besorgt an. Mit aller Kraft suchte er sich zu beherrschen. Er zitterte, wie ein altes, krankes Weib, sein Atem ging in keuchenden Stößen. Niemand durfte ihn so sehen, niemand. Er tastete nach seinem Stab, fand ihn, zog sich mühsam daran in die Höhe. »Ein Traum«, murmelte er. »Schlechte Vorzeichen. Ich muß ein Opfer darbringen. Wo ist die Priesterin? Bring Magd-DerGöttin sofort zu mir!« »Sie ist hinuntergestiegen«, sagte Die-Alles-Weiß. »Um das Heiligtum zu entsühnen.« »Was für ein Heiligtum? Wo?« »Bei den Drei Flüssen. – Was ist mit dir, Silberne Wolke? Du bist ja ganz verwirrt!« »Der Traum«, sagte er. »Ein schlimmer Traum.« Auf seinen Stab gestützt, stapfte er los. Allmählich wurde er wieder etwas klarer im Kopf. Nun wußte er, wo er war. In dem Tal unter ihm kamen drei Flüsse zusammen. Ja. Die lange Wallfahrt war zu Ende. Sie lagerten auf einem Hochplateau über der Stelle, wo die drei Flüsse sich vereinigten. Im dunstigen Frühlicht konnte Silberne Wolke sie bereits erkennen. Der größte wälzte sich träge von Norden heran und führte zahlreiche Eisschollen mit sich, die beiden kleineren und reißenderen kamen im spitzen Winkel von Osten und von Westen. Im letzten Jahr – eine ganze Ewigkeit schien seither vergangen – hatten sie viele Wochen an dieser Stelle gelagert. Und sie
hatten gehungert, bis die Göttin ein Wunder tat und ihnen eine Herde Rentiere schickte, die selbst so ausgemergelt und entkräftet waren, daß die Jäger ohne große Mühe ein Dutzend von ihnen über den Rand einer Klippe treiben konnten. Danach hatte es Fleisch in Hülle und Fülle gegeben! Zum Dank hatten sie der Göttin am Zusammenfluß der drei Wasserläufe ein prächtiges Heiligtum errichtet. Sie hatten die schwersten Steinblöcke zusammengetragen, die sie nur schleppen konnten, und sie mit einem glitzernden Gestein verziert, das sie in dünnen Platten aus der Klippenwand gebrochen hatten. Dann hatten sie ihren langen Marsch nach Osten fortgesetzt. Und jetzt waren sie zurückgekehrt. »Ich kann Magd-Der-Göttin da unten nicht sehen«, sagte Silberne Wolke zu Die-Alles-Weiß. »Sie müßte am Heiligtum sein.« »Das Heiligtum sehe ich. Aber Magd-Der-Göttin nicht.« »Deine Augen sind schwach geworden, Silberne Wolke. Laß mich nachsehen.« Sie stellte sich vor ihn hin und spähte eine Weile in das nebelverhangene Tal hinab. »Nein«, sagte sie dann verdutzt. »Du hast recht, sie ist nicht dort. Wahrscheinlich ist sie bereits auf dem Rückweg. Aber sie wollte doch bis zum Mittag unten bleiben, um die Gebete zu sprechen und das Entsühnungsritual zu vollziehen…« »Silberne Wolke! Silberne Wolke!« »Magd-Der-Göttin? Was ist denn…?« Die Priesterin kam über einen Seitenpfad vom Tal heraufgeeilt. Sie war erhitzt, ihr Umhang hatte sich verschoben, und sie keuchte, als sei sie die ganze Strecke gerannt.
»Was ist los? Was ist geschehen, Magd-Der-Göttin?« »Die Anderen!« »Was? Wo?« »Rings um das Heiligtum. Ich habe sie nicht selbst gesehen, aber alles war voll von ihren Spuren. Die langen Füße – ich kenne diese Füße. Überall Abdrücke in der feuchten Erde. Frische Abdrücke, Silberne Wolke. Da unten wimmelt es nur so von ihnen. Wir sind direkt in sie hineingelaufen!«
Fünftes Kapitel MISSVERSTÄNDNISSE
22 »Wie geht’s unserem Jungen denn heute morgen, Miß Fellowes?« fragte Hoskins. »Überzeugen Sie sich doch selbst, Doktor.« Hoskins sah sie spöttisch an, aber seine Stimme klang leicht gereizt. »Wieso sagen Sie eigentlich ständig ›Doktor‹ zu mir?« »Weil Sie einer sind, denke ich.« Sie hatte den ›Dr. rer. nat.‹ auf dem prahlerischen Namensschild in seinem Büro nicht vergessen. »Aber doch nur Doktor der Physik.« »Doktor ist Doktor.« »Liegt es vielleicht daran, daß Sie seit langem gewöhnt sind, Autoritätspersonen als ›Doktor‹ anzusprechen? Besonders, wenn es sich um Männer handelt?« Sie zuckte zusammen. Er hatte natürlich den Nagel auf den Kopf getroffen: in den Krankenhäusern, in denen sie gearbeitet hatte, waren ihre Vorgesetzten ohne Ausnahme promovierte Mediziner gewesen. Und meistens Männer, wenn auch keineswegs immer. So war es ihr ganz unbemerkt zur Gewohnheit geworden, im Gespräch mit Höhergestellten jeden zweiten Satz mit dem Wort ›Doktor‹ zu beenden. Auch ihr Ehemann hatte promoviert – in Physik, wie Hoskins. Miß Fellowes fragte sich plötzlich, ob sie auch ihn heute mit ›Doktor‹ ansprechen würde, wenn ihre Ehe so lange
gehalten hätte. Merkwürdige Idee. Dabei dachte sie kaum noch an ihn; die Vorstellung, verheiratet zu sein, einen Ehemann zu haben, war ihr inzwischen völlig fremd geworden. Sie war ja nur sehr kurz verheiratet gewesen, und es war eine Ewigkeit her. »Wäre Ihnen ›Mr. Hoskins‹ lieber?« fragte sie. »Hier in der Firma nennen mich die meisten Leute ›Jerry‹.« Miß Fellowes sah ihn mit leichtem Befremden an. »Das könnte ich nicht!« »Das könnten Sie nicht?« »Es käme mir – unpassend vor.« »Es käme Ihnen unpassend vor«, wiederholte Hoskins nachdenklich. »Mich ›Jerry‹ zu nennen. « Er betrachtete sie als sähe er sie zum erstenmal. Dann erhellte ein Lächeln sein breites, fleischiges Gesicht. »Sie legen sehr großen Wert darauf, daß die Form gewahrt bleibt. Mir war wohl nicht ganz klar, wie wichtig das für Sie ist. Schön: nennen Sie mich ruhig weiter ›Dr. Hoskins‹, wenn Sie sich dabei wohler fühlen. Und ich bleibe bei ›Miß Fellowes‹.« Wie hatte er das nun wieder gemeint? fragte sie sich. Er hatte doch wohl nicht daran gedacht, sie ›Edith‹ zu nennen? Das tat niemand. Oder so gut wie niemand: höchstens sechs Menschen auf der ganzen Welt. Sie war sogar ›Miß Fellowes‹, wenn sie in der dritten Person an sich dachte, was freilich nicht oft vorkam. An sich war das nur eine Angewohnheit, auf die sie sonst keinen Gedanken verschwendete. Aber jetzt kam es ihr doch sonderbar vor, sich selbst so zu bezeichnen. Steif und verknöchert. Ich bin auf meine alten Tage richtig schrullig geworden, dachte Miß Fellowes. Das ist mir bisher nie aufgefallen.
Hoskins hatte sie die ganze Zeit lächelnd beobachtet. Ein sympathischer Mann, stellte sie plötzlich fest. Er strahlte so viel Wärme aus. Auch das war ihr bisher nie aufgefallen. Sie hatte ihn immer für einen knallharten, durch nichts zu erschütternden Manager gehalten, der nur ganz selten durchblicken ließ, daß er auch ein Mensch war. Aber vielleicht war das nur in den nervenaufreibenden letzten Tagen vor dem Stasisexperiment so gewesen. Jetzt, nachdem der Versuch geglückt und der Erfolg des Projekts gesichert war, konnte er sich entspannen und sich so geben, wie er wirklich war – ein durch und durch netter Mann. Ob er wohl verheiratet war? Die Frage war Miß Fellowes unwillkürlich durch den Kopf geschossen. Jetzt war sie entsetzt und verlegen. Hatte er ihr nicht erst vor zwei Wochen erzählt, er habe einen Sohn? Einen kleinen Sohn, der gerade erst laufen gelernt hatte? Natürlich war er verheiratet. Selbstverständlich. Wie kam sie bloß auf diese Idee? Höchste Zeit, das Thema zu wechseln. »Timmie!« rief sie. »Komm her, Timmie!« Der Junge kam aus seinem Zimmer gelaufen. Er hatte gut geschlafen und gut gegessen und schien heute morgen ebenso glänzend gelaunt und kontaktfreudig zu sein wie Hoskins. Offenbar hatte er gegen den Besuch des Physikers nicht das geringste einzuwenden, denn er ging unerschrocken auf ihn zu und begrüßte ihn mit einem ganzen Strom von Schnalzlauten. »Will er mir etwas sagen, Miß Fellowes? Oder macht er die Geräusche nur, weil er Spaß daran hat, seine Stimme zu hören?« »Er spricht natürlich mit Ihnen, Doktor, was denn sonst? Dr. McIntyre hat mir gestern die gleiche Frage gestellt. Wie
kann irgend jemand daran zweifeln, daß der Junge eine – obendrein noch sehr komplexe – Sprache verwendet?« »Dr. McIntyre ist ein sehr konservativer Wissenschaftler, der sich hütet, voreilige Schlüsse zu ziehen.« »Nun, das gilt auch für mich. Aber wenn das keine Sprache ist, dann gebe auch ich nur sinnlose Geräusche von mir.« »Wir wollen es hoffen, Miß Fellowes. Wir wollen es wirklich hoffen. Wenn wir nämlich keine Möglichkeit finden, uns mit Timmie zu verständigen, verliert unser Experiment sehr an Wert. Wir möchten natürlich, daß er uns eine Menge über die Welt erzählt, aus der er kommt. Wir haben unzählige Fragen an ihn.« »Er wird sie schon beantworten, Doktor. Entweder in seiner Sprache oder in der unseren. Und wenn Sie meine Meinung hören wollen, wird er längst fließend Englisch sprechen, bevor wir auch nur die ersten Worte seiner Sprache entschlüsselt haben.« »Da könnten Sie recht haben, Miß Fellowes. Warten wir ab. Die Zeit wird es weisen.« Hoskins ging in die Knie, so daß er ungefähr so groß wie Timmie war, und faßte den Jungen mit beiden Händen leicht unter den Armen. Timmie ließ es sich ruhig gefallen. Miß Fellowes begriff nicht sofort, daß Hoskins spielerisch die Fingerspitzen hin- und herbewegte und den Jungen kitzelte. Er konnte offensichtlich gut mit kleinen Kindern umgehen. Timmie gefiel es, gekitzelt zu werden. »Was für ein kräftiges Kerlchen«, sagte Hoskins. »Ein richtig harter Bursche. – Du wirst also Englisch lernen, nicht wahr, Timmie? Und dann wirst du uns ein Buch über das Leben in der Steinzeit diktieren, und die Leute werden es uns aus den Händen reißen. Wenn es ein Bestseller wird, bekommen wir
wenigstens etwas von dem zurück, was wir in dich investiert haben, was, Timmie?« Er sah zu Miß Fellowes auf. – »Wir versprechen uns ungeheuer viel von diesem Jungen, aber das brauche ich wohl nicht eigens zu betonen. Es geht nicht nur um Geld. Die ganze Zukunft unseres Unternehmens hängt von ihm ab.« »Ja, das kann ich mir vorstellen.« Hoskins fuhr Timmie durch seine dichte Mähne, klopfte ihm auf die Schulter und stand auf. »Seit Jahren müssen wir jeden Pfennig dreimal umdrehen und uns die Betriebsausgaben groschenweise zusammenbetteln. Sie haben ja keine Ahnung, wieviel Energie man für jede Sekunde braucht, in der die Stasis aufrechterhalten wird – Sie könnten mit der Menge mehrere Tage lang eine ganze Stadt versorgen – und das ist nur ein Teil der anfallenden Gesamtkosten. Mindestens fünfmal stand uns das Wasser schon bis zum Hals. Um uns zu retten, mußten wir alles auf eine einzige Karte setzen. Es hieß, alles oder nichts, und das meine ich ganz wörtlich. Aber Timmie war unser großer Befreiungsschlag. Er wird die Stasis GmbH bekannt machen. Jetzt sind wir über dem Berg, Miß Fellowes!« »Hätte dazu nicht schon ein lebender Dinosaurier genügt, Dr. Hoskins?« »Das dachten wir auch. Aber irgendwie hat er die Phantasie der Öffentlichkeit nie so recht angesprochen.« »Ein Dinosaurier?« Hoskins lachte. »Nun ja, mit einem ausgewachsenen Brontosaurus, einem Koloß von einem Tyrannosaurus oder sonst etwas in dieser Größenordnung hätte die Sache sicher anders ausgesehen. Aber wir mußten uns an die Gewichtsvorgaben halten, und damit waren uns die Hände doch sehr gebunden.
Und selbst wenn es uns gelungen wäre, einen Tyrannosaurus hierherzubringen, wie hätten wir ihn bändigen sollen? – Ich muß in den nächsten Tagen einmal mit Ihnen rübergehen und Ihnen unseren Dino zeigen.« »Das wäre schön.« »Er ist sehr niedlich.« »Niedlich? Ein Dinosaurier?« »Ja. Sie werden schon sehen. Ein niedlicher, kleiner Dinosaurier. Leider scheinen die Leute an niedlichen, kleinen Dinosauriern nichts Aufregendes zu finden. ›Interessant‹, heißt es, ›die Wissenschaftler haben einen lebenden Dinosaurier aus der Urzeit geholt.‹ Aber wenn Sie den Dinosaurier dann im Fernsehen sehen, finden sie ihn gar nicht mehr interessant, wahrscheinlich sind sie enttäuscht, weil er nicht so groß ist wie zwei Häuser, und weil er nicht einmal Feuer speit. Aber so ein kleiner Neandertaler – ein echter Mensch aus der Urzeit, der zwar fremdartig aussieht, mit dem sich aber doch jeder identifizieren und an den er sein Herz hängen kann – das ist die Rettung. – Hast du das gehört, Timmie? Du bist unsere Rettung.« Hoskins wandte sich wieder an Miß Fellowes. »Wenn das Experiment nicht geklappt hätte, wäre ich am Ende gewesen. Ohne Wenn und Aber. Das ganze Unternehmen wäre am Ende gewesen.« »Ich verstehe.« »Aber jetzt ist alles in Ordnung. Bald werden die Geldquellen zu sprudeln beginnen. Man hat uns von allen Seiten Zuschüsse versprochen. Es ist einfach großartig, Miß Fellowes. Wir brauchen nur dafür zu sorgen, daß Timmie weiterhin gesund und munter ist. Wenn er obendrein vielleicht noch ein paar Worte Englisch lernen könnte – ›Hallo da draußen, hier spricht Klein-Timmie aus der Steinzeit‹…«
»Oder so ähnlich«, sagte Miß Fellowes trocken. »Oder so ähnlich. – Aber das wichtigste ist, daß er gesund und munter bleibt. Wenn ihm irgend etwas zustößt, sind wir erledigt, Miß Fellowes, für alle Zeiten. Damit sind Sie die zentrale Figur in dem ganzen Drama, ist Ihnen das klar? Wir verlassen uns auf Sie. Sie müssen eine Atmosphäre der Geborgenheit schaffen, in der der Junge gedeihen kann. Ihr Wort ist uns Befehl: Timmie bekommt, was immer er braucht. Sie hatten gestern absolut recht, als Sie sich dagegen wehrten, ihn sofort den Medien zum Fraß vorzuwerfen.« »Vielen Dank.« »Natürlich möchten wir andererseits möglichst bald eine Pressekonferenz ansetzen – es ist von größter Wichtigkeit für alle Seiten, den Öffentlichkeitswert des Timmie-Projekts tunlichst zu maximieren…« Auf einmal fand sie Hoskins wieder sehr viel weniger sympathisch und liebenswert. Der rastlose Manager war wieder zum Vorschein gekommen, der gerade dann ›Vertrauen Sie mir‹ sagte, wenn man ihm am allerwenigsten vertrauen konnte. »Soll das heißen«, fragte Miß Fellowes kühl, »daß Sie die Medien für heute nachmittag einladen wollen?« »Nun ja, wenn Sie glauben, daß er schon so weit ist…« »Das glaube ich nicht. Noch nicht.« Hoskins fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Wie gesagt, Ihr Wort ist uns Befehl. Aber geben Sie uns bitte Bescheid.« »Das werde ich tun.« »Ich meine, könnten sie sich nicht wenigstens zu einer Schätzung bereitfinden? Wie wäre es zum Beispiel mit morgen? – Oder übermorgen?«
»Können wir die Pressekonferenz nicht vorerst auf Eis legen, Doktor? Ich möchte Timmie einer solchen Belastung im Moment einfach noch nicht aussetzen. Er ist noch ganz außer Atem, muß erst wieder Boden unter die Füße bekommen, suchen Sie sich aus, welches Bild Ihnen besser gefällt. Er hat gute Fortschritte gemacht, nachdem er den ersten Schrecken überwunden hatte. Aber er kann jeden Moment wieder zu dem wilden, verängstigten Tier werden, als das Sie ihn vorgestern abend erlebt haben. Gestern hat es schon Dr. McIntyre allein geschafft, ihn nach einer Weile völlig kopfscheu zu machen.« Hoskins war sichtlich beunruhigt. »Wir können die Presse nicht unbegrenzt vertrösten, Miß Fellowes.« »Von unbegrenzt kann keine Rede sein. Ich spreche von zwei, drei oder vielleicht vier Tagen – lassen Sie mich beurteilen, wann er so weit ist, Dr. Hoskins! Mein Wort ist Befehl?« »Ihr Wort ist Befehl«, bestätigte Hoskins, aber es klang nicht sehr begeistert. Er schwieg kurz, dann sagte er: »Sie haben die Stasis seit dem Abend von Timmies Ankunft nicht mehr verlassen, Miß Fellowes? Nicht einmal für fünf Minuten?« »Nein!« rief sie empört. »Ich kenne meine Pflichten, Dr. Hoskins, und wenn Sie glauben…« »Bitte, Miß Fellowes.« Er hob lächelnd die Hand. »Ich wollte Ihnen doch nichts unterstellen. Ich bin aus einem ganz anderen Grund darauf gekommen. Es liegt nämlich wirklich nicht in unserer Absicht, Sie vierundzwanzig Stunden täglich und sieben Tage in der Woche mit dem Jungen hier einzusperren. In den ersten, kritischen Tagen war es natürlich sinnvoll, daß Sie rund um die Uhr in Bereitschaft waren. Das hatte ich Ihnen ja schon bei unserem ersten Gespräch angekündigt. Aber inzwischen scheint sich Timmie psychisch gut zu stabili-
sieren, und deshalb sollten wir nun einen Zeitplan aufstellen, der auch Freizeit und Erholungsphasen für Sie vorsieht. Ms. Stratford wird anfangs stundenweise für Sie einspringen, später können Sie vielleicht auch ganze Nachmittage freinehmen.« »Wie Sie meinen.« »Das klingt nicht sehr begeistert. Ich wußte gar nicht, daß Sie so arbeitswütig sind, Miß Fellowes.« »Ganz so ist es ja auch nicht. Die Sache ist nur die – Timmie ist noch so schrecklich verletzlich. Völlig durcheinander, von seiner Heimat, seiner Familie getrennt – er kann gar nicht genügend Liebe und Geborgenheit bekommen, wenn er verarbeiten soll, was mit ihm geschehen ist. Deshalb will ich ihn nicht gern allein lassen, auch nicht für kurze Zeit.« »Sehr lobenswert. Aber jetzt ist das Schlimmste überstanden, und Sie brauchen eine kleine Pause. Sie müssen mal wieder hier raus.« »Wenn Sie es so wünschen, Doktor.« »Ich denke, es ist zu Ihrem Besten, Miß Fellowes. Niemand kann ununterbrochen arbeiten. Außerdem sollte Timmie sich auch nicht zu sehr daran gewöhnen, Sie ständig um sich zu haben. Wenn diese Vollzeitbetreuung zu lange anhält, könnte die Abhängigkeit zu stark werden. Und dann würde er womöglich nicht mehr damit fertig, wenn Sie aus irgendeinem Grund die Stasiszone verlassen müßten. Das wäre nicht unbedingt eine gesunde Entwicklung. Können Sie mir folgen?« Miß Fellowes nickte. »Sie haben nicht ganz unrecht.« »Gut. Was hielten Sie denn von einem kleinen Experiment? Wir lassen Ms. Stratford für ein bis zwei Stunden auf Timmie aufpassen, und ich nehme Sie noch heute mit und zeige Ihnen die anderen Abteilungen des Stasislabors.«
»Nun ja…« »Sie sind wohl immer noch nicht vollends überzeugt? – Passen Sie auf, Sie bekommen einen kleinen Piepser von mir. Dann kann Ms. Stratford Sie rufen, falls sie irgendwelche Schwierigkeiten mit Timmie hat, und Sie sind innerhalb von fünf Minuten wieder hier. Vertrauen Sie mir.« »Na schön.« Miß Fellowes war dem Vorschlag nicht mehr ganz so abgeneigt. Hoskins’ Argumente leuchteten ihr ein. Nachdem Timmie die ersten beiden Tage mit ihrer Hilfe gut überstanden hatte, war es wahrscheinlich nicht schlecht, einmal auszuprobieren, wie der Junge für kurze Zeit ohne sie zurechtkam. »Ich werde den Versuch wagen. Zeigen Sie mir Ihren Dinosaurier.« »Sie bekommen eine umfassende Führung«, versprach Hoskins. »Tiere, Pflanzen und Mineralien zu gleichen Teilen.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Ich gebe Ihnen… äh… neunzig Minuten, um abzuschließen, was Sie angefangen hatten, als ich Sie heute morgen unterbrach, und um Ms. Stratford zu informieren, worauf sie achten soll. Dann komme ich wieder und hole Sie persönlich ab.« Miß Fellowes überlegte kurz. »Zwei Stunden wären mir lieber.« »Zwei Stunden? Gut. Dann bin ich Schlag elf wieder hier. Bis später. – Sie haben doch nichts mehr dagegen?« Sie lächelte. »Ich freue mich sogar darauf. – Du kannst mich doch für ein Weilchen entbehren, Timmie, nicht wahr?« Der Junge schnalzte. »Sehen Sie, Doktor? Er merkt sofort, wenn ich ihm eine Frage stelle, und antwortet mir, obwohl er nicht versteht, was ich sage. In diesem Köpfchen steckt eine wache Intelligenz.« »Davon bin ich überzeugt.« Hoskins nickte ihr lächelnd zu
und ging. Miß Fellowes machte sich wieder an ihre morgendlichen Pflichten. Irgendwann ertappte sie sich dabei, wie sie leise vor sich hinsummte. Sie hatte nicht gelogen: sie freute sich darauf, für eine Weile aus der Stasis herauszukommen. So gern sie für Timmie sorgte, auch sie brauchte hin und wieder Abwechslung. Oder reizte sie nur die Aussicht, ein paar Stunden zusammen mit Hoskins zu verbringen? Es war… – was für eine kindische Idee! –, aber eigentlich war es fast – wie eine Verabredung. Er hat einen kleinen Sohn, rief sie sich energisch in Erinnerung. Und das heißt mit ziemlicher Sicherheit, daß er auch eine Frau hat. Eine junge, hübsche Frau. Trotzdem hatte Miß Fellowes, als Hoskins um elf Uhr kam, um sie abzuholen, ihre Schwesterntracht mit einem Kleid vertauscht. Natürlich war es ein Kleid von sehr konservativem Schnitt – sie hatte gar nichts anderes –, trotzdem hatte sie sich schon seit Jahren nicht mehr so sehr als Frau gefühlt. Er lobte ihr Aussehen in wohlgesetzten Worten, und sie bedankte sich nicht weniger förmlich für das Kompliment. Ein gelungener Anfang, dachte sie. Aber was würde danach kommen?
23 Sie verabschiedete sich von Timmie und versicherte ihm, daß sie bald wiederkommen würde. Dann vergewisserte sie sich,
daß Ms. Stratford auch wußte, was er zum Mittagessen bekommen sollte und wann. Miß Fellowes hatte zunächst den Eindruck, als traue sich die junge Frau nicht so recht zu, ganz allein die Verantwortung für Timmie zu übernehmen, doch als Ms. Stratford erwähnte, für den Fall, daß der Junge schwierig würde, halte sich Mortenson in Bereitschaft, da begriff Miß Fellowes, daß sie mehr Angst davor hatte, in eine wilde Schlacht verwickelt zu werden, als davor, daß Timmie unter ihrer Obhut zu Schaden kommen könnte. Vielleicht sollte man dem Mädchen besser andere Aufgaben übertragen, dachte sie. Aber im Moment blieb ihr gar nichts anderes übrig, als Timmie in ihre Hände zu geben. Und über den Piepser in ihrer Geldbörse war sie ja notfalls rasch zu erreichen. Timmie ließ ein kurzes Wimmern hören – Überraschung? Oder Angst? – als sie mit Hoskins durch die Tür ging. »Keine Sorge, Timmie! Ich komme wieder! Ich bin bald wieder da!« Die Trennung mußte einmal vollzogen werden, dachte sie. Je früher, desto besser, für den Jungen wie für sie. Das Labyrinth aus grell erleuchteten Korridoren und widerhallenden Gewölben und die tristen Metalltreppen, über die Hoskins sie nach oben führte, hatte Miß Fellowes bereits am Abend von Timmies Ankunft kennengelernt, an jenem Abend, der ihr inzwischen nur noch wie ein böser Traum erschien. Danach ging es ein paar Schritte ins Freie. Es war ein klarer, goldener Tag, und die Mittagssonne schien so hell, daß sie die Augen schließen mußten. Schließlich betraten sie ein Gebäude, das ebenso trostlos anmutete wie der Schuppen, in dem sich Timmies Stasiszelle befand. »Das ist das alte Stasislabor«, erklärte Hoskins. »Hier hat alles angefangen.«
Wieder mußten sie Sicherheitskontrollen über sich ergehen lassen; wieder führte der Weg über klappernde Treppen, durch muffige Gänge und bedrückend höhlenähnliche Gewölbe. Endlich standen sie im Herzen der Forschungsanlage. Hier herrschte noch sehr viel mehr Betrieb als drüben. Männer und Frauen in weißen Kitteln liefen mit Berichten, Akten und Computerwürfeln hin und her. Hoskins sprach die meisten von ihnen mit Vornamen an und wurde ebenso zurückgegrüßt. Miß Fellowes fand diesen zwanglosen Ton ziemlich störend. Aber wir sind hier nicht im Krankenhaus, ermahnte sie sich. Dies ist lediglich ein Arbeitsplatz für die Leute. Das ist ein Unterschied. »Tiere, Pflanzen und Mineralien«, sagte Hoskins. »Wie versprochen. Die Tiere sind gleich da unten. Sie sind unsere größten Attraktionen. Timmie natürlich ausgenommen.« Der Raum war in zahlreiche Bereiche unterteilt, lauter einzelne Stasiszonen, die freilich etwas kleiner waren als Timmies Puppenhaus. Hoskins führte sie zu einem Fenster und ließ sie hineinschauen. Was sie sah, erschien ihr auf den ersten Blick wie ein Huhn mit Schuppen und einem Schwanz, das auf zwei dünnen Beinchen hektisch von Wand zu Wand rannte und dabei nervös nach allen Richtungen schaute. Aber ein solches Huhn hatte es nie gegeben: anstelle von Flügeln hatte es zwei dünne Armchen mit handähnlichen Pfoten, die sich unentwegt öffneten und schlossen. Der schmale, zarte Kopf mit den scharlachroten, unheimlich glitzernden Äuglein erinnerte an einen Vogel. Den Schädel krönte ein Knochengrat, der Form nach einem Hahnenkamm ähnlich, aber leuchtend blau. Der Körper war dunkelgrün mit helleren Streifen und glänzte wie ein
Schlangenleib. Der dünne Schwanz peitschte unruhig hin und her. »Das ist unser Dinosaurier«, sagte Hoskins. »Er war unser ganzer Stolz – bis Timmie kam.« »Ein Dinosaurier? Das?« »Ich sagte Ihnen ja, daß er sehr klein ist. Ihnen wäre eine Riesenechse wohl auch lieber, Miß Fellowes?« Sie lächelte. »Vermutlich, ja. Aber das ist doch ganz natürlich. Wenn man das Wort Dinosaurier hört, denkt man sofort an ein riesiges Ungeheuer. Und der hier ist, nun ja, geradezu winzig.« »Wir wollten auch gar keinen größeren, glauben Sie mir. Was denken Sie, was hier los wäre, wenn plötzlich ein ausgewachsener Stegosaurus in die Stasis gedonnert käme und durch das Labor stapfte. Sechs Staaten könnten nicht genügend Elektrizität erzeugen, um ein Stasisfeld für ein Wesen dieser Größe aufzubauen. Und selbst wenn wir die nötige Energie bekommen könnten, wäre die Technik noch nicht weit genug entwickelt, um uns den Transport von Massen dieser Größe zu gestatten.« Miß Fellowes sah ihn fasziniert an. Sie fröstelte unwillkürlich. Ein lebender Dinosaurier! Ja, es war eine phantastische Leistung! Warum war er nur so klein? Er sah eher aus wie ein gerupftes Huhn oder eine ausgefallene Eidechsenart. »Wie kann dieses Tierchen ein Dinosaurier sein, obwohl es nicht groß ist?« »Weil die Größe nicht das entscheidende Merkmal ist, Miß Fellowes. Ein Tier wird dann als Dinosaurier klassifiziert, wenn es einen bestimmten Knochenbau aufweist. In erster Linie geht es dabei um die Anatomie des Beckens. Bei den
heutigen Reptilien sind die Gliedmaßen seitlich angesetzt, etwa so. Denken Sie nur an Krokodile oder Eidechsen. Sie haben keinen schreitenden, sondern eher einen watschelnden Gang, nicht wahr? Es gibt kein Krokodil, das aufrecht auf den Hinterbeinen herumlaufen würde. Die Dinosaurier hatten ein ähnliches Becken wie die Vögel. Wie jedermann weiß, konnten sie aufrecht gehen wie die heutigen Zweibeiner. Stellen Sie sich einen Strauß oder einen von den langbeinigen Stelzvögeln vor. Eigentlich brauchen Sie nur an die Befestigung Ihrer eigenen Beine zu denken. Selbst bei denjenigen Dinosauriern, die sich auf allen vieren fortbewegten, um dem Boden näher zu sein, gingen die Beine senkrecht vom Becken ab und nicht seitlich wie bei einer Eidechse. Es handelt sich um einen anderen Zweig der Evolution, der von den Dinosaurierreptilien über die Vögel zu den Säugetieren führte. Und die Gattung Saurier ist ausgestorben. Die Große Katastrophe am Ende des Mesozoikums überlebten nur die Reptilien mit der anderen Beckenform.« »Ich verstehe. Und es gab nicht nur große, sondern auch kleine Dinosaurier. Aber unsere Phantasie spricht eben zufällig gerade auf die großen an.« »Richtig. Das sind die Berühmtheiten, vor denen in den Museen alles Schlange steht. Aber viele Arten wurden nur bis zu einem Meter groß. Wie der hier zu Beispiel.« »Jetzt verstehe ich, warum die Öffentlichkeit so schnell das Interesse verloren hat. Er macht einem keine Angst. Man ist nicht einmal sonderlich beeindruckt.« »Die Laien haben das Interesse verloren, Miß Fellowes. Für die Wissenschaftler ist dieses Kerlchen hier nach wie vor eine Offenbarung, glauben Sie mir. Es wird Tag und Nacht studiert, und man hat bereits einige hochinteressante Entdeckun-
gen gemacht. Zum Beispiel konnten wir feststellen, daß er kein eindeutiger Kaltblüter ist. Damit wurde eine der umstrittensten Theorien bestätigt, die jemals über Dinosaurier aufgestellt wurden. Anders als alle heutigen Reptilienarten verfügen sie nämlich über eine Methode, im Körperinneren eine Temperatur zu erzeugen, die höher ist als die Temperatur ihrer Umgebung. Die Methode ist zwar keineswegs perfekt – aber ihre Existenz stützt die Vermutung, die schon durch das Skelett nahegelegt wurde: Die Dinosaurier stehen in einer direkten Entwicklungslinie, die zu den Vögeln und weiter zu den Säugetieren führt. Was Sie hier vor sich sehen, ist einer unserer entferntesten Vorfahren, Miß Fellowes.« »Stören Sie in diesem Fall nicht die gesamte Entwicklungsgeschichte, indem Sie ihn aus seiner eigenen Zeit reißen? Wenn dieser eine Dinosaurier nun das Schlüsselglied in der gesamten Evolutionskette gewesen wäre?« Hoskins lachte. »So einfach funktioniert die Evolution nun wieder nicht, fürchte ich. Nein, es besteht keine Gefahr, daß wir die Entwicklungsgeschichte verändern. Allein die Tatsache, daß wir alle immer noch hier sind, obwohl wir diesen Burschen hundert Millionen Jahre weit durch die Zeit geschleppt haben, sollte als Beweis genügen.« »Mag sein. – Ist es ein Männchen oder ein Weibchen?« »Ein Männchen«, sagte Hoskins. »Leider. Seit wir ihn hergeholt haben, sind wir bemüht, ein zweites Exemplar der Gattung ins Visier zu bekommen, das dann vielleicht weiblichen Geschlechts wäre. Aber dagegen ist die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen ein Kinderspiel.« »Wozu wollen Sie denn ein Weibchen?« Er kräuselte spöttisch die Lippen. »Um ein paar befruchtete
Eier und damit die Chance zu bekommen, im Labor eine Familie von Dinosaurierbabies zu züchten.« Es war eine dumme Frage gewesen. »Natürlich.« »Gehen wir weiter«, sagte Hoskins. »Das hier ist die Trilobitenabteilung. Sie wissen, was Trilobiten sind, Miß Fellowes?« Sie antwortete nicht, weil sie den kleinen Dinosaurier beobachtete, der so kopflos in seinem engen Gefängnis hin- und herrannte. Er tat ihr leid. Jedesmal prallte er wieder mit voller Wucht gegen die Wand und wurde zurückgeworfen, bevor er umkehrte. Offenbar war er zu dumm, um zu begreifen, daß er hier nicht mehr einfach weiterlaufen konnte, hinaus ins Freie, in die modrigen Sümpfe und die feuchtheißen Wälder seiner prähistorischen Heimat. Unwillkürlich kam ihr Timmie in den Sinn, der drüben im anderen Gebäude in seinen engen Räumen ähnlich eingepfercht war. »Miß Fellowes, ich hatte gefragt, ob Sie wissen, was Trilobiten sind!« »Wie? Ach… ach so. Ja. Eine ausgestorbene Hummerart, wenn ich mich nicht irre.« »Nicht ganz. Es sind zwar Krebstiere, und sie sind tatsächlich ausgestorben, aber mit Hummern haben sie keinerlei Ähnlichkeit. Mit keinem heutigen Lebewesen, wie ich hinzufügen möchte. Einstmals, vor einer halben Milliarde Jahren waren sie allerdings die beherrschende Lebensform auf der Erde, die Krone der Schöpfung. Damals gab es Trilobiten, wohin man auch schaute. Zu Millionen krochen sie über den Boden jedes Ozeans. Und dann sind sie alle ausgestorben: warum, das wissen wir bis heute nicht. Sie haben keine Nachkommen hinterlassen, sie haben nicht einmal ihre Gene ver-
erbt. Sie waren da, sie waren fruchtbar und vermehrten sich, und dann verschwanden sie, als ob sie nie dagewesen wären. Unter Zurücklassung ungeheurer Mengen von Fossilien.« Miß Fellowes spähte in den Trilobitentank. Sechs oder sieben graugrüne, etwa zehn Zentimeter lange Gebilde hockten träge in einem grauen Schlammbett. In den Gezeitenpfützen am Meer blieben oft ähnliche Geschöpfe zurück. Die schmalen, ovalen, offenbar harten Körper wurden von tiefen Längskerben in ein erhabenes Mittelstück und zwei kleinere, mit winzigen Stacheln versehene Seitenlappen unterteilt. An einem Ende befanden sich große, schwarze Facettenaugen, die auch einem Insekt hätten gehören können. Und jetzt fuhr ein Trilobit eine ganze Batterie winziger, mehrfach gegliederter Beinchen aus und begann langsam – sehr langsam – über den Tankboden zu kriechen. Die Krone der Schöpfung. Die beherrschende Lebensform seiner Zeit. Ein Mann im weißen Kittel schob einen Wagen mit einem komplizierten Apparat heran, wie ihn Miß Fellowes noch nie gesehen hatte. Der Mann begrüßte Hoskins freundlich und schenkte auch Miß Fellowes ein flüchtiges Grinsen. »Das ist Tom Dwayne von der Washington University«, sagte Hoskins. »Einer unserer Trilobitenspezialisten. Tom ist Atomchemiker. – Tom, darf ich dir Edith Fellowes vorstellen, unsere Krankenschwester, eine großartige Frau. Sie hat die Betreuung unseres kleinen Neandertalers übernommen.« Diesmal fiel das Lächeln schon sehr viel herzlicher aus. »Es ist mir eine große Ehre, Sie kennenzulernen, Dr. Fellowes. Sie haben sich da eine ungeheure Verantwortung aufgeladen.« »Miß Fellowes«, sagte sie, bemühte sich jedoch, es nicht allzu spießig klingen zu lassen. – »Aber wenn die Frage erlaubt
ist, was hat ein Atomchemiker mit Trilobiten zu tun?« »Nun, eigentlich studiere ich nicht die Trilobiten an sich«, erklärte Dwayne, »sondern die chemische Zusammensetzung des Wassers, das mit ihnen hierhergekommen ist.« »Tom untersucht das Isotopenverhältnis im Sauerstoff des Wassers«, erläuterte Hoskins. »Und wozu soll das gut sein?« Diesmal antwortete Dwayne selbst. »Es handelt sich um urzeitliches Wasser, mindestens fünfhundert, vielleicht sechshundert Millionen Jahre alt. Aus dem Isotopenverhältnis können wir darauf schließen, welche Temperatur damals in den Ozeanen vorherrschte – ich kann Ihnen das gern genauer erklären, wenn Sie möchten – und aus den Meerestemperaturen lassen sich alle möglichen Erkenntnisse über die klimatischen Bedingungen unseres Planeten in der Urzeit ableiten. Zur Blütezeit der Trilobiten war die Erde nämlich zum größten Teil mit Wasser bedeckt.« »Sie sehen also, Miß Fellowes, die Trilobiten sind Tom im Grunde ziemlich egal. Er betrachtet sie allenfalls als lästiges Ungeziefer, das in seinem kostbaren Urwasser herumkriecht. Die Wissenschaftler, die sich mit den Trilobiten selbst befassen, haben es sehr viel leichter. Sie brauchen die Biester nur zu sezieren, und dazu genügt ihnen ein Skalpell und ein Mikroskop, während der arme Tom jedesmal, wenn er ein Experiment durchführen will, hier drin seinen Massenspektrographen aufbauen muß.« »Wieso das denn? Kann er denn nicht…« »Nein, das kann er nicht. Er darf nichts aus der Stasis entfernen, das ist ein ehernes Gesetz. Das Gleichgewicht des Zeitpotentials muß erhalten bleiben.« »Das Gleichgewicht des Zeitpotentials«, wiederholte Miß
Fellowes, als habe Hoskins Lateinisch gesprochen. »Ein thermodynamisches Problem. Bei jeder Zeitreise werden temporale Kraftlinien überquert. Das Potential, das sich dabei aufbaut, wird in der Stasis neutralisiert. Und dabei muß es auch bleiben.« »Aha«, sagte Miß Fellowes. Mit Physik hatte sie sich im Verlauf ihrer Ausbildung kaum befassen müssen, deshalb gingen solche Erklärungen mehr oder weniger über ihren Kopf hinweg. Vielleicht war das auch eine Reaktion auf die unangenehmen Erinnerungen an ihre Ehe. Ihr Exgatte hatte sich stundenlang über die ›Poesie‹, das Mysterium, den Zauber, die Schönheit physikalischer Vorgänge auslassen können. Das mochte ja alles stimmen. Aber Miß Fellowes hatte nun einmal keine Lust, sich eingehender mit Dingen zu beschäftigen, die mit ihrem früheren Mann in Zusammenhang standen. »Wollen wir Tom jetzt seinen Trilobiten überlassen und weitergehen?« fragte Hoskins. Als nächstes sahen sie sich urzeitliche Gewächse in hermetisch versiegelten Kammern an – seltsame, mit Schuppen bedeckte Pflänzchen, nicht besonders reizvoll, eher unheimlich – und Teile von Felsformationen, die sich, soweit Miß Fellowes sehen konnte, von Steinen aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert in nichts unterschieden. Das war der pflanzliche und mineralische Teil der Sammlung. Tiere, Pflanzen und Mineralien, genau wie Hoskins gesagt hatte: man hatte die Naturgeschichte der Vergangenheit gründlich geplündert. Und zu jeder Probe gehörte ein Wissenschaftler. Das Gebäude glich einem Museum, das man zum Leben erweckt und in ein Forschungszentrum umgewandelt hatte, in dem es nun zuging wie in einem Bienenstock. »Und das alles untersteht Ihrer Aufsicht, Dr. Hoskins?«
»Nur indirekt, Miß Fellowes. Dafür habe ich gottlob meine Spezialisten. Ich bin schon mit der verwaltungstechnischen Seite der Unternehmensleitung dreifach ausgelastet.« »Aber eigentlich sind Sie kein Betriebswirtschafter.« Sie hatte nicht vergessen, wie stolz er auf seinen Dr. rer. nat. war. »Im Grunde sind Sie Physiker und eher zufällig in die Rolle des leitenden Angestellten hineingerutscht, nicht wahr?« Er nickte wehmütig. »›Hineingerutscht‹ ist das richtige Wort. Angefangen habe ich als Theoretiker. Meine Doktorarbeit hatte ich über das Wesen der Zeit und über das Verfahren der intertemporalen Mesonenerfassung geschrieben. Als wir die Firma gründeten, sah ich mich immer nur als Leiter der Forschungsabteilung. Aber dann gab es – nun ja, Probleme, und zwar nicht im technischen Bereich. Die Banken haben uns wegen der Art und Weise, wie wir unsere Geschäfte führten, ordentlich die Meinung gesagt. Daraufhin rollten in den höchsten Führungsebenen einige Köpfe, eins kam zum anderen, und ehe ich mich versah, sahen mich alle an und sagten: ›Du mußt den Generaldirektor spielen, Jerry, du bist der einzige, der Ruhe in den Laden bringen kann.‹ Ich war dumm genug, darauf reinzufallen, und jetzt, nun ja…« Er grinste verlegen. »Jetzt sitze ich also hinter meinem protzigen Mahagonischreibtisch, schiebe Papierstapel hin und her, fordere Berichte ein, halte Sitzungen ab und sage den Leuten, was sie tun sollen. Und insgesamt bleiben mir vielleicht jeden Tag zehn Minuten Zeit, um mir über meine eigenen Forschungsprojekte Gedanken zu machen.« Miß Fellowes hatte unwillkürlich Mitleid mit ihm. Endlich verstand sie den Zusatz ›Dr. rer. nat‹ auf dem Namensschild, das auf seinem Schreibtisch stand. Es war keine Prahlerei, er wollte nur immer wieder daran erinnern, wer und was er
eigentlich war. Wie traurig, dachte sie. »Wenn sie sich das Geschäftliche vom Hals schaffen könnten«, sagte sie, »wo lägen dann Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte?« »Probleme des Temporaltransfers über kurze Zeitabstände. Keine Frage. Ich möchte ein Verfahren erarbeiten, mit dem man Dinge orten kann, die von uns aus gesehen innerhalb der derzeitigen Grenze von 10.000 Jahren liegen. Bislang gibt es ein paar vielversprechende Ansätze, aber weiter sind wir noch nicht gekommen. Es ist eine Frage der verfügbaren Mittel – finanziell wie technisch gesehen – und der Prioritäten. Man hat sich mit den Einschränkungen zu leicht abgefunden. Aber stellen Sie sich vor, wir könnten Kontakt zu historischen Epochen aufnehmen, Miß Fellowes – mit den Ägyptern aus der Zeit der Pharaonen, mit den Bewohnern Babylons, des alten Rom oder Griechenlands…« Er brach ab. Von einer der entfernteren Zellen drang Lärm herüber. Miß Fellowes hörte eine dünne, aufgeregte Stimme. Hoskins runzelte die Stirn, entschuldigte sich hastig und stürmte im Laufschritt davon. Miß Fellowes folgte ihm, so rasch sie konnte, ohne ihrerseits zu laufen. Sie wollte in diesem Gemischtwarenladen aus grauer Vorzeit nicht gern allein bleiben. Ein älterer Mann in Straßenkleidung mit einem dünnen, grauen Bart und zornrotem Gesicht befand sich in einem heftigen Wortwechsel mit einem weit jüngeren Techniker, der das rotgoldene Abzeichen der Stasis GmbH an seinem weißen Kittel trug. Der ältere Mann rief aufgebracht: »Ich habe wesentliche Teile meiner Untersuchungen noch nicht abgeschlossen. Können Sie das denn nicht verstehen?«
Hoskins trat hastig dazwischen. »Was geht hier vor?« »Er hat versucht, ein Objekt zu entfernen, Dr. Hoskins«, sagte der Techniker. »Aus der Stasis?« fragte Hoskins mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ist das Ihr Ernst?« Er wandte sich an den älteren Mann. »Das kann ich mir gar nicht vorstellen, Professor Adamewski.« Der ältere Mann zeigte auf die nächste Stasiszelle. Miß Fellowes schaute durch das Fenster, aber alles, was sie sah, war ein grauer Labortisch mit einem ganz gewöhnlichen Felsbrocken darauf und einigen Fläschchen, die vermutlich Reagenzflüssigkeiten enthielten. »Es gibt noch ungeheuer viel zu tun, um den Nachweis zu führen…«, begann Adamewski. Der Techniker fiel ihm ins Wort. »Dr. Hoskins, Professor Adamewski wußte von Anfang an, daß diese Chalkopyritprobe nur zwei Wochen lang hierbleiben konnte. Und die Zeit läuft heute ab.« »Zwei Wochen!« fuhr Adamewski auf. »Welcher Wissenschaftler kann im voraus sagen, wie lange ein Forschungsvorhaben dauert? Hat Röntgen seine berühmten Strahlen etwa innerhalb von zwei Wochen entdeckt? Hat Rutherford sein Atommodell in zwei Wochen aufgestellt? Hat…« »Aber für dieses Experiment waren nun einmal nur zwei Wochen vorgesehen«, beharrte der Techniker. »Und das hat er gewußt.« »Na und? Ich konnte nicht garantieren, daß ich meine Arbeit in so kurzer Zeit fertigstellen würde. Kann ich etwa in die Zukunft schauen, Dr. Hoskins? Zwei Wochen, drei Wochen, vier – wichtig ist doch nur, daß das Problem gelöst wird.«
»Die Schwierigkeit ist nur, Professor«, sagte Hoskins, »daß unsere Möglichkeiten hier begrenzt sind. Wir haben nur eine bestimmte Anzahl von Stasiszellen, aber es gibt unendlich viele Projekte. Deshalb müssen wir die Objekte rasch auswechseln, und so muß auch dieses Stück Chalkopyrit dahin zurück, wo es hergekommen ist. Für seine Stasiszelle gibt es eine ellenlange Warteliste.« »Wen interessiert denn Ihre Stasiszelle?« schrie Adamewski. »Ich nehme die Gesteinsprobe einfach mit und schließe die Untersuchungen an meiner Universität ab. Wenn ich fertig bin, bekommen Sie sie zurück.« »Sie wissen, daß das unmöglich ist.« »Es ist doch nur ein Klumpen Chalkopyrit! Ein Stein von lächerlichen drei Kilogramm, wirtschaftlich gesehen völlig wertlos! Warum denn nicht?« »Weil wir uns den Energieverlust nicht leisten können!« sagte Hoskins. »Und das wissen Sie genau. Alles, was ich Ihnen sage, ist Ihnen längst bekannt, also spielen Sie hier nicht den Ahnungslosen.« Wieder mischte sich der Techniker ein. »Der springende Punkt, Dr. Hoskins, ist folgender: er hat allen Vorschriften zum Trotz versucht, den Stein mit hinauszunehmen. Ich hätte beinahe die Stasis aufgehoben, weil ich nicht wußte, daß er sich im Innern der Zelle befand.« Eisiges Schweigen trat ein. Schließlich wandte sich Hoskins an den Wissenschaftler und fragte sehr distanziert: »Ist das wahr, Professor?« Adamewski war sichtlich verlegen geworden. »Ich dachte, es könnte nichts schaden…« »Nichts schaden? Nichts schaden?« Hoskins schüttelte den Kopf. Man sah ihm an, daß er seinen Zorn nur mit Mühe
beherrschte. Vor dem Raum mit Professor Adamewskis Gesteinsprobe hing ein roter Griff mit einer Nylonschnur, die in die Stasiskammer hineinführte, von der Decke herab. Diesen Griff packte Hoskins nun kurz entschlossen und zog daran. Miß Fellowes hatte ins Innere der Stasiszelle geschaut, nun zischte sie erschrocken durch die Zähne. Der Stein war plötzlich von einer grellweißen Lichtsäule umgeben, rotgrüne Blitze spielten um seine Ränder. Bevor sie die Augen schließen konnte, war das Licht schon wieder verschwunden. Und mit ihm der Felsbrocken. Er war einfach nicht mehr da. Der graue Labortisch war leer. Adamewski schnappte empört nach Luft. »Was haben Sie denn…« Hoskins ließ ihn nicht ausreden. »Sie können Ihren Arbeitsplatz räumen, Professor«, sagte er schroff. »Ihre Genehmigung, Material in der Stasis zu untersuchen, verliert hiermit unwiderruflich ihre Gültigkeit.« »Warten Sie. Sie können doch nicht…« »Bedaure, ich kann durchaus, Professor. Und ich bleibe dabei. Sie haben gegen eine unserer wichtigsten Bestimmungen verstoßen.« »Ich werde mich bei der Internationalen Gesellschaft für…« »Beschweren Sie sich ruhig«, sagte Hoskins. »Man wird Ihnen sagen, daß die Entscheidung in solchen Fällen allein bei mir liegt.« Damit ließ er den immer noch protestierenden Professor einfach stehen und wandte sich Miß Fellowes zu. Die hatte die peinliche Szene mit wachsendem Unbehagen beobachtet und wäre sehr froh gewesen, wenn ihr Piepser sich gemeldet und ihr einen Grund geliefert hätte, sich zu entfernen.
Hoskins war blaß vor Zorn. »Es tut mir sehr leid, daß unsere Führung auf so unerfreuliche Weise unterbrochen wurde, Miß Fellowes. Aber hin und wieder muß man hart durchgreifen. Gibt es hier drin noch etwas, das Sie gerne sehen möchten – oder haben Sie vielleicht noch Fragen?« »Seien Sie mir nicht böse, Doktor, aber ich denke, ich habe genug gesehen. Ich sollte jetzt wohl wieder zu Timmie zurück.« »Aber Sie sind doch erst seit…« »Trotzdem ist es vielleicht besser.« Hoskins bewegte die Lippen wie zu einer stummen Bitte. Schließlich sagte er: »Rufen Sie doch Ms. Stratford an und fragen Sie, wie es Timmie geht. Wenn mit dem Jungen alles in Ordnung ist, könnten Sie Ihren Ausgang vielleicht ein wenig verlängern. Ich möchte Sie nämlich gern zum Mittagessen einladen, Miß Fellowes.«
24 Sie gingen in die Firmenkantine, in den kleinen Nebenraum für höhere Angestellte. Hoskins grüßte ganz unbefangen nach allen Seiten und stellte Miß Fellowes jedem vor. Sie wäre am liebsten im Erdboden versunken. Was werden die Leute denken, wenn sie uns zusammen sehen? fragte sie sich, während sie sich verzweifelt bemühte, so zu tun, als sei das alles nichts Besonderes. Wenn sie wenig-
stens ihre Schwesterntracht anbehalten hätte. Es wäre sehr viel einfacher gewesen, sich hinter ihrer Funktion zu verschanzen, anstatt sich der Welt als Person zu stellen. Die Kantine erhob nicht den Anspruch, ein Feinschmeckerlokal zu sein. Verschiedene Salate, Sandwiches, Obst, Brötchen – damit war die Auswahl auch schon erschöpft. Schon gut: sie war noch nie eine Anhängerin üppiger Tafelfreuden gewesen, schon gar nicht am Mittag. Und in den vielen Jahren im Krankenhaus hatte sie sich an das Kantinenessen nicht nur gewöhnt, sondern sogar eine ausgesprochene Vorliebe dafür entwickelt. So stellte sie sich an der Theke nur eine einfache Mahlzeit zusammen: einen Teller mit grünem Salat, Erdbeeren und Orangenscheiben, zwei Scheiben Roggenbrot und eine kleine Flasche Buttermilch. Als sie am Tisch saßen, fragte sie: »Haben Sie öfter solchen Ärger, Dr. Hoskins? So wie eben mit dem Professor, meine ich.« »Das war ganz neu«, antwortete er. »Natürlich muß ich den Leuten immer wieder erklären, daß es nicht angeht, Versuchsobjekte aus der Stasis mitzunehmen, nur weil die Zeit abgelaufen ist. Aber dies ist das erstemal, daß jemand es tatsächlich versucht hat.« »Es hätte sicher ungeheure Probleme mit… äh… mit dem Gleichgewicht des Zeitpotentials aufgeworfen?« »Genau.« Hoskins war sichtlich erfreut, daß sie sich den Ausdruck gemerkt hatte. »Wir haben uns natürlich bemüht, auch solche Möglichkeiten mit einzukalkulieren. Fehler kann man nie ganz ausschließen, und deshalb haben wir spezielle Notstromanlagen bauen lassen, die den Energieverlust auffangen, wenn versehentlich Gegenstände aus der Stasis entfernt werden. Aber deshalb wollen wir noch lange nicht, daß binnen
einer halben Sekunde der Energieverbrauch eines ganzen Jahres zum Schornstein hinausgeht. Das könnten wir uns einfach nicht leisten, oder wir müßten auf Monate hinaus alle anderen Aktivitäten einschränken, um die Kosten wieder aufzufangen. – Aber das Schlimmste ist, daß der Professor in dem Moment, als die Stasis aufgehoben werden sollte, in dem betreffenden Raum gewesen wäre.« »Was wäre dann mit ihm geschehen?« »Nun, wir haben Versuche mit unbelebten Objekten angestellt – das heißt nein, auch mit Mäusen –, und alles, was sich im Moment der Aufhebung im Raum befunden hat, ist verschwunden.« »In die Vergangenheit, meinen Sie?« »Vermutlich. Wenn das Objekt in seine ursprüngliche Zeit zurückschnellt, entsteht wohl so etwas wie ein Sog, dem nichts standhalten kann. Das ist jedenfalls unsere Theorie, und es gibt keinen Anlaß, daran zu zweifeln: sobald ein Objekt sich anschickt, seinen angestammten Platz in der Raum-ZeitMatrix wieder einzunehmen, werden in seiner unmittelbaren Umgebung derart starke Kräfte frei, daß alles mitgerissen wird, was sich dort befindet. Die Massenbeschränkungen gelten offenbar nur in einer Richtung. Wenn mit der Gesteinsprobe ein Elefant in der Zelle gewesen wäre, hätte ihn das gleiche Schicksal ereilt. Ich will mir gar nicht vorstellen, in welchem Ausmaß dabei die Gesetze der Thermodynamik verletzt worden wären.« »Der Labortisch ist dageblieben«, gab Miß Fellowes zu bedenken. Hoskins grinste. »Ja, das stimmt. Auch Fußboden und Fenster. Die Kräfte sind nicht unbegrenzt wirksam. Das ganze Gebäude können sie nun doch nicht mitnehmen. Und sie
scheinen auch nicht stark genug zu sein, um Gegenstände in den Zeitstrom zu stoßen, die fest verankert sind. Nur, was lose herumliegt, wird hinweggefegt. Deshalb müssen wir in der Stasis alles außer dem eigentlichen Transferobjekt irgendwie befestigen, und das ist manchmal ziemlich kompliziert.« »Aber der Professor wäre nicht verankert gewesen.« »Nein«, sagte Hoskins. »Der Idiot wäre mit seinem Felsen geradewegs ins Pliozän geschnalzt.« »Was für ein schreckliches Schicksal!« »Das kann man wohl sagen. Obwohl ich ihm, weiß Gott, keine Träne nachweinen würde. Wer dumm genug ist, gegen die Vorschriften zu verstoßen, und infolgedessen am falschen Ort und in der falschen Zeit in eine unangenehme Situation gerät, dem geschieht ganz recht. Letzten Endes wären freilich doch wir die Leidtragenden gewesen. Können Sie sich den Prozeß vorstellen, den man uns angehängt hätte?« »Aber wenn er doch seinen Tod selbst verschuldet hätte…« »Sie haben ja keine Ahnung, Miß Fellowes. In diesem Land kommen seit Jahrzehnten unzählige Idioten durch eigene Schuld zu Schaden, und ihre Anwälte schaffen es immer wieder, anderen die Verantwortung dafür zuzuschieben. Der Betrunkene, der vor einen Zug stürzt – der Einbrecher, der durch ein Dachfenster fällt und sich einen Schädelbruch zuzieht – der Schuljunge, der von hinten auf einen Bus klettert und heruntergeschleudert wird – was glauben Sie, welche Unsummen an Schmerzensgeldern sie zugesprochen bekommen? Adamewskis Erben hätten uns Fahrlässigkeit vorgeworfen, mit der Begründung, wir hätten vor Aufhebung der Stasis sicherheitshalber kontrollieren müssen, ob der Raum auch leer war. Und die Gerichte hätten dem stattgegeben, ohne sich darum zu kümmern, daß der Mann in keiner Weise berechtigt
war, sich in die Stasiszelle zu schleichen, um das Objekt zu stehlen. – Selbst wenn wir den Prozeß gewonnen hätten, Miß Fellowes, können Sie sich das Geschrei vorstellen, wenn die Sache publik geworden wäre? Liebenswerter, greiser Wissenschaftler bei Stasisunfall ums Leben gekommen! Zeitreise mit schrecklichen Gefahren verbunden! Ungeahnte Risiken für die Öffentlichkeit? Tödliche Strahlenfelder durch Stasis nicht auszuschließen! Verbrecherische Experimente hinter den Toren der Stasis GmbH! Versuche einstellen! Versuche einstellen! – Verstehen Sie, was ich meine? Wir wären über Nacht zu gräßlichen Ungeheuern geworden, und sämtliche Geldquellen wären versiegt – einfach so!« Hoskins schnippte mit den Fingern, dann starrte er mit finsterer Miene vor sich hin und stocherte lustlos in seinem Essen herum. »Hätten Sie ihn nicht zurückholen können?« fragte Miß Fellowes. »Sie haben den Felsbrocken doch auch hergeholt?« »Sobald wir ein Objekt zurückgeschickt haben, reißt die Verbindung ab, es sei denn, wir hätten von vornherein dafür gesorgt, daß sie bestehen bleibt, und das wäre in diesem Fall nicht geschehen. Eigentlich tun wir das so gut wie nie. Es gibt keinen Grund dafür. Um den Professor wiederzufinden, müßten wir den Kontakt über etwa fünf Millionen Jahre hinweg gezielt wieder aufbauen, und das wäre etwa so, als hielte man eine Angel in den Ozean, um einen ganz bestimmten Fisch herausziehen. – Mein Gott, ich darf gar nicht daran denken, was wir alles unternommen haben, um solche Unfälle zu vermeiden, sonst packt mich die Wut. Jede einzelne Stasisblase kann separat aufgelöst werden – das muß so sein, denn jede Zelle unterhält eine eigene Verbindung und muß daher unabhängig sein. Das wichtigste ist jedoch, daß die Aufhebung erst in allerletzter Minute erfolgt, und daß es dafür nur
einen einzigen Weg gibt – Sie haben es gesehen, nicht wahr? Man muß an einem Griff ziehen, der sich natürlich außerhalb der Stasis befindet, eine rein mechanische Konstruktion, die nur mit gezieltem Kraftaufwand, also auf keinen Fall versehentlich bedient werden kann.« »Sie hätten Professor Adamewski also einfach im – wie sagten Sie noch? – im Pliozän zurücklassen müssen?« »Eine andere Möglichkeit hätte es nicht gegeben.« »Und das Pliozän war vor fünf Millionen Jahren.« »Genauer gesagt hat es vor etwa zehn Millionen Jahren begonnen und etwa acht Millionen Jahre gedauert. Aber dieser Felsen stammte aus der Zeit vor fünf Millionen Jahren.« »Glauben Sie, daß der Professor dort sehr lange überlebt hätte?« Hoskins zuckte die Achseln. »Nun, das Klima wäre vermutlich noch nicht so rauh wie später in der Eiszeit, aus der Ihr Timmie kommt, und die Atmosphäre wäre mehr oder weniger die gleiche, wie wir sie heute atmen – natürlich ohne die ganzen Abgase, die wir in den letzten zweihundert Jahren hineingepustet haben. Wenn Adamewski also ein Jäger wäre und sich auf Pflanzen verstünde, was ich allerdings sehr bezweifle, hätte er sich wohl eine Weile durchschlagen können. In diesem Fall gäbe ich ihm zwei Wochen bis zwei Monate.« »Nur einmal angenommen, er würde in dieser Zeit eine Pliozänfrau kennenlernen, die Gefallen an ihm fände und ihm beibrächte, als Sammler zu leben?« Plötzlich hatte Miß Fellowes eine noch verrücktere Idee. »Am Ende würde er sich sogar mit ihr paaren, und dann würden sie Kinder bekommen. Ein moderner Mann und eine Frau aus der Urzeit, das ergäbe einen völlig neuen Gentypus. Würde sich damit nicht der Lauf
der Geschichte ändern? Und wäre das nicht das größte Risiko, wenn man den Professor einfach in der Vergangenheit aussetzte?« Hoskins kämpfte mühsam einen Lachanfall nieder. Miß Fellowes wurde rot. »Jetzt habe ich wohl etwas sehr Dummes gesagt?« Er konnte erst nach einer Weile antworten. »Dumm? Nein, das wäre etwas zu hart ausgedrückt. – Ich würde lieber sagen, naiv. Miß Fellowes, im Pliozän gab es keine Frauen, die nur darauf gewartet hätten, mit unserem Professor Adamewski einen Hausstand zu gründen. Jedenfalls keine, die als Partnerinnen in Frage gekommen wären.« »Ich verstehe.« »Ich habe vieles von dem vergessen, was ich einst über die Entwicklung der Hominiden wußte, aber eines kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen: Adamewski hätte damals kein Wesen gefunden, das dem Homo sapiens auch nur entfernt ähnlich gewesen wäre. Bestenfalls wäre er einer Frühform des Australopithecus begegnet, etwa eins dreißig groß und von Kopf bis Fuß behaart. Die menschliche Rasse, wie wir sie kennen, hatte sich zu diesem Zeitpunkt einfach noch nicht entwickelt. Und ich bezweifle, daß selbst ein leidenschaftlicher Mann wie Professor Adamewski…« – wieder mußte Hoskins seine Heiterkeit unterdrücken – »die Reize einer durchschnittlichen Hominiden aus dem Pliozän unwiderstehlich genug fände, um sexuelle Beziehungen zu ihr anzuknüpfen. Wenn ihm allerdings die Helena des Pliozän über den Weg liefe – die Affenfrau, um derentwillen tausend Schiffe in den Krieg zogen…« »Ich denke, ich habe verstanden«, unterbrach ihn Miß Fellowes kühl. Sie bedauerte, das Thema überhaupt angeschnit-
ten zu haben. »Aber ich hatte Sie ja schon vorhin gefragt, als Sie mir den Dinosaurier zeigten, wieso Sie so einfach Dinge durch die Zeit bewegen können, ohne den Lauf der Geschichte zu verändern. Ich sehe zwar ein, daß der Professor wohl keine Möglichkeit gehabt hätte, im Pliozän eine Familie zu gründen, aber wenn Sie nun jemanden in eine Epoche schickten, in der es bereits richtige Menschen gab – sagen wir, vor zwanzigtausend Jahren…« Hoskins war nachdenklich geworden. »Nun, damit würden wir die Zeitlinie vermutlich in eine geringfügig andere Richtung lenken. Aber ich glaube nicht, daß das gravierende Folgen hätte.« »Man kann also mit Hilfe der Stasis nicht einfach die Geschichte verändern?« »Theoretisch wäre das wohl möglich, aber praktisch höchstens in ganz extremen Ausnahmefällen. Wir schleppen andauernd etwas aus der Stasis heraus. Luftmoleküle. Bakterien. Staub. Etwa zehn Prozent unseres Energieverbrauchs gehen auf das Konto daraus resultierender Verluste. Doch selbst wenn wir größere Objekte durch die Zeit bewegen, klingen die dabei entstehenden Veränderungen rasch wieder ab. Nehmen wir Adamewskis Chalkopyritklumpen aus dem Pliozän. Vielleicht wollte in den zwei Wochen, die er hier bei uns gelegen hat, ein Insekt darunter Schutz suchen und kam ums Leben, weil der Stein nicht da war. Das könnte eine ganze Serie von Veränderungen entlang der Zeitlinie ausgelöst haben. Aber die Statistik zeigt, daß es sich dabei um konvergierende Serien handelt. Die Anzahl der Veränderungen schwindet im Lauf der Zeit immer mehr, und irgendwann läuft alles wieder so, wie es ursprünglich gelaufen wäre.« »Das heißt also, die Realität heilt sich selbst.«
»Sozusagen. Wenn Sie einen Menschen aus der Vergangenheit holen oder dahin zurückschicken, reißen Sie natürlich eine größere Wunde. Wenn es sich um einen gewöhnlichen Menschen handelt, würde auch diese Wunde wohl noch heilen – das ergibt sich jedenfalls aus unseren Berechnungen. Andererseits erhalten wir jeden Tag ganze Stapel von Briefen, in denen man uns bittet, Abraham Lincoln in die Gegenwart zu bringen, oder Mohammed oder Alexander den Großen. Nun, das scheitert im Moment noch an der Technik, aber wenn wir es könnten, würden wir es wahrscheinlich nicht tun. Denn selbst wenn es möglich wäre, die Netze auf so kurze Distanz auszuwerfen und eine dieser drei großen historischen Gestalten zu orten, wären die Auswirkungen auf die Realität einfach zu groß. Man kann berechnen, bis zu welcher Grenze Veränderungen noch tragbar sind, und wir achten sehr darauf, nicht einmal in die Nähe dieser Grenze zu kommen.« »Dann ist Timmie…« begann Miß Fellowes. »Nein, er stellt in dieser Hinsicht kein Problem dar. Ein kleiner Junge, Angehöriger einer menschlichen Untergattung, die fünf- bis zehntausend Jahre später ohnehin zum Aussterben verurteilt war, wird kaum die Geschichte verändern, nur weil wir ihn in unsere Zeit geholt haben. Vor ihm ist die Wirklichkeit sicher.« Hoskins warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Deshalb brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.« »Darum geht es gar nicht. Ich möchte nur verstehen, wie die Dinge hier ablaufen.« »Was ich sehr begrüße.« Miß Fellowes nahm einen tiefen Schluck von ihrer Buttermilch. »Wenn es kein historisches Risiko war, ein Neandertalerkind in unsere Zeit zu bringen, dann müßte es
doch möglich sein, irgendwann einmal ein zweites zu holen?« »Gewiß. Aber ich denke, wir haben mit einem genug. Wenn wir von Timmie alles erfahren können, was wir wissen wollen…« »Ich dachte dabei nicht an die Interessen der Wissenschaft. Ich dachte an einen Spielkameraden für Timmie.« »Was?« Es war ihr ebenso ergangen wie mit dem Namen ›Timmie‹ – ein Impuls, ein spontaner Einfall. Miß Fellowes staunte über sich selbst. Aber nachdem sie nun einmal davon angefangen hatte, verfolgte sie die Idee auch weiter. »Soweit ich sehe, ist er ein gesundes und in jeder Beziehung normales Kind. Ein Kind seiner Zeit natürlich, aber als solches ganz außergewöhnlich, würde ich sagen.« »Ich bin vollkommen Ihrer Meinung, Miß Fellowes.« »Es könnte jedoch sein, daß er sich nicht mehr normal weiterentwickelt.« »Und warum nicht?« fragte Hoskins. »Jedes Kind braucht Anregungen, und dieses Kind lebt wie in Einzelhaft. Ich werde mein möglichstes tun, aber ich kann ihm keine ganze Kultur ersetzen. Was ich sagen will, Dr. Hoskins, ist ganz einfach: er braucht einen Jungen, mit dem er spielen kann.« Hoskins nickte langsam. »Aber er ist der einzige seiner Art, nicht wahr? Armes Kind.« Miß Fellowes beobachtete ihn scharf. Hoffentlich hatte sie den richtigen Moment gewählt. »Wenn Sie nun aber einen zweiten Neandertaler aus der Vergangenheit holen würden, damit er das Puppenhaus mit ihm teilt…?«
»Das wäre sicher die ideale Lösung, Miß Fellowes. – Aber es ist leider unmöglich.« »Unmöglich?« Miß Fellowes war enttäuscht. »Beim besten Willen unmöglich. Es wäre ein unglaublicher Zufall, wenn wir einen zweiten Neandertaler in seinem Alter fänden – die Welt war in dieser Zeit mehr als dünn bevölkert, Miß Fellowes; wir können nicht einfach eine Neandertalergroßstadt anpeilen und uns ein Kind herauspicken – und selbst wenn, wäre es nicht fair. Es würde die Risiken enorm vergrößern, einen zweiten Menschen in Stasis zu halten.« Miß Fellowes legte ihren Löffel aus der Hand. Neue, folgenschwere Ideen gingen ihr im Kopf herum. »Dann, Dr. Hoskins«, sagte sie resolut, »müssen wir einen anderen Weg einschlagen. Sie sagen, es ist nicht möglich, ein zweites Neandertalerkind in die Gegenwart zu holen. Schön. Ich bin ohnehin nicht sicher, ob mir zwei von der Sorte nicht zuviel würden. Aber könnten wir nicht – ein wenig später, wenn Timmie sich in der heutigen Zeit noch etwas besser eingelebt hat – könnten wir dann nicht ein Kind von draußen holen, damit er einen Spielgefährten hat?« Hoskins starrte sie entgeistert an. »Ein menschliches Kind?« »Ein anderes Kind«, verbesserte Miß Fellowes und funkelte ihn wütend an. »Timmie ist ein Mensch.« »Natürlich. Aber Sie wissen doch, was ich meine. – Daran ist im Traum nicht zu denken.« »Warum nicht? Wieso sollte das ein so großes Problem sein? Sie haben dieses Kind aus seiner Zeit gerissen und zu einem Leben in Gefangenschaft verurteilt. Sind Sie ihm dafür nicht etwas schuldig? Dr. Hoskins, wenn es in der heutigen Welt einen Mann gibt, den man als den geistigen – wenn auch nicht den biologischen – Vater dieses Kindes betrachten könnte,
dann sind Sie das. Warum wollen Sie ihm diesen kleinen Gefallen nicht tun?« »Sein Vater?« Hoskins erhob sich ein wenig schwankend. »Wenn es Ihnen recht ist, Miß Fellowes, begleite ich Sie jetzt zurück.« Auf dem ganzen Weg zur Stasissektion I, auch ›Puppenhaus‹ genannt, herrschte gespanntes Schweigen.
25 Wie versprochen, schickte McIntyre einen ganzen Stapel Fachliteratur über die Neandertaler ins Puppenhaus. Miß Fellowes stürzte sich mit solchem Eifer darauf wie damals auf der Schwesternschule, wenn in wenigen Tagen eine wichtige Prüfung bevorstand. Sie erfuhr, daß die ersten Neandertalerfossilien Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland in einem Steinbruch nahe Düsseldorf entdeckt worden waren, eben im Neandertal. Als die Arbeiter in einer Höhle knapp zwanzig Meter über dem Talgrund die Erdschicht über einem Kalksteinvorkommen wegräumten, stießen sie zuerst auf einen menschlichen Schädel und etwas später unweit davon auf weitere Gebeine. Sie brachten den Schädel und einige von den Knochen einem Gymnasiallehrer des Ortes, und der ging damit zu Dr. Hermann Schaafhausen in Bonn, einem bekannten Anatomieprofessor. Schaafhausen war von der ungewöhnlichen Form
der Gebeine überrascht. Der Schädel wies viele menschliche Züge auf, wirkte aber – lang und schmal, mit flacher Stirn und einem riesigen Überaugenwulst – seltsam primitiv, während die Schenkelknochen, die man gleich daneben gefunden hatte, so dick und schwer waren, daß sie kaum noch menschlich aussahen. Schaafhausen hielt die Neandertalerknochen dennoch für menschliche Fossilien – allerdings für sehr alt. In einem Referat, das er zu Anfang des Jahres 1857 auf einem wissenschaftlichen Kongreß hielt, bezeichnete er den ungewöhnlichen Fund als ›das älteste Andenken an Europas frühe Bewohner‹. Miß Fellowes sah zu Timmie hinüber, der sich am anderen Ende des Raumes mit einem Spielzeug beschäftigte. »Hör dir das an«, sagte sie. »›Das älteste Andenken an Europas frühe Bewohner.‹ Damit ist einer von deinen Verwandten gemeint, Timmie.« Timmie schien nicht sehr beeindruckt zu sein. Er ließ nur ein paar gleichgültige Zungenschnalzer hören und wandte sich wieder seinem Spiel zu. Miß Fellowes las weiter. Und bald bestätigte ihr das Buch, was sie bereits geahnt hatte: die Neandertaler mochten frühe Bewohner Europas gewesen sein, die frühesten waren sie bei weitem nicht. Der Entdeckung der ersten Neandertalerfossilien waren im späteren neunzehnten Jahrhundert ähnliche Funde in vielen anderen Teilen Europas gefolgt – Knochen prähistorischer, menschenähnlicher Wesen mit extrem flacher Stirn, riesigen Brauenwülsten und – ein weiteres, typisches Merkmal – fliehendem Kinn. Zunächst redeten sich die Wissenschaftler über die Bedeutung dieser Fossilien die Köpfe heiß, doch als Darwins Evolutionstheorie zunehmend Anklang fand, setzte sich
die Ansicht durch, die Funde vom Neandertalertyp seien Überreste eines frühen Menschen von tierhaftem Erscheinungsbild, eines Vorfahren des Jetztmenschen, der auf der Evolutionsskala irgendwo auf halbem Wege zwischen Affe und Mensch anzusiedeln sei. »›Von tierhaftem Erscheinungsbild.‹« Miß Fellowes rümpfte die Nase. »Die Schönheit liegt immer im Auge des Betrachters, was, Timmie?« Doch dann waren – auf Java, in China und in Europa – weitere Fossilien aufgetaucht, die den Neandertaler an Primitivität noch übertrafen. Und als man im zwanzigsten Jahrhundert zuverlässige Verfahren zur Altersbestimmung entwickelte, stellte sich heraus, daß die Neandertaler in der Entwicklungsgeschichte des Menschen erst relativ spät auftauchten. Die javanischen und chinesischen Primitivformen waren mindestens eine halbe Million Jahre alt, vielleicht sogar noch älter, während die Neandertaler erst vor etwa einhundertundfünfzigtausend Jahren auf der Bildfläche erschienen waren. Offenbar hatten sie mehr als hunderttausend Jahre lang einen großen Teil Europas und des Nahen Ostens bevölkert und sich bis vor fünfunddreißigtausend Jahren immer weiter vermehrt. Dann waren sie mit einem Mal überall verschwunden – verdrängt von der Gattung des modernen Menschen, dessen Anfänge mit denen des Neandertalers zusammenfielen. Allem Anschein nach hatten die beiden Arten jahrtausendelang mehr oder weniger friedlich nebeneinander gelebt, bis bei den modernen Menschen eine jähe Bevölkerungsexplosion einsetzte, die der zweiten Spezies den Lebensraum entzog. Für das plötzliche Aussterben der Neandertaler gab es unterschiedliche Erklärungen. Doch in einem Punkt waren sich alle Fachleute einig: Sie waren gegen Ende der letzten
Eiszeit vom Angesicht der Erde verschwunden. Die Neandertaler waren also keine Affen gewesen und auch keine Vorfahren des heutigen Menschen, sondern einfach eine andere Spezies, die sich in einigen Aspekten von ihren Zeitgenossen, dem Menschentyp, der bis zum heutigen Tag überlebt hatte, unterschied. Vielleicht sollte man eher von entfernten Verwandten sprechen. Die beiden Rassen hatten während der Eiszeit in nicht unbedingt friedlicher Koexistenz gelebt. Doch nur eine davon hatte die Zeit der großen Gletschermassen überdauert. »Du bist also ein Mensch, Timmie. Ich hatte eigentlich nie daran gezweifelt…« – doch, ganz zu Anfang hatte sie sehr große Zweifel gehabt, für die sie sich immer noch schämte –, »aber hier steht es schwarz auf weiß. Du siehst nur ein bißchen anders aus, das ist alles. Aber du bist ein Mensch, genau wie ich. Und wie alle anderen hier.« Timmie schnalzte und murmelte leise vor sich hin. »Genau«, sagte Miß Fellowes. »Du findest das auch, nicht wahr?« Und doch, die Unterschiede, die Unterschiede… Ihre Augen rasten über die Seiten. Wie hatten die Neandertaler wirklich ausgesehen? Darüber hatte es zunächst hitzige Debatten gegeben, weil man nur so wenige Knochenfunde gemacht hatte. Außerdem war, wie sich irgendwann herausstellte, eines der frühesten Skelette das eines Mannes gewesen, der unter schwerer Arthritis litt, was für zusätzliche Verwirrung sorgte. Doch mit der Entdeckung immer neuer Gebeine entstand schließlich ein Bild des Neandertalervolkes, das allgemein Anerkennung fand. Sie waren kleiner gewesen als die heutigen Menschen – die größten Männer waren wahrscheinlich nicht über einen Meter
sechzig hinausgekommen – und sehr kräftig, mit breiten Schultern und mächtigem Brustkorb. Sie hatten eine fliehende Stirn, riesige Überaugenwülste und einen abgerundeten Unterkiefer, aber so gut wie kein Kinn. Die große, breite Nase wirkte plattgedrückt, der Mund sprang vor wie eine Schnauze. Die flachen, extrem breiten Füße endeten in kurzen Stummelzehen. Bei den klobigen Knochen und den riesigen Gelenken mußte die Muskulatur auffallend gut entwickelt gewesen sein. Die Beine waren im Verhältnis zum Rumpf recht kurz geraten und möglicherweise von Natur aus krumm, und die Knie blieben ständig gebeugt, was zu einem schlurfenden Gang geführt haben mochte. Schön waren sie wahrhaftig nicht gewesen. Jedenfalls nicht nach heutigen Vorstellungen. Aber ganz gewiß menschlich. Wenn man einen Neandertaler rasiert, ihm einen Haarschnitt verpaßte und ihn in ein Hemd und ein Paar Jeans steckte, konnte er wahrscheinlich in jeder Stadt der Welt durch die Straßen schlendern, ohne aufzufallen. »Jetzt hör dir das an, Timmie!« Miß Fellowes legte den Finger auf eine Stelle und las laut vor: »Das Gehirn war sehr groß. Die Gehirngröße wird bei einem Skelett nach der Schädelkapazität bestimmt – das heißt, nach dem Volumen der Hirnschale, in Kubikzentimetern gemessen. Beim modernen Homo sapiens beträgt die Schädelkapazität 1400 bis 1500 ccm, in manchen Fällen sogar nur 1100 bis 1200 ccm. Der männliche Neandertaler hatte dagegen eine Schädelkapazität von etwa 1600 ccm, der weibliche von etwa 1350 ccm. Das ist mehr als beim durchschnittlichen Homo sapiens.« Sie lachte in sich hinein. »Was sagst du dazu, Timmie? ›Mehr als beim durchschnittlichen Homo sapiens‹!« Timmie lächelte, als ob er sie verstanden hätte! Aber Miß
Fellowes wußte, daß das ausgeschlossen war. »Natürlich«, sagte sie, »ist eigentlich nicht die Schädelgröße entscheidend, sondern die Qualität des Gehirns. Elefanten haben so ziemlich die größten Schädel überhaupt, aber sie können keine Algebra. Ich übrigens auch nicht, aber ich kann ein Buch lesen und einen Wagen steuern, und das soll mir erst einmal ein Elefant nachmachen! – Lachst du mich jetzt aus, Timmie? Weil ich so mit dir rede?« Der Junge sah sie ernst an und schnalzte ein paarmal mit der Zunge. »Aber du brauchst jemanden, der mit dir spricht. Und ich ebenfalls. Komm doch einmal her zu mir.« Miß Fellowes winkte ihn zu sich. Er starrte sie verständnislos an und blieb, wo er war. »Komm her zu mir, Timmie. Ich will dir etwas zeigen.« Er rührte sich nicht von der Stelle. Sie gab sich gern der Illusion hin, daß er allmählich anfing, sie zu verstehen, aber im Grunde wußte sie genau, daß sie sich nur etwas vormachte. Also ging sie zu ihm hinüber, setzte sich neben ihn und zeigte ihm das Buch, in dem sie gelesen hatte. Auf der linken Seite war eine Künstlerskizze abgebildet, die Rekonstruktion eines Neandertalergesichts: derbe Züge, graues Haar, weit vorspringender Mund, große, abgeplattete Nase und wildwuchernder Bart. Der Kopf war nach vorne geneigt. Zwischen den halbgeöffneten Lippen waren die Zähne zu erkennen. Ein Wilder, gewiß. Fast ein Tier. Daran führte kein Weg vorbei. Aber die Intelligenz in diesen Augen war nicht zu übersehen. Intelligenz und – was noch? Trauer? Schmerz? Angst? Der Blick des Mannes war in die Ferne gerichtet, er schien über die Jahrtausende hinweg in eine Welt zu schauen, in der niemand von seiner Art mehr existierte. Bis auf einen einzigen, kleinen Jungen, der dort eigentlich gar nichts zu suchen hatte. »Wie findest du ihn, Timmie? Kommt er dir irgendwie
bekannt vor? Hat er auch nur die geringste Ähnlichkeit mit deinen Leuten?« Timmie schnalzte ein paarmal. Das Buch schien ihn nicht weiter zu interessieren. Miß Fellowes deutete ein paarmal auf das Bild. Dann nahm sie seine Hand und legte sie auf die Zeichnung, um sein Augenmerk darauf zu lenken. Er verstand sie einfach nicht. Und mit der Abbildung konnte er überhaupt nichts anfangen. Gleichgültig fuhr er mit der Hand über das glatte Papier, offenbar das einzige, was seine Aufmerksamkeit erregte. Dann knickte er eine Ecke um und zerrte gelangweilt daran, bis sich die Seite löste. »Nein!« Miß Fellowes riß ihm die Hand weg und schlug ihm zugleich auf die Finger. Es war nur ein leichter Klaps, aber die Absicht war nicht mißzuverstehen. Timmie starrte sie an. In seinen Augen blitzte es zornig auf. Er ließ ein drohendes Fauchen hören, seine Hand wurde zur Klaue. Er wollte abermals nach dem Buch greifen. Sie zog es ihm weg. Er ließ sich auf die Knie fallen und knurrte tief aus dem Bauch heraus, ein unheimliches Geräusch. Dabei verdrehte er die Augen, zog die Lippen zurück, fletschte die Zähne – eine Fratze mörderischer Wut. »Oh, Timmie, Timmie!« Miß Fellowes stiegen die Tränen in die Augen. Sie fühlte sich zutiefst enttäuscht, ja verraten. Ein dumpfes Grauen erfaßte sie. Da kriecht er nun auf dem Boden herum und knurrt wie ein wildes Tier, dachte sie bestürzt. Faucht mich an, als wollte er mich anspringen und mir die Zähne in die Kehle schlagen, genauso, wie er seine Krallen in das Buch geschlagen hat.
Oh, Timmie… Doch dann zwang sie sich zur Ruhe. Wie konnte man sich durch den Wutanfall eines Kindes nur so aus der Fassung bringen lassen? Er war höchstens vier Jahre alt, kam aus einer primitiven Stammeskultur und hatte noch nie im Leben ein Buch gesehen. Was erwartete sie denn von ihm? Daß er es mit ehrfürchtigem Respekt betrachtete und sich vielleicht noch in aller Form bei ihr bedankte, weil sie seinem wißbegierigen, jungen Geist diese wertvolle Informationsquelle erschlossen hatte? Sogar Vierjährige von heute aus anständigen, bildungsbeflissenen Familien sollen schon Bücher zerrissen haben, ermahnte sie sich. Und auch sie werden wütend und knurren und fauchen, wenn man ihnen dafür eins auf die Finger gibt. Aber niemand hält sie deshalb für wilde Tiere. Dafür sind sie noch viel zu klein. Auch Timmie ist keine Bestie, sondern nur ein kleiner Junge, ein unzivilisierter, kleiner Junge. Ein Gefangener in einer Welt, die ihm fremder nicht sein könnte. Miß Fellowes verwahrte die Bücher, die McIntyre ihr geschickt hatte, sorgfältig in einem ihrer Schränke. Als sie ins andere Zimmer zurückkam, hatte Timmie sich schon wieder beruhigt und spielte weiter, als ob nichts gewesen wäre. Ihr wurde ganz warm ums Herz. Wie hatte sie nur schon wieder so schnell aufgeben können? Am liebsten hätte sie den Jungen um Verzeihung gebeten. Aber wozu sollte das gut sein? Er würde sie ja doch nicht verstehen. Schließlich gab es auch noch andere Möglichkeiten. »Was meinst du, Timmie? Könntest du jetzt eine Schüssel Haferbrei vertragen?«
Sechstes Kapitel ENTHÜLLUNGEN
26 An diesem Tag kam Dr. McIntyre zu seinem zweiten Besuch bei Timmie ins Puppenhaus. Als er eintrat, sagte Miß Fellowes: »Vielen Dank für die Bücher, Doktor. Ich darf Ihnen versichern, ich habe meine Hausaufgaben sehr gründlich gemacht.« McIntyres Lächeln war schmal und nicht unbedingt strahlend. »Freut mich, wenn ich Ihnen helfen konnte, Miß Fellowes.« »Aber meine Wißbegier ist noch längst nicht gestillt. Natürlich werde ich die Lektüre fortsetzen, aber wenn Sie nun schon einmal hier sind, könnten Sie mir doch sagen…« Diesmal fiel das Lächeln des Paläoanthropologen womöglich noch matter aus. Er konnte es sichtlich kaum erwarten, sich endlich mit dem kleinen Neandertaler zu beschäftigen, und war alles andere als begeistert davon, sich mit dessen Betreuerin und ihren trivialen Fragen befassen zu müssen. Aber nach dem Fiasko bei seinem letzten Besuch gedachte Miß Fellowes diesmal mit allen Mitteln zu verhindern, daß McIntyre den kleinen Timmie mit seinem Forschungsdrang erneut zum Weinen brachte. Sie würde das Tempo bestimmen, in dem der Paläoanthropologe seine Untersuchungen durchführte, oder es würde keine Untersuchungen geben. Ihr Wort war Befehl. Hoskins’ Bemerkung kam ihren Wünschen nur allzu
sehr entgegen. »Wenn ich Ihnen helfen kann, Miß Fellowes – geht es vielleicht um eine Information, die Sie in den Büchern nicht finden konnten?« »Seit ich mit Timmie arbeite, beschäftigt mich eine zentrale Frage. Wir sind uns alle einig, daß die Neandertaler Menschen waren, aber was ich herausfinden möchte, ist, inwieweit sie Menschen waren. Wie nahe sie uns sind – worin sie uns ähnlich sind, worin wir uns unterscheiden. Dabei denke ich nicht unbedingt an die körperlichen Merkmale – die liegen schließlich auf der Hand, und außerdem habe ich die Abhandlungen, die Sie mir darüber geschickt haben, eingehend studiert. Mir geht es vielmehr um die Kultur, um die Intelligenz, um die Dinge also, die eigentlich das Menschsein bestimmen.« »Nun, Miß Fellowes, genau darum geht es auch mir. Die Tests, die ich mit Timmie anstellen möchte, sollen ja gerade feststellen…« »Das ist mir klar. Aber ich möchte gerne wissen, was bereits bekannt ist.« McIntyre zog gereizt die Mundwinkel nach unten und fuhr sich mit der Hand durch seine prächtige blonde Mähne. »Und worum geht es Ihnen speziell?« »Ich habe heute gelesen, daß die beiden Rassen, die Neandertaler und die Jetztmenschen – es ist doch richtig, von Rassen zu sprechen? – während der Eiszeiten etwa hunderttausend Jahre lang in Europa und im Nahen Osten nebeneinander lebten.« »›Rassen‹ ist nicht ganz das richtige Wort, Miß Fellowes. Die verschiedenen ›Menschenrassen‹, so wie wir das Wort heute verwenden, stehen sich untereinander sehr viel näher als wir den Neandertalern. ›Subspezies‹ wäre in diesem Fall
der treffendere Begriff. Sie gehörten der Subspezies Homo sapiens neanderthalensis an, während wir als Homo sapiens sapiens klassifiziert werden.« »Schön. Aber sie haben doch nebeneinander gelebt.« »Unseres Wissens ja, zumindest in einigen Gegenden. Vor allem in den wärmeren Regionen – die kälteren Zonen hatten die Neandertaler vermutlich für sich allein, weil sie an die dort herrschenden Lebensbedingungen besser angepaßt waren. Natürlich sprechen wir von einer zahlenmäßig sehr kleinen Bevölkerung, von weit verstreuten kleinen Trupps. Es ist durchaus möglich, daß ein einzelner Neandertalerstamm jahrhundertelang umherstreifte, ohne jemals einem Homo sapiens sapiens zu begegnen. In manchen Gegenden waren sie wiederum möglicherweise Nachbarn, besonders gegen Ende der letzten Eiszeit, als größere Teile Europas für unsere Vorfahren bewohnbar wurden.« »Aber Sie halten es für ausgeschlossen, daß die Neandertaler vielleicht doch Vorfahren von uns gewesen sein könnten?« »Oh ja. Sie sind eine eigene Gruppe, ein eigener Zweig der Evolution. Das ist jedenfalls die Ansicht fast aller heutigen Wissenschaftler. Sie hatten so vieles mit uns gemeinsam, daß es mit dem Homo sapiens sapiens sogar zur Fortpflanzung kommen konnte – es gibt Fossilien, die das beweisen – aber im allgemeinen blieben sie wohl unter sich, hielten ihren Genpool sauber und leisteten nur einen verschwindend geringen Beitrag zum Erbgut des Jetztmenschen.« »Hinterwäldler. Vettern vom Lande.« »Keine schlechte Beschreibung«, lobte McIntyre. »Vielen Dank. – Waren sie denn nun weniger intelligent als der Homo sapiens sapiens?« Wieder brach seine Ungeduld durch. »Das kann ich Ihnen
wirklich erst sagen, Miß Fellowes, wenn Sie mir endlich erlauben, mit Hilfe meiner Tests festzustellen, wie es um Timmies geistige Fähigkeiten bestellt ist.« »Wie würden Sie die Frage nach Ihrem derzeitigen Wissensstand beantworten?« »Weniger intelligent.« »Worauf stützen Sie diese Ansicht, Dr. McIntyre? Voreingenommenheit zugunsten des Sapiens?« McIntyres zarte Haut färbte sich rot. »Sie wollten meine Meinung hören, bevor ich Gelegenheit hatte, das einzige Beweisstück zu untersuchen, das der Wissenschaft jemals zur Verfügung stand. Wie soll ich da nicht voreingenommen sein? Voreingenommenheit ist doch nichts anderes als urteilen, ohne Beweise zu haben.« »Ja, gewiß, zugegeben. Trotzdem gibt es sicher konkrete Anhaltspunkte für Ihre Meinung.« McIntyre beherrschte sich. »Die Moustérienkultur – Moustérien ist der Fachausdruck für die Kultur der Neandertaler – stand nicht auf besonders hohem Niveau, und obwohl sie viele Jahrtausende überdauerte, lassen sich kaum Fortschritte feststellen. Bei allen Ausgrabungen fanden sich einfache Feuersteinwerkzeuge, die sich im Lauf der Zeit kaum verändert hatten. Wohingegen sich die Technologie der Sapiens-Linie während des gesamten Paläolithikums kontinuierlich verbesserte, ein Prozeß, der sich bis auf den heutigen Tag fortsetzt. Aus diesem Grund sind es Menschen aus der Sapiens-Linie, die ein Neandertalerkind aus der fernen Vergangenheit geholt haben und nicht umgekehrt.« McIntyre hielt kurz inne, um Atem zu schöpfen. »Außerdem gibt es unseres Wissens keine Neandertalerkunst, keine Skulpturen, keine Höhlenmalereien, keinerlei Schmuck, der in irgendeinem Zusammenhang mit
ihrer Religion stünde. Wir gehen davon aus, daß es so etwas wie eine Religion gab, denn wir haben Neandertalergräber gefunden, und jede Spezies, die ihre Toten begräbt, glaubt mit großer Wahrscheinlichkeit an ein Leben nach dem Tod, und damit an ein oder mehrere Höhere Wesen. Aber an den wenigen Neandertalerwohnstätten, die wir untersuchen konnten, finden sich lediglich Hinweise auf die einfache, ursprüngliche Lebensweise eines Stammes von Jägern und Sammlern. Und wie ich bereits neulich sagte, sind wir bis heute nicht ganz sicher, ob sie über die physiologischen Voraussetzungen für den Gebrauch einer Sprache verfügten. Oder ob ihr Intellekt dazu ausreichte, selbst wenn ihre Kehlköpfe und Zungen zur Bildung der erforderlichen Laute fähig gewesen wären.« Miß Fellowes sah tief enttäuscht zu Timmie hinüber. Ein Glück, daß er von dem, was McIntyre da erzählte, kein Wort verstand. »Sie halten sie also für intellektuell minderwertig? Verglichen mit dem Homo sapiens sapiens, meine ich?« »Auf der Basis unseres bisherigen Wissensstandes muß man das wohl so sagen«, bestätigte McIntyre. »Aber vielleicht werden wir ihnen damit nicht gerecht. Vielleicht haben die Neandertaler den ganzen kulturellen Firlefanz, der dem Sapiens sapiens so wichtig war, eben nur nicht gebraucht. Die Moustérien-Werkzeuge waren bei aller Einfachheit für ihre Zwecke – Töten von Kleinwild, Zerteilen von Fleisch, Abschaben von Häuten, Bäumefällen und so weiter – völlig ausreichend. Und wenn die Neandertaler sich nicht mit Malerei und Bildhauerei beschäftigten, nun, dann mag das daran liegen, daß sie dergleichen für Blasphemie hielten. Wir wissen es einfach nicht. Schließlich gibt es auch jüngere Kulturen, in denen das Anfertigen von Götzenbildern verboten war.«
»Trotzdem halten Sie die Neandertaler für eine minderwertige Rasse. Oder vielmehr eine minderwertige Subspezies?« »Richtig. Es ist ein Vorurteil, Miß Fellowes, ein reines Vorurteil, und das gebe ich auch offen zu. Ich kann nichts dafür, daß ich zur Gruppe des Homo sapiens sapiens gehöre. Ich kann jede Menge Entschuldigungen für die Neandertaler finden, aber das ändert nichts daran, daß ich sie im Grunde für einen geistig trägen, kulturell stagnierenden Zweig der Menschheit halte, der von unseren Leuten zunächst verdrängt und schließlich ausgerottet wurde. – Wenn wir allerdings auf die physischen Eigenschaften zu sprechen kommen, sieht die Sache ganz anders aus. Was die Anpassung an die Lebensbedingungen ihrer Zeit anging, kann man die Neandertaler durchaus als die überlegene Gruppe betrachten. Möglicherweise sind gerade die Züge, die sie uns heute als häßlich und tierisch erscheinen lassen, Ausdruck dieser Überlegenheit gewesen.« »Können Sie mir ein Beispiel geben?« »Die Nase.« McIntyre deutete auf Timmie. »Er hat eine sehr viel größere Nase als die heutigen Kinder.« »Ja. Das ist richtig.« »Und man könnte sagen, sie sei häßlich, weil sie so breit und dick ist und so weit vorspringt.« »Das könnte man sagen«, bestätigte Miß Fellowes kühl. »Aber bedenken Sie, mit welchem Klima der Steinzeitmensch zurechtkommen mußte. Große Teile Europas waren Dauerfrostgebiet. Über die weiten Ebenen im Zentrum wehte ständig ein kalter, trockener Wind. Zu jeder Jahreszeit konnte Schnee fallen. Nun hat die menschliche Nase unter anderem die Aufgabe, die eingeatmete Luft zu erwärmen und anzufeuchten, bevor sie in die Lungen gelangt. Je größer also die Nase, desto größer auch die Erwärmungskapazität.«
»Das heißt, die Nase diente als eine Art Heizkörper.« »Genau. Die ganze Gesichtsform des Neandertalers scheint darauf angelegt zu sein, kalte Luft von den Lungen – und auch vom Gehirn fernzuhalten. Vergessen Sie nicht, daß die Arterien, durch die das Blut ins Gehirn gelangt, gleich hinter den Nasengängen liegen. Aber die breite, weit vorspringende Neandertalernase, die ausnehmend großen Nebenhöhlen, der große Durchmesser der Blutgefäße, die den Gesichtsbereich versorgen – all das könnten Zugeständnisse an die Eiszeitbedingungen gewesen sein, die es den Neandertalern leichter machten, die Kälte zu ertragen, als unseren Angehörigen. Auch die robuste Muskulatur, der kräftige Körperbau…« »Das angeblich so ›tierhafte‹ Aussehen der Neandertaler wäre demzufolge nur das Resultat eines natürlichen Selektionsprozesses gewesen, eine gezielte Antwort der Evolution auf die harten Bedingungen, unter denen der Mensch im eiszeitlichen Europa leben mußte.« »Ganz recht.« »Aber wenn sie so gut aufs Überleben eingerichtet waren…« – Miß Fellowes war noch nicht zufrieden –, »warum sind sie dann ausgestorben? Trat vielleicht eine Klimaveränderung ein, in der die Spezialisierung zum Nachteil wurde?« McIntyre stieß einen tiefen Seufzer aus. »Die Frage, weshalb die Neandertaler ausgestorben sind, Miß Fellowes, wurde sehr viel und äußerst kontrovers diskutiert…« »Nun, wie lautet Ihre Meinung? Wurden sie einfach ausgerottet, weil sie tatsächlich so geistig träge waren, wie Sie behaupten? Sind ihre besonderen genetischen Merkmale deshalb verschwunden, weil sie sich mit dem anderen Zweig vermischten? Oder war es eine Kombination verschiedener Ursachen?«
»Miß Fellowes, darf ich Sie daran erinnern, daß ich aus einem bestimmten Grund hierhergekommen bin?« McIntyre ließ seiner Ungeduld endlich freien Lauf. »So gern ich mit Ihnen über das Aussterben der Neandertaler plaudern würde, wir sollten nicht vergessen, daß in diesem Raum ein lebender Neandertaler darauf wartet, studiert zu werden. Meine Zeit ist begrenzt…« »Dann will ich Sie nicht länger aufhalten, Dr. McIntyre.« Miß Fellowes gab sich geschlagen. »Untersuchen Sie Timmie, soviel Sie wollen. Wir können unser Gespräch ein andermal fortsetzen. Aber hüten Sie sich, mir den Jungen wieder so durcheinanderzubringen wie beim letzten Mal.«
27 Irgendwann ließ sich die erste Pressekonferenz nicht mehr hinausschieben – Timmie mußte der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Miß Fellowes hatte sich so lange dagegen gesträubt, wie nur möglich, aber Hoskins hörte nicht auf zu drängen. Werbung, so sagte er immer wieder, sei unerläßlich für die Finanzierung des Projekts. Nachdem nun außer Zweifel stand, daß der Junge körperlich in guter Verfassung war, offenbar nicht vorhatte, an einer Infektion mit Bakterien des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu erkranken, und der seelischen Belastung einer Begegnung mit den Medien wohl gewachsen sein würde, führte kein Weg mehr daran vorbei. Miß Fellowes’ Wort mochte noch so sehr Befehl sein, es gab ein Wort, das sie
gar nicht erst aussprechen durfte. Diesmal würde Hoskins ein ›Nein‹ als Antwort nicht akzeptieren. »Dann möchte ich das Treffen auf fünf Minuten begrenzen«, sagte sie. »Die Journalisten haben ein Minimum von fünfzehn Minuten verlangt.« »Und wenn sie anderthalb Tage verlangen, Dr. Hoskins, ich halte fünf Minuten für das Äußerste, was man Timmie zumuten kann.« »Zehn, Miß Fellowes.« Sie sah die Entschlossenheit in seinem Gesicht. »Allerhöchstens zehn. Und die Sitzung wird sofort abgebrochen, wenn der Junge Anzeichen von Aufregung zeigt.« »Natürlich wird er aufgeregt sein, und das wissen Sie genau«, sagte Hoskins. »Ich kann einfach nicht zulassen, daß Sie die Reporter hinauswerfen, nur weil er ein bißchen zu wimmern anfängt.« »Ich spreche nicht von ein bißchen Wimmern, Doktor. Ich spreche von Hysterie, von tiefgreifenden, psychosomatischen Reaktionen, von möglicherweise lebensbedrohlichen Auswirkungen eines massiven Eingriffs in seinen Lebensraum. Erinnern sie sich noch, wie sehr der Junge am Abend seiner Ankunft außer sich war?« »Damals hatte er panische Angst.« »Und Sie glauben, wenn man ihm eine ganze Batterie von Fernsehkameras ins Gesicht hält, macht ihm das keine Angst? Die grellen, heißen Scheinwerfer? Die vielen fremden Schreihälse, die ihn von allen Seiten mit Fragen bombardieren?« »Miß Fellowes…« »Wie viele Reporter wollen Sie überhaupt herbestellen?« Hoskins zählte stumm, dann sagte er: »Ein Dutzend werden
es wohl ungefähr sein.« »Drei.« »Miß Fellowes!« »Die Stasissektion ist nicht groß. Und sie ist Timmies einziger Zufluchtsort. Wenn Sie gestatten, daß eine Riesenhorde von… von Pavianen hier hereinbricht…« »Es sind Wissenschaftsjournalisten wie Candide Deveney.« »Schön. Drei Personen.« »Sie legen es wirklich darauf an, mir das Leben schwerzumachen!« »Ich muß mich um das Kind kümmern, und das werde ich auch tun. Dafür werde ich schließlich bezahlt. Aber es bleibt Ihnen unbenommen, mir zu kündigen, wenn Sie mich nicht mehr ertragen können.« Der letzte Satz war ihr unversehens herausgerutscht. Miß Fellowes erschrak. Wenn Hoskins sie nun beim Wort nahm? Wenn er sie fortschickte und sich statt dessen an eine von den abgewiesenen Bewerberinnen – es mußte abgewiesene Bewerberinnen gegeben haben – wandte, um ihr die Verantwortung für Timmie zu übertragen? Doch Hoskins war offenbar nicht weniger erschrocken. »Das will ich wirklich nicht, Miß Fellowes. Und das wissen Sie genau.« »Dann hören Sie auf mich. Das Verfahren des Pressepools dürfte Ihnen nicht unbekannt sein. Ihre heißgeliebten Medienleute sollen drei Vertreter wählen, und die dürfen hier hereinkommen, um sich Timmie anzusehen. Oder vielmehr, sie dürfen vor dem Eingang zur Stasis warten, während ich ihnen den Jungen zeige. Sie können ihnen ja erklären, daß mehr als drei Besucher die Gesundheit und die seelische Stabilität des Jungen gefährden würden.«
»Vier, Miß Fellowes?« »Drei.« »Sie werden mir die Hölle heißmachen, wenn ich ihnen sage…« »Drei.« Hoskins starrte sie wütend an. Doch dann mußte er plötzlich lachen. »Schön, Miß Fellowes. Sie haben gewonnen. Drei Medienvertreter. Aber die dürfen ihn insgesamt zehn Minuten lang sehen. Und ich werde sie auffordern, alle eventuellen Beschwerden an Timmies Betreuerin zu richten. Ich hätte damit nichts zu tun.«
28 Wenige Stunden später trafen die Herren von der Presse ein, genauer gesagt, zwei Herren und eine Dame: John Underhill von der Times, Stan Washington vom Kabelsender Globe Net und Margaret Anne Crawford von Reuters. Miß Fellowes stand mit Timmie auf dem Arm am Eingang zur Stasis. Als die Kameras zu surren begannen und die drei ihr durch die offene Tür ihre Wünsche zuriefen, klammerte er sich an sie wie ein Ertrinkender. Sie gab sich trotzdem alle Mühe und drehte sich bereitwillig hierhin und dorthin, damit sein Gesicht und sein Kopf von verschiedenen Seiten aufgenommen werden konnten. »Ist es ein Junge oder ein Mädchen«, fragte die Dame von Reuters.
»Junge«, antwortete Miß Fellowes knapp. »Er sieht fast aus wie ein Mensch«, bemerkte Underhill von der Times. »Er ist ein Mensch.« »Uns hat man gesagt, er sei Neandertaler. Wieso behaupten Sie jetzt auf einmal, daß er ein Mensch sei?« »Ich versichere Ihnen«, hörte sie plötzlich Hoskins’ Stimme hinter sich, »es geht alles mit rechten Dingen zu. Das Kind ist ein authentischer Homo sapiens neanderthalensis.« »Und der Homo sapiens neanderthalensis«, ergänzte Miß Fellowes schroff, »ist eine Form des Homo sapiens. Der Junge ist ein Mensch wie Sie und ich.« »Aber er hat ein Affengesicht«, stellte Washington von Globe Net fest. »Sagen wir also, ein Affenjunge. Wie benimmt er sich denn, Schwester? Wie ein Affe?« »Er benimmt sich genau wie alle kleinen Jungen«, fauchte Miß Fellowes. Sie fühlte sich zunehmend in die Defensive gedrängt. Timmie drückte sich heftig zitternd an ihre Schulter. Sie hörte, wie er leise und ängstlich vor sich hinschnalzte. »Der Ausdruck Affenjunge ist keineswegs angebracht. Er hat die Gesichtszüge des Neandertalerzweiges der menschlichen Rasse. Er verhält sich wie ein ganz normales, menschliches Kind. Wenn er nicht von einer Horde lärmender Fremder eingeschüchtert wird, ist er ein intelligentes, aufgeschlossenes Kerlchen. Sein Name ist Timothy – Timmie – und es ist absolut verfehlt, ihn als…« »Timothy?« fragte der Mann von der Times. »Warum nennen Sie ihn so? Was steckt dahinter?« Miß Fellowes wurde rot. »Dahinter steckt gar nichts weiter. Es ist eben sein Name.« »Ist er vielleicht mit einem Schildchen am Ärmel hier
eingetroffen?« fragte der Mann von Globe Net. »Ich habe ihm den Namen gegeben.« »Timmie, der Affenjunge«, sagte der Mann von Globe Net. Die drei Reporter lachten. Miß Fellowes wurde immer wütender. Sie fürchtete, sich nicht mehr lange beherrschen zu können. »Stellen Sie ihn doch mal auf den Boden!« rief die Frau von Reuters. »Wir wollen sehen, wie er läuft.« »Dafür ist er zu verschreckt«, lehnte Miß Fellowes ab. Was erwarteten diese Leute eigentlich? Daß Timmie mit den Händen über den Boden schleifte, wenn er durchs Zimmer ging? »Sehen Sie denn nicht selbst, daß er völlig verängstigt ist?« Tatsächlich waren Timmies Atemzüge immer lauter geworden. Gleich würde er zu brüllen anfangen. Und schon ging es los – schrille, durchdringende Schreie, vermischt mit einem Strom von Knurr- und Schnalzlauten. Der Anfall wollte kein Ende nehmen. Sie spürte, wie er zitterte. Das Gelächter, die Hitze der Scheinwerfer, die Fragen, die man auf ihn abfeuerte – der Junge wußte vor Angst nicht mehr aus noch ein… »Miß Fellowes!… Miß Fellowes!…« »Keine weiteren Fragen!« rief sie. »Die Pressekonferenz ist beendet.« Timmie fest an sich drückend, drehte sie sich um und strebte an Hoskins vorbei dem Innern des Puppenhauses zu. Hoskins’ starre Miene verriet, wie bestürzt er war, aber er nickte ihr kurz zu und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Sie brauchte einige Minuten, um den Jungen zu beruhigen. Doch allmählich löste sich die Spannung in dem zuckenden Körperchen, und die Panik wich aus seinem Gesicht. Eine Pressekonferenz! dachte Miß Fellowes verbittert. Für einen Vierjährigen! Das arme Kind! Was wird ihnen wohl als
nächstes einfallen? Nach einer Weile verließ sie empört und mit hochrotem Kopf den Raum und schloß die Tür hinter sich. Die drei Reporter drängten sich immer noch vor dem Eingang. Sie überschritt die Grenze zur Stasis und baute sich vor ihnen auf. »Haben Sie immer noch nicht genug?« fragte sie. »Sie haben den Jungen so verstört, daß ich den ganzen Nachmittag brauchen werde, um seinen Seelenfrieden wiederherzustellen. Warum gehen Sie nicht endlich?« »Wir haben noch ein paar Fragen, Miß Fellowes. Wenn Sie so freundlich wären…« Sie warf Hoskins einen flehentlichen Blick zu. Er zuckte die Achseln und signalisierte ihr mit mattem Lächeln, Geduld zu bewahren. »Wir würden gerne etwas über Sie selbst erfahren, Miß Fellowes…« sagte die Frau von Reuters. »Wir können Ihnen auf Wunsch Kopien von Miß Fellowes’ Arbeitszeugnissen überlassen, Ms. Crawford«, erbot sich Hoskins rasch. »Ich bitte darum.« »Ist sie Spezialistin für Zeitreisen?« »Miß Fellowes ist eine sehr erfahrene Kinderpflegerin«, sagte Hoskins. »Die Stasis GmbH hat sie ausschließlich zu Timmies Betreuung angestellt.« »Und was haben Sie mit – Timmie – vor«, fragte der TimesReporter, »nachdem er nun einmal hier ist?« »Nun ja«, sagte Hoskins. »Aus meiner Sicht wollten wir mit dem Neandertaler-Projekt in erster Linie beweisen, daß wir uns auch in einer relativ nahegelegenen Epoche wie dem Paläolithikum exakt genug orientieren können, um ein lebendes Wesen wohlbehalten hierher zu bringen. Wie Sie ja wissen,
haben wir bisher in einer zeitlichen Distanz von Jahrmillionen operiert, während es hier lediglich um vierzigtausend Jahre ging. Nachdem dieser Versuch nun geglückt ist, bemühen wir uns, das Verfahren weiter zu verfeinern, um noch näher an unsere eigene Zeit heranzukommen. – Aber man darf natürlich nicht vergessen, daß wir nun ein lebendes Neandertalerkind in unserer Mitte haben, ein Wesen, das nicht nur an der Schwelle zum Menschsein steht, sondern als vollwertiger Mensch betrachtet werden muß. Anthropologen und Physiologen interessieren sich natürlich brennend für den Kleinen und werden ihn umfassend studieren.« »Wie lange wollen Sie ihn hierbehalten?« »So lange, bis wir die Stasiszelle dringender brauchen als ihn. Aber das kann eine Weile dauern.« Der Mann von Globe Net meldete sich zu Wort. »Könnten wir nicht mit ihm ins Freie gehen und die Aufnahmen über Subäther übertragen? Das wäre ein echter Knüller für unsere Zuschauer.« Miß Fellowes räusperte sich hörbar. Aber Hoskins kam ihr zuvor. »Es tut mir leid, aber das Kind darf die Stasis nicht verlassen.« »Und was genau versteht man unter Stasis?« fragte Ms. Crawford von Reuters. »Ach.« Hoskins lächelte flüchtig. »Es würde sehr lange dauern, Ihnen das zu erklären – und ich glaube auch nicht, daß Ihre Leser sich besonders dafür interessieren würden. Aber ich kann Ihnen eine knappe Zusammenfassung geben. – In der Stasis gibt es keine Zeit in unserem Sinne. Diese Räume befinden sich in einer unsichtbaren Blase, die eigentlich nicht zu unserem Universum gehört. Man könnte sagen, sie stellen eine eigene, hermetisch abgeschlossene Welt dar. Nur unter
dieser Voraussetzung war es möglich, das Kind so ohne weiteres aus seiner Zeit herauszuholen.« »Augenblick mal«, wandte Underhill von der Times ein. »Eigene Welt? Hermetisch abgeschlossen? Die Schwester geht aber doch ungehindert ein und aus.« »Auch Sie könnten das«, erklärte Hoskins nüchtern. »Denn Sie würden sich parallel zu den temporalen Kraftlinien bewegen, so daß es nicht zu nennenswerten Energieschwankungen käme. Das Kind wurde jedoch aus der fernen Vergangenheit geholt. Dabei hat es die Zeitlinien überquert und ein Zeitpotential aufgebaut. Es in das Universum, unser Universum, und in unsere Zeit zu versetzen, würde soviel Energie kosten, daß sämtliche Sicherungen in diesem Gebäude durchbrennen würden und womöglich die Stromversorgung der ganzen Stadt zusammenbräche. Timmie hat bei seiner Ankunft eine ganze Menge Erde, Zweige und Steine mitgebracht. Wir haben jeden Krümel davon im hinteren Teil der Stasiszone aufbewahrt und werden das Zeug bei nächster Gelegenheit dahin zurückschicken, wo es hergekommen ist. Aber wir können nicht wagen, es aus der Stasis herauszubefördern.« Die Journalisten machten sich eifrig Notizen. Miß Fellowes hatte den Verdacht, daß sie von Hoskins’ Erklärungen kaum etwas verstanden hatten und in dieser Hinsicht auch ihrem Publikum nicht sehr viel zutrauten. Hauptsache, es hörte sich wissenschaftlich an, das war das einzige, was zählte. Der Mann von Globe Net sagte: »Könnten sie uns heute abend für ein Interview auf allen Kanälen zur Verfügung stehen, Dr. Hoskins?« »Ich denke, das läßt sich machen«, sagte Hoskins prompt. »Aber ohne den Jungen«, schaltete sich Miß Fellowes ein. »Natürlich«, sagte Hoskins. »Ohne den Jungen. Ich bin je-
doch gern bereit, alle weiteren Fragen zu beantworten. Wenn wir das Gespräch jetzt vielleicht anderswo fortsetzen könnten…?« Miß Fellowes sah ihnen ohne Bedauern nach. Sie schloß die Tür und wartete, bis die elektronische Verriegelung eingerastet war. Dabei ließ sie sich noch einmal durch den Kopf gehen, was sie eben gehört hatte. Im Grunde waren ihr die Tatsachen alle bekannt: der Aufbau des Zeitpotentials, die enormen Energieschwankungen, die Angst, irgend etwas aus der Stasis zu entfernen, was aus der Vergangenheit kam. Sie rief sich ins Gedächtnis, wie sehr sich Dr. Hoskins über Professor Adamewski aufgeregt hatte, als der eine Gesteinsprobe aus seiner Stasiszelle schmuggeln wollte, und was er ihr damals erklärt hatte. Vieles davon hatte nicht lange vorgehalten, aber jetzt, im Rückblick, drängte sich eine Schlußfolgerung zwingend auf, eine Erkenntnis, die sie damals nur gestreift, aber nicht weiterverfolgt hatte: Timmie war dazu verurteilt, die Welt, in die man ihn – ohne sein Wissen und ohne seine Einwilligung – hineingestoßen hatte, niemals kennenzulernen. Solange er sich in der Gegenwart aufhielt, würde die Stasiszelle sein Universum bleiben. Er war ein Gefangener und würde es immer sein. Nicht auf Grund eines Willkürerlasses von Dr. Hoskins, sondern auf Grund der unerbittlichen Gesetze des Verfahrens, mittels dessen man ihn aus seiner Zeit hierhergeholt hatte. Es war nicht so, daß Hoskins ihn nicht aus der Stasis herauslassen wollte, er konnte es nicht. Das Gespräch mit Hoskins am Abend von Timmies Ankunft kam ihr wieder in den Sinn. »Das einzige, was Sie sich merken müssen, ist folgendes: er darf diese Räume nie verlassen. Niemals. Nicht für eine Sekunde. Aus
keinem wie immer gearteten Grund. Nicht einmal, wenn sein Leben in Gefahr ist. Nicht einmal, wenn Ihr Leben in Gefahr ist, Miß Fellowes. – Ist das klar?« Hoskins hatte damals eine kurze Erklärung abgegeben, auf die sie aber nicht weiter geachtet hatte. Eine Frage der Energie, hatte er gesagt. Hier finden die Gesetze der Thermodynamik Anwendung. Zu diesem Zeitpunkt war ihr zu viel anderes und Wichtigeres im Kopf herumgegangen. Doch jetzt sah sie alles mit erschreckender Deutlichkeit. Das Puppenhaus mit seinen wenigen Räumen würde für alle Zeit Timmies Welt bleiben müssen. Armes Kind. Armer, kleiner Junge. In diesem Moment hörte sie ihn weinen und eilte in sein Zimmer, um ihn zu trösten.
29 Hoskins war gerade im Begriff, die Sitzung des Vorstandes zu eröffnen, als sein Telefon klingelte. Gereizt starrte er es an. Was jetzt? Es klingelte weiter. »Sie entschuldigen mich bitte?« wandte er sich an die Anwesenden. Dann schaltete er auf Audiobetrieb und sagte: »Hoskins.« »Dr. Hoskins, hier spricht Bruce Mannheim. Vom ›Verein zum Schutz des Kindes‹. Ich denke, Sie kennen mich.« Hoskins verschluckte sich fast.
»Ja, Mr. Mannheim. Was kann ich für Sie tun?« »Ich habe mir gestern abend natürlich die Sendung mit Ihrem Interview angesehen. Über den kleinen Neandertalerjungen. Faszinierend, wirklich faszinierend. Ein wissenschaftlicher Durchbruch ersten Ranges!« »Oh, vielen Dank. Und…« »Der aber mit Sicherheit gewisse moralische und ethische Probleme aufwirft, wie wohl auch Ihnen klar sein dürfte. Sie haben ein Kind aus einer fremden Kultur aus seinem Familienverband gerissen, in dem es sich geborgen fühlte, um es in unsere Zeit zu bringen…« Mannheim machte eine bedeutungsschwangere Pause. »Ich glaube, darüber müssen wir uns ausführlich unterhalten, Dr. Hoskins.« »Das mag schon sein. Aber im Moment…« »Doch nicht sofort«, beruhigte ihn Mannheim. »Das lag keineswegs in meiner Absicht. Was ich vorschlagen wollte, war vielmehr ein Treffen, bei dem wir die anstehenden Fragen etwas umfassender…« »Ja.« Hoskins verdrehte die Augen. »Gewiß doch. Selbstverständlich, Mr. Mannheim. Würden Sie meiner Sekretärin bitte ihre Nummer geben? Sie wird sich sobald wie möglich mit Ihnen in Verbindung setzen, um einen passenden Termin zu vereinbaren.« »Sehr schön, Dr. Hoskins. Ich danke Ihnen vielmals.« Hoskins legte den Hörer auf. Er war sichtlich erschüttert. »Bruce Mannheim«, verkündete er kläglich. »Der berühmte ›Anwalt der Kinder‹. Möchte mit mir über den Jungen reden. – Mein Gott! Mein Gott! Das war wohl unvermeidlich? Jetzt haben wir den Schlamassel.«
30 In den folgenden Wochen wurde Miß Fellowes’ Bindung an die Stasis GmbH zusehends fester. Man wies ihr ganz in der Nähe des Puppenhauses (wie sie Timmies Stasissektion immer noch bezeichnete) ein eigenes, kleines Büro zu, an dessen Tür ihr Name stand. Hoskins zerriß den ersten Vertrag und setzte einen neuen auf, der eine kräftige Gehaltserhöhung vorsah. Auch wenn sie mit dem Generaldirektor der Stasis GmbH immer wieder einmal aneinandergeriet, hatte sie sich offensichtlich seinen Respekt erworben. Er erfüllte ihr den anfangs geäußerten Wunsch, im Puppenhaus Zimmerdecken einziehen zu lassen; neue und bessere Möbel wurden angeschafft, eine zweite Naßzelle wurde eingebaut, und man sorgte auch dafür, daß Miß Fellowes genügend Schränke erhielt, um ihre Habseligkeiten bequem unterzubringen. Hoskins bot ihr sogar eine eigene Wohnung auf dem Firmengelände an, damit sie nicht mehr vierundzwanzig Stunden täglich im Dienst zu sein brauchte, aber das lehnte sie ab. »Wenn Timmie schläft, möchte ich in seiner Nähe sein«, erklärte sie. »Er wacht fast jede Nacht einmal auf und weint. Anscheinend hat er sehr lebhafte Träume – Angstträume, nehme ich an. Ich kann ihn trösten, aber ich glaube nicht, daß jemand anderer dazu in der Lage wäre.« Gelegentlich verließ Miß Fellowes auch das Firmengelände, aber weniger, weil es ihr ein Bedürfnis war, als weil sie es für nötig hielt. Dann ging sie in die Stadt, um Besorgungen zu erledigen – auf der Bank Geld einzuzahlen oder Kleidung und Spielzeug für Timmie zu kaufen. Einmal sah sie sich sogar einen Film an. Aber sie hatte ständig Angst um den Jungen
und konnte es kaum erwarten, wieder bei ihm zu sein. Timmie wurde das Wichtigste in ihrem Leben. In den Jahren ihrer Tätigkeit im Krankenhaus war ihr nie so recht zu Bewußtsein gekommen, wie sehr die Arbeit der Mittelpunkt ihres Daseins war, und wie wenige Verbindungen sie zur Außenwelt hatte. Seit sie nun auch noch an ihrem Arbeitsplatz lebte, zeigte sich das überdeutlich. Außenkontakte waren ihr nicht sonderlich wichtig, sie hatte nicht einmal Lust, ihre wenigen Freundinnen zu besuchen, die zumeist ebenfalls Krankenschwestern waren. Es genügte ihr, mit ihnen zu telefonieren. Bei einem dieser Ausflüge in die Stadt wurde Miß Fellowes besonders deutlich vor Augen geführt, wie sehr sie sich an Timmie gewöhnt hatte. Eines Tages ertappte sie sich nämlich dabei, wie sie auf der Straße einen ganz gewöhnlichen Jungen anstarrte und seine hohe, gewölbte Stirn, das ausgeprägte Kinn, die flache Augenpartie und die unreife, kleine Stupsnase plump und reizlos fand. Sie mußte sich schütteln, um den Bann zu brechen. Nicht nur sie hatte gelernt, Timmie so zu nehmen, wie er war, und sein fremdartiges Aussehen für normal zu halten, auch Timmie schien sich recht schnell an sein neues Leben zu gewöhnen. Seine Scheu vor Fremden schwand immer mehr; seine Träume belasteten ihn zunehmend weniger, und bei Miß Fellowes fühlte er sich inzwischen so wohl, als sei sie seine leibliche Mutter. Er lernte, die Overalls, die er meist trug, selbständig an- und auszuziehen, eine Leistung, auf die er sichtlich stolz war. Außerdem hatte sie ihm beigebracht, aus einem Glas zu trinken und sein Essen mit einer Plastikgabel in den Mund zu befördern – wobei er sich freilich noch recht ungeschickt anstellte. Und offenbar bemühte er sich sogar, Englisch zu lernen.
Miß Fellowes war es nicht gelungen, Timmies aus Knurrlauten und Zungenschnalzern bestehende Sprache zu entschlüsseln. Obwohl Hoskins tatsächlich alles hatte aufzeichnen lassen und sie sich Timmies Äußerungen immer wieder angehört hatte, war es nicht möglich gewesen, irgendwelche Gesetzmäßigkeiten darin zu entdecken. Er knurrte eben oder schnalzte mit der Zunge, aber das war auch alles. Zwar gab es bestimmte Lautfolgen, die anzeigten, daß er hungrig war, andere bei Müdigkeit, wieder andere, wenn er Angst hatte. Aber wie Hoskins gleich zu Anfang festgestellt hatte, reagierten auch Hunde und Katzen mit charakteristischen Geräuschen auf bestimmte Situationen, ohne daß man bisher einzelne ›Worte‹ einer Hunde- oder Katzen›sprache‹ hätte isolieren können. Vielleicht war sie nur nicht imstande, die Sprachmuster zu erkennen. Vielleicht waren sie alle taub dafür. Sie war immer noch sicher, daß Timmie sich einer Sprache bediente – aber die Strukturen waren von allen modernen Sprachen so weit entfernt, daß kein Mensch von heute sie mehr nachvollziehen konnte. Wenn Miß Fellowes ihre Anfälle von Niedergeschlagenheit hatte, fürchtete sie sogar, Timmie würde überhaupt niemals eine richtige Sprache erlernen können – entweder, weil die Neandertaler noch zu weit am Anfang des Evolutionsweges standen, um die intellektuelle Fähigkeit des Spracherwerbs zu besitzen, oder aber, weil er die Jahre, in denen sich das Sprachvermögen entwickelte, unter Menschen verbracht hatte, die sich nur auf primitivste Weise verständigten, und jetzt völlig überfordert war, wenn er komplexere Strukturen bewältigen sollte. Sie las Abhandlungen über das Verhalten von Kindern, die über längere Zeit wie die Tiere allein in der Wildnis gelebt
hatten – und fand heraus, daß auch sie, nachdem man sie gefunden und in die Zivilisation zurückversetzt hatte, fast ohne Ausnahme nur noch primitive Grunzlaute hervorbrachten. Offenbar lernten selbst Kinder, die über die erforderlichen physiologischen und intellektuellen Voraussetzungen verfügten, nicht mehr sprechen, wenn die entsprechenden Anreize in den ersten Lebensjahren fehlten. Miß Fellowes wünschte sich von ganzem Herzen, Timmie möge ihr – und Dr. McIntyre – das Gegenteil beweisen, um auch die letzten Zweifel an seinem Menschsein zu entkräften. Schließlich war die Sprache doch die Eigenschaft, die den Menschen am eindeutigsten vom Tier unterschied. »Milch«, sagte sie und deutete mit dem Finger auf das Glas. »Ein Glas Milch.« Timmie ließ seine Hungerschnalzlaute hören. »Ich weiß. Du bist hungrig. Möchtest du einen Schluck Milch?« Keine Antwort. Sie versuchte es anders. »Timmie – du. Du – Timmie.« Sie zeigte auf ihn. Er beobachtete interessiert ihre Hand, sagte aber nichts. »Gehen.« »Essen.« »Lachen.« »Ich – Miß Fellowes. Du – Timmie.« Keine Reaktion. Es ist hoffnungslos, dachte Miß Fellowes verzweifelt. Hoffnungslos, absolut hoffnungslos! »Sprechen?« »Trinken?« »Essen?«
»Lachen?« »Essen«, sagte Timmie plötzlich. Sie war so verdutzt, daß sie den Teller mit seinem Essen fast fallen gelassen hätte. »Sag das noch einmal!« »Essen.« Es klang genauso. Nicht besonders deutlich. Eher wie ›Eeen.‹ Den Zischlaut in der Mitte hatte sie beide Male vermißt. Aber es waren die richtigen Laute in diesem Kontext. Sie hielt den Teller so hoch, daß er ihn nicht erreichen konnte. »Eeen!« wiederholte er. Diesmal klang es drängender. »Essen?« fragte sie. »Du möchtest essen?« »EEEeen!« Die Ungeduld war nicht zu überhören. »Brav«, sagte Miß Fellowes. »Jetzt darfst du essen, Timmie! Essen! Du darfst deinen Teller leer essen!« »Eeeeen«, wiederholte er befriedigt, griff nach seiner Gabel und machte sich über den Teller her. »Hat es geschmeckt?« fragte sie ihn hinterher. »Hat dir das Essen geschmeckt?« Das war wohl zuviel verlangt. Aber jetzt würde sie nicht mehr aufgeben. Wer ein Wort sprach, konnte auch mehr lernen. Mußte mehr lernen können. Wieder zeigte sie auf ihn. »Timmie.« »Mmm-mmm«, antwortete er. War das etwa seine Art, ›Timmie‹ zu sagen? »Möchte Timmie noch etwas essen? Essen?« Sie zeigte erst auf ihn, dann auf ihren Mund, und begann zu kauen. Er sah sie an und sagte nichts. Warum sollte er auch? Jetzt war er ja nicht mehr hungrig. Aber er wußte, daß er Timmie hieß. Oder nicht?
»Timmie«, sagte sie wieder und zeigte auf ihn. »Mmm-mmm.« Er klopfte sich auf die Brust. Damit waren auch die letzten Zweifel beseitigt. Eine Woge von – Stolz? Freude? Staunen? – schlug über Miß Fellowes zusammen. Einen Augenblick lang kämpfte sie mit den Tränen. Dann rannte sie zur Gegensprechanlage. »Dr. Hoskins! Könnten Sie bitte sofort herkommen? Und bringen Sie auch Dr. McIntyre mit!«
31 »Hier spricht wieder Bruce Mannheim, Dr. Hoskins.« Hoskins starrte das Telefon in seiner Hand so entsetzt an, als habe es sich plötzlich in eine Schlange verwandelt. Das war Mannheims dritter Anruf in knapp zwei Wochen. Aber er gab sich so entgegenkommend, wie es ihm nur möglich war. »Ja, Mr. Mannheim! Freut mich, von Ihnen zu hören.« »Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß ich die Ergebnisse unseres übrigens sehr angenehmen Gesprächs letzte Woche mit meinem Beratergremium erörtert habe.« »Ja?« fragte Hoskins schon etwas weniger entgegenkommend. Er hatte dieses Gespräch nämlich keineswegs in angenehmer Erinnerung, sondern hatte Mannheims Einmischung vielmehr als empörend und unverschämt empfunden. »Ich sagte ihnen, Sie hätten meine ersten Erkundigungen durchaus zufriedenstellend beantwortet.«
»Freut mich zu hören.« »Daraufhin haben wir beschlossen, bezüglich des kleinen Neandertalers vorläufig nichts zu unternehmen, aber die Lage genau zu beobachten, während wir uns mit der Frage weiterhin eingehend befassen. Ich werde Sie nächste Woche noch einmal anrufen und Ihnen eine weitere Liste von Punkten vorlegen, die einer Klärung bedürfen. Darauf wollte ich Sie nur vorbereiten.« »Ach – ja«, sagte Hoskins. »Vielen Dank, Mr. Mannheim.« Er schloß die Augen und zwang sich, langsam und regelmäßig zu atmen. Vielen Dank, Mr. Mannheim. Sehr freundlich von Ihnen, daß Sie uns gestatten, unsere Arbeit vorläufig fortzusetzen. Natürlich nur so lange, wie Sie brauchen, um sich mit der Frage eingehend zu befassen. Vielen Dank. Vielen, herzlichen Dank.
32 Der Tag, an dem Timmie seine ersten, englischen Worte sprach, war für Miß Fellowes ein Freudentag gewesen. Doch in der folgenden Zeit hatte sie immer seltener Grund zum Jubeln. Timmie war eben nicht nur ein kleiner Junge, für dessen Wohlergehen sie verantwortlich war. Er war auch von außerordentlichem Interesse für die Wissenschaft, und so gaben sich Forscher aus aller Welt die Klinke in die Hand. Jeder wollte ihn studieren, Dr. Jacobs und Dr. McIntyre waren nur die
Vorhut gewesen, die ersten Tropfen einer regelrechten Sintflut. Jacobs und McIntyre waren natürlich immer noch sehr präsent. Sie hatten nicht nur das Glück gehabt, Timmie als erste in die Finger zu bekommen, sondern liefen nach wie vor auf der Innenbahn bzw. genossen eine gewisse Vorrangstellung. Aber sie mußten einsehen, daß sie ihn nicht für sich allein beanspruchen konnten. Anthropologen, Physiologen, Kulturhistoriker und alle möglichen anderen Fachleute klopften in Scharen an die Tür des Puppenhauses. Und jeder hatte seine eigenen Pläne mit dem kleinen Neandertalerjungen. Der Umstand, daß Timmie jetzt Englisch sprechen konnte, fachte die Begeisterung nur noch mehr an. Einige glaubten offenbar, sie brauchten sich nur hinzusetzen und den Jungen mit Fragen über das Leben im Paläolithikum zu überschütten: »Welche Tiere hat dein Stamm gejagt?« »Was hattet ihr für eine Religion? Woran hat dein Volk geglaubt?« »Habt ihr euch bei euren Wanderungen nach den Jahreszeiten gerichtet?« »Haben sich die Stämme untereinander bekämpft?« »Hat eure Subspezies mit der anderen Krieg geführt?« Timmie war die einzige Informationsquelle. Ihre Köpfe produzierten immer neue Fragen, die nur er allein beantworten konnte. Sag doch, sag doch, sag doch! Wir möchten alles wissen über dein Volk und seine… Verwandtschaftsstukturen… Totemtiere… Sprachgruppen… Kenntnisse in Astronomie… technischen Fähigkeiten… Doch leider konnten all diese faszinierenden und zweifellos
wichtigen Erkundigungen nicht eingeholt werden, weil Timmies Englischkenntnisse sich zwar von Tag zu Tag verbesserten, sich aber immer noch auf Sätze wie ›Timmie jetzt essen‹ oder ›Mann jetzt weggehen‹ beschränkten. Außerdem war Miß Fellowes die einzige, die seine Äußerungen einigermaßen zuverlässig deuten konnte. Für alle anderen, auch wenn sie mit dem Jungen praktisch täglich zusammen waren, ergaben die schwerfälligen, halberstickten Laute, die er hervorstieß, so gut wie nie einen Sinn. Die ursprünglichen Hypothesen bezüglich der linguistischen Fähigkeiten der Neandertaler schienen sich zumindest in Teilen zu bestätigen: die Neandertaler verfügten zwar über die erforderliche intellektuelle Veranlagung und waren auch von der Anatomie her imstande, verständliche Worte zu erzeugen, aber ihre Zunge und ihr Kehlkopf waren offenbar nicht in der Lage, so deutlich zu artikulieren, wie es für eine moderne Sprache erforderlich war. Jedenfalls galt das für Timmie. Selbst Miß Fellowes hatte meistens Mühe zu erraten, was er sagen wollte. Es war für alle Seiten frustrierend – für Timmie, für Miß Fellowes und ganz besonders für die Wissenschaftler, die ihre Fragen so gern an den Mann gebracht hätten. Und Timmies Isolation trat damit nur noch deutlicher zutage. Obwohl er allmählich lernte, sich mit seinen Kerkermeistern zu verständigen – und was sind wir schließlich anderes, dachte Miß Fellowes immer wieder, als seine Kerkermeister – bedurfte es ungeheurer Anstrengungen, um dem einzigen Menschen, der ihn halbwegs verstand, auch nur die einfachsten Dinge mitzuteilen. Er muß sich entsetzlich einsam fühlen! dachte sie. Und obendrein verwirrt und verängstigt durch den ständi-
gen Trubel! Sie schirmte ihn nach Kräften ab. Sie konnte und wollte sich nicht damit abfinden, lediglich an einem wissenschaftlichen Experiment beteiligt zu sein, obwohl das im Grunde natürlich die Realität war. Aber im Mittelpunkt des Experiments stand ein bedauernswertes, kleines Kind, und sie würde nicht zulassen, daß es nur als Versuchsobjekt behandelt wurde. Die Physiologen setzten ihn alle paar Tage auf eine andere Diät. Miß Fellowes kaufte ihm Spielzeug. Die Wissenschaftler verlangten immer neue Blutproben und Röntgenaufnahmen und sogar Proben von Timmies Haaren. Miß Fellowes brachte ihm Lieder und Kinderreime bei. Die Wissenschaftler testeten bis zu Timmies völliger Erschöpfung seine Koordination und seine Reflexe, seine Sehschärfe, sein Hörvermögen und seine natürliche Intelligenz. Miß Fellowes nahm ihn hinterher in die Arme und tröstete und streichelte ihn, damit er sich wieder beruhigte. Die Wissenschaftler beanspruchten immer mehr von seiner Zeit. Miß Fellowes bestand darauf, die täglichen Sitzungen streng zu begrenzen. Meistens setzte sie ihre Wünsche durch, aber nicht immer. Die Wissenschaftler hielten sie vermutlich für einen alten Drachen, der mit seiner Halsstarrigkeit und seiner Unvernunft dem Fortschritt im Wege stand. Miß Fellowes kümmerte sich nicht darum. Mochten sie doch denken, was sie wollten, für sie zählten nur Timmies Interessen. Der einzige, von dem sie in Maßen unterstützt wurde, war Hoskins. Er kam jetzt praktisch täglich ins Puppenhaus. Miß Fellowes wußte natürlich, daß ihm jedes Mittel recht war, um sich seinen zunehmend drückenderen Aufgaben als Leiter der Stasis GmbH für eine Weile zu entziehen. Außerdem war ihm
das Kind, um das sich der ganze Wirbel drehte, ans Herz gewachsen. Aber sie hatte auch den Eindruck, daß er sich gern mit ihr unterhielt. (Sie hatte in der Zwischenzeit einiges über ihn erfahren. Das Verfahren zur Analyse der reflektierten Mesonenstrahlen hatte er allein entwickelt, und an der Erarbeitung der Methode zur Stasiserzeugung war er nicht unwesentlich beteiligt. Wenn er sich oft als kalter, allzu nüchterner Geschäftsmann gab, wollte er damit nur seine Gutmütigkeit verbergen, die manchmal allzu sehr ausgenützt wurde. Und er war verheiratet, oh ja, und zwar glücklich.) Und eines Tages erlebte Hoskins mit, wie sie explodierte. Es war ein schlimmer Tag gewesen, ein sehr schlimmer Tag sogar. Aus Kalifornien war ein neues Physiologenteam mit einer ganzen Serie von Tests angereist, denen man Timmie nun sofort, auf der Stelle unterziehen wollte, um neue Erkenntnisse über seine Körperhaltung und seine Beckenform zu gewinnen. Zu diesem Zweck sollte er in verschiedenen Stellungen gegen eine raffinierte Konstruktion aus kalten Metallstäben gedrückt werden. Timmie zeigte allerdings keine große Lust, sich gegen kalte Metallstäbe drücken zu lassen. Als Miß Fellowes sah, daß sie ihn hin- und herschoben wie ein Meerschweinchen aus dem Versuchslabor, wurde sie so wütend, daß sie am liebsten sämtliche Wissenschaftler ermordet hätte. »Genug!« schrie sie endlich. »Hinaus! Hinaus!« Die Physiologen sahen sie fassungslos an. »Ich sagte: Hinaus! Die Sitzung ist beendet! Der Junge ist müde. Sie verdrehen ihm die Beine und verrenken ihm den Rücken. Sehen Sie denn nicht, daß er weint? Hinaus! Hinaus!« »Aber Miß Fellowes…« Sie begann, die Instrumente einzusammeln. Hastig riß man
sie ihr aus den Händen. Sie wies auf die Tür. Murrend zogen die Eindringlinge ab. Blind vor Zorn starrte sie ihnen nach. Die Tür stand noch offen, und sie überlegte gerade, was für eine Unverschämtheit wohl als nächstes auf dem Plan stand. Hinter sich hörte sie Timmies herzzerreißendes Schluchzen. Und plötzlich merkte sie, daß Hoskins eingetreten war. »Gibt es Probleme?« fragte er. Sie sah ihn erbost an. »Das kann man wohl sagen!« Sie drehte sich um und winkte Timmie zu sich. Er kam sofort angelaufen und klammerte sich mit Armen und Beinen an ihr fest. Sie drückte ihn an sich und hörte, wie er leise vor sich hinmurmelte, ohne jedoch einzelne Worte verstehen zu können. Hoskins sagte ernst: »Er sieht nicht sehr glücklich aus.« »Wie würden Sie sich denn fühlen, wenn Sie in seiner Haut steckten? Jetzt plagen sie ihn schon jeden Tag mit ihren Blutproben, ihren Untersuchungen, ihren Tests. Sie hätten sehen sollen, wie sie eben wieder mit ihm umgesprungen sind – anscheinend wollten sie prüfen, wie seine Beine befestigt sind. Und jetzt hat man auch noch die Ernährung umgestellt. Das synthetische Zeug, das er seit Montag auf Jacobs Anweisung bekommt, würde ich nicht einmal einem Schwein zumuten.« »Dr. Jacobs sagt, es würde ihn kräftigen, seine Abwehrkräfte stärken…« »Wofür? Damit er noch mehr Tests durchhält?« »Sie dürfen nicht vergessen, Miß Fellowes, daß dieses Experiment in erster Linie den Zweck hat, möglichst viele Erkenntnisse über…« »Ich habe es nicht vergessen, Doktor. Aber vergessen Sie bitte nicht, daß wir es hier weder mit einem Hamster, noch mit
einem Meerschweinchen oder einem Schimpansen zu tun haben, sondern mit einem richtigen Menschen.« »Das bestreitet doch niemand«, sagte Hoskins. »Aber…« Wieder fiel sie ihm ins Wort. »Aber niemand kümmert sich darum, daß er ein Mensch ist, ein Kind. Alle sehen in ihm nur ein Äffchen, dem man einen Overall angezogen hat, und jetzt glauben Sie, Sie könnten…« »Das ist nicht wahr…« »Oh doch! Oh doch, Dr. Hoskins! Das lasse ich mir nicht ausreden. Sie haben einmal gesagt, Ihr Unternehmen sei erst durch Timmies Ankunft bekannt geworden. Wenn Sie wissen, was Dankbarkeit ist, dann halten Sie diese Leute von dem armen, kleinen Kerl fern, zumindest so lange, bis er etwas älter ist und besser versteht, was sie von ihm wollen. Nach besonders schlimmen Sitzungen hat er Alpträume oder kann nicht einschlafen. Manchmal wimmert er stundenlang. Ich warne Sie…« – sie hatte sich wieder in Rage geredet –, »ich lasse sonst keinen Wissenschaftler mehr über die Schwelle. Keinen einzigen!« (Sie merkte selbst, daß ihre Stimme immer lauter geworden war. Das letzte Wort hatte sie geschrien. Aber sie konnte nicht anders.) Hoskins sah sie tief gekränkt an. »Es tut mir leid«, sagte sie nach einer Weile in sehr viel ruhigerem Ton. »Ich wollte Sie nicht anbrüllen.« »Ich sehe ja, wie erregt Sie sind. Und ich kann auch verstehen, warum.« »Vielen Dank.« »Dr. Jacobs hat mir versichert, daß der Junge bei bester Gesundheit sei, und daß ihm das Forschungsprogramm, dem er sich – unterziehen – muß, in keiner Weise schade.«
»Dr. Jacobs sollte einmal eine Nacht hier verbringen, dann würde er die Dinge vielleicht mit anderen Augen sehen«, sagte Miß Fellowes. Als sie Hoskins’ überraschten Blick bemerkte, wurde sie rot, denn sie begriff erst jetzt, daß man ihre Worte auch anders auffassen konnte. »Er sollte hören, wie Timmie im Dunkeln weint. Sollte miterleben, wie ich zu ihm gehe, ihn in die Arme nehme und ihm Wiegenlieder vorsinge. Es schadet ihm nicht, Dr. Hoskins? Wenn ihm das alles nicht schadet, dann nur, weil er die ersten Jahre seines Lebens unter den schlimmsten Bedingungen verbringen mußte, die man sich nur vorstellen kann, und trotzdem überlebt hat. Ein Kind, das einen Eiszeitwinter überstanden hat, wird wahrscheinlich auch eine Horde von Weißkitteln mit ihren Spritzen und Tests überstehen. Aber das heißt noch lange nicht, daß sie ihm besonders gut bekommen.« »Wir müssen bei der nächsten Personalkonferenz noch einmal über die Forschungspläne sprechen.« »Darauf bestehe ich. Und wir müssen jedermann daran erinnern, daß Timmie Anspruch auf menschenwürdige Behandlung hat. Daß er wie ein Mensch behandelt werden muß.« Hoskins lächelte. Sie sah ihn fragend an. »Es ist unglaublich, was Sie seit dem ersten Tag für eine Wandlung durchlaufen haben. Damals hätten Sie mir am liebsten die Augen ausgekratzt, weil ich Ihnen einen Neandertaler aufgehalst hatte. Sie wollten schon fast kündigen, wissen Sie noch?« »Ich hätte nie gekündigt«, sagte Miß Fellowes leise. »›Ich bleibe bei ihm – bis auf weiteres.‹ Das waren Ihre Worte. Sie waren wie von Sinnen. Ich mußte Sie erst davon überzeugen, daß es sich wirklich um ein Kind handelte und nicht um einen kleinen Primaten, der eigentlich in den Zoo
gehörte.« Miß Fellowes sah zu Boden und flüsterte: »Ich hatte im ersten Moment wohl noch nicht begriffen…« Dann verstummte sie. Timmie hing immer noch an ihr, war aber sehr viel ruhiger geworden. Sie gab ihm einen liebevollen Klaps auf sein Hinterteil und schickte ihn in sein Spielzimmer. Hoskins schaute hinein, als Timmie die Tür öffnete. Die vielen Spielsachen entlockten ihm ein Lächeln. »Ganz schönes Sortiment«, sagte er. »Das arme Kind hat sie sich redlich verdient. Sie sind seine einzige Freude, und auszustehen hat er nun wahrhaftig genug.« »Natürlich, natürlich. Er soll sogar noch mehr bekommen. Ich schicke Ihnen einen Bestellschein. Suchen Sie aus, was ihm Ihrer Meinung nach gefallen könnte…« Miß Fellowes lächelte. »Sie haben Timmie gern, nicht wahr?« »Natürlich habe ich ihn gern. Er ist so ein robustes Kerlchen! Und unglaublich tapfer.« »Das kann man wohl sagen.« »Genauso tapfer wie Sie, Miß Fellowes.« Sie wußte nicht, was sie davon halten sollte. Schweigend sahen sie sich an. Hoskins schien seine Maske abgelegt zu haben. Miß Fellowes bemerkte die tiefe Müdigkeit in seinen Augen und war aufrichtig besorgt. »Sie sind ja völlig erschöpft, Dr. Hoskins.« »Sieht man mir das an, Miß Fellowes?« Sein Lachen klang nicht ganz echt. »Dann muß ich mich wohl bemühen, einen etwas wacheren Eindruck zu vermitteln.« »Gibt es neue Probleme, von denen ich erfahren sollte?«
»Probleme?« fragte er überrascht. »Nein, keine Probleme! Wie kommen Sie denn darauf? – Ich habe nur einen sehr anstrengenden Job. Nicht, daß die Materie so schwierig wäre, das würde mich nicht stören. Aber es ist einfach nicht die Art von Arbeit, die mich glücklich macht. Wenn ich mich wieder ins Labor stellen könnte…« Er schüttelte den Kopf. »Lassen wir das. Ich habe Ihre Beschwerde zur Kenntnis genommen, Miß Fellowes. Wir werden sehen, ob wir Timmies wissenschaftliches Programm nicht etwas reduzieren können. Natürlich nur, soweit das in Anbetracht der wichtigen Erkenntnisse, die er uns vermitteln kann, zu vertreten ist. Sie verstehen sicher, wie ich das meine.« »Worauf Sie sich verlassen können«, sagte Miß Fellowes ein klein wenig zu trocken.
Viertes Intermezzo DER KRIEGERORDEN Bei Tagesanbruch wölbte sich der Himmel grau und tot über dem Land, und ein scharfer Wind wehte aus zwei Richtungen zugleich. Noch hing ein weißer Mondsplitter wie ein Beinmesser am Himmel, als sich die Angehörigen des Kriegerordens bereitmachten, den Hügel hinabzusteigen und das Heiligtum mit den Glitzersteinen am Treffpunkt der drei Flüsse aufzusuchen. Die-Alles-Weiß stand etwas abseits und beobachtete sie von ferne. Am liebsten wäre sie mit ihnen gegangen. Die interessanten Erlebnisse waren immer den Männern vorbehalten, und immer den gleichen Männern, den jungen nämlich, die voller Saft und Kraft waren. Die Alten wie Silberne Wolke, Stinkender Moschusochse und Kämpft-Wie-EinLöwe hielten die großen Reden und gaben die Befehle, aber nur die Jungen, Wolfsbaum, Gespaltener Berg, Feuerauge, Vogel-Im-Gebüsch und drei oder vier weitere durften tatsächlich handeln. Sie waren als einzige wirklich lebendig. Die-AllesWeiß beneidete sie glühend. Wenn es auf den Ebenen Wild gab, bildeten sie den Jägerorden. Sie schliffen ihre Speerspitzen, umwickelten sich die Fußknöchel mit schwarzen Wolfsfellstreifen, um ihren Beinen Kraft und Schnelligkeit zu verleihen, und zogen aus, um eine Mammutherde in wilder Flucht über die Klippen zu hetzen, ein armes, verirrtes Rhinozeros einzukreisen und so lange darauf einzustechen, bis es zu Boden stürzte, oder mit steinbewehrten Schnüren nach den flinken Rentieren zu werfen, in der Hoffnung, daß sich die Schnur um die Beine eines Tieres
wickle und es zu Fall bringe. Wenn sie dann die Beute singend und tanzend ins Lager trugen oder schleppten, liefen alle zusammen, riefen laut ihre Namen und priesen ihre Kühnheit, und beim Festmahl durften sie sich die besten Fleischstücke aussuchen, das Herz, das Gehirn, und was es sonst noch an Leckerbissen gab. Wenn jemand gegen die Gesetze verstoßen hatte, oder wenn ein Häuptling am Ende seiner Tage angelangt war und in die nächste Welt geschickt werden mußte, fanden sie sich zum Todesorden zusammen. Sie legten die Bärenfellmasken an, holten die Elfenbeinkeulen hervor und zogen mit ihrem Opfer so weit vom Lager weg, bis der Stamm sie nicht mehr sehen konnte. Dann taten sie, was getan werden mußte, und hinterher kehrten sie in feierlicher Prozession zurück und sangen das ›Lied von der nächsten Welt‹, das nur die Angehörigen des Todesordens singen durften. Wenn aber in der Nähe des Lagers Feinde lauerten, dann wurden genau dieselben Männer zum Kriegerorden, bemalten sich die Schultern mit blauen und die Lenden mit roten Streifen und legten die gelben Löwenfelle an. Genau das taten sie jetzt, und Die-Alles-Weiß brannte vor Eifersucht. Die Männer standen nackt im Kreis um Mammutreiter, den greisen Künstler herum, der mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden saß und sich tief über seine Arbeit beugte. Alle lachten sie nervös und neckten sich. Die Kriegsbemalung kam nur zum Einsatz, wenn ein Kampf bevorstand, und das war schon so lange nicht mehr der Fall gewesen, daß die Farben nun frisch hergestellt werden mußten. Das dauerte seine Zeit. Nur Mammutreiter verstand es, die Steine zu zerreiben und das Pulver so mit Antilopenfett zu vermischen, daß es auch an der Haut haften blieb, und deshalb mußten sich die Männer des
Kriegerordens eben gedulden. Doch nun war es endlich soweit. Mammutreiter schüttete die Farbstoffe aus den Röhrenknochen, in denen sie aufbewahrt wurden, in die Steinschalen, verrührte sie mit dem Fett und reichte Gespaltener Berg die Schale mit der roten und Junge Antilope die Schale mit der blauen Farbe. Die anderen stellten sich in einer Reihe auf, um sich bemalen zu lassen. Das Lachen und Scherzen wurde noch lauter, denn die Männer hatten Angst vor dem, was ihnen bevorstand, und suchten sie zu verbergen. Als die beiden Maler begannen, mit ihren Fuchsschwänzen die Farbe aufzutragen, sorgte das Kitzeln für neues Gelächter. Die Schulterpartie war noch kein Problem: ein schmaler blauer Streifen quer über den Rücken, ein breiter Streifen über die Brust, und die zwei heiligen Punkte der Göttin, einer auf den harten Klumpen am Hals und ein zweiter über dem Herzen. Was besonders für Heiterkeit sorgte, war die Bemalung des Unterleibs. Zuerst der dicke, rote Strich, der dicht oberhalb des Mannesteils über den Bauch und weiter über die Hinterbacken führte; und dann – und dabei mußte jeder lachen – der lange Streifen der Göttin über das ganze Geschlechtsorgan und die zwei roten Punkte auf die kleinen Bälle darunter. Hier trug Gespaltener Berg die Farbe besonders schwungvoll auf, und alle Männer taten so, als sei das Kitzeln gar nicht auszuhalten. Vielleicht war es ja auch wirklich so. Kommt schon, dachte Die-Alles-Weiß. Ich will auch bemalt werden! Ich habe zwar kein Mannesteil, aber wenn ihr mir die roten Streifen über die Lenden und die Brüste zieht, ist das ebenso gut. Ich will mit euch in den Kampf ziehen. Ich bin kein schlechterer Krieger als irgendeiner von euch. Ganz gewiß nicht.
Jetzt waren sie fast fertig. Nur die Maler selbst standen noch aus. Nun nahm sich Gespaltener Berg den Unterleib von Junge Antilope vor, und Junge Antilope den Oberkörper von Gespaltener Berg. Dann tauschten sie die Farbschalen, und Junge Antilope trug die letzten blauen und Gespaltener Berg die roten Streifen auf. Schließlich banden sich alle die Lendentücher um, warfen sich die Löwenfelle über die Schultern und nahmen ihre Speere in die Hand. Damit waren sie bereit für den Krieg. Nein, noch nicht ganz. Magd-Der-Göttin mußte erst im Angesicht der drei heiligen Bärenschädel den Kriegersegen über sie sprechen. Die-Alles-Weiß sah, daß die beiden jüngeren Priesterinnen bereits die Schädel aufstellten und Magd-DerGöttin die für dieses Ritual vorgeschriebenen Gewänder anlegte. Die-Alles-Weiß blickte hügelabwärts auf das Heiligtum mit den Glitzerfelsen am Treffpunkt der drei Flüsse. Da unten war niemand zu sehen. Wenn Die Anderen sich verzogen hatten, wäre alles umsonst gewesen. Magd-Der-Göttin hatte gemeldet, die Abdrükke rings um das Heiligtum seien frisch, aber was verstand die Priesterin von solchen Dingen? Sie hatte keine Ahnung von der Jagd. Die Spuren, die sie gesehen hatte, konnten schon drei Tage alt sein. Womöglich waren Die Anderen inzwischen weit weg. Wenn man jetzt rasch zum Heiligtum hinunterstiege und die Zeremonie abhielte, um derentwillen Silberne Wolke hierher gekommen war, dann könnten Die Menschen wieder nach Osten zurückkehren – fort von diesem Unglücksort, zurück auf die kalten, leeren Ebenen, wohin Die Anderen selten kamen –, um dort weiterzuleben wie zuvor. Vielleicht
war es überflüssig, den Kriegerorden auszuschicken, damit er das Gelände auskundschaftete und sich vergewisserte, daß sich keine Anderen in der Umgebung des Heiligtums herumtrieben. Vielleicht vergeudete Silberne Wolke nur kostbare Zeit. Das Jahr war bereits weit fortgeschritten. Die Tage waren kürzer geworden. Bald würde es täglich Schnee geben. Die Menschen konnten hier nicht mehr lange verweilen, sie mußten sich alsbald einen Zufluchtsort suchen, um die kalten Monate zu überdauern. Aber wahrscheinlich hatte Magd-Der-Göttin recht, und Die Anderen waren tatsächlich irgendwo in der Nähe. Dann würde es zum Kampf kommen, und dabei würden Männer, und vielleicht nicht nur Männer, sterben. Hütet-Die-Vergangenheit war hinter sie getreten und flüsterte ihr ins Ohr: »Die Hand der Göttin lastet schwer auf uns. Wir sind hierhergekommen, um IHR zu huldigen, und SIE hat uns zuerst den kleinen Jungen geraubt und uns dann geradewegs Den Anderen in die Arme laufen lassen.« Die-Alles-Weiß zuckte die Achseln. »Ich sehe keine Anderen. Wir sind schon seit zwei Tagen hier, und bisher hat sie noch niemand zu Gesicht bekommen.« »Aber sie sind da. Sie lauern irgendwo da unten und warten nur darauf, uns anzugreifen. Ich weiß es genau.« »Woher willst du das wissen?« »Ich habe es geträumt«, sagte Hütet-Die-Vergangenheit. »Zuerst waren sie unsichtbar wie Nebelwesen, dann wurden sie etwas fester, so wie Schatten, und schließlich schossen sie von allen Seiten aus der Erde und fingen an, uns abzuschlachten.« Die-Alles-Weiß lachte höhnisch. »Noch so ein böser Traum.«
»Noch einer?« »Vorletzte Nacht träumte Silberne Wolke, er sei wieder ein Knabe und schreite ins Meer hinein. Und als er wieder herauskam, wurde er mit jedem Schritt älter, und schon nach wenigen Augenblicken war er ein schwacher, gebrechlicher Greis. Es war nichts anderes als ein Todestraum. Und jetzt träumst du davon, daß Die Anderen am Heiligtum auf uns lauern.« Hütet-Die-Vergangenheit nickte. »Und die Göttin hat uns den Knaben Himmelsfeuergesicht genommen, ohne uns dafür ein Zeichen IHRER Gunst zu gewähren. Ich finde, wir sollten diesen Ort schleunigst verlassen, ohne uns mit irgendwelchen Zeremonien am Heiligtum aufzuhalten.« »Aber Silberne Wolke sagt, die Zeremonie müsse sein.« »Silberne Wolke wird mit zunehmendem Alter immer schwächer und ängstlicher«, sagte Hütet-Die-Vergangenheit. Wütend fuhr Die-Alles-Weiß auf die Chronistin los. »Möchtest du an seiner Stelle Häuptling sein?« »Ich?« erwiderte Hütet-Die-Vergangenheit lächelnd. »Nein, Die-Alles-Weiß, ich habe kein Verlangen nach der Häuptlingswürde. Wenn es eine Frau auf der Welt gibt, die sich im Innersten danach sehnt, den Stamm zu führen, dann bist du es. Mir steht der Sinn nicht nach diesem Joch. – Dennoch finde ich, es wäre an der Zeit, daß Silberne Wolke Stab, Federschmuck und Umhang ablegt.« »Nein.« »Er ist alt und wird immer gebrechlicher. Die Müdigkeit steht ihm ins Gesicht geschrieben.« »Er ist immer noch stark und klug«, widersprach Die-AllesWeiß ohne große Überzeugung. »Das ist nicht wahr, und du weißt es selbst.«
»Meinst du, Hütet-Die-Vergangenheit? Meinst du wirklich?« »Beruhige dich, Weib. Wenn du mich schlägst, lasse ich dich den Berg hinabwerfen.« »Du hast mich eine Lügnerin gescholten.« »Ich habe nur gesagt, daß du nicht die Wahrheit sprichst.« »Das ist dasselbe.« »Wer sich selbst belügt, ist kein echter Lügner, sondern ein Narr. Du weißt ebenso gut wie ich und Magd-Der-Göttin, daß Silberne Wolke nicht mehr zum Häuptling taugt. Jede von uns dreien hat es im stillen gedacht und auf ihre Weise auch ausgesprochen. – Irgendwann werden es auch die Männer erkennen, und dann wird der Todesorden seine Pflicht erfüllen müssen.« »Mag sein«, gab Die-Alles-Weiß schweren Herzens zu. »Warum verteidigst du ihn dann?« »Weil er mir leid tut. Weil ich nicht will, daß er sterben muß.« »Seit wann hast du ein so weiches Herz? Der Häuptling weiß doch selbst am besten, was auf ihn zukommt. Erinnerst du dich, wie es damals war, als der Häuptling Schwarzer Schnee an der grünen Galle erkrankte und niemand ihn heilen konnte? Er hat sich vor uns alle hingestellt und erklärt, seine Zeit sei gekommen. Keinen Augenblick hat er gezögert. Und ebenso war es bei Großer Baum, dem Vater von Silberne Wolke, als ich noch ein kleines Mädchen war. Du warst damals noch nicht geboren. Großer Baum war ein starker Häuptling, doch eines Tages sagte er, ich bin zu alt, ich kann nicht länger euer Häuptling sein, und als es dunkel wurde, war er tot. So wird es auch Silberne Wolke ergehen.« »Noch nicht. Noch nicht jetzt.«
»Auch dann nicht, wenn er uns ins Verderben führt?« fragte Hütet-Die-Vergangenheit kalt. »Vielleicht ist er schon auf dem besten Wege dazu. Es war ein Fehler, hierherzukommen, nur habe ich das leider nicht gleich erkannt. Warum setzt du dich so leidenschaftlich für ihn ein? Er bedeutet dir doch nichts. Ich dachte immer, du könntest ihn gar nicht leiden.« »Wer wird wohl unser nächster Häuptling, wenn Silberne Wolke stirbt?« »Feuerauge, nehme ich an.« »Genau. Feuerauge!« Die-Alles-Weiß grinste gehässig. »Ich sage dir eines, Hütet-Die-Vergangenheit, lieber halte ich zu Silberne Wolke, dem alten Tattergreis, und sterbe unter den Speeren Der Anderen, als noch zehn Jahre weiterzuleben und nach Feuerauges Pfeife tanzen zu müssen!« »Aha«, sagte Hütet-Die-Vergangenheit. »Ahaaa! Jetzt verstehe ich. Du stellst deinen kleinlichen Groll über den gesunden Menschenverstand – sogar über das Leben selbst, Die-Alles-Weiß. Wie kann man nur so töricht sein!« »Du bringst mich doch noch so weit, daß ich dich schlage!« »Aber siehst du denn nicht ein…?« »Nein«, unterbrach Die-Alles-Weiß. »Nein, ich sehe gar nichts ein. – Aber lassen wir das. Schau, schau doch, was da unten los ist!« Während die beiden miteinander sprachen, hatte MagdDer-Göttin dem Kriegerorden den Segen erteilt, und die Männer waren, wohlgerüstet und in voller Kriegsbemalung, den Hügel hinabgestiegen und hatten rings um das Heiligtum mit den Glitzersteinen Posten bezogen. Da standen sie nun Schulter an Schulter, schwenkten ihre Speere und starrten trotzig nach allen Seiten. Und auf einmal waren auch Die Anderen aufgetaucht, wie
aus dem Nichts, ganz wie die fleischgewordenen Nebelwesen aus dem Traum von Hütet-Die-Vergangenheit. Wo waren sie nur so plötzlich hergekommen? Sie mußten sich im dichten Gebüsch am Ufer der drei Flüsse versteckt haben. Vielleicht hatten sie sich auch mit einem Zauber das Aussehen von Büschen verliehen, bis der Augenblick kam, sich zu zeigen. Acht oder zehn waren es. Nein, mehr als zehn. Die-AllesWeiß wollte sie zählen, aber nachdem sie die Finger ihrer beiden Hände aufgebraucht hatte, waren immer noch welche da, vielleicht noch einmal so viele wie die Finger einer weiteren Hand. Und der Kriegerorden zählte nur neun Mann. Es würde ein Blutbad geben. Silberne Wolke hatte sämtliche jungen Männer des Stammes in den Tod geschickt. »Wie häßlich sie sind!« zischte Hütet-Die-Vergangenheit und krallte ihre Finger so fest in den Arm von Die-Alles-Weiß, daß es schmerzte. »Die reinen Ungeheuer! Wie aus einem Alptraum! In meinem Traum waren sie längst nicht so abscheulich!« »Sie sind eben so und nicht anders«, sagte Die-Alles-Weiß. »Alle Anderen sehen so aus.« »Du hast sie schon einmal gesehen. Ich aber nicht. Pfui! Diese flachen Gesichter. Die dünnen Hälse. Und die langen Arme und Beine! Wie die Spinnen!« »Wie die Spinnen, ja.« »Sieh doch nur. Sieh.« Der ganze Stamm drängte sich jetzt um den kleinen Aussichtspunkt oberhalb des Heiligtums und verfolgte gebannt, was sich da unten abspielte. Die-Alles-Weiß erkannte Silberne Wolkes schwere, rasselnde Atemzüge. Ein Kind weinte. Zwei von den Müttern weinten ebenfalls.
Da unten gingen seltsame Dinge vor. Man fühlte sich fast an einen Tanz erinnert. Die Männer des Kriegerordens standen immer noch Schulter an Schulter in einer Reihe vor dem Heiligtum. Man sah ihnen an, wie unwohl sie sich fühlten, aber sie hielten stand, obwohl sie sicher viel lieber kehrtgemacht hätten und weggelaufen wären. Vielleicht zwanzig Schritte vor ihnen standen auch Die Anderen Schulter an Schulter in einer Reihe: hochgewachsene Gestalten mit fremdartig flachen Gesichtern, lange Speere in den Händen. Aber es kam nicht zum Kampf. Die beiden Gruppen standen einfach da und starrten sich über das Niemandsland hinweg drohend an. Keine Seite ergriff die Initiative. Die Männer wirkten wie versteinert, schienen nicht einmal zu atmen. Waren Die Anderen womöglich ebenso verängstigt wie die Krieger des eigenen Stammes? Dabei standen sie doch in dem Ruf, kaltblütige Mörder zu sein. Und sie waren mindestens um eine Hand voller Finger in der Überzahl. Aber nichts geschah. Keine Seite schien bereit, den Anfang zu machen. Schließlich unternahm Feuerauge den Versuch, die Sache in Gang zu bringen, und trat einen Schritt nach vorne. Sofort folgten alle Angehörigen des Kriegerordens seinem Beispiel. Feuerauge schwenkte drohend seinen Speer, starrte zu Den Anderen hinüber und stieß ein tiefes, langgezogenes ›Hooo!‹ aus, das bis zu den Zuschauern oben auf den Hügeln zu hören war. Die Anderen sahen sich fragend an. Sie wirkten ratlos, verunsichert, besorgt. Dann trat einer von ihnen vor, und seine ganze Reihe tat es
ihm nach. Auch er schwenkte seinen Speer. »Hooooo.« »Hoooooo.« »Hooooooo.« Die-Alles-Weiß und Hütet-Die-Vergangenheit wechselten einen entgeisterten Blick. Hatten die Krieger da unten wirklich nichts Besseres zu tun, als sich gegenseitig anzuschreien? Oder wollten sie vielleicht auf diese Weise den Kampf eröffnen? Auszuschließen war es nicht, aber es wäre doch eine ziemlich törichte Methode gewesen. Vielleicht wußten sie auch gar nicht so recht, wie man eine Schlacht begann. Die-Alles-Weiß fiel plötzlich ein, daß die Männer des Kriegerordens noch nie gegen Die Anderen gekämpft hatten. Ja, dies war das erstemal, daß sie ihnen gegenüberstanden. Sie war die einzige im ganzen Stamm, die schon einmal mit den Fremden in Kontakt gekommen war, vor langer Zeit an jenem Felsenteich im Wald, bei der Begegnung mit dem einzelnen Anderen. Damals hatte Der Andere kehrtgemacht und war vor ihr geflohen. Und jetzt standen Die Anderen einfach da, machten verschreckte Gesichter und äfften das alberne Geschrei des Kriegerordens nach. Obwohl sie in der Überzahl waren und obendrein die besseren Waffen hatten. Warum? Waren die gefürchteten Anderen etwa gar Feiglinge? »Hooooo.« »Hooooo.« »Hooooo.« »Hooooo.« »Hör dir das an«, kicherte Die-Alles-Weiß. »Sie schreien wie die Eulen.«
In diesem Augenblick kam Bewegung in die Szene. Die Reihe des Kriegerordens hatte sich um ein Winziges gedreht, so daß sie nun im Winkel zur Vorderseite des Heiligtums stand. Und Die Anderen hatten, ohne ihre Formation aufzugeben, die Drehung mitgemacht, so daß sie den Männern des Kriegerordens auch weiterhin direkt in die Augen sehen konnten. Wieder gingen ein paar Eulenschreie hin und her. Wieder drehten sich die Reihen ein wenig, ohne dabei tatsächlich vorwärtszukommen. Dann kehrten beide Seiten in die Ausgangsstellung zurück. Wieder wurden die Speere gehoben und drohend geschwenkt, aber kein einziger flog durch die Luft. »Sie fürchten sich voreinander!« staunte Hütet-DieVergangenheit. »Hooo.« »Hooo.« »Warum gehen wir nicht einfach auf sie los?« murmelte Die-Alles-Weiß. »Die würden doch auf der Stelle Reißaus nehmen!« »Hooo.« »Hooo.« »Wie die Eulen«, wiederholte Hütet-Die-Vergangenheit. Es war zum Verrücktwerden, ein Teufelskreis. Das konnte ewig so weitergehen. Die-Alles-Weiß ertrug es nicht länger. Sie ging hinüber zu Mammutreiter, der immer noch vor seinen Schalen mit roter und blauer Farbe saß, und warf ihr Kleid ab. Mammutreiter blinzelte verständnislos zu ihr empor. »Gib mir die Farbe«, verlangte Die-Alles-Weiß. »Aber du kannst doch nicht…« »Und ob ich kann.«
Sie bückte sich rasch nach einer Schale und bekleckste sich beide Brüste mit blauer Farbe. Dann tauchte sie die Finger in die rote Schale, zeichnete sich ein großes Dreieck über den Leib und die beiden Schenkel und gab auch einen Spritzer auf das dunkle Haar zwischen ihren Beinen. Alle starrten sie jetzt an. Sie versuchte gar nicht erst, Mammutreiter zu bitten, er möge ihr die Streifen auf den Rücken malen. Wahrscheinlich würde er sich weigern, und sie hatte nicht die geringste Lust, sich mit ihm herumzustreifen. Außerdem kam es nicht darauf an. Sie hatte nicht vor, den Feinden da unten den Rücken zuzuwenden. Die Anderen! dachte sie mit glühendem Haß. Erbärmliche Feiglinge sind sie, alle miteinander! Jetzt kam Silberne Wolke langsam auf sie zugehinkt. Sein Bein schien ihm Schmerzen zu bereiten. »Was hast du vor, Die-Alles-Weiß?« »Jemand muß schließlich für euch kämpfen«, sagte sie, schlüpfte wieder in ihr Kleid und lief den Hügel hinab auf das Heiligtum mit den Glitzerfelsen zu.
Siebtes Kapitel WIDERSTÄNDE
33 »Spielen Sie uns den Anruf dieses Dreckskerls doch noch einmal vor, Jerry«, bat Sam Aickman. Hoskins schob den Speicherwürfel in den Eingabeschlitz. Auf der großen Leinwand am Ende des Sitzungssaals erschien Bruce Mannheim, genauso, wie Hoskins ihn damals auf dem Bildschirm seines Telefons gesehen hatte. Eine aufdringlich blinkende, grüne Rosette in der rechten, unteren Ecke verkündete, daß der Anruf mit Wissen des Anrufers und mit dessen Einverständnis aufgezeichnet worden war. Mannheim hatte ein rundes, frisch und jugendlich wirkendes Gesicht. Sein dichtes, rotes Kraushaar schmiegte sich eng an seinen Kopf an. Obwohl Bärte seit einigen Jahren nur noch bei sehr jungen und sehr alten Männern in Mode waren, trug er einen kurzen, sauber gestutzten Kinnbart und einen buschigen, kleinen Schnäuzer. Der bekannte Anwalt für die Rechte der Kinder sah seinem Gegenüber offen, aber mit tiefem Ernst in die Augen. Hoskins fand ihn herzlich unsympathisch. Mannheim erklärte von der Leinwand herab: »Die Situation ist folgende, Dr. Hoskins. Da unser letztes Gespräch alles andere als fruchtbar war, kann ich mich auf ihre Beteuerungen, der Junge sei durchaus angemessen untergebracht, einfach nicht mehr verlassen.«
»Wieso denn nicht?« fragte der aufgezeichnete Hoskins. »Gilt mein Wort auf einmal nichts mehr?« »Darum geht es nicht, Doktor. Wir haben keinen Anlaß, an Ihrem Wort zu zweifeln. Aber wir haben auch keinen Anlaß, Ihnen blind zu vertrauen, und ein Teil meines Beratergremiums findet inzwischen, ich hätte Ihre Beurteilung der Lebensumstände des Jungen bisher viel zu bereitwillig akzeptiert. Leider konnten wir uns nicht bei einer Kontrolle vor Ort von der Richtigkeit Ihrer Darstellung überzeugen.« »Sie tun ja so, als ob das Kind eine Art Geheimwaffe wäre, Mr. Mannheim.« Mannheims Lächeln erreichte seine hellgrauen Augen nicht. »Versetzen Sie sich doch bitte in meine Lage, Dr. Hoskins. Jener Teil der öffentlichen Meinung, dessen Vertreter ich bin, setzt mich ganz erheblich unter Druck. Allen Ihren Verlautbarungen zum Trotz halten es viele Menschen auch weiterhin für grausam und unmenschlich, ein Kind erst mit Gewalt hierherzuholen und dann auf unbestimmte Zeit sozusagen in Einzelhaft zu halten.« »Das haben wir doch schon mehrfach besprochen«, seufzte Hoskins. »Das Kind bekommt die beste Pflege, die es nur haben kann, und das wissen Sie genau. Es wird rund um die Uhr von einer ausgebildeten Kinderkrankenschwester betreut und jeden Tag von einem Arzt untersucht. Seine Ernährung ist absolut ausgewogen, und es ist in großartiger, körperlicher Verfassung. Wir müßten ja verrückt sein, wenn wir uns in dieser Beziehung auch nur das geringste zuschulden kommen ließen, und was immer Sie von uns denken mögen, wir sind bei vollkommen klarem Verstand.« »Ich bestreite ja gar nicht, daß Sie mir das alles bereits erklärt haben. Aber Sie sind noch immer nicht bereit, Ihre Erklä-
rungen von einer neutralen Instanz überprüfen zu lassen. Sie machen sich ja keinen Begriff von der Flut von Briefen und Anrufen besorgter Bürger, die tagtäglich über mich hereinbricht – von dem enormen Druck, dem ich seitens der empörten Öffentlichkeit…« »Könnte es nicht sein, daß Sie nur deshalb unter Druck stehen, Mr. Mannheim«, fiel ihm Hoskins brüsk ins Wort, »weil Sie die Empörung allzusehr angeheizt haben? Vielleicht richtet sich ein Teil der Aggression, die Sie so eifrig schüren, jetzt gegen Sie selbst?« »Das ist die Sprache, die er versteht, Jerry!« lobte Charlie McDermott, der Firmenrevisor. »Etwas zu sehr mit dem Holzhammer, wenn ihr mich fragt.« Ned Cassiday, Justitiar der Stasis GmbH, neigte von Berufs wegen dazu, übervorsichtig zu sein. Auf der Leinwand ging das Gespräch weiter. »… tut nichts zur Sache, Dr. Hoskins. Wir kommen immer wieder auf den Ausgangspunkt zurück. Sie haben ein Kind entführt, es seinen Eltern geraubt, es aus seiner vertrauten Umgebung gerissen…« »Ein Neandertalerkind, Mr. Mannheim. Die Neandertaler waren primitive, unzivilisierte Nomaden. Ob sie überhaupt so etwas wie Vertrautheit mit ihrer Umgebung empfanden, sei dahingestellt. Wir wissen nicht einmal, ob es eine enge ElternKind-Beziehung in unserem Sinne gab. Es wäre durchaus denkbar, daß wir das Kind vor einem Leben unter härtesten Bedingungen in einer feindseligen Umwelt gerettet haben – ich halte das sogar für sehr viel wahrscheinlicher als daß es, wie Sie behaupten, aus seiner kitschigen Familienidylle im Pleistozän herausgerissen wurde.« »Soll das heißen, die Neandertaler seien im Grunde nichts
anderes als Tiere?« fragte Mannheim. »Sie hätten kein Kind aus dem Pleistozän geholt, sondern nur einen auf zwei Beinen gehenden Affen?« »Gewiß nicht. Wir haben niemals etwas dergleichen behauptet. Die Neandertaler mögen primitiv gewesen sein, aber daß es Menschen waren, steht außer Frage.« »Wenn Sie sich nämlich darauf berufen sollten, daß Ihr Gefangener keine Menschenrechte für sich in Anspruch nehmen könne, weil er kein Mensch sei, Dr. Hoskins, dann muß ich Sie darauf hinweisen, daß die Wissenschaftler einhellig die Meinung vertreten, der Homo neanderthalensis sei im Grunde nur eine Unterart unserer eigenen Spezies, des Homo sapiens, und deshalb…« »Bei Jesus Christus und allen seinen Heiligen«, brach es aus Hoskins heraus. »Haben Sie mir denn überhaupt nicht zugehört? Ich sagte doch gerade eben, daß niemand Timmies Zugehörigkeit zur menschlichen Rasse bestreitet.« »Timmie?« fragte Mannheim. »Das Kind hat hier bei uns den Spitznamen Timmie, ja. Das wurde überall in den Medien erwähnt.« »Was möglicherweise ein Fehler war«, murmelte Ned Cassiday. »Dadurch wird der Kleine zu einer Person, mit der man sich identifizieren kann. Sobald man solchen Fällen einen Namen gibt, bekommen sie für die Öffentlichkeit eine hautnahe Realität, und wenn dann irgendwelche Probleme auftauchen…« »Das Kind ist real, Ned«, sagte Hoskins. »Und es wird keine Probleme geben.« »Nun gut, Doktor«, erklärte Mannheim auf der Leinwand. »Wir sind uns also einig, daß wir über einen kleinen Menschen sprechen. Und auch in einer zweiten grundlegenden Frage
gibt es eigentlich keine Differenzen: wie ich vorhin bereits feststellte, haben Sie das Kind unaufgefordert in Verwahrung genommen, ohne einen irgendwie gearteten, juristischen Anspruch darauf zu haben. Genauer gesagt, sie haben es entführt.« »Ohne juristischen Anspruch? Auf welches Rechtssystem nehmen Sie Bezug? Wo hat es Gültigkeit? Sagen Sie mir, gegen welche Gesetze ich verstoßen habe. Und zeigen Sie mir das Pleistozän-Gericht, das mich zur Rechenschaft ziehen kann!« »Die Menschen im Pleistozän mögen keine Gerichte haben, aber das heißt noch lange nicht, daß sie keine Rechte hätten«, gab Mannheim ruhig zurück. »Sie werden bemerken, daß ich das Präsens verwende, obwohl ich von einem Volk spreche, das längst ausgestorben ist. Seitdem Zeitreisen praktisch möglich geworden sind, spielt sich alles im Präsens ab. Wenn wir imstande sind, in das Leben von Menschen einzugreifen, die vor vierzigtausend Jahren gelebt haben, dann müssen wir diesen Menschen wohl oder übel auch die gleichen Rechte und Ansprüche zugestehen, die wir in unserer eigenen Gesellschaft für unverzichtbar halten. Die Stasis GmbH würde sich wohl kaum erlauben, irgendein Dorf im heutigen Brasilien, Zaire oder Indonesien zu überfallen und sich nach Belieben ein Kind zu holen, nur um…« »Es handelt sich hier um ein einmaliges Experiment, das für die Wissenschaft von ungeheurem Wert ist, Mr. Mannheim!« zischte Hoskins. »Jetzt sind offenbar Sie derjenige, der nicht zugehört hat, Dr. Hoskins. Ich spreche nicht von Ihren Motiven, ich spreche von der Rechtslage. Würden Sie es, selbst im Interesse der Wissenschaft, für gerechtfertigt halten, aus irgendeinem primitiven Stamm von heute mir nichts, dir nichts ein Kind zu
entführen und es hierherzubringen, damit die Anthropologen es studieren können, ohne Rücksicht auf die Eltern des Kindes oder andere Erziehungsberechtigte zu nehmen?« »Natürlich nicht.« »Aber die Stammeskulturen der Vergangenheit sind Freiwild für Sie?« »Das läßt sich nicht vergleichen«, sagte Hoskins. »Die Vergangenheit ist sozusagen ein längst abgeschlossenes Verfahren. Das Kind in unserer Obhut, Mr. Mannheim, ist seit vierzigtausend Jahren tot!« Ned Cassiday rang nach Luft und schüttelte heftig den Kopf. Vermutlich hatte er soeben einige ganz neue und schwerwiegende, juristische Probleme entdeckt, dachte Hoskins, und war erschüttert, daß sie ausgerechnet bei dieser Gelegenheit zur Sprache gekommen waren. »Ich verstehe«, sagte Mannheim. »Das Kind ist tot, aber es wird rund um die Uhr von einer Kinderkrankenschwester betreut? Lassen Sie’s gut sein, Dr. Hoskins. Sie haben sich selbst ad absurdum geführt. Wo Zeitreisen möglich sind, verlieren die alten Unterscheidungen zwischen ›tot‹ und ›lebendig‹ ihre Gültigkeit. Sie haben das abgeschlossene Verfahren wiederaufgenommen und können es nun nicht so ohne weiteres wieder schließen. Ob es Ihnen paßt oder nicht, wir leben in einer Zeit der Widersprüche. Seit Sie den Jungen aus seiner Zeit geholt und in die unsere gebracht haben, ist er so lebendig wie Sie und ich, und wir sind uns immerhin einig, daß er ein Mensch ist und die gleiche Behandlung verdient wie jedes menschliche Kind. Damit wären wir wieder bei der Frage, inwiefern Sie seinen Bedürfnissen während seines Aufenthaltes hier gerecht werden. Ob Sie ihn nun als Entführungsopfer, als Gegenstand eines einmaligen, wissenschaftlichen Experi-
ments oder als unfreiwilligen Gast in unserer Zeit bezeichnen – ich will Sie in Ihrem Einfallsreichtum nicht beschneiden – in Wirklichkeit zählt doch nur eines: Sie haben ein Kind aus seiner natürlichen Umgebung gerissen, ohne irgend jemanden von den Betroffenen um Erlaubnis zu fragen, und es in eine Art Gefängnis gesperrt. Wie lange wollen wir denn noch um den heißen Brei herumreden? Sie wissen doch genau, worum es geht. Ich vertrete eine beträchtliche Anzahl besorgter Bürger, und man hat mich gebeten, mich zu vergewissern, ob die Grundrechte dieses bedauernswerten Kindes auch ausreichend gewahrt werden.« »Das Wort ›bedauernswert‹ verbitte ich mir. Ich habe wiederholt deutlich gemacht, daß das Kind…« »Schön. Wenn Sie das Wort stört, nehme ich es zurück. Am Inhalt meiner Aussage ändert sich dadurch freilich nichts.« Hoskins war deutlich anzumerken, daß er mit seiner Geduld am Ende war. »Was wollen Sie denn nun genau von uns, Mr. Mannheim?« »Wir möchten uns, wie bereits gesagt, vor Ort von der körperlichen und seelischen Verfassung des Kindes überzeugen.« Der Hoskins auf der Leinwand schloß kurz die Augen. »Sie lassen nicht locker, wie? Sie wollen um jeden Preis persönlich hierherkommen, damit Ihnen auch ja nichts entgeht?« »Die Antwort kennen Sie.« »Nun, darüber kann ich nicht sofort entscheiden, Mr. Mannheim. Bisher haben wir nur renommierten Wissenschaftlern Zugang zu Timmie gewährt, und ich bin nicht ganz sicher, ob Sie unter diese Kategorie fallen. Ich werde mein Beratergremium einberufen müssen, um die Frage zu erörtern. Vielen Dank für Ihren Anruf, Mr. Mannheim. Es war mir ein Vergnügen.«
Die Leinwand wurde dunkel. Hoskins sah sich im Saal um. »Nun? Das war’s. Jetzt kennen Sie das Problem. Der Mann hat sich wie eine Bulldogge in mein Hosenbein verbissen und läßt einfach nicht mehr los. Ich kann ihn nicht abschütteln.« Ned Cassiday ergriff das Wort. »Und falls es Ihnen doch irgendwie gelingen sollte, wird er sich sofort wieder auf Sie stürzen. Und beim nächsten Mal erwischt er nicht mehr nur die Hose, Jerry, dann schlägt er Ihnen die Zähne ins Fleisch.« »Was wollen Sie damit sagen, Ned?« »Wir sollten ihm erlauben, Timmie persönlich in Augenschein zu nehmen. Eine Geste des guten Willens.« »Ist das eine ernstgemeinte, juristische Empfehlung?« Cassiday nickte. »Sie halten den Burschen doch schon seit Wochen hin, nicht wahr? Er ruft an, Sie drücken sich um eine Antwort herum, er ruft abermals an, Sie finden wieder einen Weg, ihm seinen Wunsch abzuschlagen, und das wiederholt sich wieder und wieder. Aber es kann nicht ewig so weitergehen. Er ist genauso stur wie Sie. Der Unterschied ist nur, daß er den Eindruck vermittelt, sich selbstlos in den Dienst einer guten Sache zu stellen, während Sie sich als unverbesserlicher Querkopf präsentieren. – Dies ist doch das erstemal, daß er ausdrücklich verlangt hat, das Firmengelände betreten zu dürfen?« »Richtig«, sagte Hoskins. »Sehen Sie? Er findet immer neue Schlupflöcher. Und diesmal können Sie nicht mehr mit Presseberichten oder noch einem Subätherinterview mit Candide Deveney zurückschlagen. Mannheim würde sofort an die Öffentlichkeit gehen und behaupten, wir steckten alle unter einer Decke und wollten irgendwelche Greueltaten verbergen. – Soll er doch herkom-
men und sich den Kleinen ansehen. Vielleicht stopfen Sie ihm damit so lange den Mund, bis wir das Projekt abgeschlossen haben.« Sam Aickman schüttelte den Kopf. »Wie kommen wir eigentlich dazu, vor diesem lästigen Schreihals in die Knie zu gehen, Ned? Wenn wir den Kleinen im Keller angekettet hätten, vielleicht – oder wenn er rachitisch, mit Pickeln übersät und halb verhungert wäre und sich Tag und Nacht die Seele aus dem Leib schreien würde –, aber nach allem, was Jerry sagt, entwickelt er sich prächtig. Er hat zugenommen und spricht, wie ich höre, sogar schon ein paar Worte Englisch. Selbst ein Bruce Mannheim müßte sehen können, daß es ihm noch nie so gut gegangen ist.« »Ganz richtig«, sagte Cassiday. »Wir haben nichts zu verbergen. Warum sollten wir Mannheim also Gelegenheit geben, uns als Unmenschen hinzustellen?« »Ein Punkt für Sie.« Hoskins sah sich um. »Ich möchte darüber abstimmen lassen. Laden wir Mannheim offiziell ein, sich Timmie anzusehen, oder nicht?« »Ich sage, zum Teufel mit ihm«, rief Sam Aickman. »Der Kerl ist eine Landplage. Ein notorischer Wichtigtuer. Ich denke nicht daran, mich von ihm unterkriegen zu lassen.« »Ich stimme mit Ned Cassiday«, sagte Frank Bruton. »Laßt ihn herkommen, damit wir endlich Ruhe haben.« »Die Sache ist nicht ohne Risiko«, gab Charlie McDermott zu bedenken. »Wer weiß, was ihm noch alles einfällt, wenn er erst mal den Fuß in der Tür hat. Wie Ned schon sagte, er findet immer neue Schlupflöcher. Wenn wir ihm erlauben, den Jungen zu besuchen, haben wir ihn noch längst nicht vom Hals. Womöglich wird alles nur noch schlimmer. Ich bin dagegen.«
»Wie ist Ihre Meinung, Elena?« Hoskins wandte sich an Elena Saddler von der Materialverwaltung. »Ich bin dafür, daß er kommt. Ned hat recht, wir haben nichts zu verbergen. Und wir können uns nicht weiterhin mit Dreck bewerfen lassen. Wenn er erst einmal hier war, steht Aussage gegen Aussage, und wir können mit den Fernsehaufzeichnungen von Timmie aller Welt beweisen, daß wir im Recht sind und er im Unrecht.« Hoskins nickte finster. »Zwei dafür, zwei dagegen. Damit gibt meine Stimme den Ausschlag. – Schön, einverstanden. Ich werde Mannheim sagen, daß er kommen kann.« »Jerry«, sagte Aickman. »Sind Sie auch ganz sicher, daß Sie…?« »Ja«, unterbrach ihn Hoskins. »Ich kann ihn ebenso wenig ausstehen wie Sie, Sam. Und es geht mir gegen den Strich, ihn auch nur zwei Minuten in diesem Gebäude herumschnüffeln zu lassen. Er ist wirklich eine Landplage. Und gerade deshalb bin ich zu der Ansicht gekommen, daß wir ihm seinen Willen lassen sollten. Mag er sich mit eigenen Augen davon überzeugen, wie Timmie wächst und gedeiht. Wenn er Miß Fellowes kennenlernt, wird er wohl oder übel zugeben müssen, daß hier von Kindesmißhandlung nicht die Rede sein kann. Ich schließe mich Ned an. Vielleicht stopft ihm dieser Besuch den Mund. Und wenn nicht, nun, dann sind wir nicht schlimmer dran als jetzt: er wird weiterhin gegen uns hetzen, und wir werden seine Vorwürfe weiterhin zurückweisen. Aber wenn wir ihm den Wunsch einfach abschlagen, wird er sich mit den absurdesten Verdächtigungen dafür rächen, und wer weiß, was wir dann alles anstellen müssen, um sie zu entkräften. Wir werden also der Bulldogge einen Knochen hinwerfen. Auf diese Weise haben wir wenigstens eine Chance; sonst sind wir von vorn-
herein verloren. Mannheim bekommt seine Einladung, und damit basta. – Die Sitzung ist beendet.«
34 Miß Fellowes hatte Timmie eben in die Badewanne gesteckt, als im Nebenzimmer die Gegensprechanlage zu schnarren begann. Sie runzelte unwillig die Stirn und sah den Jungen in der Wanne skeptisch an. Längst hatte das Bad seine Schrecken für ihn verloren und war zu einem Spiel geworden, auf das er sich jeden Tag aufs neue freute. Er empfand es nicht mehr als bedrohlich, bis zum Hals im warmen Wasser zu liegen, sondern fühlte sich sichtlich wie im siebten Himmel. Dabei genoß er nicht nur die Wärme, er liebte es auch, hinterher rosig und sauber zu sein und frisch zu duften. Und natürlich machte ihm das Planschen einen Heidenspaß. Je länger Miß Fellowes mit ihm zusammen war, desto mehr erschien er ihr wie ein ganz normaler, kleiner Junge. Trotzdem war es ihr nicht geheuer, ihn in der Wanne ohne Aufsicht zu lassen. Nicht etwa, daß sie befürchtet hätte, er könnte ertrinken. Kleine Jungen seines Alters pflegten nicht mehr in der Badewanne zu ertrinken, und gerade Timmie verfügte über einen recht ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb. Aber wenn er nun auf die Idee käme, allein herauszuklettern, und dabei ausrutschte und stürzte…? »Ich bin gleich wieder da, Timmie«, sagte sie. »Du bleibst in der Wanne, ja?«
Er nickte. »Du bleibst in der Wanne. In der Wanne. Hast du mich verstanden?« »Ja, Miß Fellowes.« Kein Mensch auf der Welt hätte das, was Timmie von sich gab, als ›Ja, Miß Fellowes‹ interpretiert. Kein Mensch außer eben dieser Miß Fellowes. Immer noch nicht ganz beruhigt, eilte sie nach nebenan und meldete sich: »Ja bitte?« »Hier Dr. Hoskins, Miß Fellowes. Ich wollte anfragen, ob Timmie heute nachmittag noch einen Besucher verkraften könnte?« »An sich sollte er den Nachmittag frei haben. Ich bin gerade dabei, ihn zu baden, und nach dem Bad kommt normalerweise niemand mehr.« »Ja, ich weiß. Aber es handelt sich um einen besonderen Fall.« Miß Fellowes horchte zum Bad hin. Timmie planschte mit großem Hallo im Wasser herum und schien sich bestens zu amüsieren. Sie hörte ihn schallend lachen. »Bei Ihnen gibt es doch nur besondere Fälle, Dr. Hoskins«, sagte sie vorwurfsvoll. »Wenn ich jeden ›besonderen Fall‹ hier hereinlassen würde, säße der Junge Tag und Nacht auf dem Präsentierteller.« »Dieser Fall ist wirklich etwas ganz Besonderes, Miß Fellowes.« »Trotzdem bin ich nicht begeistert. Timmie braucht seine Freizeit, genau wie jeder andere auch. Und jetzt, Dr. Hoskins, muß ich wieder ins Bad zurück, bevor er mir noch…« »Der Besucher ist Bruce Mannheim, Miß Fellowes.« »Was?«
»Sie wissen doch sicher, daß Mannheim uns mit seinen Hetzreden und seinen erfundenen Verdächtigungen terrorisiert, seit wir Timmies Ankunft in der Öffentlichkeit bekanntgegeben haben?« »Tatsächlich?« fragte Miß Fellowes. Sie hatte sich nicht weiter darum gekümmert. »Nun, er ruft so etwa jeden dritten Tag hier an, um wieder eine neue Beschwerde vorzubringen. Irgendwann habe ich ihn gefragt, was er denn nun wirklich verlange, worauf er mir erklärte, er bestehe auf einer Kontrolle vor Ort. Das war der Ausdruck, den er verwendet hat: Kontrolle vor Ort. Es ging um Timmie, nicht etwa um ein Raketenlager. Wir sind nicht begeistert von der Idee, haben uns aber auf der letzten Vorstandssitzung darauf geeinigt, daß es eher schaden als nützen würde, ihm den Wunsch abzuschlagen. Ich fürchte, wir haben keine andere Wahl, Miß Fellowes. Wir müssen ihn hereinlassen.« »Heute?« »In etwa zwei Stunden. Der Mann ist sehr schwer abzuwimmeln.« »Etwas früher hätten Sie mich aber schon benachrichtigen können.« »Das hätte ich auch gern getan, Miß Fellowes. Aber Mannheim hat mich selbst überrumpelt. Als ich ihn anrief, um ihm mitzuteilen, daß er kommen könne, sagte er nämlich, er wolle sich sofort auf den Weg machen; und als ich meinte, ich sei nicht sicher, ob das möglich sei, fing er sofort wieder mit seinen Verdächtigungen an. Es klang so, als wolle er uns keine Zeit lassen, die Spuren der Peitsche zu beseitigen, mit der wir Timmie ständig züchtigen. Aber ich will ihm nicht unrecht tun, er sagte auch, daß morgen die Monatsversammlung
seines Vereinsvorstandes stattfinde und er diese Gelegenheit gerne nützen würde, um über Timmies Verfassung zu berichten, und deshalb…« Hoskins brach ab. »Ich weiß, daß es sehr plötzlich kommt, Miß Fellowes. Aber bitte, machen Sie kein Theater, ja? Ich bitte Sie.« Sie hatte unwillkürlich Mitleid mit ihm. Einerseits ein unermüdlicher Agitator, andererseits eine wahre Megäre von einer Kinderpflegerin – kein Wunder, daß der Ärmste immer so müde aussah. »Na schön, Dr. Hoskins«, sagte sie. »Ausnahmsweise. Ich werde mich bemühen, alle blauen Flecken zu überschminken, bevor der Mann aufkreuzt.« Sie kehrte ins Bad zurück. Aus dem Lautsprecher drangen immer noch Hoskins’ Dankesbeteuerungen. In der Badewanne wurde soeben eine wilde Seeschlacht zwischen einer grünen Plastikente und einem violetten Meeresungeheuer ausgetragen, aus der allem Anschein nach die Ente als Sieger hervorgehen sollte. »Du bekommst heute noch Besuch«, teilte Miß Fellowes dem Jungen mit. Innerlich kochte sie vor Wut. »Ein Mann, der nachsehen will, ob wir dich nicht mißhandeln. Kannst du dir das vorstellen? Mißhandeln!« Timmie sah sie verständnislos an. Das Wort war in seinem Vokabular natürlich noch nicht enthalten, aber das hatte Miß Fellowes auch nicht erwartet. »Wer kommen?« fragte er. »Ein Mann«, sagte sie. »Ein Besucher.« Timmie nickte. »Netter Besucher?« »Hoffentlich. – Und jetzt ist es höchste Zeit, daß wir dich aus dem Wasser holen und abtrocknen.« »Mehr baden! Mehr baden!«
»Morgen baden wir wieder. Komm jetzt, Timmie!« Unter Protest stieg er aus der Wanne. Beim Abtrocknen unterzog sie ihn einer flüchtigen Kontrolle. Nein, keine Peitschenstriemen zu sehen. Auch sonst keinerlei Verletzungen. Der Junge war in bester Verfassung. Verglichen mit dem verdreckten, verwahrlosten Bündel Mensch voller Kratzer und Prellungen, das an jenem schrecklichen ersten Abend mit einem Haufen Erde, Steinen, Ameisen und Gras in die Stasiszelle gepurzelt war, strotzte er geradezu vor Gesundheit. Er hatte etliche Pfund zugenommen, die Kratzer waren längst verheilt, und auch die blauen Flecken waren verschwunden. Haare und Fingernägel waren ordentlich geschnitten. Sollte Bruce Mannheim doch sehen, ob er etwas zu beanstanden fand! Normalerweise hätte sie Timmie nach dem Bad seinen Schlafanzug angezogen, aber heute war alles anders. Ein so wichtiger Besucher mußte gebührend empfangen werden. Da ging es nicht unter dem violetten Overall mit den roten Knöpfen ab. Timmie grinste beglückt. Es war sein Lieblingsoverall. »Und wie denkst du über einen kleinen Imbiß, Timmie, bevor der Besuch kommt?« Sie zitterte immer noch vor Wut. Bruce Mannheim, dachte sie verächtlich. Dieser Wichtigtuer und Unruhestifter. Anwalt der Kinder nannte er sich! Welches Kind hatte ihn je darum gebeten, sich zu seinem Anwalt aufzuwerfen? Im Grunde war er doch nur ein mieser, kleiner Agitator. Ein öffentliches Ärgernis. »Miß Fellowes?« Wieder drang Hoskins’ Stimme aus der Gegensprechanlage. »Was ist, Doktor? Ich erwarte Mr. Mannheim erst in einer
halben Stunde.« »Er ist früher gekommen«, sagte Hoskins. »Irgendwie paßt das zu ihm.« Das klang merkwürdig kleinlaut. »Und leider hat er auch noch jemanden mitgebracht, ohne uns vorher Bescheid zu sagen.« »Zwei Besucher sind zuviel«, erklärte Miß Fellowes kategorisch. »Ich weiß, ich weiß. Bitte, Miß Fellowes, ich hatte doch auch keine Ahnung, daß er nicht allein kommen würde. Aber Mannheim besteht ziemlich energisch darauf, daß sie sich Timmie mit ihm ansieht. Und nachdem wir nun schon so weit gegangen sind – will ich ihn möglichst nicht im letzten Moment noch vor den Kopf stoßen – verstehen Sie? Sie verstehen mich doch?« Er bettelte ja schon wieder. Offenbar hatte er vor diesem Mannheim einen Heidenrespekt. Wo war nur der starke, unbeugsame Dr. Gerald Hoskins geblieben, der sie damals eingestellt hatte? Sie zögerte kurz. »Und wer ist die zweite Person?« fragte sie dann. »Dieser unerwartete Gast?« »Eine Kollegin von ihm, die bei seiner Organisation als Beraterin tätig ist. Sie kennen sie vielleicht. Wahrscheinlich sogar. Ihr Spezialgebiet sind verhaltensgestörte Kinder, sie mischt in allen möglichen Regierungskommissionen und -Institutionen mit, eine überaus markante Persönlichkeit. Sie war zunächst sogar in der engeren Wahl für die Stelle, die Sie heute innehaben, aber wir… ich vermißte ein gewisses Maß an menschlicher Wärme und Einfühlungsvermögen. Marianne Levien ist ihr Name. Ich könnte mir denken, daß sie nicht ungefährlich ist. Jedenfalls können wir sie nicht mehr abweisen, nachdem sie nun einmal vor der Tür steht.«
Miß Fellowes hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Marianne Levien! dachte sie bestürzt. Gott schütze mich. Gott schütze uns alle!
35 Die ovale Tür zum Puppenhaus öffnete sich, und drei Personen traten ein. Hoskins kam als erster. Er sah schrecklich aus. Sein fleischiges Gesicht wirkte erschlafft, er schien in einem einzigen Tag um zehn Jahre gealtert zu sein, die Haut war von einer fahlen Blässe. Aber was Miß Fellowes am meisten erschütterte, war der sorgenvolle, ja verschüchterte Ausdruck in seinen Augen. Der Mann war kaum wiederzuerkennen. Was war nur geschehen? Leise und verlegen machte er sie miteinander bekannt: »Das ist Edith Fellowes, Timmies Pflegerin. – Bruce Mannheim, Miß Fellowes. Marianne Levien.« »Und das ist Timmie?« fragte Mannheim. »Jawohl«, bestätigte Miß Fellowes, wie um Hoskins’ ungewohnte Befangenheit vergessen zu machen, mit Stentorstimme. »Das ist Timmie!« Der Junge war im hinteren Raum, seinem Schlaf- und Kinderzimmer gewesen, hatte aber vorsichtig den Kopf aus der Tür gesteckt, als er die Besucher kommen hörte. Nun ging er ihnen mit federnden Schritten ruhig und beherzt entgegen.
Innerlich jubelte Miß Fellowes. Zeig’s ihnen nur, Timmie! Zeig’ ihnen, daß wir dich nicht mißhandeln! Daß du dich nicht zitternd vor Angst unter dem Bett zu verstecken brauchst! Voller Stolz auf seinen schönsten Overall marschierte der Junge auf die Besucher zu und sah neugierig zu ihnen auf. Gut gemacht, dachte Miß Fellowes. Ein Punkt für uns! »Hallo«, sagte Mannheim. »Du bist also Timmie?« »Timmie«, sagte Timmie. Allerdings war Miß Fellowes unter den Anwesenden die einzige, die ihn verstand. Der Junge streckte Mannheim die Arme entgegen. Der dachte offenbar, der Kleine wolle ihn begrüßen, und reichte ihm die Hand. Aber Timmie war die Sitte des Händeschüttelns unbekannt, er ließ Mannheims Hand unbeachtet und bewegte die seine ungeduldig hin und her, ohne die Ärmchen zu senken. Mannheim war sichtlich ratlos. »Ihr Haar«, erklärte Miß Fellowes. »Vermutlich hat er noch nie so rotes Haar gesehen. In Neandertalerzeiten gab es das wohl nicht, und hier hatten wir bisher keine rothaarigen Besucher. Helles Haar in allen Farbtönen fasziniert ihn ungeheuer.« »Aha«, grinste Mannheim. »Darum geht es also.« Er kniete nieder, und Timmie begann sofort, in der dichten Krause zu wühlen. Offenbar hatte er nicht nur die Farbe, sondern auch die Locken noch nie gesehen und fand sie einer gründlichen Untersuchung wert. Mannheim ließ es sich geduldig gefallen. Miß Fellowes mußte sich eingestehen, daß er ihren Erwartungen ganz und gar nicht entsprach. Sie hatte sich einen wilden, feuerköpfigen Radikalen vorgestellt, der sie sofort mit Vorwürfen, Parolen und kompromißlosen Forderungen konfrontieren würde,
sobald er zur Tür hereinkam. Doch nun stellte er sich als durchaus sympathischer, freundlicher, noch erstaunlich junger Mann von ernsthaftem, besonnenem Wesen heraus, der es offenbar kaum erwarten konnte, mit Timmie Freundschaft zu schließen. Ganz anders Marianne Levien. Selbst Timmie, der irgendwann doch das Interesse an Bruce Mannheims Haar verlor und sich der zweiten Besucherin zuwandte, wußte augenscheinlich nicht so recht, was er von ihr zu halten hatte. Miß Fellowes hatte sich bereits eine Meinung gebildet: diese Ms. Levien war ihr vom ersten Augenblick an zuwider. Und sie hatte den Verdacht, daß Dr. Hoskins weniger wegen Bruce Mannheim selbst, als wegen seiner unerwarteten Begleiterin so aufgeregt war. Was will sie hier? fragte sich Miß Fellowes. Was in aller Welt führt sie im Schilde? Marianne Levien war in Kreisen der institutionellen Jugendfürsorge bekannt und umstritten, eine hemmungslos ehrgeizige Frau, die notfalls über Leichen ging. Niemand verstand es besser, sich immer und überall in den Vordergrund zu spielen und seine Karriere unaufhaltsam voranzutreiben. Miß Fellowes war ihr bisher nicht persönlich begegnet, doch Ms. Levien schien ihrem Ruf vollauf gerecht zu werden. Eine unangenehme, ja, gefährliche Person. Sie trat auf wie eine Schauspielerin oder eine Geschäftsfrau, vielleicht auch wie eine Schauspielerin in der Rolle einer Geschäftsfrau, aber gewiß nicht wie eine Erzieherin. Sie trug ein aufreizend enges Kleid aus dichtem, glänzendem Metallgewebe und eine Kette mit einem riesigen Goldanhänger in Form einer Sonne. Um die hohe Stirn lag ein Band aus feinen Goldfäden. Das glänzend schwarze, straff nach hinten ge-
kämmte Haar unterstrich das Dramatische ihrer Erscheinung. Die Lippen leuchteten in einem grellen Rot, die Augen hatte sie mit viel Make-up betont. Außerdem war sie von einer starken Parfumwolke umgeben. Miß Fellowes konnte ihren Abscheu kaum verbergen. Wie hatte Dr. Hoskins diese Person auch nur für einen Moment als Betreuerin für Timmie in Betracht ziehen können? Sie war doch in jeder Beziehung das genaue Gegenteil von ihr selbst. Und warum, fragte sie sich weiter, hatte sich Marianne Levien überhaupt um diese Stelle beworben? Ein Leben in völliger Abgeschiedenheit, nur um das Wohl eines einzigen Kindes besorgt? Miß Fellowes wußte doch, daß Ms. Levien ständig auf Achse war, daß sie unentwegt von einem wissenschaftlichen Kongreß zum anderen hetzte, nur um sich überall aufs Podium stellen und im Brustton der Überzeugung Ansichten zum besten geben zu können, die von Leuten mit mehr Erfahrung oft als eher zweifelhaft und störend empfunden wurden. Ihre ausgefallenen Ideen zum Einsatz moderner Technologie bei der Rehabilitation verhaltensgestörter Kinder zum Beispiel – ein Versuch, mit blitzblanken futuristisch anmutenden Maschinen Probleme zu lösen, die man seit Anbeginn der Menschheit einfach mit Liebe und persönlichem Engagement bewältigt hatte. Außerdem war sie die geborene Politikerin – sie saß in jedem Ausschuß, war bei jeder einflußreichen Sonderkommission beratend tätig und hatte auch sonst überall die Finger im Spiel. Dank ihrer ständigen Präsenz konnte sie auf einen geradezu kometenhaften Aufstieg zurückblicken. Wenn sie sich um die Stelle beworben hatte, für die letztlich doch Miß Fellowes zum Zuge gekommen war, hatte sie darin wohl ein Sprungbrett zu noch sehr viel höheren Ehren vermutet.
Ich bin wahrscheinlich rettungslos altmodisch, dachte Miß Fellowes. Ich habe nur die Chance gesehen, einem ungewöhnlichen, kleinen Jungen zu helfen, der ungewöhnlich viel Liebe und Zuwendung brauchte. Timmies Augen leuchteten auf, und er streckte sehnsüchtig die Hand nach Marianne Leviens glänzendem Metallkleid aus. »Hübsch«, sagte er. Ms. Levien brachte sich rasch außer Reichweite. »Was hat er gesagt?« »Er hat Ihr Kleid bewundert«, sagte Miß Fellowes. »Er möchte es gern anfassen.« »Lieber nicht. Es geht sehr leicht kaputt.« »Dann sollten Sie vorsichtig sein. Er ist sehr flink.« »Hübsch«, wiederholte Timmie. »Will haben!« »Nein. Timmie. Nein. Nicht anfassen.« »Will haben!« »Es tut mir leid. Nein. N-E-I-N.« Timmie sah sie enttäuscht an, machte aber keine weiteren Anstalten mehr, Marianne Levien zu berühren. »Versteht er, was Sie sagen?« fragte Mannheim. »Sie sehen ja, daß er das Kleid nicht anfaßt«, lächelte Miß Fellowes. »Und Sie verstehen ihn ebenfalls?« »Manchmal. Meistens.« »Diese Grunzlaute«, sagte Marianne Levien. »Was könnte er damit wohl gemeint haben?« »Er sagte ›hübsch‹. Das bezog sich auf Ihr Kleid. Und dann sagte er: ›Will haben‹. Das hieß, er wollte es anfassen.« »Das soll Englisch gewesen sein?« fragte Mannheim überrascht. »Darauf wäre ich nie gekommen.« »Seine Aussprache ist nicht sehr deutlich, das ist vermutlich
in seiner Physiologie begründet. Aber ich kann ihn verstehen. Er verfügt über ein Vokabular von – hm, etwa hundert englischen Wörtern, würde ich sagen, vielleicht auch etwas mehr. Und er lernt jeden Tag ein paar neue dazu. Inzwischen geht das ganz von selbst. Wir schätzen ihn auf ungefähr vier Jahre, das heißt, er hat sehr spät angefangen, aber seine Sprachkompetenz ist ungefähr die gleiche wie bei anderen Kindern seines Alters. Er holt sehr rasch auf.« »Sie behaupten also, ein Neandertalerkind hätte das gleiche Sprachvermögen wie ein menschliches Kind?« fragte Marianne Levien. »Er ist ein menschliches Kind.« »Ja, gewiß. Aber doch etwas anders. Eine eigene Subspezies, wenn ich mich nicht irre. Und deshalb wären gewisse Unterschiede in den geistigen Fähigkeiten keineswegs ausgeschlossen. Sie könnten sogar ebenso auffallend sein wie die Unterschiede im äußeren Erscheinungsbild. Diese ungemein primitive Gesichtsstruktur…« Jetzt hatte Miß Fellowes genug. »Von primitiv kann nun wahrhaftig nicht die Rede sein, Ms. Levien. Wenn Sie ein Untermenschengesicht sehen wollen, dann schauen Sie sich einen Schimpansen an. Timmie weist vielleicht einige anatomische Besonderheiten auf, aber…« »Das Wort ›Untermensch‹ haben Sie gebraucht, nicht ich«, zischte Ms. Levien. »Aber Sie haben es gedacht.« »Miß Fellowes! Dr. Levien! Ich darf doch bitten! Dieser Ton ist wahrhaftig nicht angebracht!« Doktor Levien? Miß Fellowes warf Hoskins einen raschen Blick zu. Nun ja, wahrscheinlich hatte er recht. Mannheim sah sich um. »Diese kleinen Räume hier – stellen
sie den gesamten Lebensraum des Jungen dar?« »Ganz recht«, antwortete Miß Fellowes. »Da hinten liegt sein Schlaf- und Spielzimmer. Hier nimmt er seine Mahlzeiten ein, und dort ist sein Bad. Mein Zimmer befindet sich auf dieser Seite, und dort drüben ist die Abstellkammer.« »Er verläßt diesen Bereich nie?« »Nein«, sagte Miß Fellowes. »Wir befinden uns in der Stasissektion, und die darf er nicht verlassen.« »Das schränkt seine Bewegungsfreiheit doch sehr ein, finden Sie nicht?« Hoskins schaltete sich – viel zu hastig – ein: »An dieser Einschränkung läßt sich leider nichts ändern. Es gibt technische Gründe dafür, sie hängen mit dem Zeitpotential zusammen, das sich aufgebaut hat, als wir den Jungen aus der Vergangenheit hierherbeförderten. Wenn es Sie interessiert, kann ich Ihnen das alles gern ausführlich erklären. Jedenfalls läuft es darauf hinaus, daß wir dem Jungen nicht erlauben können, die Stasisgrenze zu überschreiten. Die Energiekosten wären unerschwinglich.« »Sie gedenken ihn also bis in alle Ewigkeit in diesen kleinen Räumen einzusperren, nur um ein bißchen Geld zu sparen?« fragte Ms. Levien. »Ich spreche nicht von einem bißchen Geld, Dr. Levien.« Hoskins geriet zusehends in Bedrängnis. »Ich spreche von unerschwinglichen Kosten. Und die Kosten sind nicht das einzige. Der Energiebedarf einer ganzen Großstadt müßte umgeleitet werden, was vermutlich unlösbare Probleme für die gesamte Stromversorgung mit sich brächte. Sie, ich oder Miß Fellowes können die Stasisgrenze ohne Schwierigkeiten überschreiten, aber für Timmie ist das nun einfach unmöglich. Schlicht und einfach unmöglich.«
»Wenn die Wissenschaft imstande ist, ein Kind vierzigtausend Jahre durch die Zeit zu befördern«, erklärte Marianne Levien hoheitsvoll, »dann müßte sie es ihm auch ermöglichen können, durch diesen Korridor zu gehen, wann immer es will.« »Ich wünschte, Sie hätten recht, Dr. Levien«, sagte Hoskins. »Das Kind ist also auf Dauer ein Gefangener in diesen Räumen«, stellte Mannheim fest, »und wenn ich Sie recht verstehe, unternimmt die Wissenschaft derzeit auch keinerlei Anstrengungen, um einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden?« »Das ist richtig. Wie ich bereits zu erklären versuchte, müssen wir uns den Realitäten stellen, und sie verbieten uns derartige Bemühungen. Wir möchten, daß der Junge sich wohlfühlt, aber wir können uns nicht mit Problemen verzetteln, die nun einmal nicht zu lösen sind. – Wie gesagt, ich kann Ihnen sämtliche technischen Daten zur Verfügung stellen, falls Sie sie nachprüfen wollen.« Mannheim nickte, als habe er eben in Gedanken einen Punkt auf einer Liste abgehakt. »Wie wird der Junge ernährt?« fragte Marianne Levien. »Möchten Sie sich die Speisekammer ansehen?« fragte Miß Fellowes. Es klang nicht gerade freundlich. »Das möchte ich tatsächlich.« Miß Fellowes wies mit großer Geste auf die Gefrierfächer. Sieh sie dir ruhig an, dachte sie. Der Inhalt wird dich glücklich machen. Tatsächlich war Ms. Levien von dem, was sie fand – Fläschchen, Ampullen, Pipetten und Mixbehälter – offensichtlich sehr angetan. Diese ganze, unmenschliche Palette synthetischer Nahrungsmittel – meilenweit entfernt von Miß Fellowes’
Vorstellungen von gesunder Kost – hatten Dr. Jacobs und seine Assistenten ohne Rücksicht auf die Proteste seiner Betreuerin für Timmie verordnet. Ms. Levien durchstöberte die Fächer mit High-Tech-Futter voller Genugtuung. Natürlich fährt sie auf dieses superfuturistische Zeug ab, dachte Miß Fellowes gehässig. Wahrscheinlich ernährt sie sich selber ausschließlich synthetisch. Falls sie sich überhaupt ernährt. »Hier gibt es nichts auszusetzen«, sagte Ms. Levien nach einer Weile. »Die Ernährungsspezialisten scheinen ihr Handwerk zu verstehen.« »Rein körperlich macht der Junge einen gesunden Eindruck«, sagte Mannheim. »Sorgen bereitet mir freilich die erzwungene Isolation.« »Ja«, stimmte Marianne Levien sofort ein. »Mir auch. Große Sorgen.« »Schlimm genug, daß die stützenden Strukturen des Stammes, in den er hineingeboren wurde, nun einfach wegfallen – aber daß er gänzlich ohne Gesellschaft auskommen soll, erscheint mir äußerst bedenklich.« »Ich zähle wohl nicht mit, Mr. Mannheim?« erkundigte sich Miß Fellowes nicht ohne eine gewisse Schärfe. »Ich bin nämlich praktisch die ganze Zeit mit ihm zusammen.« »Ich spreche davon, daß er jemanden in seinem Alter bräuchte. Einen Spielkameraden. Das Experiment ist doch auf längere Zeit angelegt, Dr. Hoskins?« »Wir hoffen, von Timmie eine ganze Menge über die Zeit zu erfahren, aus der er kommt. Wenn er das Englische erst besser beherrscht – und Miß Fellowes versichert mir, daß er schon ziemlich fließend spricht, auch wenn es manchen von uns nicht leichtfällt, zu verstehen, was er sagt…« »Mit anderen Worten, Sie haben die Absicht, ihn über
mehrere Jahre hierzubehalten, Dr. Hoskins?« fragte Marianne Levien. »Das könnte sein, ja.« »Und er soll jahrelang in diesen kleinen Räumen eingepfercht bleiben? Ohne jeden Kontakt zu Kindern seines Alters? Ist das ein Leben für einen gesunden, kleinen Jungen wie Timmie?« Hoskins’ Augen huschten von einem zum anderen. Die Übermacht war erdrückend. »Auch Miß Fellowes hat mich schon gebeten, mich nach einem Spielkameraden für Timmie umzusehen«, sagte er. »Ich kann Ihnen versichern, es ist gewiß nicht in unserem Sinne, den Jungen in seiner emotionalen Entwicklung oder auf irgendeinem anderen Gebiet zu behindern.« Miß Fellowes sah ihn überrascht an. Sie hatte die Frage angesprochen, gewiß. Aber daraufhin war nichts passiert. Seit jenem einen, unverbindlichen Gespräch in der Firmenkantine war Hoskins mit keinem Wort mehr auf ihren Hinweis eingegangen, daß Timmie die Gesellschaft eines anderen Kindes brauche. Damals hatte er sofort abgewinkt, ja, er hatte sich über ihre Bitte so erstaunt gezeigt, daß Miß Fellowes gezögert hatte, noch einmal davon anzufangen. Bisher war Timmie auch allein ganz gut zurechtgekommen. Doch nachdem seine Anpassung an sein neues Leben so rasche Fortschritte machte, hatte sie sich in letzter Zeit etwas intensiver mit der Zukunft beschäftigt und sich fest vorgenommen, Hoskins bald wieder mit der Frage zu konfrontieren. Und jetzt war ihr Mannheim zuvorgekommen, wofür ihm Miß Fellowes mehr als dankbar war. Der Anwalt der Kinder hatte vollkommen recht. Timmie konnte nicht ewig allein hier hausen wie ein Affe in einem Käfig. Timmie war kein Affe.
Und selbst einem Gorilla oder Schimpansen würde es nicht gut bekommen, auf Dauer völlig von seinen Artgenossen getrennt zu sein. »Wie es aussieht, versuchen Sie also bereits, einen Spielkameraden zu finden«, sagte Mannheim. »Darf ich fragen, wie weit Ihre Bemühungen gediehen sind?« Das klang schon sehr viel weniger liebenswürdig. Hoskins war noch nervöser geworden. »Was Miß Fellowes’ ursprünglichen Vorschlag angeht, einen zweiten Neandertaler in die Gegenwart zu holen und hier bei Timmie unterzubringen, so muß ich Ihnen ganz offen sagen, daß wir auf keinen Fall die Absicht haben…« »Einen zweiten Neandertaler? Oh nein, Dr. Hoskins«, unterbrach ihn Mannheim. »Das wäre ganz und gar nicht in unserem Sinne.« »Ein kleiner Gefangener ist problematisch genug«, sagte auch Marianne Levien. »Ein zweiter würde die Schwierigkeiten nur vergrößern.« Aus Hoskins’ Augen sprach der pure Haß. Sein Gesicht war schweißüberströmt. »Ich sagte doch bereits, daß wir nicht die Absicht haben, einen zweiten Neandertaler hierherzuholen«, knirschte er. »Das stand nie zur Debatte. Niemals! Und dafür gibt es ein Dutzend verschiedener Gründe. Schon als Miß Fellowes zum ersten Mal darauf zu sprechen kam, habe ich ihr klipp und klar gesagt…« Mannheim und Ms. Levien wechselten einen besorgten Blick. Hoskins hatte sich richtiggehend in Wut geredet. Sogar Timmie war erschrocken und drückte sich schutzsuchend an Miß Fellowes. Mannheim ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Wenn wir
uns alle einig sind, Dr. Hoskins, daß ein zweiter Neandertaler keine gute Idee wäre, brauchen wir darüber auch nicht weiter zu diskutieren. Wir haben eine ganz andere Frage: wäre es möglich, für Timmie einen… – nun, wie soll ich sagen? Menschlich paßt nicht, denn Timmie ist ja ein Mensch. Aber vielleicht modern – einen modernen Spielgefährten, ein Kind aus unserer Zeit zu finden?« »Ein Kind, das Timmie regelmäßig besuchen könnte«, ergänzte Marianne Levien, »und ihm die Stimuli gäbe, die er braucht, um sich zu einem gesunden, soziokulturell angepaßten Individuum zu entwickeln. Über dieses Ziel sind wir uns ja hoffentlich einig?« »Moment mal«, fauchte Hoskins. »Inwiefern angepaßt? Was stellen Sie sich eigentlich vor? Daß Timmie irgendwann einmal glücklich und zufrieden in einem gepflegten Mittelklassewohnviertel lebt? Sich um die amerikanische Staatsbürgerschaft bewirbt, einer Kirche beitritt, heiratet und eine Familie gründet? Darf ich Sie daran erinnern, daß es sich hier um ein Kind aus der Urzeit handelt, aus einer Zeit, die so weit von uns entfernt ist, daß wir sie nicht einmal mehr barbarisch nennen können, um ein Steinzeitkind, um ein – ich darf Sie zitieren, Dr. Levien? – um ein Wesen von einem anderen Stern? Wie in aller Welt kommen Sie auf die Idee, daß er…?« Marianne Levien fiel ihm rücksichtslos ins Wort. »Es geht hier nicht um Timmies hypothetischen Antrag auf Staatsbürgerschaft oder seine Religionszugehörigkeit, Dr. Hoskins. Übertreibungen bringen uns nicht weiter. Timmie ist noch ein Kind, und Mr. Mannheim und mich interessiert in erster Linie, wie er seine Kindheit erlebt. Die Bedingungen, unter denen er derzeit gehalten wird, sind untragbar. Timmies eigene Gesellschaft hätte sich dieser Ansicht wohl angeschlossen, so fremd
sie uns in vielen anderen Dingen auch sein mag. Jede menschliche Gesellschaft, die wir kennen, so sehr sie sich in ihren Denkstrukturen und Rahmenbedingungen auch von der unseren unterscheidet, garantiert ihren Kindern das Recht, sich auf dem Wege der Sozialisation in das jeweilige Gesellschaftssystem zu integrieren. Die Verhältnisse, unter denen Timmie derzeit lebt, machen dagegen jegliche Sozialisation unmöglich.« »Etwas einfacher ausgedrückt, so daß es auch ein Physiker verstehen kann, Dr. Levien, heißt das wohl, daß Timmie Ihrer Ansicht nach einen Spielgefährten bekommen sollte«, gab Hoskins scharf zurück. »Nicht nur ›sollte‹«, verbesserte Ms. Levien. »Muß.« »Wir können leider nicht umhin, den Standpunkt zu vertreten, daß dieses Kind unter allen Umständen Gesellschaft braucht«, erklärte Mannheim in sehr viel konzilianterem Ton. »Unter allen Umständen«, wiederholte Hoskins resigniert. »Ein erster Schritt, eine Mindestforderung«, erläuterte Ms. Levien. »Damit ist nicht gesagt, daß wir uns mit der Dauergefangenschaft des Jungen in unserer Zeit abfinden oder sie gar für richtig halten. Aber alle anderen Einwände könnten wenigstens vorderhand zurückgestellt werden, und wir würden Ihnen gestatten, das Experiment fortzusetzen – ist es nicht so, Mr. Mannheim?« »Gestatten!« rief Hoskins. »Vorausgesetzt«, fuhr Marianne Levien ungerührt fort, »Timmie bekommt Gelegenheit, regelmäßig und in einer Weise, die seine emotionalen Bedürfnisse befriedigt, mit anderen Kindern seiner Altersgruppe Kontakte zu pflegen.« Hoskins sah Miß Fellowes hilfesuchend an. Aber in diesem Fall konnte sie ihm keine Unterstützung geben.
»Dieser Forderung muß ich mich anschließen, Dr. Hoskins«, sagte sie, obwohl sie sich vorkam wie eine Verräterin. »Ich denke schon seit längerem so, und die Sache wird immer dringender. Der Junge hat sich wirklich glänzend entwickelt, aber früher oder später wird es ihm schaden, in einem sozialen Vakuum zu leben. Und da es offenbar nicht möglich ist, ihn mit Kindern seiner eigenen Subspezies zusammenzubringen…« Hoskins sah sie an, als wollte er sagen: Wieso fallen auch Sie mir noch in den Rücken? Für einen Moment trat Stille ein. Timmie war im Verlauf der lautstarken Diskussion immer unruhiger geworden und klammerte sich noch fester an Miß Fellowes. Endlich sagte Hoskins: »So sieht es also aus, Mr. Mannheim? Dr. Levien? Ein Spielkamerad für Timmie, oder Sie hetzen mir Ihre Demonstrantenhorden auf den Hals?« »Es sind keine derartigen Drohungen gefallen, Dr. Hoskins«, sagte Mannheim. »Aber selbst Ihre Miß Fellowes hält es für unumgänglich, daß unsere Empfehlung befolgt wird.« »Schön. Und Sie glauben, ich kann so ohne weiteres genügend Leute auftreiben, die willens sind, ihre kleinen Kinder regelmäßig hierherkommen und mit einem Neandertaler spielen zu lassen? Obwohl da draußen die wildesten Gerüchte über die Grausamkeit, Primitivität und Aggressivität der Neandertaler im Umlauf sind?« »Das dürfte nicht schwieriger sein«, sagte Mannheim, »als es war, den Neandertaler ins einundzwanzigste Jahrhundert zu bringen. Ich hielte es ganz im Gegenteil für sehr viel einfacher.« »Ich kann mir lebhaft vorstellen, was unser Justitiar dazu sagen wird. Allein die Kosten für die Haftpflichtversicherung
– vorausgesetzt, wir finden überhaupt jemanden, der verrückt genug ist, sein Kind zu Timmie in die Stasis zu schicken…« »So wild und brutal kommt mir Timmie doch gar nicht vor«, sagte Mannheim. »Ich finde sogar, er ist ein sehr freundliches Kind. Würden Sie das nicht auch so sehen, Miß Fellowes?« »Miß Fellowes hat außerdem bereits darauf hingewiesen«, fügte Marianne Levien mit zuckersüßem Lächeln hinzu, »daß wir Timmie keinesfalls als Untermenschen betrachten dürfen. Allenfalls weist er einige anatomische Besonderheiten auf.« »Sie wären also jederzeit gern bereit, ihm Ihren kleinen Sohn als Spielgefährten zur Verfügung zu stellen?« fragte Hoskins. »Nur haben Sie wohl leider keine Kinder, Dr. Levien? Nein, natürlich nicht. – Und Sie, Mannheim? Haben Sie nicht vielleicht einen kleinen Jungen für unsere Zwecke?« Der Hieb hatte gesessen. Mannheim sagte kühl: »Das tut nichts zur Sache, Dr. Hoskins. Aber ich kann Ihnen versichern, wenn ich das Glück hätte, mit Kindern gesegnet zu sein, würde ich nicht zögern, Ihnen meine Hilfe anzubieten. – Ich kann ja verstehen, daß Sie über unsere Einmischung oder was Sie dafür halten, nicht sehr glücklich sind, Doktor. Aber indem Sie Timmie in unsere Zeit brachten, haben Sie sich zum Herrn über sein Schicksal gemacht. Jetzt wird es Zeit, daß Sie sich mit den Folgen Ihres Tuns auseinandersetzen. Sie können den Jungen nicht mit der Begründung, es handle sich um ein wissenschaftliches Experiment, in Einzelhaft halten. Das geht einfach nicht, Dr. Hoskins.« Hoskins schloß die Augen und atmete ein paarmal tief durch. »Schön«, sagte er endlich. »Schluß der Debatte. Ich gebe mich geschlagen. Wir werden Timmie einen Spielkameraden
besorgen. Irgendwie. Irgendwoher.« In seinen Augen funkelte der Zorn. »Im Gegensatz zu Ihnen beiden habe ich einen Sohn. Und notfalls werde ich ihn hierher bringen, damit er mit Timmie Freundschaft schließt. Mein eigenes Kind. Genügt Ihnen das? Timmie soll nicht länger allein und unglücklich sein. Einverstanden? Einverstanden?« Hoskins sah die beiden böse an. »Das wäre nun wohl geklärt. Haben Sie noch weitere Forderungen? Oder dürfen wir unsere wissenschaftliche Arbeit jetzt ungestört fortsetzen?«
Fünftes Intermezzo DIE ANDEREN Die-Alles-Weiß stieg den Hügel hinab. Unter dem Kleid brannte ihr die Kriegsbemalung wie Feuer auf der Haut. Am liebsten wäre sie nackt gegangen, damit alle die Farbe sehen konnten, Die Anderen wie die Männer ihres eigenen Stammes. Vor allem die Männer ihres eigenen Stammes. Sie sollten ruhig wissen, daß eine Frau ebenso die Farben des Kriegers tragen konnte wie ein Mann, und daß sie, wenn es die Männer nicht wagten, den Feind anzugreifen, durchaus imstande war, ihnen die Arbeit abzunehmen. Aber natürlich konnte sie nicht so den Hügel hinabgehen. Eine Frau hielt ihren Unterleib stets bedeckt, außer beim Paarungsritual: so war es Sitte. Wenn sie ein Lendentuch getragen hätte wie die Männer, hätte sie barbrüstig in den Kampf ziehen und dem Feind zumindest die Bemalung ihres Oberkörpers zeigen können. Aber sie hatte kein Lendentuch, nur ihr Kleid, und das bedeckte alles. Nun gut, wenn sie vor Den Anderen stand, würde sie es vorne öffnen, damit der Feind wußte, daß er einen Krieger vor sich hatte, auch wenn es ein Krieger mit Brüsten war. Weit hinter ihr war auch Silberne Wolke auf dem Weg ins Tal. Sie hörte, wie er ihren Namen rief, aber sie stellte sich taub. Und jetzt sahen die Männer des Kriegerordens sie kommen. Da unten war immer noch alles beim alten, die beiden Reihen standen sich nach wie vor Auge in Auge gegenüber. Doch jetzt wandten die Krieger erstaunt den Kopf nach ihr um. »Zurück, Die-Alles-Weiß«, rief Feuerauge. »Weiber haben
hier nichts zu suchen.« »Du nennst mich ein Weib, Feuerauge? Und bist doch selber nicht mehr! Alle seid ihr Weiber! Ich sehe keinen einzigen Krieger unter euch. Macht ihr doch kehrt, wenn ihr zum Kämpfen zu feige seid.« »Was will sie hier?« fragte Wolfsbaum, als rede er mit der Luft. »Sie ist verrückt.« Das war Junge Antilope. »Sie war schon immer verrückt.« »Kehr um!« riefen die Männer. »Laß uns zufrieden! Wir sind im Krieg, Die-Alles-Weiß! Wir sind im Krieg!« Sie dachte nicht daran, sich jetzt noch fortschicken zu lassen. Das wütende Geschrei der Männer berührte sie nicht mehr als das Summen eines Mückenschwarms. Die-Alles-Weiß hatte das Ende des Pfads erreicht und schritt auf das Heiligtum zu. Hier in unmittelbarer Nähe der drei Flüsse war der Boden sehr weich. Wahrscheinlich floß auch unter der Erde Wasser. Bei jedem Schritt sank sie mit ihren bloßen Füßen tief in die kalte, feuchte, schwammige Erde ein. Hinter ihr stieg die Sonne immer höher. Jetzt stand sie schon über der Kuppe des Hügels, auf dem Die Menschen lagerten. Der kleine, weiße Mondsplitter war verschwunden. Der kalte Wind schlug ihr wie eine Ohrfeige ins Gesicht. Sie ging weiter, bis sie den Kriegern ganz nahe war. Niemand bewegte sich. Die Anderen schienen zu Stein erstarrt. Vogel-Im-Gebüsch war der letzte in der Reihe und stand ihr am nächsten. »Gib mir deinen Speer«, verlangte Die-AllesWeiß. »Geh weg«, sagte Vogel-Im-Gebüsch mit erstickter Stimme.
»Ich brauche einen Speer. Oder soll ich Den Anderen ohne Waffe gegenübertreten?« »Geh – weg!« »Schau! Auch ich trage die Kriegsbemalung!« Sie öffnete ihr Kleid und zeigte ihre Brüste mit den kühnen, blauen Farbspritzern. »Heute bin ich ein Krieger. Und ein Krieger braucht einen Speer!« »Dann mach dir selbst einen.« Die-Alles-Weiß spuckte verächtlich aus und ging an ihm vorbei. »Du, Junge Antilope! Gib mir den deinen. Du brauchst ihn ja nicht.« »Du bist verrückt.« Wolfsbaum streckte die Hand aus und hielt Die-Alles-Weiß am Ellbogen fest. »Hör zu«, sagte er. »Du kannst hier nicht bleiben. Hier gibt es bald Krieg.« »Krieg? Wann denn? Ihr steht doch nur da und schreit herum. Und sie tun es euch nach. Sie sind feige, genau wie ihr. Warum greift ihr nicht endlich an?« »Davon verstehst du nichts«, sagte Wolfsbaum verärgert. »Nein, wahrscheinlich nicht.« Es hatte keinen Sinn, einen von ihnen um seinen Speer zu bitten. Jeder hielt seine Waffe krampfhaft fest. Sie hatten wohl nicht vergessen, wie sie Feuerauge das Ding damals entrissen und ihn damit bedroht hatte. Dadurch hatte sie die Waffe sogar entweiht. Stinkender Moschusochse hatte gesagt, mit einem Speer, den eine Frau in Händen gehalten habe, könne Feuerauge nicht in den Kampf ziehen. Daraufhin hatte er den alten verbrannt und sich murrend und schimpfend einen neuen gemacht. Aber was nützte ihm der schönste neue Speer, fragte sich Die-Alles-Weiß, wenn er zu feige war, ihn zu gebrauchen?
»Schön. Ich komme auch ohne zurecht.« Sie drehte sich um und ging zwei oder drei Schritte auf die Reihe Der Anderen zu. Die sahen ihr so entsetzt entgegen, als sei sie ein Dämon mit drei Köpfen und sechs Stoßzähnen. »Ihr da! Ihr Anderen! Schaut her, schaut mich an!« Wieder öffnete sie ihr Kleid und zeigte ihnen die bemalten Brüste. Den Anderen blieb vor Staunen der Mund offenstehen. »Ich bin der Krieger der Göttin«, sagte sie. »Die Bemalung zeigt es. Und die Göttin gebietet euch, diesen Ort zu verlassen. Das ist IHR Heiligtum. Wir haben es für SIE gebaut. Ihr habt hier nichts verloren.« Die Anderen starrten sie immer noch sprachlos an. Die-Alles-Weiß schaute die Reihe entlang und wieder zurück. Alle waren sie groß und bleich, das fettige, schwarze Haar hing ihnen weit über die Schultern, war aber über der Stirn kurz abgeschnitten, wie um die häßlich flachen, steil ansteigenden Schädel noch besser zur Geltung zu bringen. Alle hatten sie lange, dünne Arme und Beine, kleine Münder, lächerlich winzige Nasen und ein Kinn, das abscheulich weit nach vorne stand. Der Unterkiefer wirkte schwächlich und die Augen farblos. Der Anblick weckte Erinnerungen an den jungen, schlaksigen Anderen, dem Die-Alles-Weiß vor langer Zeit als junges Mädchen am Felsenteich begegnet war. Diese Männer waren ihm zum Verwechseln ähnlich, und sie konnte Sie auch voneinander nicht unterscheiden. Den vom Teich hätte sie ebenfalls nicht wiedererkannt. Vielleicht war er heute sogar dabei. Aber nein, das war unmöglich. Diese Männer waren samt und sonders noch jung, und er mußte inzwischen alt sein, fast so alt wie sie selbst. »Was seid ihr häßlich!« hielt sie ihnen vor. »Blasse, verweichlichte Mißgeburten! Was habt ihr am Heiligtum der
Göttin herumzuschnüffeln? Euch hat nicht die Göttin geschaffen. Euch hat eine Hyäne im Vorbeigehen aus einem Haufen Rhinozeroskot geformt!« Die Anderen sahen sie verwirrt und ratlos an. Die-Alles-Weiß trat noch einen Schritt näher und wedelte mit der Hand durch die Luft, als wolle sie sie wie einen Fliegenschwarm aus der Nähe des Heiligtums verscheuchen. Da begann einer von Den Anderen zu sprechen. Sie nahm zumindest an, daß das heisere Gekrächze, das seinem Mund entströmte, so etwas wie Sprache sein sollte. Es klang so, als sei seine Zunge verkehrtherum angewachsen. Und es waren nur Geräusche, die keinerlei Sinn ergaben. »Kannst du nicht ordentlich sprechen?« fragte Die-AllesWeiß. »Man versteht ja kein einziges Wort. Wenn du zu dumm dafür bist, dann überlaß einem anderen das Reden.« Ein neuer Schwall von unverständlichen Lauten. »Nein«, erklärte sie. »Ich weiß nicht, was du mir sagen willst.« Sie trat noch näher und wandte sich an einen Mann am anderen Ende der Reihe. »Du da!« Sie deutete mit dem Finger auf ihn und klatschte in die Hände. »Kannst du vielleicht deutlicher sprechen?« Er riß die Augen weit auf und ließ ein dumpfes Gemurmel hören. »Sprich in Worten!« befahl Die-Alles-Weiß. »Brabble nicht wie ein Idiot! – Pah! Seid ihr denn alle schwach im Kopf?« Wieder zeigte sie auf den Mann. »Sprich! In Worten! Hat euch denn niemand beigebracht, Worte zu verwenden?« Der Andere wiederholte sein Gemurmel. »Nicht nur häßlich, sondern auch noch dumm!« Die-AllesWeiß schüttelte den Kopf. »Von einer Hyäne gemacht! Aus
Rhinozeroskot.« Die Männer standen da wie vom Donner gerührt. Keiner regte sich. Sie ging an ihnen vorbei auf das Heiligtum zu. Die Menschen hatten es vor einer hohen Felswand genau am Treffpunkt der drei Flüsse errichtet, wo das Wasser von allen Seiten zusammenkam und hoch aufspritzte. Magd-Der-Göttin war auf allen vieren durch die eiskalte Gischt gekrochen, um die Steine so anzuordnen, wie es sich gehörte, und die Glitzerplatten dazwischenzustellen. Aus der Nähe konnte Die-AllesWeiß auch die heiligen Linien erkennen, die die Priesterinnen in den Fels geritzt hatten: fünf senkrechte und jeweils drei, die schräg davon wegführten. Aber jemand hatte sich daran zu schaffen gemacht, jemand, der nicht zu Den Menschen gehörte, hatte um jede Gruppe einen tiefen Kreis in den Fels gekratzt und darüber andere Symbole angebracht, fremdartige, farbige Zeichen, abscheuliche Kringel und Wellen wie aus einem schlechten Traum. Auch Tierbilder waren darunter, ein Mammut mit großem, buckligem Schädel, ein Wolf und ein Wesen, das Die-Alles-Weiß nicht kannte. Die Zeichnungen mußten von Den Anderen stammen, dachte sie. Die Menschen bemalten sich nur selbst mit Farbe, wenn es einen Anlaß dafür gab; aber sie setzten niemals bunte Zeichen auf die Felsen. Niemals. Und Tiere abzubilden, war einfach töricht. Man lief nur Gefahr, den Geist der jeweiligen Gattung zu erzürnen und für alle Zeiten kein Glück mehr bei der Jagd zu haben. »Was habt ihr getan, ihr schmutzigen Bestien? Ihr habt das Heiligtum der Göttin geschändet. Das ist ein Heiligtum der Göttin.« Die Anderen ließen nicht erkennen, ob sie sie verstanden hatten, und so wiederholte sie noch lauter: »Ein Heiligtum der Göttin.«
Verständnislose Blicke. Achselzucken. Die-Alles-Weiß wies auf die Erde und auf den Himmel: die Welt der Göttin, das verstand sich von selbst. Dann berührte sie ihre Brüste, ihren Schoß, ihre Lenden: sie war nach dem Bild der Göttin geschaffen, auch das mußten Die Anderen doch begreifen. Aber sie starrten sie nur weiter an. »Ihr habt wohl überhaupt keinen Verstand?« schrie sie. »Dummköpfe! Dummköpfe seid ihr! Nicht besser als eine Herde Vieh!« Mühsam erkletterte sie die Felswand. Immer wieder rutschte sie auf dem nassen Stein aus, einmal wäre sie beinahe in den reißenden Fluß gestürzt, und das wäre ihr Tod gewesen; aber sie bekam im letzten Moment einen Felszacken zu fassen und konnte sich daran festhalten. Als sie das Heiligtum erreichte, hob sie den Arm und berührte das gemalte Mammut. »Unrecht!« schrie sie. »Frevel! Schande!« Sie benetzte sich den Finger und rieb über das Bild, bis sich die Linien verwischten. Jetzt wurden Die Anderen unruhig. Sie begannen zu murren, sahen sich an und scharrten mit den Füßen. »Eure Bilder gehören nicht hierher!« schrie Die-Alles-Weiß. »Das ist unser Heiligtum! Wir haben es für SIE gebaut! Und wir sind hierhergekommen, um IHR zu huldigen und IHREN Ratschluß zu erflehen.« Sie rubbelte unermüdlich an dem Bild herum, bis nur noch ein häßlicher Fleck zu sehen war. Dann wollte sie sich auch die übrigen Zeichnungen vornehmen, mußte aber feststellen, daß sie sie nicht erreichen konnte; ihre Arme waren zu kurz. Nur Die Anderen mit ihren Spinnengliedern kamen so hoch hinauf. Trotzdem war sie zufrieden. Sie hatte ihren Standpunkt
klargemacht. Also kletterte sie wieder hinunter und ging zurück zu den Kriegern, die sich immer noch reglos in zwei Reihen gegenüberstanden. »Habt ihr mich verstanden?« fragte sie Die Anderen. »Das ist unser Heiligtum! Es gehört uns!« Furchtlos ging sie auf sie zu und baute sich dicht vor ihnen auf. Sie traten von einem Fuß auf den anderen, aber keiner hob seinen Speer. Sie hatten Angst vor ihr. Sie war eine heilige Frau, die Göttin war in sie gefahren: keiner wagte, sich ihr zu widersetzen. Sie schaute zu den Gesichtern empor. Groß wie Bäume waren sie, diese Anderen, wie die Berge überragten sie einen. Sie wies mit der Hand nach Westen. »Geht zurück in euer Land«, sagte sie. »Laßt uns in Ruhe. Wir wollen nur in Frieden unser Opfer darbringen, ihr häßlichen, stinkenden Tiere! Ihr Dummköpfe! Ihr törichten Bestien!« Sie packte Den Anderen, der ihr am nächsten stand, und schob ihn in die Richtung, in die sie gezeigt hatte. Er wich ein paar Schritte zurück. Wieder wedelte sie mit der Hand. »Fort mit euch! Los, macht schon!« Wie ein Wirbelwind fuhr sie zwischen die Männer hinein, brüllte sie an, schubste sie hin und her. Sie scheuten vor ihrer Berührung zurück, als habe sie eine Krankheit. Aber sie ließ nicht locker, folgte ihnen so lange armeschwenkend und mit gellendem Geschrei, bis sie sie schließlich ganz allein aus der unmittelbaren Umgebung des Heiligtums vertrieben hatte. Dann blieb sie stehen und sah ihnen nach. Sie zogen sich etwa hundertfünfzig Schritte weit zurück, bis an eine Stelle, wo der eine der beiden kleineren Flüsse eine Biegung machte und zwischen zwei Steinmauern dahinschoß. Dort machten sie halt. Erst jetzt erkannte Die-Alles-Weiß daß sich hier das Lager
Der Anderen befand. Frauen, Kinder und Greise hatten sich hinter dem Gebüsch in einer Schlucht versteckt. Schön, dachte sie. Ich habe sie vom Heiligtum verjagt; mehr konnte ich wirklich nicht erwarten. Es war keine Kleinigkeit gewesen, und sie hatte es ganz allein geschafft. Allerdings war es ihr nur deshalb gelungen, weil die ganze Zeit über das Feuer der Göttin in ihr gebrannt hatte. Sie kehrte zu den Männern des Kriegerordens zurück. »Ich habe nicht einmal einen Speer gebraucht!« sagte sie triumphierend. Junge Antilope schüttelte den Kopf. »Du bist wirklich verrückt!« Doch sein Blick ruhte voller Bewunderung auf ihr.
Achtes Kapitel TRÄUME
36 Gegen Abend, lange nachdem sich Bruce Mannheim und Marianne Levien verabschiedet hatten, kam Hoskins noch einmal ins Puppenhaus zurück. Er schien sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten zu können. »Schläft Timmie schon?« fragte er. Miß Fellowes nickte. »Endlich. Er war kaum zu beruhigen.« Sie legte das Buch ab, in dem sie gelesen hatte, und sah Hoskins an. Ihr Blick war nicht besonders freundlich. Es war ein aufreibender Nachmittag gewesen, und sie hätte nichts dagegen gehabt, jetzt endlich in Ruhe gelassen zu werden. »Es tut mir leid, daß die Wogen so hochgegangen sind«, sagte Hoskins. »Ja, es wurde ziemlich viel herumgeschrien. Mehr als für den Jungen gut war. Hätte man diese Diskussion nicht auch anderswo führen können?« »Es tut mir leid«, wiederholte Hoskins. »Ich habe wohl die Beherrschung verloren. – Aber dieser Mensch treibt mich zum Wahnsinn.« »Ich hätte ihn mir eigentlich schlimmer vorgestellt. Ich glaube, er ist aufrichtig um Timmies Wohlergehen besorgt.« »Das mag ja sein. Aber einfach so hier hereinzuplatzen und uns vorzuschreiben, was wir zu tun haben…« »Der Junge braucht wirklich einen Spielgefährten.«
Hoskins verdrehte die Augen, und es sah fast so aus, als würde der Streit wieder von vorne beginnen. Aber diesmal nahm er sich noch rechtzeitig zusammen. »Ja«, sagte er leise. »Das ist richtig, und ich will Ihnen ja auch gar nicht widersprechen. Aber wo sollen wir jemanden herbekommen? Das ist ein ungeheures Problem.« »Ihr Angebot, im Notfall Ihren eigenen Sohn zur Verfügung zu stellen, war also nicht ernstgemeint?« Hoskins zuckte zusammen. Vielleicht saß sie ihm zu sehr im Nacken. Aber sie hatte ihn schließlich nicht gebeten, an diesem Tag noch einmal wiederzukommen. »Ernstgemeint? – Ja, sicher, natürlich war es ernstgemeint. Wenn sich sonst niemand findet. Glauben Sie etwa, ich hätte Angst, daß Timmie meinem Sohn irgend etwas antun könnte? Aber meine Frau würde vermutlich Protest anmelden. Sie würde Gefahren sehen, wo keine sind. Viele Leute von außerhalb scheinen Timmie für ein Affenjunges zu halten. Ein wildes Tier, das in Höhlen gelebt und sich von rohem Fleisch ernährt hat.« »Und wenn wir nun ein Interview mit ihm machen und über Subäther ausstrahlen würden?« überlegte Miß Fellowes. Sie war über diesen Vorschlag selbst überrascht. Normalerweise wehrte sie sich gegen alle Übergriffe der Medien auf Timmies Privatleben. Aber wenn damit die Vorurteile gegenüber dem Jungen abgebaut werden konnten, hätte sich die Aufregung gelohnt. »Immerhin spricht er jetzt Englisch – und wenn die Leute das wüßten…« »Ich glaube nicht, daß das irgend etwas ändern würde, Miß Fellowes.« »Wieso nicht?« »Sein Englisch ist nicht besonders gut.«
Entrüstet fuhr sie auf. »Was wollen Sie damit sagen? Wenn man bedenkt, daß er von Null angefangen hat, hat er einen erstaunlich großen Wortschatz. Und er lernt jeden Tag neue Wörter dazu.« Hoskins sah sie nur müde an. »Sie sind die einzige, mit der er sich verständigen kann. Für alle anderen könnte er ebensogut neandertalerisch sprechen. Wir verstehen kein einziges Wort.« »Wahrscheinlich hören Sie nur nicht aufmerksam genug hin.« »Mag sein.« Hoskins war zu erschöpft, um ihr zu widersprechen. Er zuckte nur die Achseln, wandte den Blick ab und versank tief in Gedanken. Miß Fellowes griff wieder nach ihrem Buch und schlug es da auf, wo sie zu lesen aufgehört hatte, schaute jedoch nicht hinein. Es war ein Wink mit dem Zaunpfahl. Aber Hoskins reagierte nicht darauf, sondern blieb sitzen. »Warum mußte sich diese schreckliche Person auch noch einmischen!« stieß er nach einer Weile heftig hervor. »Marianne Levien?« »Dieser weibliche Roboter, jawohl.« »Das ist sie wohl nicht!« »Nein, nicht wirklich.« Hoskins lächelte müde. »Sie kommt mir nur so vor. Im Nebenzimmer schläft ein Junge aus der Vergangenheit, und nun kommt auch noch ein Wesen aus der Zukunft daher, um mir das Leben schwer zu machen. Ich wünschte, ich wäre ihr nie begegnet. Mannheim selbst ist gar nicht so übel – er ist eben einer von diesen sozialen Schwärmern, ein Wirrkopf voller hoher Ideale, der den ganzen Tag nur daran denkt, die Welt in seinem Sinne zu verbessern. Ein
im Grunde wohlmeinender Menschheitsbeglücker. Aber diese Levien – diese chromblitzende Kanaille –, entschuldigen Sie, Miß Fellowes…« »Sie haben doch vollkommen recht.« »Ja, nicht wahr?« Miß Fellowes nickte. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß jemand wie sie tatsächlich einmal als Betreuerin für Timmie in Betracht gezogen wurde.« »Sie war eine der ersten Bewerberinnen. Hat sich mit Begeisterung auf die Aufgabe gestürzt. Richtiggehend scharf war sie darauf.« »Sie kommt mir so – ungeeignet vor.« »Ihre Zeugnisse waren erstklassig. Was mich abstieß, war ihre Persönlichkeit. Sie war höchst überrascht, als sie nicht eingestellt wurde. – Und jetzt hat sie sich leider an Mannheim und seinen Haufen rangemacht. Wahrscheinlich ein gezielter Racheakt gegen mich, weil ich ihr die Stelle nicht gegeben habe. Manche Frauen verzeihen so etwas nie. Sie wird nicht müde werden, gegen mich zu hetzen – ständig wird sie ihm mit ihrem albernen Fachchinesisch in den Ohren liegen, dabei hat er selbst nichts anderes im Kopf als diesen Psychologenquatsch – sie wird dafür sorgen, daß er nicht lockerläßt, sich ständig neue Schikanen ausdenkt…« Er hatte sich immer mehr ereifert. Miß Fellowes wurde energisch: »Ich finde nicht, daß man von Schikanen reden kann, wenn jemand darauf hinweist, daß Timmie sehr einsam ist, und daß es Zeit wird, etwas dagegen zu unternehmen.« »Ich werde ja etwas unternehmen.« »Aber wieso halten Sie es für einen Racheakt, wenn sie doch lediglich zu bedenken gibt…«
»Es ist ein Racheakt!« Hoskins’ Stimme war noch lauter geworden. »Sie hatte von Anfang an vor, das gesamte Projekt an sich zu reißen, aber das ist ihr nicht gelungen. Jetzt will sie erreichen, daß uns alles um die Ohren fliegt. Sie kennt keine Gnade. Verglichen mit ihr ist Mannheim der reine Waschlappen. Er läßt sich manipulieren, man braucht nur zu wissen, auf welche Knöpfe man drücken muß. Er wäre schon zufrieden, wenn ich ihm in regelmäßigen Abständen meinen guten Willen beteuerte und ihm verspräche, mich getreulich an sein Programm zu halten. Aber jetzt muß er nach ihrer Pfeife tanzen. Sie wird alle zwei Wochen eine Kontrolle vor Ort verlangen, und sie wird Ergebnisse sehen wollen. Veränderungen. Sie wird dafür sorgen, daß wir nicht mehr zur Ruhe kommen. Als nächstes braucht Timmie wahrscheinlich einen Psychotherapeuten, einen Kieferorthopäden oder einen plastischen Chirurgen, der ihm ein nettes, kleines Homo sapiensGesicht verpaßt – sie wird ihre Nase in alles und jedes stecken und eine verdammte Kampagne nach der anderen starten. Mit Hilfe von Mannheims Propagandaapparat wird sie uns mit Dreck bewerfen, wird uns alle als übergeschnappte Wissenschaftler hinstellen, die eiskalt genug sind, ein unschuldiges Kind zu quälen…« Er wandte sich ab und starrte die geschlossene Tür zu Timmies Schlafzimmer an. Endlich sagte er finster: »Diesem Frauenzimmer ist Mannheim hilflos ausgeliefert. Wahrscheinlich schläft sie auch noch mit ihm. Inzwischen ist er ihr vermutlich vollkommen hörig. Er hat keine Chance.« Miß Fellowes riß entsetzt die Augen auf. »Wie können Sie so etwas behaupten!« »Was meinen Sie?« »Daß sie und er… daß sie ihn mit ihrer… Dafür haben Sie keinen Beweis. Ich finde solche Anzüglichkeiten höchst un-
passend, Dr. Hoskins. Ich will kein Wort mehr davon hören.« »Meinen Sie?« Hoskins’ Zorn war wie weggeblasen. Er grinste verlegen. »Vermutlich haben Sie recht. Ich habe keine Ahnung, ob Mannheim mit jemandem schläft und wenn, mit wem. Es interessiert mich auch nicht. Und mit dieser Levien ist es genauso. Ich will die beiden nur vom Halse haben, damit wir unsere Arbeit ungehindert fortsetzen können, Miß Fellowes. Das wissen Sie doch. Und Sie wissen auch, daß ich alles getan habe, was in meiner Macht stand, damit Timmie hier glücklich ist. Aber ich bin jetzt einfach müde – so verdammt müde…« Miß Fellowes stand spontan auf, ging zu ihm und ergriff seine Hände. Sie waren kalt. Sie hielt sie einen Augenblick lang fest, als könne sie ihm damit neue Energie einflößen. »Wann waren Sie das letztemal in Urlaub, Dr. Hoskins?« »Urlaub?« Er lachte heiser. »Ich glaube, ich weiß gar nicht, was das ist.« »Vielleicht ist das Ihr Problem.« »Ich kann nicht. Es geht einfach nicht. Ich brauche mich nur umzudrehen, Miß Fellowes, und schon ist hier der Teufel los. Ein Dutzend verschiedener Adamewskis würden versuchen, Forschungsobjekte aus der Stasis zu stehlen. Alle möglichen Leute würden ohne Genehmigung und ohne Rücksicht auf die Kosten Gott weiß welche neuen Experimente starten. Man würde Geräte anschaffen, die wir uns nicht leisten können, um Projekte durchzuführen, die keine Aussicht auf Erfolg haben. In dieser Firma wimmelt es nur so von fragwürdigen Existenzen, und ich bin der einzige Polizist. Solange wir diese Phase nicht hinter uns haben, kann ich es nicht riskieren, Urlaub zu nehmen.« »Wenigstens ein verlängertes Wochenende? Sie brauchen
dringend Ruhe.« »Ich weiß ja. Und ob ich es weiß! – Vielen Dank für Ihr Mitgefühl, Miß Fellowes. Vielen Dank für alles. Sie sind mir eine große Stütze, eine der wenigen Säulen der Normalität in diesem Tollhaus von einem Forschungsinstitut.« »Aber Sie werden versuchen, ein wenig auszuspannen?« »Ja, ich werde es versuchen.« »Dann fangen Sie doch gleich damit an«, drängte sie. »Es ist fast sechs Uhr. Ihre Frau und Ihr kleiner Sohn warten sicher schon auf Sie.« »Sie haben recht«, sagte Hoskins. »Ich sollte zusehen, daß ich hier rauskomme. Noch einmal vielen Dank für alles, Miß Fellowes. Vielen, vielen Dank.«
37 In dieser Nacht wurde sie zum erstenmal seit langer Zeit wieder aus dem Schlaf gerissen, weil Timmie in seinem Zimmer weinte. Sie stand rasch auf und ging zu ihm. Die Kunst, von einer Sekunde auf die andere wachzuwerden, wenn ein verängstigtes Kind sie brauchte, beherrschte sie schon seit langem. »Timmie?« rief sie. Sie schaltete das Nachtlämpchen ein. Er saß im Bett, starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Leere und stieß die hohen, winselnden Töne aus, die für ihn charakteristisch waren. Miß Fellowes schien er gar nicht wahrzunehmen. Er sah sie nicht
an, als sie eintrat, und hörte auch nicht zu weinen auf. »Timmie, ich bin’s, Miß Fellowes.« Sie setzte sich neben ihn und legte ihm den Arm um die Schultern. »Ist ja schon gut, Timmie. Ist doch alles gut.« Allmählich verstummte das Wimmern. Er sah sie an, als habe er sie noch nie zuvor gesehen. Seine Augen waren glasig starr, und er hatte ganz merkwürdig die Zähne gefletscht. Das blitzförmige Muttermal auf seiner Wange zeichnete sich im Halbdunkel deutlich ab. Normalerweise bemerkte sie es gar nicht mehr, aber jetzt war sein Gesicht so totenbleich, fast blutleer, daß das Mal geradezu leuchtete. Er schläft ja immer noch, dachte sie. »Timmie?« Er antwortete mit Zungenschnalzern, Neandertalersprache. Miß Fellowes kam es vor, als rede er nicht mit ihr, sondern mit einer unsichtbaren Person, die hinter ihr stand. Sie nahm ihn in die Arme, wiegte ihn sachte, murmelte immer wieder seinen Namen und sang ihm leise etwas vor. Der kleine Körper war so starr, als stehe er unter einem Bann. Timmie schnalzte unablässig weiter und stieß dazwischen immer wieder jenes drohende Knurren aus, das sie in den ersten Wochen öfter von ihm gehört hatte. Es war erschrekkend mitanzusehen, wie er immer mehr in sein prähistorisches Ich zurückfiel. »Komm, Timmie – mein Kleiner –, du bist doch Miß Fellowes’ kleiner Junge –, ist ja schon gut, alles ist gut, du brauchst keine Angst zu haben. – Möchtest du einen Schluck Milch, Timmie?« Sie spürte, wie sich die Starre löste. Endlich wachte er auf. »Miß – Fellowes«, sagte er stockend. »Milch? Ein Schlückchen warme Milch, Timmie?«
»Milch. Ja. Will Milch.« »Dann komm«, sagte sie, nahm ihn auf den Arm und trug ihn in die Küche. Im Moment war es wohl nicht ratsam, ihn allein zu lassen. Sie setzte ihn auf den Hocker neben dem Kühlgerät, holte eine kleine Flasche Milch heraus und stellte sie kurz in die Mikrowelle. »Was war denn los?« fragte sie, während er trank. »Hast du einen Traum gehabt, Timmie? Einen bösen Traum?« Er war noch mit der Milch beschäftigt und nickte nur. Miß Fellowes wartete, bis er fertig war. »Traum«, sagte er dann, ein neues Wort für ihn. »Böse. Böser Traum.« »Träume sind Schäume.« Ob er das schon verstehen konnte? »Vor Träumen brauchst du keine Angst zu haben, Timmie.« »Böser… Traum…« Sein Gesicht blieb ernst, und er zitterte, obwohl es im Puppenhaus so warm war wie immer. »Komm, ich bringe dich ins Bett zurück«, sagte sie, trug ihn wieder in sein Zimmer und deckte ihn sorgfältig zu. »Was hast du geträumt, Timmie? Kannst du es mir nicht erzählen?« Eine lange Reihe von Zungenschnalzern, unterbrochen von zwei leisen Knurrlauten. Hatten die nächtlichen Ängste die alten Gewohnheiten wieder durchbrechen lassen? Oder fehlten ihm einfach die englischen Worte, um den Traum zu beschreiben? Endlich sagte er: »Drau-ssen.« Er sprach so undeutlich, daß sie nicht sicher war, ihn richtig verstanden zu haben. »Draußen? Hast du ›draußen‹ gesagt?« »Drau-ssen«, wiederholte er.
Ja, sie hatte doch richtig gehört. »Außerhalb der Stasis?« Miß Fellowes deutete auf die Wand. »Da draußen?« Er nickte. »Drau-ssen.« »Du hast geträumt, du wärst da draußen?« Eifriges Nicken. »Ja.« »Und was hast du da draußen gesehen?« Er schnalzte. »Ich kann dich nicht verstehen.« Das Schnalzen wurde drängender. »Nein, Timmie. So hat das keinen Sinn. Du mußt meine Worte verwenden. Mit den deinen kann ich nichts anfangen. Als du von draußen geträumt hast – was hast du da gesehen?« »Nichts«, sagte er. »Alles leer.« Natürlich, alles leer. Kein Wunder. Woher sollte er auch wissen, wie die Welt da draußen aussah? Vom einzigen Fenster des Puppenhauses aus schaute man nur auf ein kleines Stück Rasen, einen Zaun und ein Schild, das er nicht lesen konnte. »Groß… leer«, sagte er. »Du hast da draußen gar nichts gesehen?« Schnalzen. Vielleicht war er im Traum in seine Neandertalerwelt zurückgekehrt und hatte Eiszeitszenen erlebt: Schneewehen, riesige Zotteltiere, die durch das Land schlurften, mit Fellen bekleidete Menschen. Aber sein englischer Wortschatz reichte nicht aus, um ihr das zu beschreiben, und so griff er auf die Laute zurück, die er kannte. »Draußen«, wiederholte er. »Groß… leer…« »Du hattest Angst?« Miß Fellowes wollte ihm helfen. »Leer«, sagte er. »Timmie allein.« Ja, dachte sie. Timmie allein. Armes, armes Kind.
Er hatte sich wieder freigestrampelt. Sie umarmte ihn und deckte ihn noch einmal zu. Dann gab sie ihm sein Lieblingsspielzeug, ein unförmiges, grünes Kuschelmonster, das einen Dinosaurier darstellen sollte. Dr. McIntyre hatte die Stirn gerunzelt, als er das Ding zum ersten Mal sah, und ihr einen seiner typischen Paläoanthropologenvorträge gehalten. Es sei ein großer Irrtum, den prähistorischen Menschen für einen Zeitgenossen der Dinosaurier zu halten – ein großer und leider weit verbreiteter Irrtum, denn in Wirklichkeit sei das Mesozoikum schon seit vielen Millionen Jahren zu Ende gewesen, als die ersten, menschenähnlichen Primaten auf der Bildfläche der Evolution erschienen. Ja, hatte Miß Fellowes gesagt, das ist mir alles bekannt. Aber Timmie weiß es nicht, und er liebt seinen Dinosaurier. Auch jetzt drückte der Junge das Stofftier zärtlich an sich. Miß Fellowes blieb neben seinem Bettchen stehen, bis er wieder eingeschlafen war. Keine bösen Träume mehr, befahl sie ihm stumm. Keine Träume von der großen Leere da draußen, wo Timmie ganz allein ist. Dann legte auch sie sich wieder zu Bett. Ein Blick auf den Wecker auf der Kommode zeigte ihr, daß es Viertel vor fünf war. Schon fast Morgen; wahrscheinlich würde sie keinen Schlaf mehr finden, sondern einfach wachliegen und die Ohren spitzen, ob aus Timmies Zimmer noch etwas zu hören war. Und bald würde es ohnehin hell werden. Aber sie irrte sich. Sie schlief fast auf der Stelle wieder ein, und diesmal hatte sie ihrerseits einen Traum. Sie lag im Bett, aber nicht hier im Puppenhaus, sondern in ihrer kleinen Wohnung am anderen Ende der Stadt, wo sie schon seit so vielen Monaten nicht mehr gewesen war. Jemand klopfte laut und ungeduldig an ihre Tür. Sie stand auf,
schlüpfte in ihren Bademantel und schaltete den Bildschirm der Videoüberwachung ein. Ein Mann stand im Treppenhaus: ein jüngerer Mann mit kurzem, rotem Kraushaar und einem rötlichen Bart. Bruce Mannheim. »Edith?« sagte er. »Edith, ich muß dich sprechen.« Er lächelte. Mit fliegenden Fingern löste sie die Sperrkette. Dann stand er im dunklen, von Schatten erfüllten Treppenhaus vor ihr, größer, als sie ihn in Erinnerung hatte, eine kräftige Männergestalt mit breiten Schultern. »Edith«, sagte er. »Oh, Edith, ich warte schon so lange…« Und dann lag sie in seinen Armen. Mitten im Treppenhaus, ohne Rücksicht auf das erstaunte Getuschel der Nachbarn, die in den Türen standen und mit Fingern auf sie deuteten. Er hob sie auf, wie sie kurz zuvor Timmie aufgehoben hatte – trug sie in ihre Wohnung – flüsterte immer wieder ihren Namen… »Bruce«, sagte sie. Und merkte, daß sie laut gesprochen hatte. Sie war wach. Hastig setzte sie sich auf und hielt sich mit beiden Händen den Mund zu. Ihre Wangen brannten vor Scham. Einzelne Traumszenen schossen ihr durch den Kopf. Diese süßliche Schulmädchenerotik – einfach absurd. Sie war fassungslos. Träume dieser Art hatte sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr gehabt. Wie kam sie ausgerechnet auf Bruce Mannheim als romantischen Helden? Sie mußte lachen. Dr. Hoskins wäre entsetzt, wenn er das wüßte! Seine zuverlässige, pflichtbewußte Miß Fellowes – und dann unterhielt sie intime Beziehungen zu seinem Todfeind, wenn auch nur in ihren Träumen! Es war lächerlich – einfach grotesk!
Es war zum Weinen. Der Gedanke kam ganz plötzlich. Der Traum ließ sie nicht los. Vieles hatte sich bereits verflüchtigt, doch gewisse Einzelheiten waren ihr in einer Weise präsent, als schliefe sie immer noch. Die stürmische Umarmung, das schwüle, leidenschaftliche Geflüster. Edith – Edith – ich warte schon so lange, Edith… Die kitschigen Phantasien einer alten Jungfer. Krankhaft. Einfach krankhaft. Miß Fellowes spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, wie sie zu zittern begann. Mit einem Mal kam ihr der Traum gar nicht mehr komisch vor. Jetzt fühlte sie sich beschmutzt. Etwas hatte sich in ihr Bewußtsein geschlichen, um sich in ihrem geordneten, weltabgeschiedenen Leben breitzumachen. Wo kam es her, dieses Etwas? Und warum gerade zu ihr? Sie hatte sich von derartigen Wünschen schon vor Jahren befreit, das hatte sie sich jedenfalls eingeredet. Sie hatte sich für ein Leben entschieden, in dem die Triebe keine Verwirrung stiften sollten. Ein jungfräuliches Leben; das Leben einer alten Jungfer. Dabei war sie strenggenommen keins von beiden, denn sie war immerhin einmal verheiratet gewesen, wenn auch nur für ein paar Monate. Aber dieses Kapitel war längst abgeschlossen. Jahrelang – jahrzehntelang – hatte sie nun schon ganz für sich allein gelebt, wie auf einer Insel. War in ihrer Arbeit aufgegangen, in den Kindern. Und jetzt so etwas… Es war nur ein Traum, sagte sie sich. Und Träume sind Schäume. Damit hatte sie vorhin schon Timmie zu trösten versucht. Nur ein Traum. Nur. Im Schlaf ist das Bewußtsein zu allem fähig. Und in den schmutzigen Fluten des Unterbewußtseins treiben die merkwürdigsten Dinge herum. Dieser Traum hatte nichts, aber auch gar nichts zu bedeuten. Bruce Mannheim
war heute hier gewesen, und er hatte wohl irgendeinen Eindruck hinterlassen, den ihr Bewußtsein zu einem erschreckenden, aber vollkommen unwahrscheinlichen Szenario verarbeitet hatte. Mannheim war mindestens zehn Jahre jünger als sie. Und sie fand ihn soweit sympathisch, aber nicht unbedingt attraktiv, er regte ihre Phantasie nicht an. Er war eben ein Mann, dem sie heute begegnet war, und nicht mehr. Trotzdem, bisweilen fühlte sie sich immer noch von Männern angezogen. Hoskins hatte diese Wirkung auf sie – hoffnungslos töricht, diese Zuneigung zu einem glücklich verheirateten Mann, der zufällig ihr Vorgesetzter war. Aber solchen Gefühlen haftete wenigstens ein Hauch von Realität an. Das war hier nicht der Fall. Es war nur ein Traum, versicherte sich Miß Fellowes noch einmal, nur ein Traum, nur ein Traum. Dagegen gab es nur ein Mittel. Sie mußte weiterschlafen. Bis es Morgen wurde, hatte sie die ganze Sache wahrscheinlich vergessen. Miß Fellowes schloß die Augen, und nach einer Weile schlief sie tatsächlich wieder ein. Doch ein Schatten des Traums, ein unbestimmtes Gefühl der Demütigung waren noch vorhanden, als sie kurz nach sechs zum nächsten Mal erwachte, weil Timmie sich in seinem Zimmer regte: das ungeduldige Klopfen an der Tür, die atemlose Begrüßung, die stürmische Umarmung. Aber jetzt erschien ihr das alles nur noch grotesk.
38 Nachdem soviel darüber geredet worden war, wie dringend Timmie einen Spielkameraden brauche, hätte Miß Fellowes eigentlich damit gerechnet, daß Hoskins schleunigst irgendein Kind beibringen würde. Schließlich mußte er Mannheim und vor allem Marianne Levien zufriedenstellen, deren politischer Einfluß ja nicht unbeträchtlich war. So war sie sehr überrascht, als Wochen vergingen, ohne daß irgend etwas geschehen wäre. Offenbar war es tatsächlich so schwierig, irgend jemanden zu überreden, sein Kind in die Stasisblase kommen zu lassen, wie Hoskins erwartet hatte. Was er tat, um Mannheim immer wieder zu vertrösten, wußte Miß Fellowes nicht. In dieser Zeit bekam sie Hoskins ohnehin kaum zu Gesicht. Er schien mit anderen Projekten der Stasis GmbH beschäftigt zu sein, und sie sah ihn nur hin und wieder flüchtig im Vorübergehen. Offensichtlich nahm die Führung des Unternehmens seine ganze Zeit in Anspruch. Miß Fellowes hatte bereits aus vereinzelten Bemerkungen anderer Mitarbeiter den Eindruck gewonnen, daß Hoskins, obwohl er an sich schon alle Hände voll damit zu tun hatte, eines der vielschichtigsten Wissenschaftsprojekte der Geschichte zu überwachen, obendrein noch einen ständigen Kampf gegen eine Gruppe hochbegabter, aber ziemlich überspannter, nobelpreisgeiler Primadonnen unter seinen Angestellten führen mußte. Wie auch immer. Er hatte seine Probleme. Sie hatte die ihren. Und eines der größten war Timmies zusehends drückender werdende Einsamkeit. Sie bemühte sich, dem Jungen in ihrer
Eigenschaft als Betreuerin, Lehrerin und Ersatzmutter alles zu geben, was er brauchte, aber es reichte einfach nicht. Wieder und wieder – nicht jede Nacht, aber doch so oft, daß Miß Fellowes anfing, darüber Buch zu führen – hatte er den gleichen Traum von der großen, leeren Weite außerhalb des Puppenhauses, das er in der Realität niemals verlassen durfte. Manchmal war er allein da draußen, manchmal waren rätselhafte Schattengestalten bei ihm. Sein Englisch reichte noch immer nicht so weit, daß er hätte sagen können, ob diese leeren Weiten eine Erinnerung an die verlorene Welt der Eiszeit waren oder seine Vorstellung von der fremden, neuen Zeit verkörperten, in der er jetzt lebte. Auf jeden Fall jagten sie ihm Angst ein, und er wachte oft weinend auf. Man brauchte kein Psychologe zu sein, um diesen Traum als Ausdruck seiner Isolation und einer immer tiefer werdenden Schwermut zu begreifen. Auch tagsüber hatte er häufig Anfälle von Trübsinn. Dann war er in sich gekehrt, irrte ziellos durch die Räume oder stand stundenlang am Fenster des Puppenhauses und schaute stumm hinaus, obwohl es dort so gut wie nichts zu sehen gab. Vielleicht glaubte er sich wieder in der großen Leere seines Traums, dachte sehnsüchtig an die öden Eiswüsten seiner ach so fernen Kindheit zurück oder fragte sich auch nur, was außerhalb dieser Zimmer lag, in denen sich sein ganzes Leben abspielte. Und Miß Fellowes fragte sich wütend: Warum schafft man nicht endlich jemanden herbei, der ihm Gesellschaft leistet? Warum nicht? Sie erwog sogar, auf eigene Faust Kontakt zu Mannheim aufzunehmen, um ihm mitzuteilen, daß nichts voranging, und ihn zu bitten, noch mehr Druck auf Hoskins auszuüben. Aber das wäre ihr nun doch wie Verrat vorgekommen. So sehr ihr
Timmies Wohl am Herzen lag, sie brachte es nicht über sich, Hoskins auf diese Weise zu hintergehen. Doch ihr Zorn wuchs von Tag zu Tag. Inzwischen hatten die Physiologen alles über den Jungen herausgefunden, was möglich war, ohne ihn zu sezieren, und das schien wider Erwarten doch nicht Bestandteil ihres Forschungsprogramms zu sein. Die Besuche wurden seltener; nur noch einmal wöchentlich kam jemand vorbei, um Timmie zu messen, ein paar Routinefragen zu stellen und ein paar Fotos zu machen. Die Nadeln, die Injektionen, die ständigen Blutentnahmen gehörten der Vergangenheit an; die Spezialdiät wurde nicht mehr für nötig erachtet; die langwierigen und schmerzhaften Untersuchungen, um festzustellen, wie Timmies Gelenke, Sehnen und Knochen zusammenhingen, wurden eingestellt. So weit, so gut. Aber je mehr das Interesse der Physiologen nachließ, desto eifriger stürzten sich nun die Psychologen auf den Jungen. Miß Fellowes empfand diese neuen Quälgeister als mindestens ebenso unangenehm wie die alten. Jetzt mußte Timmie Hindernisse überwinden, um an Essen und Wasser zu kommen. Er mußte Platten heben, Stangen bewegen, nach Seilen greifen. Die leichten Elektroschocks, die man ihm verabreichte, quittierte er mit erschrockenem Wimmern – oder er fauchte wie ein wildes Tier. Miß Fellowes war manchmal der Verzweiflung nahe. Aber sie wollte sich nicht bei Hoskins beschweren. Sie wollte überhaupt nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er hielt aus unerfindlichen Gründen Abstand, und Miß Fellowes wagte nicht, ihn mit neuen Forderungen zu bedrängen. Sie befürchtete nämlich, die Beherrschung verlieren und womöglich zu kündigen, wenn sie auch nur auf den leisesten Widerstand
stieß. Und diesen Schritt wollte sie vermeiden. Sie mußte bleiben, um Timmies willen. Aber warum hatte er sich von dem Timmie-Projekt so vollständig zurückgezogen? Woher diese Gleichgültigkeit? War das seine Art, sich gegen Bruce Mannheims Vorwürfe und Appelle abzuschotten? Wie dumm von ihm, dachte sie. Der einzige, der unter seiner Abwesenheit zu leiden hatte, war Timmie. Dumm, dumm und nochmals dumm. Sie tat, was sie konnte, um die Wissenschaftler von Timmie fernzuhalten, aber sie konnte ihnen den Jungen nicht ganz entziehen. Schließlich war er ja ihre Versuchsperson. Und so wurde er weiterhin erforscht, gepiesackt und mit Elektroschocks traktiert. Außerdem kamen Scharen von Anthropologen, um den kleinen Neandertaler über das Leben im Paläolithikum zu befragen. Doch obwohl Timmie – auf seine Art – inzwischen recht gut Englisch sprach, wurden sie immer wieder enttäuscht. Sie konnten zwar fragen, soviel sie wollten, aber Antworten bekamen sie nur, wenn er die Fragen verstanden hatte, und wenn in seinem Gedächtnis noch Informationen über den betreffenden Aspekt der mittlerweile so fernen Steinzeitwelt gespeichert waren. Aus den Wochen seines Aufenthalts in der Jetztzeit wurden Monate. Timmie lernte immer besser und deutlicher sprechen. Ein gewisses, nach Miß Fellowes Meinung durchaus liebenswertes Nuscheln verlor er nie, ansonsten konnte er es jedoch in punkto Sprachfertigkeit mit fast jedem gleichaltrigen Kind der Jetztzeit aufnehmen. Wenn er aufgeregt war, passierte es zwar immer noch, daß er zu schnalzen und zu knurren anfing, aber diese Ausrutscher wurden immer seltener. Wahrscheinlich entschwand das Leben vor seiner Ankunft im einund-
zwanzigsten Jahrhundert zunehmend seiner Erinnerung – außer in seinen Träumen, einer Welt, zu der Miß Fellowes keinen Zutritt hatte. Sie konnte nicht wissen, welche riesigen Mammuts und Mastodons dort ihr Unwesen trieben, oder was sich im Unterbewußtsein des kleinen Neandertalers für prähistorische Schauerdramen abspielten. Zu ihrer eigenen Überraschung war Miß Fellowes freilich nach wie vor die einzige, bei der die Verständigung mit Timmie halbwegs zuverlässig klappte. Personen, die häufig innerhalb der Stasiszelle zu tun hatten – ihre Hilfskräfte Mortenson, Elliott und Stratford etwa, oder Dr. McIntyre und Dr. Jacobs – schnappten hin und wieder einen Satz auf, aber nur, wenn sie sich große Mühe gaben. Und meistens wurden Timmies Äußerungen mindestens zur Hälfte mißverstanden. Miß Fellowes konnte das gar nicht begreifen. Gewiß, zu Anfang war es dem Jungen etwas schwergefallen, die einzelnen Worte deutlich auszusprechen, aber jetzt gingen sie ihm doch schon recht flüssig von der Zunge. Fand sie jedenfalls. Aber das lag, wie sie sich irgendwann eingestehen mußte, nur daran, daß sie als einzige Tag und Nacht mit ihm zusammen war. Ihr Ohr brachte alles, was er sagte, ganz automatisch in die richtige Form. Er war eben doch kein Kind von heute, jedenfalls nicht, was seine Sprachkompetenz anging. Zwar verstand er vieles von dem, was man zu ihm sagte, und konnte inzwischen auch in ganzen Sätzen antworten – aber seine Zunge, seine Lippen, sein Kehlkopf und sein kleines Zungenbein waren mit den Feinheiten der englischen Sprache des einundzwanzigsten Jahrhunderts wohl doch ein wenig überfordert, und so kam es immer wieder zu groben Entstellungen. Den anderen gegenüber verteidigte sie ihn: »Haben Sie je gehört, wie ein Franzose versucht, ein so einfaches Wort wie
das englische ›the‹ herauszubringen? Oder wie es klingt, wenn ein Engländer Französisch spricht? Im russischen Alphabet gibt es Buchstaben, bei denen brechen wir uns schier die Zunge ab. Jede Sprachgemeinschaft trainiert ihre Sprechwerkzeuge von Geburt an auf eine ganz spezielle Art und Weise, und die meisten Menschen sind nicht imstande, später noch etwas daran zu ändern. Deshalb gibt es so etwas wie Akzente. Timmie hat eben einen sehr ausgeprägten Neandertalerakzent. Aber der wird mit der Zeit schon noch verschwinden.« Und bis dahin war Miß Fellowes’ Machtposition nicht zu erschüttern. Sie war nicht nur Timmies Betreuerin, sondern auch seine Dolmetscherin: das Medium, das den Anthropologen, die ihn befragten, seine Erinnerungen an die prähistorische Welt zugänglich machte. Ohne sie hatten die Wissenschaftler keine Chance, verständliche Antworten zu erhalten. Nur mit ihrer Hilfe konnte das Projekt aus wissenschaftlicher Sicht zu einem vollen Erfolg werden. Damit fiel ihr bei der Erforschung des menschlichen Lebens in seiner frühesten Phase eine tragende Rolle zu, mit der niemand, am allerwenigsten sie selbst, jemals gerechnet hätte. Leider waren die Fragesteller fast nie zufrieden mit Timmies Auskünften. Dabei zeigte er sich durchaus kooperativ. Aber er hatte eben nicht länger als drei oder vier Jahre in der Welt der Neandertaler verbracht – und leider die ersten drei oder vier Jahre seines Lebens. Kinder seines Alters wären wohl in keiner Epoche imstande gewesen, die Mechanismen der Gesellschaft, in der sie lebten, umfassend verbal zu beschreiben. Das meiste von dem, was er den Anthropologen sagen konnte, hatten sie ohnehin bereits vermutet, oft suggerierten sie dem Jungen auch schon durch die Fragen, die ihm Miß
Fellowes stellen mußte, die dazugehörigen Antworten. »Fragen Sie ihn, wie groß sein Stamm war«, hieß es etwa. »Ich glaube nicht, daß er das Wort ›Stamm‹ kennt.« »Aus wie vielen Menschen bestand dann die Gruppe, mit der er zusammenlebte?« Sie gab die Frage weiter. Vor kurzem hatte sie angefangen, ihn zählen zu lehren. Er sah sie ratlos an. »Viele«, sagte er dann. ›Viele‹, das war bei Timmie alles, was über drei hinausging. Danach machte er keinen Unterschied mehr. »Wie viele?« fragte sie, nahm seine Hand und fuhr ihm über die Fingerspitzen. »So viele?« »Mehr.« »Wie viele mehr?« Er gab sich redlich Mühe, schloß sogar kurz die Augen, wie um in eine andere Welt zu schauen. Dann hob er beide Hände und bewegte rasch die Finger auf und ab. »Sollen das Zahlen sein, Miß Fellowes?« »Ich denke schon. Wahrscheinlich stellt jede Handbewegung eine Fünf dar.« »Ich habe drei Bewegungen pro Hand gezählt. Der Stamm umfaßte also dreißig Leute?« »Ich denke, eher vierzig.« »Fragen Sie nach.« »Timmie, noch einmal von vorne: wie viele Leute hatte deine Gruppe?« »Gruppe, Miß Fellowes?« »Die Menschen um dich herum. Freunde und Verwandte. Wie viele waren es?« »Freunde. Verwandte.« Er überlegte. Gut möglich, daß er mit den Begriffen nur eine sehr ungefähre Vorstellung ver-
band. Nach einer Weile sah er auf seine Hände hinab und begann erneut, mit den Fingern zu flattern. Vielleicht zählte er, es mochte aber auch etwas ganz anderes bedeuten. Niemand vermochte genau zu sagen, wie oft er die Hände bewegte: es konnten acht-, aber auch zehnmal gewesen sein. »Haben Sie gesehen?« fragte Miß Fellowes. »Diesmal sind es, denke ich, achtzig, neunzig oder gar hundert Personen. Falls er tatsächlich auf die Frage geantwortet hat.« »Beim erstenmal waren es weniger.« »Ich weiß. Aber jetzt sind es mehr geworden.« »Unmöglich. Ein derart primitiver Stamm konnte nicht mehr als dreißig Leute zählen. Höchstens.« Miß Fellowes zuckte die Achseln. Wenn sie Timmies Aussagen mit vorgefaßten Meinungen verwässern wollten, war das nicht ihre Sache. »Dann schreiben Sie eben dreißig. Sie können von einem Kind, das damals erst an die drei Jahre alt war, keine Volkszählung erwarten. Er kann nur raten, und es ist schon erstaunlich, daß er überhaupt erfaßt, was wir von ihm wollen. Was im übrigen keineswegs sicher ist. Wieso setzen Sie eigentlich voraus, daß er zählen kann? Daß er weiß, was eine Zahl ist?« »Aber er weiß es doch, oder etwa nicht?« »Soweit man das von einem Jungen mit fünf Jahren erwarten kann. Fragen sie den nächstbesten Fünfjährigen, wie viele Menschen in seiner Straße wohnen, dann werden Sie schon sehen, was Sie zu hören bekommen.« »Nun ja…« Auf anderen Gebieten waren die Resultate ähnlich unpräzise. Stammesstrukturen? Nach vielen verbalen Verrenkungen entlockte Miß Fellowes dem Jungen die Aussage, es habe in
seinem Stamm einen ›großen Mann‹ gegeben. Damit war offenbar ein Häuptling gemeint. Eine große Überraschung war das nicht. In historischer Zeit hatten alle primitiven Stämme einen Häuptling gehabt; man konnte also davon ausgehen, daß das bei den Neandertalern nicht anders gewesen war. Als sie nach dem Namen des großen Mannes fragte, erhielt sie nur Schnalzlaute zur Antwort. Wie immer der Häuptling auch geheißen hatte, der Junge war nicht imstande, den Namen ins Englische zu übersetzen oder wenigstens eine phonetische Entsprechung zu liefern; er mußte auf die Neandertalersprache zurückgreifen. – War der Häuptling verheiratet? lautete die nächste Frage. Timmie wußte nicht, was ›verheiratet‹ war. – Wie wurde der Häuptling gewählt? Timmie verstand die Frage nicht. – Religiöse Vorstellungen und Rituale? Mit Hilfe von zahlreichen, aus wissenschaftlicher Sicht keineswegs unbedenklichen Suggestivfragen entstand schließlich die Beschreibung eines aus Felsblöcken bestehenden Heiligtums, dem er sich nicht hatte nähern dürfen, und eines Kults, der von einer Hohenpriesterin geleitet wurde – oder auch nicht. Miß Fellowes war sicher, daß es sich um eine Priesterin handelte und nicht um einen Priester, weil Timmie beim Sprechen immer wieder auf sie gedeutet hatte, aber sie hatte ihre Zweifel, ob er auch tatsächlich verstanden hatte, was sie von ihm erfahren wollte. »Warum konnte man denn kein älteres Kind aus der Vergangenheit holen!« wehklagten die Anthropologen ein ums andere Mal. »Oder noch besser, einen erwachsenen Neandertaler! Man könnte graue Haare bekommen! Wir haben so viele Fragen, und dieser kleine Junge, unsere einzige Informationsquelle, hat von nichts eine Ahnung!« »Ich kann Sie ja verstehen«, behauptete Miß Fellowes, ob-
wohl sich ihr Mitgefühl in Grenzen hielt. »Aber der ahnungslose kleine Junge ist ein Neandertaler, und das ist mehr, als sie sich jemals erhoffen konnten. Oder hätten Sie sich selbst in ihren kühnsten Träumen vorgestellt, eines Tages mit einem echten Neandertaler sprechen zu können?« »Trotzdem! Ein Jammer!« »Schön, es ist ein Jammer.« Und damit beendete Miß Fellowes die Fragestunde für diesen Tag.
39 Und eines Morgens stand Hoskins unangemeldet vor dem Puppenhaus. »Miß Fellowes? Kann ich Sie sprechen?« Da war er wieder, dieser kleinlaute Tonfall, der signalisierte, daß ihm irgend etwas äußerst peinlich war. Wozu er ja auch allen Grund hatte, dachte Miß Fellowes. Sie strich sich die Schwesterntracht glatt und ging gelassen zur Tür. Doch dann blieb sie verwirrt stehen. Hoskins war nicht allein. Eine schlanke, mittelgroße Frau stand neben ihm an der Grenze zur Stasis. Das blonde Haar und der helle Teint verliehen ihr ein etwas puppenhaftes Aussehen. Die porzellanblauen Augen schauten suchend an Miß Fellowes vorbei und schweiften so ängstlich durch den ganzen Raum, als könnte aus Timmies Spielzimmer jeden Moment ein wütender Gorilla gestürzt kommen. »Miß Fellowes«, sagte Hoskins. »Das ist Annette, meine
Frau. Tritt ruhig ein, Liebes. Es kann gar nichts passieren. An der Schwelle wirst du ein leichtes Unbehagen spüren, aber das geht gleich vorüber. – Darf ich dir Miß Fellowes vorstellen? Sie betreut den Jungen seit dem Abend seiner Ankunft hier.« (Das war also seine Frau. Sie entsprach nicht unbedingt. Miß Fellowes’ Vorstellungen, andererseits hatte sie sich bisher weiter keine Gedanken darüber gemacht, wie Hoskins’ Gattin auszusehen hatte. Etwas gesetzter vielleicht, jedenfalls nicht ganz so nervös wie diese Frau, deren Unsicherheit mit Händen zu greifen war. Aber warum eigentlich? Vielleicht suchten sich willensstarke Männer wie Hoskins gezielt schwache Weibchen aus, um noch besser glänzen zu können. Schön, jeder nach seinem Geschmack. In diesem Fall hätte Miß Fellowes freilich eher ein ganz junges Mädchen erwartet – jung, hübsch und elegant, darauf legten erfolgreiche Geschäftsleute in Hoskins’ Alter doch nach allem, was man hörte, bei einer zweiten Ehe besonderen Wert. Doch auch in diese Kategorie paßte Annette Hoskins nicht so ganz. Gewiß, sie war um einiges jünger als ihr Mann und natürlich auch jünger als Miß Fellowes. Aber richtig jung war sie nicht mehr. Vermutlich um die Vierzig.) Miß Fellowes nahm sich zusammen. »Guten Morgen, Mrs. Hoskins«, sagte sie ohne besondere Herzlichkeit. »Freut mich, Sie kennenzulernen.« »Annette.« »Wie bitte?« »Nennen Sie mich doch Annette, Miß Fellowes. Das tut jeder. Und Sie heißen…?« Hoskins lenkte hastig ab. »Was macht Timmie, Miß Fellowes? Schläft er etwa noch? Ich würde ihn gern meiner Frau vorstellen.« »Er ist in seinem Zimmer«, sagte Miß Fellowes. »Und liest.«
Annette Hoskins lachte kurz und scharf, fast spöttisch auf. »Er kann lesen?« »Einfache Bilderbücher, Mrs. Hoskins. Mit wenig Text. Für längere Texte reicht es noch nicht ganz. Aber er mag Bücher. Im Moment bevorzugt er eines, das vom Leben im hohen Norden erzählt. Eskimos, Walroßjagd, Iglus, und so weiter. Er liest es mindestens einmal am Tag.« (Miß Fellowes wußte natürlich, daß Lesen nicht die treffendste Beschreibung für das war, was Timmie tat. Eigentlich war es sogar ein Schwindel, denn Timmie las gar nicht. Soviel sie wußte, sah er sich nur die Bilder an; die kleinen Zeichen darunter betrachtete er allenfalls als Dekoration. Bisher hatte er sich noch kein einziges Mal erkundigt, was sie zu bedeuten hatten. Vielleicht würde er es niemals tun. Aber immerhin sah er sich Bücher an und schien auch zu verstehen, wovon sie handelten. Das war fast so gut wie richtiges Lesen. Und möglicherweise war es dem Zweck dieses Besuchs förderlich, bei Hoskins’ Frau den Eindruck zu erwecken, daß Timmie wirklich lesen konnte. Ihr Mann würde darauf natürlich nicht hereinfallen.) Hoskins’ Begeisterungsausbruch wirkte ziemlich übertrieben. »Ist das nicht phantastisch, Miß Fellowes? Erinnern Sie sich noch, wie er damals hier ankam? Ein wildes, verdrecktes Urzeitwesen, das aus Leibeskräften brüllte und vor lauter Panik nicht mehr aus noch ein wußte?« (Als ob ich das jemals vergessen könnte! dachte Miß Fellowes.) »Und jetzt – jetzt sitzt er ganz brav da drin – liest ein Buch – interessiert sich für Eskimos und Iglus…« Hoskins strahlte fast wie ein stolzer Vater. »Es ist einfach großartig! Geradezu überwältigend! Der Junge hat in Ihrer Obhut fabelhafte Fort-
schritte gemacht!« Miß Fellowes betrachtete ihn argwöhnisch. Diese bombastische Rhetorik war ihr ganz und gar nicht geheuer. Was führte er im Schilde? Er wußte doch genau, daß Timmie nicht wirklich lesen konnte. Und wieso brachte er jetzt, nach so langer Zeit, auf einmal seine Frau mit? Wieso diese scheinheiligen Lobeshymnen auf Timmies Entwicklung? Und dann begriff sie. Hoskins fand wieder zu einem normalen Tonfall zurück. »Ich habe mich in letzter Zeit sehr rar gemacht, Miß Fellowes, und möchte mich deshalb entschuldigen. Aber Sie können sich wahrscheinlich vorstellen, daß ich mich um alles mögliche kümmern muß, meistens Kleinigkeiten, die aber trotzdem Zeit kosten. Wie etwa unser Freund Mr. Bruce Mannheim.« »Das hatte ich mir schon gedacht.« »Seit seinem Besuch hier ruft er mich jede Woche einmal an. Er erkundigt sich nach diesem und jenem und stellt sich an, als wäre Timmie sein Sohn und ich der Direktor des Internats, in das er ihn gesteckt hat. – Ein Horrorinstitut natürlich, wie aus einem Roman von Charles Dickens.« »Wollte er vielleicht auch wissen, was Sie unternommen haben, um für Timmie einen Spielgefährten zu finden?« fragte Miß Fellowes. »Das ganz besonders.« »Und was haben Sie denn nun unternommen, Dr. Hoskins?« Hoskins schnitt eine Grimasse. »Sie machen sich keinen Begriff, wie schwierig das ist. Wir haben uns mindestens ein halbes Dutzend in Betracht kommender Kinder angesehen. Und natürlich haben wir auch mit den Eltern gesprochen.« Das war Miß Fellowes neu. »Und?«
»Letzten Endes kamen zwei kleine Jungen in die engere Wahl, aber ihre Eltern stellten alle möglichen Bedingungen und brachten so viele Einwände vor, daß wir uns darauf nicht einlassen konnten. Ein dritter Junge hätte sich notfalls auch noch geeignet, und wir wollten ihn schon probeweise zu Timmie bringen, aber im letzten Augenblick war es wieder genau das gleiche: die Eltern kamen mit einem Anwalt, der eine schriftliche Garantie verlangte und umfangreiche Verträge vorbereitet hatte, die uns zu den ausgefallensten Auflagen verpflichtet hätten. Das hielten nun wieder unsere Anwälte nicht für ratsam. Bei den übrigen Kindern tauchte die Frage der Haftung gar nicht erst auf, weil sich die Eltern nur dafür interessierten, wieviel wir bezahlen wollten. Aber dafür waren die Kinder ungezogene, kleine Raufbolde, die Timmie mehr geschadet als genützt hätten. So haben wir sie natürlich abgelehnt.« »Und das heißt, Sie haben niemanden.« Hoskins fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Wir kamen schließlich zu dem Entschluß, uns in diesem Fall im eigenen Haus umzusehen – und das Kind eines Betriebsangehörigen zu nehmen. Und dieser Betriebsangehörige steht vor Ihnen. Ich.« »Ihr Sohn?« fragte Miß Fellowes. »Sie erinnern sich doch, daß ich mich, als Mannheim und Dr. Levien hier waren, zu dem Versprechen hinreißen ließ, im Notfall meinen eigenen Jungen zur Verfügung zu stellen? Jetzt ist dieser Notfall eingetreten. Ich war damals ziemlich wütend, aber ich stehe zu meinem Wort, Miß Fellowes, soweit sollten Sie mich inzwischen kennen. Ich werde von keinem meiner Mitarbeiter etwas verlangen, wozu ich selbst nicht bereit bin. Und so habe ich beschlossen, daß mein Jerry der Spielkamerad
sein soll, den Timmie so dringend braucht. – Nur liegt die Entscheidung natürlich nicht bei mir allein.« »Und deshalb haben Sie Mrs. Hoskins mitgebracht. Sie soll sich selbst davon überzeugen, daß Timmie für ihren Sohn keine Gefahr darstellt«, sagte Miß Fellowes. Hoskins zerfloß schier vor Dankbarkeit. »Ja, Miß Fellowes. Genau so ist es.« Miß Fellowes wandte sich wieder Mrs. Hoskins zu. Die kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum und starrte immer noch wie gebannt auf die Tür, hinter der sich der gefürchtete Neandertaler verbarg. Sie hält Timmie wohl für einen Affen, dachte Miß Fellowes. Für einen Gorilla oder einen Schimpansen. Der sich sofort auf ihr Herzblatt stürzen und ihm Arme und Beine ausreißen könnte. »Nun, dann soll ich ihn jetzt wohl holen, damit sie ihn sich ansehen kann?« fragte sie in eisigem Ton. Mrs. Hoskins zuckte zusammen. »Ich denke schon – Miß Fellowes.« Die Pflegerin nickte. »Timmie?« rief sie. »Timmie, würdest du bitte kurz herauskommen? Wir haben Besuch.« Timmie lugte schüchtern durch den Türspalt. »Keine Angst, Timmie. Es sind Dr. Hoskins und seine Frau. Komm nur heraus.« Der Junge gehorchte. Miß Fellowes schickte ein stummes Dankgebet zum Himmel. Er konnte sich sehen lassen. Er trug seinen zweitliebsten Overall, den blauen mit den großen, grünen Kreisen, und Miß Fellowes hatte ihm erst vor einer Stunde das Haar gründlich ausgekämmt, so daß es noch nicht allzu sehr zerzaust war. Das Büchlein, das er sich angesehen
hatte, hielt er achtlos in der linken Hand. Jetzt schaute er mit großen Augen erwartungsvoll zu den Besuchern auf. Hoskins hatte er natürlich sofort erkannt, obwohl der so lange nicht mehr hiergewesen war, aber Mrs. Hoskins machte ihn ratlos. Ihre Körpersprache, die nervöse Unruhe, die sie ausstrahlte, weckten sein Mißtrauen. Ein primitiver Reflex vielleicht – ein Urinstinkt –, der sich plötzlich meldete. Verlegenes Schweigen trat ein. Dann lächelte Timmie. Ein Lächeln voller Wärme und Herzlichkeit, Timmies extrafreundliches Grinsen von einem Ohr zum anderen. Miß Fellowes hätte ihn am liebsten in die Arme genommen und an sich gedrückt. Er sah entzückend aus, wenn er so lächelte! Ein Urbild kindlichen Vertrauens. Ja. Ein kleiner Junge, der aus dem Kinderzimmer kam, um die Besucher zu begrüßen. Wie könnte Annette Hoskins diesem Anblick widerstehen? »Oh«, sagte die Frau, und es klang, als habe sie eben eine Fliege in ihrer Suppe entdeckt. »Ich wußte nicht, daß er so… so fremd aussieht.« Miß Fellowes warf ihr einen haßerfüllten Blick zu. »Das liegt hauptsächlich an seinen Gesichtszügen«, sagte Hoskins. »Vom Hals abwärts ist er eigentlich ein ganz normaler kleiner Junge mit sehr kräftigen Muskeln.« »Aber das Gesicht, Gerald – der riesige Mund, diese Knollennase – die vorspringenden Augenbrauen – das Kinn – er ist häßlich, Gerald, er macht einem Angst.« »Er versteht das meiste von dem, was Sie sagen«, warnte Miß Fellowes leise. Mrs. Hoskins nickte. Aber sie konnte sich nicht beherrschen. »In Wirklichkeit sieht er ganz anders aus als im Fernsehen.
Auf dem Bildschirm hat er sehr viel mehr Ähnlichkeit mit einem Menschen…« »Er ist ein Mensch, Mrs. Hoskins«, fuhr ihr Miß Fellowes über den Mund. Sie hatte es allmählich satt, diesen Umstand immer wieder betonen zu müssen. »Er entstammt lediglich einem anderen Zweig der menschlichen Rasse, einem Zweig, der zufällig ausgestorben ist.« Hoskins spürte offenbar, daß sie ihren Zorn nur mühsam zurückhielt, denn er wandte sich an seine Frau und drängte: »Unterhalte dich doch ein wenig mit Timmie, Liebes. Damit du ihn besser kennenlernst. Deshalb bist du doch mitgekommen.« »Ja, schon.« Sie mußte all ihren Mut zusammennehmen. »Timmie?« sagte sie endlich mit dünner, zittriger Stimme. »Hallo, Timmie. Ich bin Mrs. Hoskins.« »Hallo«, sagte Timmie und reichte ihr die Hand, wie es ihm Miß Fellowes inzwischen beigebracht hatte. Annette Hoskins sah rasch zu ihrem Gatten hinüber. Der rollte entnervt mit den Augen und nickte. Sie griff so zögernd nach Timmies Hand, als ob sie einem abgerichteten Schimpansen im Zirkus Guten Tag sagen sollte, schüttelte sie nur ganz flüchtig und ließ sie hastig wieder los. »Hallo, Mrs. Hoskins«, sagte Timmie. »Freut mich, dich kennenzulernen.« »Was hat er gesagt?« fragte Annette Hoskins. »Hat er mit mir gesprochen?« »Er sagte Hallo«, erklärte Miß Fellowes. »Und daß er sich freut, Sie kennenzulernen.« »Er kann sprechen? Englisch?« »Ja, er kann sprechen. Er kann auch einfache Geschichten
verstehen und mit Messer und Gabel essen. Und er zieht sich selbständig an und aus. Aber das ist doch alles keine Sensation. Er ist ein ganz normaler, kleiner Junge, Mrs. Hoskins, und er ist mehr als fünf Jahre alt. Fünfeinhalb vielleicht.« »Sie wissen es nicht?« »Wir können nur schätzen«, sagte Miß Fellowes. »Er hatte nämlich seine Geburtsurkunde nicht in der Tasche, als er hier ankam.« Mrs. Hoskins wandte sich wieder an ihren Gatten. »Gerald, ich weiß nicht so recht. Jerry ist noch nicht einmal fünf.« »Das Alter unseres Sohnes ist mir bekannt, Liebes«, sagte Hoskins kalt. »Aber er ist ziemlich groß und kräftig. Größer als Timmie. – Hör zu, Annette, wenn ich nur die geringste Gefahr sähe… die entfernteste Möglichkeit…« »Ich bin mir nicht sicher. Ich bin mir einfach nicht sicher. Wer sagt mir, ob es nicht doch gefährlich ist?« Miß Fellowes zögerte keinen Augenblick. »Sie meinen, ob es gefährlich ist, Timmie mit Ihrem kleinen Sohn spielen zu lassen? Die Antwort lautet eindeutig nein. Timmie ist ein sehr braver, kleiner Junge.« »Aber er ist doch ein W-Wilder.« (Schon wieder das Affenjungenetikett, das ihm die Medien verpaßt haben! Können sich die Menschen eigentlich niemals selbst ein Urteil bilden?) Miß Fellowes wurde energisch: »Er ist kein Wilder, in keiner Beziehung. Käme ein Wilder mit einem Buch in der Hand aus seinem Zimmer, um Ihnen die Hand zu geben? Würde ein Wilder Sie anlächeln, Hallo sagen und er freue sich, Sie kennenzulernen? Er steht doch vor Ihnen, Mrs. Hoskins. Was haben Sie denn für einen Eindruck von ihm?« »Ich kann mich einfach nicht an sein Gesicht gewöhnen. Für
mich sieht er eben nicht aus wie ein Mensch.« Miß Fellowes nahm sich eisern zusammen. Sie durfte jetzt nicht explodieren. »Wie ich bereits sagte, er ist ein Mensch wie Sie und ich. Und ganz bestimmt kein Wilder. Er ist so ruhig und vernünftig, wie Sie es von einem Kind von fünf Jahren und ein paar Monaten erwarten können. Ich finde es sehr großzügig von Ihnen, Mrs. Hoskins, daß Sie Ihrem Sohn erlauben wollen, hierherzukommen und mit Timmie zu spielen, und ich versichere Ihnen, zu irgendwelchen Befürchtungen besteht nicht der geringste Anlaß.« »Ich habe noch nicht gesagt, daß ich es erlaube«, gab Mrs. Hoskins gereizt zurück. Hoskins warf ihr einen verzweifelten Blick zu. »Annette…« »Das habe ich nicht!« (Dann verschwindet doch endlich, damit Timmie in Ruhe weiterlesen kann!) Es fiel Miß Fellowes immer schwerer, sich zu beherrschen. (Überlaß das Hoskins. Sie ist seine Frau.) »Sprich doch wenigstens mit ihm, Annette«, flehte Hoskins. »Damit du ihn kennenlernst. Das hast du mir versprochen.« »Ja, schön, mag sein.« Wieder trat sie auf den Jungen zu. »Timmie?« fragte sie zaghaft. Timmie blickte auf. Er hatte dem Tonfall der Unterhaltung inzwischen entnommen, daß diese Frau nicht unbedingt sein Freund war, und so grinste er diesmal nicht mehr von einem Ohr zum anderen. Dafür rang sich Mrs. Hoskins ein halbherziges Lächeln ab. »Wie alt bist du Timmie?« »Im Zählen ist er nicht besonders gut«, gestand Miß Fellowes leise. Doch Timmie setzte sie in Erstaunen. Er hob die linke Hand und spreizte deutlich alle fünf Finger.
»Fünf!« rief er. »Er hat fünf Finger gehoben, und er hat fünf gesagt.« Miß Fellowes konnte es kaum fassen. »Sie haben es auch gehört, nicht wahr?« »Ich habe es gehört«, bestätigte Hoskins, » – glaube ich jedenfalls.« »Fünf.« Mrs. Hoskins setzte ihre Anstrengungen verbissen fort. Sie war jetzt aufrichtig bemüht, Zugang zu Timmie zu finden. »Das ist ein sehr schönes Alter. Jerry, mein kleiner Junge, ist auch schon fast fünf Jahre alt. Wenn ich Jerry beim nächsten Mal mitbringe, wirst du dann auch ganz lieb zu ihm sein?« »Lieb«, sagte Timmie. »Lieb«, übersetzte Miß Fellowes. »Er hat Sie verstanden. Und er hat versprochen, lieb zu sein.« Mrs. Hoskins nickte. Dann flüsterte sie: »Er ist klein, aber er sieht so stark aus.« »Er hat noch nie jemandem ein Haar gekrümmt«, beteuerte Miß Fellowes, wobei sie die wilden Kämpfe jener ersten, längst vergangenen Nacht geflissentlich vergaß. »Er ist wirklich ein besonders sanftes Kind, glauben Sie mir, Mrs. Hoskins.« Sie wandte sich an Timmie. »Willst du mit Mrs. Hoskins nicht in dein Zimmer gehen? Du kannst ihr deine Spielsachen und deine Bücher zeigen. Und deinen Kleiderschrank.« Beweise ihr, daß du ein richtiger, kleiner Junge bist, Timmie. Bring sie dazu, deine Brauenwülste und dein fliehendes Kinn zu vergessen. Timmie streckte die Hand aus, und diesmal zögerte Mrs. Hoskins nur einen Moment, bevor sie danach griff. Zum erstenmal, seit sie die Stasis betreten hatte, wirkte ihr Lächeln echt. Sie folgte Timmie in sein Zimmer. Die Tür fiel hinter ihnen
ins Schloß. »Ich denke, wir haben gewonnen«, sagte Hoskins leise, sobald seine Frau verschwunden war. »Er wird sie überzeugen.« »Natürlich wird er das.« »Sie ist nicht uneinsichtig, glauben Sie mir. Und im Grunde auch ganz vernünftig. Aber Jerry ist eben ihr ein und alles.« »Verständlich.« »Er ist unser einziges Kind. Wir waren schon mehrere Jahre verheiratet, und zunächst sah es so aus, als würde es mit Nachwuchs nicht klappen, und als wir es dann doch geschafft hatten…« »Ja«, sagte Miß Fellowes. »Ich verstehe.« Sie war nicht besonders darauf erpicht, sich die Geschichte der Hoskinsschen Zeugungsschwierigkeiten und ihrer Überwindung anzuhören. »Und deshalb – ich hatte ihr alles genau erklärt, und sie weiß auch, wie mir dieser Mannheim und seine Meute im Nacken sitzen und wie wichtig es ist, Timmie aus seiner Isolation herauszuholen, aber trotzdem zögert sie noch. Sie will Jerry eben keinem Risiko aussetzen…« »Es besteht kein Risiko, Dr. Hoskins.« »Ich weiß das, und Sie wissen es auch. Aber solange Annette es nicht weiß…« Die Tür zu Timmies Spielzimmer öffnete sich, und Mrs. Hoskins kam heraus. Miß Fellowes bemerkte, daß Timmie zurückblieb und ihr mißtrauisch nachsah. Sie kannte diese skeptische Miene, und ihr stockte der Atem. Irgend etwas mußte schiefgelaufen sein. Aber nein. Annette Hoskins lächelte. »Ein reizendes Zimmerchen«, sagte sie. »Er kann sogar seine Kleider selbst zusammenlegen. Er hat es mir gezeigt. Ich wäre froh, wenn Jerry das auch nur halb so gut könnte. Und
seine Spielsachen hält er so schön in Ordnung…« Miß Fellowes wagte wieder zu atmen. »Dann können wir es also probieren?« fragte Hoskins seine Frau. »Ja. Ich glaube, wir können es probieren.«
Sechstes Intermezzo EIN TEUFELSKREIS Über dem Lager Der Anderen, das westlich des Heiligtums der Göttin am Ufer des kleinsten Flusses lag, stieg Rauch auf. Wenn Silberne Wolke in die entgegengesetzte Richtung schaute, sah er den weißen Rauch vom Feuer seines eigenen Stammes. Seine Leute waren den sanften Hügel am Rand des Ostgebirges herabgestiegen und hatten an seinem Fuß ihr Lager aufgeschlagen. Vor dem Heiligtum selbst hielt sich niemand auf. Nachdem sich die beiden Stämme so endlos lange tatenlos gegenübergestanden hatten, war man schließlich zu einer stillschweigenden Übereinkunft gelangt: das Heiligtum war neutrales Gebiet. Niemand hatte das Recht, sich ihm zu nähern. Beide Seiten hatten Tag und Nacht in einigem Abstand davon Wachposten aufgestellt, um zu gewährleisten, daß die unsichtbare Grenze nicht überschritten wurde. Silberne Wolke stand ganz allein auf seinen Speer gestützt. Es wurde schon wieder dunkel, dabei kam es ihm so vor, als sei der Tag eben erst angebrochen. Das Jahr näherte sich rasch seinem Ende. Immer früher brach die Nacht herein. Immer später wurde es Morgen. Die hellen Stunden wurden von zwei Seiten beschnitten. Bald würden die langen Schneefälle einsetzen, und danach wagten sich nur noch Dummköpfe ins Freie. Alle anderen verkrochen sich an einem geschützten Ort, lebten von den Vorräten, die sie im Herbst gesammelt hatten, und warteten auf den Frühling. Aber wir haben noch immer nicht Frieden geschlossen mit der Göttin, noch immer IHREN Ratschluß nicht empfangen,
dachte Silberne Wolke verzweifelt. Wie könnten wir denn auch, wenn Die Anderen das Heiligtum beständig umlagern und uns den Zugang versperren! »Silberne Wolke! Wird es heute wieder schneien?« Die-Alles-Weiß’ Frage wurde ihm vom Wind zugetragen. Sie selbst stand mit Magd-Der-Göttin und Hütet-DieVergangenheit in einiger Entfernung am Flußufer. Sie redeten schon lange miteinander. Silberne Wolke runzelte die Stirn. Nichts als Ärger hatte man mit diesen dreien. Sie waren stark, diese Frauen, die Kraft der Göttin wohnte in ihnen. Sie schüchterten ihn ein. Dennoch war jede von ihnen auf ihre Weise von großer Bedeutung für das Leben des Stammes. »Wird es schneien, Silberne Wolke? Sag doch!« Er zuckte die Achseln. Dann klopfte er auf sein Knie und nickte. Immer, wenn Schnee in der Luft lag, bereitete ihm die alte Beinwunde Beschwerden. Und jetzt schmerzte sie so heftig wie noch nie. Tags zuvor hatte es fast eine Stunde lang geschneit, und am Tag vorher ebenfalls, allerdings nur kurz. Auch heute war damit zu rechnen. Schlimm, wenn es keinen Tag mehr trocken blieb. Dabei war der Boden noch von gestern weiß. Der Wind – ein Dämonenwind, denn er blies von Norden – wirbelte den Schnee auf und peitschte ihn Silberne Wolke ins Gesicht. Wir sollten weiterziehen, dachte er. Wir müssen uns ein Winterlager suchen. Die-Alles-Weiß hatte sich von Hütet-Die-Vergangenheit abgewandt und kam auf ihn zu. Das würde sicher wieder Ärger geben. Seit ihrem tollkühnen Auftritt vor dem Heiligtum legte diese Frau soviel Stolz und Selbstbewußtsein an den Tag, als sei sie der Häuptling und nicht er. Seit jenem außergewöhnli-
chen Tag, an dem sie die Kriegsbemalung angelegt und sämtlichen Kriegern Der Anderen die Stirn geboten hatte, wagte niemand mehr, sie zu necken oder auch nur schief anzusehen. Sonderbar war sie immer gewesen, hitzig und jähzornig, doch jetzt hatte sie sich noch weiter von allen entfernt und schien beinahe in einer eigenen Welt zu leben. »So geht das nun von Tag zu Tag, Silberne Wolke«, sagte sie, »und nichts ändert sich. Und die Schneemonde rücken immer näher.« »Das weiß ich.« »Wir sollten endlich angreifen und der Sache ein Ende machen.« »Es sind zu viele«, erklärte Silberne Wolke. »Das weißt du so gut wie ich.« Sie führten dieses Gespräch nicht zum erstenmal. »So viele nun auch wieder nicht. Wir könnten schon mit ihnen fertig werden. Aber wir sitzen nur untätig herum. Sie haben Angst vor uns, wir haben Angst vor ihnen, und niemand rührt sich vom Fleck. Wie lange sollen wir denn noch hierbleiben?« »Bis wir der Göttin an IHREM Heiligtum gehuldigt und IHREN Ratschluß erfleht haben.« »Dazu müssen wir angreifen«, sagte Die-Alles-Weiß. Silberne Wolke starrte sie unverwandt an. Ihre Augen machten ihm Angst. Das waren nicht die Augen einer Frau, nicht einmal die Augen eines Kriegers. Sie glänzten so hart wie polierte Steine. »Du warst mit den Männern da unten«, sagte Silberne Wolke. »Du hast gesehen, daß sie nicht angreifen wollten. Möchtest du ganz allein gegen Die Anderen kämpfen, DieAlles-Weiß?«
»Du bist der Häuptling. Befiehl ihnen, den Kampf aufzunehmen. Ich werde an ihrer Seite sein.« »Dann werden alle sterben.« »Und wenn wir hierbleiben, bis der Winter kommt? Auch dann müssen alle sterben, Silberne Wolke.« Er nickte finster. Gewiß: lange konnten sie hier nicht mehr bleiben. Das war auch ihm klar. Wahrscheinlich war es ein Fehler gewesen, überhaupt herzukommen. Aber das konnte er natürlich niemals zugeben. »Wir können nicht weggehen, Die-Alles-Weiß«, sagte er, »bevor wir nicht am Heiligtum waren.« »Wir können nicht gehen, und wir können nicht bleiben. Und an das Heiligtum kommen wir nicht heran. Wir sind in großen Schwierigkeiten, Silberne Wolke.« »Mag sein.« »Ich habe dir gesagt, daß wir nicht herkommen sollten. Gleich zu Anfang, als du beschlossen hast, das Sommerfest ausfallen zu lassen, habe ich es dir gesagt.« »Ich habe es nicht vergessen, Die-Alles-Weiß. Aber nun sind wir einmal hier. Und wir bleiben so lange, bis das Ritual vollzogen ist. Wir können nicht einfach weggehen, ohne die Stimme der Göttin gehört zu haben.« »Nein«, sagte Die-Alles-Weiß. »Da hast du wohl recht. Ich wollte nicht herkommen, aber wenn wir nun schon einmal da sind, müssen wir auch vor die Göttin treten. In diesem Punkt sind wir uns einig.« Er warf ihr einen dankbaren Blick zu. »Aber wenn wir nicht mehr lange bleiben können, weil der Schnee kommt, und wenn wir nicht weggehen können, bevor das Ritual vollzogen ist, und wenn Die Anderen uns hindern, das Ritual zu vollziehen, weil sie hier sind und mit ihrer
Anwesenheit das Heiligtum entweihen, dann müssen wir sie vertreiben«, stellte Die-Alles-Weiß fest. »So einfach ist das.« »Wenn wir sie angreifen, werden sie uns töten.« »Wenn wir es nicht tun, tötet uns der Winter.« »Wir drehen uns im Kreis«, sagte Silberne Wolke. »So kommen wir keinen Schritt weiter.« Nachdenklich sah er sie an. Ihr Blick war erbarmungslos. Aber auch Die-Alles-Weiß wußte keine Lösung. Alles, was sie zu bieten hatte, war der sichere Tod im Kampf gegen den Feind. Ja, es war ein wahrer Teufelskreis. Wir können nicht bleiben, und wir können nicht gehen. Er hatte das Sommerfest abgesagt, weil er es für notwendig hielt, hier ein Ritual zu vollziehen. Wenn er nun auch das Ritual absagte, weil sich Die Anderen in der Nähe des Heiligtums aufhielten, hätte man der Göttin weder im Sommer gehuldigt, noch im Herbst. Und damit würde er erst recht IHREN Zorn auf das Haupt Der Menschen herabbeschwören. Die Menschen würden verhungern, und alle würden sagen, das sei die Schuld des Häuptlings. Silberne Wolke wußte, daß er bald Abhilfe schaffen mußte, sonst würde man ihn seines Amtes entheben. Und einen lebenden Althäuptling würden Die Menschen nicht dulden. Der Brauch war allseits bekannt. Wer die Häuptlingswürde abgab, der nahm auch Abschied vom Leben. Sein Bein brannte wie Feuer. Vielleicht wäre es eine Erlösung, dachte Silberne Wolke, die Last abzuwerfen, damit sie ein anderer weitertrug. Dann hätten auch Schmerz und Müdigkeit für immer ein Ende. Jetzt kam auch noch Magd-Der-Göttin daher. »Hat DieAlles-Weiß dich davon überzeugt, daß wir angreifen müssen?« »Nein.«
»Fürchtest du dich so sehr vor dem Tod?« Silberne Wolke lachte. »Du ahnst nicht, wie töricht deine Frage ist, Magd-Der-Göttin. Ich fürchte, daß du sterben mußt, und Milchquelle und Kämpft-Wie-Ein-Löwe und Schöner Schnee und alle anderen. Es ist nicht meine Aufgabe, Die Menschen in den sicheren Tod zu führen, meine Pflicht ist es vielmehr, sie am Leben zu erhalten.« »Die Schneemonde stehen bevor. Auch sie werden uns töten, wenn wir hier draußen im Freien bleiben.« Er seufzte tief. »Ich weiß es ja.« »Ich wollte diese Wallfahrt nicht«, sagte Magd-Der-Göttin. »Erinnerst du dich? Ich sagte, es sei nicht nötig, den ganzen weiten Weg zurückzugehen, um den Ratschluß der Göttin zu erfahren. Aber Hütet-Die-Vergangenheit hat mich überredet, dir deinen Willen zu lassen.« »Ich weiß«, sagte Silberne Wolke geduldig. »Aber das ändert nichts mehr. Wir sind nun einmal hier. Wie können wir abziehen, ohne mit der Göttin gesprochen zu haben?« »Vielleicht hat die Göttin schon gesprochen«, sagte die Priesterin. »Vielleicht sieht SIE uns als Toren an, weil wir uns von einem Toren führen lassen. Vielleicht hat SIE beschlossen, daß wir den Tod verdienen. Wenn dem so ist, dann ist es besser, im Kampf mit dem Feind zu fallen, als hier herumzustehen und endlose Diskussionen zu führen, bis uns der Schnee zudeckt. Oder glaubst du vielleicht…?« »Schau«, unterbrach Die-Alles-Weiß. »Da kommt einer von Den Anderen. Er will mit uns reden!« Silberne Wolke fuhr erschrocken herum. Sie hatte recht: ein hochgewachsener, junger Krieger mit einem Speer, an dessen Spitze ein roter Fellstreifen befestigt war, verließ soeben das Lager Der Anderen und strebte auf sie zu. Gespaltener Berg
hielt Wache am Heiligtum und hob drohend seine Waffe, als der Abgesandte auf gleicher Höhe mit ihm war. Der stieß einen seiner merkwürdigen Anderenlaute aus und ging einfach weiter, ohne innezuhalten. Feuerauge und Wolfsbaum kamen aus dem Lager gelaufen und deuteten auf Den Anderen, als glaubten sie, Silberne Wolke habe ihn noch nicht bemerkt. Dazu schwenkten sie ihre Speere, zum Zeichen, daß sie jederzeit bereit seien, sich auf ihn zu stürzen. Doch Silberne Wolke scheuchte sie wütend zurück. Das war kein Überfall! Der Mann kam als Unterhändler. Das sah doch wohl ein jeder! Aber wie soll ich mit einem Anderen reden? fragte sich Silberne Wolke. Der Abgesandte ging im Zickzack über den Schnee, um den morastigen Stellen auszuweichen, wo das unterirdische Wasser an die Oberfläche trat. Als er schließlich die Stelle am Flußufer erreichte, wo Silberne Wolke, Die-Alles-Weiß und Magd-Der-Göttin standen, hob er – vermutlich zur Begrüßung – seinen Speer und bewegte ihn langsam hin und her. Silberne Wolke erwiderte den Gruß, indem er seinen eigenen Speer ein Stück weit hob und wieder senkte. Dann harrte er der Dinge, die da kommen sollten. Der Andere gab Anderenlaute von sich. Für Silberne Wolke klangen sie wie das Stöhnen eines verwundeten Tiers. »Glaubst du, er ist krank?« fragte er Die-Alles-Weiß. »Er hat etwas gesagt. Sie sprechen so.« »Eine Sprache soll das sein? Ich höre nur Geräusche.« »Es ist ihre Art zu sprechen«, wiederholte Die-Alles-Weiß. »Ich bin mir ganz sicher.« »Na schön«, sagte Silberne Wolke. »Dann kannst du mir sicher auch sagen, was er spricht.«
»Oh je. Woher soll ich das denn wissen?« »Du bist doch ›Die-Alles-Weiß‹. Du selbst hast dich so genannt.« »Ich weiß nur, was ich weiß. Die Sprache Der Anderen gehört nicht dazu.« »Aha«, sagte Silberne Wolke. »Es gibt also doch ein paar Dinge, die du nicht weißt! Das hast du bisher noch nie zugegeben, Die-Alles-Weiß.« Sie lächelte säuerlich, antwortete aber nicht. Der Andere hatte wieder zu sprechen begonnen. Er hatte eine sehr hohe Stimme und gab sich alle Mühe, sich verständlich zu machen. Er formte jeden Laut mit aller Sorgfalt, als spräche er mit kleinen Kindern. Aber die Laute ergaben keinen Sinn. Silberne Wolke verfolgte aufmerksam seine Lippenbewegungen, aber er hörte kein einziges Wort, das ihm bekannt gewesen wäre. Nein, was Der Andere da erzeugte, hatte nichts mit Sprache zu tun. »Kannst du nicht ordentlich reden?« sagte Silberne Wolke. »Dieses Gewinsel verstehe ich nicht.« Der Andere neigte sich weit nach vorn und legte wie ein Schwerhöriger die Hand ans Ohr, obwohl Silberne Wolke nun wahrhaftig laut genug gesprochen hatte. Es war ein merkwürdiges Bild. Der Andere war unglaublich groß, so groß, daß er mit dem Kopf fast die Wolken berührte, und wenn er sich vorbeugte, sah er aus wie ein Stelzvogel aus dem Sumpfland. Silberne Wolke beobachtete ihn fasziniert. Wie konnte er auf diesen langen, dünnen Beinen nur das Gleichgewicht halten? Wieso kippte er nicht einfach vornüber? Oder brach entzwei, sobald er sich bewegte? Und häßlich war er – diese fahle Haut, wie bei einem Gespenst – dieser Vorsprung da unter den Lippen – die Nase, die Augen, der Mund, alles so winzig
klein! »Ich habe dich gefragt, ob du nicht ordentlich reden kannst! Du mußt in Worten sprechen, sonst kommen wir nicht weiter!« »Das sind seine Worte«, sagte Die-Alles-Weiß plötzlich. »Er hat eigene Worte.« Sie hatte diese neue Wahrheit erst in diesem Moment erkannt und wirkte gebührend überrascht. »Die Anderen haben eine eigene Sprache, und die ist eben anders als die unsere.« »Was?« Silberne Wolke war völlig verblüfft. »Was soll das heißen? Es gibt nur eine Sprache, Die-Alles-Weiß. Entweder spricht man in Worten, dann wird man verstanden, oder man macht nur Geräusche, und wird nicht verstanden. Wir können nicht verstehen, was er sagt, also macht er nur Geräusche. Wie kann es mehr als eine Sprache geben? Der Himmel ist der Himmel. Ein Berg ist ein Berg. Wasser ist Wasser, und Schnee ist Schnee. Das weiß doch jeder. Wieso sollte irgend jemand andere Namen dafür verwenden?« »Zwei Völker – zwei Sprachen. Eine Sprache für uns – eine andere für sie.« Schon die Vorstellung bereitete Silberne Wolke Kopfschmerzen. Vielleicht war tatsächlich etwas dran, es war nicht auszuschließen – zwei Völker, zwei Sprachen, warum nicht? –, aber es fiel ihm schwer, gerade jetzt darüber nachzudenken. Man brauchte viel Muße, um derart neue Ideen verarbeiten zu können. Das Problem mußte warten. Er wandte sich abermals Dem Anderen zu. Der redete schon wieder sein unverständliches Zeug daher. Und jetzt gestikulierte er auch noch. Vielleicht wollte er ihnen, nachdem er mit Sprechen nicht weiterkam, seine Botschaft vorspielen. Er wies mit seinem fellstreifengeschmückten Speer
auf das Heiligtum, auf das östliche Bergland, aus dem Die Menschen gekommen waren, und nach Westen, auf die Länder, die ans Meer grenzten und nun voll und ganz Den Anderen gehörten. Dann zeigte er abermals auf das Heiligtum, auf Silberne Wolke, auf sich selbst und noch ein drittes Mal auf das Heiligtum. »Magd-Der-Göttin?« fragte Silberne Wolke. »Kannst du dir vorstellen, was das heißen soll?« »Er möchte, daß wir abziehen, damit sie das Heiligtum für sich allein haben können«, erklärte Magd-Der-Göttin prompt. Silberne Wolke war nicht ganz überzeugt. Dafür hatte der Mann zu viel hin- und hergedeutet. Er selbst hätte, um Den Anderen klarzumachen, daß sie abziehen sollten, zuerst auf das Heiligtum, dann auf Die Anderen und schließlich auf das Westland gezeigt und dann abfällig gewinkt, als wolle er eine Fliege verscheuchen. Jedes halbwegs intelligente Wesen hätte verstanden, daß es dahin zurückkehren sollte, wo es hergekommen war. Man könnte es ja einfach ausprobieren… Der Andere sah ihn an, als sei er ein Kind, das zwei Erwachsene mit einer umständlichen Geschichte bei einem ernsthaften Gespräch unterbricht. Als Silberne Wolke geendet hatte, wiederholte er seine komplizierte Gestenfolge aufs neue. »Ich glaube«, überlegte Die-Alles-Weiß, »er will, daß wir uns das Heiligtum teilen, daß sein Volk und unser Volk dort gemeinsam ihre Rituale abhalten.« »Wir sollen mit diesem Abschaum unser Heiligtum teilen?« rief die Priesterin entsetzt. »Das Heiligtum gehört uns und niemandem sonst!« »Ist es das, was du mir sagen willst?« fragte Silberne Wolke laut und möglichst langsam. »Daß wir das Heiligtum gemein-
sam benützen sollen? Aber das kann nicht dein Ernst sein. Es ist ein Heiligtum der Göttin. Ihr seid keine Kinder der Göttin. – Oder etwa doch?« Er wartete in der Hoffnung auf eine Antwort, die er auch verstehen konnte. Doch Der Andere gab wieder nur seine unverständlichen Anderengeräusche von sich. Und fing abermals an, mit seinem Speer nach allen Seiten zu deuten. »Aussichtslos«, seufzte Silberne Wolke. »Es ist aussichtslos. Ich verstehe dich nicht, und du verstehst mich nicht. Soweit ist alles klar. Die-Alles-Weiß und Magd-Der-Göttin glauben zwar, dich zu verstehen, aber im Grunde hören sie alle beide nur, was sie gerne hören möchten.« »Ich könnte mich mit ihm hinsetzen und versuchen, ihm unsere Sprache beizubringen«, erbot sich Die-Alles-Weiß. »Vielleicht könnte ich auch lernen, die seine zu sprechen.« »Halte dich von ihm fern«, warnte die Priesterin. »Er ist unrein, und wir stehen auf heiligem Boden.« »Aber wenn wir mit ihnen sprechen könnten…« »Es hat keinen Sinn«, sagte Silberne Wolke. »Selbst wenn seine Geräusche eine Sprache wären, würdest du sie niemals lernen. Wie denn auch? Genauso könntest du dich mit einem Bären hinsetzen und versuchen, die Bärengeräusche zu verstehen. Oder dem Bären das Sprechen beizubringen. Es ist nicht möglich.« »Alte Männer halten gar nichts mehr für möglich«, gab DieAlles-Weiß zurück. »Alt? Wer ist hier alt?« rief Silberne Wolke. Der Andere fuhrwerkte schon wieder mit seinem Speer herum und faselte irgend etwas daher. Ein letzter Versuch vielleicht, Silberne Wolke seine Botschaft zu vermitteln. Doch
die war und blieb unverständlich. Silberne Wolke versank in tiefer Traurigkeit, nicht nur, weil Die-Alles-Weiß ihn alt genannt hatte, weil sein Bein wie Feuer brannte oder weil die Schneemonde nahten und Die Menschen noch keine Vorräte für den Winter angelegt hatten. Nein, er war traurig, weil dieser sonderbare Storchenmensch womöglich mit einem Friedensangebot zu ihm gekommen war, und er ihn weder verstehen, noch sich selbst verständlich machen konnte. Der Teufelskreis war nicht zu durchbrechen. Es war, als stünde eine steinerne Mauer zwischen ihnen, die nicht zu überwinden war. Der Andere hatte seine Ansprache beendet und wartete. »Es tut mir leid«, sagte Silberne Wolke. »Ich kann dich nicht verstehen. Es liegt daran, daß ich deine Sprache nicht spreche. Und du die meine wohl auch nicht.« »Dann gibst du also zu, daß es eine Sprache ist!« triumphierte Die-Alles-Weiß. »Ja«, antwortete Silberne Wolke bedrückt. »Aber was nützt uns das?« Damit waren die Verhandlungen zu Ende. Der Andere wandte sich verdrießlich ab und eilte mit schnellen Schritten dem Lager seiner Leute zu. Silberne Wolke sah ihm nach. Der lockere, raumgreifende Gang des Mannes faszinierte ihn. Dabei waren seine Arme und Beine so ungünstig geformt und so ungenügend befestigt, daß es wie ein Wunder war, wenn sie beim Gehen nicht einfach abfielen. Ebenso erstaunlich war, daß der schwächliche Hals den Kopf zu tragen vermochte. Silberne Wolke war dankbar für seinen kräftigen, gedrungenen Körper, auch wenn er in letzter Zeit sehr unter Müdigkeit und Schmerzen litt. Immerhin hatte dieser Körper ihm viele Jahre lang gute Dienste geleistet. Er war das Werk der Göttin.
Die Anderen waren zu bedauern für ihre Häßlichkeit und ihre Zerbrechlichkeit. Als der Abgesandte zum zweitenmal an Gespaltener Berg vorüberkam, drohte der ihm abermals mit dem Speer und zischte ihn herausfordernd an. Der Andere nahm keine Notiz davon. Gespaltener Berg sah ratsuchend zu Silberne Wolke hinüber, aber der Häuptling befahl ihm mit einem Kopfschütteln, sich ruhig zu verhalten. Der Andere gelangte unbehelligt ins Lager seiner Leute zurück. Das war das Ende der Geschichte. Man hatte nichts erreicht. Silberne Wolke wurde von heftigen Selbstzweifeln gepeinigt. Was immer er zur Zeit auch anfing, nichts wollte glükken. Man war der Göttin die Huldigung schuldig geblieben, ein kleiner Junge war spurlos verschwunden, das Heiligtum, zu dem sie so weit gewandert waren, blieb unerreichbar, das Wetter verschlechterte sich von Tag zu Tag, und jetzt waren auch noch die Verhandlungen gescheitert. Die-Alles-Weiß hatte vermutlich recht, auch wenn er sich das nur sehr ungern eingestand: er war zu alt für dieses Amt. Höchste Zeit, einem anderen Platz zu machen, den Todesorden sein Werk verrichten zu lassen und im ewigen Schlaf Erlösung zu finden. Feuerauge würde an seiner Stelle Häuptling werden. Mochte er sich den Kopf darüber zerbrechen, wie es weitergehen sollte. Doch schon bei dem Gedanken daran geriet Silberne Wolke in Zorn. Feuerauge? Ein Narr. Wie könnte er anders, als närrische Dinge zu tun? Es wäre eine Schande, den Stamm an Feuerauge zu übergeben. Aber an wen dann? Gespaltener Berg? Wolfsbaum? Junge Antilope? Lauter Narren. Keiner von ihnen sollte den Stamm führen.
Vielleicht würden sie eines Tages klüger werden; aber sehr zuversichtlich war Silberne Wolke nicht. Wer soll dann nach mir Häuptling werden? Laß doch die Göttin entscheiden, sagte er sich. Wenn ich erst tot bin, ist es IHR Problem und nicht mehr das meine. Er würde niemandem Platz machen. Er würde warten, bis der Tod von selbst zu ihm kam. Auch er war ein Narr, er wußte es ja – sonst wäre er erst gar nicht in diese ausweglose Situation geraten. Aber er war doch nicht ganz so töricht wie die jüngeren Männer. Warum also sollte er die Häuptlingswürde nicht noch ein Weilchen behalten? »Was willst du jetzt tun, Silberne Wolke?« fragte Die-AllesWeiß. »Nichts«, sagte er. »Was gibt es denn zu tun?« Er ging ins Lager zurück und hockte sich ans Feuer. Ein kleines Mädchen – er hatte ihren Namen vergessen – ließ sich neben ihm nieder. Er legte den Arm um sie und drückte sie an sich. Lange starrten sie in die hüpfenden Flammen. Die Kleine linderte seine Traurigkeit ein wenig. Aus diesem Kind würden irgendwann, lange, lange nach ihm, Die Menschen von morgen hervorgehen. Ein tröstlicher Gedanke: Häuptlinge starben, Krieger starben, alle mußten früher oder später sterben, aber Die Menschen würden niemals sterben, sie würden immer weiterleben. Die Welt würde niemals zu Ende gehen. Ja, man tat gut daran, das nicht zu vergessen. Bald darauf begann es zu schneien und hörte bis tief in die Nacht hinein nicht wieder auf.
Neuntes Kapitel FREUNDSCHAFTEN
40 Drei Tage später schaute Hoskins kurz im Puppenhaus vorbei. »Es ist alles geklärt«, sagte er. »Meine Frau hat keine Einwände mehr. Jerry darf herkommen und mit Timmie spielen. Und Ned Cassiday hat eine Haftungsvereinbarung aufgesetzt, die er für juristisch unanfechtbar hält.« »Haftungsvereinbarung? Wozu denn eine Haftungsvereinbarung, Dr. Hoskins?« »Nun, für den Fall, daß es zu irgendwelchen Verletzungen kommt.« »Das heißt wohl, Timmie könnte Jerry verletzen?« »Ja«, gab Hoskins zu. Da war er wieder, dieser kleinlaute Tonfall. Miß Fellowes geriet sofort in Harnisch. »Sagen Sie mir eins: halten Sie diese Möglichkeit allen Ernstes für gegeben? Sie oder Ihre Frau?« »Wenn wir wirklich derartige Befürchtungen hegten, wären wir wohl kaum bereit, Jerry mit Timmie spielen zu lassen. Sie wissen ja, daß meine Frau anfangs ihre Zweifel hatte, aber Timmie hat nicht lange gebraucht, um sie zu erobern. Trotz alledem: wenn zwei kleine Jungen zusammenkommen, die sich nicht kennen, lassen sich Rangeleien nie ganz ausschließen. Aber das wissen Sie selbst doch wohl am besten, Miß Fellowes.«
»Natürlich. Normalerweise verlangen die Eltern allerdings keine Haftungsgarantien, bevor sie ihr Kind zum Spielen schicken.« Hoskins lachte. »Sie verstehen das falsch. Die Firma besteht auf der Vereinbarung, nicht wir. Annette und ich verpflichten uns, keine juristischen Schritte gegen die Stasis GmbH zu unternehmen, falls etwas passieren sollte. – In der Vereinbarung steht, daß wir auf Schadenersatz verzichten, Miß Fellowes.« »Ach so.« Sie war beschämt. »Ich verstehe. Und wann bringen Sie Jerry denn nun her?« »Was halten Sie von morgen früh?«
41 Miß Fellowes hob sich die große Neuigkeit bis zum Frühstück auf. Am Abend vorher hatte sie nichts sagen wollen, weil sie befürchtete, Timmie könnte vor Aufregung schlecht schlafen und wäre dann nervös und gereizt, wenn Jerry kam. »Du bekommst heute einen Freund, Timmie.« »Einen Freund?« »Einen kleinen Jungen. Der mit dir spielt.« »Ein kleiner Junge wie ich?« »Ganz genau wie du.« Jedenfalls in allen wichtigen Punkten, dachte Miß Fellowes kategorisch. »Er heißt Jerry, und er ist der Sohn von Dr. Hoskins.« »Sohn?« Er sah sie fragend an.
»Dr. Hoskins ist sein Vater«, sagte sie, aber das war natürlich keine Erklärung. »Vater?« »Vater – Sohn. « Sie hob die Hand und hielt sie erst höher und dann etwas tiefer. »Der Vater ist ein großer Mann. Der Sohn ist ein kleiner Junge.« Er schien immer noch nicht zu begreifen. Ihm fehlten oft die grundlegendsten Voraussetzungen, so vieles, was alle Welt für selbstverständlich hielt, war ihm fremd. Das kam natürlich daher, daß er die ganze Zeit über in der Isolation der Stasis gelebt hatte. Aber er mußte doch wissen, was Eltern waren. Oder hatte er sogar das vergessen? Nicht zum erstenmal verwünschte Miß Fellowes Gerald Hoskins und die ganze Stasis GmbH dafür, daß sie den kleinen Jungen aus seiner eigenen Zeit, seiner eigenen Welt herausgerissen hatten. Es fehlte nicht viel, und sie hätte Bruce Mannheim und seinem Verein zugestimmt, daß es sich hier um eine besonders ausgefallene Form des Kindesmißbrauchs handle. Miß Fellowes kramte in Timmies Bilderbüchern, bis sie die Wilhelm-Tell-Geschichte fand, eine seiner Lieblingserzählungen. Wie er sich die Handlung vorstellte, konnte sie natürlich nicht ahnen, aber das Buch war sehr anschaulich illustriert, und er hatte oft und oft davorgesessen und mit den Fingerspitzen über die bunten Bilder gestrichen. Jetzt schlug sie das Buch dort auf, wo Wilhelm Teil abgebildet war, wie er mit seiner Armbrust seinem Sohn den Apfel vom Kopf schoß, und wies zuerst auf den Schützen in seiner mittelalterlichen Tracht, und dann auf dessen Sohn. »Vater… Sohn… Vater… Sohn…« Timmie nickte verständnisinnig. Was er jetzt wohl dachte? Daß Dr. Hoskins in Wirklichkeit
ein gutaussehender Mann mit langem, blondem Haar war, der seltsame Kleidung trug und einen komischen Apparat unter dem Arm hatte? Oder daß jemand kommen würde, um ihm Äpfel vom Kopf zu schießen? Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihn ausgerechnet in diesem Moment mit abstrakten Begriffen wie ›Vater‹ und ›Sohn‹ zusätzlich in Verwirrung zu stürzen. Im Grunde war doch nur eines von Bedeutung: Timmie würde bald einen Freund haben. »Er kommt, wenn wir mit dem Frühstück fertig sind«, sagte Miß Fellowes. »Er ist ein sehr netter Junge.« Hoffentlich stimmte das auch wirklich, dachte sie bei sich. »Und du wirst ihm zeigen, daß auch du ein netter Junge bist, nicht wahr?« »Netter Junge. Ja.« »Du wirst sein Freund sein. Er wird dein Freund sein.« »Freund. Netter Junge.« Seine Augen glänzten. Aber hatte er sie auch wirklich verstanden? Oder ging das alles weit über seinen Horizont? Je näher Jerry Hoskins’ Ankunft rückte, desto mehr Bedenken kamen ihr plötzlich, und sie malte sich alle möglichen Schwierigkeiten aus, an die sie bisher nicht im Traum gedacht hätte. Hör auf damit! befahl sie sich. (Seit Monaten wünschst du dir für Timmie einen Freund. Und jetzt geht dein Wunsch endlich in Erfüllung. Warum machst du dir also Sorgen? Dazu besteht nicht der geringste Anlaß!) »Miß Fellowes?« Hoskins’ Stimme aus der Gegensprechanlage. »Da sind sie«, sagte sie zu Timmie. »Jetzt kommt Jerry!« Überrascht sah sie, wie Timmie in sein Spielzimmer rannte,
die Tür anlehnte und ängstlich durch den Spalt lugte. Das war kein gutes Zeichen. »Timmie…« begann sie. Doch schon stand die ganze Familie Hoskins am Eingang zur Stasiszelle. Hoskins sagte: »Das ist mein Jerry. Sag Miß Fellowes Guten Tag, Jerry.« Ein rundes Gesicht, große Augen, blasse Wangen und langes, strubbeliges, braunes Haar. Der Junge hielt sich krampfhaft an Annette Hoskins’ Rock fest. Er sah seinem Vater sehr ähnlich: ein zweiter Gerald Hoskins – fünf Jahre alt. »Sag guten Tag«, wiederholte Hoskins mit drohendem Unterton. »Guten Tag.« Kaum zu verstehen. Jerry vergrub sich noch tiefer in den mütterlichen Rockfalten. Miß Fellowes schenkte ihm ihr herzlichstes Begrüßungslächeln. »Guten Tag, Jerry. Möchtest du nicht hereinkommen? Hier wohnt Timmie. – Und Timmie soll dein Freund werden.« Jerry starrte sie an. Er hätte wohl am liebsten kehrt gemacht und wäre auf und davon gerannt. »Nun trag ihn doch schon über die Schwelle«, drängte Hoskins seine Frau. Sie nahm den Jungen – er war groß für sein Alter und eigentlich zu schwer für sie – auf den Arm und betrat mit ihm die Stasis. Jerry begann zu zappeln, als er das unheimliche Kribbeln spürte. »Er ist nicht sehr begeistert, Gerald«, sagte Mrs. Hoskins. »Das sehe ich selbst. Er braucht etwas Zeit, um sich einzugewöhnen. Setz ihn ab.« Annette Hoskins ließ den Blick durch den Raum schweifen. Ihre Armmuskeln spannten sich. Obwohl Timmie sie bei
ihrem letzten Besuch für sich gewonnen hatte, war ihr die ganze Sache jetzt nicht mehr geheuer. Wie konnte sie ihren kleinen Augapfel nur in die Höhle dieses Affenjungen schicken…? »Setz ihn ab, Annette.« Sie nickte. Der Junge drückte sich an sie und starrte besorgt auf das Augenpaar, das ihn durch den Türspalt beobachtete. »Komm heraus, Timmie«, sagte Miß Fellowes »Das ist dein neuer Freund Jerry. Jerry möchte dich gern kennenlernen. Du brauchst keine Angst zu haben.« Langsam trat Timmie in den Raum. Jerry begann zu zappeln. Hoskins beugte sich hinab und löste seine Finger vom mütterlichen Rock. Dann flüsterte er unüberhörbar: »Tritt zurück, Annette. Gib den Kindern doch um Gottes willen eine Chance.« Nun standen sich die beiden Jungen Auge in Auge gegenüber. Jerry war sicher etliche Monate jünger als Timmie, aber trotzdem ein paar Zentimeter größer. Und neben Jerrys aufrechter Haltung und seinem hocherhobenen, wohlproportionierten Kopf fielen Timmies groteske Züge plötzlich wieder fast so deutlich ins Auge wie in den allerersten Tagen. Miß Fellowes’ Lippen begannen zu zittern. Lange starrten sich die beiden Kinder schweigend an. Der kleine Neandertaler faßte sich als erster ein Herz und sagte in kindlichem Diskant: »Ich heiße Timmie.« Und dann schob er ruckartig den Kopf nach vorne, wie um sich das Gesicht seines Gegenübers ganz aus der Nähe zu betrachten. Jerry erschrak und versetzte ihm einen heftigen Stoß. Timmie verlor das Gleichgewicht. Beide brachen in lautes
Geschrei aus. Mrs. Hoskins riß ihr Kind an sich, während Miß Fellowes wutentbrannt ihren Schützling auf den Arm nahm, um ihn zu trösten. So eine kleine Bestie! dachte sie wütend. So eine heimtückische, kleine Bestie! Dabei wußte sie genau, daß sie viel zu hart urteilte. Timmie hatte Jerry erschreckt, und Jerry hatte sich gewehrt, so wie er es gewöhnt war. Ein ganz normaler Vorgang, mit dem sie gerade zu Anfang hätte rechnen müssen, sagte sie sich jetzt. »Hm«, brummte Hoskins. »Nun ja!« »Ich wußte gleich, daß es nicht gutgehen würde«, rief Annette Hoskins. »Sie sind sich instinktiv unsympathisch.« »Das hat nichts mit Instinkt zu tun«, widersprach Miß Fellowes entschieden. »Nein«, pflichtete Hoskins ihr bei. »Das hat nichts mit Instinkt zu tun. Es ist ganz normal, wenn sich zwei Kinder nicht gleich vom ersten Augenblick an verstehen. Stell Jerry auf den Boden und laß ihm Zeit, sich an die Situation zu gewöhnen.« »Und wenn dieses Höhlenkind nun zurückschlägt?« »Das würde mich überhaupt nicht wundern«, sagte Hoskins. »Aber er wird sich schon zu verteidigen wissen, und wenn nicht, dann wird es langsam Zeit, daß er es lernt. Wir müssen ihm nur Gelegenheit geben, sich zurechtzufinden.« Annette Hoskins schien noch immer nicht überzeugt. »Ich glaube sogar«, fuhr ihr Mann fort, »es wäre das beste, wenn wir beide jetzt gingen. Miß Fellowes weiß schon, wie sie mit den beiden umgehen muß. Sie kann Jerry in etwa einer Stunde in mein Büro bringen, dann lasse ich ihn nach Hause fahren.«
42 Die Stunde wollte kein Ende nehmen. Timmie zog sich in die hinterste Ecke des Zimmers zurück und starrte Jerry so finster an, als wolle er ihn allein mit seinen Blicken aus seinem Universum verbannen. Offenbar hatte er es ganz bewußt vermieden, sich in den hinteren Raum zu flüchten, obwohl er das oft tat, wenn ihn etwas bedrückte. Vielleicht hielt er es nicht für ratsam, den Rückzug anzutreten und dem Feind einen Teil seines Herrschaftsgebietes sozusagen kampflos zu überlassen. Jerry hockte dagegen wie ein Häufchen Elend in der gegenüberliegenden Ecke und weinte nach seiner Mutter. Er sah so unglücklich aus, daß Miß Fellowes das Risiko einging, Timmie noch mehr zu verwirren, zu ihm trat und ihn zu beruhigen versuchte. Seine Mutter sei ganz in der Nähe, man habe ihn keineswegs seinem Schicksal überlassen, er würde sie schon sehr bald wiedersehen. »Will sie jetzt!« heulte Jerry. (Du fürchtest wahrscheinlich, für immer hier drinnen bleiben zu müssen, nicht wahr, mein Kind? Nur du und Timmie, für alle Zeiten eingesperrt in diesem kleinen Puppenhaus. Und die Vorstellung ist dir ein Greuel. Verständlich. Und Timmie geht es wohl genauso.) »Nach Hause!« verlangte Jerry. »Jetzt!« »Du darfst bald wieder nach Hause, Jerry«, versicherte ihm Miß Fellowes. »Es ist nur ein kurzer Besuch.« Er wollte mit den Fäusten nach ihr schlagen. »Nein.« Miß Fellowes packte ihn geschickt am Gürtel und hielt ihn auf Armeslänge von sich ab, so daß er nicht an sie herankam. »Nein, Jerry! Nein, hier wird nicht geboxt. –
Möchtest du einen Lutscher, Jerry?« »Nein! Nein! Nein!« Miß Fellowes lachte. »Das nehme ich dir nicht ab. Bleib ruhig sitzen, ich hole dir einen.« Sie schloß ihr Geheimversteck auf – Timmie hatte mehrfach bewiesen, daß er nicht imstande war, den Vorrat an Süßigkeiten in Ruhe zu lassen – und holte eine riesige, grüne Kugel heraus, die kaum in einen Kindermund zu passen schien. Jerry bekam große Augen und hörte schlagartig zu weinen auf. »Das dachte ich mir«, sagte Miß Fellowes grinsend und reichte ihm den Lutscher. Er steckte ihn ohne Schwierigkeiten in den Mund. Timmie ließ ein leises Knurren hören. »Ja, ich weiß, du möchtest auch einen. Ich habe dich nicht vergessen, Timmie.« Sie förderte einen zweiten, orangefarbenen Lutscher zutage und hielt ihn in die Höhe. Timmie stürzte sich auf sie wie ein hungriger Wolf und riß ihn ihr aus der Hand. Miß Fellowes sah ihn besorgt an. Sie hatte nicht erwartet, daß der Besuch reibungslos vonstatten gehen würde, aber dieser Rückfall in die Barbarei erschreckte sie. Barbarei? Nein, dachte sie. So hart durfte sie mit Timmie nicht ins Gericht gehen. Vor allem sollte sie nicht vergessen, daß Jerry mit den Handgreiflichkeiten angefangen hatte. Timmie war herausgekommen und hatte sich Jerry höflich vorgestellt, wie es sich für einen zivilisierten Menschen gehörte. Und Jerry hatte ihn geschubst. Wahrscheinlich hielt Timmie Knurren und Fauchen für die einzig angemessene Reaktion auf ein derartiges Verhalten. Jedes Kind hatte sich wieder in seine Ecke zurückgezogen.
Jetzt starrten sie sich über ihre Lutscher hinweg grimmig an. Diese erste Stunde würde wohl für keinen der Beteiligten ein besonderes Vergnügen werden, dachte Miß Fellowes. Aber sie kannte solche Situationen und ließ sich nicht entmutigen. Dies wäre nicht der erste Krieg zwischen zwei Kindern, der mit einem Waffenstillstand und schließlich mit einer Freundschaft endete. Man mußte nur Geduld haben. Geduld löste im Umgang mit Kindern die meisten Probleme. Mit der Zeit legten sich derartige Schwierigkeiten fast immer von selbst. »Was haltet ihr von Bauklötzen?« fragte sie. »Timmie, möchtest du vielleicht mit deinem Baukasten spielen?« Timmie warf ihr einen mürrischen Blick zu. Miß Fellowes beschloß, darin ein Zeichen des Einverständnisses zu sehen, obwohl sie sich dieser Deutung keineswegs sicher war. »Gut«, sagte sie und holte die Bausteine aus dem Spielzimmer. Es war ein hypermodernes System, elegante, maschinell geglättete Würfel, die sich zusammenstecken ließen und einen leisen Ton erzeugten, wenn man gleichfarbige Flächen miteinander in Berührung brachte. Miß Fellowes stellte den Kasten in der Mitte des Zimmers auf den Fußboden. »Du hast doch nichts dagegen, wenn Jerry auch mit deinen Bausteinen spielt, Timmie?« Timmie brummte leise vor sich hin. »Du bist also einverstanden«, lobte sie. »Ich wußte ja, daß du ein braver Junge bist! – Komm nur her, Jerry. Timmie erlaubt dir, mit seinen Bausteinen zu spielen.« Jerry trat zögernd näher. Timmie hockte bereits auf dem Boden und suchte sich seine Lieblingssteine zusammen. Jerry beobachtete ihn zaghaft aus sicherer Entfernung. Miß Fellowes trat hinter ihn und schob ihn mit sanfter Gewalt auf den
Kasten zu. »Du darfst damit spielen, Jerry. Nur zu. Es ist alles in Ordnung. Timmie hat nichts dagegen.« Er drehte sich um und sah skeptisch zu ihr auf. Dann zog er zaghaft den ersten Stein zu sich heran. Timmies Gebrummel wurde lauter, aber auf Miß Fellowes’ warnenden Blick hin blieb er, wo er war. Jerry nahm einen zweiten Stein. Einen dritten. Timmie schnappte sich zwei und brachte sie hinter seinem Rücken in Sicherheit. Jerry nahm einen vierten Stein. In kürzester Zeit war der ganze Kasten einigermaßen gerecht verteilt, und Timmie spielte mit seiner Hälfte auf der einen Seite des Zimmers, während Jerry sich mit dem Rest an die Tür zurückgezogen hatte. Jeder tat, als sei der andere nicht vorhanden. Es war, als lebten sie auf zwei verschiedenen Planeten. Sie vermieden jeglichen Kontakt, gestatteten sich nicht einmal einen verstohlenen Blick. Aber wenigstens spielten sie mit dem Inhalt ein- und desselben Baukastens, dachte Miß Fellowes. Es war ein Anfang. Sie setzte sich in eine Ecke und ließ sie in Ruhe. Von Zeit zu Zeit schaute sie auf. Vielleicht machte ja einer von beiden Anstalten, die unsichtbare Mauer zu überwinden, die sie mitten durch den Raum gezogen hatten. Aber nein: jeder lebte nach wie vor in seiner eigenen Welt. Es mußte ziemlich anstrengend sein, sich so gründlich zu ignorieren. Timmie hatte aus seinen Bauklötzen ein ungleichmäßiges, an zwei Seiten offenes Quadrat gelegt. Jerry hatte nach ein paar mißglückten Versuchen ein sehr viel komplizierteres Gebilde geschaffen, eine vollkommene Pyramide. Miß Fellowes mußte enttäuscht zugeben, daß Jerry der bes-
sere Baumeister war. Wieder ein Beispiel für die intellektuelle Überlegenheit des Homo sapiens sapiens über den Homo sapiens neanderthalensis? Möglich. Aber es gab eine andere, nicht weniger einleuchtende Erklärung: vermutlich hatte Jerry zu Hause genau den gleichen Baukasten, und sein Vater – Naturwissenschaftler, Physiker – hatte ihm beigebracht, wie man die Steine zu einer perfekten Pyramide zusammenfügte. Dagegen war der arme, vaterlose Timmie natürlich im Nachteil. Miß Fellowes wäre gar nicht auf die Idee gekommen, ihn in die Kunst des Bauens einzuweisen. Sie hatte sich schon gefreut, daß Timmie ganz allein, sozusagen instinktiv, herausgefunden hatte, wie man die Klötze zusammensteckte. Jetzt schämte sie sich, weil ihr Liebling sich als der Unterlegene zeigte, und suchte sich damit zu trösten, daß Dr. Hoskins sicher sehr viel Mühe darauf verwandt hatte, aus Jerry einen Künstler im Umgang mit den Bauklötzen zu machen. Hoffentlich war es wirklich so. »Möchtet ihr beiden ein Glas Milch?« fragte Miß Fellowes, als sich die Stunde ihrem Ende näherte. Die Milch wurde bereitwillig angenommen, konnte aber die Atmosphäre nicht entspannen. Jeder zog sich zum Trinken in seine Ecke zurück. Miß Fellowes bemerkte mit Mißfallen, daß Jerry sein Glas sehr viel geschickter handhabte als Timmie. Hör endlich auf, die beiden zu vergleichen! befahl sie sich streng. Jerry hatte schließlich einen sehr viel besseren Start. Ihn hat man nicht einfach im Alter von vier Jahren in diese moderne Welt hineingestoßen, er konnte sich langsam daran gewöhnen, wie es hier zugeht. Trotzdem konnte sie sich einer leichten Niedergeschlagenheit nicht erwehren, als sie Jerry nach dieser ersten Stunde in Hoskins’ Büro zurückbrachte.
»Nun, wie ist es gelaufen?« fragte Hoskins. »Sehr weit sind wir noch nicht gekommen«, gestand Miß Fellowes. »Aller Anfang ist schwer.« »Keine Prügeleien mehr?« »Nein.« Sie erzählte ihm vom Spiel mit dem Baukasten, ohne Jerrys Überlegenheit als Architekt zu erwähnen. »Sie haben sich toleriert. Besser kann ich es nicht beschreiben. Jeder blieb auf seiner Seite, ohne die Grenze zu überschreiten. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis sie miteinander warm werden.« »Das kann ich mir schon denken«, sagte Hoskins. Es klang vollkommen gleichgültig. Er schien es kaum erwarten zu können, daß sie ihn allein ließ. Zu seinem Sohn hatte er, wie ihr jetzt auffiel, noch kein Wort gesagt, seit der Junge das Büro betreten hatte. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich Schriftstücke, Fotokopien, Filmstreifen und Computerdisketten. »Ein neues Experiment?« fragte sie schüchtern. »So ist es. Oder besser, so etwas wie ein Durchbruch bei einem älteren Projekt. Wir tasten uns allmählich an die nähere Vergangenheit heran. Im Moment stehen wir kurz davor, den intertemporalen Zugriff auf kürzeste Distanz zu wagen.« »Intertemp…« »Die Zeitspannen werden immer weiter verringert. Schon jetzt liegen wir beträchtlich unterhalb der Zehntausendjahresmarke, und wie es aussieht, können wir beim nächsten Versuch mit einer quantitativen Verbesserung um mehrere Stufen rechnen.« Miß Fellowes hatte nichts anderes im Kopf als Timmie und Jerry, Jerry und Timmie, und so sah sie ihn nur verständnislos an.
Hoskins schien es nicht zu bemerken. »Das heißt«, fuhr er fort, »daß wir hoffen, die zeitliche Entfernung auf tausend Jahre herunterdrücken zu können – oder sogar noch weiter, Miß Fellowes! Und das ist noch nicht alles. Auch bei der Masse gibt es Fortschritte. Die Vierzig-Kilogramm-Grenze gehört schon fast der Vergangenheit an. Inzwischen hat es den Anschein, als lägen achtzig, ja sogar hundert Kilo durchaus im Bereich des Möglichen.« »Das freut mich für Sie, Dr. Hoskins.« Ihrer Stimme fehlte jede Wärme, aber das störte ihn nicht. »Vielen Dank, Miß Fellowes.« Er sah seinen Sohn zum erstenmal bewußt an und zog ihn dann mit einer lässigen Bewegung an sich. »Jerry wird in ein paar Tagen wiederkommen. Vielleicht klappt es beim nächsten Mal ja etwas besser zwischen den beiden. Nicht wahr, Miß Fellowes?« »Ja, sicher.« Sie zögerte. »Noch etwas?« fragte Hoskins. Ja, es gab noch etwas. Sie hätte ihm gern gesagt, wie hoch sie es ihm anrechnete, daß er Jerry diesen Besuch bei Timmie überhaupt erlaubt hatte. Auch wenn nicht alles nach Wunsch verlaufen war. Sie wußte ja, daß die anfänglichen Spannungen sich legen, daß Ängste und Unsicherheiten im Lauf der Zeit verschwinden und die beiden Jungen irgendwann Freunde werden würden. Immerhin war Timmie – wenn auch nur mit mäßiger Begeisterung – bereit gewesen, seine Bausteine mit Jerry zu teilen. Und der Kleine brauchte nichts nötiger als einen Freund. Früher oder später würde diese Freundschaft schon ihre Früchte tragen: Timmie würde sich öffnen, würde lernen, auf Gleichaltrige zuzugehen, würde all die Eigenschaften entfalten, die in ihm angelegt waren. Ja, Timmie
würde endlich zu seinem wahren Ich finden. Solange er allein lebte, war das nicht möglich, auch wenn sie selbst ihn noch so liebevoll umsorgte. Miß Fellowes war so gerührt, daß ihr fast die Tränen kamen. Aber sie brachte es nicht über sich, ihre Gefühle in Worte zu fassen, so verzweifelt sie sich auch bemühte. Seine steife Förmlichkeit, seine Zerstreutheit, der deutlich spürbare Wunsch, zu den Fotokopien und Computerdisketten für sein neues Experiment zurückzukehren, wirkten wie eine kalte Dusche. Ob er sich wohl noch an ihr gemeinsames Mittagessen erinnerte? Damals hatte sie ihn als Timmies geistigen Vater bezeichnet und ihm vorgehalten, es sei grausam, Timmie einen Gefährten zu verweigern, er sei es dem Jungen schuldig. Und jetzt hatte er ihm seinen eigenen, leiblichen Sohn gebracht. Vielleicht, um damit zweierlei zu erreichen: einerseits an Timmie zu handeln wie ein guter Vater, und andererseits deutlich zu machen, daß er nicht sein Vater war. Womöglich trug er ihr die Vorwürfe von damals insgeheim immer noch nach. So sagte sie nur: »Es war sehr schön von Ihnen, daß Sie Ihrem Sohn erlaubt haben, zu uns zu kommen. Ich möchte Ihnen dafür danken, Dr. Hoskins.« Und er sagte nur: »Schon gut, Miß Fellowes. Keine Ursache.«
43 Mit der Zeit spielte sich alles ein. Jerry wurde drei Tage später zum zweitenmal, und vier Tage darauf wieder zu Timmie gebracht. Der zweite Besuch dauerte so lang wie der erste, der dritte wurde auf zwei Stunden ausgedehnt, und dabei blieb es auch in Zukunft. Zu einer Szene mit Anstarren und Schubsen wie beim ersten Mal kam es nicht mehr. Als Jerry – diesmal ohne seine Eltern – zum zweitenmal die Stasisgrenze überschritt, beäugten sich die beiden Jungen zunächst etwas mißtrauisch, doch als Miß Fellowes rasch sagte: »Dein Freund Jerry ist wieder da, Timmie«, nahm Timmie dies ohne Feindseligkeit zur Kenntnis. Jerry war im Begriff, zu einem Teil seines Alltags zu werden wie die Besuche der Anthropologen oder die Tests, denen ihn Dr. Jacobs nach wie vor unterzog. »Sag guten Tag, Timmie.« »Guten Tag.« »Jerry?« »Guten Tag, Timmie.« »Warum sagst du nicht ›Guten Tag, Jerry‹, Timmie?« Eine Pause. »Guten Tag, Jerry.« »Tag, Timmie.« »Tag, Jerry.« »Tag, Timmie.« »Tag, Jerry…« Sie wollten gar nicht wieder aufhören. Es war ein Spiel geworden. Beide lachten. Miß Fellowes atmete erleichtert auf. Kinder, die miteinander herumalberten, würden sich nicht sofort mit den Fäusten bedrohen, sobald sie ihnen den Rücken
zukehrte. Kinder, die sich zum Lachen brachten, würden sich nicht hassen. »Tag, Timmie.« »Tag, Jerry.« »Tag…« Noch etwas zeigte sich bei dieser Begrüßung. Jerry schien Timmie ohne weiteres zu verstehen. ›Tag, Jerry‹, war zwar keine allzu anspruchsvolle Sequenz, aber von den erwachsenen Besuchern des Puppenhauses hatten viele kein Wort von dem mitbekommen, was Timmie sagte. Jerry dagegen hatte in bezug auf Aussprache keine so festgefügten Vorstellungen, und so bereitete ihm Timmies schwerfälliges Lallen offenbar keine Schwierigkeiten. »Möchtet ihr wieder mit den Bauklötzen spielen?« fragte Miß Fellowes. Begeistertes Nicken. Sie holte den Kasten aus dem anderen Zimmer und stellte ihn auf den Boden. Wieder teilten die beiden Jungen die Steine rasch in zwei annähernd gleiche Haufen, und jeder machte sich ans Werk. Aber diesmal zogen sie sich nicht in entgegengesetzte Ecken zurück, sondern arbeiteten Seite an Seite, schweigend zwar, und ohne weiter darauf zu achten, was der jeweils andere tat, aber ohne sich durch ihn gestört zu fühlen. Gut. Sehr gut. Weniger gut war freilich, daß die Aufteilung nicht ganz so gerecht vonstatten gegangen war, wie Miß Fellowes auf den ersten Blick gedacht hatte. Jerry hatte sehr viel mehr als die Hälfte – schon eher zwei Drittel – der Steine an sich gebracht und fügte sie geschwind wieder zu einer Pyramide zusammen. Diesmal fiel ihm das noch sehr viel leichter, weil er mehr Baumaterial zur Verfügung hatte.
Timmie arbeitete dagegen an einem x-förmigen Muster, hatte aber nicht genügend Steine, um seinen Plan so zu verwirklichen, wie er sich das vorstellte. Miß Fellowes sah, wie er Jerrys Häufchen nachdenklich musterte, und machte sich schon bereit, die Schlichterin zu spielen, falls es etwa zum Streit käme. Aber Timmie griff nicht einfach hinüber, um sich die nötigen Klötzchen von Jerry zu holen, sondern begnügte sich damit, sie unverwandt anzustarren. Lobenswerte Selbstbeherrschung? Die Höflichkeit eines wohlerzogenen Kindes gegenüber seinem Gast? Oder steckte hinter Timmies Zögern etwas anderes, das Anlaß zur Besorgnis gab? Timmie war nämlich kein besonders wohlerzogenes Kind, darüber gab sich Miß Fellowes keinen Illusionen hin. Sie hatte sich große Mühe gegeben, einen höflichen und zuvorkommenden Jungen aus ihm zu machen, aber ein Muster an Artigkeit war er nun wahrhaftig nicht. Schließlich entstammte er ursprünglich einer primitiven Gesellschaft, in der Manieren oder was man heute darunter verstand, wahrscheinlich unbekannt gewesen waren. Dann hatte man ihn von seinem Stamm weggeholt und in die Isolation der Stasiszelle gesteckt, wo er keine Gelegenheit hatte, die Form von Sozialverhalten zu entwickeln, die man bei anderen Kindern seines Alters voraussetzen konnte. Und andere Kinder seines Alters waren normalerweise auch nicht unbedingt höflich. Wenn Timmie es also vermied, Jerry so viele Bauklötze – immerhin seine Bauklötze – wegzunehmen, wie er brauchte, dann wahrscheinlich nicht, weil er ein so netter, kleiner Junge war, sondern weil Jerry ihn einschüchterte. Weil er Angst hatte, die Hand auszustrecken und sich einfach zu bedienen, wie es jedes andere Kind getan hätte.
Hatte er sich von diesem einen Schubs beim ersten Besuch so sehr entmutigen lassen? Oder war es etwas anderes – ein tiefsitzender, dunkler Instinkt aus der längst vergessenen Frühzeit der Menschheitsgeschichte?
44 Eines Abends – Timmie war schon schlafen gegangen – klingelte das Telefon, und die Dame von der Vermittlung sagte: »Miß Fellowes, hier ist ein Anruf für Sie von Bruce Mannheim.« Miß Fellowes zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Ein Anruf von Mannheim für sie? Sie wurde hier niemals angerufen, von niemandem. Schließlich hatte sie aus freien Stücken so gut wie alle Beziehungen zur Außenwelt abgebrochen, um nicht von den Medien, von sonderbaren Käuzen aller Art, von Spinnern und Fanatikern und von Leuten wie – Bruce Mannheim belästigt zu werden. Und jetzt war ausgerechnet er am Telefon. Unmöglich, daß es ihm gelungen sein sollte, hinter Hoskins’ Rücken zu ihr durchzukommen. Wahrscheinlich hatte er vorher die Einwilligung des Generaldirektors eingeholt. »Ja, Mr. Mannheim. Wie geht es Ihnen?« »Gut, Miß Fellowes, vielen Dank. – Wie ich von Dr. Hoskins erfahre, hat Timmie nun endlich seinen Spielgefährten bekommen.«
»Das ist richtig. Es ist Dr. Hoskins’ eigener Sohn.« »Ja, ich weiß. Wir finden das alle ganz großartig von Dr. Hoskins. – Und wie läßt sich die Sache denn nun so an? « Miß Fellowes zögerte. »Eigentlich nicht schlecht.« »Die beiden Jungen verstehen sich so einigermaßen?« »Natürlich. Anfangs gab es die üblichen Spannungen – die aber, wie ich betonen möchte, weniger auf Timmie zurückgingen als auf Jerry; Timmie war gleich sehr angetan von Jerry, obwohl er noch nie ein gleichaltriges Kind aus unserer Zeit gesehen hatte.« »Und Jerry hat auf die Begegnung mit einem Neandertaler nicht so günstig reagiert?« »Ich weiß nicht, ob es daran lag, daß Timmie Neandertaler ist, Mr. Mannheim. Er war einfach nervös, das ist alles. Er hat sich wie ein normales Kind verhalten, würde ich sagen. Mit anthropologischen Vorurteilen hatte das sicher nichts zu tun. Irgendwann ging es eben hart auf hart – das hätte überall passieren können. Aber das ist vorbei. Jetzt spielen sie ganz friedlich miteinander.« »Freut mich zu hören«, sagte Mannheim. »Und Timmie wächst und gedeiht?« »Er entwickelt sich prächtig.« Eine Pause trat ein. Hoffentlich würde ihr der Anwalt der Kinder nicht als nächstes mitteilen, er habe Hoskins die Erlaubnis zu einem zweiten Besuch im Puppenhaus abgerungen, um sich von Timmies neuer Freundschaft zu überzeugen. Timmie bekam wahrhaftig genügend Besuch, und Miß Fellowes wollte möglichst keinen Außenstehenden wie diesen Mannheim dabei haben, wenn Timmie und Jerry zusammen spielten. Das Verhältnis der beiden entwickelte sich zwar im Moment tatsächlich so friedlich, wie sie es Mannheim geschil-
dert hatte, aber es war noch nicht gefestigt, so daß sich gerade in Anwesenheit von Fremden latent vorhandene Spannungen nur allzu leicht entladen konnten. Es hatte jedoch nicht den Anschein, als plane Mannheim einen Besuch. »Ich wollte Ihnen noch sagen, Miß Fellowes«, erklärte er endlich, »wie froh wir alle darüber sind, daß Timmie von einer so fähigen und erfahrenen Pflegerin betreut wird.« »Sehr freundlich von Ihnen.« »Der Junge hat ein traumatisches Erlebnis hinter sich, von dem er sich – bisher – großartig erholt hat. Und das ist in erster Linie Ihr Verdienst.« (Was meinte er mit bisher?) »Natürlich wäre es uns sehr viel lieber gewesen, wenn Timmie unbehelligt geblieben wäre und unter seinesgleichen ein normales Leben hätte führen können«, fuhr Mannheim fort. »Aber wie die Dinge nun einmal liegen, ist es gut zu wissen, daß eine aufopfernde, treusorgende Frau wie Sie seine Betreuung übernommen hat. Sie haben ihn seit seiner Ankunft in unserer Zeit nicht nur vorzüglich versorgt, Sie haben, ich kann es nicht anders ausdrücken, ein wahres Wunder an ihm vollbracht.« »Sehr freundlich von Ihnen«, wiederholte Miß Fellowes noch lahmer als zuvor. Sie hatte von Lobeshymnen noch nie sehr viel gehalten, und Mannheim trug jetzt ziemlich dick auf. »Dr. Levien ist übrigens ganz meiner Meinung.« »Ach«, entfuhr es Miß Fellowes. »Soso.« Und dann, sehr steif und förmlich: »Freut mich aufrichtig, das zu hören.« »Ich würde Ihnen gern meine Telefonnummer geben«, fuhr Mannheim fort. (Wozu das?)
»Ich kann Sie doch jederzeit über Dr. Hoskins erreichen«, wehrte Miß Fellowes ab. »Natürlich. Aber vielleicht kommen Sie doch einmal in eine Situation, in der Sie direkt mit mir Kontakt aufnehmen möchten.« (Warum? Wieso? Was soll das heißen?) »Nun ja, wenn Sie meinen…« »Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, Miß Fellowes, daß uns dieser Fall zu Bundesgenossen macht. Ihnen wie mir liegt vor allem Timmies Wohl am Herzen. Wir mögen über verschiedene Methoden der Kinderbetreuung, über politische Fragen oder sonstige Dinge denken, wie wir wollen, Timmie ist etwas, das uns verbindet. Er ist uns beiden sehr wichtig. Und deshalb, wenn Sie mit mir über Timmie sprechen wollen, wenn sich zum Beispiel bei der Stasis GmbH irgendwelche Veränderungen ergeben sollten, die sich auf Timmies Existenz ungünstig auswirken könnten…« (Ach so, du möchtest also, daß ich für dich spioniere.) »Ich bin sicher, daß wir von nun an nicht mehr mit größeren Problemen zu rechnen haben, Mr. Mannheim.« »Selbstverständlich nicht. Trotzdem…« Er gab ihr die Nummer, und Miß Fellowes schrieb sie auf, ohne zu wissen warum. Nur für alle Fälle, sagte sie sich. Für welche Fälle?
45 »Kommt Jerry heute wieder, Miß Fellowes?« fragte Timmie. »Nein, erst morgen.« Der Junge war sichtlich enttäuscht. Sein rundes Gesichtchen verzog sich kläglich, und auf der vorgewölbten Stirn erschienen tiefe Falten. »Warum nicht heute?« »Heute ist nicht Jerrys Tag, Timmie. Jerry hat heute – etwas anderes vor.« »Was?« »Etwas anderes.« Sie vermied es bewußt, die Frage zu beantworten. Wie sollte sie Timmie erklären, was ein Kindergarten war? Wie würde er es aufnehmen, wenn er erfuhr, daß dort andere Kinder – viele andere Kinder – zusammenkamen, um miteinander zu spielen, sich lachend auf einem Hof herumzujagen oder mit herrlich klebrigen Fingerfarben Papier zu beschmieren? »Morgen kommt Jerry wieder zu dir.« »Es wäre viel schöner, wenn er jeden Tag kommen könnte.« »Das finde ich auch«, sagte Miß Fellowes. (Aber stimmte das wirklich?)
46 Sie hatte nichts dagegen, daß Timmie einen Freund hatte, nur leider wurde dieser Freund mit der Zeit allzu selbstbewußt, ja sogar aggressiv. Jerry hatte seine anfängliche Schüchternheit
vollkommen überwunden und erwies sich nun als ausgesprochen dominierend. Er war von Anfang an größer gewesen als Timmie, nun schien er auch noch schneller zu wachsen. Der Unterschied betrug inzwischen knapp vier Zentimeter. Jerry war auch schwerer als Timmie. Und flinker und stärker und – dieses Eingeständnis fiel Miß Fellowes am schwersten – wahrscheinlich auch intelligenter. Jerry fand sich mit neuen Spielsachen sehr viel schneller zurecht und hatte auch die besseren Ideen, was man damit anfangen konnte. Und wenn sie den beiden Wasserfarben, Farbstifte oder Modelliermasse gab, malte Jerry sofort ein Bild oder formte eine Figur, während Timmie lediglich herumschmierte. Allmählich hatte sie den Verdacht, daß Timmie überhaupt keine künstlerischen Fähigkeiten hatte. Er zeigte nicht einmal die minimalen Ansätze, die man von jedem halbwegs intelligenten Kind seines Alters erwarten konnte. Natürlich, verteidigte sie ihn, geht Jerry jeden Tag in den Kindergarten. Dort hat man ihm längst beigebracht, mit Stiften, Farben und Modelliermasse umzugehen. Aber auch Timmie hatten diese Dinge schon lange vor Jerrys erstem Besuch zur Verfügung gestanden. Er war nur nicht damit zurechtgekommen, aber das hatte Miß Fellowes damals nicht weiter gestört; sie hatte Timmie nicht mit anderen Kindern verglichen und ihn immer damit entschuldigt, daß er in den ersten Lebensjahren jegliche Förderung hatte entbehren müssen. Nun fiel ihr wieder ein, was sie in Dr. McIntyres Büchern gelesen hatte. Man hatte nirgendwo Neandertalerkunst gefunden. Keine Höhlenmalereien, keine Statuetten, keine in den Fels geritzten Muster. (Wenn sie nun tatsächlich die unterlegene Rasse gewesen wären?
Und wenn sie deshalb ausgestorben wären, als wir kamen?) Miß Fellowes wollte nicht weiter darüber nachdenken. Und Jerry kam zweimal die Woche ins Puppenhaus stolziert, als gehöre es ihm. ›Heute spielen wir mit den Bauklötzen‹, sagte er zu Timmie. Oder: ›Wir malen‹ oder ›Wir sehen uns das Kaleidoskop an‹. Und Timmie war einverstanden, brachte niemals einen eigenen Vorschlag vor, tat stets widerspruchslos, was Jerry sagte. Jerry hatte ihn vollkommen in die Rolle des Mitläufers gedrängt. Das einzige, was Miß Fellowes mit dieser Entwicklung versöhnte, war die Tatsache, daß sich Timmie trotz allem immer mehr auf die gemeinsamen Spielstunden freute. Jerry ist eben alles, was er hat, sagte sie sich traurig . Und einmal dachte sie, als sie die beiden beobachtete: Hoskins hat eigentlich zwei Kinder, eins von seiner Frau, und eins von der Stasis. Während sie selbst… Sie schämte sich sofort. Mein Gott, dachte sie und preßte beide Hände an die Schläfen: Ich bin ja eifersüchtig!
Zehntes Kapitel FERNWEH
47 »Miß Fellowes«, fragte Timmie. »Wann komme ich in die Schule?« Die Frage kam völlig unerwartet und traf sie wie ein Blitzschlag. Sie schaute in die braunen Augen, die so sehnsüchtig zu ihr aufblickten, fuhr mit der Hand sanft durch das dichte, grobe Haar und suchte es dabei ganz automatisch zu entwirren und zu glätten. Timmies Haar wirkte immer ungepflegt: Miß Fellowes schnitt es ihm selbst, obwohl er unter der Schere keinen Augenblick stillhielt. Aber sie wollte keinen Friseur kommen lassen, und außerdem kaschierte der stümperhafte Schnitt seine flache Stirn und den ausladenden Hinterkopf. »Wo hast du denn von der Schule gehört, Timmie?« fragte Miß Fellowes vorsichtig. »Jerry kommt bald in die Schule.« (Natürlich. Wer anders als Jerry hätte ihm davon erzählen sollen?) »Jetzt geht Jerry in den Kin-der-gar-ten.« Timmie sprach das lange Wort langsam und ungewöhnlich sorgfältig aus. »Und er geht nicht nur da hin. Er geht auch mit seiner Mutter ins Kaufhaus. Er geht ins Kino. In den Zoo. Er darf dort draußen überall hin. – Wann darf ich endlich hinaus, Miß Fellowes?«
Die Frage traf Miß Fellowes mitten ins Herz. Man hatte damit rechnen müssen, daß Jerry irgendwann mit Timmie über die Außenwelt sprach. Die beiden kleinen Jungen plauderten ganz zwanglos miteinander, Verständigungsschwierigkeiten kannten sie nicht. Und Jerry, der Abgesandte jener geheimnisvollen, verbotenen Welt jenseits des Eingangs zur Stasis wollte Timmie natürlich alles darüber erzählen. Wer wollte ihm das verdenken? Leider war es eine Welt, die Timmie niemals würde betreten können. Miß Fellowes’ Lachen klang nicht ganz echt, aber sie gab sich alle Mühe, der Frage ihr Gewicht zu nehmen: »Was willst du denn da draußen, Timmie? Du wüßtest doch gar nicht, was du anfangen solltest. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie kalt es im Winter wird?« »Kalt?« Ein verständnisloser Blick. Das Wort war ihm unbekannt. (Warum sollte sich ein Junge, der über die Schneefelder des eiszeitlichen Europa gewandert war, auch ausgerechnet von der Kälte abschrecken lassen?) »Kalt ist das, was du im Kühlschrank spürst. Wenn du erst draußen bist, dauert es bloß ein bis zwei Minuten, dann tun dir die Nase und die Ohren weh. Aber nur im Winter. Im Sommer wird es draußen sehr heiß. So heiß wie im Backofen. Dann schwitzen alle und jammern über die Hitze. Außerdem gibt es auch noch Regen. Dann fällt Wasser vom Himmel herab, deine Kleider werden naß und du fühlst dich feucht und ungemütlich.« Was für eine zynische Strategie! Sie verging fast vor Scham. Einen Jungen, der diese kleinen Räume nie verlassen konnte, damit abzuspeisen, daß es in der Welt da draußen ein paar
kleinere Unannehmlichkeiten gab, das war nicht anders, als einem blinden Kind einzureden, Farben und Formen seien langweilig und störten nur die Konzentration, im Grunde gebe es ohnehin nichts Lohnendes zu sehen. Timmie hatte ihren kläglichen Schwindeleien ohnehin nicht zugehört. »Jerry sagt, im Kin-der-gar-ten machen sie alle möglichen Spiele, die wir hier nicht haben. Dort gibt es auch Bildbänder und Musik. Und da sind ganz viele Kinder. Er sagt… er sagt…« Er überlegte kurz, hob dann triumphierend beide Händchen in die Höhe und spreizte die Finger. »Er sagt, so viele.« »Du hast doch auch Bildbänder«, erinnerte ihn Miß Fellowes. »Aber nur ein paar. Jerry sagt, er sieht in einem Tag mehr Bänder, als ich die ganze Zeit.« »Ich kann dir neue Bänder besorgen. Sehr schöne sogar. Und auch Musik.« »Wirklich?« »Ich hole sie gleich heute nachmittag.« »Kann ich die Vierzig Räuber kriegen?« »Ist das eine Geschichte, die Jerry im Kindergarten gehört hat?« »Da sind viele Räuber in einer Höhle und viele Krüge…« Er hielt inne. »Große Krüge. Was sind eigentlich Räuber?« »Räuber sind – Menschen, die anderen Menschen ihre Sachen wegnehmen.« »Ach so.« »Das Band von den Vierzig Räubern kann ich dir besorgen«, versprach Miß Fellowes. »Die Geschichte ist sehr berühmt. Und es gibt noch andere in dieser Art, zum Beispiel die Ge-
schichte von Sindbad dem Seefahrer, der durch die ganze Welt gereist ist und – alles gesehen hat.« Für einen Moment hatte ihr die Stimme versagt, aber Timmie war der deprimierende Kontrast nicht aufgefallen. »Und Gullivers Reisen, das bekommst du auch. Gulliver reiste in ein Land mit winzigen Menschen und danach in ein Land voller Riesen, und dann…« Wieder wurde Miß Fellowes unsicher. Handelten denn alle guten Geschichten von Reisenden, die viel erlebten und doch nie genug bekamen? Aber vielleicht war es nicht schlecht, Timmie mit solchen Berichten von der weiten Welt seine Gefangenschaft vergessen zu machen. Er wäre nicht der erste Eingeschlossene, bei dem das gelungen wäre. »Dann gibt es noch die Sage von Odysseus, der hat einen Krieg geführt, und hinterher dauerte es zehn Jahre, bis er wieder nach Hause zu seiner Familie zurückfand.« Das Mitleid mit dem Jungen zerriß ihr fast das Herz. Timmie war ebenso ein Fremder in einer fremden Welt wie Gulliver, wie Sindbad, wie Odysseus, und das konnte sie nie vergessen. Gab es denn in der Literatur kein anderes Thema als Reisende, die in die Fremde verschlagen wurden und nun versuchten, ihre Heimat wiederzufinden? Timmies Augen leuchteten. »Kannst du mir die Bänder jetzt gleich besorgen? Ja?« Er war zunächst einmal getröstet.
48 Sie bestellte alle Bildbänder mit Märchen und Sagen, die im Katalog standen. Als sie kamen, war der Stapel im Spielzimmer größer als Timmie selbst. Wenn Jerry ihn nicht besuchte, beschäftigte er sich von nun an stundenlang damit. Wieviel er tatsächlich verstand, war schwer zu sagen. Sicher gab es mehr als genügend Begriffe, Bilder und Schauplätze, mit denen er so gut wie nichts anzufangen wußte. Aber wie sah das wohl bei anderen Fünf- bis Sechsjährigen aus? Bisher hatte noch kein Erwachsener in das Bewußtsein eines Kindes eindringen und sich darüber Gewißheit verschaffen können. Auch Miß Fellowes hatte solche Geschichten als kleines Mädchen geliebt, ohne sie bis ins letzte zu begreifen, und so erging es allen Kindern seit Jahrhunderten, wenn nicht seit Jahrtausenden. Doch was ihnen an Detailverständnis abging, das ergänzten sie mit ihrer Fantasie. Und das würde hoffentlich auch Timmie tun. Nachdem sie ihre anfänglichen Vorbehalte in bezug auf Gulliver, Sindbad und Odysseus überwunden hatte, unternahm sie keinen Versuch mehr, aus seiner wachsenden Sammlung irgendwelche Bänder zu entfernen, die ihn zum Nachdenken über seine eigene, mißliche Lage anregen könnten. Sie wußte ja, daß Kinder nicht so leicht zu beunruhigen waren, wie die Erwachsenen fürchteten. Selbst gelegentliche Alpträume richteten keinen bleibenden Schaden an. Kein Kind war jemals vor Angst gestorben, weil es das Märchen von Goldlöckchen und den drei Bären gehört hatte, obwohl es, wenn man es wörtlich nahm, eine richtige Schauergeschichte war. Doch die geifernden Wölfe, die schwerfälligen Butzemänner
und die gräßlichen Trolle der alten Sagen hinterließen keine Narben. Kinder gruselten sich mit Begeisterung. Hatte sich der legendäre Butzemann – mit seiner fliehenden Stirn, dem zottigen Fell, dem finsteren Blick – im Rassengedächtnis etwa noch aus der Zeit erhalten, als die Neandertaler Europa durchstreiften? Miß Fellowes hatte in einem von Dr. McIntyres Büchern einen Hinweis auf diese Theorie gefunden. Ob die Vorstellung, einer Gattung anzugehören, die im Volksgut als furchteinflößend und verabscheuungswürdig galt, Timmie wohl belasten könnte? Nein, dachte sie, er käme gar nicht auf die Idee. So etwas konnte nur einem überspannten Erwachsenengehirn entsprungen sein. Timmie wäre von den Butzemännern sicher ebenso fasziniert wie jedes Kind, er würde es genießen, sich unter der Bettdecke zu verkriechen und sich im Dunkeln vor geheimnisvollen Spukgestalten zu fürchten – aber es war so gut wie ausgeschlossen, daß er aus diesen Schauermärchen finstere Schlüsse auf seine eigene genetische Zugehörigkeit zog. So bestellte sie immer neue Bänder, und der Junge sah sich eins nach dem anderen an. Der Damm war gebrochen; der ganze Strom der menschlichen Fantasie ergoß sich in seine Seele. Theseus und der Minotaurus, Perseus und die Medusa, König Midas, unter dessen Händen sich alles in Gold verwandelte; der Rattenfänger von Hameln; die Arbeiten des Herkules, Bellerophon und die Chimäre, Alice hinter den Spiegeln, Jack und der Bohnenstengel; Aladin und die Wunderlampe; die Geschichte vom Fischer und dem Geist; Gulliver im Lande Lilliput und bei den Houyhnhnms; die Abenteuer Odins und Thors; der Kampf zwischen Osiris und Seth; die Irrfahrten des Odysseus; die Reise des Kapitän Nemo – es war kein Ende abzusehen. Timmie verschlang sie alle. Ob er die Geschichten
wohl auseinanderhalten konnte? Oder herrschte in seinem Kopf ein heilloses Durcheinander? Konnte er sich eine Stunde später noch erinnern, was er gesehen hatte? Miß Fellowes wußte es nicht und bemühte sich auch nicht, es herauszufinden. Im Moment war sie froh darüber, daß er in diesen gewaltigen Geschichtenstrom eintauchte – daß sein Geist sich damit vollsaugte – daß er sich in die magische Welt der Mythen flüchtete, nachdem ihm die wirkliche Welt mit ihren Häusern und Flugzeugen, ihren Autobahnen und Menschen für immer versagt bleiben mußte. Wenn er der Bänder überdrüssig war, las sie ihm aus normalen Büchern vor. Die Geschichten waren die gleichen; aber jetzt hörte er sie in Worten und mußte sich die Bilder selbst dazuerschaffen. Das blieb natürlich nicht ohne Wirkung. Mehr als einmal bekam sie mit, wie er Jerry ein wüstes Konglomerat aus verschiedenen Bildbandgeschichten vorsetzte: Dann reiste Sindbad in einem U-Boot oder Herkules wurde von den Lilliputanern gefesselt. Jerry verzog keine Miene. Er hörte die Geschichten ebenso gern, wie Timmie sie ihm auftischte. Miß Fellowes sorgte dafür, daß alles aufgezeichnet wurde, was der Junge sagte. Es war ein wichtiger Beweis für seine Intelligenz. Wer sich die Neandertaler als zottige, viehische Halbmenschen vorstellte, der sollte sich anhören, wie Timmie die Sage von Theseus und dem Labyrinth nacherzählte! Auch wenn er offenbar den Minotaurus für den Helden der Geschichte hielt.
49 Die Träume blieben dennoch ein Problem. Und seit die Welt außerhalb der Stasis für ihn zur Realität wurde, häuften sie sich geradezu. Soweit Miß Fellowes es beurteilen konnte, war es immer der gleiche Traum – jedenfalls handelte er immer von der Außenwelt. Timmie fiel es schwer, ihn wiederzugeben. Er stand zwar nach wie vor inmitten der endlosen Weite, von der er ihr so oft erzählt hatte. Aber seit neuestem war die Weite nicht mehr leer. Jetzt war sie mit Kindern bevölkert und mit seltsamen Gebilden, die er nicht zu beschreiben vermochte, vermutlich halb verstandene und halb verdaute Fragmente aus Büchern, oder aber verschwommene Erinnerungen an die ferne Zeit der Neandertaler. Doch die Kinder schenkten ihm keine Beachtung, und die Gebilde entzogen sich ihm, wenn er sie berühren wollte. Er war draußen in der Welt, aber er gehörte nicht dazu. Wenn er durch die leeren Weiten seiner Träume wandelte, war er genauso einsam wie in seinem eigenen Zimmer. Und er wachte meistens weinend auf. Wenn er dann nach Miß Fellowes rief, war sie nicht immer da. Sie übernachtete jetzt drei- bis viermal pro Woche in dem Apartment auf dem Firmengelände, das Hoskins ihr schon vor langer Zeit angeboten hatte. Sie hielt es für ratsam, Timmie langsam daran zu gewöhnen, daß sie nicht ständig um ihn sein konnte. In den ersten Nächten quälte sie sich so sehr mit Schuldgefühlen herum, daß sie kaum ein Auge zutat; aber Timmie verlor am nächsten Morgen kein Wort über ihre Abwesenheit. Vielleicht rechnete er damit, früher oder später
alleingelassen zu werden. Nach einer Weile hatte sie kein schlechtes Gewissen mehr, wenn sie außerhalb des Puppenhauses übernachtete. Timmie war offenbar nicht der einzige, der an Selbständigkeit gewöhnt werden mußte. Jeden Morgen machte sie sich ausführliche Notizen über seine Träume – eine reine Materialsammlung, redete sie sich ein. Schließlich war die psychologische Erforschung von Timmies Denken eines der Hauptziele des Experiments. Aber es gab immer wieder Nächte, in denen sie allein in ihrem Zimmer lag und weinte.
50 Eines Tages las Miß Fellowes wieder einmal vor – es waren die Märchen aus Tausendundeiner Nacht, Timmie liebte sie ganz besonders – als ihr der Junge sanft unter das Kinn faßte. Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Jedesmal, wenn du mir die Geschichte vorliest«, sagte er, »klingt sie genau gleich. Woher weißt du immer, wie du sie erzählen mußt, Miß Fellowes?« »Ich lese sie von dieser Seite ab!« »Das weiß ich ja. Aber was heißt eigentlich lesen?« »Äh… hm…« Die Frage war so elementar, daß sie zunächst nicht wußte, wie sie sie anpacken sollte. Normalerweise hatte ein Kind, bevor es lesen lernte, schon irgendwie erraten, wie das Ganze vor sich ging. Das Einüben der dazu erforderlichen Symbole und ihrer Bedeutung war dann der nächste Schritt.
Doch Timmie war wohl in einem tieferen Sinne unwissend als ein normaler Vier- bis Fünfjähriger, der soeben entdeckte, daß es eine Tätigkeit gab, die man Lesen nannte, und die er eines Tages vielleicht sogar selbst beherrschen würde. Ihm war eine solche Vorstellung vollkommen fremd. »Du weißt doch«, begann sie, »daß in deinen Bilderbüchern – nicht auf den Bändern, in den Büchern – unter allen Bildern kleine, schwarze Zeichen stehen?« »Ja«, sagte er. »Die Wörter.« »Das Buch, aus dem ich dir jetzt vorlese, besteht nur aus Wörtern. Es hat keine Bilder. Diese Zeichen stellen die Wörter dar. Wenn ich sie mir ansehe, höre ich im Geist die Wörter. Und das heißt lesen – die Zeichen auf der Seite in Wörter umwandeln.« »Laß mich mal sehen.« Sie reichte ihm das Buch. Er hielt es erst seitlich, dann stellte er es auf den Kopf. Lachend gab es ihm Miß Fellowes richtig in die Hand. »Die Zeichen ergeben nur einen Sinn, wenn du sie dir so ansiehst«, sagte sie. Er nickte, beugte sich so tief über die Seite, daß er unmöglich etwas erkennen konnte, und starrte die Buchstaben lange an. Dann entfernte er sich so weit, bis der Text lesbar wurde, und drehte das Buch probeweise wieder auf die Seite. Diesmal sagte Miß Fellowes nichts dazu, und er legte es wieder so hin, wie es sich gehörte. »Manche Zeichen sehen gleich aus«, stellte er nach langem Schweigen fest. »Genau«, sagte sie lachend, beglückt über seinen Scharfblick. »Du hast ganz recht, Timmie.« »Aber woher weiß du, welches Zeichen welches Wort
bedeutet?« »Das muß man lernen.« »Aber es gibt doch so viele Wörter! Wie soll man denn alle die Zeichen lernen?« »Man setzt die großen Zeichen aus kleineren zusammen. Die großen Zeichen sind die Wörter, die kleinen Zeichen nennt man Buchstaben«, erklärte sie. »Und Buchstaben gibt es eigentlich gar nicht so viele. Nur sechsundzwanzig.« Sie hob die Hand, bewegte fünf mal alle fünf Finger auf und ab und streckte dann einen Finger in die Höhe. »Diese kleinen Buchstabenzeichen muß man nur immer wieder anders anordnen, dann kann man daraus alle Wörter zusammensetzen.« »Das will ich sehen.« »Paß auf.« Sie zeigte auf das Wort Sindbad. »Siehst du die sechs kleinen Zeichen zwischen den beiden Lücken? Das sind die Zeichen, die SINDBAD bedeuten. Das hier ist der ›S‹-Laut. Das hier ist ein ›I‹ und das hier ein ›N‹. Sie sprach die Buchstaben phonetisch aus. Du liest die Laute nacheinander und verbindest sie – Ss ii nnn ddd bbb aaa ddd. Sindbad.« Ob sie den Jungen damit nicht überforderte? »Sindbad«, wiederholte Timmie leise und fuhr den Namen mit dem Finger nach. »Und dieses Wort hier heißt Schiff. Du siehst, es beginnt mit dem gleichen, kleinen Zeichen wie Sindbad. Sssss. Man nennt dieses Zeichen ein ›S‹. Diesmal sprach sie es wie ›Esss‹ aus. Das hier ist das ›I‹ von Sindbad, nur steht es hier im Wort ›Schiff‹.« Er starrte die Seite ratlos an. Das war wohl doch zu viel gewesen. »Wenn du magst, zeige ich dir, wie man die Zeichen macht«, erbot sie sich. »Glaubst du, das könnte dir gefallen?«
»Das wäre ein schönes Spiel.« »Dann hol mir ein Blatt Papier und einen Buntstift. Und nimm auch für dich einen mit.« Er setzte sich neben sie. Sie schrieb das ganze Alphabet in zwei langen Reihen in Schreibschrift und in Druckschrift auf das Blatt. Timmie packte den Stift mit der ganzen Hand und kritzelte eine Kopie ihres a, oder was er dafür hielt. Es wurde ein seltsames Gebilde mit langen, krakeligen Beinen, das die ganze Seite einnahm und keinen Platz mehr für andere Buchstaben ließ. »Und jetzt«, sagte sie, »sehen wir uns das erste Zeichen an…« Zu ihrer Schande mußte sie sich eingestehen, daß sie bis zu diesem Moment nicht im Traum daran gedacht hatte, er könnte womöglich lesen lernen. Der Junge hatte eine unersättliche Gier nach Bilderbüchern und Bildbändern an den Tag gelegt, aber jetzt zeigte er sich zum erstenmal an den dazugehörigen, gedruckten Zeichen interessiert. Hatte Jerry ihn auch auf diese Idee gebracht? Miß Fellowes nahm sich vor, den Jungen beim nächsten Besuch zu fragen, ob er vielleicht mit Leseunterricht angefangen habe. Wie auch immer, sie hatte von vornherein ausgeschlossen, daß auch Timmie diese Stufe irgendwann erreichen könnte. Rassenvorurteile, erkannte sie jetzt. Obwohl sie nun schon so lange mit ihm zusammenlebte und beobachten konnte, wie sein Geist sich weitete und immer neue Blüten trieb, hielt sie ihn im Unterbewußtsein nach wie vor für einen Untermenschen oder jedenfalls für zu primitiv, für geistig zu beschränkt, um eine so komplexe Fertigkeit wie das Lesen meistern zu können. Und auch, als sie ihm jetzt die Buchstaben auf ihrer Tabelle
zeigte, ihm jeden einzelnen vorsprach und ihm beibrachte, ihn mit seinen ungelenken Fingerchen nachzuzeichnen, glaubte sie im Grunde ihres Herzens nicht daran, daß er jemals etwas damit würde anfangen können. Und dabei blieb es, bis er ihr tatsächlich ein Buch vorlas. Es war viele Wochen später. Er saß auf ihrem Schoß, hielt eins von seinen Büchern in den Händen, blätterte die Seiten um und sah sich die Bilder an – dachte sie. Doch plötzlich fuhr er mit dem Finger eine Zeile nach und sagte laut und stockend, aber entschlossen, nicht aufzugeben: »Der Hund – jagte – die – Katze.« Miß Fellowes war am Einnicken gewesen und hatte kaum hingehört. »Was hast du gesagt, Timmie?« »Die Katze – rannte – den Baum hinauf.« »Aber vorher hast du etwas anderes gesagt.« »Vorher habe ich gesagt: ›Der Hund jagte die Katze.‹ Genauso, wie es da steht.« »Was? Was?« Jetzt war Miß Fellowes hellwach. Sie schaute in das schmale Büchlein, das der Junge auf ihrem Schoß in Händen hielt. Unter dem Bild auf der linken Seite war zu lesen: Der Hund jagte die Katze. Und auf der rechten Seite stand: Die Katze rannte den Baum hinauf. Er hatte den Text Wort für Wort wiedergegeben. Er hatte ihn gelesen! Miß Fellowes war wie vom Donner gerührt. Sie sprang so plötzlich auf, daß der Jungen zu Boden purzelte. Er schien das für ein neues Spiel zu halten und grinste sie an. Aber sie stellte ihn rasch wieder auf die Beine. »Seit wann kannst du lesen?« Er zuckte die Achseln. »Immer?«
»Nein – ernsthaft.« »Ich weiß nicht. Wenn ich mir die Zeichen ansehe, höre ich die Wörter, wie du es mir gesagt hast.« »Hier. Lies mir daraus vor.« Miß Fellowes nahm irgendein Buch vom Stapel und schlug es in der Mitte auf. Er nahm es und sah es aufmerksam an. Wenn er so wie jetzt angestrengt die Stirn runzelte, fiel der mächtige Brauenwulst besonders stark auf. Seine Zungenspitze stahl sich unbemerkt zwischen den Lippen hervor. Es war eine mühsame, langwierige Prozedur. »Dann-pfiffdie-Lo-lo – pfiff-die Loko-« »Die Lokomotive!« kam sie ihm zu Hilfe. »Du kannst lesen, Timmie! Du kannst wirklich lesen!« Wie von Sinnen riß sie ihn in die Arme und tanzte mit ihm durchs Zimmer. Er starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Du kannst lesen! Du kannst lesen!« (Ein Affenjunge? Ein Höhlenmensch? Eine minderwertige Spielart des menschlichen Lebens? Die Katze rannte den Baum hinauf. Dann pfiff die Lokomotive. Wo ist der Schimpanse, der diese Zeilen lesen kann? Zeigt mir doch den Gorilla, der dazu fähig ist! Dann pfiff die Lokomotive. Oh, Timmie, Timmie!) »Miß Fellowes?« Das klang ein wenig erschrocken. Sie hatte ihn wohl allzu wild herumgeschwenkt. Lachend stellte sie ihn ab. Diese Sensation konnte sie nicht für sich behalten. Damit hatte sie den Schlüssel zur Lösung für Timmies Probleme gefunden. Mit Bildbändern konnte man einige Zeit überbrükken, aber es war abzusehen, daß sie ihn früher oder später langweilen würden. Dagegen gab es für jede Altersstufe ein unerschöpfliches Reservoir an guter Literatur. Wenn Timmie
die Stasis nicht verlassen und in die Welt hinausgehen konnte, dann würde die Welt eben zu ihm in diese drei Räume kommen – die ganze Welt in Form von Büchern. Er mußte eine Erziehung erhalten, die es ihm ermöglichte, alle seine Fähigkeiten zu entwickeln. Das war man ihm schuldig. »Du bleibst hier bei deinen Büchern«, befahl sie ihm. »Ich muß mit Dr. Hoskins sprechen. Ich bin bald wieder zurück.« Sie eilte über die Metalltreppen und durch das Labyrinth gewundener Gänge aus dem Stasisbereich ins Verwaltungsgebäude. Als sie in Hoskins’ Vorzimmer stürmte, sah dessen Empfangsdame überrascht auf. »Ist Dr. Hoskins da?« »Miß Fellowes! Dr. Hoskins erwartet Sie nicht…« »Ich weiß. Aber ich muß ihn trotzdem sprechen.« »Gibt es Probleme?« Miß Fellowes schüttelte den Kopf. »Nur eine Neuigkeit. Eine aufregende Neuigkeit. Bitte sagen Sie ihm, daß ich da bin.« Die Empfangsdame drückte auf den Knopf der Sprechanlage. »Miß Fellowes möchte Sie sprechen, Dr. Hoskins. Sie hat keinen Termin.« (Seit wann brauche ich…?) Es blieb peinlich lange still. Miß Fellowes überlegte schon, ob sie wohl eine Szene machen müßte, um in Hoskins’ Allerheiligstes zu gelangen. Womit er auch immer gerade beschäftigt war, es konnte nicht so wichtig sein wie das, was sie ihm zu sagen hatte. Dann ertönte Hoskins’ Stimme aus dem Lautsprecher: »Sie kann reinkommen.« Die Tür glitt auf. Hoskins erhob sich hinter seinem Schreibtisch mit dem Schild Gerald A. Hoskins, Dr. rer. nat. und
reichte ihr die Hand. Auch er hatte vor Aufregung rote Wangen und schien in strahlender Siegerlaune zu sein. »Haben Sie es etwa schon gehört?« fragte er sofort. »Nein, natürlich nicht, wie sollten Sie auch. Wir haben es geschafft. Wir haben es wirklich geschafft.« »Was denn?« »Die intertemporale Ortung auf kurze Distanz.« Angesichts von so viel Begeisterung trat Miß Fellowes’ spektakuläre Neuigkeit für einen Moment in den Hintergrund. »Heißt das, sie können auf historische Epochen zugreifen?« »Genau das heißt es. Stellen Sie sich vor, wir haben im Moment ein Individuum aus dem vierzehnten Jahrhundert im Visier. Es ist einfach unglaublich! Das Projekt Mittelalter steht unmittelbar vor der Vollendung. Oh, Miß Fellowes, wenn Sie wüßten, wie froh ich bin, endlich von diesem langweiligen Mesozoikum wegzukommen – Schluß mit Trilobiten und Gesteinsproben, urzeitlichen Farnwedeln, und wer weiß was allem. Jetzt kann ich die Paläontologen nach Hause schicken und mir Historiker holen…« Er unterbrach sich mitten im Satz. »Aber Sie wollen mir etwas erzählen, nicht wahr? Und ich rede und rede und lasse Sie nicht zu Wort kommen. Schießen Sie los, Miß Fellowes. Schießen Sie los! Ich bin heute glänzender Stimmung. Sie können alles von mir haben, was Sie nur wollen.« Miß Fellowes lächelte. »Das ist sehr erfreulich. Ich wollte Sie nämlich fragen, ob wir nicht allmählich anfangen sollten, uns nach geeigneten Lehrern für Timmie umzusehen.« »Nach Lehrern?« »Er ist alt genug, um Unterricht zu bekommen. Ich kann ihm zwar einiges beibringen, aber irgendwann muß doch ein ausgebildeter Pädagoge seine Erziehung übernehmen.«
»Was meinen Sie mit ›Unterricht‹? « »Nun, der übliche Fächerkanon. Geschichte, Geographie, Naturwissenschaften, Rechnen, Grammatik, was eben im Lehrplan für Grundschulen steht. Wir müssen für Timmie eine eigene Schule einrichten. Damit er alles lernen kann, was er braucht.« Hoskins starrte sie an, als habe sie plötzlich Chinesisch gesprochen. »Sie denken tatsächlich an Bruchrechnen? An die Geschichte der Pilgerväter? Den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg?« »Warum nicht?« »Versuchen kann man alles, gewiß. Meinetwegen auch noch Trigonometrie und Infinitesimalrechnung. Aber wieviel kann er tatsächlich aufnehmen, Miß Fellowes? Verstehen Sie mich recht, er ist ein prächtiger, kleiner Kerl. Aber er ist und bleibt doch nur ein Neandertaler, das dürfen wir nicht übersehen.« »Nur?« »Ein Menschenschlag mit sehr begrenzten, intellektuellen Fähigkeiten, darin sind sich alle…« »Er kann bereits lesen, Dr. Hoskins.« Hoskins fiel die Kinnlade herunter. »Was?« »Die Katze rannte den Baum hinauf. Diesen Satz hat er mir selbständig vorgelesen. Dann pfiff die Lokomotive. Das Buch hatte ich daraufhin ausgesucht und ihm die Seite gezeigt. Er konnte auch diese Worte lesen.« »Er kann lesen?« Hoskins war baß erstaunt. »Wirklich?« »Ich habe ihm die Buchstaben vorgeschrieben und ihm gezeigt, wie man sie zu Wörtern zusammensetzt. Den Rest hat er ganz allein geschafft, und zwar in erstaunlich kurzer Zeit. Ich
kann es gar nicht erwarten, was McIntyre und die anderen dazu sagen werden. Was sagen Sie nun zu den ach so begrenzten intellektuellen Fähigkeiten der Neandertaler, Dr. Hoskins? Er kann ein Bilderbuch lesen. Und mit der Zeit wird er zu Büchern ohne Bilder übergehen, Sie werden schon sehen, und dann zu Zeitungen, Zeitschriften, Lehrbüchern…« Hoskins ließ den Kopf hängen. Seine gute Stimmung war wie weggeblasen. »Ich bin mir da nicht so sicher, Miß Fellowes.« »Sie haben mir eben erst alles versprochen, was ich haben wollte…« »Ich weiß, und das war ein Fehler.« »Ein Lehrer für Timmie? Ist das denn so unerschwinglich?« »Es geht mir nicht um die Kosten«, sagte Hoskins. »Und ich finde es großartig, daß Timmie lesen kann. Eine erstaunliche Leistung. Und das meine ich ehrlich. Ich werde mich sofort persönlich davon überzeugen. Aber wenn Sie daran denken, eine Schule für ihn einzurichten, wenn Sie Pläne machen, was er im Lauf der Zeit alles lernen soll – Miß Fellowes, er hat nicht mehr viel Zeit.« Sie fuhr zurück. »Nein?« »Sie müssen doch immer gewußt haben, daß wir das Timmie-Experiment nicht unbegrenzt lange fortsetzen können?« Eine Woge des Entsetzens schlug über ihr zusammen. Mit diesem einen Satz hatte er ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Was wollte er damit sagen? Miß Fellowes traute ihren Ohren nicht. Wir können das Timmie-Experiment nicht unbegrenzt lange fortsetzen. Nein? Und warum nicht? Mit schmerzhafter Deutlichkeit erinnerte sie sich an die Szene mit Professor Adamewski und der Gesteinsprobe, die
nach zwei Wochen entfernt werden sollte, weil die Stasiszelle für das nächste Experiment gebraucht wurde. »Sie wollen ihn zurückschicken?« flüsterte sie. »Ich fürchte, ja.« »Aber er ist kein Felsbrocken, Dr. Hoskins. Er ist ein kleiner Junge.« Hoskins’ Verlegenheit war nicht zu übersehen. »Trotzdem sollte man seine Bedeutung nicht überschätzen. Wir haben so ziemlich alles über ihn herausgefunden, was möglich ist. Er hat keine Erinnerungen an sein Leben in der Neandertalerzeit, die für die Wissenschaft von größerer Bedeutung wären. Die Anthropologen können mit seinen Aussagen wenig anfangen, und aus den Fragen, die sie ihm mit Ihrer Hilfe gestellt haben, wurden nicht allzu viele brauchbare Erkenntnisse gewonnen. Also…« »Das kann einfach nicht wahr sein.« Miß Fellowes war wie betäubt. »Bitte, Miß Fellowes. Ich rede ja nicht von heute oder morgen. Aber irgendwann werden wir nicht mehr daran vorbeikommen.« Er wies auf die Forschungsunterlagen auf seinem Schreibtisch. »Nachdem wir jetzt damit rechnen dürfen, Personen aus historischer Zeit hierherholen zu können, brauchen wir alle Stasiskapazität, die wir nur kriegen können.« Sie war immer noch fassungslos. »Aber das können Sie doch nicht machen. Timmie… mein kleiner Timmie…« »Bitte beruhigen Sie sich doch, Miß Fellowes.« »Der einzige, lebende Neandertaler auf der ganzen Welt, und Sie denken daran, ihn zurückzuschicken?« »Wie gesagt, wir haben alles erfahren, was es zu erfahren gibt. Wir dürfen nicht stehenbleiben.«
»Nein.« »Miß Fellowes, bitte. Bitte. Ich weiß, wie sehr Sie an dem Jungen hängen. Und ich verstehe Sie nur zu gut. Er ist wirklich ein Prachtkerl, und Sie leben nun schon so lange Tag und Nacht mit ihm zusammen. Aber das ist doch Ihr Beruf, Miß Fellowes. Die Kinder, die man Ihnen anvertraut, wechseln ständig, Sie können nicht hoffen, sie für immer zu behalten. Das sollte für Sie nichts Neues sein. – Außerdem kann es noch Monate dauern, bis es bei Timmie so weit ist. Wenn Sie bis dahin noch einen Lehrer für ihn haben wollen, werden wir unser möglichstes tun.« Sie starrte ihn immer noch an. »Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen lassen, Miß Fellowes?« »Nein«, flüsterte sie. »Ich brauche nichts.« Sie zitterte am ganzen Körper. Mühsam erhob sie sich, stolperte wie in einem Alptraum zur Tür, wartete, bis sie aufgegangen war, und marschierte dann durch das Vorzimmer, ohne nach rechts oder links zu schauen. Zurückschicken? Sie wollten ihn zurückschicken? Waren sie denn alle von Sinnen? Der Junge war doch kein Neandertaler mehr! Wenn man von seinem Äußeren absah, war er ein freundlicher, artiger, kleiner Junge, der gerne grüne Overalls trug und sich Bildbänder und Bücher mit Märchen aus Tausendundeiner Nacht ansah. Der jeden Abend sein Zimmer aufräumte. Der mit Messer, Gabel und Löffel aß. Der lesen konnte. Diesen Jungen wollten sie in die Eiszeit zurückschicken und ihn irgendwo in der gottverlassenen Tundra aussetzen? Das konnte nicht ihr Ernst sein. Er hatte keine Chance, in
der Welt zu überleben, aus der er einst gekommen war. Dafür war er nicht mehr gerüstet. Er hatte alles verlernt, was ein Neandertaler dringend brauchte, dafür hatte er sich eine ganze Menge neuer Fertigkeiten erworben, die im Paläolithikum nicht den geringsten Wert hatten. Er würde sterben. Nein. Nein, Timmie, gelobte sich Miß Fellowes mit der ganzen Inbrunst ihrer altjüngferlichen Seele. Du wirst nicht sterben. Das lasse ich nicht zu.
51 Jetzt war ihr auch klar, warum ihr Bruce Mannheim seine Telefonnummer geradezu aufgedrängt hatte. Damals hatte sie ihn nicht verstanden, aber er hatte offensichtlich vorausgedacht, hatte gewittert, daß irgendwann etwas geschehen würde, was für Timmie bedrohlich wäre, während sie für diese Möglichkeit einfach blind gewesen war. Sie hatte jeden noch so deutlichen Hinweis auf die harten Realitäten, von denen Hoskins soeben gesprochen hatte, sorgfältig ignoriert. Sie hatte sich gestattet, ihre Vernunft auszuschalten und allen drohenden Vorzeichen zum Trotz davon auszugehen, daß Timmie den Rest seines Lebens im einundzwanzigsten Jahrhundert verbringen würde. Mannheim hatte die Gefahr erkannt. Und er hatte offenbar die ganze Zeit auf ihren Anruf
gewartet. »Ich muß mich sofort mit Ihnen treffen«, sagte sie. »In der Stasis GmbH?« »Nein«, sagte sie. »Irgendwo anders. Wo, ist mir egal. In der Stadt vielleicht. Machen Sie einen Vorschlag.« Sie verabredeten sich an einem verregneten Mittwoch nachmittag in einem kleinen Restaurant nahe am Fluß, wo sie Mannheim zufolge ungestört reden konnten. Mannheim wartete schon auf sie. Miß Fellowes kam sich vor wie bei einem konspirativen Treff. Im Grunde war es ein Skandal: sie aß mit einem Mann zu Mittag, der ihrem Arbeitgeber nichts als Schwierigkeiten bereitet hatte. Noch schlimmer, sie aß mit einem Mann zu Mittag, einem Mann, den sie kaum kannte, der aber jung und attraktiv war. Das paßte ganz und gar nicht zu Edith Fellowes. Dazu noch dieser Traum von damals, in dem Mannheim an ihre Tür geklopft und sie in seine Arme gerissen hatte und… Aber es handelte sich nicht um ein romantisches Stelldichein. Der Traum war nur ein Traum gewesen, eine Laune ihres Unterbewußtseins. Als Mann war dieser Mannheim für sie in keiner Weise interessant. Es ging hier um rein sachliche Fragen. Und es ging um Leben und Tod. Sie blätterte lange in der Speisekarte, weil sie nicht wußte, wie sie anfangen sollte. »Wie geht’s Timmie denn inzwischen?« fragte er. »Gut, gut. Er hat sich glänzend entwickelt, Sie würden ihn kaum wiedererkennen.« »Sicher ist er groß und stark geworden?« »Man kann fast zusehen, wie er wächst. Seit neuestem kann er sogar lesen.« »Tatsächlich!« Mannheim zwinkerte vergnügt mit den
Augen. Er hatte ein sehr sympathisches Lächeln, dachte Miß Fellowes. Wieso hielt ihn Dr. Hoskins nur für ein solches Ungeheuer? »Das ist ein erstaunlicher Fortschritt, nicht wahr? Die Anthropologen waren sicher sehr überrascht, als sie das hörten.« Sie nickte und starrte weiter auf die Speisekarte, ohne auch nur eine Zeile zu lesen. Der Regen war stärker geworden und trommelte wütend gegen die Fensterscheiben des kleinen Restaurants. Sie waren fast die einzigen Gäste. »Hühnchen in Rotwein schmeckt hier besonders gut«, sagte Mannheim. »Auch die Lasagne kann ich empfehlen. Aber vielleicht nehmen Sie lieber das Kalbfleisch?« »Das ist mir egal. Ich nehme das gleiche wie Sie, Mr. Mannheim.« Er sah sie forschend an. »Nennen Sie mich doch bitte Bruce. Wie wär’s mit einer Flasche Wein?« »Wein? Nein, danke, ich trinke niemals Wein. Aber lassen Sie sich davon nicht abhalten…« Er fixierte sie noch immer. Dann sagte er, laut genug, um das Getrommel der Regentropfen zu übertönen: »Was ist passiert, Edith?« (Edith?) Für einen Moment hatte es ihr die Sprache verschlagen. (Das reicht, Edith, jetzt nimm dich gefälligst zusammen! Oder willst du etwa, daß er dich für schwachsinnig hält?) »Sie wollen Timmie zurückschicken«, sagte sie. »Zurück? Sie meinen, zeitlich gesehen?« »Richtig. In seine eigene Epoche. Zu den Neandertalern. In die Eiszeit.« Mannheims Augen leuchteten auf, ein breites Lächeln erhellte sein Gesicht. »Das ist ja großartig! Das Beste, was ich
in dieser Woche gehört habe!« Erschrocken widersprach sie. »Nein – Sie verstehen nicht…« »Ich verstehe, daß unser armer, kleiner Gefangener endlich dahin zurückkehren darf, wohin er gehört, zu seinen Eltern, seinen Geschwistern, in seine Welt, die er einmal geliebt hat. Das muß gefeiert werden. Ober! Ober! Bringen Sie mir eine Flasche Chianti – nein, besser eine halbe Flasche, meine Bekannte trinkt nicht mit…« Miß Fellowes sah ihn entgeistert an. »Was machen Sie denn für ein Gesicht, Miß Fellowes? Edith? Wollen Sie denn nicht, daß Timmie zu seinen Leuten zurückkehrt?« »Schon, aber… aber…« Hilflos hob sie beide Hände. »Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen.« Voller Anteilnahme beugte sich Mannheim über den Tisch. »Sie haben ihn nun so lange betreut, daß es Ihnen schwerfällt, ihn loszulassen. Die Bindung zwischen Ihnen und Timmie ist so stark geworden, daß Sie schockiert sind, wenn Sie hören, daß er zurückgeschickt werden soll. Ich kann Ihnen das gut nachfühlen.« »Das spielt natürlich mit«, gab Miß Fellowes zu. »Aber nur zu einem sehr geringen Teil.« »Und wo liegt die Hauptschwierigkeit?« In diesem Moment kam der Ober mit dem Wein. Er ließ es sich nicht nehmen, Mannheim zuerst das Etikett zu zeigen, dann den Korken herauszuziehen und einen Probeschluck einzugießen. Mannheim nickte ihm zu und fragte dann, an Miß Fellowes gewandt: »Und Sie möchten wirklich nicht mithalten, Edith? Gerade an einem so ungemütlichen Regentag wie heute…« »Nein, bitte nicht.« Es war beinahe ein Flüstern. »Trinken
Sie Ihren Wein nur allein. Ich wüßte ihn doch nicht zu schätzen.« Der Ober füllte Mannheims Glas und ging. »Und jetzt zurück zu Timmie«, sagte Mannheim. »Wenn er zurückgeschickt wird, ist das sein Tod. Begreifen Sie das denn nicht?« Mannheim stellte sein Glas so heftig ab, daß der Wein auf das Tischtuch spritzte. »Soll das heißen, daß die Zeitreise in umgekehrter Richtung tödlich ist?« »Nein, das nicht. Jedenfalls nicht, soweit mir bekannt ist, nein. Trotzdem wäre es Timmies Tod, denn sehen Sie, er ist jetzt zivilisiert. Er kann sich seine Schuhe zubinden und ein Stück Fleisch mit Messer und Gabel essen. Morgens und abends putzt er sich die Zähne. Er schläft in einem Bett und nimmt jeden Tag eine Dusche. Er sieht sich Bildbänder an und kann sogar einfache Bilderbücher lesen. Aber was nützt ihm das alles im Paläolithikum?« Mannheim war schlagartig ernst geworden. »Ich glaube, ich weiß, worauf Sie hinauswollen.« »Andererseits«, fuhr sie fort, »hat er wahrscheinlich alles vergessen, was er über das Leben unter Steinzeitbedingungen jemals wußte – und das kann ohnehin nicht allzuviel gewesen sein. Er war ja noch sehr klein, als er zu uns kam. Sicher wurde er noch von seinen Eltern oder irgendwelchen anderen Stammesangehörigen betreut, denn man hätte wohl nicht einmal bei den Neandertalern von einem drei- bis vierjährigen Jungen verlangt, daß er allein auf die Jagd ging oder Wurzeln und Beeren sammelte. Und selbst wenn er sich damals schon recht gut zu helfen gewußt hätte, es ist mehrere Jahre her, seit er mit diesen Gegebenheiten zurechtkommen mußte. Er wird sich an nichts mehr erinnern.«
»Aber wenn er zu seinen Leuten zurückkommt, werden sie ihn doch wieder aufnehmen und ihn ein zweites Mal nach den Regeln des Stammes erziehen…« »Sind Sie da ganz sicher? Er beherrscht kaum noch die Sprache, denkt inzwischen völlig anders als sie und riecht komisch, weil er so sauber ist. – Ich hielte es für wahrscheinlicher, daß sie ihn kurzerhand töten würden.« Mannheim schaute gedankenverloren in sein Weinglas. Miß Fellowes fuhr fort: »Außerdem, wer garantiert Ihnen denn, daß er überhaupt zu seinem Stamm zurückfindet? Ich verstehe nicht viel von Zeitreisen, aber den Leuten von der Stasis GmbH traue ich auch nicht so recht. Soll er genau in dem Moment wieder auftauchen, in dem er weggeholt wurde? In diesem Fall wäre er drei Jahre älter und hätte sich aus dortiger Sicht auf einen Schlag gewaltig verändert. Niemand wüßte, was er von ihm zu halten hätte. Unter Umständen würde er als Dämon oder etwas dergleichen angesehen. Oder soll er zwar am gleichen Ort wiedererscheinen, aber drei Jahre nach seinem Verschwinden? Dann wäre der Stamm sicher längst in eine andere Gegend gezogen. Damals gab es doch nur Nomaden. Wenn er in der Vergangenheit ankäme, wäre also niemand da, um ihn aufzunehmen. Er wäre in einer rauhen, feindseligen, bitterkalten Welt vollkommen auf sich gestellt. Ein kleiner Junge allein gegen die Eiszeit. Verstehen Sie, Mr. Mannheim? Verstehen Sie jetzt, was ich meine?« »Ja«, sagte Mannheim. »Ich verstehe.« Er schwieg so lange, als führe er eine schwierige Rechnung im Kopf aus. Endlich fragte er: »Wissen Sie denn, wann die Rücksendeaktion stattfinden soll?« »Dr. Hoskins meinte, das könne noch Monate dauern. Ob
damit zwei oder sechs Monate gemeint waren, kann ich freilich nicht sagen.« »So oder so, viel Zeit haben wir nicht. Wir müßten eine Werbekampagne organisieren, eine Kampagne zur Rettung Timmies – Briefe an alle Zeitungen, Demonstrationen, eine gerichtliche Verfügung, vielleicht sogar eine Untersuchungskommission auf Kongreßebene, die sich die ganze Stasis GmbH einmal genauer ansieht. – Natürlich wäre es nützlich, wenn Sie sich für Timmies Zugehörigkeit zur menschlichen Rasse verbürgen könnten, indem Sie uns Videos zur Verfügung stellen, die etwa zeigen, wie er liest oder Körperpflege betreibt. Aber dazu müßten Sie wahrscheinlich Ihre Stellung aufgeben und sich von Timmie trennen, und das würden Sie sicher nicht wollen, und es wäre auch für uns nicht wünschenswert. Nicht ganz einfach. Andererseits…« »Nein«, sagte Miß Fellowes. »Das hätte keinen Sinn.« Mannheim sah überrascht auf. »Was hätte keinen Sinn?« »Eine Werbekampagne, wie Sie sie beschreiben. Der Schuß ginge nach hinten los. Sobald Sie anfangen, zu protestieren und mit Demonstrationen und gerichtlichen Verfügungen zu drohen, drückt Dr. Hoskins einfach auf den roten Knopf, und schon ist Timmie weg. Mehr als ein Knopfdruck – genauer gesagt, ein Ruck an einem Griff – ist nämlich nicht nötig, um alles, was sich im Innern der Zelle befindet, dahin zurückzuschicken, wo es hergekommen ist. Die Stasis GmbH könnte es sich nicht leisten, den Streit so weit eskalieren zu lassen, daß es zu einer gerichtlichen Verfügung kommt. Sie würde sofort handeln, und damit hätte sich alles weitere von selbst erledigt.« »Das würden sie nicht wagen!« »Meinen Sie? Das Timmie-Experiment gilt bereits als abge-
schlossen. Die Stasiskapazität wird für andere Projekte gebraucht. Sie kennen diese Leute nicht. Die leisten sich keine Sentimentalitäten. Hoskins ist im Grunde ein anständiger Mensch, aber wenn er zwischen Timmie und der Zukunft der Stasis GmbH zu wählen hätte, fiele ihm die Entscheidung nicht schwer. Und wenn Timmie erst einmal fort ist, bringt ihn nichts wieder zurück. Dann stehen wir vor vollendeten Tatsachen. In der Vergangenheit wäre er nicht wiederzufinden. Daran könnte auch Ihre gerichtliche Verfügung nichts ändern. Eine Person, die vor vierzigtausend Jahren lebte und starb, bevor irgend jemand auch nur an unsere Zivilisation dachte, hätte vor unseren Gerichten ohnehin keine Stimme.« Mannheim nickte langsam und trank nachdenklich einen Schluck Wein. Der Ober kam an den Tisch und zückte seinen Block, aber Mannheim winkte ab. »Dann gibt es nur noch eine Möglichkeit«, sagte er. »Und die wäre?« »Wir haben Anhänger in Kanada, aber auch in England und in Neuseeland, die Timmie mit Freuden aufnehmen würden. Engagierte, gütige Menschen. Unsere Organisation könnte Sie als seine Betreuerin einstellen. Ihr Gehalt ließe sich über eine Stiftung finanzieren. Für Sie würde das natürlich bedeuten, hier von heute auf morgen alles aufzugeben und in einem anderen Land ein neues Leben anzufangen, aber wenn ich Sie richtig einschätze, würde Ihnen das nicht schwerfallen, wenn Sie Timmie damit…« »Nein. Das ist keine Möglichkeit.« »Nein?« »Nein. Ausgeschlossen.« Mannheim runzelte die Stirn. »Ich verstehe.« Obwohl man ihm ansah, daß er gar nichts verstand. »Nun gut, Edith, ich
habe vollstes Verständnis dafür, daß es Ihnen schwerfällt, das Land zu verlassen. Aber ich könnte doch trotzdem darauf zählen, daß Sie uns helfen würden, Timmie aus der Stasis herauszuschmuggeln?« »Es geht nicht darum, ob es mir schwerfällt, das Land zu verlassen. Es gibt nichts, was ich nicht tun würde, um Timmie zu retten. Aber es ist nicht möglich, ihn aus der Stasis herauszuschmuggeln.« »Wird sie denn wirklich so streng bewacht? Glauben Sie mir, wir fänden immer Mittel und Wege, um das Sicherheitspersonal auf unsere Seite zu bringen, und wir würden einen absolut narrensicheren Plan ausarbeiten, um Ihnen Timmie abzunehmen und aus dem Gebäude zu schaffen.« »Es ist nicht zu machen. Wissenschaftlich unmöglich.« »Wissenschaftlich?« »Es gibt da so etwas wie ein Zeitpotential, einen Energiestau, temporale Kraftlinien. Wenn wir einen Körper von Timmies Größe aus der Stasis entfernen, brennen in der ganzen Stadt die elektrischen Sicherungen durch. Das hat mir Hoskins einmal erklärt, und ich glaube ihm. Als sie Timmie aus der Vergangenheit holten, haben sie eine Menge Steinchen, Erde und Zweige mitgebracht, und nicht einmal dieses Zeug wurde bisher aus der Stasis hinausgeschafft. Es lagert alles noch im hinteren Teil des Puppenhauses. – Ich bin mir nicht einmal ganz sicher, ob man es überhaupt wagen könnte, Timmie aus der Stasis zu bringen. Es könnte ein Risiko sein. Das ist eine reine Vermutung, aber vielleicht richten sich die Zeitenergien auch gegen ihn, wenn man ihn aus der Blase in unser Universum versetzt. Die Blase befindet sich nämlich nicht in unserem Universum. Sie bildet eine Welt für sich. Erinnern Sie sich noch an das unangenehme Kribbeln, wenn
man durch die Tür tritt? Also, der Plan, Timmie aus der Stasis zu entführen und ihn nach Übersee zu schicken – nein, nein, das ist viel zu gefährlich. Weniger für Sie oder für mich, aber für Timmie.« Mannheims Miene hatte sich verfinstert. »Was soll ich machen?« seufzte er. »Ich biete Ihnen an, ein juristisches Feuerwerk zu entfachen, um Timmie zu retten, und Sie erklären mir, das könne nicht funktionieren, weil Hoskins einfach auf den roten Knopf drücken würde, sobald wir ihn in Bedrängnis brächten. Dann bin ich sogar bereit, mich strafbar zu machen und Timmie aus der Stasis zu stehlen, um ihn außer Hoskins’ Reichweite zu bringen, und Sie sagen, das ginge auch nicht, diesmal aus physikalischen Gründen. Schön. Ich möchte Ihnen gern helfen, Edith, aber Sie haben mir den Wind aus den Segeln genommen. Weiter fällt mir nichts ein.« »Mir auch nicht«, gestand Miß Fellowes unglücklich. Dann schwiegen sie beide und hörten zu, wie der Regen gegen die Fenster trommelte.
Elftes Kapitel ABSCHIED
52 Projekt Mittelalter – das war jetzt bei der Stasis GmbH das alles beherrschende Thema. Man war sich einig, an der Schwelle einer aufregend neuen Phase des Zeitreisebetriebs zu stehen. Das einmalige Verfahren, das die Firma entwickelt hatte, würde das Tor zur historischen Vergangenheit öffnen – würde dem einundzwanzigsten Jahrhundert umwerfend neue Erkenntnisse über das klassische Altertum bescheren, geistige Schätze von unermeßlichem Wert. Und nicht nur geistige Schätze, wie einige meinten: wenn man aus jedem beliebigen Jahrhundert Menschen in die Gegenwart holen konnte, warum dann nicht auch Kunstwerke, seltene Bücher und Manuskripte oder Wertgegenstände aller Art? Die Museen der Welt könnten ihren Bestand über Nacht verdoppeln, verdreifachen, vervierfachen! Und alle Objekte in einwandfreiem Zustand – und bis auf den Energieaufwand kostenlos. Die ganze Firma bestürmte den Himmel, daß das Projekt Mittelalter ein voller Erfolg werden möge. Bis auf Edith Fellowes. Sie betete im stillen darum, es möge scheitern, sei es, weil Hoskins’ Theorien sich als falsch erwiesen, oder weil die Technik der Aufgabe nicht gewachsen war. Das war ihre einzige, ihre letzte Hoffnung. Nur dadurch war Timmie noch vor dem sicheren Tod zu bewahren. Wenn man mit dem Plan, einen Menschen aus dem vierzehnten Jahrhundert in die
Gegenwart zu holen, Schiffbruch erleiden sollte, wäre es nicht mehr nötig, Timmies Stasiszelle zu räumen. Dann konnte alles so weitergehen wie zuvor. Also hoffte sie auf einen Fehlschlag, während der Rest der Welt einer Sensation entgegenfieberte und damit Miß Fellowes’ leidenschaftlichen Haß weckte. Projekt Mittelalter war momentan in aller Munde. Medien und Öffentlichkeit waren wie besessen davon. Mit einem derart publikumswirksamen Vorhaben hatte die Stasis GmbH schon lange nicht mehr aufwarten können. Ein neuer Felsbrocken oder ein weiterer Fisch aus der Urzeit lockten keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor. Der kleine Dinosaurier hatte seinerzeit ein paar Wellen geschlagen, war aber bald in Vergessenheit geraten. Timmie der Neandertaler, Klein-Timmie, der Höhlenmensch, hätte die Allgemeinheit sicher etwas länger in seinen Bann gezogen, wenn er dem Bild des wilden Affenkindes, das man sich in gewissen Kreisen gemacht hatte, mehr entsprochen hätte. Zu bald hatte sich jedoch herausgestellt, daß der Neandertaler der Stasis GmbH gar kein Affenkind war, sondern nur ein häßlicher, kleiner Junge. Ein häßlicher, kleiner Junge, der Overalls trug und inzwischen gelernt hatte, Bilderbücher zu lesen – was war daran schon aufregend? Er hatte eigentlich nichts Urzeitliches mehr an sich. Wenn er vor Wut gekreischt, sich mit den Fäusten auf die Brust getrommelt und, nun ja, mit rauher Stimme unverständliche Urlaute gestammelt hätte, wäre das Interesse vielleicht nicht ganz so rasch erlahmt. Aber das war eben nicht Timmies Art. Da wäre ein Mensch aus historischer Zeit doch ein ganz anderer Fall – ein Erwachsener aus der Vergangenheit, der womöglich Johanna von Orleans, Richard Löwenherz oder Saladin mit eigenen Augen gesehen hatte und eine bekannte
Sprache beherrschte, der könnte die Seiten der Geschichtsbücher wahrhaftig zum Leben erwecken. So vergingen die Wochen und das große Ereignis rückte näher. Und dann war die Stunde Null für das Projekt Mittelalter angebrochen. Hoskins und seine Mitarbeiter hatten seit Timmies Ankunft vor drei Jahren einiges dazugelernt, was die Öffentlichkeitsarbeit anging. Diesmal würden nicht nur eine Handvoll Zuschauer auf der Galerie stehen. Diesmal würden die Techniker der Stasis GmbH vor den Augen der gesamten Menschheit agieren. Miß Fellowes fieberte vor Ungeduld. Wenn es nur schon vorüber wäre und sie wüßte, ob das Projekt geglückt oder gescheitert war! Sie hatte geplant, unter den Zuschauern zu sein, wenn die letzten Schalter umgelegt wurden. Aber sie konnte erst gehen, wenn die neue Vertretung auftauchte – Mandy Terris hieß sie, man hatte sie erst letzte Woche als Ersatz für Ms. Stratford eingestellt, die in einem anderen Staat einen besser bezahlten Arbeitsplatz gefunden hatte. »Miß Fellowes?« Sie fuhr herum. Hoffentlich war das jetzt endlich diese Mandy Terris. Aber nein, Hoskins’ Sekretärin brachte den kleinen Jerry zu seiner Spielstunde mit Timmie. Sobald sie den Jungen abgeliefert hatte, eilte sie davon. Auch sie wollte für den Höhepunkt von Projekt Mittelalter noch einen guten Platz ergattern. Jerry schlich unsicher um Miß Fellowes herum. »Miß Fellowes?« »Was ist denn, Jerry?« Er kramte einen zerknitterten Zeitungsausschnitt aus seiner
Tasche und hielt ihn ihr hin. »Das ist doch ein Bild von Timmie?« Miß Fellowes sah sich die Seite rasch an. Tatsächlich, das war Timmie, der ihr da entgegengrinste. Die Aufregung über das Projekt Mittelalter hatte bei der Presse auch das Interesse für den kleinen Neandertaler wieder aufflackern lassen. Das Foto war erst vor kurzem aufgenommen worden, bei Timmies sogenannter Geburtstagsparty zum dritten Jahrestag seiner Ankunft. Ein paar Wissenschaftler, ein paar Reporter und Jerry hatten mit Timmie dessen ›Geburt‹ im einundzwanzigsten Jahrhundert gefeiert. Timmie hielt eins von seinen Geschenken in die Höhe, einen chromblitzenden Roboter. »Was ist damit?« fragte Miß Fellowes. Jerry kniff die Augen zusammen. »Da steht, Timmie ist ein Affenjunge. Das dürfen die doch gar nicht sagen, oder?« »Was? « Sie riß Hoskins junior die Zeitung aus der Hand. Auf die Bildunterschrift hatte sie bisher nicht geachtet: AFFENJUNGE AUS DER URZEIT BEKOMMT SPIELZEUGROBOTER ZUM GEBURTSTAG Affenjunge. Affenjunge. Affenjunge aus der Urzeit. Miß Fellowes stiegen vor Wut die Tränen in die Augen. Sie riß die Seite in Fetzen und warf sie auf den Boden. »Warum sind Sie so böse, Miß Fellowes? Weil da steht, daß Timmie ein Affenjunge ist? Das ist doch gar nicht wahr! Oder etwa doch?« Sie packte den Jungen am Handgelenk. Am liebsten hätte sie ihn geschüttelt. »Nein, er ist kein Affenjunge! Ich will dieses Wort nie wieder von dir hören. Nie wieder, hast du
mich verstanden? Es ist ein häßliches Wort. Ein anständiger Junge sagt so etwas nicht.« Jerry bekam es mit der Angst zu tun und wollte sich losreißen. Miß Fellowes schlug das Herz bis zum Hals. Nur mit Mühe fand sie die Fassung wieder. »Du kannst jetzt zu Timmie hineingehen«, sagte sie. »Er hat ein neues Buch, das er dir zeigen will.« »Du hast mir wehgetan.« »Tut mir leid, das wollte ich nicht.« »Das werde ich meinem Va…« »Geh hinein! Schnell! Ich habe mich schon bei dir entschuldigt.« Der Junge verschwand hastig im Puppenhaus. Hinter der Tür drehte er sich noch einmal um und warf Miß Fellowes einen erbosten Blick zu. Dann hörte sie Schritte hinter sich und drehte sich um. Mandy Terris war im Anmarsch. Wurde ja auch langsam Zeit. »Sie sind ziemlich spät dran«, bemerkte Miß Fellowes vorwurfsvoll. »Jerry Hoskins ist bereits drin und spielt mit Timmie.« »Ich weiß ja, Miß Fellowes. Ich habe mich beeilt, aber überall herrscht ein furchtbares Gedränge. Ich finde das alles schrecklich aufregend.« »Schon gut. Könnten Sie jetzt bitte…?« »Sie wollen sicher schnell weg, um nichts zu verpassen?« Das hübsche, nichtssagende Gesicht war blaß vor Neid. »Mein Pech, daß ich ausgerechnet jetzt Dienst haben muß…« »Sie können sich ja die Abendnachrichten ansehen«, sagte Miß Fellowes knapp. »Können wir jetzt reingehen?« Es war das erstemal, daß Mandy Terris mit Timmie allein bleiben
sollte. »Die beiden werden Ihnen keinen Ärger machen. Jeder hat ein Glas Milch und mehr als genug Spielzeug. Das beste ist wohl, sie möglichst in Ruhe spielen zu lassen.« »Verstehe. Und natürlich muß ich aufpassen, damit sie nicht rauslaufen. Ich weiß, wie wichtig das ist.« »Gut. Und jetzt kommen Sie.« Miß Fellowes öffnete die Tür zur Stasis und ging voran. Timmie und Jerry waren im Spielzimmer und nahmen von den beiden Frauen keinerlei Notiz. Sie zeigte Mandy Terris, was in den nächsten zwei Stunden zu tun war. Hauptsächlich ging es darum, Bestellformulare auszufüllen und über alle wichtigen Vorkommnisse Buch zu führen. Miß Fellowes war schon fast draußen, als ihr das Mädchen nachrief: »Ich wünsche Ihnen, daß Sie noch einen guten Platz kriegen! Oh, Mann, hoffentlich geht alles glatt!« Miß Fellowes war zu aufgeregt, um darauf vernünftig zu antworten, und so eilte sie davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Wie sich zeigte, war sie für einen guten Platz bereits zu spät dran und mußte sich zu ihrem Leidwesen damit begnügen, das Ereignis auf der großen Leinwand im Zuschauerraum zu verfolgen. Wenn sie doch näher am Schauplatz gewesen wäre! Vielleicht wäre sie an eines der hochempfindlichen Geräte herangekommen, hätte das Experiment irgendwie sabotieren können… Nein. War sie denn noch bei Verstand? Sie mußte sich diesen törichten Plan sofort aus dem Kopf schlagen. Mit Vandalismus würde sie gar nichts erreichen. Man würde die beschädigten Geräte nur reparieren und den Versuch wiederholen. Aber sie würde man nie wieder in Timmies Nähe lassen.
Es gab keinen Ausweg. Außer, das Experiment scheiterte – war nicht zu wiederholen, erwies sich als prinzipiell unmöglich, etwas in der Art. In dieser Stimmung erlebte sie den Countdown. Sie beobachtete jede Bewegung auf der riesigen Leinwand, suchte, als die Kamera von einem Techniker zum anderen wanderte, in den Gesichtern nach Besorgnis, nach Unsicherheit, nach irgendwelchen Hinweisen darauf, daß unerwartete Schwierigkeiten aufgetreten waren. Vielleicht… vielleicht… Niemand wirkte unsicher. Niemand schien sich besondere Sorgen zu machen. Alle Instrumente waren mehrfach überprüft worden. Man hatte tausend Simulationen durchgeführt; man hatte sich ausreichend vergewissert, daß ein temporaler Zugriff auf kurze Distanz möglich war. »Fünf-vier-drei-zwei-eins-null.« In aller Ruhe und völlig unspektakulär wurde das Experiment erfolgreich abgeschlossen. In der neuerrichteten Stasiszelle stand leicht gebückt ein bärtiger Mann unbestimmten Alters, in schmutzige Lumpen gekleidet, mit Holzpantinen an den Füßen, und sah sich in dumpfem Schrecken um, ohne zu begreifen, was mit ihm geschehen war. Miß Fellowes stand wie erstarrt, während ringsum lauter Jubel aufbrandete. Von allen Seiten wurde sie geschubst und gestoßen, es fehlte nicht viel, und man hätte sie niedergetrampelt. Sie war von Siegern umgeben, während sie als einzige eine vernichtende Niederlage erlitten hatte. Die Lautsprecherstimme, die schrill und durchdringend ihren Namen rief, hörte sie erst beim dritten Mal. »Miß Fellowes. Miß Fellowes. Miß Fellowes wird dringend gebe-
ten, sich auf Stasissektion I zu melden. Miß Fellowes. Miß Fell…« Was war geschehen? »Lassen Sie mich durch!« rief sie, während der Lautsprecher die Ansage fortwährend wiederholte. Wütend drängte sie sich durch die Menge, schlug mit geballten Fäusten auf jeden ein, der sich ihr in den Weg stellte, und kam ihrem Ziel doch nur mit alptraumhafter Langsamkeit näher. »Miß Fellowes, bitte… Miß Fellowes… dringend…«
53 Mandy Terris wartete in Tränen aufgelöst auf dem Gang vor der Stasiszelle. »Ich weiß nicht, wie es passiert ist. Ich bin nur für einen Moment in den Korridor gegangen, weil dort ein kleiner Bildschirm aufgestellt war. Ich war höchstens eine Minute weg. Und dann, bevor ich wußte, wie mir geschah…« Plötzlich schrie sie Miß Fellowes aufgebracht an: »Sie haben mir doch versprochen, daß sie mir keinen Ärger machen werden. Sie haben gesagt, ich soll sie in Ruhe spielen lassen…« Miß Fellowes sah ziemlich mitgenommen aus und zitterte am ganzen Körper. Ihre Augen funkelten vor Zorn. »Wo ist Timmie?« Mortenson war von irgendwoher aufgetaucht und rieb dem heulenden Jerry den Arm mit Desinfektionsmittel ab. Auch Elliott war da und zog bereits eine Tetanusspritze auf. Der Junge hatte einen großen Blutfleck auf dem Hemd. »Er hat mich gebissen, Miß Fellowes«, kreischte Jerry. »Er
hat mich gebissen!« Aber Miß Fellowes schaute einfach durch ihn hindurch. »Was haben Sie mit Timmie gemacht?« rief sie. »Im Bad eingesperrt«, sagte Mandy Terris. »Ich habe dieses kleine Ungeheuer einfach hineingestoßen und die Tür mit ein paar Stühlen verbarrikadiert.« Miß Fellowes rannte ins Puppenhaus. Diesmal nahm sie das unangenehme Kribbeln beim Betreten der Stasis kaum wahr. Sie stieß die Stühle beiseite und rüttelte an der Klinke. Es dauerte eine Ewigkeit, bis die Tür offen war. Endlich. Der häßliche, kleine Junge hockte wie ein Häufchen Elend in einer Ecke. »Nicht auspeitschen, Miß Fellowes«, flüsterte er. Seine Augen waren gerötet. Seine Lippen zitterten. »Ich wollte ihm nicht wehtun. Du wirst mich doch nicht auspeitschen, oder?« »Oh Timmie, wer hat dir denn so etwas eingeredet?« Sie nahm ihn in die Arme und drückte ihn fest an sich. Seine Stimme zitterte. »Sie, die Neue. Sie hat gesagt, du wirst mich mit einer langen Peitsche schlagen, immer und immer wieder.« »Das war gemein von ihr. Ich werde dich nicht schlagen. – Aber was ist denn nun eigentlich passiert, Timmie? Erzähl es mir.« Er sah mit seinen riesigen Augen zu ihr auf. Dann flüsterte er: »Er hat gesagt, ich bin ein Affenjunge.« »Was!« »Er hat gesagt, ich bin gar kein richtiger Junge. Er hat es in der Zeitung gelesen. Ich bin bloß ein Tier, hat er gesagt.« Timmie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, sie liefen ihm in Strömen über die Wangen. Er schniefte so laut, daß er kaum noch zu verstehen war, aber Miß Fellowes entging keine
einzige Silbe. »Er hat gesagt, mit einem Affen spielt er nicht mehr. Dann habe ich gesagt, ich bin kein Affe. Und es ist auch nicht wahr. Ich weiß doch, was ein Affe ist.« »Timmie… Timmie…« »Und dann hat er gesagt, ich sehe ganz komisch aus. Häßlich und abscheulich. Das hat er immer wieder gesagt, und dann habe ich ihn gebissen.« Jetzt weinten sie beide. Schluchzend stieß Miß Fellowes hervor: »Es ist nicht wahr, Timmie, du hast vollkommen recht. Du bist ein richtiger Junge, ein lieber Junge, der beste Junge auf der Welt. Und niemand, niemand darf dich mir jemals wegnehmen.« Dann ging sie wieder nach draußen. Elliott und Mortenson bemühten sich immer noch um Jerry. Mandy Terris war nirgendwo zu sehen. »Bringen Sie den Jungen weg«, verlangte Miß Fellowes. »Was jetzt noch zu tun ist, können Sie auch im Büro seines Vaters erledigen. Und wenn Sie Ms. Terris sehen, dann sagen Sie ihr, sie soll sich ihren Gehaltsscheck abholen und verschwinden.« Die beiden nickten, wichen aber vor ihr zurück wie vor einem feuerspeienden Drachen. Sie drehte sich um und ging wieder zu Timmie ins Bad.
54 Sie hatte sich entschieden. Auf einmal war alles sehr schnell gegangen, und sie hatte ganz plötzlich gewußt, was sie zu tun hatte. Und daß es sofort geschehen mußte, daß sie nicht mehr zaudern durfte, auch wenn vielleicht noch unbekannte Gefahren drohten. Wenn sie nicht handelte, würde man Timmie zurückschicken, und das würde er nicht überleben. Wenn sie ihren Entschluß rasch ausführte, hatte er zumindest eine Chance. Einerseits der sichere Tod, andererseits ein Fünkchen Hoffnung. Da fiel die Wahl nicht schwer. Und nach dem Hoskins’ eigener Sohn so übel zugerichtet worden war, gab es kein langes Überlegen mehr. Die Zeit drängte. Nein, es mußte heute nacht passieren, heute nacht, solange die Siegesfeiern anläßlich des Erfolgs von Projekt Mittelalter noch alle Aufmerksamkeit auf sich zogen. Sie hätte gern Bruce Mannheim angerufen und ihm ihren Entschluß mitgeteilt. Aber das wagte sie nicht. Falls in der Telefonvermittlung alle Gespräche automatisch abgehört wurden, würde sie damit sofort Alarm auslösen. Sie konnte sich erst hinterher mit ihm in Verbindung setzen. Mannheim würde es ihr gewiß nicht verübeln, wenn sie ihn um Mitternacht aus dem Schlaf riß, nicht in diesem Fall. Und dann hatte er immer noch Zeit, seinen Teil beizutragen. Mitternacht, dachte sie. Das wäre genau richtig. Wenn sie jetzt wegging und später wiederkam, würde man sie ohne weiteres durchlassen. Sie kam öfter in der Nacht zurück, auch wenn sie sich bereits abgemeldet hatte, um in ihrer Wohnung zu schlafen. Der Posten kannte sie gut genug, um sie nicht aufzuhalten. Und er würde sich auch nichts dabei
denken, wenn er ihren Koffer sah. Sie probte schon einmal den unverfänglichen Satz: ›Spielzeug für den Jungen‹ und das ruhige Lächeln. Spielzeug für den Jungen? Um Mitternacht? Aber warum sollte er ihr mißtrauen? Hier wußte doch jeder, daß Timmie ihr einziger Lebensinhalt war. Selbst wenn sie mitten in der Nacht kam, um ihm Spielzeug zu bringen, nun ja, das war eben ihre Art. Was kümmerte es ihn? Es kümmerte ihn nicht. »Abend, Miß Fellowes. Das war ein großer Tag heute, was?« »Das kann man wohl sagen. – Ein paar Spielsachen für den Jungen.« Sie hob lächelnd den Koffer… Und konnte die Sicherheitsschranke unbehelligt passieren. Timmie war noch wach, als sie das Puppenhaus betrat. »Miß Fellowes! Miß Fellowes!« Sie bemühte sich nach Kräften, sich ganz normal zu verhalten. Er sollte sich nicht ängstigen. Ob er schon geschlafen habe? Ein bißchen, lautete die Antwort. Aber dann habe er wieder diesen Traum gehabt und sei davon aufgewacht. Also setzte sie sich ein Weilchen zu ihm, ließ sich den Traum erzählen und wurde auch nicht ungeduldig, als er sich ängstlich nach Jerry erkundigte. Wir haben keine Eile, sagte sie sich. Warum sollte irgend jemand Verdacht schöpfen? Es ist schließlich mein gutes Recht, hier zu sein. Und wenn sie ging, würde sie kaum noch jemandem begegnen, und niemand würde sich für das Bündel interessieren, das sie in den Armen trug. Timmie würde sich ganz still verhalten, und im Handumdrehen wäre alles vorbei. Und wer würde hinterher noch etwas unternehmen wollen? Nein, man würde sie ziehen lassen, sie und Timmie. Auch wenn sämtli-
che Sicherungen in sechs Staaten durchbrannten, sobald Timmie erst draußen war, hatte es keinen Sinn mehr, ihn zurückzuholen. Sie klappte den Koffer auf. Sie holte den Mantel, die Wollmütze mit den Ohrenklappen und die anderen Sachen heraus. Timmie sah ihr verwirrt, sogar ein wenig erschrocken zu. »Warum soll ich das alles anziehen, Miß Fellowes?« »Weil ich dich mit nach draußen nehmen will, Timmie«, antwortete sie. »In die Welt, von der du immer geträumt hast.« »Von der ich geträumt habe?« Ein Blick voller Sehnsucht, aber nicht ohne Angst. »Du brauchst dich nicht zu fürchten. Ich bin immer bei dir. Wenn ich bei dir bin, ist doch alles gut, Timmie?« »Ja, Miß Fellowes.« Er drückte seinen unschönen Kopf an ihre Hüfte, und als sie den Arm um ihn legte, spürte sie, wie sein kleines Herz klopfte. Sie nahm ihn auf den Arm, schaltete die Alarmanlage aus, öffnete leise die Tür… Und schrie entsetzt auf. Vor ihr stand Gerald Hoskins.
55 Zwei Männer waren bei ihm. Er schien nicht weniger überrascht, sie vor sich zu sehen. Miß Fellowes erholte sich als erste und wollte sich an ihm
vorbei in den Korridor drängen, aber er bekam sie doch noch zu fassen, und stieß sie so heftig zurück, daß sie gegen die Kommode geschleudert wurde. Dann winkte er seinen beiden Begleitern, ihm zu folgen, und baute sich vor ihr auf, so daß sie die Tür nicht mehr erreichen konnte. »Darauf war ich nicht gefaßt. Sind Sie denn nun ganz und gar verrückt geworden?« Miß Fellowes hatte sich noch gedreht, um den Aufprall mit der Schulter abzufangen und Timmie zu schützen. Jetzt wandte sie sich um, drückte den Jungen fest an sich und sah Hoskins herausfordernd an. Doch schon mit den ersten Worten war ihr Trotz gebrochen. »Was ist denn so schlimm daran«, flehte sie, »wenn ich ihn mitnehme, Dr. Hoskins? Der Energieverlust kann doch nicht wichtiger sein als ein Menschenleben.« Auf Hoskins’ Nicken hin stellten sich die beiden Männer rechts und links von ihr auf. Nun brauchten sie nur noch zuzupacken, es gab kein Entrinnen mehr. Hoskins trat auf sie zu und nahm ihr Timmie ab. »Ein Energieschub dieser Größenordnung würde in einem riesigen Gebiet die Stromversorgung zusammenbrechen lassen. Die ganze Stadt wäre einen vollen Tag lang lahmgelegt. Sämtliche Computer würden abstürzen, Alarmanlagen würden ausfallen, die Datenverluste gingen ins Unermeßliche, und so weiter. Wir müßten mit tausend Schadenersatzklagen rechnen. Kosten in Millionenhöhe, in zweistelliger Millionenhöhe wären die Folgen. Möglicherweise müßten wir Bankrott anmelden. Zumindest entstünden der Stasis GmbH enorme finanzielle Verluste, und unser Ansehen in der Öffentlichkeit wäre aufs schwerste geschädigt. Und was würden die Leute erst sagen, wenn sich herausstellte, daß an alledem eine senti-
mentale Krankenschwester schuld war, die ihr Herz an einen Affenjungen gehängt hatte.« »Affenjunge!« rief Miß Fellowes in hilflosem Zorn. »So würden ihn die Journalisten bezeichnen«, sagte Hoskins. »Und genauso sieht ihn der Großteil der Bevölkerung. Man hat immer noch nicht begriffen, was ein Neandertaler tatsächlich ist, und daran wird sich wohl auch nie mehr etwas ändern.« Einer der Männer hatte die Stasiszelle verlassen. Nun kehrte er zurück und zog eine lange Nylonschnur durch eine Reihe von Ösen, die hoch oben an der Wand angebracht waren. Miß Fellowes stockte der Atem. Genau so eine Schnur war an dem Hebel vor dem Raum mit Professor Adamewskis Gesteinsprobe befestigt gewesen. »Nein!« schrie sie. »Das dürfen Sie nicht tun!« Doch Hoskins hatte Timmie bereits auf den Boden gestellt und zog ihm nun vorsichtig den Mantel aus. »Du bleibst hier, Timmie. Dir wird nichts passieren. Wir gehen nur ganz kurz hinaus. Hast du mich verstanden?« Timmie war kreidebleich geworden und nickte nur stumm. Hoskins schob Miß Fellowes vor sich aus dem Puppenhaus. Sie wehrte sich nicht, registrierte nur mit stumpfem Blick den roten Hebel draußen im Korridor. Seltsam, daß er ihr bisher nie aufgefallen war. Sie hatte ihn wohl nicht sehen wollen. Das Henkersbeil, dachte sie. »Es tut mir sehr leid, Miß Fellowes«, sagte Hoskins. »Ich hätte Ihnen das gerne erspart. Deswegen bin ich um Mitternacht gekommen. Sie sollten es erst erfahren, wenn alles vorüber war.« Sie konnte nur noch flüstern. »Das machen Sie nur, weil Ihr Sohn verletzt worden ist. Wissen Sie denn nicht, daß er
Timmie so lange gepiesackt hat, bis der sich nicht mehr anders zu helfen wußte?« »Mit Jerry hat das gar nichts zu tun.« »Natürlich nicht«, gab Miß Fellowes ironisch zurück. »Nein, glauben Sie mir. Ich habe gehört, was vorgefallen ist, und mir ist klar, daß es Jerrys Schuld war. – Mag sein, daß der Vorfall die Entwicklung beschleunigt hat. Die Geschichte ist nämlich durchgesickert. Das war unvermeidlich, schließlich wimmelte es wegen des Projekts Mittelalter im ganzen Labor von Presseleuten. Jetzt wird man uns Fahrlässigkeit vorwerfen, das Schauermärchen von den ›wilden Neandertalern‹ wird wieder Schlagzeilen machen und die Berichterstattung über unseren großen Erfolg überschatten. Deshalb ist es besser, das Experiment Timmie rasch zu beenden. Lange hätte der Junge ohnehin nicht mehr bleiben können. Wenn wir ihn heute nacht zurückschicken, hat die Sensationspresse einen Aufhänger weniger für ihren Schund.« »Aber er ist kein Felsbrocken, er ist ein Mensch, und was Sie vorhaben, ist glatter Mord.« »Das ist nicht wahr. Nichts deutet darauf hin, daß ihm die Reise in die Vergangenheit in irgendeiner Weise schaden könnte. Er wird mehr oder weniger an derselben Stelle ankommen, von der wir ihn weggeholt haben. Der Zeitpunkt dürfte schätzungsweise zehn Wochen nach seinem Weggang liegen – plus minus zwei Wochen, wenn wir die Entropiedrift und andere kleine Verschiebungen mit einkalkulieren. Und er wird überhaupt nichts spüren. Er kehrt lediglich in seine Welt zurück. Der Neandertaler kommt wieder zu den Neandertalern, wo er kein Gefangener und kein Fremder mehr ist, wo er die Chance hat, ein Leben in Freiheit zu führen.« »Das nennen Sie eine Chance? Einen höchstens siebenjähri-
gen Jungen, der daran gewöhnt ist, umsorgt zu werden, Nahrung, Kleidung und ein Dach über dem Kopf zu haben, allein in die Eiszeit zu schicken! Bilden Sie sich denn wirklich ein, sein Stamm hätte zehn Wochen lang am gleichen Ort auf ihn gewartet? Diese Leute bleiben doch nirgendwo lange – sie sind Jäger und müssen dem Wild folgen. Aber selbst wenn sie wie durch ein Wunder noch da wären, würden sie ihn denn wiedererkennen? Er ist in zehn Wochen um drei Jahre älter geworden! Sie würden schreiend davonlaufen. Er wäre ganz auf sich allein gestellt. Wie sollte er überleben?« Hoskins schüttelte den Kopf. Seine Züge hatten sich verhärtet, er würde nicht nachgeben. »Ich bin überzeugt davon, daß er seinen Stamm wiederfinden und daß man ihn mit Freuden aufnehmen wird. Vertrauen Sie mir, Miß Fellowes.« Sie sah ihn traurig an. »Ich soll Ihnen vertrauen?« »Ich bitte Sie darum«, sagte er. Jetzt stand auch in seinen Augen eine tiefe Traurigkeit. »Es ist nicht zu ändern, Miß Fellowes, so leid es mir tut. Und es tut mir leid – auch wenn Sie es mir nicht glauben werden. Trotzdem, der Junge muß fort, und damit basta. Machen Sie es mir doch nicht so schwer.« Sie sah ihn fest an. Lange war es bedrückend still. Endlich sagte sie resigniert: »Nun gut. Aber ich darf mich doch wenigstens von ihm verabschieden? Lassen Sie mich fünf Minuten mit ihm allein. Diese kleine Bitte werden Sie mir doch nicht abschlagen?« Hoskins zögerte einen Moment lang, dann nickte er. »Gehen Sie zu ihm«, sagte er.
56 Timmie kam ihr entgegengelaufen. Zum letztenmal kam er ihr entgegengelaufen, und zum letztenmal schloß ihn Miß Fellowes in die Arme. Nur für einen Moment schloß sie die Augen und drückte ihn an sich. Dann angelte sie sich mit dem Fuß einen Stuhl und schob ihn an die Wand. »Du brauchst keine Angst zu haben, Timmie.« »Wenn du da bist, habe ich keine Angst, Miß Fellowes. – Ist der Mann ärgerlich auf mich? Der Mann da draußen?« »Nein, er versteht uns nur nicht richtig. – Timmie, weißt du, was eine Mutter ist?« »Jemand wie Jerrys Mutter?« »Hm – ja, jemand wie Jerrys Mutter. Weißt du auch, was eine Mutter tut?« »Eine Mutter ist eine Dame, die für einen sorgt und immer nett ist und es gut meint.« »Ganz richtig. Das ist eine Mutter. Hast du dir schon einmal eine Mutter gewünscht, Timmie?« Timmie legte den Kopf in den Nacken, um sie ansehen zu können. Dann hob er langsam die Hand und strich ihr über die Wange, wie sie es vor langer, langer Zeit bei ihm getan hatte. »Bist du denn nicht meine Mutter?« fragte er. »Oh, Timmie.« »Bist du jetzt böse, weil ich das gesagt habe?« »Nein, natürlich nicht.« »Ich weiß zwar, daß du Miß Fellowes heißt, aber manchmal – manchmal, wenn ich allein bin, sage ich ganz leise ›Mutter‹
zu dir. So wie Jerry, nur daß er es laut sagt. Darf ich dich so nennen, wenn ich allein bin?« »Ja. Ja, Timmie, das darfst du. Ich werde bei dir bleiben, dann kann dir nichts passieren. Ich werde immer für dich sorgen. Und jetzt sag Mutter zu mir, sag es laut, damit ich es hören kann.« »Mutter«, sagte Timmie und lehnte zufrieden den Kopf an ihre Wange. Sie erhob sich, ohne ihn loszulassen, und stieg auf den Stuhl. Hoskins hatte ihr erklärt, daß alles, was nicht verankert war, mit dem Versuchsobjekt in den Zeitstrom gerissen würde. Die meisten Einrichtungsgegenstände waren am Boden befestigt, aber nicht alle. Etwa der Stuhl, auf dem sie stand. Nun gut, mochte der Stuhl mitgehen, darauf kam es nicht an. Vielleicht gab es auch noch andere Dinge, die mit erfaßt würden, aber das kümmerte sie nicht. »He!« rief Hoskins von draußen. Sie lächelte, drückte Timmie fest an sich, griff mit der freien Hand nach oben und zog mit aller Kraft zwischen zwei Ösen an der Schnur. Die Stasis wurde aufgehoben. Der Raum war leer.
Epilog HIMMELSFEUERGESICHT Magd-Der-Göttin hockte auf dem Boden und zeichnete magische Kreise in den Schnee. Silberne Wolke ging zu ihr hinüber. »Ich muß mit dir sprechen«, sagte er. Sie blickte nicht einmal auf. »Dann sprich.« »Kannst du die Kreise nicht für einen Moment in Ruhe lassen?« »Die Kreise beschützen uns.« »Hör trotzdem auf damit«, bat Silberne Wolke. »Steh auf und sieh mich an. Ich habe über eine wichtige Sache mit dir zu reden.« Magd-Der-Göttin machte ein verdrießliches Gesicht und erhob sich langsam. Er glaubte, ihre Knochen knacken zu hören. Es hatte erst vor kurzem aufgehört zu schneien. Die Sonne stand, wie immer zu dieser Jahreszeit, tief am Horizont und spendete kaum Wärme. »Nun?« fragte Magd-Der-Göttin. »Sprich schon.« »Wir können hier nicht bleiben«, sagte Silberne Wolke. »Natürlich nicht, das wissen wir alle seit langem.« »Ich will damit sagen, wir werden von hier fortziehen. Heute noch.« Die Priesterin kratzte sich nachdenklich am Hinterteil. »Wir haben nach wie vor kein Ritual an IHREM Heiligtum abgehalten.« »Nein.« »Aber dazu sind wir hergekommen. Wenn wir nun unverrichteter Dinge wieder abziehen – nachdem auch das Sommer-
fest ausgefallen ist – wird uns die Göttin zürnen.« Silberne Wolke wurde ärgerlich. »Die Göttin zürnt uns schon jetzt, und wir alle wissen es. Hätte sie sonst jemals zugelassen, daß Die Anderen hierherkommen, das Flußufer besetzen und uns den Zugang zum Heiligtum verwehren? Schön: Wir kommen nicht an das Heiligtum heran. Trotzdem können wir hier nicht länger bleiben. Wir finden nirgendwo Schutz vor der Kälte, es gibt nur wenig Nahrung, und der Winter steht unmittelbar bevor.« »Die Einsicht kommt ziemlich spät, Silberne Wolke.« »Gewiß, du hast recht. Aber immerhin kommt sie jetzt. Sobald wir miteinander fertig sind, werde ich Befehl geben, das Lager abzubrechen, du wirst das Abschiedsritual zelebrieren, und dann machen wir uns auf den Weg. Hast du mich verstanden?« Magd-Der-Göttin sah ihn lange an. Dann sagte sie: »Gewiß, ich habe verstanden. Aber wenn du das tust, kannst du nicht länger unser Häuptling sein, Silberne Wolke.« »Das weiß ich. Der Todesorden wird zusammentreten und tun, was getan werden muß. Ihr könnt mich als Opfer an die Göttin zurücklassen. Ein anderer Häuptling wird euch über die Berge und weiter nach Osten führen, um dort einen Platz für das Winterlager zu finden.« »Ja«, sagte die Priesterin, scheinbar völlig ungerührt. »Und wer soll nach dir Häuptling werden? Feuerauge? Gespaltener Berg?« »Wer immer es will«, sagte Silberne Wolke. »Und wenn mehr als einer Häuptling werden möchte?« Er zuckte die Achseln. »Dann sollen sie es untereinander auskämpfen.«
»Aber das ist nicht die rechte Art. Du müßtest den nächsten Häuptling bestimmen.« »Nein«, sagte er. »Ich bin mit meiner Weisheit am Ende. Meine Zeit ist vorbei. Geh jetzt und triff deine Vorbereitungen, Magd-Der-Göttin. Ich habe dir nichts mehr zu sagen.« Damit ging er einfach weg. Auch als sie ihn beim Namen rief, drehte er sich nicht um. Sie warf mit einem Schneeball nach ihm und traf ihn an der Schulter. Der Schnee rieselte ihm den Rücken hinab, aber er ließ sich nicht aufhalten. Er wollte jetzt mit niemandem mehr sprechen. Diesen letzten Tag seines Lebens wollte er schweigend verbringen und in Frieden darauf warten, daß der Todesorden mit der Elfenbeinkeule kam, um ihn zu holen. Morgen würde ihm sein Bein nicht mehr wehtun, und ein anderer würde die Last der Häuptlingewürde tragen. Fern von allen anderen blieb er stehen und schaute hinüber zum Heiligtum, wo Die Menschen ihrer Göttin nicht hatten huldigen können. Ein paar von Den Anderen trieben sich am Flußufer herum. Es waren Krieger, bewaffnete Krieger. Was hatten sie wohl vor? Junge Antilope, der unweit des Heiligtums Wache hielt, ging unruhig auf und ab. Sollte das etwa ein Angriff werden? Wollten sie das Heiligtum mit Gewalt erobern? Das hätte noch gefehlt, dachte Silberne Wolke. Da sitzen wir nun eine Woche um die andere, ohne daß etwas geschieht, weil jede Seite Angst hat und keine das Risiko eingehen will, das Heiligtum zu stürmen. Und ausgerechnet an dem Tag, an dem ich beschließe, daß wir abziehen und es ihnen überlassen, beschließen sie, es uns abzujagen. Aber wir können uns nicht verständigen. Also bleibt uns nichts anderes übrig als zu kämpfen, und dabei werden viele von uns sterben. Ohne Not.
Dabei brauchten Die Anderen bloß bis morgen zu warten, und sie hätten das Heiligtum für sich allein, denn morgen wären wir schon nicht mehr hier. »Feuerauge!« rief er. »Wolfsbaum!« Die Männer kamen auf ihn zugelaufen. Silberne Wolke zeigte ihnen, was am Heiligtum vorging. »Rüsten sie etwa zum Kampf?« fragte Wolfsbaum. »Das weiß nur die Göttin, mein Junge. Aber ihr solltet euch für alle Fälle bereithalten. Sagt es auch den anderen. Sagt es allen. Auch den Alten.« Silberne Wolke hob seinen Speer. »Wenn sie tatsächlich angreifen, stehe ich euch bei.« Feuerauge sah ihn ungläubig an. »Du, Silberne Wolke?« »Warum nicht? Glaubst du, ich habe vergessen, wie man kämpft?« Besser, im Krieg zu fallen, dachte er, als unter der Elfenbeinkeule des Todesordens. Dennoch wäre es ihm lieber gewesen, wenn Die Menschen in Frieden hätten abziehen können. Feuerauge und Wolfsbaum rannten los, um Alarm zu schlagen. Mit einem Mal erblickte er Die-Alles-Weiß. Sie war wie aus dem Nichts aufgetaucht und rannte auf ihn zu, als sei ihr der Feind auf den Fersen. Heute morgen hatte sie, wie schon so oft, allein das Lager verlassen und war dem Pfad gefolgt, der hügelan und weiter nach Osten führte. Die Frau wurde mit jedem Tag sonderbarer. »Silberne Wolke! Silberne Wolke! Sieh doch nur!« Er drehte sich um. »Was soll ich denn sehen?« »Auf dem Hügel! Das Licht!« Sie machte kehrt und deutete hinter sich. »Siehst du es jetzt?« »Was? – Wo?«
»Neben dem Pfad«, sagte Die-Alles-Weiß. »Wo wir herabgekommen sind. Siehst du das Licht?« »Nein. – Ja! Ja!« Silberne Wolke überlief es eiskalt. Dieses Licht hatte er schon einmal gesehen. Da oben flimmerte die Luft, grelle, rotgrüne Blitze schossen hin und her. Bunte Glitzerkreise tanzten einen wilden Reigen. Und in der Mitte loderte eine weiße Flamme, die so hell war, daß er es kaum ertragen konnte, direkt hineinzusehen. Es war das gleiche Licht wie vor vielen Wochen, als sie auf dem Weg hierher den Hügel herabgestiegen waren, damals, als die Göttin den Jungen Himmelsfeuergesicht geraubt hatte. Silberne Wolke flüsterte ein Gebet. Hinter ihm stimmte Magd-Der-Göttin einen Lobgesang an, und die beiden anderen Priesterinnen fielen ein. »Was ist das für ein Licht, Silberne Wolke?« fragte jemand. »Sag es uns! Sag es uns doch!« Er schenkte den Stimmen keine Beachtung. Langsam und steif, wie ein Mann, der so lange durch den Schnee gewandert ist, daß seine Füße zu Stein erstarrt sind, ging er auf den Pfad zu. Er mußte näher heran. Er mußte sehen, was da vorging. »Die Göttin ist zurückgekommen«, flüsterte eine Frauenstimme in seinem Rücken. Er blieb nicht stehen, hörte aber, daß ihm die anderen folgten. Und als er zum Heiligtum hinunterschaute, sah er, daß auch Die Anderen am Flußufer die Erscheinung auf dem Hang bemerkt und in ihrem Tun innegehalten hatten. Nun bewegten sie sich, ebenfalls unwiderstehlich angezogen, auf das Licht zu, um sich die Sache aus der Nähe zu betrachten. »Da oben ist die Göttin!« stöhnte eine Frau. »Ich kann sie sehen! Da ist sie!«
»Ja, es ist die Göttin!« »Die Göttin. Und die Göttin ist eine von Den Anderen!« »Die Göttin ist eine von Den Anderen! Seht doch nur! Seht!« Silberne Wolke kniff die Augen zusammen, aber das Licht war zu grell – diese seltsame Säule mit den verwirrenden Farbwirbeln und dem flirrenden, weißen Kern… Allmählich begann sie zu verblassen. Und Silberne Wolke erblickte die Göttin. SIE stand in erhabener Ruhe auf dem Hang, genau an der Stelle, wo die Lichtsäule geleuchtet hatte. Ja, SIE sah aus wie eine von Den Anderen, sehr groß, sehr schlank, mit heller Haut, goldenem Haar und roten Lippen. Glatt und steil ragte ihre Stirn in die Höhe. SIE trug ein weißes Gewand, wie Silberne Wolke noch nie eins gesehen hatte. Und SIE hielt ein Kind in den Armen. Ein Kind von der Art Der Menschen. Langsamen Schrittes stieg die Göttin herab zu der Gruppe, die sich am Fuß des Hügels versammelt hatte. Silberne Wolke ging ihr weiter entgegen. Die-Alles-Weiß war jetzt links von ihm, Magd-Der-Göttin rechts, und Hütet-Die-Vergangenheit genau in seinem Rücken. Sie schienen ebenso verwirrt zu sein wie er und umdrängten ihn, als hofften sie, im Bannkreis ihres Häuptlings Schutz und Geborgenheit zu finden. Dann waren sie IHR ganz nahe. Ein durch und durch fremdartiges Gesicht! Und – obwohl es, kein Zweifel, ein Anderengesicht war – erschien es ihnen unbeschreiblich schön und friedvoll. SIE lächelte, und IHRE Augen strahlten vor Freude. Und der Junge, den sie in den Armen hielt – ein Halbwüchsiger in seltsamer Kleidung – auch er hatte glänzende Augen. »Das Mal auf seinem Gesicht…« sagte Die-Alles-Weiß. »Er-
kennst du es? Es ist das Himmelsfeuerzeichen! Jetzt weißt du auch, wer das Kind ist. Wo ist Roter-Rauch-Bei-Sonnenaufgang? Sieh nur, Roter-Rauch-Bei-Sonnenaufgang, die Göttin hat dir Himmelsfeuergesicht zurückgebracht, deinen verlorenen Sohn!« »Aber Himmelsfeuergesicht war doch noch ein kleiner Junge. Und der hier…« »Aber das Mal! Das Mal auf seinem Gesicht!« »Himmelsfeuergesicht! Himmelsfeuergesicht!« Der Schrei pflanzte sich nach allen Seiten fort. Ja, dachte Silberne Wolke. Es ist Himmelsfeuergesicht. Er mußte es sein. Wie glücklich er aussah! Wie er lächelte und winkte und nach ihnen rief! Er war binnen weniger Wochen um Jahre gealtert – sicher ein Wunder der Göttin –, aber es war eindeutig Himmelsfeuergesicht, er war leibhaftig wiedergekehrt. Wo war der Junge nur gewesen? Und warum wurde er gerade jetzt zurückgebracht? Wer wollte das wissen? Wer wollte die Wunder der Göttin begreifen? »Schau«, flüsterte Hütet-Die-Vergangenheit. »Da kommen Die Anderen.« Silberne Wolke sah sich um. Tatsächlich, der Feind war schon fast da. Aber jetzt stand ihm der Sinn nicht mehr nach Krieg, das zeigten die Gesichter ganz deutlich. Auch kamen nicht nur die Krieger den Hügel heraufgestiegen, sondern der gesamte Stamm mit Frauen, Kindern und Alten. Und die Erscheinung schien sie ebenso in Schrecken zu versetzen wie Die Menschen. Alle erstarrten sie in Demut vor IHREM Angesicht. Die Göttin stand lächelnd da und wartete. Sie hielt den Jungen Himmelsfeuergesicht noch immer in den Armen. Die beiden waren wie von einem goldenen Schein umgeben.
Silberne Wolke fiel vor ihnen auf die Knie. Wellen des Entzückens schlugen über ihm zusammen, trieben ihm die Tränen in die Augen. Er mußte einfach niederknien und Dank sagen. Auch Magd-Der-Göttin und Die-Alles-Weiß waren niedergekniet, und als er sich umsah, folgten alle, Andere wie Menschen, seinem Beispiel und huldigten IHR. Seite an Seite knieten sie einträchtig im Schnee, aller Streit war vergessen, alle schauten sie mit staunenden Augen zu der Lichtgestalt mit dem lächelnden Kind in den Armen auf, die in ihrer Mitte erschienen war, als wolle sie ihnen den Frühling und den Frieden bringen.